Eros und Aura: Denkfiguren zwischen Literatur und Philosophie in Walter Benjamins „Einbahnstraße“ und „Berliner Kindheit“ 3770553950, 9783770553952

Aura und Eros markieren in Walter Benjamins Denken ein Spannungsfeld philosophischer Fragestellungen, anthropologischer

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German Pages 191 [190] Year 2012

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. DIE EINBAHNSTRASSE
1. Einführung und Forschungsüberblick zur Einbahnstraße
2. Die Autorität der Schrift
3. Eros und Aura als Verhältnisse von Nähe und Ferne
4. Der „Bildraum“ der Schrift
5. Utopisch-nüchterner Ausblick: „Zum Planetarium“
II. DIE BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT
1. Einführung und Forschungsüberblick zur Berliner Kindheit
2. Die Toten
3. Der Name
4. Die Kreatur
5. Denk-Figuren einer entzogenen Nähe und einer bannenden Ferne
Schluss
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
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Eros und Aura: Denkfiguren zwischen Literatur und Philosophie in Walter Benjamins „Einbahnstraße“ und „Berliner Kindheit“
 3770553950, 9783770553952

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Eva Axer

EROS UND AURA Denkfiguren zwischen Literatur und Philosophie in Walter Benjamins „Einbahnstraße“ und „Berliner Kindheit“

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Umschlagabbildung: Walter Benjamin im Soldatenkostüm, Atelier Selle & Kuntze Potsdam, ca. 1897; aus dem Bestand des Walter Benjamin-Archivs, Akademie der Künste, Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2012 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

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E-Book ISBN 978-3-84 7-5395-8 ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5395-2

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG ...............................................................................

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I. DIE EINBAHNSTRASSE 1.

Einführung und Forschungsüberblick zur Einbahnstraße ...................

25

2.

Die Autorität der Schrift ...................................................................... 2.1 Die Krise des Erzählens in der Moderne ..................................... 2.1.1 Die Krise des Erzählens und die Krise der Aura ................ 2.1.2 „Unscheinbare Formen“ erneuerter literarischer Autorität....................................................................................... 2.2 Der Begriff des Dokuments in der Einbahnstraße ...................... 2.2.1 Authentizität und Autorität des Dokuments ....................... 2.2.2 Benjamins sprachphilosophischer Dokumentbegriff.......... 2.3 Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache ......................................... 2.3.1 Formen des Zeigens (Bild, Text, Körper)........................... 2.3.2 Benennung als Konfiguration ............................................. 2.4 Die „organisierende Funktion“ der Unterbrechung in der Montage....................................................................................... 2.4.1 Unterbrechung, Stillstellung und Stellungnahme................. 2.4.2 Der Autor als ‚eingreifender Operateur‘ („Poliklinik“)...... 2.4.3 Montage als Her(aus)stellen von Konfigurationen .............

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Eros und Aura als Verhältnisse von Nähe und Ferne .......................... 3.1 Goethes ‚gesättigter Augenblick‘ ................................................ 3.1.1 Nähe und Ferne – Sexus und Eros...................................... 3.1.2 Goethes „Selige Sehnsucht“: Gleichgewicht von Nähe und Ferne ..................................................................................... 3.2 Dantes ‚platonische Liebe‘: Dialektik von Nähe und Ferne........ 3.3 Kraus’ „platonische Sprachliebe“ und Benjamins ZitatKonzept........................................................................................ 3.3.1 Kraus’ „Die Verlassenen“: Gelöste Bindung von Eros und Sexus..................................................................................... 3.3.2 Das Zitat: Teilung des Wortes in Name und Reim ............. 3.4 Baudelaire: Krise der Aura und Krise des Eros........................... 3.4.1 Aura als ‚Versammlung‘ der Blicke ...................................

55 55 55

3.

35 37 37 41 43 43 45 47 47 48 50

56 59 60 60 63 65 65

6

INHALTSVERZEICHNIS

3.4.2 Der auratische Blickwechsel und die Erotik blickloser Augen .......................................................................................... 4.

5.

Der „Bildraum“ der Schrift ................................................................. 4.1 Benjamins „profane Erleuchtung“ als nüchterner Liebesrausch................................................................................ 4.2 Techniken des Ver- und Entstellens ............................................ 4.2.1 Entstellung bei Sigmund Freud und als Textverfahren ...... 4.2.2 Witz und Reim: Sprachmagie und Performativität............. 4.2.3 „Bildraum“ und „Leibraum“ ..............................................

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Utopisch-nüchterner Ausblick: „Zum Planetarium“ ........................... 85 5.1 Kampf um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg......... 85 5.2 Utopien der Natur und der Technik............................................. 88 5.3 Ludwig Klages’ „kosmogonischer Eros“ als ekstatische Verbindung „fernster Seelen“...................................................... 89 5.4 Benjamins nüchterner Rausch zwischen „Allernächstem“ und „Allerfernstem“ .................................................................... 92 5.5 Die Technik als Medium einer ‚planetarischen Gemeinschaft‘.............................................................................. 96 5.6 Der „neue Leib“ als Utopie von Technik und Natur ................... 98 5.7 Die neue Gemeinschaft ............................................................... 103

II. DIE BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT 1.

Einführung und Forschungsüberblick zur Berliner Kindheit.................. 107

2.

Die Toten............................................................................................. 2.1 Klages’ „Eros der Ferne“ als „Eros zum Ehemals“..................... 2.1.1 Klages’ „Schauung“ in Abgrenzung zu einer intellektuell-erinnernden Anamnesis........................................... 2.1.2 Klages’ „Schauung“ vs. Benjamins Auraerfahrung ........... 2.2 Benjamins „Eingedenken“ und die Krise kollektiver Erinnerung ................................................................................... 2.2.1 „Eingedenken“ als Konjunktion individueller und kollektiver Gedächtnisinhalte ...................................................... 2.2.2 Mortifikation historischer Personen ................................... 2.3 Franz Hessels Berlin-Buch und Benjamins „Tiergarten“ ............ 2.4 Die Ahnen als entfernte Figuren und Figuren der Entfernung ................................................................................... 2.4.1 Dialektik eines (zeitlichen) Auf- und Absteigens............... 2.4.2 Abwesenheit des Todes und der Toten...............................

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INHALTSVERZEICHNIS

7

2.5 Der „Große Stern“: ‚Platonische Liebe‘ des topographischen Namens ........................................................................................ 131 2.5.1 (Platonische) Liebe und Tod............................................... 131 2.5.2 Topographische Realitäten und mythische Bedeutung.................................................................................... 132 3.

4.

5.

Der Name ............................................................................................ 3.1 Die Darstellung der Kindheit in den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit .............................................. 3.2 Das ‚verschlossene Tor‘ des Erwachsenseins........................... 3.3 Der „geliebte Name“................................................................. 3.3.1 Entfernte Figuren und Schrift als Figur ........................... 3.3.2 Das Kenotaph: Die abwesende Tote ................................ 3.4 „Zwei Rätselbilder“ ..................................................................

135

Die Kreatur .......................................................................................... 4.1 Sexus und Tod .......................................................................... 4.1.1 Figuren des Kreatürlichen: Tier, Hure und Kind ............. 4.1.2 Zweideutigkeit als Darstellungsprinzip ........................... 4.2 Das „heilige“ und „verwöhnte Tier“ („Der Fischotter“)........... 4.3 Die stummen „Weiber“ („Markthalle“) .................................... 4.3.1 Die „käufliche Ceres“: Verbildeter Sexus und verbildete Ökonomie................................................................. 4.3.2 Kreatürliche „Weiber“ vs. entfernte Frauenfiguren ......... 4.4 Das Kind als Kreatur zwischen Sprachlosigkeit und Sprache .....................................................................................

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Denk-Figuren einer entzogenen Nähe und einer bannenden Ferne.................................................................................................... 5.1 „Die Mummerehlen“ und das „bucklichte Männlein“.............. 5.2 Der auratische Blickwechsel als ‚mimetischer Zwang‘ ............ 5.2.1 Das Blickmotiv in Benjamins Überlegungen zum „mimetischen Vermögen“......................................................... 5.2.2 Versagter vs. bannender Blick ......................................... 5.3 Gewohnheit und Entstellung..................................................... 5.4 Widerstand des Entzogenen („Das bucklichte Männlein“)................................................................................ 5.5 „Gewohnheit und Aufmerksamkeit“......................................... 5.5.1 Verstellung als Mahnung zur Aufmerksamkeit ............... 5.5.2 Die entstellten „Namen der Kindheit“ ............................. 5.6 Das Gebet der Aufmerksamkeit................................................

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INHALTSVERZEICHNIS

SCHLUSS ..................................................................................... 175 BIBLIOGRAPHIE ........................................................................... 183

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN ................................................ 191

EINLEITUNG

Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost. Walter Benjamin

Walter Benjamins literarische Texte dürfen mittlerweile als kanonischer Bestandteil der sogenannten klassischen Moderne gelten. Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert wie auch die Einbahnstraße spiegeln in vielfacher Hinsicht Benjamins Auseinandersetzung mit Autoren wie Charles Baudelaire und Franz Kafka wider. Die (literaturgeschichtliche) Rubrizierung dieser, im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehenden Texte als ‚klassisch modern‘ ist allerdings vor allem darum aufschlussreich, weil der Begriff selbst problematisch ist: Er stellt eine contradictio in adjecto dar.1 Während ‚das Klassische‘ sich durch seine Mustergültigkeit und Überzeitlichkeit auszeichnet, ist ‚das Moderne‘ das in seiner historischen Spezifik je zufällige und flüchtige Neue. Dieses Verständnis, zumal des Modernen, ist stark von Baudelaire geprägt, der von der Kunst auch einen Sinn für die durch die Signatur der Zeit bestimmten Momente, etwa für die Mode, forderte.2 Der Begriff des ‚klassisch Modernen‘ bietet sich im Falle Benjamins nun vor allem darum an, weil er – gerade auch im Anschluss an seine intensive Beschäftigung mit Baudelaire – diese Konstellation von „Immergleichem“ 3 und je kurzzeitig Neuestem problematisiert. Benjamin interessiert sich weniger für ein auf Abgrenzung und Abwehr bedachtes Verhältnis zur Tradition; er begreift diese Konstellation in seinen Essays vielmehr als ein alle Lebensbereiche betreffendes Problem, das bei ihm in der Frage nach der Möglichkeit von Erfahrungen und ihrer Tradierung Gestalt annimmt. Die Essays, in welchen Benjamin eine Krise der Erfahrung in der Moderne verhandeln, stehen – gemeinsam mit den literarischen Kurzprosasammlungen – im Zentrum dieser Untersuchung; neben den Arbeiten zu Baudelaire zählen dazu insbesondere Benjamins sogenannter Erzähleraufsatz sowie sein Essay zu Karl Kraus. 1

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Vgl. dazu Helmuth Kiesel: Klassische Moderne? Überlegungen zur Problematik einer Epochenbezeichnung, in: Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts, hg. v. Mauro Ponzi, Würzburg 2010, S. 35-45. Vgl. Charles Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Jaques Crépet, Bd. 1, Paris 1925, S. 49-110. Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. III, Frankfurt a.M. 1991, S. 198. Die Gesammelten Schriften werden im Folgenden unter der Sigle „GS“ mit Angabe des jeweiligen Bandes und der Seitenzahl zitiert.

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EINLEITUNG

Erfahrungen4 zielen nach Benjamins Verständnis auf das „Immergleiche“, welches von Generation zu Generation weitergegeben werden kann; verlieren diese Erfahrungen ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit, kommt dies einem Verlust der Tradition gleich. Da Benjamin dies nicht unbedingt als eine frei wählbare Option begreift, kann man eher von einem Abbruch der Tradition denn von einem Bruch mit der Tradition sprechen, wie ihn die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts zelebrierten. Der Verlust von Erfahrungen und ihrer Tradierbarkeit, den Benjamin auch als „Erfahrungsarmut“ beschreibt (GS II.1 215), ist indes ambivalent, da er aus seiner Sicht auch neue Spielräume eröffnen und dazu auffordern kann, „von vorn zu beginnen“ (ebd.). Andererseits thematisiert Benjamin eine besondere Beziehung zur Vergangenheit, die nicht nur durch Sigmund Freuds Theorien über das Verhältnis zum Vergangenen bestimmt ist. Sinnbild dieses Verhältnisses sind die verschütteten und erst im Zuge archäologischer Bemühungen zu entdeckenden Reste der Antike. Dieser Vorstellung entsprechend beschreibt Benjamin das dunkle Gefühl, dass in die Gegenwart noch etwas „hineinragt“ (GS II.1 429), was das Leben wie ein Zwang bestimmt und jede konstruktive Freiheit schon im Keim erstickt. Benjamins Überlegungen verschränken somit auf den ersten Blick schwer zu vereinbarende Tendenzen: Handelt es sich einerseits offenbar um eine Art Mangel an einer noch wirkmächtigen Vergangenheit, erweist sich Vergangenes andererseits anscheinend desto wirkmächtiger je mehr es sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht.5 Während das Verständnis des ‚Modernen‘ als Überwindung oder zumindest Ablösung des je Bestehenden dem von Hans Blumenberg sogenannten ‚offenen Kontext‘ entspricht, in welchem die Möglichkeit des Neuen sowie die Möglichkeit der Korrektur vergangener Annahmen vorausgesetzt und als notwendig betrachtet wird6 , beschreibt die zweite Tendenz eine vormoderne, mythisch konnotierte Erfahrung, deren Prinzip die Wiederholung ist. In diesem Sinne einer ‚ewigen Wiederkehr‘ hat Benjamin in der 1928 veröffentlichten Einbahnstraße den Ersten Weltkrieg als Resultat einer „je und je von 4

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6

Siehe zur Thematik der Erfahrung allgemein u.a.: Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt a.M. 2004; Howard Caygill: Walter Benjamin. The colour of experience, New York, London 1998; Martin Jay: Is Experience still in Crisis? Reflections on a Frankfurt School Lament, in: The Cambridge Companion to Adorno, hg. v. Thomas Huhn, Cambridge 2004, S. 129-147; sowie ders.: Songs of experience. Modern American and European variations on a universal theme, Berkeley, London 2005. Die letztere Thematik wird aktuell unter dem Begriff des Nachlebens verhandelt. Vgl. u.a. in Bezug auf Benjamin: Daniel Weidner: Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin, in: Benjamin Studien, Bd. 2, hg. v. Daniel Weidner und Sigrid Weigel, München 2011, S. 161-178 sowie Stefan Willer: „Nachleben des Verstandenen“. Walter Benjamin und das Erbe des historischen Materialismus, in: Walter Benjamin (Neufassung), Text + Kritik 31/32, München 2009, S. 88-96. Vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Poetik und Hermeneutik 4: Terror und Spiel, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971, S. 11-66, hier: S. 38.

EINLEITUNG

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neuem fällig “ werdenden kollektiven Erfahrung (GS IV.1 146) beschrieben, die im Umgang mit der modernen Technik fehlgeleitet wurde. Eine ähnliche Vergeblichkeit des modernen Forschrittprojektes haben wohl nur Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben. 7 Auf der einen Seite zeigt sich hier der Schrecken einer unvermeidlichen Wiederkehr, den Blumenberg die mythische ‚Terror‘-Erfahrung nennt. Auf der anderen Seite beruht auf jener ‚Wiederkehr des Gleichen‘ für die mythische Erfahrungswirklichkeit auch das Moment einer „momentanen Evidenz“ 8 bzw. Anschaulichkeit. Diese erscheint ‚gesättigt‘, weil sie, wie die Lust, „in jedem Augenblick [ihrer] Dauer vollendet und des [sie] ergänzenden [...] Zeitmoments der Zukunft wesentlich unbedürftig“ ist. 9 Im Folgenden wird nun gezeigt werden, dass Benjamin auf eben jene Metaphorik von ‚Fülle‘ und ‚Sättigung‘ in Bezug auf die Erfahrung der Aura und des Eros rekurriert. Die Aura ist sicherlich das prominenteste Beispiel einer in die Krise geratenen Erfahrung, die Benjamin in seinem Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt; in seinen Essays über Baudelaire und Kraus sowie in einigen kleineren Arbeiten10 beschäftigt er sich jedoch auch mit der Erfahrung des Eros. Während die Aura zu einem kanonischen Gegenstand der Benjamin-Forschung wurde11 , haben Benjamins Überlegungen zum Eros in der Forschung bis auf einige Ausnahmen12 vergleichswei7

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Der ‚offene Kontext‘ schließt sich, wenn Rationalität im Dienste der Beständigkeit des Tatsächlichen steht und nicht als dessen Korrektiv fungiert. Vgl. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 12. Auflage Frankfurt a.M. 2000. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 51. Ebd., S. 39. Vgl. zu den Arbeiten, in welchen Benjamin eine Krise der Erfahrung behandelt, etwa Burkhardt Lindner: Zu Traditionskrise, Technik und Medien, in: Benjamin-Handbuch, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart 2006, S. 451-465. Der Begriff der Aura ist kontrovers diskutiert worden. Hier eine Auswahl einschlägiger Aufsätze und Positionen: Wolfgang Kemp möchte einen „Ausblick auf die Breite und Lebendigkeit der Kunsttheorie vor 1933“ eröffnen und stellt Benjamins Aura-Begriff in Beziehung zu Konzepten Alois Riegls und Aby Warburgs: Wolfgang Kemp: Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft, in: „Links hatte sich noch alles zu enträtseln...“, hg. v. Burkhardt Lindner, Frankfurt a.M. 1978, S. 224-257, hier: S. 224. Werner Fuld blickt auf die Beziehungen zu Alfred Schuler. Werner Fuld: Die Aura. Zur Geschichte eines Begriffes bei Benjamin, in: Akzente 26 (1979), S. 352-370. Stoessel und Recki haben Monographien zum Thema verfasst, Stoessel aus Sicht von Benjamins Sprachphilosophie, Recki vor dem Hintergrund der Frage nach einer materialistischen Kunsttheorie. Marleen Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München, Wien 1983; Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988. Vgl. auch Burkhardt Lindner: Benjamins Aurakonzeption: Anthropologie und Technik, Bild und Text, in: Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag, hg. v. Uwe Steiner, Bern, Berlin 1992, S. 217-249 sowie ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: BenjaminHandbuch, S. 229-250; Josef Fürnkäs: Aura, in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, hg. v. Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main 2000, S. 95-146. Der Begriff des Eros ist in der Benjamin-Forschung vor allem durch Sigrid Weigel interpretiert worden. Vgl. Weigel: „Für Männer – Überzeugen ist unfruchtbar“ – Zum Zusammen-

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EINLEITUNG

se wenig Beachtung gefunden. Indem die vorliegende Arbeit die Verwendung beider Begriffe in Benjamins essayistischen Texten bzw. die Darstellung beider Erfahrungen in seinen literarischen Schriften untersucht, kann sie beide Konzepte in den verschiedenen Kontexten und in Abgrenzung zueinander konturieren. Aura und Eros sind – zunächst recht allgemein gesprochen – für Benjamin Erfahrungen eines Moments, in welchem etwas Fernes trotz seiner Ferne und als Fernes ‚erscheint‘. Die Erfahrung einer ‚Fülle‘ oder ‚Sättigung‘ des Moments ist jedoch in der Moderne offenbar nicht mehr oder nur noch ex negativo zu machen. Zum einen stellen nun aber aus Benjamins Sicht Leere, Verwiesenheit und Unterbrechung keine rein negativen Aspekte dar. Zum anderen darf man es wohl als Benjamins genuines Anliegen auffassen, nicht nur sentimental oder tendenziell regressiv den Verlust von Erfahrungen zu konstatieren, sondern Schwellenmomente zu registrieren oder zu konstruieren, an welchen die Konturen einer im Vergehen begriffenen Erfahrung wie auch ihre möglichen ‚modernen‘ Ausprägungen deutlich werden. In seinen essayistischen Schriften, vor allem aber in seinen Darstellungen, geht er, wie die vorliegende Arbeit nachweist, über die Feststellung eines bloßen Verlusts hinaus. Seine Aufmerksamkeit für das Moment des Zufälligen und Wechselhaften ist durch seine Baudelaire-Lektüre geschärft, so dass er etwa im Falle der Aura annimmt, dass es „Schwankungen“ im „Ausmaß auratischer Sättigung der menschlichen Wahrnehmung im Laufe der Geschichte“ gibt (GS V.1 461). Solche historischen, zuweilen auch anthropologisch anmutenden Diagnosen trifft Benjamin stets im Hinblick auf Beispiele aus der Literatur, der Kunst, der Fotografie oder dem Film. Auf der einen Seite werden darum in der vorliegenden Arbeit die Einbahnstraße und die Berliner Kindheit im Kontext seiner Essays zur modernen Krise der Erfahrung gelesen, auf der anderen Seite gilt es aber auch umgekehrt Benjamins Essays vor dem Hintergrund seiner eigenen literarischen Texte zu betrachten. Der Wert der Literatur wie der anderen Medien geht aus Sicht Benjamins über einen historischen Zeugnischarakter jedoch noch hinaus. Benjamin versteht sie als „Übungsinstrument[e]“ (GS I.2 505) neuer, durch gesellschaftlichen Wandel bedingter Apperzeptionsformen. Wenn Benjamin die Einbahnstraße und die Berliner Kindheit auch nicht derart emphatisch als solche „Übungsinstrument[e]“ angelegt hat, so hat er doch, wie diese Studie darlegen wird, insbesondere in der Einbahnstraße auf die Krise der Erfahrung, die auch eine Krise schriftlicher Tradierung darstellt, mit neuen Formen der Darstellung reagiert. Dass Benjamin in diesen Texten bestimmte Erfahrungen einer reflektierten Moderne gemäß darzustellen versucht, ist allerdings auch als politische Intervention zu verstehen. Politisch bedeutet

hang von Eros und Sprache, in: Dies.: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 147-189. Vgl. ebenfalls Sigrid Weigels Eintrag zum „Eros“ in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, S. 299-341.

EINLEITUNG

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hier nicht unbedingt marxistisch.13 Benjamin hat auch die Philosophie als „Kampf um die Darstellung von wenigen, immer wieder denselben Worten“ bezeichnet (GS I.1 217), der nicht unbedingt nur innerhalb philosophischer Diskurse, sondern auch mit Mitteln literarischer Darstellung ausgetragen wird.14 Dies wird im vorliegenden Zusammenhang für den Begriff des Eros aufgezeigt werden. Zu Beginn der 1920er Jahre interpretiert Freud den Begriff des Eros im Sinne eines „Lebenstriebs“ und wendet damit physiologisch und psychologisch, was einmal erkenntnistheoretisch angelegt war.15 Zugleich findet eine weniger prominente Umbesetzung des Eros-Begriffs durch den Kosmiker Alfred Schuler statt, welche Ludwig Klages unter dem Stichwort „Eros der Ferne“ aufgreift.16 Diese tendenziell eskapistische „Fernenneigung“ (GS IV.1 368) könnte als bloß private (Liebes-)Erfahrung erscheinen, verfolgte Klages nicht auch ein politisches Anliegen: In seinem 1922 erschienenen gleichnamigen Band imaginiert er einen „kosmogonischen Eros“, der der Legitimation einer rassischen Gemeinschaft dienen soll. 17 Den Begriff des Eros zu besetzen, hat also eine eminent politische Dimension, wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei um eine Erfahrung handelt, die nicht nur Esoteriker und Eingeweihte betrifft. Die vorliegende Untersuchung legt einen Fokus auf Benjamins Auseinandersetzung mit Klages, da sie einen wichtigen Kontext der Benjamin’schen These einer Krise der Erfahrung darstellt. Diese Kontextualisierung wurde bislang ob der Problematik eines möglichen Einflusses von Ludwig Klages’ Philosophie auf Benjamin häufig umgangen. Die Besorgnis, hier eine problemati13 14

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Vgl. zu Benjamins Marx-Rezeption Kap. I.5. Die sogenannte erkenntniskritische Vorrede seines Trauerspielbuches, in der Benjamin diese Vorstellung äußert, ist Schauplatz eines solchen ‚Kampfes‘ um den Begriff der Idee, den Benjamin im Sinne seiner Sprachphilosophie zu besetzen versucht. Sie stellt u.a. eine Auseinandersetzung mit den Neukantianern, darunter Hermann Cohen dar; vgl. dazu Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen, Berlin 2000. Vgl. Sigmund Freund: Jenseits des Lustprinzips, Leipzig, Wien, Zürich 1920, S. 57: Mit „der Ausdehnung des Libidobegriffes auf die einzelne Zelle wandelte sich der Sexualtrieb zum Eros, der die Teile der lebenden Substanz zu einander zu drängen und zusammenzuhalten sucht“. Bei dieser begrifflichen Übertragungen leistete sicherlich auch Friedrich Nietzsche Vorschub, der meinte, Platon habe den „Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert“. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Nachgelassene Fragmente. Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, in: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. V, Bd. 1, Berlin, New York 1980, S. 697 [7 (242)]. Vgl. Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, 8. Auflage Bonn 1981, S. 189: „Jedenfalls rührt aber von Schuler her die später einzuführende Wendung vom ‚Eros der Ferne‘.“ Klages macht keine Angaben, ob es sich um eine mündliche oder schriftliche Überlieferung des Begriffs handelt. Da der Begriff in Schulers Cosmogoniae Fragmenta und den Texten „Aus dem Umkreis der Cosmogoniae Fragmenta“ nicht verwendet wird, die Klages’ Unternehmung offensichtlich am nächsten stehen, ist von einer mündlichen Prägung auszugehen. Vgl. Alfred Schuler: Gesammelte Werke, kommentiert, eingeleitet und hg. v. Baal Müller, Norderstedt 2007, S. 87-119. Vgl. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 183f. Vgl. zur Frage, ob Klages’ Vision im ‚Dritten Reich‘ Anklang finden konnte, Kap. I.5.2.

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EINLEITUNG

sche Affinität zu entdecken, wird zum einen dadurch genährt, dass Benjamin bestimmte Begriffe und Motive aus Klages’ Schriften aufzunehmen scheint18 , zum anderen dadurch, dass er sich im Rahmen einer Kritik an Schuler19 und Klages auffallend zurückhaltend zeigt. 20 Dass die Gegenstände derjenigen, die man späterhin zum Kreis der Frankfurter Schule zählt, und gewisser regressiv orientierter Denker nah beieinander liegen müssen, deuten auch die zum Teil polemischen Attacken etwa von Ernst Bloch an, der in Das Prinzip Hoffnung nach der utopischen Funktion von Archetypen sucht.21 Im Vergleich lässt sich bei Benjamin tatsächlich von einer weniger offensichtlichen Auseinandersetzung sprechen; so wird Adorno nicht müde, eine Abgrenzung der in Benjamins Passagenwerk entworfenen „dialektischen Bilder“ (GS V.1 577) von den „archaischen“ bzw. archetypischen Bildern Klages’ und C.G. Jungs anzumahnen (vgl. GS V.1 1108).22 Eine Abgrenzung findet, wie diese Arbeit aufzeigt, gleichwohl statt. Allerdings muss man, um Benjamins Verhältnis zu philosophischen wie politischen Positionen klären zu können, seine Textverfahren minutiös beschreiben. Anstatt nun einerseits einen solchen Einfluss aufgrund der politischen Agenda in Klages’ Schriften kategorisch auszuschließen oder andererseits eine unerwartete Nähe der beiden zu behaupten23 , sucht die Arbeit Benjamins Auseinandersetzung mit Klages’ Buch Zum kosmogonischen Eros im Detail zu rekonstruieren. Da Benjamin die Begriffe des Eros sowie den der Aura in Abgrenzung zu Klages unter Einbeziehung literarischer Motive zu besetzen versucht, betrachtet die Dissertation, seine kritische Beschäftigung mit Klages ebenfalls vor dem Hintergrund von Benjamins Beschäftigung mit literarischen Texten, die zum Teil auch Klages als eine wichtige Motivquelle in Beschlag 18

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Vgl. dazu Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, S. 108 und 131f., der Gemeinsamkeiten zwischen Benjamin und Klages sieht, da beide mit dem Begriff des Namens operieren. Vgl. Werner Fuld: Die Aura. Zur Geschichte eines Begriffes bei Benjamin, S. 361-365. Fuld hat die These aufgestellt, Benjamin habe den „falschen Aurabegriff“ Schulers nicht kritisiert, denn er habe „zuviel [...] von ihm gelernt“. Ebd, S. 369. Eine explizite Auseinandersetzung lässt sich tatsächlich nicht ausmachen, umso deutlicher hat Benjamin sich jedoch in seinen Darstellungen vor allem von Klages abgesetzt (vgl. v.a. Kap. I.5.3). Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Berlin 1954, S. 174-181. Vgl. dazu Michael Großheim: Archaisches oder dialektisches Bild? Zum Kontext einer Debatte zwischen Adorno und Benjamin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 494-517, hier: S. 513. Der Vergleich von Benjamin und Klages birgt die Gefahr entweder Klages’ Gemeinsamkeiten mit der Frankfurter Schule zu übertreiben (und ihn so gewissermaßen zu rehabilitieren), vgl. z.B. Michael Großheim: Zur Aktualität der Lebensphilosophie, in: Perspektiven der Lebensphilosophie, hg. v. Michael Großheim, Bonn 1999, S. 9-20, vor allem S. 10-13, oder Klages’ Einfluss auf Benjamin zu überschätzen. Siehe dazu Michael Pauen: Eros der Ferne, in: Global Benjamin. Internationaler Walter Benjamin-Kongreß 1992, hg. v. Klaus Garber, Ludger Rehm, Bd. 2, München 1999, S. 693-716, vor allem S. 716. Vgl. zu Klages und Benjamin ebenfalls Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994, S.135-198.

EINLEITUNG

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nimmt und die zur Bildgewalt und damit zum bedenklichen Erfolg seiner Bücher beitrugen. Der Begriff des Eros ist ein umkämpfter Gegenstand jedoch nicht allein aufgrund der politischen Implikationen, die Klages ihm zuschreibt, sondern auch, weil Klages’ Konzept des „Eros der Ferne“ eine Problemkonstellation von Bild, Raum und Erfahrung darstellt, die für Benjamin von einigem Interesse ist. Klages, der in seiner Münchner Zeit zum Kreis der sogenannten Kosmiker zählte24 , erörtert in seinem Buch Zum kosmogonischen Eros wahrnehmungstheoretische und im weiteren Sinne epistemologische Fragen unter Einbeziehung der Kategorien Nähe und Ferne. Er formuliert dort – also einige Zeit bevor Benjamin dies im Kunstwerkaufsatz mit Bezug auf die Aura tut – die Einsicht, dass auch ein räumlich naher Gegenstand im Sinne einer „Unantastbarkeit“ 25 fern sein könne. Nähe ist für Klages eine Kategorie der aktiven Wahrnehmung, Ferne eine der passiven ‚Schau‘ von „Bildern“, wobei jene „Bilder“ eben keine verdinglichte Begriffe sein sollen, wie es aus seiner Sicht die platonischen „Urbilder“ sind. In Klages’ Konzept weisen darum die „Bilder“ gewisse Qualitäten auf – vor allem sind sie (und daran zeigen sich lebensphilosophische Elemente) wandelbar und fließend; damit unterminiert Klages die platonische Unterscheidung zwischen wandelbaren Erscheinungen und seienden Ideen. Dies böte eigentlich die Grundlage historisch zu argumentieren; genau dies unterlässt Klages aber aufgrund einer rückwartsgewandten Tendenz, in der einzig die Aufhebung der Geschichte zugunsten einer vermeintlich ursprünglichen Einheit für historisch signifikant erachtet wird. Die vorliegende Untersuchung wirft damit Licht auf einen – in der Moderne tendenziell anachronistischen – erkenntnistheoretischen Diskurs, an welchem der Begriff des Bildes in diesem Kontext Anteil hat, und der insofern von Belang ist, als er eben auch geschichtsphilosophische Implikationen hat. Aus einem der Zukunft unbedürftigen – weil ‚gesättigten‘ – Augenblick wird bei Klages ein zukunftsfeindlicher, auf die Vergangenheit bezogener. Benjamin hat in seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels – anders als Klages – die Ideen noch einmal ähnlich wie Platon von der Welt der Erscheinungen abgetrennt.26 Gleichwohl geht Benjamin natürlich nicht von

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Vgl. dazu den Band von Faber, der die weltanschaulich äußerst bedenklichen Positionen der Kosmiker aufarbeitet. Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow, Frankfurt a.M. 1994. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 123. Wo für gewöhnlich von zeitlosen Formen oder Bildern die Rede ist, versteht Benjamin in der erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspielbuches die Idee im Sinne einer vollständigen Absonderung, einer Abwesenheit jeglicher Relation, als ‚raumlos‘. Die Ideen existieren in „vollendeter Isolierung“ (GS I.1 217) und sind daher weder sinnlich noch intellektuell anschaubar. „Und so bekennen die Ideen das Gesetz, das da besagt: Alle Wesenheiten existieren in vollendeter Selbständigkeit und Unberührtheit, nicht von den Phänomenen allein, sondern zumal voneinander.“ (Ebd.)

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‚ewigen Ideen‘ aus27 , sondern hat auch ein Moment des ‚offenen Kontextes‘ eingeführt, wie sich besonders gut an seiner Definition des ‚Modernen‘ zeigen lässt. Er verbindet die Vorstellung einer ‚Wiederkehr des Gleichen‘ mit seinem im Trauerspielbuch entworfenen Konzept einer diskontinuierlichen Ideenwelt (vgl. GS I.1 215), wenn er das ‚Moderne‘ „als das Neue im Zusammenhang des immer schon dagewesenen“ definiert (GS V.2 1010). Hier ist insofern ein Moment des ‚offenen Kontextes‘ von Belang, als alle möglichen Phänomene, die jenen Zusammenhang bilden, der die Idee ‚umschreibt‘, erst gegeben sind, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist.28 Es gibt ein ‚davor‘ und ‚danach‘ in der Ansammlung dieser Phänomene. Dies bedeutet zwar keinen linearen Zeitverlauf (oder gar Fortschritt), ist jedoch auch nicht zirkulär zu denken. Die Vorstellung eines ‚offenen Kontextes‘ wird freilich in der Hinsicht unterlaufen, als dass wesentlich nicht das Neue als Korrektiv oder verbesserte Version des Alten ist, sondern gerade das Veralten und obsoletWerden der Dinge im Vordergrund steht. Denn nur das Veralten konstituiert überhaupt erst Erinnerung und ermöglicht so aus Benjamins Sicht einen Zugang, der jenem ‚davor‘ und ‚danach‘ Rechnung tragen kann. Auch im Hinblick auf diese Fragen ist Klages’ Konzept des „Eros der Ferne“ von Interesse, denn es handelt sich, wie bereits angedeutet, um einen „Eros zum Ehemals“, den Klages als expliziten Gegenentwurf zur platonischen Anamnesis versteht.29 Die Auseinandersetzung mit Klages lässt sich also auch in Benjamins Beschäftigung mit verschiedenen Zeit- und Erinnerungskonzeptionen, darunter etwa Henri Bergsons oder Marcel Prousts, einreihen.30 Die Erfahrung des Eros ist für Benjamin nicht überzeitlich gesichert, sondern unterliegt – wie die Erfahrung der Aura – historischen Bedingungen. Benjamin denkt zwar, wie Klages, in den Kategorien Nähe und Ferne, anders als dieser blendet er aber historische Momente nicht aus. Welche verschiedenen Implikationen diese Kategorien, zumal im Hinblick auf Aura und Eros haben, rekonstruiert diese Arbeit hier erstmals im Detail. Sie stellt unter anderem heraus, das Benjamin Eros als Bindung von Nähe und Ferne versteht. Dabei stößt die Arbeit auf methodische Probleme Benjamins, denn auf der einen Seite versteht er Eros in Rückbezug auf Platons Symposion als ‚Binden27

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Auch wenn die Abtrennung der Ideen von den Erscheinungen eigentlich eben jene Bestätigung der Ideen durch Wiederholung der Erscheinungen erwarten ließe, in welcher Blumenberg die Ähnlichkeit des platonischen Modells mit dem mythischen gesehen hat. Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 38. Benjamin sucht so zwischen einer vollendeten, transzendenten Idee, d.h. einer die ist und nicht mehr wird, und einer im Werden begriffenen, die als immanent vorgestellt wird, zu vermitteln. Auf die Anamnesis hat Benjamin sich in seinem Trauerspielbuch mit dem Begriff des „Urvernehmens“ (GS I.1 108) mit affirmativer Tendenz bezogen. Benjamin kritisiert unter anderem, dass eine uneingeschränkte Verfügbarkeit von Erinnerungen bzw. von Bildern der Vergangenheit angenommen und somit der historische Index der Erinnerung übergangen wird; im Falle Prousts etwa die geschichtliche Bedingtheit der Willkürlichkeit privater Erinnerungen.

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des‘ (vgl. GS VI 86), andererseits sieht er aber ab jener historischen Schnittstelle, die zugleich den „Verfall der Aura“ (GS I.2 479) markiert, auch die Bindung von Eros und Sexus sowie die von Ferne und Nähe gelöst. 31 Welche neuen und ambivalenten Verbindungen Benjamin an dieser historischen Schnittstelle entstehen sieht, arbeitet die vorliegende Untersuchung heraus. Diese vorläufigen Überlegungen zu Benjamins Eros-Begriff haben weitreichende Implikationen, denn sie eröffnen auch für den Begriff der Aura neue Perspektiven. So wurde in der Forschung bislang selten explizit reflektiert, ob Aura die Erfahrung einer Ferne oder einer bestimmten Beziehung von Ferne und Nähe ist. 32 Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Bedeutung und der Stellenwert der Nähe bislang nicht hinreichend erkannt wurden, unter anderem weil gewisse postmoderne Theoriediskurse, allen voran die Dekonstruktion, die Überbetonung einer als ‚Entzug‘ oder ‚Aufschub‘ verstandenen Ferne begünstigten.33 Die vorangegangenen Bemerkungen legen dagegen bereits nahe, dass als Folie, vor der eine ‚Krise der Aura‘ wie eine ‚Krise des Eros‘ bei Benjamin zu interpretieren sind, eine Konstellation von Ferne und Nähe stehen muss, die jenem „gesättigten Augenblick“ der mythischen Erfahrung ähnelt. Dass auf der anderen Seite eine Ferne steht, der „Fülle“ (GS II.1 376) wie „Sättigung “ 34 (GS V.1 461) abgehen, zeigt diese Arbeit vor allem an Benjamins Darstellungen der autobiographisch inspirierten Berliner Kindheit. Dass und wie Benjamin diese Thematik gerade in seinen literarischen Texten verhandelt, darf mithin nicht übergangen werden. Auf die Implikationen, die eine Verhandlung philosophischer Probleme im Medium (literarischer) Motive und Figuren bedeutet, ist indessen selten eingegangen worden, zumal von Seiten der Literaturwissenschaft.35 Die bemerkenswerte Relevanz, die Ben-

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Es ist kaum zu entscheiden, ob Benjamin Erfahrungen des Eros bzw. Verhältnisse von Nähe und Ferne historisiert, da er implizit eine Art Typologie verschiedener Verhältnisse von Nähe und Ferne aufstellt, zugleich aber historische Begründungen für die zugrunde liegenden Verschiebungen anführt. Vgl. vor allem seine Äußerungen über Baudelaire, GS I.2 648f. Vgl. Kap. I.3.1. Es werden beide Standpunkte vertreten: Während Burkhardt Lindner von einer Relation von Nähe und Ferne ausgeht (vgl. Lindner: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Benjamin-Handbuch, S. 229-250. S. 237), versteht etwa Josef Fürnkäs die Aura im Sinne eines „Aufschubs“. Fürnkäs: Aura, S. 113. Siehe dazu Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991. Vgl. auch Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Würzburg 2005. Auch Alfred Schuler zieht die Begriffe Fülle und Sättigung für seine Unterscheidung eines „geöffnete[n]“ und „geschlossene[n] Zeitalters“ heran. Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass. Mit Einführung von Ludwig Klages, Leipzig 1940, S. 273: Erstgenanntes, das Zeitalter der Aura, zeichnet sich durch ein „Gefühl der Erfüllung, der Sättigung, Teletae, Passivität, Verweilen im Augenblick, Verewigung des Augenblicks“ aus; Zweitgenanntes durch „Aktivität, Abhärtung, Entbehrung, Entsagung, Arbeit, Tatendrang“. Vgl. dazu Eva Geulens Bemerkungen zu Clemens Lugowskis Buch über Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Berlin 1932: Eva Geulen: Anagnorisis statt Identifikation (Raabes Altershausen) in: Deut-

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jamin bestimmten Motiven etwa in der Lyrik Goethes oder Baudelaires verleiht, ist bislang kaum kommentiert worden. Dies ist umso erstaunlicher als diese Motive durch die Beziehung zu philosophischen Konzepten und vor dem Hintergrund politischer Auseinandersetzungen ein erweitertes Bedeutungsfeld erhalten. An ihrem Beispiel lässt sich darum außerdem, so eine These der Arbeit, etwas über Benjamins Verfahren im Allgemeinen lernen, zumal im Hinblick auf die immer wieder konstatierte Tendenz Benjamin’scher Begriffe „zum bildlichen Ausdruck“. 36 Dabei geht es auch um eine – bislang noch nicht erbrachte – adäquate Beschreibung von Benjamins Philosophie, deren zentrale Begriffe kaum diskursivierbar erscheinen. Benjamin operiert mit Begriffen ohne den Anspruch auf Eindeutigkeit und verwendet sie eher kontextspezifisch als allgemeingültig, legt sie eher relational als hierarchisch an. Besonders auffällig ist ihre Vernetzung innerhalb seiner Texte, die ihre Bedeutsamkeit steigert, ohne ihre Bedeutung zu klären.37 Wenn man es Benjamins topologischem Denken entsprechend zu formulieren versuchte, könnte man sagen, dass derart unscharfe Begriffe aufgrund ihrer Gruppierung aus Benjamins Texten herausgehoben werden. Ihre Tiefe bzw. Höhe scheint anders als die der übrigen Wörter. Sie wirken im Verhältnis überdeterminiert, weil sie einerseits gleichsam unterirdische Verbindungen zwischen den Texten Benjamins herstellen, andererseits eine (reflexive) MetaEbene in die Texte einziehen, da sich in einigen Fällen die Verfahren der Darstellung mit jenen Begriffen auch bezeichnen lassen. Man kann sagen, dass Benjamin die Aura oder das Zitat nicht definiert, sondern darstellt, weil die jeweiligen Passagen mit Bedacht auf die Stellung der einzelnen Worte, auf Anklänge und Gleichklänge so sorgfältig komponiert sind, dass sie kaum referierbar erscheinen.38 Da sich diese Passagen zudem durch eine ungewöhnliche Ansammlung verschiedener Benjamin’scher Begriffe auszeichnen, scheinen diese in der Tat kaum fassbar. Aufgrund ihres performativen und prozesshaften Einsatzes scheint eine Klassifizierung dieser Wörter als Begriffe, die systematisch von anderen Begriffen abzugrenzen oder chronologisch in ihrer Bedeutungsentwicklung zu beschrei-

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sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008), S. 424447, hier: S. 424ff. Erdmut Wizisla und Michael Opitz: Einleitung, in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, S. 10. Das extremste Beispiel sind sicherlich Benjamins Ausführungen zum Zitat in seinem Essay über Karl Kraus, vor allem GS II.1 363. Vgl. dazu Kap. I.3.3. So schreibt etwa Josef Fürnkäs nicht ohne resignativen Unterton in Bezug auf die Aura: „Benjamins Begriffe erklären nichts, sie sind vielmehr selbst höchst erklärungsbedürftig“ (Fürnkäs: Aura, S. 98.) – und zitiert damit den mehr als zwanzig Jahre älteren Text Werner Fulds über die Aura: „In ihrem hilflosen Tiefsinn sind sie [d.s. Schweppenhäusers Erläuterungen des Aura-Begriffs] charakteristisch für nahezu alle Kommentare und Interpretationen zum Begriff der Aura; sie erklären nichts, sondern sind selbst erklärungs- und korrekturbedürftig.“ Fuld: Die Aura, S. 352. Die Krise der Aura ist auch eine Krise der Interpretation dieses Begriffes.

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ben wären39 , unangebracht. In jüngster Zeit hat man daher den Begriff der Denkfigur angeführt40 , der im Falle Benjamins vielleicht auch darum von einer gewissen Evidenz ist, weil seine literarische Kurzprosa seit Adorno unter dem Begriff des Denkbildes firmiert.41 Beide Begriffe verweisen auf ein Interesse, das anthropologisch auf das menschliche Denken wie historisch auf dessen je spezifische Darstellungsformen bzw. Darstellungsmedien ausgerichtet ist. Der Begriff der Denkfigur bleibt nun selbst ein vages Konzept, weil er auf sprachliche, grafische und andere visuelle Darstellungsformen angewandt wird. Im Falle Benjamins wird diese Arbeit nachweisen, dass es sich um sprachliche Verfahren handelt, die in Anwendung kommen. 42 Um die Bedeutung des Begriffs bzw. des Wortfeldes ‚Figur‘ bei Benjamin zu rekonstruieren, ist zunächst ein Blick auf sein Buch zum Ursprung des deutschen Trauerspiels zu werfen. Dort spielt zunächst der Begriff der Konfiguration eine zentrale Rolle für die Darstellung der Idee (vgl. GS I.1 214f.). Das Moment räumlicher Anordnung, welches im Begriff der Konfiguration anklingt, lässt sich auf die Sprache übertragen, denn Figur kann, zumal im Zusammenhang des Barock, auch und gerade die Schrift sein. Die Erstausgabe der Einbahnstraße von 1928 ist nun zwar nicht mit den Figurengedichten des Barock oder den modernen Typografie-Experimenten eines Stéphane Mallarmé zu vergleichen, aber auch sie arbeitet mit dem Schriftbild des Textes.43 Schrift wird hier jedoch nicht allein als optische Figur verstanden. In einigen Texten der Einbahnstraße lässt sich die Vorstellung eines Schrift- bzw. Textkörpers und seiner Relationen ausmachen.44 So sind die Texte zwar linear angelegt, Benjamins Spiel mit Referenzen hinterlässt aber den Eindruck einer (räumlichen) Anordnung, in der Bezüge schlagartig wechseln können.45 Aufgrund dieser Kippmomente ist der Begriff des Vexierbildes auf Benjamins Texte angewandt worden, da das Vexierbild je nach Perspektive oder mittels verschiedener Figur-Grundverhältnisse unterschiedliche Bildinhalte zeigt. 46 Wie der Betrachter wechselnde (räumliche) Relationen und Anordnungen auf der Suche nach einem versteckten Bildinhalt wahrnimmt, so ist auch der Leser 39

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So glaubt Werner Fuld im Falle der Aura, den Begriff über „biographische[] Quellentexte“ klären zu können. Ebd., S. 355. Die chronologische Vorgehensweise geht von den frühesten Nennungen des Begriffs in den „Haschischprotokollen“ aus (vgl. ebd., S. 356), erweist sich jedoch meines Erachtens als wenig produktiv, denn es bestehen Unterschiede zwischen einer Verwendung des Begriffs Aura und Benjamins verschiedenen Ausgestaltungen des Aura-Begriffes, die erst später einsetzen. Vgl. in Bezug auf Benjamin u.a. Weidner: Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin. Vgl. zum Begriff des Denkbildes Kap. I.1. Davon geht auch Daniel Weidner aus. Vgl. Weidner: Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin, S. 163. Vgl. Kap. I.2.2. Vgl. Kap. 1.2.3. Vgl. ebd. und Kap. I.2.4.2. Vgl. Rainer Nägele: Vexierbilder des Lebens. Benjamins autobiographische Kurztexte, in: Ders.: Literarische Vexierbilder. Drei Versuche, Eggingen 2001, S. 31-50.

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von Benjamins Texten gefordert – in diesem Sinne sind Begriffe wie DenkFigur bzw. Denk-Bild auch als Imperative zu bezeichnen. Die Untersuchung wird nachweisen, dass vor allem die Einbahnstraße mit solchen Hinweisen und Anweisungen arbeitet, die initiatorische Effekte entfalten sollen.47 Die vorliegende Arbeit wird den Begriff der Figur indessen auch in seiner Bedeutung als literarische Gestalt aufnehmen. In der Berliner Kindheit sind zahlreiche, vor allem weibliche Figuren ausgestaltet, deren Funktion im Text auch im Hinblick auf Benjamins philosophisch-essayistische Texte interessant ist. Denn obgleich diese Figuren zum Teil biographische Referenzen aufweisen, steckt doch so wenig Leben in ihnen, dass man versucht ist, sie – wie einige Figuren der barocken Trauerspiele – als Allegorien zu bezeichnen. Dies gilt selbst für die Figur des Kindes, auch wenn die Berliner Kindheit in der Ich-Perspektive gehalten ist und vor allem die Erfahrungen des Kindes, zumal seine (räumlichen) Wahrnehmungen, sowie die Erinnerungen des erwachsenen Ich-Erzählers im Vordergrund des Textes stehen.48 Die Darstellungen dieser Erfahrungen sind ihrerseits ohne Kenntnis von Benjamins philosophischen oder anthropologischen Überlegungen nur bis zu einem gewissen Grade zu verstehen oder einzuordnen. Die literarischen Darstellungen werden gleichwohl nicht als bloße Illustrationen Benjamin’scher Thesen verstanden. Die vorliegende Arbeit wird vielmehr zeigen, wie Benjamin einige seiner sprachphilosophischen und anthropologischen Thesen auf (literarische) Figuren und Motive überträgt, andererseits jene literarischen Elemente aber auch in die Darstellung seiner philosophischen Konzepte einbezieht. Auch wenn im Falle Benjamins diese Trennung zwischen essayistischen und literarischen Texten zunächst künstlich erscheinen mag, hilft sie gleichwohl, einen genaueren Blick dafür zu entwickeln, welche Dynamiken, vielleicht auch Interferenzen sich durch die wechselseitigen Übertragungen jeweils ergeben. Im Folgenden wird gezeigt, dass Benjamin Personen, die zumeist bereits in seinen ersten autobiographischen Aufzeichnungen im Kontext der Berliner Kindheit auftauchen, im Laufe der Überarbeitungen immer stärker in zumeist statische Figuren verwandelt, die zwar gewisse Eigenschaften und Qualitäten aufweisen, jedoch kaum einmal handeln.49 Auf der anderen Seite können Konzepte in seinen essayistischen Texten den Status einer Figur annehmen und als Agens wirken.50 Diese Dialektik einer Mortifizierung des Menschen, die in 47 48

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Vgl. Kap. I.2.3. Da es sich um literarisch bearbeitete Erinnerungen Benjamins handelt, wird im zweiten Teil dieser Arbeit, der sich mit der Berliner Kindheit befasst, allgemein zwar Benjamin mit dem Erzähler gleichgesetzt, dies bedeutet jedoch nicht, dass von einer biographischen Authentizität des Erzählten ausgegangen wird; gelegentlich wird auch von einem erwachsenen Erzähler gesprochen, um diese Perspektive von der des Kindes in den Texten abzugrenzen. Vgl. zur Frage, inwiefern der Erzähler der Berliner Kindheit als Walter Benjamin identifiziert werden kann, auch Kap. II.1. Vgl. bspw. die Figur der Tante Lehmann, Kap. II.2.4. Vgl. etwa den Reim im Kraus-Essay, der als Putte agiert. Auch das „bucklichte Männlein“ erscheint als Agens, ist aber doch eher ein Konzept. Vgl. Kap. II.5.

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eine Animierung der Dingwelt umschlägt, ist bekanntlich ebenfalls ein Signum der Moderne.51 Doch während bei Franz Kafka oder Charles Baudelaire Dinge den Eindruck von Lebendigkeit hinterlassen, kann bei Benjamin auch die Sprache derart lebendig erscheinen. Diese Untersuchung wird also erläutern, in welcher Weise Benjamins Verfahren auf ‚Figuren‘ beruhen, d.h. auf Gestalten im Text sowie auf einer aufgrund wechselnder Referenzen variabel erscheinenden Anordnung von Textelementen. Zugleich zeigt sie auf, dass Benjamin auch mit einer Qualität der Texte arbeitet, die ebenfalls als literarisch bezeichnet werden darf – die der Atmosphäre bzw. der Stimmung. Während man einem philosophischen Text etwa Hegels oder Kants wohl kaum eine Atmosphäre zusprechen würde (selbst in Bezug auf Nietzsche würde man wohl eher von Ausdruckskraft sprechen), gibt es bei Benjamin Texte oder zumindest Passagen auch in seinen philosophisch-essayistischen Texten, denen solche Qualitäten eignen, dass der Begriff der Atmosphäre angemessen erscheint. Solche Formen, die auf eine affektive Einbindung des Lesers zielen, lassen sich gut an Texten wie der Berliner Kindheit studieren, die mit starken emotionalen Einfärbungen des Erzählten arbeiten. Benjamins Texte sind jedoch nicht einfach nur atmosphärisch, sondern haben ein starkes konstruktives Moment. 52 Über die Einbahnstraße schreibt Benjamin etwa, dass sie eine „merkwürdige Organisation oder Konstruktion “ sei, die eine „Tiefe“ erschließen soll, die Benjamin nicht allein metaphorisch meint. 53 Dieser konstruktive Anteil ist allerdings nicht unbedingt im Sinne einer dokumentarischen Sachlichkeit zu verstehen. Im Falle der Berliner Kindheit kann man sagen, dass die Texte ihre ‚Atmosphäre‘ nachgerade aus einem konstruktiven Anteil, aus verschiedenen Relationen ziehen: Es sind Erinnerungen an die Kindheit, die ihre Spannkraft aus einer Konstellation der Erwartungen des Kindes und dem Wissen des Erwachsenen um deren Unerfülltheit erhalten. Auch hier lässt sich der Klages’sche Begriff des „Eros zum Ehemals“ anführen; doch kann dieses „Ehemals“ bei Benjamin auch die jüngere Vergangenheit umfassen. Zu den Bildern des kollektiven Bildgedächtnisses, die er aufgreift, gehören nicht nur der Apfel oder die Schlange, sondern auch das erste Telefon. Die Untersuchung stellt Benjamins Anspruch heraus, nicht lediglich 51

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Vgl. dazu u.a. Dorothee Kimmich: „Wir sehen nur was uns anschaut.“ Walter Benjamin und die Welt der Dinge, in: Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. Katalog zur Ausstellung im Haus am Waldsee, Berlin 2004, 2005, hg. v. Barbara Straka und Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2004, S. 156-167. Daher wurde seine Beziehung zum Konstruktivismus beleuchtet. Vgl. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1999 sowie Eckhardt Köhn: ‚Nichts gegen die Illustrierte!‘ Benjamin, der Berliner Konstruktivismus und das avantgardistische Objekt, in: Schrift, Bilder, Denken, S. 48-69. Walter Benjamin: Briefe, hg. und eingeleitet v. Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, 2 Bände, Frankfurt a.M. 1966, S. 433. Der Band wird im Folgenden unter der Sigle „B“ aufgeführt.

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private Erlebnisse literarisch zu fassen, sondern eine historischen Signatur der Moderne widerzuspiegeln, die er in seinen essayistischen Texten reflektiert. Die Texte der Berliner Kindheit teilen damit einige Grundprobleme des von Benjamin im Passagenwerk entworfenen „dialektischen Bildes“ (GS V.1 578): das Verhältnis von individueller und kollektiver Erfahrung, von Subjektivität und Konstruktion, von Gewesenem und Gegenwart, schließlich die unliebsame Nähe zu den ‚archaischen‘ und archetypischen Bildern Klages’ oder C.G. Jungs. Obgleich Benjamin auch in Bezug auf die Berliner Kindheit von „Bildern“ spricht (vgl. GS VII.1 385), wäre es vorschnell, sie als „dialektische Bilder“ zu bezeichnen, zumal Benjamin die zeitgleich entwickelten Projekte der Berliner Kindheit und des Passagenwerks streng voneinander getrennt sehen wollte.54 Der Bezug zum „dialektischem Bild “, das einen zeitlichen Index hat, einen Moment, an dem es ‚lesbar‘ wird (GS V.1 577f.), zeigt allerdings, dass Benjamin eine scharfe Entgegensetzung55 von Sprache und Bild zu unterlaufen versucht, wie sie Klages zugunsten eines irrationalistischen Bild-Begriffes forciert. Die hier zunächst vorläufig und nur im Ansatz beschriebenen Verfahren machen den besonderen Reiz bzw. die besondere Eigenheit von Benjamins Texten aus, welche seine Leserschaft scheidet. Es sind grundsätzlich solche Lesarten zu unterscheiden, die sich dem Bann der Schriften Benjamins nicht entziehen wollen oder können, und solche, die nüchtern-kritische Distanz suchen. Während die deskriptiven Lesarten vom Standpunkt einer Theorie oder eines Philosophems aus klaren Abstand zu den Texten halten – und sie mit ihrer vorgefertigten Schablone zu verfehlen drohen, sind affirmative Interpretationen geneigt, sich in eine heikle Nähe zu den Texten zu begeben, in der sie Gefahr laufen, vor lauter Material und Details den Überblick zu verlieren. Letztgenannte Lesarten können sich zwar auf Benjamins eigenes Vorgehen berufen, dieses ist jedoch weder unproblematisch noch stellt sich der Interpret damit in eine einfache Konkurrenz. Problematisch ist Benjamins Verfahren, das Kracauer seinen „besondere[n] Materialismus“ 56 genannt hat, weil es „die

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So schreibt Benjamin 1935 an Gretel Adorno: „Formen, wie die ‚Berliner Kindheit‘ sie mir darbietet, darf gerade dieses Buch [d.i. das Passagenwerk] an keiner einzigen Stelle und nicht im geringsten Grade in Anspruch nehmen: diese Erkenntnis in mir zu fundieren ist eine wichtige Funktion des zweiten Entwurfs. Die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die im Blick des auf seiner Schwelle spielenden Kindes sich spiegelt, hat darin ein ganz anderes Gesicht, als in den Zeichen, welche sie auf der Karte der Geschichte eingraben.“ (GS V.2 1139) Vgl. zur Dichotomie von Bild und Begriff den Forschungsüberblick zur Einbahnstraße, I.1. Vgl. ebd. zur Frage des Begriffes „Denkbild“, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Benjamin selbst zuzuschreiben ist (vgl. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 189ff.). Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins, in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1977, S. 249-255, hier: S. 250.

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Beziehung aufs Absolute [...] in leibhafter Fühlung mit den Stoffen“ sucht57 und diese Dialektik zuweilen nicht oder nur unter größter Überspannung der Darstellung und Begriffe gelingt. Solche ‚nahen‘ Herangehensweisen bieten allerdings auch Vorteile. Nur close readings, welche insbesondere Benjamins sprachliche Verfahren in den Blick nehmen, können, wie die vorliegende Arbeit vorführt, aufzeigen, dass und wie Benjamin sich gelegentlich sehr subtil in verschiedenen Diskursen positioniert. Wer von Mikroanalysen den Ausgang nimmt, zeigt zudem eine gewisse Skepsis gegenüber populären Schlagworten, die vorderhand einleuchten und gemeinhin anerkannt, nach ihrer Etablierung jedoch selten an den Texten überprüft werden. Dies dient einer Auratisierung des Autors, bedeutet aber auch seine Handhabbarmachung. An diese Probleme schließt darum die Frage nach der Aktualität Benjamins an, die in den Augen mancher allein daraus resultiert, dass sich jeder die ihm passende Stücke aus seinen Texten herausschneiden – oder bei Benjamin sollte man wohl sagen: herausbrechen kann.58 Dies hat Benjamin sicherlich beabsichtigt, denn die beschriebenen prägnanten Passagen, denen es an Apodiktik in vielen Fällen nicht mangelt, sind geradezu auf Zitation angelegt. Dieses Verfahren Benjamins, Stellung zu beziehen und dem Leser eine Stellungnahme abzuverlangen, muss man nicht mögen59 , es ist indes Ausdruck der Überzeugung, dass Texte ‚verwendet‘ (vgl. GS V.1 574) werden müssen – und Benjamins anhaltende Popularität belegt den Erfolg dieser Strategie. Damit wird freilich auch der zum Autor werdende Leser vor das Problem gestellt, die Texte in ihrer Historizität zu begreifen und zugleich ihre aktuellen Momente zu finden. Die vorliegende Arbeit sucht nach einer Aktualität Benjamins im Hinblick auf die von ihm verwendeten Motive und Begriffe, die als oszillierende Denkfiguren noch unentdeckte Problemstellungen wie Lösungen bereithalten könnten.

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Adorno: Einleitung zu Benjamins ‚Schriften‘, in: Ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1981, S. 567-583, hier: S. 568. Vgl. etwa Caygill: The colour of experience, S. ix, der von einem „Benjamin à la carte“ spricht. So beschreibt etwa Willer diese Vorgehensweise Benjamins treffend, aber mit einem gewissen Abwehrreflex. Vgl. Willer: „Nachleben des Verstandenen“, S. 94f.

I. DIE EINBAHNSTRASSE

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR EINBAHNSTRASSE

Im Jahr 1923, der „Zehntausendmarkschein“ ist gerade „als kleinste Münzeinheit“ in Gebrauch gekommen (GS IV.2 934), begegnet Benjamin auf einer Deutschlandreise „nackte[m] Elend“. So erschreckend diese Armut ist, so ist für ihn das Ausmaß einer zugleich entdeckten kulturellen Verarmung kaum weniger schockierend. Das literarische Konzentrat einer „beschreibende[n] Analysis des deutschen Verfalls“ (B 355), die Benjamin daraufhin verfasst, wird in der Einbahnstraße „Kaiserpanorama“ heißen.1 Es trägt den Untertitel: „Reise durch die deutsche Inflation“ (GS IV.1 94). Während dieser erste Entwurf im privaten Kreise verbleibt2 , werden ab 1925 einzelne Stücke und Auszüge des ursprünglich als „Plakette für Freunde“ (B 367) geplanten Bandes in Zeitungen und Zeitschriften wie der „Frankfurter Zeitung“ oder der „Literarischen Welt“ publiziert (vgl. dazu GS IV.2 912-914). Diese Veröffentlichungen tragen schon nicht mehr, wie Benjamin es 1924 vorgesehen hatte, „den Namen eines [ihm] Nahestehenden“ im Titel (B 367). Man kann diese berufliche Neuorientierung als eine Hinwendung zur Öffentlichkeit interpretieren, zu der sich Benjamin nach der Ablehnung seiner Habilitationsschrift zum Ursprung des deutschen Trauerspiels genötigt sah.3 Diese Neuorientierung wurde in der Benjamin-Forschung lange Zeit als Wandel „vom esoterischen Philosophen zum politisch engagierten Publizisten, vom Sprachmystiker zum dialektischen Materialisten“ gelesen4 , zumal sich die These einer Benjamin’schen ‚Kehre‘ in bezeichnenden Änderungen des „Kaiserpanoramas“ gestützt findet: Statt des „Pfad[s] des Gebetes“ (GS IV.2 931) soll in einer späteren Version der „Pfad der Revolte“ (GS IV.2 97) beschritten werden5 ; die These einer ‚Kehre‘ scheint schließlich auch durch die Gesamtkonzeption des 1

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Vgl. zu Streichungen und Umarbeitungen, die Benjamin später vorgenommen hat: GS IV.2 916-935. Einige Textabschnitte nimmt Benjamin unter anderen Titeln in die Einbahnstraße auf. Vgl. zu Entwürfen und Fassungen auch die Ausgabe der Einbahnstraße im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe: Walter Benjamin: Einbahnstraße, hg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a.M. 2009, S. 129-198. Benjamin übergibt ihn im gleichen Jahr an seinen Freund Gershom Scholem, bevor dieser nach Palästina auswandert. Vgl. dazu GS I.3 868-902. Bernd Witte: Walter Benjamin. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, 6. Auflage Hamburg 1997, S. 65. Die These einer Politisierung Benjamins unterstützen ferner briefliche Aussagen: „Auch die kommunistischen Signale [...] waren zuerst Anzeichen einer Wendung, die in mir den Willen erweckt hat, die aktualen und politischen Momente in meinen Gedanken nicht wie bisher altfränkisch zu maskieren, sondern sie zu entwickeln, und das, versuchsweise extrem.“ (B 368)

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR EINBAHNSTRASSE

Buches bestätigt zu werden, das in der Hoffnung kulminiert, in solchen Zeiten des alles umfassenden Verfalls sei die „Macht des Proletariats Gradmesser der Gesundung“ des Gesellschaftskörpers (GS IV.1 148). 1973 fasst Heinz Schlaffer, aus einigem historischen Abstand heraus, dahingehend zusammen: „Von der Hoffnung, daß im Leben, am Konkreten politische Einsicht wachse, lebten Form und Ziel des Denkbildes.“ 6 Gemessen wurde das Buch mithin nicht nur an ästhetischen, sondern überdies an politischen Maßstäben. Auch Josef Fürnkäs verknüpft die politische Situation mit der (literarischen) Form: Das „historische Unglück der ‚Weimarer Einbahnstraße‘“ korreliere mit den „Denkbilder[n] als historisch verunglückte[r] Form“. 7 Einen tatsächlichen Eingriff der literarischen Form ins öffentliche Leben scheint eine gewisse Abgewandtheit der Texte verhindert zu haben; das sieht bereits die zeitgenössische Kritik: „So stecken hier [d.i. in der Einbahnstraße] Philosopheme der Welt unterm Glaskasten der Schaufenster“, meint etwa Ernst Bloch.8 Das ‚historische Unglück‘ konnten freilich die anderen Autoren der Frankfurter Schule mit ihren Texten ebenso wenig abwenden wie Benjamin. Das Urteil, bei der Einbahnstraße handele es sich um „keineswegs gelungene Versuche“ 9 , fällt jedoch auch ohne dass der politische Gebrauchswert der Texte mitverhandelt würde: Hier versuche sich der Autor an einer Form, die erst in anderen und größeren Werken zur vollen Entfaltung kommen sollte. Die Texte werden daher tendenziell in einem gemeinsamen „Produktionskreis“ (B 455) mit dem Passagenwerk oder den in den Gesammelten Schriften unter dem Titel „Denkbilder“ gesammelten Prosastücken verhandelt (vgl. GS IV.1 305-438).10 Die Einbahnstraße wird so nicht nur thematisch in Benjamins Œuvre aufgelöst, sondern auch ihre Form, die Benjamin als „merkwürdige Organisation oder Konstruktion “ beschreibt (B 433), gerät dadurch aus dem Blick: Es sei eine „Straße, die einen Prospekt von so jäher 6

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Heinz Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie, in: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland, hg. v. Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart 1973, S. 137-154, hier: S. 152. Josef Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer „Einbahnstraße“ und Pariser Passagen, Stuttgart 1988, S. 9. Ernst Bloch: Revueform in der Philosophie, in: Ders.: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M. 1962, S. 368-371, hier: S. 370. So Momme Brodersen: Der außerordentliche Gelehrte einer ordentlichen Philosophie. Die Rezeption Benjamins zu Lebzeiten, in: Schrift, Bilder, Denken, S. 70-81, hier: S. 75. Vgl. Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis, S. 2; auch Sdun, der sich mit Benjamins bildlichem Sprachgebrauch beschäftigt, deutet bereits im Untertitel seines Buches – „Untersuchungen zur bildlichen Sprache im Umkreis der Einbahnstraße“ – an, dass die Einbahnstraße nicht als eigenständiger und abgeschlossener Band betrachtet wird (Dieter Sdun: Benjamins Käfer. Untersuchungen zur bildlichen Sprache Walter Benjamins im Umkreis der „Einbahnstraße“, Frankfurt a.M. 1994). Anders Spinnen, der nach der „Großstruktur des Werkes“ sucht. Burkhard Spinnen: Schriftbilder. Studien zu einer Geschichte emblematischer Kurzprosa, Münster 1991, S. 260. Der von Detlev Schöttker im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe herausgegebene Band profiliert die Einbahnstraße als eigenständiges Buch: Walter Benjamin: Einbahnstraße, hg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a.M. 2009.

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Tiefe – das Wort nicht metaphorisch zu verstehen! – erschließen soll“ (ebd.). Doch nicht allein dieser ‚räumliche Abschluss‘ legt eine Begrenzung des Textkorpus auf die Texte der Einbahnstraße nahe, auch der historische Moment der Abfassung scheint ein besonderer zu sein, das lässt sich im Vergleich mit der mehrere Jahre später begonnenen Berliner Kindheit um neunzehnhundert sagen, die eine andere Form von ‚Tiefe‘ zu entwickeln versucht, die weniger prospektiv denn retrospektiv zu nennen ist. Adorno leitet das Wiedererscheinen der Einbahnstraße zuerst im Jahre 1955 ein und bestimmt mit seiner Auffassung, das Buch sei kein „Aphorismenband“, sondern eine Sammlung von Denkbildern, zunächst die Rezeption. 11 Benjamin selbst hatte die Bezeichnung ‚Aphorismus‘ in seinen Briefen oft zögernd verwendet12 , doch ist auch der Begriff des Denkbilds nicht auf Benjamin zurückzuführen.13 Adorno entleiht den Begriff „Denkbild “ Borchardts GeorgeKritik: Er sei „ein Hollandismus“ und ersetze „das vom Gebrauch ramponierte ‚Idee‘“. Gemeinsam sei der Bezeichnung bei George und Benjamin indes allein, „daß Subjektives überhaupt nur als Manifestation des Objektiven begriffen wird“. 14 Borchardt sieht in seiner Polemik das Bild gegen das Denken ausgespielt, und auch Adorno deutet eine Entgegensetzung von Bild und Begriff an, wenn er schreibt, die Texte der Einbahnstraße seien „gekritzelte Vexierbilder [...] des in Worten Unsagbaren“, die „dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten“ wollen.15 Eine strikte Trennung von Bild und Begriff vollzieht Adorno wohlweislich nicht. Sie prägt sich deutlich erst im Modell des Emblems aus, das Schlaffer Anfang der siebziger Jahre auf die Texte anwendet. Schlaffer nimmt den Begriff des Denkbildes auf, der zuvor von Schulz etymologisch untersucht worden war. Zaghaft hatte Schulz auf die „Nähe zum Emblem“ hingewiesen16 , die darin bestehe, dass die Texte „einen konkreten Sachverhalt (Bild) und eine daran anknüpfende Reflexion (Denken)“ enthalten.17 Schlaffer setzt diese Teilung in „Gedanke und Anschauung“ 18 nun emphatisch für so verschiedenartige Texte wie Kracauers ‚Reportage‘ Die Angestellten, Brechts „Keuner“-Episoden, Blochs Spuren und Adornos reflexionsgesättigten Minima Moralia an. Im Unterschied zum Emblem sei das „Konkrete [...] nicht die Natur, sondern die Gesellschaft“; im „Denkbild“ werde – anders als 11 12 13

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Theodor W. Adorno: Benjamins Einbahnstraße, in: Ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1981, S. 680-686, hier: S. 680. Am 29.5.1926 schreibt Benjamin an Scholem über eine Vorstufe der Einbahnstraße, sie sei ein „Notizbuch, das ich nicht gern Aphorismusbuch nenne“ (B 428). Siehe dazu Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 189. Schöttker meint, obgleich einige Texte, die 1933 in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen sind, den Titel „Denkbild“ tragen, sei „es unklar, ob diese Überschrift von Benjamin stammt, da der Begriff in seinem Werk ansonsten nie auftaucht oder gar erläutert wird“. Adorno: Benjamins Einbahnstraße, S. 680. Ebd., S. 680f. Eberhard Schulz: Zum Wort ‚Denkbild‘, in: Wort und Zeit. Aufsätze und Vorträge zur Literaturgeschichte, Neumünster 1968, S. 218-252, hier: S. 244. Ebd., S. 243. Schlaffer: Denkbilder, S. 142.

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in der barocken Form – eine „ästhetische Versöhnung“ von Konkretum und Abstraktum nicht erzwungen.19 Schlaffers Opposition von Konkretum und Abstraktum ist im Gegensatz zu Adornos implizit hierarchisch. Während Adorno meint, die Bilder könnten „Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen“ 20 , nimmt Schlaffer eine „Präexistenz der Theorie“ an und beobachtet ausgerechnet an Benjamins Texten „die Subsumtion des Einzelfalles unter das generelle Gesetz“. 21 Dieses Problem des „Mit- und Gegeneinander[s] von einzelner ‚Erfahrung‘ und geprägtem ‚allgemeinen Satz‘“ 22 , welches die Form der Denkbilder bestimmt, ist allerdings kein neues – es ist das Grundproblem des Aphorismus. Umso erstaunlicher erscheint, dass die Frage nach der Nähe von Aphorismus und Denkbild bislang nicht gestellt wurde und zwischen ihnen stets eine Ausschlussbeziehung galt.23 Zu einer fundierten Abgrenzung von Denkbildern und Aphorismen kann es so lange nicht kommen, wie die sprachlichen Verfahren der Denkbilder nicht geklärt sind, wie sich an der Emblematik orientierende Analysen damit begnügen, den Text in pictura, subscriptio und inscriptio zu zerlegen. Auch das Verhältnis von Bild und Begriff hat – als Opposition verstanden – einige vage Beschreibungen beding, die die Verfahren in den Texten nicht eingehend erklären konnten.24 In der vorliegenden Arbeit sollen daher diese bislang nicht detailliert analysierten genuin sprachlichen Verfahren untersucht werden. Die Unterscheidung in bildliche und begriffliche Elemente wird dabei im Folgenden hinter der Untersuchung von Relationen zurücktreten, denn in Benjamins Texten sind sowohl Bilder als auch Begriffe über (räumliche) Beziehungen charakterisiert. Für den Aphorismus liegen im Gegensatz zum Denkbild konzise Beschreibungen und ‚Gattungsdefinitionen‘, etwa durch Gerhard Neumann oder Harald

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Ebd., S. 143. Adorno: Benjamins Einbahnstraße, S. 681. Schlaffer: Denkbilder, S. 140. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 11. Synonym verwendet werden die Begriffe z.B. bei Gerhard Richter, der die Denkbilder in der Tradition der „aphoristic philosophical prose of Nietzsche“ sieht: Richter: ThoughtImages, S.11. Auch Richter fragt indessen nicht nach möglichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden von ‚Denkbild‘ und Aphorismus. Vgl. Britta Leifeld: Das Denkbild bei Walter Benjamin. Die unsagbare Moderne als denkbares Bild, Frankfurt a.M., Berlin, Bern u.a. 2000, S. 54. Leifelds Überlegungen liegt eine Polarität von Bild und Sprache zugrunde, die sich besonders in ihrer Beschreibungssprache widerspiegelt. Im „Denkbild“ werde der Bezug zu den „Assoziationen des Lesers“ durch produktive „Unschärferelationen“ hergestellt, daher verwiesen, anders als im Emblem, die Elemente pictura, inscriptio, subscriptio nicht mehr nur aufeinander (ebd., S. 63 und S. 17). Der Sinn der Texte wäre somit in hohem Maße relativ, nähme nicht auch Leifeld an, dass die „Bilder [...] seinen [d.i. Benjamins] theoretischen Überbau [illustrieren]“ (ebd., S. 59). Wie die Theorien des Autors über die vermeintliche Unschärfe des Denkbildes mit den „Assoziationen des Lesers“ vermittelt werden, stellt Leifeld indes nicht dar. Ihre Rede von „Unschärferelationen“ ist zweifellos der Vorstellung eines Bildes geschuldet, verwundert jedoch angesichts des stark pointierten Charakters der Texte Benjamins.

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR EINBAHNSTRASSE

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Fricke, vor.25 Auf Letzteren bezieht sich Detlev Schöttker, der die Einbahnstraße in die aphoristische Tradition der Frühromantiker einordnet.26 Schöttker marginalisiert im Zuge dieser Umwertung jedoch das Bildhafte in Benjamins Texten – „die verwendeten Bilder“ seien „immer auf einen Satz oder Kurztext beschränkt, [...] meist der Argumentation verpflichtet und dominieren nie einen ganzen Beitrag“. 27 Diese noch näher zu konturierende bildliche Dimension zu erfassen und zu betonen, ist aber der Vorzug des Begriffs Denkbild. 28 Der Begriff des Bildes kann jedoch auch dazu verführen, sich in wolkigen Formulierungen über das „bebilderte Denken“ 29 zu verlieren. Eine ausgewogene Untersuchung wird daher noch einen Schritt zurücktreten müssen, um zu fragen, warum der Begriff des Bildes zur Beschreibung dieser Texte adäquat erscheint. Auch an diesem Punkt sind Überlegungen zu Bezügen innerhalb der Texte ausschlaggebend, das werde ich vor allem im Vergleich der verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit im zweiten Teil der Arbeit zeigen.30 Eine Antwort auf die Frage, ob es sich nun um Aphorismen oder (emblematisch organisierte) Denkbilder handelt, steht hier indes auch darum nicht im Vordergrund, weil die Emblem-Struktur zumeist nur anhand einer Sammlung („Reiseandenken“, GS IV.1 122-125) nachgewiesen wird31 , die neunundfünfzig anderen Texten im Buch gegenübersteht. Auf den ersten Blick sind lediglich drei Aphorismenreihen auszumachen: „Loggia“ (GS IV.1 119), „Optiker“ (GS IV.1 125), „Kurzwaren“ (GS IV.1 138f.).32 Der Versuch, eine bestimmte Form nachzuweisen, führt mithin zu einer Ausblendung der Mehrzahl der Texte des Buches.33 Die Einbahnstraße gilt auf der anderen Seite als Exemplar einer modernen Literatur-Gattung, die den Einfluss journalistischer Medien und veränderter Lebensumstände widerspiegelt. Eckhart Köhn hat mit diesem Interesse die 25 26

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Neumann: Ideenparadiese, S. 27; vgl. Harald Fricke: Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 11. Schöttker wendet sich gegen eine Ausschlussbeziehung von Aphorismus und Denkbild, wie sie Adorno vertritt. Schöttker erkennt zwar grundsätzlich „strukturelle Übereinstimmungen mit dem Emblem“ an, weist aber auf andere Formen – wie „Kurztraktat, Thesengruppe, Glosse, Prosaskizze“ – hin, die für ihn zu einer „aphoristischen Minimalprosa“ zählen. Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 188 u. S. 190. Ebd., S. 11. Zur Kritik von Seiten Schöttkers vgl. ebd., S. 189f.). Leifeld: Das Denkbild bei Walter Benjamin, S. 54. Vgl. v.a. Kap. II.3. Vgl. dazu Schlaffers Denkbild-Aufsatz und Spinnens Buch, in dem fast alle Texte der Sammlung „Reiseandenken“ untersucht werden. Spinnen: Schriftbilder, S. 287-298. Die verstreut im Band aufzufindenden Aphorismen sind hier nicht einbedacht. Es ist daher durchaus sinnvoll, wie Sdun, verschiedene Formen anzunehmen. Sdun unterscheidet die Texte der Einbahnstraße in fünf Formen: Wechselbild, beschreibende Analysis, Erzählbild, Aphorismus und These. Seine Untersuchung tendiert allerdings zu stark ins Formale. Sein Ziel, „die Darstellungs- oder Bildformen, die in der Einbahnstraße erscheinen, merkmaltypisch zu klassifizieren“, führt zu einer Trennung von Form und Inhalt, von Begriffen und Beispielen, die dann nur „idealtypisch“ für den Begriff auszusagen haben. Sdun: Benjamins Käfer, S. 172.

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR EINBAHNSTRASSE

Texte der Einbahnstraße als „Kleine Form“ beschrieben34 und sich zudem über das Verhältnis von Literatur und „veränderten Reaktionsweisen des Subjekts“ im „urbane[n] Leben“ Gedanken gemacht.35 Obgleich er den Begriff des Denkbildes vermeidet, zielt er auf einen ihm entsprechenden mentalen Prozess ab: Die Straße wird Köhn zur Metapher des „flanierenden Denken[s]“, welches sich durch Spontaneität (man erinnere sich an Adornos Bemerkungen) und Bewegung auszeichnet.36 – Dem Begriff Denkbild scheint ein nicht zu leugnender Erfolg auch deshalb beschieden, weil ein Interesse besteht, Bilder für das Denken zu finden. Mit dem Begriff des Denkbildes im Zusammenhang Kleiner Prosa hat sich auch Dirk Göttsche befasst: Als eines der „gattungsgeschichtlichen Modelle“ für Benjamins Prosa führt er, neben dem Emblem, das französische Prosagedicht des 19. Jahrhundert an37 , dessen Einfluss er unter anderem auf Benjamins intensive Beschäftigung mit Baudelaire im Rahmen seiner Übersetzungen zurückführt.38 Göttsche bemerkt die „Variabilität“ der Formen und markiert die provokante „Überschreitung je historisch relevanter Gattungsgrenzen“. 39 Das Verhältnis von Benjamins Prosa zur Lyrik, zumal der Lyrik jener Autoren, mit denen Benjamin sich eingehend beschäftigt hat, ist nun tatsächlich besonders interessant, und das nicht nur, weil Benjamin Motive aus der Lyrik anderer Autoren aufgreift. Lyrik kennt prinzipiell andere und stärkere Bindungen zwischen einzelnen Textbestandteilen als Prosa, weil in ihr die Satzstellung strengeren, z.B. metrischen Gesetzen gehorcht, weil sie Zäsuren setzt und überbrückt, weil Schriftbild und Klang die semantische Dimension der Sprache hinter sich zurücktreten lassen. Benjamins Darstellungen führen vor, wie diese Momente auch in Prosa eingesetzt werden können, indem sie mit der Stellung bestimmter Wörter zueinander, Vor- und Rückverweisen, der Materialität der Sprache spielen und so den Text als Raum eröffnen.

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Vgl. Eckhart Köhn: Straßenrausch. Flaneure und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin 1989, S. 9. Ebd., S. 208. Ebd., S. 207. Dirk Göttsche: ‚Denkbilder‘ der Moderne und kulturkritische ‚Betrachtungen‘. Entwicklungen der Kurzprosa zwischen 1925 und 1955, in: Modern times? German literature and arts beyond political chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925-1955, hg. v. Gustav Frank, Rachel Palfreyman, Stefan Scherer, S.149-165, hier: S. 153. Vgl. ebd. Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart, Münster 2006, S. 17.

2. DIE AUTORITÄ T DER SCHRIFT

2.1 Die Krise des Erzählens in der Moderne 2.1.1 Die Krise des Erzählens und die Krise der Aura Der Erzähler – so vertraut uns der Name klingt – ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig. Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes. [...] Es ist, als wenn ein Vermögen, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. (GS II.2 438f.)

Die Krise des Erzählens, die Benjamin in seinem 1936 verfassten Essay über Nikolai Lesskow formuliert, scheint untrennbar von einer Krise der Erfahrung, welche er im gleichen Zuge beschreibt (vgl. GS II.2 489). Benjamin schildert, wie Erfahrung, und zwar nicht die individuelle allein, sondern auch die kollektive, als Orientierungsmaßstab ins Wanken gerät, wenn sie keinen Rat mehr bereitstellt, wie zu handeln sei, schlimmer noch: wenn sie „Lügen gestraft wird“ (ebd.). Dieser Umstand scheint zunächst der Technologisierung der Lebenswelt geschuldet, wie Benjamin am Beispiel des Ersten Weltkrieges zeigt, dessen technologische Materialschlachten „eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war“ (ebd.), unvermittelt traf. Da die Geschehnisse auf dem Schlachtfeld jegliche zuvor gemachte Erfahrung nichtig erscheinen und sich in deren Reihe auch nicht einfügen lassen, sei diese Generation „ärmer an mitteilbarer Erfahrung“ (ebd.) aus dem Krieg zurückgekehrt. Dass nicht alle verstummt von den Schlachtfeldern zurück kamen, weiß freilich auch Benjamin, hat er sich doch mit Ernst Jünger, der wortreich den „Kampf als inneres Erlebnis“ rühmt, auseinandergesetzt. Benjamin geht es dabei nicht nur um eine Abgrenzung von konkreten Inhalten wie der glorifizierenden Beschreibung des Krieges, sondern auch um die Abgrenzung von Jüngers Erlebnis-Begriff. Benjamin setzt davon 1929 in einer Rezension seinen Begriff der Erfahrung ab: „Erlebnis will das Einmalige und die Sensation, Erfahrung das Immergleiche“ (GS III 198). Dieses „Immergleiche“ garantiert, so könnte man im Hinblick auf den Erzähler-Aufsatz sagen, den „Nutzen“ jeder „wahren Erzählung“ (GS II.2 444), wenn dieser darin besteht, dass sie „Rat wisse“, d.h. wenn die Erzählung als Weitergabe einer Erfahrung gelten kann, die über Generationen hinweg vermittelt wird, weil sie ihre Gültigkeit behält. Benjamin nennt die Erzählung darum auch eine „Kunde, die von fernher kommt“ (ebd.). Von der Erzählung grenzt Benjamin die Information ab, die eng mit dem Erlebnis in Beziehung

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

steht, weil sie auf „das Einmalige und die Sensation “ setzt (GS III 198). Während die Information Geschehnisse plausibel macht und sich in ihrem Neuheitswert erschöpft, sucht die Erzählung alle Erklärungen fern zu halten, um so mit ihren Fragen auch ein Potential zu bewahren. Daher ist auch das Verhältnis zur Erfahrung des Hörers ein jeweils anderes: Die Erzählung prägt auf diese Weise den Hörern eine Erfahrung ein, Informationen hingegen kann sich der Leser nicht als Erfahrung aneignen (vgl. GS I.2 610). Jene Krise der Erfahrung und des Erzählens wird gelegentlich als Symptom einer allgemeinen, durch die (kapitalistische) Industrialisierung verursachten Krise des modernen Lebens gelesen.1 Gegen eine Deutung des Phänomens als moderne „Verfallserscheinung“ verwehrt sich Benjamin zwar2 , gleichwohl sind die Umstände, die in seinen Augen eine tatsächliche ‚Anbildung‘3 der erzählten Geschehnisse an die eigene Erfahrung der Menschen erlauben, solche vorindustrieller Arbeit: Weben und Spinnen, eine geistige Langeweile verbunden mit einem gleichförmigen Rhythmus der Arbeit (vgl. GS II.2 447). Die moderne Großstadt und ihre Arbeitsbedingungen produzieren indessen ein anderes Publikum als das ländliche Russland des Erzählers Nikolai Lesskows. Ein ungekanntes Tempo, nicht zuletzt den neuen technischen Möglichkeiten geschuldet, bestimmt das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft. Das, was dem Großstadtmenschen nun alltäglich zustößt, bezeichnet Benjamin als „Chock“ (GS I.2 541). Er befasst sich damit bekanntlich in seinem Aufsatz über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und in seinen Essays zu Baudelaire, weil er sich für die von ihm sogenannte „Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis“ interessiert (GS I.2 653). Wie die Erzählung, so ist auch die Aura in der Krise. Benjamin verwendet sowohl für die ‚Definition‘ der Aura im Kunstwerk-Aufsatz als auch für die Gegenüberstellung von Erzählung und Information im Lesskow-Essay die Kategorien Nähe und Ferne. Aura, schreibt Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz, ist die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen (GS I.2 479).4

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Vgl. Martin Jay: Is Experience Still in Crisis?, S. 131: „Variously attributed to traumas of world war, modern technologies of information, and the ‘atemporal technified process of the production of material goods,’ which seems another way to say capitalist industrialization, the decay of something called experience is [...] an index of the general crisis of modern life.“ „Und nichts wäre törichter, als in ihm [d.i. dem Ende der Erzählkunst] lediglich eine ‚Verfallserscheinung‘, geschweige denn eine ‚moderne‘, erblicken zu wollen.“ (GS II.2 442) Über die Geschichten des Erzählers sagt Benjamin: Sie „bilden [...] sich seiner eigenen Erfahrung [d.i. der des Zuhörers] an“ (GS II.2 446). Es wäre bedenkenswert, auf welche (Bildungs-)Konzepte Benjamin mit diesen Worten rekurriert. Ich zitiere hier aus der dritten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes. Die Formulierung ist bis auf folgende Worte, die sich nur in der ersten Fassung finden, in den drei derzeit zugängli-

2.1 DIE KRISE DES ERZÄHLENS IN DER MODERNE

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In Beziehung auf „natürliche[] Gegenstände[]“ 5 lässt sich die Erfahrung solcher Ferne als einer räumlich wie zeitlich begründeten Unerreichbarkeit durchaus nachvollziehen. Was bedeutet diese Erfahrung jedoch in Bezug auf das Kunstwerk? – Hier werden die weiteren Implikationen der Kategorie Ferne offensichtlich, denn Benjamin versteht als das „wesentlich Ferne“ das „Unnahbare“. Diese „Unnahbarkeit“ 6 ist zunächst eine „Hauptqualität des Kultbildes“ (GS I.2 480); der „Kultwert“ des Werkes ist Zeichen wie Folge seiner Verborgenheit vor dem gewöhnlichen Betrachter (vgl. GS I.2 483). Mit der Loslösung des Kunstwerks aus dem Ritual tritt die Authentizität die Nachfolge des „Kultwertes“ an (vgl. GS I.2 481). Am Kunstwerk stellt sich daher Ferne nur insoweit ein, als das Kunstwerk ein „Echtes“ ist, d.h. als es in eine zeitliche Ferne zurückgreift und so im Zusammenhang einer Tradition steht. Das „Tradierbare“ des Kunstwerks sind seine „materielle[] Dauer“ wie die davon abhängige „geschichtliche[] Zeugenschaft“ (GS I.2 477)7 : Als dieses Bestimmte ist es einmalig – und „echt“ (vgl. ebd.). Die Aura ist demzufolge ein „Hier und Jetzt“ (GS I.2 437) des aus der Vergangenheit Tradierbaren und Tradierten. Diese Tradierbarkeit des Kunstwerkes findet seine Entsprechung in der „Mitteilbarkeit der Erfahrung“ (GS II.2 442), die „von Mund zu Mund geht“ (GS II.2 440). So ist auch jede „wahre Erzählung“ (GS II.2 442) in ein Kontinuum eingebettet: Es bedarf einer „Kette der Tradition, welche das Ge-

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chen Fassungen gleich: „Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit.“ (GS I.2 440) Es schließt die bekannte ‚Definition‘ an. Der Sternenhimmel wäre ein weiteres prominentes Beispiel in Benjamins Werk (vgl. Kap. I.3.2). Im Judentum gilt der Name Gottes als Inbegriff solcher Unantastbarkeit. Vgl. Gershom Scholem: Der Name Gottes, in: Eranos 39 (1970), S. 243-299, hier: S. 249. Obwohl Benjamin nicht explizit auf diese Vorstellung rekurriert, ist sie in Anbetracht der Relevanz des Namens in Benjamins Sprachphilosophie nicht zu vernachlässigen (vgl. Kap. I.3.2 und II.3.3). Recki schreibt in ihrem Buch Aura und Autonomie: „Die Echtheit einer Sache ist identisch mit ihrer empirischen Singularität als einmaligem Dasein.“ Birgit Recki: Aura und Autonomie, S. 18. Zugleich liest sie das Charakteristikum der Einmaligkeit auf die Erfahrung des Rezipienten bezogen als „Paradox des erfüllten Augenblicks“. Ebd., S. 20. Lindner kritisiert in seinen Kommentaren zum Kunstwerk-Aufsatz ein Verständnis von Echtheit, das sich auf die erste Lesart, die materielle Basis des Werkes bezieht: „Teilweise ergaben sie [die Zweifel an der Kategorie der Echtheit] sich aus einer definitiv falschen Lektüre, er [d.i. Benjamin] setze Echtheit mit der physischen Originalgestalt identisch. Aber die Definition bleibt doch problematisch, die ‚Echtheit einer Sache sei der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft‘ (I, 438).“ Lindner: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 236. Echtheit ist für Lindner daher „keine wahrnehmungstheoretische, sondern eine diskurstheoretische Kategorie, in der je historisch die Vorstellungen über Echtheit geregelt werden“. Ebd., S. 237. Der Begriff der Echtheit ist, wie das Benjamin-Zitat belegt, das Lindner selbst anführt, zwar nicht von seiner Materialität zu trennen. Wenn Benjamin indessen schreibt, es sei damit „alles vom Ursprung her [...] Tradierbare[]“ gemeint, dann steht der Begriff des Ursprungs nicht für die ‚ursprüngliche‘ materielle Verfassung des Kunstwerks, sondern schließt den Begriff seiner Echtheit mit ein. Auch der Begriff seiner Echtheit ist ein „Tradierbare[s]“, das im Laufe der Geschichte vielfältig restituiert wird, also selbst variabel ist und nicht abgeschlossen.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

schehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet“ (GS II.2 453). Die Erzählung erlangt ihre Autorität als eine „Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt“, oder als eine „Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Sesshaften sich anvertraut“ (GS II.2 440). Die Erzählung spricht von und aus „der Ferne des Raumes wie der Zeit“ (GS II.2 441). Im Kunstwerk-Aufsatz codiert Benjamin den „gegenwärtige[n] Verfall“ der Aura entsprechend der Opposition der Kategorien Nähe und Ferne über die Nähe. Er sieht ihren Verfall unter anderem in der Tendenz der Massen begründet, „die Dinge sich räumlich und menschlich ‚näherzubringen‘“ (GS I.2 479); in dieser Tendenz liegt auch die Verdrängung der Erzählung durch die Information: Mit der Ferne, so die Zeitdiagnose, geht es scheinbar zu Ende. Obgleich nun die Begriffe „Verfall“ (ebd.) und „Zertrümmerung“ (GS I.2 653) im Hinblick auf die Aura Bewertungen ihres Verschwindens implizieren, sind Nähe und Ferne in Benjamins Schriften prinzipiell weder positiv noch negativ konnotiert.8 Im Gegensatz zu Ferne steht Nähe für eine physische Berührbarkeit, eine Nahbarkeit: Sie bedeutet Gegenwart, Versammlung und Verbindung.9 Im Kunstwerk-Aufsatz beobachtet Benjamin einerseits den Versuch, „des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden“ (ebd.). Andererseits registriert er eben jene „Chocks“ (GS I.2 541), die Durchbrechung des Reizschutzes10 , die der Großstädter tagtäglich erfährt. Nähe ist dann ein Betroffen- und Getroffen-Sein, welches einen pointierten Ausdruck im Bild des ‚dadaistischen Geschosses‘ hat: „Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität.“ (GS I.2 502) Derartig veränderte Bedingungen werfen die Frage der Tradierung in ungekannter Radikalität auf: „Ist es unter solchen Umständen schwerer als sonst, das Wort vernehmbar zu machen, so ist die Notwendigkeit es dennoch zu tun umso dringender“, heißt es in einer Vorarbeit zum „Kaiserpanorama“ (GS IV.2 918). Fruchtlos seien die Versuche, Inhalte, die sich nicht mehr bewähren, in längst überholten Formen weiterzugeben. Die „literarische Äußerung“ soll, schreibt Benjamin daher, „als Bewahrer des Überlieferten mehr noch als 8

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Vgl. z.B. Benjamins Kritik an der träumerischen Ferne eines Ludwig Klages in „Die Ferne und die Bilder“, wo es heißt: – „jede Nähe, die ihn [d.i. den Träumer] trifft, straft ihn Lügen“ (GS IV.1 427). Doch auch die Nähe kann ‚verlogen‘ sein, wie das Beispiel des Matrosen in „Stehbierhalle“ zeigt, der „die Nähe ‚gefressen‘“ hat (GS IV.1 145). Für Benjamin gehören das Phänomen der Nähe und das der „Versammlung“ (GS V.1 271) zusammen: „Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ‚Nähe‘ die bündigste.“ (Ebd.) Zur näheren Charakterisierung dieser Aspekte der Nähe vgl. Kap. I.3, das sich mit Benjamins Konzept des Reims in seinem KrausEssay, den correspondances und seiner ‚Definition‘ der Aura als einer ‚Gruppierung von Vorstellungen‘ der mémoire involontaire um einen Gegenstand der Anschauung im Baudelaire-Buch (vgl. GS I.2 644) beschäftigt. Vgl. den kritischen Vergleich des Benjamin’schen und Freud’schen Schockbegriffes bei Christine Schmider und Michael Werner: Das Baudelaire-Buch, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart, Weimar 2006, S. 567-584, v.a. S. 576-579.

2.1 DIE KRISE DES ERZÄHLENS IN DER MODERNE

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Gestalt von neuem Überliefertwerden“ auftreten (ebd.). Nicht nur der Inhalt, das Tradierte, muss auf seine Aktualität hin befragt werden, sondern auch das Tradierende, das Medium. Die Tradierung gerät als Prozess in den Blick, der auch die Möglichkeit eines Abbruchs der „Kette“ (GS II.2 453) beinhalten kann. Diese „Erfahrungsarmut“ (GS II.1 215) ist ambivalent, bedeutet sie doch nicht nur den Verlust bestimmter Gehalte, sondern auch die Eröffnung neuer Spielräume.11

2.1.2 „Unscheinbare Formen“ erneuerter literarischer Autorität Benjamin stellt sich daher die Frage, wie die Literatur „ihre Autorität im Leben der Völker [zu] erneuern“ vermag (GS IV.1 104), wenn sie jene Autorität nicht mehr aus der Tradition schöpfen kann. Von den zwei grundsätzlichen Möglichkeiten, einer konservativen, die noch einmal in die Ferne der Zeit zurückgreifen will, und einer konstruktiven, die aus dem zeitgenössischen Imperativ der Nähe ein literarisches Programm abzuleiten versucht, wählt Benjamin in der Einbahnstraße die zweite. Es verändert sich dabei zum einen die Nähe oder Ferne, die der Autor zu seinem Text einhält12 , und zum anderen die Distanz, welche der Leser bzw. Großstadtmenschen zur Schrift hält. Diesen zweiten Punkt inszeniert Benjamin in der Einbahnstraße als eine Krise der Schrift. Im Text „Vereidigter Bücherrevisor“ liefert Benjamin eine verkürzte Geschichte der Schrift, die mit der alltäglichen Begegnung des Großstadtmenschen mit den Lettern endet: „Die Schrift, die im gedruckten Buch Asyl gefunden hatte, [...] wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt“ (GS IV.1 103). Dort ist ihre neue Stellung „die diktatorische Vertikale“. Die aufgerichtete, vergrößerte, bunte und bewegte Schrift bedrängt den Passanten in einer Weise, „daß die Chancen seines Eindringens in die archaische Stille des Buches gering geworden sind “ (ebd.). Die Krise der Schrift bedeutet somit zugleich eine Krise des Buches, denn durch die Umstände, denen die Schrift unterliegt, wird auch das Buch zur „überkommenen Gestalt“ (GS IV.1 102). Mit seiner Kritik solchen Zeichengewimmels auf großstädtischen Straßen steht Benjamin zu dieser Zeit nicht allein, seine Antwort auf das Problem verwundert jedoch. – Der erste Text der Einbahnstraße („Tankstelle“) fordert, die „anspruchsvolle universale Geste des Buches“ solle von den „unscheinbaren Formen“, wie sie in „Flugblättern, Broschüren, Zeit11

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In diesem Sinne beklagt Benjamin, dass die Erzählung „neuer Weisheit zu leer und alter zu voll“ ist (GS II.3 1284). Diese ambivalenten Chancen sind in der Forschung zumeist unter dem Begriff des „Barbarentums“ diskutiert worden, den Benjamin in „Erfahrung und Armut“ einführt (GS II.1 215). Vgl. dazu u.a. Burkhardt Lindner: Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins „Positives Barbarentum“ im Kontext, in: „Links hatte sich noch alles zu enträtseln...“, hg. v. Burkhardt Lindner, S. 180-223; Gérard Raulet: Positive Barbarei: Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin, Münster 2004. Vgl. Kap. I.2.4.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

schriftenartikeln und Plakaten“ zu finden sind, abgelöst werden (GS IV.1 85) und insinuiert so, dass im Problem auch die Lösung stecke. „Tankstelle“ wird aufgrund dieser überzeugten Forderung häufig als programmatische Skizze der Einbahnstraße gelesen13 , die als vermeintliche Absage ans Buch den Blick auf andere Medien und deren Möglichkeiten lenkt. Eckhardt Köhn etwa postuliert ein „Primat der Visualität“ und stellt fest, dass die Einbahnstraße „kein Buch, sondern eine Broschüre“ sei. 14 Köhn spielt damit auf die Optik der Erstausgabe von 1928 an, deren Umschlag eine Fotomontage Sasha Stones15 zeigt. Dieses einzige visuelle Bild der Erstausgabe mag ebenfalls Ernst Bloch bei seinen Äußerungen zum Verfahren des Bandes im Sinn gehabt haben: Es handele sich um „Photos [...] oder besser gleich: Photomontage“. 16 Diese Aussage Blochs ist für die weitere Rezeption der Einbahnstraße wohl ebenso prägend gewesen wie Adornos Diktum, es lägen „Denkbilder“ vor. Und ebenso selbstverständlich wie die Texte als Denkbilder bezeichnet werden, spricht man von einer Montage-Technik der Einbahnstraße. Fragt man nach einer Montage-Technik, steht zwangsläufig ein Medium zur Disposition, welches sich dieser Technik ‚ursprünglich‘ bedient. Es wurde schon verschiedentlich versucht, eine Montage-Technik der Einbahnstraße in Bezug auf diverse visuelle Medien zu bestimmen.17 Der Film ist dabei nur 13 14

15

16 17

Vgl. etwa Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 181. Eckhart Köhn: ‚Nichts gegen die Illustrierte!‘ Benjamin, der Berliner Konstruktivismus und das avantgardistische Objekt, in: Schrift, Bilder, Denken, hg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2004, S. 48-69, hier: S. 58 und S. 50. Franz Hessel wiederum bezieht die optischen Charakteristika des Buches auf den Autor Benjamin, in dem ein „Genie der Beobachtung“ wirke. Franz Hessel: Walter Benjamin: Einbahnstraße, in: Ders.: Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Hartmut Vollmer und Bernd Witte, Bd. 5: Verstreute Prosa, Kritiken, Oldenburg 1999, S. 156f, hier: S. 156. Um eine Herausgabe ausgewählter Fotografien hat sich u.a Eckhardt Köhn gekümmert: Sasha Stone. Fotografien 1925-1939, hg. v. Eckhardt Köhn, Berlin 1990. Dort findet sich auch ein biographischer Abriss. Sasha Stones Atelier übernahm unter anderem kommerzielle Aufträge, daher war er mit den Formen der Werbung bestens vertraut. Vgl. Sasha Stone: Berlin in Bildern, mit einem Nachwort neu hg. v. Michael Neumann, Berlin 1998, S. 97. Bloch: „Revueform in der Philosophie“, S. 369. Bloch bezieht sich beispielsweise nur auf Fotomontage und Collage, vgl. Bloch: „Revueform in der Philosophie“, S. 371. Ebenso Michael Jennings: „Trugbild der Stabilität. Weimarer Politik und Montage-Theorie in Benjamins ‚Einbahnstraße‘“, in: Global Benjamin. Internationaler Walter Benjamin-Kongreß 1992, hg. v. Klaus Garber, Ludger Rehm, Bd. 1, München 1999, S. 517-528, hier, S. 525. In gleicher Weise verfährt auch Peter Bürger, der von Benjamins Allegoriebegriff ausgeht: Er lässt nicht nur das Medium des Films außen vor, sondern ebenso die Äußerungen Benjamins zur Montage als Verfahren in der Prosa. Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 98-116. Vgl. zu Benjamins Montage-Begriff zudem Hillach, der sich vor allem einem geschichtsphilosophischen Hintergrund des Begriffs widmet und der die Montage als „Figur der Unterbrechung“ klassifiziert. Ansgar Hillach: „Allegorie, Bildraum, Montage. Versuch, einen Begriff avantgardistischer Montage aus Benjamins Schriften zu begründen“, in: Theorie der Avantgarde. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, hg. v. W. Martin Lüdke, Frankfurt a.M. 1976, S. 105-142, hier: S. 139.

2.2 DER BEGRIFF DES DOKUMENTS IN DER EINBAHNSTRAßE

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bisweilen ein Bezugspunkt, vermutlich auch deshalb, weil Benjamin selbst den Begriff der Montage im Kunstwerk-Aufsatz auffällig selten verwendet. Zur Montage finden sich auch in anderen Schriften Benjamins nur verstreute Hinweise, zumeist auf dadaistische Collagen, Döblins Berlin Alexanderplatz und Brechts „episches Theater“. 18 Anhand dieser Beispiele stelle ich im Folgenden drei zusammengehörige Aspekte der Montage dar, die im Vergleich der Typographie der Einbahnstraße mit der von Sasha Stone gestalteten Fotomontage veranschaulicht werden sollen. Wie merkwürdig Benjamins Montage-Begriff indessen sein könnte, lässt seine Aussage im Passagenwerk vermuten, Montage sei eine „Intention auf die nächste Nähe“ (GS V.2 1030). Wenn Benjamin fordert, von der tradierten Form, der „anspruchsvollen universale[n] Geste des Buches“, müsse man sich abwenden und stattdessen die „Formen“ von „Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftartikeln und Plakaten ausbilden“, weil „nur diese prompte Sprache“ noch dem „Augenblick wirkend gewachsen“ sei (GS IV.1 85), darf man hier einen Gegenentwurf zum auratischen Kunstwerk, zur Erzählung als „Kunde aus der Ferne“ erwarten: eine konstruktive „Technik der Nähe“ (GS V.2 644).19

2.2 Der Begriff des Dokuments in der Einbahnstraße 2.2.1 Authentizität und Autorität des Dokuments Wenn Benjamin sich auf das Material einer Montage bezieht, spricht er vom „Dokument“ und von dem „Authentischen“ (GS III 233), durch das in den Montagen ‚die Wirklichkeit zu Wort komme‘. Ein Beispiel liefern die Da18

19

Neben den einschlägigen Zitaten aus dem Passagenwerk sind zu nennen: GS II.2 697f. („Der Autor als Produzent“), GS II.2 775 („Theater und Rundfunk“), GS III 233 („Krisis des Romans“), GS IV.1 560f. („Bekränzter Eingang“) sowie Benjamins im Folgenden besprochenen Ausführungen zu Brechts „epischem Theater“. Auch die Wendung von den „unscheinbaren Formen“ leistet einer einfachen Erklärung des Montage-Begriffs einigen Widerstand: Denn warum bezeichnet Benjamin „Formen“ wie das Flugblatt oder das Plakat als „unscheinbar“, die alles andere als unauffällig sein wollen und im Gegenteil nichts als das Spektakel suchen? Die Umschreibung ruft darum weniger jene empirischen Druckerzeugnisse als andere Texte Benjamins auf: „Enthüllt aber würde er unendlich unscheinbar sich erweisen“, schreibt Benjamin im WahlverwandtschaftenEssay über „den Gegenstand in seiner Hülle“ – das Schöne (GS I.1 195). Eine solche „Hülle“ hat als „Wesentlich-Schöne[s]“ auch das auratische Kunstwerk (GS I.1 194), deshalb umschreibt Benjamin die „Zertrümmerung seiner Aura“ auch als „Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“ (GS I.1 479). Die „unscheinbaren Formen“ kennen im Gegensatz dazu keine „Hülle“, keine Aura – und keine Ferne.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

daisten, die die „Wirklichkeit“ – „Stoffreste, Straßenbahnbilletts, Glasscherben, Knöpfe, Streichhölzer“ – „ungeordnet“ montieren (GS IV.1 560). Diese „Stoffreste“ sind im neuen Zusammenhang ihrer eigentlichen Bedeutung und ihres ursprünglichen Zweckes enthoben: Der Knopf dient nicht mehr dem Zuknöpfen. Seine Gestalt und seine Materialität, mithin das, was in seinem eigentlichen Kontext als ein ‚Rest an Stofflichkeit‘ hinter seiner Funktion stand, tritt in der Montage in den Vordergrund. Obgleich er von seiner alten Bedeutung getrennt ist (er sitzt nicht mehr am Hemd), er referiert immer noch auf eben diese andere Herkunft oder, allgemeiner gesprochen, auf die „Wirklichkeit“ (GS IV.1 560).20 Benjamin deutet nun zwar an, die Dadaisten ließen die „Wirklichkeit“ ungeordnet zu ‚Wort kommen‘, diese Konnotation des Ungestalteten trifft aber nicht grundsätzlich auf jede Montage-Technik zu.

Abbildung 1: Umschlag der Erstausgabe der Einbahnstraße (1928)

Betrachtet man etwa die Montage, die Sasha Stone für den Umschlag der Erstausgabe der Einbahnstraße entworfen hat, liegt auf der Hand, welche Teile hier Dokumentcharakter haben und wie er gestaltend mit ihnen verfährt. Gleich der Titel des Buches – Einbahnstraße – ermöglicht Stone eine visuelle Referenz: Er greift für seine Montage auf ein alltägliches Zeichen zurück, ein Dokument im weitesten Sinne, indem er vier identische Einbahnstraßenschilder, schrittweise verkleinert und jeweils leicht versetzt untereinander angeordnet, 20

Diese ‚Wirklichkeit‘ wird von anderen Autoren im Gegensatz zur scheinhaften Kunst als ‚scheinlos‘ angesehen: Adorno etwa spricht von „scheinlosen Trümmern der Empirie“. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1973, S. 232. Bei Benjamin spielt diese Argumentation interessanterweise keine Rolle. Einziger, verdeckter Hinweis ist Benjamins Charakterisierung der Montage als „Intention auf die nächste Nähe“ (GS V.2 1030), wenn man denn diese Nähe im Sinne der ‚enthüllenden Annäherung‘ im Kunstwerk-Aufsatz verstehen möchte.

2.2 DER BEGRIFF DES DOKUMENTS IN DER EINBAHNSTRAßE

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auf die Fotografien zweier Straßenszenen montiert. Seine Gestaltungsleistung liegt offensichtlich in der Auswahl und Anordnung des Materials. Diese irritierende Verwendung eines bekannten Zeichens sichert dem Umschlag die Aufmerksamkeit des potentiellen Lesers. Welchen Elementen aber könnten im Text der Stellenwert eines ‚authentischen Dokuments‘ zukommen? Obwohl sich im typographischen Bereich formale Ähnlichkeiten der Überschriften mit „journalistische[n] Spitzmarken“ erkennen lassen21 , handelt es sich nicht um abgedruckte Schlagzeilen. Auch die Beobachtung, die Überschriften bestünden aus Schriftmaterial, „wie es sich dem Betrachter auf einem Gang durch eine Großstadtstraße auf Schildern, Plakaten [...] und Ausstellungsvitrinen darbietet“ 22 , liefert noch keinen Beleg dafür, dass, wie Schlaffer behauptet, die Überschriften der Einbahnstraße „von fertigen, gefundenen Aufschriften [...] übernommen“ wurden.23 Diese vermeintliche Anschaulichkeit der Überschriften verleitet nicht nur Susan Buck-Morss zur Feststellung, die „Außenwelt der Tankstellen, der Untergrundbahnen, des Verkehrslärms und der Neonlichter“ sei „in den Text eingebaut“ 24 , auch andere sprechen von einem „Realgewicht“ der Überschriften.25

Abbildung 2: Die Typographie der Erstausgabe der Einbahnstraße (1928) 21 22 23 24 25

Spinnen: Schriftbilder, S. 267. Köhn: Straßenrausch, S. 201. Schlaffer: Denkbilder, S. 142. Denkbild und Montage sind sich in diesem Punkt erstaunlich ähnlich. Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1993, S. 31. Jennings: „Trugbild der Stabilität“, S. 525. Eine Ausnahme bilden die Ortsmarkierungen, wie sie in „Reisenandenken“ (GS IV.1 122-125) und „Spielwaren“ (GS IV.1 128-131) zu finden sind.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

Diese Beschreibungen erwecken den Eindruck, als seien authentische Dokumente in den Text montiert (oder als sei die Einbahnstraße das mimetische Abbild einer Straße). Tatsächlich sind aber Gelegenheiten, ‚authentisches Material‘ in den Text zu integrieren, vergeben worden. Eine Möglichkeit Dokumente aufzunehmen, hätte im Abdruck eines bereits publizierten Ausschnittes bestanden: In Aragons Le paysan de Paris finden sich z.B. Anzeigen. „Plakate“ oder „Schilder“ hätte man durchaus auch in der Einbahnstraße typographisch – etwa durch Rahmung – hervorheben können. Solche Hinweise fehlen in Benjamins Buch jedoch. Zu den Dokumenten zählen des Weiteren auch Zitate, wie sie Döblin in sein Berlin Alexanderplatz aufgenommen hat (vgl. GS III 233). Wären die Überschriften in der Einbahnstraße Zitate, hätte Benjamin sie, wie alle anderen Zitate im Buch, durch Anführungszeichen markieren können. Auch das ist nicht der Fall. 26 Die fettgedruckten Überschriften sind zudem keineswegs konkret. Von einem „Realgewicht“ 27 zu sprechen, ist daher irreführend, denn ein konkreter Gegenstand ist in keiner Überschrift gemeint: Unter der eingangs genannten „Tankstelle“ (GS VI.1 85) oder der darauf folgenden „Frühstücksstube“ (GS IV.1 85f.) kann man sich je irgendein Gebäude vorstellen. Unter „Antiquitäten“ (GS IV.1 116ff.) und „Spielwaren“ (GS IV.1 125-131) irgendwelche Geschäfte. Auch die Dinge, etwa „Flagge — — “ (GS IV.1 94) oder „Handschuhe“ (GS IV.1 90) sind keineswegs näher bestimmt. Schließlich finden sich Aussagen wie „Deutsche trinkt Deutsches Bier!“ (GS IV.1 105) oder „Wegen Umbau Geschlossen!“ (GS IV.1 133). Während es sich bei dem ersten Spruch tatsächlich um ein Zitat aus der zeitgenössischen Reklame handeln könnte, ist der zweite Spruch offensichtlich aus dem Alltag bekannt, aber nicht auf einen konkreten Kontext zurückzuführen. Von Authentizität zu sprechen, ist daher wenig sinnvoll: Diese Sätze haben im Unterschied zu den Stoffresten in den genannten dadaistischen Collagen keine Referenz auf einen konkreten Wirklichkeitsausschnitt. 28 Sie haben keinen Bezug zu einem, wie Volker Klotz es nennt, „andernorts bestehenden Zusammenhang, dessen Assoziationsgehalt mit dem Zitat […] in den neuen Zusammenhang“ eingehen könnte.29 26

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Man könnte wohl einwenden, Benjamin entwickle bereits in der Einbahnstraße seine „Kunst ohne Anführungszeichen zu zitieren“ (GS V.1 572), die Pointe solcher Montage wäre allerdings bei Wörtern wie „Tankstelle“ und „Stehbierhalle“ keine besonders scharfe, denn in diesem Zusammenhang ließe sich kaum von einer ‚Entführung‘ wichtiger Gedanken oder Begriffe aus anderen Kontexten sprechen. Jennings: „Trugbild der Stabilität“, S. 525. Es steht also zur Debatte, ob die Bedingungen, die Volker Klotz für das Zitat formuliert, hier erfüllt werden: Das Zitat hat „als definiertes und definierbares einzustehen fürs Ganze einer ebenso definiten und definierbaren Größe, die dem Empfänger geläufig ist. Wo die Randschärfe des Bruchstücks wie des Ganzen fehlt, liegt kein Zitat vor. Es handelt sich dann um allgemeine Verweise auf werkexterne Wirklichkeit, worauf ohnehin jedes Kunstwerk bestehen muß. Sei es nun organisiert oder montiert.“ Klotz: Zitat und Montage, in: Sprache im technischen Zeitalter 57-60 (1976), S. 259-277, hier: S. 265. Ebd., S. 262.

2.2 DER BEGRIFF DES DOKUMENTS IN DER EINBAHNSTRAßE

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Am Beispiel von Döblins Berlin Alexanderplatz macht Benjamin deutlich, was beim Einsatz ‚authentischen Materials‘ auf dem Spiel steht: Es gilt, dem „epischen Vorgang Autorität [zu] verleih[en]“ (GS III 233). Diese Autorität ergibt sich keineswegs nur unter Berufung auf „Bibelverse“: „Kleinbürgerliche Drucksachen, Skandalgeschichten, Unglücksfälle, Sensationen von 28, Volkslieder, Inserate“ sind zwar unscheinbar, im Gegensatz zu gewissen auratischen Werken betreffen sie jedoch die Massen – sie sind aktuell, sie sind ihnen nahe. In der Einbahnstraße hingegen will Benjamin eine andere, vielleicht nicht weniger schlagende Form der Nähe erreichen, für die der ungewöhnlich ausgestaltete Begriff des Dokuments steht.

2.2.2 Benjamins sprachphilosophischer Dokumentbegriff Auch in der Einbahnstraße arbeitet Benjamin mit einer Gegenüberstellung: Unter der Überschrift „Ankleben verboten!“ stellt Benjamin „Dreizehn Thesen wider Snobisten“ auf, in denen dem Dokument das auratische Kunstwerk gegenübersteht. Die Frage der Authentizität tritt gleichwohl hinter anderen Aspekten, die auf Benjamins sprachphilosophische Texte verweisen, zurück. Die Autorität des Dokuments ist hier die des documentum, der ‚Belehrung‘ oder ‚Warnung‘: „Das Dokument dient als Lehrstück“, schreibt er in den „Dreizehn Thesen“; und: „Vor Dokumenten wird ein Publikum erzogen“ (GS IV.1 107).30 Benjamin unterscheidet Kunstwerk und Dokument darüber hinaus anhand des jeweiligen Verhältnisses von Stoff und Form. Während das Kunstwerk von einem zentralen „Formgesetz[]“ bestimmt wird und der „Stoff ein Ballast“ ist, „den die Betrachtung abwirft“, „herrscht“ in Dokumenten „der Stoff“, denn dort sind „Formen nur versprengt“ (GS IV.1 107f.). Aus dieser gegenläufigen Gewichtung von Stoff und Form resultiert ein je verschiedenes Verhältnis von Kunstwerken und Dokumenten untereinander: Die These „Kunstwerke stehen eins dem andern fern durch Vollendung“ findet ihr Pendant in der Bemerkung, dass „im Stofflichen [...] alle Dokumente [kommunizieren].“ (GS IV.1 107). Mit dem Begriff des Kommunizierens verweist Benjamin auf die Sprache, und tatsächlich finden sich in seinem Aufsatz „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“ einige Bemerkungen, die jene These erhellen. Im Sprachaufsatz heißt es von der „stofflichen Gemeinschaft“ der Dinge (die Benjamin auch „magische Gemeinschaft“ nennt), dass

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In diesem Sinne wären auch in der Einbahnstraße warnende und belehrende Überschriften ‚Dokumente‘. Die Belehrungen, die den Leser beispielsweise unter den Überschriften „Achtung Stufen!“ oder „Ankleben verboten!“ erwarten, sind keineswegs so alltagsrelevant wie die Überschriften vermuten lassen. Stattdessen wird der Leser als Schreibender angesprochen: In „Achtung Stufen!“ führt Benjamin ihm die „Stufen“ der Prosa vor (GS IV.1 102), in „Ankleben verboten!“ die „Technik des Schriftstellers“ (GS IV.1 106).

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

die Dinge sich durch sie „einander mitteilen“ (GS II.1 147).31 In diesem Sinne bedeutet das lateinische communicare ‚mitteilen‘ und ‚gemeinsam haben‘. „Die Mitteilung der Materie in ihrer magischen Gemeinschaft erfolgt durch Ähnlichkeit“, erklärt Benjamin deshalb in einem späteren Schema, das den Versuch darstellt, seinen Sprachaufsatz mit den Aufsätzen über das „mimetische Vermögen“ abzugleichen (GS VII.2 795). Diese „stoffliche Gemeinschaft“, d.h. die „Sprache der Dinge“, ist eine stumme Sprache – gleichwohl ist es eine Sprache, die der Mensch in seine lauthafte Sprache übertragen kann, indem er die Dinge benennt (vgl. GS II.1 151).32 Die „Grundlage des Namens“ und der Benennung, so Benjamin im erwähnten Schema, ist also die „Mitteilung der Materie in ihrer magischen Gemeinschaft“ (GS VII. 795), der damit, obgleich „stumm“ und „namenlos“, größte Bedeutung zukommt. Wie dieses Stoffliche33 nun auch ein Sprachliches ist, hat umgekehrt das Sprachliche ebenso einen stofflichen, materiellen Anteil, an welchem Ähnlichkeiten aufscheinen können: „Die bestimmte empirische – wenn auch unsinnliche – Ähnlichkeit blitzt stets an einem heterogenen Substrat, nämlich am Zeichencharakter des Wortes auf.“ 34 (GS VII.2 795f.) So kann auch das sprachliche „Dokument“ das Publikum belehren, indem es Korrespondenzen und Ähnlichkeiten herausstellt. Um solche Formen des ‚Zeigens‘ wird es im nächsten Abschnitt gehen. 31

32 33

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Stoessel versteht die „magische Gemeinschaft“ der Dinge gerade nicht als „stoffliche“, darauf beruht ihre These vom „vergessene[n] Menschliche[n]“, d.h. der vergessenen Abkunft des Menschen aus der Materie. Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche, S. 69ff. Benjamin selbst lässt in seinem Aufsatz „Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“ die Frage der Materie unbeantwortet: „Zwar handelt es sich hier nirgends weder bei Mensch noch Natur um eine ausdrückliche Beziehung auf das Material, aus dem sie geschaffen wurden; und ob jeweils in den Worten: ‚er machte‘ an ein Schaffen aus Materie etwa gedacht ist, muß hier dahingestellt bleiben.“ (GS II.1 148) Benjamin geht aber offensichtlich von verschiedenen „Sprachen aus dem Material“ (GS II.1 156) aus. Diese berücksichtigt Stoessel nicht, wenn sie schreibt: „Die Gemeinschaft von Mensch und Natur ist vielmehr allein als sprachlich-geistige, immaterielle begriffen [...]. Diese sprachliche Symbiose zwischen Mensch und Natur nennt Benjamin auch Magie, doch eben Magie, die sich nicht dem Stofflichen [...] verdankt, sondern allein der Verwandtschaft im Gotteswort.“ Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche, S. 71. Stoessel lagen Notizen wie die folgende aus dem Umkreis des Sprachaufsatzes noch nicht vor: „Gottes Wort ist in den Dingen, aus denen es lautlos und in der stummen Magie der Natur zurückstrahlt, Mitteilung der Materie in magischer Gemeinschaft geworden.“ (GS VII.2 795f., Hervorhebung E.A.) Vgl. zu Benjamins Aufsatz „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“, im Besonderen zum Namen: Kap. I.3.3. Zur Unterscheidung von „Stofflichem“ und „Stoff“ sei Folgendes gesagt: Während das ‚Stoffliche‘ durchaus als ein Gemeinsames verstanden werden kann, ist der „Stoff“ in Benjamins Verständnis immer etwas Gewordenes und daher nicht mit ungeformtem Material zu verwechseln. Vgl. z.B. Benjamins Text „Achtung Stufen!“ (GS IV.1 102), in dem er eine „textile Stufe“ der Prosa benennt: das ‚Gewobene‘ des Textes ist der Stoff. In diesem Sinne heißt es in den „Dreizehn Thesen“: „Stoff ist das Geträumte“ (GS VI.1 107) und im Erzähler-Aufsatz über das „gelebte Leben“, es sei der „Stoff, aus dem die Geschichten werden“ (GS II.2 449). Diesem „heterogenen Substrat“ stellt Benjamin das Symbol gegenüber, „als Zeichen, an dem keinerlei Ähnlichkeit erscheinen kann“ (GS VII.2 796).

2.3 AUSDRUCKSMÖGLICHKEITEN DER SPRACHE

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2.3 Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache 2.3.1 Formen des Zeigens (Bild, Text, Körper) Benjamins Spruch „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen“ (GS V.1 574) erfasst das zweite wesentliche Merkmal der Montage, dass nicht der Künstler spreche, sondern das Material. Ob der Autor dadurch seine Position schwächt oder im Zeigen umso stärker wirkt, ist unterschiedlich interpretierbar: Die Dadaisten treten in Benjamins Beispiel ihr Wort an die „Wirklichkeit“ ab, und auch über Döblins Berlin Alexanderplatz schreibt Benjamin: „So dicht ist diese Montierung, daß der Autor schwer darunter zu Wort kommt. “ Er fügt jedoch hinzu: „Aber er [d.i. Döblin] wird sein Wort noch anbringen.“ (GS III 233) Strittig ist daher, ob sich der Künstler bzw. Autor aus der Montage zurückzieht oder ob ‚er sich stellt‘. 35 Es steht mit dieser Frage jedoch nicht nur der Status des Autors auf dem Spiel, sondern auch der Status der Sprache. ‚Was nicht gesagt wird, muss sich zeigen‘, lautet eine Abwandlung von Benjamins Spruch, die entweder tief in eine Sprachkrise führt (wenn sie nicht sagen kann) oder ihr Potential offenbart (wenn sie zeigen kann). Defizitär wäre die Sprache im ersten Fall verglichen mit bestimmten optischen Medien. Auch dafür ist Stones Montage ein gutes Beispiel. Die Einbahnstraßenschilder, die er für seine Montage verwendet, haben als rote gerahmte Pfeile bereits im Alltag eine deiktische Funktion: Sie zeigen (auf) etwas. Stone hat das Zeichen vervielfacht und versetzt untereinander angeordnet. In dieser besonderen Anordnung zeigen die Einbahnstraßenpfeile nicht nur auf etwas, sie zeigen vor allem, dass sie zeigen. Die Montage stellt hier den eigenen „demonstrativen Akt“ 36 aus, umso mehr als der Referenzpunkt der Pfeile anders als im Straßenverkehr nicht eindeutig festgelegt scheint. Die Anweisungen der Pfeile, wie ‚Nur hier entlang!‘ und ‚Vorwärts!‘, haben zu der Straßenszene auf den Fotos wenig Bezug. Sie weisen aus dem Bild hinaus – ins Buch (vgl. Abb. 1, S. 38). Wie aber zeigt Sprache, wenn man von inhaltlichen deiktischen Ausdrücken wie ‚hier‘, ‚dort‘, ‚jetzt‘ usw. absieht? Wie erreicht Sprache ihr eigenes „Hier und Jetzt“ (GS I.2 437)? Die akustische und visuelle Substanz der Sprache stellt verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks bereit. Mit dem visuellen Potential der Schrift setzt Benjamin sich am Beispiel von Mallarmés „Coup de dés“ in „Vereidigter Bücherrevisor“ auseinander; er erklärt dort, wie Literatur „die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild zu verarbeiten“ versucht (GS IV.1

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Klotz: Zitat und Montage, S. 267: „Ein solcher Veranstalter [d.i. Künstler] verschwindet nicht im scheinbar unwillkürlichen Kunstwerk, um von drinnen die Empfänger vertraulich anzusprechen [...]. Er stellt sich.“ Ebd.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

102).37 Die Erstausgabe der Einbahnstraße macht im Vergleich zu Mallarmés „Coup de dés“ und anderen avantgardistischen Texten von den zahlreichen Möglichkeiten, die in der Sperrung, Kursivierung, dem Fettdruck, der Variation von Schrifttypen und der Anordnung der Wörter auf der Seite bestehen, einzig bei den Überschriften größeren Gebrauch, die in fettgedruckten Majuskeln über den Textrand hinausragen und durch Schriftgröße sowie Schrifttyp vom Fließtext abgesetzt sind (vgl. Abb. 2, S. 39). Zu den weniger auffälligen Eigenheiten des Buches zählen zahlreiche Absätze und eine deutliche und kleinschrittige Gliederung in Überschriften, Untertitel und Textabschnitte. Merkmal einer eigenwilligen typographischen Gestaltung sind weiterhin fettgedruckte schwarze Striche, die innen jeweils durchgängig an den Seiten entlang verlaufen.38 Andere visuelle Elemente, wie Pfeile oder Ähnliches, fehlen. In der Frage des Ausdrucks muss sich das schriftbasierte Buch allerdings nicht nur an gewissen optischen Medien, sondern auch am menschlichen Körper, an dessen Gesten und Gebärden messen lassen.39 Vom Ausdrucksvermögen, das Benjamin dem menschlichen Körper zuschreibt, geben seine Aufsätze über das von ihm sogenannte „mimetische Vermögen“ Zeugnis: Man muß grundsätzlich damit rechnen, daß in einer entlegeneren Vergangenheit zu den Vorgängen, die als nachahmbar betrachtet wurden, auch die am Himmel zählten. Im Tanz, in anderen kultischen Veranstaltungen, konnte so eine Nachahmung erzeugt, so eine Ähnlichkeit gehandhabt werden. (GS II.1 211, „Über das mimetische Vermögen “)

Da Benjamin bekanntlich davon ausgeht, dass die Sprache jenes „Medium “ ist, „in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert“ sind (GS II.1 213), müsste das Potential der Sprache zu solchem Ausdruck dem (vermeintlich verlorenen) Potential des 37

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Es ist nicht zu belegen, dass Benjamin persönlich auf die Gestaltung der Typographie Einfluss genommen hat (vgl. Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 183). In einem Brief an Hofmannsthal äußert er sich jedoch zustimmend über das „Auffallende der inneren und äußeren Gestaltung“ (B 459). In den späteren Veröffentlichungen der Einbahnstraße ist die Typographie verändert. In der 1955 erschienen Einzelausgabe sind die Überschriften sehr viel kleiner als in der Erstausgabe, aber auch als fettgedruckte Majuskeln gesetzt; sie ragen nicht nur über den Textrand hinaus, sondern stehen jenseits von diesem. Vor allem durch die Verkleinerung wird den Überschriften ihre Vehemenz genommen: Die untergeordneten Überschriften sind größer und wie in der Erstausgabe als Kapitälchen gesetzt. Im Abdruck der Einbahnstraße in den Gesammelten Schriften ist von der Typographie der Erstausgabe kaum noch etwas zu ahnen. Die Überschriften haben dieselbe Schriftgröße wie der Fließtext und sind – anders als in der ersten Ausgabe – im gleichen Schrifttyp gehalten. Sie fallen darum nicht auf. Die untergeordneten Überschriften sind dort kursiviert. In der Ausgabe im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe wird zwar mit Fettdruck, Kapitälchen und unterschiedlichen Schriftgrößen gearbeitet, die auffälligsten Eigenheiten der Erstausgabe sind jedoch auch hier nicht übernommen worden. Vgl. Walter Benjamin: Einbahnstraße, hg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a.M. 2009. Vgl. zur Sprachkrise der Moderne und dem Stellenwert der Gebärde z.B. Helmuth Kiesel: Literarische Moderne, München 2004, S. 177-233, v.a. S. 223ff.

2.3 AUSDRUCKSMÖGLICHKEITEN DER SPRACHE

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menschlichen Körpers in nichts nachstehen. Die Physiognomie der Sprache steht daher für Benjamin in Analogie zu einer Sprache des Körpers: Die „Sprache hat einen Leib und der Leib [...] eine Sprache“, schreibt Benjamin in einer Rezension zu einem graphologischen Buch (GS III 138). Diese Aussage könnte indes auf handschriftlich verfasste Text beschränkt sein, denn nur diese sind Medium der „Innervationen“ des Schreibenden.40 Zudem verwendet Benjamin die Begriffe Körper und Leib in seinen Schriften nicht immer einheitlich, obgleich er sich in seinen „Schemata zum psychophysischen Problem“ Anfang der zwanziger Jahre an einer Unterscheidung versucht hatte. Vereinfacht gesprochen, versteht er den Körper dort als das, was als „Substrat“ bzw. „Substanz“ wahrgenommen wird, während der Leib „Funktion “ ist (GS VI 79): Er ist das, wovon der Mensch an sich eine „Gestaltwahrnehmung “ hat, d.h. wo er sich ‚in einer Beziehung zu sich‘ oder begrenzt findet. Unterscheidbar wären ausgehend davon eine Form des Zeigens, die ihr Medium in einer Substanz, einem ‚Körper‘ findet, und eine Form des Zeigens, die über Funktionen verläuft, über die Wahrnehmung von Relationen und Grenzen.

2.3.2 Benennung als Konfiguration Eine für die Einbahnstraße wesentliche Relation ist die von Titel und Text, wie u.a. das Interesse der Forschung belegt, emblematische Modelle auf die Einbahnstraße anzuwenden. Eine andere Möglichkeit, sich dieser Relation anzunähern, besteht anhand der Frage der Titelgebung. Zur Titelgebung bei Texten hat Benjamin sich zwar nicht geäußert, es finden sich jedoch einige Bemerkungen zur „Benennung“ von Bildern, die für ihn kein nachträgliches Ereignis ist, sondern sich während der Entstehung des Bildes vollzieht. Die „Benennbarkeit“ eines Bildes ist seiner „Komposition“ geschuldet. Die „Komposition “ bedeutet „de[n] Eintritt einer höhern Macht“ ins „Medium der malerischen Sprache“ – diese „Macht ist das sprachliche Wort“ (GS II.2 607). Nur wenn ein Wort ins „Medium der malerischen Sprache“ eintritt, ergibt sich eine „Komposition “, eine „gegenseitige Begrenzung der Farbflächen“, und der Betrachter kann auf dem Bild „Konfigurationen von Menschen, Bäumen und Tieren“ sehen (GS II.2 602). In seinem KunstwerkAufsatz bemerkt Benjamin einige Jahre später fast beiläufig, dass die „Beschriftung“ solcher Bilder, wie sie in „illustrierten Zeitschriften“ abgedruckt werden, einen „ganz anderen Charakter [haben] als der Titel eines Gemäldes“ (GS I.2 485). Er bezeichnet diese „Beschriftung“ als „Wegweiser“ und „Di40

Benjamin imaginiert in „Lehrmittel“ eine Technik, die ähnlich wie die Handschrift Medium der „Innervation[en]“ des Schreibers wäre: „Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variablerer Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.“ (GS IV.1 105)

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

rektive“, die dem Betrachter vor einem Bild, welchem die „freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen“ ist, den Weg weist – und zwar „präzise[] und gebieterisch[]“ (ebd.). 41 Einige Überschriften der Einbahnstraße haben offensichtlich jenen „präzisen und gebieterischen“ Charakter eines „Wegweiser[s]“, neben dem Titel des Buches beispielsweise die des vierten Textes, „Für Männer“ (GS IV.1 87). Der Satz, der diesem Hinweis folgt, mutet zunächst als Kalauer an, er erweist sich indes als exemplarisch für Benjamins Verfahren: „Überzeugen ist unfruchtbar.“ Für sich gesehen, sagt der Satz etwas über die Absicht der Überredung aus; in Relation zur Überschrift „Für Männer“ erscheint das Wort ‚Überzeugen‘ jedoch plötzlich zweideutig, man könnte auch sagen: es entsteht eine Zäsur im Wort, das sich nun als ‚Über-zeugen‘ liest. 42 ‚Zeugen‘ und „unfruchtbar“ haben gemeinsam, dass sie zugleich eine wörtliche, körperbezogene und eine metaphorischen Bedeutung haben. Das Adjektiv „unfruchtbar“ ist ähnlich wie „Überzeugen“ zerlegbar. Nur die Vorsilbe „un-“ trennt die ‚Unfruchtbarkeit‘ von ihrem Gegenteil: ‚Zeugen ist fruchtbar‘ liest man dann. 43 Dies bliebe tautologisch, klänge nicht an: ‚Zeigen ist fruchtbar.‘ Verbunden sind ‚Zeigen‘ und ‚Zeugen‘ jedoch nicht nur im Reim, denn Zeugen bedeutete auch einmal Zeigen.44 Es schließt sich ein selbstreferentieller Zirkel, denn nichts anderes als das Aufspüren von Verweisen hat zu diesem Spruch geführt, der sich so selbst affirmiert: Das gefundene ‚Zeigen‘ verweist zurück auf eine deiktische Überschrift. Die Überschrift wirkt so einerseits als „Direktive“, andererseits scheint etwas in den Satz ‚hineinzutreten‘, das die Gestalt, den ‚Leib‘, der Worte und zugleich ihre „Konfiguration[]“ (GS II.2 602) verändert. Die Substanz der Wörter wird durch diese Modifikationen nicht grundlegend verändert45 , es werden vielmehr Verweise genutzt, wie sie zum Beispiel durch Zäsursetzungen in Wörtern entstehen. Damit komme ich zum dritten Prinzip der Montage: der Unterbrechung.

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„Benennung“ und „Beschriftung“ unterscheiden sich dadurch, dass bei der „Benennung“ ein ‚Wort eintritt‘, während durch die „Beschriftung“, wie Benjamin in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ schreibt, etwas „zu bezeichnen“ ist (GS II.1 385), d.h. ein „Zeichen aufgedrückt wird“ (GS II.2 605). Mit dieser Zweideutigkeit spielt Benjamin ein weiteres Mal im Kraus-Essay: „Wenn aber etwas das unendlich Fragwürdige dieser Geschöpfe zum Ausdruck bringt, so ist es, daß sie allein aus denen sich rekrutieren, die Kraus selber geistig ins Lebens gerufen, die er in ein und demselben Akt zeugte und überzeugte. Bestimmen kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden kann.“ (GS II.1 341) Diesen Spruch entdeckt auch Köhn, ohne jedoch eine weiterführende Interpretation anzubieten: „[I]hrer wörtlichen Gestalt ist, einem Vexierbild gleich, eine verborgene eingeschrieben, enthüllt sich ex negativo ihr vieldeutiger Sinn: Nur Zeugen ist fruchtbar.“ Köhn: Straßenrausch, S. 205. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Nachdruck, Bd. 31, München 1984, S. 854. Vgl. zu solchen Modifikationen Kap. I.4.2, vor allem die Bemerkungen zu Witz und Reim.

2.4 DIE „ORGANISIERENDE FUNKTION“ DER UNTERBRECHUNG IN DER MONTAGE

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2.4 Die „organisierende Funktion“ der Unterbrechung in der Montage 2.4.1 Unterbrechung, Stillstellung und Stellungnahme Wesentliches „Prinzip “ der Montage, schreibt Benjamin, ist das „Prinzip der Unterbrechung“, denn „das Montierte unterbricht [...] den Zusammenhang, in welchen es montiert ist“ (GS II.2 697f.). Die Unterbrechung hat, wenn sie nicht ihres „Reizcharakters“ wegen eingesetzt wird, eine „organisierende Funktion “ (GS II.2 698). Beispiel für diese „organisierende Funktion “ der Unterbrechung ist Brechts ‚episches Theater‘, vor allem dessen ‚Lehrstücke‘. Benjamin sieht in der „Auffindung und Gestaltung des Gestischen“, wie Brecht sie betreibt, „nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem technischen Geschehen in ein menschliches“ (GS II.2 775).46 Der Begriff der „Zurückverwandlung“ deutet an, dass die „Methoden der Montage“ zunächst selbst einer Übertragung aus dem ‚Menschlichen‘ geschuldet sind. Die Szene, anhand derer Benjamin das „Prinzip der Unterbrechung“ beschreibt, ist darum eine schlichte Familienszene; gleichwohl bringt Benjamin sein ‚Wort‘ an: [D]ie Frau ist gerade im Begriffe, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. In diesem Augenblick tritt ein Fremder ein. Der Vorgang ist unterbrochen; was an seiner Stelle zum Vorschein kommt, das ist der Zustand, auf welchen nun der Blick des Fremden stößt: verstörte Mienen, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. (GS II.2 698)47

Die Handlung wird durch den ‚Eintritt eines Fremden‘ unterbrochen. Der Moment dieses ‚Eintritts‘, der in Benjamins Notizen „Über die Malerei oder über Zeichen und Mal“ als der „Eintritt einer höhern Macht“ beschrieben wird (GS II.2 607), hat hier eine weitere Konnotation: In eine Gemeinschaft, die Familie, tritt ein „Fremder“ ein, der nicht zur Familie gehört, der nicht erkannt wird. Im Gegensatz zum gemalten Bild, in welches das Wort immer schon eingetreten ist, wenn es vollendet vor dem Betrachter hängt, muss hier die Handlung erst noch Bild, erst noch Konfiguration werden. Die Handlung kommt in einem Moment „zum Stehen“, in welchem die Figuren „im Begriff“ sind etwas zu tun. Die Unterbrechung stellt so als Figurenkonstellation heraus, dass die als Familie aneinander gebundenen Personen entzweit sind. Die Stillstellung der Figuren eröffnet jedoch noch andere Relationen, man könnte auch sagen: andere Dimensionen. Sie „zwingt“, schreibt Benjamin, 46 47

Diese Formulierung findet sich auch in „Der Autor als Produzent“, dort ist das „technische Geschehen“ allerdings durch ein „oft nur modisches Verfahren“ ersetzt (vgl. GS II.2 698). Die Geschichte findet sich in leicht variierter Formulierung noch einmal, vgl. GS II.2 522.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

„den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle“ (GS II.2 698). Jetzt wird auch „‚der Zeigende‘ – das ist der Schauspieler als solcher – ‚gezeigt‘“ (GS II.2 529). Die Unterbrechung bezieht sich somit auf die Relation von Medium und ‚Botschaft‘: In der Unterbrechung wird das Medium herausgestellt. Frühe Kritiker des Films haben bekanntlich bemängelt, dass die schnelle Bildfolge ihnen die Möglichkeit nehme, sich (gedanklich) zum Gezeigten zu positionieren (vgl. GS I.2 503). Auch wenn die von Benjamin beschriebene Handlung keine hohe Geschwindigkeit hat, gilt hier doch auch, dass ein Bild vom darauffolgenden bestimmt wird. Erst die Unterbrechung ermöglicht eine Stellungnahme in einem Moment größter Nähe, und zwar nicht nur eine, sondern viele, nämlich die des Akteurs, des Zuschauers etc. Bei Brecht obliegt die Unterbrechung nicht selten dem Schauspieler, dessen physisches Potential Benjamin mit dem der Sprache vergleicht: „‚Gesten zitierbar zu machen‘“, zitiert Benjamin Brecht und schließt an, „ist die wichtigste Leistung des Schauspielers; seine Gebärden muß er sperren können wie ein Setzer die Worte“ (ebd.). Die angeführten Referenzen auf Körper und Leib haben eine Kehrseite in der politischen Bedeutung, die Benjamin ihnen gibt48 : Unter einer „organisierenden Funktion der [literarischen] Werke“ versteht Benjamin, aus „Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende [zu] machen“ (GS II.2 696). Ähnlich doppeldeutig ist die Rede vom „operierenden Schriftsteller“: „Aktiv einzugreifen“, bedeutet für den Schriftsteller einerseits, in der „Kommune“ die „Kollektivierung“ voran zu bringen (GS II.2 686), andererseits bezieht sich der Eingriff durchaus auch auf den literarischen Text. Die Figur des „Operateurs“ findet sich noch zwei weitere Male in Benjamins Schriften: Einmal in der Einbahnstraße, in „Poliklinik “, später dann in seinem Kunstwerk-Aufsatz.

2.4.2 Der Autor als ‚eingreifender Operateur‘ („Poliklinik“) Der Text „Poliklinik “ setzt eine theatralische wie medizinische Situation in Szene49 : „Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas – die Linse, unter der er den Patienten vornimmt – nicht vor ihm steht.“ (GS IV.1 131)50 Das Bild der Klinik, aufgenommen im Begriff des „Patienten“, wird durch weitere, nicht ausgeführte Vergleiche vertieft: „das Glas – die Linse, unter der er den Patienten vornimmt – “, „sein Besteck [...]: Füllfederhalter, Bleistift und Pfeife.“ Auch die Umgebung wird ein Teil des Bildes: „Die Menge der Gäste 48 49 50

Vgl. Kap. I.5.5. Der Text verweist mithin auch auf die Zurschaustellung medizinischer Vorgänge in Anatomietheatern. Alle weiteren Nachweise aus „Poliklinik“ sind ebd.

2.4 DIE „ORGANISIERENDE FUNKTION“ DER UNTERBRECHUNG IN DER MONTAGE

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macht, amphitheatralisch angeordnet, sein klinisches Publikum.“ Das Motiv der Beobachtung ist verdoppelt: Der Gedanke wird vom Autor, der Autor vom Publikum beobachtet. Künstlerische und klinische Vorführung konvergieren. In Analogie zum Patienten müsste auch der Gedanke einen Körper haben. Doch aus welcher ‚Substanz‘? Als Text kann der Gedanke sich (noch) nicht verkörpert haben, denn er liegt auf dem Tisch, ohne dass der „Füllfederhalter“ eingesetzt wurde. Mit dem Einsatz des „Füllfederhalters“ beginnt aber zugleich auch die ‚Operation‘: Es wird „in den behutsamen Lineamenten der Handschrift [...] zugeschnitten“. Dass der Gedanke sich in der Zuschneidung durch die Linien der Handschrift materialisiert, scheint paradox. Der Begriff lineamentum deutet zudem nicht nur einen gezeichneten Umriss an, sondern auch den Umriss eines Körpers: eine äußere Gestalt. Eine Vorstellung von dieser Gestalt bleibt dem Leser indessen verwehrt, will man darunter nicht nur den physiognomischen Wert der Handschrift verstehen.51 So liegt die wesentliche Bedeutung der „Lineamente[]“ in der Festlegung einer Grenze zwischen einem ‚Äußeren‘ und einem Inneren, in dem „der Operateur [...] Akzente“ verlagert und „Wucherungen der Worte“ heraus brennt. Die ‚Operation‘ kulminiert schließlich in einem invertierten Schöpfungsakt: Während Gott Eva aus der Adam entnommenen Rippe erschafft52 , „schiebt“ der Autor in den Text „als silberne Rippe ein Fremdwort ein“. Die biblische Rippe verbindet Mann und Frau53 ; das Fremdwort, die „Rippe“ im Text, hingegen verweist auf seine fremde Herkunft. Der Abschluss von ‚Operation‘ und Text fällt zusammen: „Endlich näht ihm [d.i. dem Autor] mit feinen Stichen Interpunktion das Ganze zusammen und er entlohnt den Kellner, seinen Assistenten, in bar.“ Der entscheidende Akt des „operierenden Schriftstellers“ (GS II.2 686), der Einschub des Fremdwortes, wird im Text beschrieben und zugleich in der Darstellung durch den Einschub des Wortes „Interpunktion “ eingelöst. In diesem Wort verweist noch das inter auf jenes dazwischen des Fremdwortes. Es steht in Benjamins Logik der Unterscheidung von Körper und Leib, dass die Frage nach der ‚Textgestalt‘ mit einem Verweis auf die Interpunktion beantwortet wird, denn die Interpunktion umfasst jene (visuellen) Zeichen der Sprache, die, ohne eigenen Lautwert, doch den Rhythmus, die Prosodie der Sätze mitbestimmen, indem sie diese öffnen und schließen, trennen und verbinden: Sie haben eine Funktion und besitzen doch keine wesentliche Substanz. 51 52

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Benjamin hat seine Gedanken über die „Linie [...] der Schriftzeichen“ in „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“ nicht ausgeführt. Vgl. GS II.2 603. Genesis 2,21-2,22: „Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“ Wo Adam in Schlaf versetzt wurde, ist der Gedanke chloroformiert (vgl. GS IV.1 131). „Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. / Frau soll sie heißen; / denn vom Mann ist sie genommen.“ (Gen. 2,23)

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

Wie in der von Benjamin beschriebenen Familienszene bedeuten diese Unterbrechungen auch den ‚Einschub‘ einer Meta-Ebene. Nicht nur der Autor im Text praktiziert solche Einschübe, sondern auch der Autor des Textes, dessen Analogie von Autor und „Operateur“ auf Parenthesen: „das Glas – die Linse [...] – “ und Interjektionen: „den Kellner, seinen Assistenten, [...]“ beruht. Der Text spielt mit einer Trias der gleichzeitigen (Selbst-)Betrachtung, (Selbst-)Beschreibung und (Selbst-)Darstellung, in welcher der Autor zu seinem Verfahren und Material ‚Stellung bezogen‘ hat. Es findet eine Verdopplung in eine ‚Textgestalt im Text‘ und eine ‚Textgestalt des Textes‘ sowie einen ‚Autor im Text‘ und einen ‚Autor des Textes‘ statt. Schließlich ‚verdoppelt‘ sich auch der Beobachter in einen ‚Beobachter im Text‘ und einen ‚Beobachter des Textes‘: Der Leser ist Publikum.

2.4.3 Montage als Her(aus)stellen von Konfigurationen Benjamin gibt der Figur des „Operateurs“ im Kunstwerk-Aufsatz einige Jahre später eine etwas andere Kontur; es geht ihm jedoch immer noch um die Unterschiede zwischen einem Erzähler, dessen Spur an der Erzählung „wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale“ haftet (GS II.2 447), und einem Autor, der tief ins ‚Innere‘ der Texte eingreift. Im Kunstwerk-Aufsatz setzt Benjamin den „Operateur“ anders als in „Poliklinik “ in Opposition zum heilenden Magier. Die Relation von Magier und Chirurg soll im Kunstwerk-Aufsatz die von Maler und Kameramann hinsichtlich einer eingehaltenen bzw. aufgehobenen Distanz beleuchten. Sowohl Magier als auch Maler erhalten die „natürliche Distanz“ aufrecht, während Chirurg und Kameramann sie stark vermindern: Sie dringen ins Innere ein, ins „Gewebe“. 54 Das Bild des Malers, stellt Benjamin fest, ist darum „ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden“ (GS I.2 496). Diese Teile sind unter Führung des Operateurs entstandene „Stellungnahmen“ der Apparatur zur „Leistung des Filmdarstellers“. Der „fertig montierte[] Film “ ist schließlich die „Folge von Stellungnahmen, die der Cutter aus dem ihm abgelieferten Material komponiert“ hat (GS I.2 488). Diese „Folge von Stellungnahmen“ entwickelt eine besondere Dynamik, indem „die Auffassung von jedem einzelnen Bild “ „durch die Folge aller vorangegangen vorgeschrieben“ erscheint (GS I.2 485).55 Auch dies ist eine „Di54

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Beide, Chirurg und Kameramann, sind ‚Operateure‘. Der aus dem Französischen stammende Begriff des Operateurs ist im Deutschen allerdings nicht mehr als Bezeichnung für den Kameramann geläufig. Benjamin legt hier den Schwerpunkt auf den anweisenden Charakter der Montage und übergeht dabei die Freiräume, die in der Montage für den Betrachter geschaffen werden können, „the idea of a spectator’s participation in the effect of montage“. Gumbrecht/ Marrinan: Montage, in: Mapping Benjamin. The work of art in the digital age, hg. v. dens., Stanford 2003, S. 49-53, hier: S. 50.

2.4 DIE „ORGANISIERENDE FUNKTION“ DER UNTERBRECHUNG IN DER MONTAGE

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rektive“ (ebd.), eine Form des autoritären Zeigens, welche ebenso von der Reklame eingesetzt wird, wie Benjamin in der Einbahnstraße in „Diese Flächen sind zu vermieten“ zeigt: Die Reklame verwendet, wie der Film, extreme visuelle „Stellungnahmen“ zu den dargestellten Objekten. Der Rezipient hat weder Zeit noch Raum, sich selbst einen Standpunkt zum Dargestellten zu suchen, denn im gezeigten Bild ist immer schon ‚Stellung bezogen‘. Die Nahaufnahme ist eine Möglichkeit solcher Perspektivierung.56 „Sie [d.i. Reklame] reißt den freien Spielraum der Betrachtung nieder und rückt die Dinge so gefährlich nah uns vor die Stirn, wie aus dem Kinorahmen ein Auto, riesig anwachsend, auf uns zu zittert.“ (GS IV.1 132) Diese ‚Annäherung‘ entspricht jener taktilen Kraft der im Kunstwerk-Aufsatz erwähnten ‚dadaistischen Geschosse‘ (vgl. GS I.2 502), die den Betrachter berühren und ihm somit keine Distanz mehr lassen, die zu einer kontemplativen Haltung nötig wäre, wie er sie dem traditionellen Kunstwerk gegenüber einnehmen konnte. Während die Intention der Dadaisten (und auch der Surrealisten) sicherlich zuvorderst gesellschaftliche Provokation ist, ordnet Benjamin diese neue Art der Rezeption, die auf den Film mit seinen auf den Betrachter hereinprasselnden Bildern vorausdeutet, in eine größere Entwicklung ein. Zu Beginn seines Kunstwerk-Aufsatzes stellt Benjamin fest, dass sich „mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung “ verändert (GS I.2 478). Kunstwerke sind gleichwohl mehr als ein jeweiliges Zeugnis dieser Veränderung, sie stellen, wie Benjamin am Ende des Aufsatzes am Beispiel des Films konstatiert, „Übungsinstrument[e]“ dar (GS I.2 505). Die neue Form der Rezeption, die das „Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption “ ist (ebd.), nennt er eine „Rezeption in der Zerstreuung“ (ebd.). Eine Rezeption, die ebenso auf einem „beiläufigen Bemerken“ beruht, findet Benjamin bekanntlich im Umgang mit der Baukunst: „Bauten werden doppelt rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. [...] Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit.“ (GS I.1 504f.) Erst eine Bewältigung von Aufgaben in der Zerstreuung belege, so Benjamin, dass diese zur Gewohnheit geworden sind. Benjamin meint damit an dieser Stelle etwas anderes als die „Dressur“, die den Fabrikarbeiter und auch den Passanten auf eine bloß automatische „Reaktion auf Chocks“ einstellt (GS I.2 632), denn er grenzt diese „Dressur“ in „Über einige Motive bei Baudelaire“ von einem positiv konnotierten Begriff 56

„Kritik ist eine Sache des rechten Abstands“, schreibt Benjamin dort, „sie ist in einer Welt zu Hause, wo [...] einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war.“ (GS IV.1 131) Die Techniken von Film und Reklame machen dies unmöglich – „so kurbelt echte Reklame die Dinge heran und hat ein Tempo, das dem guten Film entspricht“. Benjamin interessiert sich in „Diese Flächen sind zu vermieten“ (anders als im Kunstwerk-Aufsatz) ausschließlich für den close-up als filmisches Mittel, der in seiner „sture[n], sprunghafte[n] Nähe“ die Sache zerteilt. Man könnte auch sagen: Eine Zerlegung (jedoch nicht die kritische) hat immer schon stattgefunden.

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2. DIE AUTORITÄT DER SCHRIFT

der Übung ab (vgl. GS I.2 631), der mit dem der Erfahrung eng verbunden ist. Die Arbeit des ‚Dressierten‘ ist „gegen Erfahrung abgedichtet“ (GS I.2 632), weil nichts von dem, was der Arbeiter im Umgang mit der Maschine erlernt, die grundsätzlichen Optionen der Handhabung modifizieren kann. An einer Maschine kann der Fabrikarbeiter nicht zur Meisterschaft gelangen, weil es nur eine richtige und eine falsche, aber keine bessere Handhabung geben kann. Man könnte auch sagen: Er kann im Umgang mit der Maschine nicht spielen.57 Übung wird aus Benjamins Sicht bei handwerklichen Formen der Arbeit (GS I.1 631) und beim Spiel erworben (vgl. GS III 131f.). Solche Übung muss zu Gewohnheiten führen58 , die den Erfahrenen Handlungen beiläufig ausführen lässt, für die der Unerfahrene höchste Konzentration aufwenden muss. 59 Alles das, was derart gewohnt ist, nennt Benjamin das „Inkommensurable“ der „nächsten Nähe“ (vgl. GS VI 203 und GS VI 453f.). 60 Während solche Nähe auf der einen Seite ‚heimlich‘ sein kann – und hier steht Gewohnheit in Beziehung zum Wohnen (vgl. GS VI 203), wird sie unheimlich, sobald es sich um jene Nähe handelt, die keine Stellungnahme und Distanz mehr erlaubt. Oder, wie Benjamin es nicht nur im Hinblick auf die Dadaisten und den Film bemerkt: Nähe wird unheimlich und bedrohlich, wenn die Dinge – wie in der Moderne – dem Menschen auf „den Leib“ „rücken“ (GS IV.1 131). Die Menschen können trotz bzw. wegen dieser Nähe der Dinge nicht im vollen Umfang „habhaft werden“ (GS I.2 440). Diese Signatur der Zeit wird allerdings nicht nur durch das schockhafte Zu-Nahetreten der Dinge bestimmt, sondern auch dadurch, dass Dinge nicht mehr wahrgenommen, dass sie vergessen werden.61 Wenn Benjamin Montage nun als „Intention auf die nächste Nähe“ 62 (GS V.2 1030) bezeichnet, bedeutet dies, dass auf das, was bislang in den Bereich eines „beiläufige[n] Bemerken[s]“, einer gewohnten „nächsten Nähe“ fiel, ein „gespanntes Aufmerken“ (GS I.2 505) gerichtet werden soll. Damit werden einerseits jene ‚unscheinbaren‘ Erfahrungen der „nächsten Nähe“, Spiel, Übung und bestimmte Formen der Arbeit, in den Fokus ge57

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Was sich freilich in Zeiten des Computerspiels nicht mehr behaupten lässt, wo noch die simpelste Spielidee den Spieler an die Maschine durch sein Verlangen bindet, das Spiel besser zu beherrschen. „In welchem Lebensraum bilden sich Gewohnheiten leichter, wo sind sie lebenstüchtiger, wo erfassen sie ganze Gruppen tiefer als bei der Arbeit?“ (GS II.2 670) In einem Text mit dem Titel „Übung“ macht Benjamin sich am Beispiel eines Ball-Spieles Gedanken über wahre Meisterschaft: „So rief Rastellis ausgestreckter kleiner Finger den Ball herbei, der wie ein Vogel auf ihn heraufhüpfte.“ Geübt werden muss, wie sich der Jongleur, genauer: sein Körper, zum Ball in Beziehung setzt. Es gilt, „weder den Körper noch den Ball ‚unter seine Gewalt‘“ zu bringen: Durch Übung, die „den Meister“ bis „zur Grenze der Erschöpfung ermüdet“, wird vielmehr erreicht, dass „der Wille ein für alle Mal zugunsten der Organe abdankt – zum Beispiel der Hand“ (GS IV.1 406). Dem Kind etwa lassen „seine einsamen Spiele die nächste Nähe zur Stadt wachsen“ (GS VI 465). Vgl. dazu den zweiten Teil der Arbeit. Benjamin verwendet hier den Begriff Intention in der Bedeutung eines ‚Gespanntseins‘.

2.4 DIE „ORGANISIERENDE FUNKTION“ DER UNTERBRECHUNG IN DER MONTAGE

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rückt, andererseits soll das Gewohnte, das, wie Benjamin in der Berliner Kindheit darstellt, zwingend und entstellend wirken kann, wenn es unbemerkt ist63 , in den Bereich der Aufmerksamkeit rücken. Welche Beziehung zur Technik als einem „Übungsinstrument“ Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz andeutet bzw. welche Bedeutung er einer solchen für einen Umbruch in der kollektiven Apperzeption beigemessen hat, kann hier nur in Ansätzen erörtert werden.64 Darzulegen ist allerdings, dass er vor dem Hintergrund veränderter Bedingungen von Tradierung und der Infragestellung tradierter Inhalte auch in die Literatur Verfahren einzuführen versucht, die den neuen Formen der Apperzeption entsprechen. Benjamin geht es in der Einbahnstraße darum, durch die beschriebenen Verfahren, etwa in Form von Direktiven oder Verweisen, zunächst eine aufdringliche Nähe zum Leser herzustellen. Zugleich versucht er sich aber an einer Aufhebung solcher Nähe durch Unterbrechungen und ‚Einschübe‘, die eine Meta-Ebene eröffnen, welche eine Art ‚Stellungnahme ohne Distanzierung‘ erlaubt. Die Auseinandersetzung mit den Imperativen der Einbahnstraße führt nicht über eine Distanzierung vom Text, vielmehr führt sie noch näher an das Material der Sprache heran, in welchem sich dann, wenn Benjamins Versuchsanordnung gelingt, Brüche offenbaren, die erneut einen Spielraum eröffnen.

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Vgl. Kap. II.5.3 und II.5.5. Vgl. Kap. I.5.5.

3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

3.1 Goethes ‚gesättigter Augenblick‘ 3.1.1 Nähe und Ferne – Sexus und Eros Nähe und Ferne sind in Benjamins Schriften vor allem als „Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung “ im Rahmen seines Kunstwerk-Aufsatzes bekannt (GS I.2 480), obgleich er sie auch, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, bei seinen Ausführungen zur Erzählung und zur Montage wie in seinen eigenen Darstellungen1 heranzieht. Nähe könnte man zunächst als (physische) Gegenwart, Ferne als räumliche wie zeitliche Abgeschiedenheit umschreiben. Über das alltägliche Verständnis dieser Kategorien geht Benjamin in seinen „Schemata zum psychophysischen Problem“ hinaus, wo er Nähe mit Sexualität und Ferne mit Eros assoziiert (vgl. GS VI 83).2 Eros gilt ihm dort als „das Bindende in der Natur“, dessen „ursprüngliches Werk“ die Bindung von Nähe und Ferne ist (GS VI 86). Der Begriff Eros fungiert somit einerseits als Überbegriff für eine Verbindung von Nähe und Ferne, er kann andererseits aber auch als Gegenbegriff zum Sexus auftreten, wenn jene Bindung von Nähe und Ferne gelöst ist. Diese Trennung von Eros und Sexus ist, wie Benjamin an Karl Kraus’ und Charles Baudelaires Lyrik aufzeigt, gleichbedeutend mit dem „Verfall der Aura“ (GS I.2 479). Die Moderne ist indessen nicht das erste „Zeitalter“, das „eine Krisis der Aura erfahren“ hat (GS V.1 462). Benjamin vermutet im Passagenwerk, dass „das Ausmaß auratischer Sättigung der menschlichen Wahrnehmung im Laufe der Geschichte Schwankungen unterworfen gewesen ist“ (GS V.1 461). Neben dem „Zeitalter der technischen Re1

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Einer der wenigen, der Nähe und Ferne in Bezug auf Benjamins eigene literarische Darstellungen betrachtet hat, ist Gerhard Richter, der unter dem Schlagwort des ‚rechten Abstands‘ eine Art Dialektik von Distanz und Nähe beschreibt: Seine Überlegungen sind indes stark von den Annahmen der Dekonstruktion beeinflusst und verfehlen so eine adäquate Beschreibung der Kategorie der Nähe: Vgl. Gerhard Richter: A matter of distance. Benjamin’s ‘One-Way Street’ through the ‘Arcades’, in: Ders.: Thought-Images. Frankfurt School Writers’ Reflections from Damaged Life, Stanford 2007, S. 43-71. Thierkopf hat die „gleichzeitigkeit von nähe und ferne – abstand und einverleibung“ in verschiedenen Darstellungsverfahren Benjamins, u.a. bei Traktat und Montage, herausgestellt. Dieter Thierkopf: Nähe und Ferne. Kommentare zu Benjamins Denkverfahren, in: Walter Benjamin, Text + Kritik 31/32 (1971), S. 3-18, hier: S. 13. Vgl. zum Begriff des Eros auch Weigel: „Für Männer – Überzeugen ist unfruchtbar“ – Zum Zusammenhang von Eros und Sprache, in: Dies.: Entstellte Ähnlichkeit, S. 147-189 und dies.: Eros, in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, S. 299-341.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

produzierbarkeit“ des Kunstwerkes ist das natürlich das Barock, mit dem Benjamin sich im Trauerspiel-Buch beschäftigt. Goethes Lyrik hingegen erscheint Benjamin „mit der Erfahrung der Aura gesättigt“ (GS I.2 648). Sie ist beispielhaft für eine Erfahrung, die mit ihrer „Fülle und Sicherheit“ (GS II.1 376) zugleich über jede räumliche und zeitliche Ferne hinaus weist. Solch ‚gesättigte Ferne‘ wird in ‚allegorischen Zeitaltern‘ angegriffen, die „selbst die himmlische Ferne in eine Nähe [rücken], die überraschen und bestürzen soll“ (GS V.1 461). Wenn es hier im Folgenden um Goethe, Dante, Kraus und Baudelaire gehen wird, deutet die Reihenfolge bereits an, dass es sich nicht um den Nachweis einer chronologischen Entwicklung handelt. Stattdessen sollen die Verschiebungen im Verhältnis von Nähe und Ferne beschrieben werden, die Benjamin als Veränderungen des Verhältnisses von Sexus und Eros liest. Das „vollkommene Gleichgewicht von Nähe und Ferne“ (GS VI 86), Zeichen jener „auratische[n] Sättigung “ (GS V.1 461), die Benjamin in Goethes Versen auftauchen und mit ihnen auch wieder verschwinden sieht, ist somit kein ‚verlorener Ursprung‘, die Verschiebungen in diesem „Gleichgewicht“ sind kein einseitiger Verfall. Dagegen spricht die Relevanz der Sprache und des Namens bei Dante und Kraus, die ins Zentrum der Sprachphilosophie Benjamins weist. Goethes „vollkommenes Gleichgewicht“ (GS VI 86) gilt daher ebenso als „Extrem“ eines Phänomens (GS I.1 218) wie die Auflösung der Bindung von Eros und Sexus, die Benjamin bei Kraus und Baudelaire feststellt.

3.1.2 Goethes „Selige Sehnsucht“: Gleichgewicht von Nähe und Ferne Benjamin findet in Goethes Versen „Keine Ferne macht dich schwierig, / kommst geflogen und gebannt“ ein „vollkommene[s] Gleichgewicht von Nähe und Ferne“ ausgedrückt (GS VI 86). Es ist ein Zitat aus „Selige Sehnsucht“, einem Gedicht des West-Östlichen Divans, das in der Einbahnstraße mehrfach erwähnt wird: im Text „Kriegerdenkmal“ – dort beschäftigt sich Benjamin mit Karl Kraus und dessen Gedicht „Die Verlassenen“ (vgl. GS IV.1 121), auf das ich später zurückkommen werde; die zweite Nennung erfolgt in „Wunschbogen“. 3 Goethes „Selige Sehnsucht“ ist für sein „Stirb und werde“ 4 sicherlich bekannter als für die Verse „Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt“, die Benjamin stets ohne den Kontext des Gedichtes zitiert. 3

4

Dort zitiert Benjamin das titellose Gedicht, das der „Seligen Sehnsucht“ im Divan folgt und kommentiert: „‚Tut ein Schilf sich doch hervor – Welten zu versüßen – Möge meinem Schreiberohr – Liebliches entfließen!‘ – das folgt der ‚Seligen Sehnsucht‘ wie eine Perle, die der geöffneten Muschelschale entrollt ist.“ (GS IV.1 111) Johann Wolfgang von Goethe: West-Östlicher Divan, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Vierzig Bände, hg. v. Friedmar Apel u.a., I. Abteilung, Bd. 3/1, hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt a.M. 1994, S. 25.

3.1 GOETHES ‚GESÄTTIGTER AUGENBLICK‘

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Goethe beschreibt in den zwei vorangehenden Strophen, wie in der „Liebesnächte Kühlung“ der Wunsch nach „höherer Begattung “ entsteht5 , in gewisser Hinsicht also eine Variation der platonischen Stufenfolge. Dementsprechend erkennt Benjamin in diesen Versen „das ursprüngliche Werk des Eros“, das in einem „vollkommne[n] Gleichgewicht zwischen Nähe und Ferne in der vollendeten Liebe“ besteht (GS VI 86). Nähe sieht er im Bann, Ferne im Flug repräsentiert (vgl. GS VI 87). In Goethes Versen erscheint weder zweifelhaft, dass Ferne und Nähe sich einstellen können, noch dass ihr „Gleichgewicht“ möglich sei. Solch sichere Nähe in der Ferne oder, anders gesprochen die Gewissheit einer Vergegenwärtigung in Abwesenheit, hat Goethe auch im Vers „Ich sehe dich, bist du auch noch so fern!“ festgehalten, der einem titellosen Gedicht entstammt, welches das Motiv der vorüberschreitenden Geliebten6 thematisiert („Du gingst vorüber? Wie! ich sah dich nicht, / [...] / Verlorner, unglückselger Augenblick“ 7 ). Um nur ein weiteres Beispiel aus Goethes Lyrik anzuführen, das jene Gewissheit und Sicherheit vermittelt, die Benjamin in den Versen „Keine Ferne macht dich schwierig“ aufgespürt hat, sei noch ein zweites titelloses Gedicht hier zitiert: „Töne, Lied, aus weiter Ferne, / säusle heimlich nächster Nähe, / So der Freude, so dem Wehe! / Blinken doch auch so die Sterne.“ 8 Auch in diesen Versen herrscht kein Zweifel, dass sich die „Kunde von der Ferne“ (GS II.2 440)9 hier und jetzt einstellen kann, dass sie jemanden findet, den sie betrifft und in dem sie eine Sehnsucht, ein Heimweh weckt. Das Motiv der Sterne eröffnet als Horizont dieser Sehnsucht eine Ferne jenseits von Raum und Zeit. Für Benjamin beschreiben die Verse der „Seligen Sehnsucht“ eine „mit der Erfahrung der Aura gesättigt[e]“ Liebe (GS I.2 648). Weil nun diese Liebe ein „Gleichgewicht von Nähe und Ferne“ (GS VI 86) darstellt, sollte auch der Stellenwert der Nähe für die „Erfahrung der Aura“ überdacht werden. Eine Lesart des Zitats aus dem Kunstwerk-Aufsatz besagt, dass physische Nähe die Erfahrung der Aura nicht ausschließen muss10 , dass Nähe aber keineswegs konstitutiv für dieses Moment ist. Benjamins Äußerungen im Umkreis der 5 6

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Ebd. Dass unterschiedliche epistemologische Konzepte in (literarischen) Motiven chiffriert sein können, hat etwa Rainer Warning an eben jenem Motiv der vorüberschreitenden und grüßenden Geliebten in der Lyrik Dantes, Petrarcas und Baudelaires gezeigt. Die Geliebte vertritt als idealisierte den Bereich des ‚Ewigen‘, der Ideen. Im Moment ihres Vorüberschreitens wird das Verhältnis von zeitenthobenem Sein und transitorischen Erscheinungen problematisiert. Vgl. Rainer Warning: Imitiatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire, in: Ders.: Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg i.Br. 1997, S. 105-141. Goethe: Gedichte 1800-1832, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel u.a., I. Abteilung, Bd. 2, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988, S. 593. Ebd., S. 447. Vgl. Kap. I.2.1. Aura ist die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (GS I.2 479, Hervorhebung E.A.).

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

Goethe-Verse sprechen hingegen für ein Gleichgewicht oder zumindest für eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne in der Erfahrung der Aura. Diese verschiedenen Interpretationen spiegeln sich auch in der Benjamin-Forschung wider: Die einen, darunter etwa Burkhardt Lindner11 , nehmen eine Gleichzeitigkeit bzw. Dynamik von Nähe und Ferne an, die anderen, darunter z.B. Josef Fürnkäs, stellen auf das Moment der Ferne, der Unnahbarkeit ab und sehen die Aura darum im Zeichen des „Aufschubs“ und der „Indirektheit“. 12 Diese letzteren Lesarten übersehen jedoch, dass die Ferne des kultischen Bildes und noch die der Goethe’schen Verse eine bestimmte „Fülle und Sicherheit“ (GS II.1 376), d.h. einen gewissen Anteil von Nähe zu kennen scheint. Diese Ferne ist keine Ferne im Sinne eines Mangels oder Verlustes. Benjamin unterscheidet von dieser ‚gesättigten‘ Ferne jedoch eine Ferne, der die „Sättigung “ (GS V.1 461) abgeht, weil sie nicht mehr mit der Nähe verbunden ist und sich darum keine Vergegenwärtigungen mehr einstellen. Diese Unterscheidung lässt sich deutlicher als an Benjamins AuraDefinitionen an den Verhältnissen von Eros (Ferne) und Sexus (Nähe) ablesen, die Benjamin bei Kraus und Baudelaire ausmacht. Beide Autoren führen die Konsequenzen einer Auflösung der Bindung von Nähe und Ferne vor. Diesen Bezug sieht Benjamin bei Dante, um den es im nächsten Abschnitt gehen wird, noch gegeben, er gestaltet sich jedoch anders als bei Goethe.

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Über die Aura schreibt Lindner ihm Rahmen seiner aufschlussreichen Ausführungen zu Benjamins Kunstwerkaufsatz in dem von ihm herausgegeben Benjamin-Handbuch: „Nicht Sichtbarkeit, sondern ‚Unnahbarkeit‘ (I, 480) ist die Hauptqualität des archaischen Kultbilds, das als paradoxe Einheit von Entzug und Präsenz, Unantastbarkeit und Berührtheit wirksam wird.“ Lindner: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 237. In einem etwas älteren Aufsatz spricht er von einer „auratische[n] Durchdringung von Nähe und Ferne, von Präsenz und Entzug“. Ders.: Benjamins Aurakonzeption, S. 240. Thierkopf hat sich zwar nicht explizit mit der Aura auseinandergesetzt, weist aber die „gleichzeitigkeit von nähe und ferne – abstand und einverleibung“ in verschiedenen Darstellungsverfahren Benjamins nach. Thierkopf: Nähe und Ferne, S. 13. Fürnkäs: Aura, S. 113. Einen Überblick über diese derzeitig populäre Meinung gibt auch das Benjamin-Handbuch, in dem etwa Köhn und Schmider/Werner die Ansicht vertreten, Aura sei eine „an Einmaligkeit und Ferne gebundene[] Erfahrung“. Köhn: Kleine Geschichte der Photographie, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart, Weimar 2006, S. 399-405, hier: S. 403. Diese „für Ritual und Kult konstitutive Ferne sieht Benjamin nun durch die Technisierung und Medialisierung der Reproduktionstechniken vom Verschwinden bedroht.“ Schmider/Werner: Das BaudelaireBuch, S. 580.

3.2 DANTES ‚PLATONISCHE LIEBE‘: DIALEKTIK VON NÄHE UND FERNE

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3.2 Dantes ‚platonische Liebe‘: Dialektik von Nähe und Ferne Neben Goethes Versen führt Benjamin immer wieder Dantes Werk an. Im Gegensatz zu Goethes „vollkommne[m] Gleichgewicht zwischen Nähe und Ferne“ (GS VI 86) findet Benjamin bei Dante eine „Dialektik von Unmittelbarkeit und Entzug [...], von gesteigerter Präsenz und uneinholbarer Absenz“. 13 Im Mittelpunkt von Dantes Vita Nuova steht Beatrice, die in der Divina Commedia als Dantes Führerin durch die Himmelkreise eine wichtige Rolle einnimmt. Ihren ersten Auftritt hat die verschleierte Beatrice in der Divina Commedia im Fegefeuer (30. Gesang), dem Bereich zwischen Himmel und Hölle, der als Situation des Übergangs ihren Zwischen-Status spiegelt. Erich Auerbach, auf dessen „Dante als Dichter der irdischen Welt“ sich Benjamin bezieht (vgl. GS II.1 299), beschreibt sie als mehrdeutige – und paradoxe – Gestalt. Beatrice sei zugleich konkrete historische Person und symbolisch überhöhte Figur: Und ist sie andererseits nichts als eine Allegorie mystischer Weisheit, so ist doch in ihr so viel Wirkliches und Persönliches erhalten geblieben, daß man ein Recht hat, sie als menschliche Gestalt zu betrachten, gleichviel ob sich jene Daten wirklichen Geschehens auf einen bestimmten Menschen beziehen oder nicht. 14

Obgleich die Figur der Beatrice zwischen einer „christliche[n] Heilige“ und einer „antike[n] Sybille“ oszilliere, gelinge es Dante – im Gegensatz zu den anderen Dichtern des „Neuen Stils“ – ihre „Wirklichkeit“ zu wahren, so Auerbach.15 Diese Konkretion dürfte Benjamin fasziniert haben. Beatrices doppelter Status als konkrete Person und entrückte Figur gestaltet sich in Benjamins Interpretation aber noch einmal anders: „Dante versetzt Beatrice unter die Sterne. Doch es konnten ihm die Sterne in Beatrice nahe sein.“ (GS VI 86) Die Entfernung der Geliebten schlägt in eine Annäherung des Entfernten um, das als entfernte Erscheinung bzw. erscheinende Ferne der Sternenhimmel ist. In der Vita Nuova begegnen sich Dante und Beatrice wenige Male, dann trennt sie ihr früher Tod. Doch ist für diese Liebe in Benjamins Lesart nicht Beatrices physische Nähe, sondern allein ihr Name essenziell: „Dieser Liebe geht wie Strahlen aus einem Glutkern das Dasein der Geliebten aus ihrem Namen, ja noch das Werk des Liebenden aus ihm hervor.“ (GS IV.1 369) Benjamin bestimmt diese Liebe aufgrund des „Schicksal[s] des Namens“ als platonische Liebe – und gibt dem Konzept damit eine ihm eigentümliche Wendung: 13 14 15

So Lindner über die Aura, nicht in Bezug auf Dante. Lindner: Benjamins Aurakonzeption, S. 232. Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, 2. Auflage Berlin 2001, S. 75. Ebd., S. 78.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

Während in einer „Geschlechtsnähe“ auch der „Vorname[] nicht unangetastet“ bleibt, ist es der platonischen Liebe wesentlich, meint Benjamin, dass „sie den Namen, den Vornamen der Geliebten unangetastet wahrt und behütet“ (GS IV.1 368). Benjamin überträgt somit hier die ausbleibende KörperBerührung auf den Namen, der als ‚unangetasteter‘ ein ‚ferner‘ Name ist. Als solcher Name, nicht als Figur, wird Beatrice „unter die Sterne versetzt“: „Wie die Geliebte fern und blinkend wird, wie ihre Winzigkeit und ihr Leuchten sich in den Namen ziehen“, das ist Ausdruck der „platonischen Liebe“ in der Widmung, schreibt Benjamin im Kraus-Essay (GS II.1 362). Diese „platonische Liebe“ nennt Benjamin eine „Fernenneigung“ (GS IV.1 368). Diese Namens-Liebe kann sich, das wird der folgende Abschnitt, vor allem aber der zweite Teil dieser Arbeit zeigen, von der Beziehung auf eine Person lösen. Wie sich Eros in der platonischen Stufenfolge von der Schönen auf das Schöne zu richten vermag, so kann sich Benjamins ‚platonische Liebe‘ von der Person auf ihren Namen16 , ja sogar auf topographische Namen richten. 17 Schließlich bezieht sich diese „Fernenneigung“ (GS IV.1 368) auch auf die Sprache an sich, ist doch der Name „das innerste Wesen der Sprache selbst“ (GS II.1 144). – Eine Beschreibung dieser „platonische[n] Sprachliebe“ (GS II.1 362) liefert Benjamin am Beispiel von Karl Kraus.18

3.3 Kraus’ „platonische Sprachliebe“ und Benjamins ZitatKonzept 3.3.1 Kraus’ „Die Verlassenen“: Gelöste Bindung von Eros und Sexus Benjamin vergleicht Goethes Verse „Keine Ferne macht dich schwierig “ an verschiedenen Stellen mit Karl Kraus’ Gedicht „Die Verlassenen“ 19 . In einem Fragment über das „psychophysische Problem“ schreibt er: „Goethes Gedicht mächtige unaussetzende Bewegung, Kraus Gedicht ungeheuer aussetzend und einhaltend“ (GS VI 87). Eine detaillierte Analyse legt Benjamin zwar 16 17 18

19

Vgl. Kap. II.3.3. Vgl. Kap. II.2.5. Menninghaus hat in seinem Band über Benjamins „Theorie der Sprachmagie“ diesen Bezug zwischen Benjamins Dante- und seiner Kraus-Exegese hergestellt. Da ihn allerdings die Kategorien Nähe und Ferne nicht interessieren, handelt er die Texte voreilig ab: „Es dürfte kaum möglich sein, über die von Benjamin wiederholt thematisierte ‚Liebeserfahrung‘ im Zeichen der Aura des Namens zu ‚diskutieren‘. Hier gilt in der Tat: entweder man hat sie bzw. kann sie nachvollziehen oder kann es nicht.“ Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1980, S. 182. Vgl. Karl Kraus: Worte in Versen, hg. v. Heinrich Fischer, München 1959, S. 263.

3.3 KRAUS’ „PLATONISCHE SPRACHLIEBE“ UND BENJAMINS ZITAT-KONZEPT

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nicht vor, seine Bemerkungen leuchten aber sofort ein. Kraus’ Verse wirken, obgleich sie durch Reime (a b a a b) miteinander verbunden sind, voneinander getrennt: Die Verse haben unterschiedlich viele Hebungen – zum Teil bestehen sie aus nur einem einzigen Wort, bezeichnenderweise aus dem Wort „allein “. Der Satzfluss ist unterbrochen, die Enjambements erscheinen als großer Sprung von einer Zeile zur nächsten. Die erste und die dritte Strophe sind parallel aufgebaut, aus dieser Ähnlichkeit resultiert aber sowohl eine Beziehung als auch eine ‚Vereinzelung‘ der Strophen, weil sie durch die zwischengestellte zweite Strophe wie durch einen „Abgrund“ (GS VI 87) getrennt erscheinen. Eros kann nicht mehr als die bindende Kraft des Goethe-Gedichtes angesehen werden: Hier gibt es keine ‚Zeugung‘, sondern „Zersetzung“ (GS II.1 350), keine „höhere Begattung“ 20 , nur „bloße Sexualität“ (GS II.1 354). – Diese „Zersetzung“ ist in Benjamins Essay über Karl Kraus durchaus nicht negativ konnotiert. „Allzu lange lag der Akzent auf dem Schöpferischen“, heißt es dort (GS II. 366). Benjamins Konzept des Zitats, das er im Kraus-Essay entwickelt, ist darum häufig im Zeichen der Destruktion gelesen worden.21 Benjamin richtet aber das Augenmerk nicht nur auf die „Zersetzung“, man könnte auch sagen: auf die Vereinzelung der „Verlassenen“, sondern auch auf die Beziehungen, die dabei entstehen können. Auch bei Kraus sind die ‚Kräfte der Nähe‘ wirksam – ganz anders freilich als bei Goethe. Benjamin führt seine These von der gelösten Bindung von Eros und Sexus in die Interpretation von „Die Verlassenen“ ein, indem er den Titel des dreistrophigen Gedichts nicht auf den verlassenen Geliebten bezieht, sondern auf die „Lust“, die in der ersten Strophe, und die „Seele“, die in der letzten Strophe „allein“ auf „ihre letzte“ bzw. ihre „lange Reise“ ziehen: „‚Die Verlassenen‘ – voneinander sind sie es. Aber – das ist ihr großer Trost – sie sind es auch miteinander.“ (GS II.1 362) Selbst im Verlassenwerden stellt sich für Benjamin ein Bezug ein. Ihre Nähe zueinander verdankt sich ihrer gemeinsamen Vereinsamung in Beziehung auf ein Drittes: „So miteinander verlassen sind Lust und Seele, aber auch Sprache und Eros, auch Reim und Name.“ (Ebd.) Während das erste ‚miteinander verlassene‘ Paar („Lust und Seele“) aus Kraus’ Gedicht entnommen ist, steht das zweite – „Sprache und Eros“ – für die zentrale These Benjamins, dass „nie die Sprache [vollendeter] vom Geist geschieden, nie inniger an den Eros gebunden worden“ ist (ebd.). Ben20 21

Goethe: West-Östlicher Divan, S. 25. Vgl. dazu beispielsweise die ansonsten instruktiven Überlegungen zum Kraus-Essay im Benjamin-Handbuch: Alexander Honold: Karl Kraus, in: Benjamin-Handbuch, S. 522-539, hier: S. 536f. Zum Konzept des Zitats: Vgl. Josef Fürnkäs, der den Abschnitt über den Reim erst gar nicht zitiert und dementsprechend auf das Moment der „Zerstörung“ abstellt. Josef Fürnkäs: Zitat und Zerstörung. Karl Kraus und Walter Benjamin in: Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte, hg. v. Jacques Le Rider und Gérard Raulet, Tübingen 1987, S. 217. Sigrid Weigel zitiert zwar ausführlich, erläutert das Konzept des Reimes jedoch nicht: Vgl. Weigel: Entstellte Ähnlichkeit, S. 172ff. Voigts konstatiert lediglich eine „widersprüchliche Verspannung von Reim und Name“. Manfred Voigts: Zitat, in: Benjamins Begriffe, Bd. 2, S. 840.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

jamin hätte seine These noch an einem weiteren Kraus-Gedicht belegen können; dass er dies nicht tut, spricht von der Sicherheit, mit der er davon ausging, dass jene Trennung in Kraus’ Werk allgegenwärtig ist: In „Eros und der Dichter“ wird in einem Dialog zwischen den Genannten geschildert, wie der Dichter Eros zu entsagen versucht.22 Diese Flucht vereitelt Eros in einer Szene, die als Parodie der Faustischen Geisterbeschwörung erscheint, weil hier die Rollen vertauscht sind. Eros ruft den Dichter, der von den „Weibern“ – und vom Eros – genug hat, an. Nach einigen Entsagungsversuchen ‚nimmt‘ Eros den Dichter ‚beim Wort‘ – und zwar bei dem Wort „Wort“. Der Dichter erfährt Eros mithin nicht am „Weib “, sondern am Wort als eine Form der „wonnevollen Eile“, deren „Verweilen“ er wünscht und herbeizuführen sucht (auch hier wird, wie bei Faust, die andauernde Nähe bzw. die Präsenz eines stets sich Entfernenden gewünscht).23 Kraus führt auf humorvolle Weise vor, dass sich dieses ‚platonische‘ Begehren von der Frau und vom Sexus gelöst hat. In Benjamins Lesart ist dies mit einem Aufstieg im platonischen Sinne jedoch nicht zu vergleichen, denn er meint an Kraus’ Lyrik feststellen zu können, dass auch der „Geist“ sich vom Eros getrennt hat und nun zweideutig mit dem Sexus ‚verschränkt‘ ist, wie er in einer chiastischen Überkreuzung darstellt: „[I]m Witzwort kommt die Lust, in der Onanie die Pointe zu ihrem Recht“ (GS II.1 350). Sprache und Eros, miteinander verbunden, weil „miteinander verlassen“ (GS II.1 362), stellt Benjamin die ebenso paradoxe Verbindung von „bloße[m] Geist und bloße[r] Sexualität“ (GS II.1 354) gegenüber. „Bloße Sexualität“, die ohne Bindung an ein Gegenüber lebt, ist entweder „Befriedigung in sich selbst – Onanie“ (GS II.3 1100) oder ‚freie Natur‘. 24 Der „bloße Geist“ 25 ist eine „lieblose und sich selbst genugsame Figur“ (GS II.1 350), die es nicht zum anderen oder in die Ferne zieht; sie ergeht sich stattdessen in Anzüglichkeiten und Bezüglichkeiten. Jene „Fernenneigung“ (GS IV.1 368), die bei Goethe und Dante von der Geliebten auf etwas Höheres übertragen wird, ist nun bei Kraus auf die Sprache übergegangen, wie man vor allem am Motiv des Blickwechsels feststellen kann. Der Blickwechsel zwischen Mann und Geliebter ist auf das Verhältnis von Autor bzw. 22 23

24

25

Vgl. Kraus: Worte in Versen, S. 331-333. Ebd., S. 333: Eros: „Willst du dich auch noch so sputen, / nehm’ ich schneller dich beim Wort! / Dichter: Ach beim Wort, es eilt, verweile, / hab ich dich, schon ist es fort, / welche wonnevolle Eile, wie erregt mich dieses Wort!“ Für Warning stellt Baudelaires Lyrik jenen Übergang der Erfahrung des Transitorischen auf die Sprache dar, in dem „der Text zum Objekt des Begehrens“ wird. Warning: Imitation und Intertexualität, S. 141. Kraus versteht, laut Benjamin, die Prostitution als ein „Naturphänomen“; daran setzt u.a. Benjamins Kritik an: Kraus verkenne, dass es sich bei der Prostitution um eine „soziale Verbildung des weiblichen Sexus“ unter den Bedingungen des Tauschverkehrs (GS II.1 353) handelt. „Unterm Zeichen des bloßen Geistes“ stehen auch die Schriftsteller, die sich – wie die Prostituierten – auf dem freien Markt verkaufen müssen. „Es ist im Grunde eine vollkommene Entsprechung dieser Daseinsformen: des Lebens unterm Zeichen bloßen Geistes oder bloßer Sexualität, die jene Solidarität des Literaten mit der Hure begründet, deren unverbrüchliches Zeugnis wiederum Baudelaires Existenz ist.“ (GS I.2 352)

3.3 KRAUS’ „PLATONISCHE SPRACHLIEBE“ UND BENJAMINS ZITAT-KONZEPT

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Leser und Wort übertragen: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ 26 Dass Benjamin diese erotische auch als eine auratische Erfahrung interpretieren kann, resultiert aus Kraus’ Wortspiel mit einem Verhältnis von Nähe und Ferne: Es sei die „Ferne“, die sowohl „im Auge der Geliebten den Liebenden nach sich zieht“, als auch im ‚Blick‘ des Wortes den Leser (GS V.1 457). Benjamin nennt das, was Kraus’ Aphorismus beschreibt, „platonische Sprachliebe“ (GS II.1 362). In Analogie zur „platonischen Liebe“ entsteht auch hier eine „Spannung“ durch die Ausrichtung in eine Ferne – nur ist sie auf das Wort, nicht auf eine Geliebte gerichtet.

3.3.2 Das Zitat: Teilung des Wortes in Name und Reim Solche Spannungen überträgt Benjamin auf die Sprache selbst, wenn er schreibt: „als Reim und Name“ wird „das erotische Urverhältnis von Nähe und Ferne in seiner [d.i. Kraus’] Sprache laut“ (ebd.). Es ist indes nicht das Goethe’sche Gleichgewicht von Nähe und Ferne, in dem Reim und Name stehen, denn auch sie sind für Benjamin im Zitat ein „miteinander verlassene[s]“ Paar (ebd.).27 Das Zitat, so Benjamin, „ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang“ (GS II.1 363). Benjamin überträgt hier, wie Kraus im zitierten Aphorismus, anscheinend menschliche Verhaltensweisen auf die Sprache; anders als Kraus überträgt er sie aber nicht auf das Verhältnis von Leser und Text, sondern auf ein Verhältnis in den Texten, zudem verlegt er die Aktion aus dem Bereich des Optischen in die akustische Sphäre: als ereigne sich zwischen Zitat und Wort etwas der Ansprache des Menschen durch einen anderen Vergleichbares. Wie in einer Gruppe von Menschen der eine mit seinem Namen angesprochen – und aus ihr herausgehoben wird, so wird ein Wort aus dem Gefüge seines Satzes genommen. Dies muss keine Entfernung des Wortes aus seinem Kontext bedeuten: Eine „einzige Sperrung“, stellt Benjamin fest, genügt Kraus zu solcher ‚Zitation‘ (ebd.). Im Gegensatz zur Metapher des Blickwechsels von Mann und Geliebter, die einen positiven Bezug impliziert, ist die des ‚Anrufs‘ ambivalent, denn das Zitat ist im Sinne eines (Gottes-)Gerichtes „rettend[] und strafend[]“ (GS II.1 363). Das Wort, welches solche „Reinigung und Erhöhung“ (GS II.1 153) im Gericht zu erwarten hat, ist im Kraus-Essay wie in „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ das „Geschwätz“ (GS II.1 151 und GS 26

27

Die Fackel (Nr. 326/327/328), hg. v. Karl Kraus, Frankfurt a.M. 1977 [Nachdruck der Ausgabe Wien 1899-1936], S. 44 (8. Juli 1911). Zu diesem Kraus-Zitat bemerkt Benjamin im Baudelaire-Essay: „Worte können auch ihre Aura haben.“ (GS I.2 647) Vgl. zu Benjamins Zitat-Konzept, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang der sprachphilosophischen Überlegungen und der Figuren im Kraus-Essay meinen Aufsatz: Eva Axer: Alldeutig, zweideutig, undeutig. Walter Benjamins ‚Bezwingung‘ dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay, in: Das Dämonische, hg. v. Eva Geulen [erscheint Paderborn 2013].

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

II.1 356), denn das „Geschwätz“ ‚verknechtet‘ die Sprache – im SprachAufsatz wird sie ein Mittel der Erkenntnis von „gut und böse“ (GS II.1 154), im Kraus-Essay ist sie im Feuilleton nur noch Ausdruck eines „Kräfteverhältnis[ses] von Dummheit und von Bosheit“ (GS II.1 352). Im Sprach-Aufsatz, der den Ursprung der Sprache aus der biblischen Genesis entwickelt (vgl. GS II.1 148ff.), ist das „Geschwätz“ die niedrigste Stufe eines Abstiegs der Sprache vom göttlichen zum menschlichen Wort. Auf der höchsten Stufe steht, wie Benjamin in einer Exegese der Schöpfungsgeschichte darstellt (GS II.1 148f.), das schaffende Gotteswort; dann folgt die Stufe der adamitischen Namenssprache. Sie ist eine Übersetzung des Namenlosen in den Namen, der aber an das schaffende Gotteswort nicht heranreicht (vgl. GS II.1 148). Das menschliche Wort ist im Vergleich zum göttlichen vollends „eingeschränkt und analytisch“, weil es auf Mitteilung gerichtet ist. Die „Geburtsstunde“ des menschlichen Wortes versteht Benjamin als den ‚Sündenfall‘: Die menschliche Sprache wird „zum Mittel [...] einer unangemessenen Erkenntnis“, d.i. die Erkenntnis von Gut und Böse, die außerhalb der Namenssprache liegt. Damit wird sie in Benjamins Augen an „einem Teile [...] zum bloßen Zeichen“ (GS II.1 153) und schließlich zum „Geschwätz“ (ebd.). Diese „Verletzung des Namens“ wird im „richtenden Wort“ ‚gesühnt‘ (GS VII.2 795), das unmittelbar ist wie ehedem der – nun verletzte – Name. Das „Urteil“, welches das Zitat darstellt, richtet das Wort indes nicht nach der Maßgabe von ‚gut‘ und ‚böse‘, sondern lässt es in zwei Bestandteile – in Reim und Name – auseinander treten. Reim und Name haben jeweils ihre eigene und einander entgegengesetzte Charakteristik: Im Zitat, das ein Wort beim Namen ‚aufruft‘, wird seine semantische Bedeutung, seine Referenz auf etwas anderes ausgesetzt: Der Name bedeutet nur sich selbst. Die Person – wie auch das Wort – werden durch den ‚Anruf‘ vereinzelt, anders gesprochen: das Wort ist „zerstörend aus dem Zusammenhang“ gebrochen (GS II.1 363). Als Name hat das Wort die größtmögliche Nähe zum Gotteswort. Im Zitat ist es aber nicht nur Name, sondern auch Reim: „Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig im Gefüge eines neuen Textes.“ (Ebd.) Der Reim ist einerseits wörtlich als Gleichklang zweier Worte zu verstehen. Kurz vorher hatte Benjamin die Signifikanz des Reims für Kraus’ Lyrik dargelegt (GS II.1 360). Andererseits – und darauf weist die Doppeldeutigkeit von „ungereimt“ hin – soll das ‚Klingende‘, ‚Stimmige‘ eine bloß sinnliche Ähnlichkeit überschreiten. Benjamin versteht den Reim in diesem Sinne als die „Sprache“ einer „Wiedererkennungsszene“, in der sich zwei Wörter (akustisch) im Reim erkennen.28 Weil der Reim Wörter und ganze Strophen miteinander verbindet, ist er für Benjamin die „Nähe [...], der das Wort nicht entfliehen kann“ (GS II.1 362). Während das Wort als Name gerufen vereinzelt steht, ist es als 28

Diese „Wiedererkennungsszene“ bezieht Benjamin zunächst nur auf die Sprache und ihre Elemente. „Am Reime erkennt“ aber auch „das Kind, daß es auf dem Kamm der Sprache angekommen ist“ (GS II.2 361). Vgl. dazu Kap. II.4.4.

3.4 BAUDELAIRE: KRISE DER AURA UND KRISE DES EROS

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Reim in eine Gruppe eingefügt, in welcher es von den anderen Worten als Ähnliches ‚erkannt‘ wird und die anderen als Ähnliche ‚erkennt‘. Diese Ähnlichkeit der Wörter, so kann man im Hinblick auf den Sprach-Aufsatz vermuten, resultiert aus ihrer „stoffliche[n]“ bzw. „magische[n] Gemeinschaft“ (GS II. 1 147)29 : Der „Reim versammelt in seiner Aura das Ähnliche“ (GS II.1 263, Hervorhebung E.A.). Das Zitat bedeutet somit eine Gleichzeitigkeit, aber kein Gleichgewicht oder einen unmittelbaren Bezug von Nähe und Ferne. Es stellt zugleich eine Vereinzelung des Wortes als unbezogener Name und seine Verbindung mit anderen Wörtern im Reim auf Grundlage ihrer „stofflichen Gemeinschaft“ dar (GS II.1 147).

3.4 Baudelaire: Krise der Aura und Krise des Eros 3.4.1 Aura als ‚Versammlung‘ der Blicke „Es ist beim Sammeln das Entscheidende“, schreibt Benjamin im Passagenwerk, „daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten.“ (GS V.1 271) Nicht von ungefähr erinnert diese Formulierung an Benjamins Konzept des Zitats: Das Wort wird als Name vereinzelt und aus seiner bedeutenden Funktion gelöst; als Reim wiederum tritt es in eine „Beziehung zu seinesgleichen“. Auch im Falle des Zitats verwendet Benjamin den Begriff der ‚Versammlung‘ (vgl. GS II.1 363). Ebenso bedeutet das Sammeln eine Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung: Wenn Benjamin schreibt, „es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen“ (GS V.1 271, Hervorhebung E.A.), so darf man davon ausgehen, dass die anderen Sammel-Gegenstände diesen Kreis vorstellen. Auch hier steht „das Einzelne“ zugleich im Bann der Nähe, den „seinesgleichen“ ausübt. „Sammeln “ ist für Benjamin darum eine „Technik der Nähe“ (GS V.2 644): Es „ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ‚Nähe‘ die bündigste“ (GS V.1 271). Benjamin führt als eine weitere Form solch „praktischen Erinnerns“ in „Über einige Motive bei Baudelaire“ die „Übung “ an, d.h. eine „Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs [...] absetzt“ (GS I.2 644).30 29 30

Vgl. Kap. I.2.2.2. Die industrialisierte Gesellschaft sieht Benjamin als eine „Gesellschaft, in der die Übung schrumpft“ (GS I.2 644): „Der ungelernte Arbeiter ist der durch die Dressur der Maschine am tiefsten Entwürdigte. Seine Arbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet. An ihr hat die Übung ihr Recht verloren.“ (GS I.2 632) Vgl. dazu auch Kap. I.2.4.3.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

Solche Erfahrung, die als gewohnte unbemerkt ist und sich nur im Umgang mit dem Gegenstand zeigt31 , vergleicht Benjamin mit den Bildern der „mémoire involontaire“, deren Bestandteil nur werden kann, „was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein [...] ‚erlebt‘ worden, was dem Subjekt nicht als ‚Erlebnis‘ widerfahren ist“ (GS I.2 613): Der mémoire involontaire, einer Erinnerung, die sich unwillkürlich angesichts eines Geruchs oder auch einer Körperhaltung einstellen kann (vgl. ebd.), entspricht ein spontanes Gelingen, das sich im Umgang mit einem oft gebrauchten Gegenstand einstellt – selbst wenn er viele Jahre nicht genutzt wurde. Offensichtliche Übung ist das, was sich von dieser Erfahrung „am Gegenstand [...] absetzt“ (GS I.2 644). Benjamin nennt nun „Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura“, und folgert: „[S]o entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt“ (ebd.). Bestimmte unbemerkte Vorstellungen werden zwar nicht bewusst, sie können sich jedoch am „Gegenstand einer Anschauung“ ‚absetzen‘. Diese ‚Gruppierung‘ oder ‚Versammlung‘ der Vorstellungen nennt Proust, den Benjamin an dieser Stelle zitiert, einen „zarten Schleier“ (GS I.2 647). Man könnte diese ‚Gruppierung‘ oder ‚Versammlung‘ der Vorstellungen auch mit dem Begriff der Gewohnheit und dem der „nächste Nähe“ (GS V.2 1030) in Verbindung bringen32 , die so Grundlage einer Verschleierung und mithin einer Ferne werden. Benjamin nimmt an, dass dies nicht nur den Einzelnen betrifft, sondern auch bestimmte kollektive Phänomene, wie etwa die Rezeption des Schönen: Das Schöne ist seinem geschichtlichen Dasein nach ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, daß der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. Sie erntet ein, was frühere Geschlechter in ihm bewundert haben. (GS I.2 638f.)

Die Rezeption eines schönen Gegenstandes wird durch die Bewunderung und die Standpunkte, die frühere Betrachter zu ihm eingenommen haben, ‚verstellt‘; auch in diesem Sinne kann der Gegenstand ‚unnahbar‘ sein. Diese ‚Unnahbarkeit‘ bezieht sich nicht auf den Gegenstand an sich, sondern ist im Bezug auf das Kunstwerk als Tradiertes und Tradierbares zu erklären: Mit dem Werk wird auch die Wertschätzung tradiert, bestimmte Tradierungsformen sind Ausdruck eben dieser Wertschätzung. Diese Wertschätzung erlaubt jedoch keinen freien Blick auf das Bild, denn obgleich der Diskurs über den Gegenstand dem Einzelnen unbekannt sein kann, so ist doch kollektiv bewusst, dass es ihn gibt. Wer vor Leonardo da Vincis Mona Lisa oder Vincent van Goghs Sonnenblumen steht, blickt nicht einfach auf einen „schönen Gegen31 32

Vgl. Kap. II.2.2.1. Vgl. Kap. I.2.4.3.

3.4 BAUDELAIRE: KRISE DER AURA UND KRISE DES EROS

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stand“, sondern auf die Mona Lisa oder die Sonnenblumen. „‚Einige, die Geheimnisse lieben, schmeicheln sich, daß den Dingen etwas von den Blicken bleibt, welche jemals auf ihm ruhten‘“, zitiert Benjamin in diesem Sinne Proust, „‚sie sind der Meinung, daß Monumente und Bilder nur unter dem zarten Schleier sich darstellen, den Liebe und Andacht so vieler Bewunderer im Laufe der Jahrhunderte um sie gewoben haben.“ (GS I.2 647) Benjamin glaubt nun, dass dem Ding „von den Blicken [...], welche jemals auf ihm ruhten“ eines bleibt, nämlich „das Vermögen sie [d.s. die Blicke] zu erwidern“. Was Proust im Bild der Liebe zum Kunstwerk beschreibt, erfasst Benjamin im Motiv des Blickes: Dem Blick wohnt die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem sie sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. (GS I.2 646)

Konstitutives Moment dieses Blickes ist die Erwartung einer Erwiderung, darum ist er mit Prousts Motiv der Liebe zu vergleichen. Wird diese Erwartung erwidert, so Benjamin, stellt die Erfahrung der Aura sich ein.33 Dann ist, wie Goethes Vers es ausdrückt, „keine Ferne schwierig“: Es wird das Bild einer Liebe evoziert, die den Anderen auch, wenn er nicht da ist, vergegenwärtigen kann, bzw. ein Blick, der ohne körperliche Nähe doch einen momenthaften Kontakt, d.h. Nähe in der Ferne, herstellen kann. Was Prousts Worte nahelegen, expliziert Benjamin: „Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen.“ (Ebd.) Die Liebe des Bewunderers erwartet als Liebe eine Erwiderung durch das Kunstwerk, dafür ‚belehnt‘ sie den Gegenstand: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ (GS I.2 646f.) Dieses Vermögen, d.h. die Aura, bleibt insoweit Teil des Kunstwerks, als das Schöne immer wieder ein „Appell [ist], zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben“ (GS I.2 638). Je mehr Blicke das Kunstwerk schon bewundert und ‚geliebt‘ haben, desto stärker der Appell, sich dieser Bewunderung anzuschließen, desto geringer aber auch die Aussicht, durch den ‚Schleier‘, den „Schein “, wie Benjamin es nennt, hindurchzudringen und den „identische[n] Gegenstand“ (GS I.2 639) selbst zu erkennen. Die Schwierigkeiten, diese zweite ‚Definition‘ der Aura mit der ersten im Kunstwerk-Aufsatz überein zu bringen, sind evident. Birgit Recki behilft sich, indem sie in Benjamins ‚Definitionen‘ eine grundsätzliche Dopplung in eine „materialistische Kunsttheorie“ auf der einen Seite und eine „Theorie der äs33

Benjamin schreibt ausdrücklich nicht: ‚wo dieser Blick erwidert wird, da fällt ihm die Erfahrung der Aura zu‘, sondern: „wo diese Erwartung erwidert wird“. Meines Wissens ist diese Differenzierung noch nicht kommentiert worden. Vgl. dazu Kap. II.5.2.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

thetischen Erfahrung“ auf der anderen Seite annimmt. 34 Im Kunstwerk-Aufsatz habe Benjamin reduktionistisch auf die Seite der „materialistischen Kunsttheorie“ abgestellt und nur so seine These vom „Verfall der Aura“ (GS I.2 479) aufstellen können.35 In „Über einige Motive bei Baudelaire“ hingegen stehe die „Subjektivität des Kunstwerkes“ 36 im Vordergrund: „Die Aura des Kunstwerkes besteht somit in dem Anschein, es handle sich um ein menschlich (Zurück-)Blickendes – sie ist Erscheinung von Subjektivität. Sie entspringt freilich aus der Leistung des betrachtenden Subjekts“. 37 Schon Hegel hatte in seinen Ästhetikvorlesungen über die Subjektivität des Kunstwerkes geäußert: Von der Kunst sei „zu behaupten, daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt“. 38 Benjamin hat diese Vorstellung Hegels, dass im Schönen der Geist unmittelbar sinnliche Gestalt gewinne, dem „Zeitalter der auratischen Wahrnehmung “ zugeordnet (GS VII.1 368). Benjamin modifiziert dahingegen die Blick-Metapher im Anschluss an Proust, indem erst die ‚Versammlung‘ der Blicke der Bewunderer das Kunstwerk mit dem Vermögen belehnt zurückzublicken. Dies lässt vermuten, dass er eine historische Bestimmung des Schönen einführen wollte, da er hier unter anderem auf die Frage der Tradierung verweist. Man könnte aber im Hinblick auf Reckis These auch noch einmal anders fragen: Wo ist der Schnittpunkt der materiellen Charakterisierung des Kunstwerkes und der je subjektiven Erfahrung? Wie ist eine ‚Materialisierung der Wahrnehmung‘ bzw. eine ‚Subjektivierung der Materie‘ möglich? – Die Antwort muss lauten: Im Blick bzw. der Erwiderung des Blicks. Im Jahr 1940 empfiehlt Benjamin Max Horkheimer ein schmales Bändchen zur Lektüre. Es ist Le Regard von Georges Salles: Il m’a particulièrement frappé de trouver chez lui une déscription de l’aura concordante à celle à laquelle je me suis référé dans le „Baudelaire “. Salles voit dans les objets d’art „les témoins de l’époque qui les a retrouvés, du savant qui les a étudiés, du prince qui les a acquis, enfin des amateurs qui ne cessent de les reclasser. Sur le même objet s’entre-croisent les rayons venus

34 35

36 37 38

Recki: Aura und Autonomie, S. 147. Das auf dieser Seite beginnende Kapitel trägt den Titel: „Materialistische Kunsttheorie und Theorie der ästhetischen Erfahrung: Eine Alternative“. Recki schließt nämlich keinesfalls aus, dass die Erfahrung einer Aura sich nicht ebenso gut angesichts eines reproduzierten Werkes einstellen kann: „Die massenhafte Verbreitung technisch (re)produzierter Bilder muß die auratische Erfahrung in ihrer Eigenart ebenso wenig berühren, wie umgekehrt die singuläre Existenz als solche schon für die Aura des Originalkunstwerkes bürgt.“ Ebd., S. 154. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders.: Werke [in 20 Bänden], auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Bd. 13, Frankfurt a.M. 1999, S. 203.

3.4 BAUDELAIRE: KRISE DER AURA UND KRISE DES EROS

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d’innombrables regards, proches ou lointains, qui lui prêtent leur vie. “ 39 (GS III 705)

Salles glaubt, dass die Kunst etwas über „la ‚naissance d’un type social‘ “ lehrt (ebd.). Diese Vermutung erinnert Benjamin an das dritte Kapitel seines Kunstwerkaufsatzes, wo er konstatiert, dass sich „innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume [...] mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise der Sinneswahrnehmung“ verändert (GS I.2 478). Kunst stellt eine Einübung40 wie Materialisierung dieser sich verändernden Blickweisen dar: Sie ermöglicht ein ‚Sehen des Sehens‘.41 Wenn sich in einem Werk eine bestimmte historische „Art und Weise der Sinneswahrnehmung “ niederschlägt, wie können sich aber dann noch die Blicke der späteren Rezipienten ‚materialisieren‘? Wie können Kunstwerke ‚Zeugen‘ nicht nur des Moments ihrer Entstehung, sondern ihrer Tradierung sein? Hier führt Benjamins Bestimmung des Kunstwerkes als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (GS I.2 479) allein nicht weiter, denn sie sieht das Kunstwerk so isoliert an, wie es Benjamin in der Einbahnstraße formulierte: „Kunstwerke stehen eins dem andern fern durch Vollendung.“ (GS IV.1 107) In „Dreizehn Thesen wider Snobisten“ setzt er das Kunstwerk dem Dokument entgegen, fügt aber hinzu, dass auch das Kunstwerk „nebenbei ein Dokument“ ist, das im „Stofflichen“ mit anderen Dokumenten ‚kommuniziert‘ (ebd.). Der schöne Gegenstand ist somit als Kunstwerk vereinzelt und als Dokument Teil einer „stoffliche[n] Gemeinschaft“ (GS II.1 147). Betrachtet man das Kunstwerk mithin nicht nur als „einmalige Erscheinung“, sondern in einem Kontext, in einer Sammlung, wird seine Gemeinsamkeit mit anderen Gegenständen ausgestellt: Als Dokumente ‚erwidern‘ die Kunstwerke ihre ‚Blicke‘. Der Kontext des Kunstwerks mag zuweilen kontingent sein. Ist das Kunstwerk indessen Gegenstand einer Tradierung, wird jede Sammlung, in die es gerät, eine spezifisch historische sein: Die Blicke, die die Gegenstände untereinander erwidern, spiegeln den Blick des Sammlers, der sie arrangiert hat. Diese Überzeugung teilt Benjamin mit Georges Salles: 39

40 41

Übersetzt und abgedruckt findet sich Benjamins Brief auch in der deutschen Ausgabe – Georges Salles: Der Blick, Berlin 2001, S. 12: „Besonders hat mich frappiert, bei ihm [d.i. bei Salles] eine Beschreibung der Aura zu finden, die mit derjenigen übereinstimmt, auf die ich mich im ‚Baudelaire‘ berufen habe. Salles sieht in den Kunstwerken ‚Zeugen der Epoche, die sie wieder aufgefunden, des Gelehrten, der sie studiert, des Fürsten, der sie erworben hat, und schließlich der Kunstliebhaber, die sie immer neu ordnen. Auf ein und demselben Objekt kreuzen sich die Strahlen unzähliger Blicke, naher und ferner, die ihm ihr Leben mitteilen‘.“ Siehe oben S. I.2.4.3. und II.2.2.1. In diesen Zusammenhang wäre an die von Wolfgang Kemp aufgeworfene Frage anzuknüpfen, in welchem Spannungsverhältnis Benjamins Aura-Konzeption zu Alois Riegls „Kunstwollen“ steht. Eine wesentliche Differenz zwischen Riegl und Benjamin besteht in Benjamins Absicht, nicht nur formale Momente anzuführen, sondern die „gesellschaftlichen Umwälzungen zu zeigen, die in diesen Veränderungen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden“ (GS I.2 479). Vgl. dazu Kemp: Fernbilder, hier: S. 224-228.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

Das Stoffliche wird bei ihm [d.i. Salles] zum eigentlichen Medium der – unvermittelten, spontanen – Kommunikation zwischen den ausgestellten Dingen: das Stoffliche ist ihre spezifische Sprache, das was die Kunst des Sammlers und des Ausstellungsleiters im Auge haben muß.42

Während Salles in seiner Funktion als Konservator und Museumsdirektor die Ausstellung in einem Museum im Blick hat, ist bei Benjamin die Sammlung bzw. Versammlung nicht auf das Kunstwerk, ja nicht einmal auf Dinge beschränkt, bedenkt man sein Zitat-Konzept. Benjamin begreift solche Versammlung zudem als politisch: „Jeder kleinste Akt der politischen Besinnung macht also gewissermaßen im Antiquitätenhandel Epoche. Wir konstruieren hier einen Wecker, der den Kitsch des vorigen Jahrhunderts zur ‚Versammlung(‘) aufstört.“ (GS V.1 271)

3.4.2 Der auratische Blickwechsel und die Erotik blickloser Augen In einer Notiz liest Benjamin Goethes Verse „Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt“ als Blickwechsel von Mann und Geliebter: „Die Ferne [zieht] im Auge der Geliebten [] den Liebenden nach sich“. Goethes Verse beschreiben für Benjamin daher „die Erfahrung der Aura“ (GS V.1 457). Eine ähnliche Erfahrung sieht Benjamin gegeben, wenn Gegenstände mit dem „Vermögen“ belehnt werden, „den Blick aufzuschlagen“: „Wo der Mensch, das Tier oder ein Unbeseeltes, vom Dichter so belehnt, seinen Blick aufschlägt, zieht es diesen in die Ferne.“ (GS I.2 646f.) Dieser ‚auratische‘ Blickwechsel gerät, davon handeln Benjamins Arbeiten über Baudelaire, in eine Krise. Der sogenannte „Verfall der Aura“ (GS I.2 479) setzt ein, wenn im Blick die Erwartung einer Erwiderung nicht mehr erwidert wird: Paradigmatisch für diesen Umstand ist der Fotoapparat, der zwar das Bild des Menschen durch die Linse aufnimmt, aber keinen Blick zurück gibt (vgl. GS I.2 646). Im Motiv solcher Augen, die nichts erwidern, findet Benjamin in Baudelaires Werk eine Chiffre für den „Verfall der Aura“ (GS I.2 479), der vor allem seiner Lyrik eingeschrieben ist. Wie im Falle von Karl Kraus macht Benjamin dies am Verhältnis von Eros und Sexus im Vergleich zu Goethes „Seliger Sehnsucht“ fest. Auch bei Baudelaire habe sich der „Sexus [...] vom Eros losgesagt“ (GS I.2 648), anders als bei Kraus hat er sich aber nicht an den Geist gebunden (und der Eros sich nicht an die Sprache). Die Loslösung des Sexus vom Eros erkennt Benjamin im Falle Baudelaires an einem Ungleichgewicht im Verhältnis von Nähe und Ferne zugunsten der Nähe. Es handelt sich darum, daß die Erwartung, die dem Blick des Menschen entgegendrängt, leer ausgeht. Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sa42

So Jean-Louis Déotte im Vorwort der französischen Ausgabe von 1992, zitiert nach der deutschen Ausgabe: Salles: Der Blick, S.9.

3.4 BAUDELAIRE: KRISE DER AURA UND KRISE DES EROS

71

gen möchte, daß ihnen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist. (GS I.2 648)

Statt durch die ‚Erwartung einer Erwiderung‘ zeichnen sich diese Blicke durch ihre Zerstreutheit, durch eine instinkthafte Fixierung aus: Über die „orientalische Hure“ schreibt Baudelaire: „Elle porte le regard à l’horizon, comme la bête de proie; même égarement, même distraction indolante, et aussi, parfois, même fixité d’attention.“ (GS V.1 359) Diese „yeux fixes“ (GS I.2 649) verfügen über die Fähigkeit zu bannen, wie der Blick des Raubtieres den des Wildes bannen kann. Wer solch ‚blicklose Blicke‘ wirft, gehört „der Familie menschlicher Wesen nicht mehr an“ (GS I.2 649).43 Benjamin liest Baudelaires Faszination für solche „spiegelnde[n] Augen“ als Zeichen der Loslösung des Sexus vom Eros: „Im Banne dieser Augen hat sich der Sexus in Baudelaire vom Eros losgesagt.“ (GS I.2 648) Während Benjamin bei Dante oder Goethe feststellte, dass die „Kräfte der Ferne“ (GS VI 86) dem Mann in der Geliebten nah erscheinen konnten, sieht er Baudelaire sich ganz den „blicklosen Augen“ von „Satyrfrauen und Nixen“ (ebd.) hingeben, die „von Ferne nichts [wissen]“ (GS I.2 648). Indes sieht Benjamin das Gedicht „Correspondances“ als Beleg dafür, dass auch Baudelaire eine auratische Erfahrung, mithin jenen Blick, der ‚in die Ferne zieht‘, noch gekannt hat. Er habe ihn „als regard familier ins Gedicht eingebracht“: „L’homme y passe à travers des forêts de symboles / Qui l’observent avec des regards familiers“. 44 Das Gedicht aus den Fleurs du Mal gilt als einer der Gründungstexte des Symbolismus, von dem ihn Benjamin freilich in seinem Sinne abzugrenzen versucht: Während die Symbolisten „simultane Korrespondenzen“ erzeugen, handelt es sich bei Baudelaire um ‚diachrone Korrespondenzen‘: „Vergangenes murmelt in den Entsprechungen mit“ (GS I.2 640).45 Die Ferne, in die der „regard familier“ zieht, ist die Tiefe der Zeit, wie Benjamin am Beispiel des Gedichts „La vie antérieure“ veranschaulicht, das von der Begegnung mit einem früheren – vorgeschichtlichen – Leben handelt (vgl. GS I.2 639). Benjamin bezieht diese Korrespondenzen darum auf sein Konzept des „Eingedenkens“. 46

43

44 45

46

Umgekehrt sieht Benjamin die Menschheit in dem Moment entstehen, in dem sie erstmals den „Blick aus der Ferne“ erwidert, den die Gestirne darstellen (GS II.3 958, vgl. Kap. II.5.2.1). Baudelaire: Les Fleurs du Mal, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Jaques Crépet, Bd. 5, Paris 1930, S. 17. Benjamin beschreibt zwar die correspondances als „die unendlich vielfachen Anklänge jeden Andenkens an die andern“ (GS I.2 689), ich gehe aber aufgrund der Abgrenzung, die Benjamin für Baudelaire vornimmt, auch davon aus, dass es sich im Falle Benjamins nicht einfach um die symbolistische „Idee der ‚horizontalen Entsprechungen‘ zwischen Düften, Farben und Klängen“ handelt, wie Stefan Bub vermutet. Stefan Bub: Sinnenlust des Beschreibens. Mimetische und allegorische Gestaltung in der Prosa Walter Benjamins, Würzburg 1993, S. 12. Vgl. Kap. II.2.2.1.

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3. EROS UND AURA ALS VERHÄLTNISSE VON NÄHE UND FERNE

Doch auch im Hinblick auf die „Correspondances“ verweist Benjamin erneut auf die von ihm konstatierte Loslösung des Sexus vom Eros, denn er legt besonderen Wert auf das Wort „familier“ und betont, dass Baudelaire keine Familie gegründet habe (GS I.2 649). Das Geschlechterverhältnis ist pervertiert, begründet aber eine besondere Beziehung zu Dingen, wie sich an einem Baudelaire-Gedicht zeigen lässt, das Benjamin in der Einbahnstraße unter dem Titel „Uhren und Goldwaren“ anzitiert. In einem Traum betrachtet Benjamin eine fast lebensgroße Büste einer Frau, nicht unähnlich der Leonardschen Flora im Berliner Museum. Der Mund dieses Goldhauptes ist geöffnet und über die Zähne des Unterkiefers sind Schmucksachen, die zum Teil aus dem Munde heraushängen, in wohlgemessenen Abständen gebreitet. Mir war nicht zweifelhaft, daß das eine Uhr sei. (GS IV.1 118)

Er schließt diesen Text mit einem Zitat aus Baudelaires Fleurs du mal, freilich ohne den Band oder den Gedichttitel „Une Martyre“ zu nennen: „La tête, avec l’amas de sa crinière sombre / Et de ses bijoux précieux, // Sur la table de nuit, comme une renoncule, / Repose.“ 47 (GS IV.1 118f.) Die Verse Baudelaires weisen in mehrerer Hinsicht zurück auf den Traum: Zum einen verstärkt der Vergleich mit einer „renoncule“, einem Hahnenfuß, jene Nähe der Frau zum Vegetabilischen, die bereits der Name „Flora“ ankündigt, zum anderen wird die Exposition der weiblichen Büste mit dem Frauenkopf des BaudelaireGedichtes parallelisiert. Dass dieser Kopf abgeschlagen ist, lässt sich aus den Versen „sur la table de nuit“ allenfalls erahnen. Benjamins Kürzung des Verses, er endet nun auf „repose“, tut ein Übriges, diese Ruhe weniger gewaltsam als verdient erscheinen zu lassen. Die ‚ewige Ruhe‘ ist indes durch das Motiv der Uhr und der Morgenstunde gebrochen, die aufs Erwachen deuten. In Baudelaires „Une Martyre“ erwacht indessen nicht die Frau: Ihre Mortifikation geht einher mit einer Animierung der Dinge, die ihren Blick auf den Betrachter richten: „La jarretière, ainsi qu’un œil secret qui flambe, / Darde un regard diamanté.“ 48 Wenn sich ‚Erwartung einer Erwiderung‘ nicht auf einen Menschen richten kann oder will49 , so richtet sie sich auf die Dinge, die dadurch mit dem „Vermögen“ belehnt werden, jenen Blick zu erwidern (vgl. GS I.2 646). Dieser ‚Blick der Dinge‘ kann auratisch, aber auch traumatisch sein, wie anhand der Ausgestaltung dieses Motivs in der Berliner Kindheit im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wird, in der Benjamin einen vergleichbaren, wenn auch weniger schockierenden Zusammenhang zwischen einer Mortifikation der 47 48 49

Baudelaire: Les Fleurs du Mal, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Jaques Crépet, Bd. 5, Paris 1930, S. 197f. Ebd., S. 198. Der Betrachter der Szene zieht in Zweifel, ob die Liebe überhaupt je der lebendigen Frau gegolten hat („Dis-moi, tête effrayante, a-t-il sur tes dents froides / Collé les suprêmes adieux?“). Ebd., S. 199. An dieser Stelle ließen sich Überlegungen zum Fetischismus anschließen.

3.4 BAUDELAIRE: KRISE DER AURA UND KRISE DES EROS

73

Frauenfiguren und einer Animierung der Dingwelt herstellt. 50 Auch in der Einbahnstraße spielt Benjamin mit ähnlichen Motiven, hier allerdings vor dem Hintergrund seines Essays über den „Sürrealismus“.

50

Vgl. Kap. II.1. und II.2.2.2.

4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

4.1 Benjamins „profane Erleuchtung“ als nüchterner Liebesrausch Benjamin inszeniert in der Einbahnstraße und seiner Berliner Kindheit um neunzehnhundert jeweils seine Beziehung zu einer Geliebten. Da er diese Beziehung in Verhältnissen von Nähe und Ferne darstellt, lassen sich bestimmte Motive mit jenen vergleichen, die Benjamin in den Texten Goethes, Dantes, Kraus’ und Baudelaires untersucht hatte. Es überrascht wenig, dass Benjamin in beiden seiner Bücher ähnliche Verschiebungen im Goethe’schen Gleichgewicht von Nähe und Ferne darstellt, wie er sie am Beispiel von Baudelaires und Kraus’ Lyrik gezeigt hat. Die Einbahnstraße tendiert dabei allerdings in eine merklich andere Richtung als die Berliner Kindheit. Wie bereits im ersten Kapitel erläutert, beschäftigt sich die Einbahnstraße mit der Frage, worauf sich die Autorität einer „literarischen Aktivität“ gründen kann, wenn der Bezug auf tradierte Formen und Inhalte nicht mehr greift. Benjamin attackiert in diesem Sinne das Buch und seine „universale Geste“ (GS IV.1 85), bestimmte Künstlermythen wie das Bild des Autors als ‚Schöpfer‘1 , zugleich persifliert er im Text „Technische Nothilfe“ die Erotik musischer ‚Einhauchungen‘ in der Personifikation der Wahrheit als einer „süßen Odaliske“. 2 Ist aber die Tradition des Musenanrufes (auch und gerade in der Bedeutung wie sie Beatrice für Dante hatte) einmal abgebrochen, wer schenkt dann dem Autor seine Eingebungen? Der Topos der Muse bekommt in der Einbahnstraße eine ganz eigene Wendung. Er ist dort mit Asja Lacis verbunden, die Benjamin, wie er 1924 an Scholem schreibt, zu einer „intensiven Einsicht in die Aktualität eines radikalen Kommunismus“ verhalf (B 351). Wie Beatrice ist mithin auch sie, die „russische Revolutionärin aus Riga“ (ebd.), eine Führerin.3 Ihr hat Benjamin die Einbahnstraße gewidmet. Über die Widmung schreibt Benjamin im 1 2

3

Vgl. Kap. I.2.4.2. In gewisser Hinsicht scheint in „Technische Nothilfe“ die höhere Inspiration ‚profaniert‘ – nicht mehr für die Eingebungen der Musen oder für die Inspiration durch die göttliche Wahrheit gibt sich der „wahre Schriftsteller“ empfänglich, sondern für „Alarmsignale“. Die „süße Odaliske“ mag indessen zwar eine Fremde im Wahrheits-Diskurs sein, die ‚nackte Wahrheit‘ (mithin die Andeutung einer weiblichen Personifikation), auf die Benjamin ersten Satz des Textes anspielt, ist es nicht: „Es gibt nichts Ärmeres als eine Wahrheit, ausgedrückt, wie sie gedacht ward“ (GS IV.1 138). In diesem Sinne kann auch der Text „Erste Hilfe“ (GS IV.1 110) verstanden werden, in dem Benjamin die Einführung in ein ihm bislang unbekanntes „Quartier“ beschreibt.

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4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

im Kraus-Essay, dass sie Ausdruck der „platonischen Liebe“ ist, einer „Liebeserfahrung“, in der die Geliebte sich entfernt: „ihr Leuchten“ zieht sich in den Namen (GS II.1 362). Solche Hochachtung des Namens formuliert Benjamin auch in einigen Aphorismen der Einbahnstraße, zum Beispiel in der Sammlung „Loggia“. 4 Die tatsächliche Widmung hat Benjamin indessen recht prosaisch dem Titel des Buches eingepasst. DIESE STRAßE HEISST

ASJA-LACIS-STRASSE NACH DER DIE SIE

ALS INGENIEUR IM AUTOR DURCHGEBROCHEN HAT.

5

Die Geliebte erscheint nicht mehr als Muse des Künstlers, sie wirkt als „Ingenieur“ im Autor. Diese Tendenz zur Nüchternheit ist ihrem hohen Stellenwert jedoch nicht abträglich: Den ‚Durchbruch‘ könnte Benjamin auf einen der vorläufigen Titel des Buches beziehen, der „Straße gesperrt!“ (GS IV.2 909) lautete, und damit implizieren, dass die Perspektive, auf welche die Einbahnstraße nun zuläuft, Asja Lacis zu verdanken sei. Eine scheinbar marxistisch beeinflusste Perspektive eröffnet vor allem der letzte der Text der Einbahnstraße: „Zum Planetarium“. 6 Der Name Asja Lacis fällt ausschließlich in der Widmung. So wie ihr Name ansonsten im Buch ungenannt bleibt, tritt sie auch als Person nicht in Erscheinung. In „Waffen und Munition “ heißt es: Ich war in Riga, um eine Freundin zu besuchen, angekommen. Kein Mensch erwartete mich, es kannte mich niemand. Ich ging zwei Stunden einsam durch die Straßen. So habe ich sie nie wieder gesehen. Aus jedem Haustor schlug eine Stichflamme, jeder Eckstein stob Funken und jede Tram kam wie die Feuerwehr dahergefahren. (GS IV.1 110)

Das „Leuchten“ der Geliebten, ihr ‚Blinken‘ ist hier zu einem explosiven Blitzen geworden. Es ist jedoch nicht „in den Namen“, sondern ‚in die Dinge gezogen‘ (GS II.1 362). Die Erwartung, ihren Blick zu treffen, erzeugt maximale Spannung: Sie konnte ja aus dem Tore treten, um die Ecke biegen oder in der Tram sitzen. Von beiden aber mußte ich, um jeden Preis, der erste werden, der den an4 5

6

„Geranie. Zwei Menschen, die sich lieben, hängen über alles an ihren Namen.“ (GS IV.1 119) Die Widmung in der Typographie der Erstausgabe. Vgl. Walter Benjamin: Einbahnstraße. Faksimile der Erstausgabe von 1928, Berlin 1983, S. 5. In der Ausgabe der Gesammelten Schriften wirkt die Widmung aufgrund der Anordnung sowie der Schriftgröße anders auf den Leser – sowohl der Name als auch die Bezeichnung „Ingenieur“ sind dort zurückgenommen (vgl. GS IV.1 83). Vgl. Kap. I.5.

4.1 BENJAMINS „PROFANE ERLEUCHTUNG“ ALS NÜCHTERNER LIEBESRAUSCH

77

deren sieht. Denn hätte sie die Lunte ihres Blickes an mich gelegt, ich hätte wie ein Munitionslager auffliegen müssen. (GS IV.1 110)

Die beiden begegnen sich nicht, weder in diesem Text noch in einem anderen. Solche Entfernung der Geliebten ist wesentliches Moment einer Erfahrung, die Benjamin in einem anderem Kontext präzise zu fassen versuchte: „Er ist mehr den Dingen nahe, denen [sie] nahe ist, als ihr selbst“ (GS II.1 299), schreibt er im Essay „Der Sürrealismus“ über denjenigen, der „mit der Liebe Ernst“ macht (GS II.1 298). Sie werde dann zur Quelle einer „profanen Erleuchtung“ (GS II.1 298). Die Surrealisten, allen voran Breton mit seiner Nadja, hätten sich, im Stile der „provençalische[n] Minne“, eine „mystische Geliebte“ gesucht (GS II.1 299). „[I]hnen allen schenkt oder versagt Amore Gaben, die mehr einer Erleuchtung als einem sinnlichen Genuß gleichen“, zitiert Benjamin aus Auerbachs Dante-Buch.7 Benjamin hatte am Beispiel Dantes dargestellt, wie die Entfernung der Geliebten in eine Annäherung des Entfernten umschlägt8 , doch richtet sich die hier beschriebene „Fernenneigung“ (GS IV.1 368), weil sie keine träumerische Kontemplation sein will, sondern nach „revolutionäre[n] Energien“ in den Dingen sucht (GS II.1 299), nicht auf die unerreichbaren Sterne, sondern auf das „Veraltete[]“, auf die Dinge, die „anfangen auszusterben“ (ebd.). Auch im Falle Baudelaires, der „dem Unvordenklichen, das sich ihm entzog, in der Gestalt des Altmodischen“ huldigte (GS II.1 640), hat Benjamin eine ähnliche Verschiebung beobachtet. „Profane Erleuchtung“ bedeutet in diesem Sinne – anders als die sakrale – eine „materialistische, anthropologische Inspiration “ (GS II.1 297). Die Surrealisten sind aus Sicht Benjamins ein erstes Stück auf diesem Weg gegangen, indem sie „die gewaltigen Kräfte der ‚Stimmung‘ zur Explosion [bringen], die in diesen [d.i. den veralteten] Dingen verborgen sind “ (GS II.1 300). Das Adjektiv „profan“ dient Benjamin jedoch nicht nur zur Abgrenzung dieser Erfahrungen von religiösen Eingebungen, er setzt es auch zur Erdung der surrealistischen Erlebnisse ein. Wirft man einen Blick auf die Erfahrungen, die laut Benjamin Weg zu dieser „profanen Erleuchtung“ sein können, wird deutlich, dass ihre ‚Profanität‘ auch in ihrer Alltäglichkeit besteht: „Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. Und sind profanere.“ (GS II.1 308). Ein scheinbar banaler Zustand schließt die Aufzählung der ‚profan Erleuchteten‘ ab: „Ganz zu schweigen von jener fürchterlichsten Droge – uns selber –, die wir in der Einsamkeit zu uns nehmen.“ (GS II.1 308) Benjamin distanziert sich damit vom Surrealismus, dem er die Verstrickung in einige „sehr verhängnisvolle[] romantische Vorurteile“ unterstellt: Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wieder finden, kraft 7 8

Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 76. Vgl. Kap. I.3.2.

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4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt. (GS II.1 307)

Es gibt nicht wenige Publikationen, die sich mit Benjamins Verhältnis zur surrealistischen Bewegung beschäftigen.9 Seine Begeisterung für bestimmte Texte ist belegt. Man kann sie jedoch nicht als ungetrübt bezeichnen, wie Benjamin es am Beispiel seiner Lektüreerfahrung des Le paysan de Paris selbst erklärt (vgl. B 663). Eine entscheidende Differenz formuliert Benjamin im Passagenwerk, wenn er bemerkt, dass „Aragon im Traumbereiche beharrt“, während er selbst „die Konstellation des Erwachens“ zu finden hofft (GS V.1 571). In der Einbahnstraße ist nun weder die Nähe noch die Distanz zum Surrealismus so explizit. Als eine implizite Erwiderung auf die surrealistische Haltung zum Traum kann indessen der Text „Frühstücksstube“ gelesen werden. In „Frühstücksstube“ verhandelt Benjamin die Grenze von „Nacht- und Tagwelt“: „Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen.“ (GS IV.1 85) Das „Jenseits“ des Traumes kann nur „durch den Magen erreicht werden“. Nüchtern verbleibt der „Erwachte [...] noch im Bannkreis des Traumes“, weil er die Träume nicht „aus überlegener Erinnerung“ ansprechen kann (GS IV.1 86). Der Bericht gibt den Träumenden preis, spricht doch der Nüchterne „vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf“ (ebd.). Die „Volksüberlieferung“ wird so – allerdings mit einer Wendung – bestätigt. Die Warnung, Träume nicht zu erzählen, verkehrt sich in den Hinweis, dass hier etwas verraten werden kann. Denn das nüchtern Ausgesprochene ist in diesem Fall nicht das kühl Überlegte, im Gegenteil – das Verhältnis ist umgeschlagen: Allein der (körperlich) Nüchterne erhält die Botschaften des Traumes. Wenn Cohen über Benjamin schreibt, „he examines his dreams by the natural light that traditional epistemology associates with critical reason“ 10 , greift sie damit offensichtlich zu kurz: Im Begriff der ‚Nüchternheit‘ klingt zwar eine Unaufgeregtheit des Geistes an, die Doppeldeutigkeit des Wortes verweist jedoch auf eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Traum bzw. Rausch und Nüchternheit. 11

9

10 11

Bloch war wohl der Erste, der in der Einbahnstraße einen „Typ surrealistischer Denkart“ entdeckte. Bloch: Revueform in der Philosophie, S. 368. Zu den einschlägigen Monographien, die diesen Gedanken verfolgen, gehören u.a. Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis; Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens, Frankfurt a.M. 1993, Margaret Cohen: Profane Illumination. Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution, Berkeley, Los Angeles, London 1993. Ebd., S. 177. Vgl. Kap. I.5.4.

4.2 TECHNIKEN DES VER- UND ENTSTELLENS

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4.2 Techniken des Ver- und Entstellens 4.2.1 Entstellung bei Sigmund Freud und als Textverfahren Im Surrealismus-Essay erklärt Benjamin, dass die „profane Erleuchtung“ auf einen „Bildraum“ verweise, der als Ereignis indes sehr viel weniger kontemplativ ist, als es die „Typen“ der ‚profan Erleuchteten‘, die Benjamin beschrieben hatte (der Träumer, der Leser, der Einsame), erwarten lassen. Dieser „Bildraum“ solle, fordert Benjamin, „im Raum des politischen Handelns“ entdeckt werden (GS II.1 309); gleichwohl charakterisiert er ihn über die Kategorie der Nähe, die zunächst keine politischen Implikationen aufweist: „[Ü]berall, wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht“, tut „dieser gesuchte Bildraum sich auf, die Welt allseitiger und integraler Aktualität“ (ebd.). Eine Interpretation des „Bildraumes“ legt Sigrid Weigel in ihrem Band Entstellte Ähnlichkeit vor. Sie stellt dabei vor allem auf die Seite eines wahrnehmenden Subjektes ab: Der Bildraum sei eine „von ihm [d.i. dem Subjekt] imaginierte[] Szene“, an der es auch aktiv teilhaben kann.12 Am oben zitierten Passus fällt aber vor allem auf, dass es kein menschliches Subjekt gibt: nur ein Handeln, einen Raum und eine räumliche Relation – die Nähe. Den Beispielen, die Benjamin für das ‚Auftun‘ dieses „Bildraumes“ nennt, ist in der Forschung bislang wenig Beachtung geschenkt worden13 : Es sind der Witz, die Beschimpfung und das Missverständnis (vgl. ebd.). Diese Aufzählung ließe sich um den Traum und Rausch erweitern, wenn man die „profane Erleuchtung“ einbezieht, von der Benjamin sagt, sie ‚mache im Bildraum heimisch‘ (vgl. GS II.1 310). Die Ähnlichkeiten dieser Phänomene (sowie einiger neurotischer Zustände) hat Sigmund Freud in diversen Arbeiten immer wieder betont, weil sie alle in einer vergleichbaren Weise mit Wörtern verfahren. Freud hat vor allem die Gemeinsamkeiten von „Traumarbeit“ und

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Weigel: Entstellte Ähnlichkeit, S. 119. Ein Hinweis auf ähnliche Effekte findet sich, allerdings nicht auf den „Bildraum“, sondern auf den Rausch bezogen, bei Greffrath: „Im Rausch wird, wie im Traum und bei bestimmten Versuchsanordnungen der Surrealisten, die Gleichberechtigung von Dingen und Worten eingeführt. Die Aufhebung der Differenz zwischen Worten und Dingen, die Aufkündigung der untergeordneten Bedeutungsfunktion bewirken, daß die Wörter eigene, unter normalen Umständen nicht wahrgenommene Qualitäten annehmen, sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Aufgrund der gelockerten Bindung an bestimmte Bedeutungen treten Nebenbedeutungen oder neue Bedeutungen gleichberechtigt hervor. Es verselbständigen sich Silben und Buchstaben; Variationen von Lauten und Wortspiele führen zu neuen Vorstellungen; die Worte werfen sich zu Führern in unbekanntes Gelände auf und bleiben nicht länger die gehorsamen Mittler eines zweckmäßigen Gedankens.“ Krista R. Greffrath: Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins, München 1981, S. 133.

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4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

„Witzarbeit“ herausgestellt14 , Bezüge ergeben sich aber auch zum Phänomen des „Versprechens“, wie er es in der Psychopathologie des Alltagslebens beschreibt. In allen Fällen weist Freud „Umstellungen, Entstellungen, Verschmelzungen“ 15 auf verschiedenen Ebenen nach und erklärt in seiner Traumdeutung die Verfahren der Verdichtung und Verschiebung16 , die zur „Traumentstellung “ führen.17 Ein Vorzug des Begriffs ‚Entstellung‘ liegt darin, dass er vornehmlich in Bezug auf (menschliche) Körper verwendet wird. Die ‚Entstellung‘ solcher Körper besteht in der Verschiebung von Relationen und Grenzen und impliziert so zugleich die räumliche Konnotation des Begriffs. Der Begriff hat jedoch darüber hinaus eine negative Konnotation und ist nicht differenziert genug, um im Einzelfall die Veränderungen der Wörter zu beschreiben. Freud selbst spricht sowohl in Bezug auf den Traum als auch auf den Witz von der „Zerlegung und Zusammensetzung der Silben“, von einer „wahre[n] Silbenchemie“ 18 , die am witzigsten und pointiertesten erscheint, wenn ihr mit „dem nämlichen Material“ 19 unter „geringfügigste[n] Modifikationen“ 20 ein plötzlicher Wechsel der Bezüge gelingt. Da es gemeinsame sprachliche Verfahren von Traum, Rausch, Witz und Missverständnis gibt, können in Texten ähnliche Effekte produziert werden. Der Witz (oder der ‚witzige‘ Traum) interessieren im vorliegenden Kontext besonders, da ihnen ein Moment des Umschlags 14

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Sowohl in seiner Traumdeutung (vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Über den Traum, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 2. und 3. Bd., hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, S. 303f.) als auch in seinem Band über den Witz (vgl. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 6. Bd., hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, S. 95f.) hat Freud auf diese Gemeinsamkeiten hingewiesen. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 4. Bd., hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, S. 62. Für Freud resultieren die Ähnlichkeiten dieser Phänomene aus ihrer Beziehung zum Unbewussten. Ich verzichte im vorliegenden Zusammenhang vollständig auf die Frage nach einer solchen Beziehung, weil es mir um die sprachlichen Verfahren geht. Vgl. dazu das Kapitel über „Die Verdichtungsarbeit“ in Freud: Die Traumdeutung, S. 284310, und das Kapitel über „Die Verschiebungsarbeit“, ebd., S. 310-315. Vgl. zu Benjamins Freud-Bezug Jutta Wiegmann: Psychoanalytische Geschichtstheorie. Eine Studie zur Freud-Rezeption Walter Benjamins, Bonn 1989. Die Momente der Verdichtung und Verschiebung hat Wiegmann sehr allgemein an Benjamins Passagenwerk als die „Verschmelzung des Neuen mit dem Alten“ und die „Verdichtung“ von „Außen und Innen zu einer Einheit“ aufgezeigt (Ebd., S. 62). Neben einer sehr befremdlichen Lektüre des ErzählerAufsatzes fällt an Wiegmanns Buch vor allem eine simplifizierende Kulturkritik auf. Freud erklärt die „Traumentstellung“ durch zwei widerstrebende „psychische Mächte“, von denen die eine „den durch den Traum zum Ausdruck gebrachten Wunsch bildet“, während die andere den Wunsch zensiert und „eine Entstellung seiner Äußerung erzwingt“. Freud: Die Traumdeutung, S. 149. Kurz: „Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches.“ Ebd., S. 166. Sigrid Weigel hat sich mit dem Begriff der „Entstellung“ bei Benjamin befasst: Vgl. Weigel: Entstellte Ähnlichkeit, S. 9ff. Freud: Die Traumdeutung, S. 303. Freud: Der Witz, S. 43. Ebd., S. 24.

4.2 TECHNIKEN DES VER- UND ENTSTELLENS

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inhärent ist: „[J]äh [wird] das Vertraute umbeleuchte[t]“, sagt Adorno in diesem Sinne über die Einbahnstraße.21

4.2.2 Witz und Reim: Sprachmagie und Performativität Die von Freud verwendete Metapher der „Silbenchemie“ erinnert an einige Bemerkungen der Romantiker, die Benjamin in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik anführt: Zum Witz als Vermögen, dem ingenium, merken sie an, er sei eine „logische Chemie“, „eine logische Geselligkeit“ oder ein „chemischer [...] Geist“ (zitiert nach Benjamin GS I.1 49). Das ingenium bzw. der esprit vermag, was der Witz in Szene setzt: Er ist es, der „die Dinge und die Worte, ohne sie vorderhand zu verändern, neu ordnet und so entdeckt, was keiner (jedenfalls nicht: alle Welt) zuvor gesehen hat und was dennoch einleuchtet“. 22 Auch Freud hatte als wesentliche Relation „die Relation der Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Berührung, das ‚Gleichwie‘“ bestimmt. 23 Mit Benjamin könnte man sagen, sie gehören in die Kategorie der Nähe. Damit gibt es Gemeinsamkeiten von Reim und Witz, über deren „organisierende Funktion “ (GS II.2 696) im Satz sich Benjamin im Rahmen des Kraus-Essays Gedanken machte.24 Gerade im KrausEssay stellt Benjamin aber auch die Ambivalenz des Witzes heraus: Die von ihm beschriebene Trennung von Eros und Sexus wie die von Sprache und Geist resultiert in einem „bloße[n] Geist“ und einer „bloße[n] Sexualität “ (GS II.1 352)25 , denen „Zweideutigkeit“ gemeinsam ist (GS II.1 350). Solche „Zweideutigkeit“ ist ein Fall des „Doppelsinns“, wie Freud ihn, natürlich ebenfalls im Sinne einer sexuellen Konnotation, bestimmt. 26 Bei Benjamin steht diese „Zweideutigkeit“ zudem im Kontext seiner Überlegungen zu Recht und Gerechtigkeit. Kraus’ Witz „bezeichnet“ für Benjamin „den Übergang der Exekutive an die Sprache“ (GS II.3 1099); er versteht ihn darum im Sinne der Romantiker als „magisch“ (ebd.). Die ‚Magie des Witzes‘ korrespondiert in diesem Fall mit der ‚Magie des richtenden Wortes‘, dem „die Erkenntnis von gut und böse unmittelbar“ ist und die Benjamin in seinem Sprachaufsatz beschreibt (GS II.1 153). Diese Verbindung von Witz und Urteil stellt Benjamin auch in der Einbahnstraße her: „Wer ihm [d.i. Kraus] in den Arm läuft, ist schon gerichtet: sein Name selber wird in diesem 21 22

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Adorno: Benjamins Einbahnstraße, S. 681. So Ekkehard Knörer in seinem Buch Entfernte Ähnlichkeit, das in seinem Titel offensichtlich an Benjamin erinnert. Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeit. Zur Geschichte von Witz und ingenium, München, Paderborn 2007, S. 92. Freud: Die Traumdeutung, S. 324. In einer allerdings wieder verworfenen Notiz heißt es: „Der Witz legt syntaktische Verhältnisse ins Wort; der Reim stellt die Syntax unter die Hoheit des Wortes.“ (GS II.3 1100) Vgl. Kap. I.3.3. Freud: Der Witz, S. 41f.

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4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

Mund zum Urteil. Wenn er ihn aufreißt, schlägt die farblose Flamme des Witzes ihm über die Lippen.“ (GS IV.1 121) Die Magie der Sprache (wie auch die „Magie der Materie“, GS II.1 147) beruht auf „Unmittelbarkeit“ (GS II.1 142). Diese „Unmittelbarkeit“ besteht darin, dass die Sprache (vor dem Sündenfall) unvermittelt ist, d.h. es findet sich keine Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem, denn die Sprache „teilt sich in sich selbst mit“: Sie ist „Medium“ (ebd.).27 Die „Magie des Urteils“ besteht ebenfalls in ihrer „Unmittelbarkeit“, aber das Urteil ist „von außen gleichsam magisch“ (GS II.1 153, Hervorhebung E.A.), weil ‚gut‘ und ‚böse‘ „namenlos außerhalb der Namensprache“ stehen (GS II.1 154). Vor allem aber ist das Urteil nicht nur „richtendes Wort“, sondern als Mittel einer Vollstreckung auch ein auf jemanden ‚gerichtetes Wort‘. Eine „Unmittelbarkeit“ der Sprache, wie man sie von Äußerungen her kennt, die Handlungen vollziehen, also von performativen oder deklarativen Sprechakten, hat Anteil an einem solchen Konzept. Ihre Autorität ist die eines hic et nunc der Sprache, ihrer unmittelbaren Wirksamkeit, die jemanden direkt betrifft. Nach solcher „Unmittelbarkeit“ gilt es daher zu fragen, wenn man das ‚Auftun des Bildraumes‘ durch Witz, Missverständnis und Beschimpfung bedenkt. Allerdings deutet die ‚Magie der Sprache‘ darüber hinaus „auf ihre Unendlichkeit“, die durch diese Unmittelbarkeit bedingt ist (GS II.1 143). Wenn Benjamin den „Bildraum“ als „die Welt allseitiger und integraler Aktualität“ bezeichnet, dürfte solche Unmittelbarkeit und Unendlichkeit anklingen (GS II.1 309). Das Konzept des „Bildraumes“ zielt daher selbstverständlich auf mehr als auf die Unmittelbarkeit eines performativen Sprechaktes.28 Es erschöpft sich nicht darin, Modell für konkrete Referenzen und Korrespondenzen in einem Text wie etwa der Einbahnstraße zu sein. Dennoch spielen Benjamins Texte mit solchen Referenzen und Korrespondenzen, d.h. mit Ähnlichkeiten auf der Ebene des Zeichens als des „Fonds“ für Ähnlichkeiten (GS VII.2 796).

4.2.3 „Bildraum“ und „Leibraum“ Auch die Sätze, in denen Benjamin den „Bildraum“ im „Sürrealismus“Essay beschreibt, zeichnen sich durch gewisse performative Elemente aus: Vor allem der Satz „wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht“ (GS II.1 309), weist einige Eigentümlichkeiten auf. Die zitierte Passage erklärt 27 28

Vgl. auch Kap. I.3.3. Problematisch ist dabei auch die Frage der Setzung. Werner Hamacher entwickelt im Hinblick darauf das Konzept eines „afformativen Ereignisses“ im Gegensatz zu performativen Sprachakten. Darstellung bleibe allerdings, so Hamacher, auf Setzung angewiesen; ‚Entsetzung‘ sei keiner Darstellung zugänglich. Vgl. dazu Hamacher: „Afformativ, Streik“, in: Was heisst „Darstellung“?, hg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M. 1994, S. 340375, hier v.a.: S. 359ff.

4.2 TECHNIKEN DES VER- UND ENTSTELLENS

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nicht nur, dass sich im „Bildraum“ etwas „herausstellt“, sie tritt selbst im Text hervor, weil ihr Rhythmus sie von der umgebenden Prosa abhebt. Wider die Gesetze der Prosa findet sich ein Reim – „ist“ reimt sich auf „frißt“; der Gleichklang erzeugt eine Zäsur, als handele es sich um das Ende einer Verszeile. Diesen Eindruck unterstützt die Wiederholung des „wo“, das als Anapher ein erneutes Anheben im Satz markiert. Solche Verstöße gegen die Regeln der Prosa ‚verstellen‘ den Satz: Die Wortstellung verändert sich zwar nicht, aber die Relationen der Satzglieder untereinander – andere Bezüge treten hervor. Mittel zu solcher ‚Verstellung‘ ist in diesem Fall der Reim, den Benjamin als „Nähe“ bezeichnet hat, „der das Wort nicht entfliehen kann“ (GS II.1 362). Der vorliegende Reim betont, dass dieses „Handeln [...] ein Bild ist“. 29 Das bedeutet eine Absage an Metapher und Vergleich (vgl. GS II.1 308f.), die auf ein Anderes verweisen, mittelbar sind, und stellt somit eine Forderung nach jener oben beschriebenen exekutiven Unmittelbarkeit dar. Die merkwürdige Formulierung „wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht“ bekommt im Hinblick auf den Reim, der zwischen zwei eigentlich bezugslosen Gliedern Nähe einstellt und den Benjamin darum als eine „Erkennungsszene“ bezeichnet (GS II.1 360)30 , einen anderen Sinn. In Anbetracht der ‚Magie der Sprache‘ bzw. ihrer „stofflichen Gemeinschaft“ (GS II.1 147), d.h. ihrer Unmittelbarkeit und Unendlichkeit, wäre jene Nähe dort, „wo die Nähe sich aus den Augen sieht“ (GS II.1 309), als absolut gedacht und die „Erkennung“ vollendet und zugleich aufgehoben, denn der Blick durch das eigene Auge wäre zugleich der Blick durch das Auge des Anderen: ihn erkennen, hieße sich selbst erkennen. Zugleich evoziert die Wendung ‚Sich selbst aus den Augen sehen‘ eine Form der Selbstreflexivität: Dieses ‚Sehen des Sehens‘ ist komplementär zu jenem ‚Zeigen des Zeigens‘ in der Montage, das eine „Intention auf die nächste Nähe“ darstellt (GS V.2 1030). 31 Auch der „Bildraum“ ist eine „Technik der Nähe“ (GS V.2 644), mit deren Hilfe etwas unmittelbar ‚herausgestellt‘ werden soll. Während Benjamin den Reim im Kraus-Essay als Aufstieg der „Sprache aus der kreatürlichen Welt“ versteht (GS II.1 362)32 , steigt der SurrealismusEssay im Reim in die Bildlichkeit der „kreatürlichen Welt“ hinab – „ist“ reimt sich auf „frißt“. Diese Schärfe des Tones setzt sich im Verlauf des Passus fort: Der „Bildraum“, heißt es weiter, ist der Raum mit einem Wort, in welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder 29

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Auch Weigel betont, dass Benjamin „eine buchstäbliche, nicht mehr allegorische Form der Verkörperung“ sucht und dass schließlich der „menschliche Körper zur Bildmaterie“ werden soll. Sigrid Weigel: Passagen und Spuren des ‚Leib- und Bildraums‘ in Benjamins Schriften, in: Leib- und Bildraum. Lektüren nach Walter Benjamin, hg. v. Sigrid Weigel, Köln 1992, S. 49-64, hier: S. 55. Vgl. Kap. I.3.3 und Kap. II.4.4. Vgl. Kap. I.2.3 und I.2.4. Vgl. Kap. I.3.3.

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4. DER „BILDRAUM“ DER SCHRIFT

was wir ihnen sonst vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerechtigkeit, so daß kein Glied ihm unzerrissen bleibt, miteinander teilen. (GS II.1 309, Hervorhebungen E.A.)

„[D]aß kein Glied ihm unzerrissen“ bleibe, ist schließlich die Forderung danach, jene ‚Verstellungen‘ und ‚Entstellungen‘ nicht auf die Sprache zu begrenzen, sondern sie auf den menschlichen Leib zu übertragen. Den „Bildraum“ zum „Leibraum“ (ebd.) werden zu lassen, ist ein Ziel des „anthropologischen Materialismus“, den Benjamin im Surrealismus-Essay skizziert: Die Destruktion soll im Leib ein neues Verhältnis der einzelnen Glieder her(aus)stellen. Diese Vision betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern die Menschheit als Ganze, wie der letzte Text der Einbahnstraße, „Zum Planetarium“, vorführt, in dem es um einen ‚kollektiven Leib‘ der Menschheit geht, dessen Organisation zur Disposition steht. In dieser Vision treffen sich schließlich die Einbahnstraße und der Essay über den „Sürrealismus“.

5. U TOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANE TARIUM“

5.1 Kampf um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg „Es steckt eine Schönheit darin, die wir schon zu ahnen imstande sind, in diesen Schlachten zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft, in denen der heiße Wille des Blutes sich bändigt und ausdrückt durch die Beherrschung von technischen Wunderwerken der Macht.“ 1 Mit diesen Worten schildert Ernst Jünger sein „inneres Erlebnis“ des Ersten Weltkriegs. Es war der erste Krieg, in dem sich Völker aller Kontinente bekämpften, in dem der Mensch die althergebrachten Schlachtfelder erweiterte, um in allen Bereichen der Natur den Kampf zu eröffnen. Auch Benjamin beschreibt diesen Krieg – und er beschreibt ihn ‚schöner‘ als Ernst Jünger: Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde. (GS IV.1 147)

Benjamin verfremdet die technisierte „Materialschlacht“, indem er die Schützengräben als „Opferschächte“ bezeichnet. Er stellt damit heraus, dass der Mensch zwar dank neuester Technik nun jene Gefilde für den Kampf erobert, wo einst rachsüchtige und blutrünstige Götter wohnten, und er so „Himmel“ und „Meerestiefen“ ‚entzaubert‘, im gleichen Zuge aber eines der altertümlichsten Rituale: das Opfer, vollzieht, als versuche er noch immer mit solch magischen Mitteln in eine gewaltige und unbeherrschte Natur einzugreifen. „Zum Planetarium“, der letzte Text der Einbahnstraße, wird in der Forschung mit einer gewissen Vorsicht behandelt. 2 Die merkwürdige Nähe zum 1 2

Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 103. So meint etwa Irving Wohlfarth, „Zum Planetarium“ „operates in intricate ‘border territory’ [...]. It charts its way through difficult, exposed terrain where opposing discourses overlap and its worst enemy is never more than one false step away.“ Irving Wohlfarth: Walter Benjamin and the Idea of a Technological Eros. A tentative reading of ‘Zum Planetarium’, in: Benjamin Studien 1. Perception and Experience in Modernity, hg. v. Helga Geyer-Ryan, Paul Koopman, Klaas Yntema, Amsterdam, New York 2002, S. 65-109, hier: S. 69. Die Schwierigkeit jeder Interpretation liegt darin, entweder nachweisen zu müssen, dass Benjamin diesen ‚falschen Schritt‘ gemacht hat, oder zu zeigen, dass er ihn vermeiden konnte.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

frühen Ernst Jünger sowie zum Kosmiker Ludwig Klages ist dafür sicherlich ein Grund. Auch hier – im Text – findet ein Kampf statt. Ein Kampf um Begriffe und Motive, die Benjamin jenen „entführen“ (GS VI 418) will, die es auf deren faschistische oder konservative Restitution abgesehen haben. Wie Jünger verquickt auch Benjamin den modernen technisierten Krieg mit archaischen Momenten, verschränkt anthropologische Aussagen und (vermeintlich) historische Analysen.3 Um den Ersten Weltkrieg anthropologisch wie geschichtsphilosophisch zu erklären, konstruiert Benjamin ein den Menschen der Antike selbstverständliches, gemeinschaftliches Ereignis – „eine kosmische Erfahrung“, die er als Rausch bezeichnet. Diese gemeinschaftliche Erfahrung sei den „neueren Menschen“ seit dem Zeitalter von „Kepler, Kopernikus, Tycho de Brahe“, die das „ausschließliche[] Betonen einer rein optischen Verbundenheit mit dem Weltall“ einleiteten, nicht mehr zugänglich (GS IV.1 146). Zuvor waren Mikro- und Makrokosmos verbunden und der Mensch stand mit dem Kosmos wie durch eine ‚Weltseele‘ in Beziehung. Benjamin warnt in „Zum Planetarium“: Es ist die drohende Verwirrung der Neueren, diese Erfahrung für belanglos, für abwendbar zu halten und sie dem Einzelnen in schönen Sternennächten anheimzustellen. Nein, sie wird je und je von neuem fällig, und dann entgehen Völker und Geschlechter ihr so wenig, wie es am letzten Krieg aufs fürchterlichste sich bekundet hat. (GS IV.1 146)

Diese Erfahrung kann, im Gegensatz zu Jüngers „Erlebnis“, kollektiv versäumt werden. Nach Jünger hat der Einzelne die Möglichkeit, sich als Teil des ewig voranwälzenden Lebens zu erkennen (und mit dem Prinzip des Lebens auch die Vernichtung zu bejahen), um so aus einem „äußeren“ sein „inneres Erlebnis“ zu gewinnen.4 Bei Benjamin hängt das Scheitern der „Erfahrung“ nicht vom Einzelnen ab: Es hat historische Ursachen. Da der ‚Klassenfeind‘ die Technik in den Händen hält, scheitert der Versuch, jenen 3

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Jüngers anthropologische Grundlegung hat als dünnen Firnis eine geschichtsphilosophische Erklärung: „Hier fließt es vorbei, das Leben selbst, die große Spannung, der Wille zum Kampf und zur Macht in den Formen unserer Zeit, in unserer eigenen Form.“ Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 103. Anklänge an Hegel und Nietzsche werden an anderen Stellen noch deutlicher. Dazu Helmuth Kiesel: „Geschichtsphilosophisch deutet Jünger den Krieg mit einer hegelianischen Vorstellung als Werkzeug des ‚Weltgeist[es]‘ und im Anschluß an Nietzsche als Transformation einer vernunftbestimmten in eine triebbestimmte Kultur“. Kiesel stellt aber auch fest, dass Jünger letztendlich ahistorisch denkt: „Das ist die Übertragung des L’art pour l’art auf die Geschichte – und mithin auch das Ende einer teleologischen Geschichtsphilosophie: Schlachten um der Schlachten willen.“ Kiesel: Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 233f. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 103: „Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor. Sich in ihre erhabene Zwecklosigkeit zu versenken wie in ein Kunstwerk oder wie in den gestirnten Himmel, das ist nur wenigen vergönnt. Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt.“

5.1 KAMPF UM DIE DEUTUNGSHOHEIT ÜBER DEN ERSTEN WELTKRIEG

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„Kontakt mit dem Kosmos“ (wieder) herzustellen: „Weil [...] die Profitgier der herrschenden Klassen an ihr ihren Willen zu büßen gedachte, hat die Technik die Menschheit verraten und das Brautlager in ein Blutmeer verwandelt“ (GS IV.1 147). Wie einige ‚klassenkämpferische‘ Vokabeln vermuten lassen, stellt „Zum Planetarium“ nicht nur einen Kampf mit bestimmten ‚rechten‘ Denkern dar, sondern auch eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Die Einbahnstraße darum als Dokument einer „Wende“ 5 Benjamins „zum Marxismus“ zu lesen, ist gleichwohl übertrieben, denn Benjamin macht sich – wie im Falle der ‚rechten Denker‘ – bestimmte Gedanken und Motive zu eigen. Eine Verquickung Benjamin’scher Motive mit einem marxistischen Vokabular führen die letzten Sätze von „Zum Planetarium“ über den „neuen Leib“ vor: In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl das dem Glück des Epileptikers gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung. (GS IV.1 147)

Wenn Benjamin vom „neuen Leib“ spricht, hat er vermutlich den frühen Marx im Sinn, dessen Schriften er allerdings recht eigenwillig auf ihre der „Leiblichkeit angehörigen Elemente“ hin interpretiert (GS V.2 853).6 Im Bild des „neuen Leib[s]“ denkt Benjamin eine Neuordnung der menschlichen Verhältnisse, bei der die Technik produktiv eingesetzt wird. Damit ist freilich etwas anderes als ihre bloße Instrumentalisierung gemeint. Solche Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft ist also auf der einen Seite nicht restaurativ unter Ausschluss der Technik zu erreichen (wie Ludwig Klages es fordert), auf der anderen Seite darf die Technik nicht (wie bei Jünger) als „Fetisch des Untergangs“ (GS III 250) instrumentalisiert werden. Sie könne, wie Benjamin in seiner Rezension zu Jüngers Krieg und Krieger verspricht, den „nüchterneren Kindern“ der Natur als ein „Schlüssel zum Glück“ dienen: „Von dieser ihrer Nüchternheit werden sie [die „Kinder“] den Beweis im Augenblick geben, da sie sich weigern werden, den nächsten Krieg als einen magischen Einschnitt anzuerkennen, vielmehr in ihm das Bild des Alltags entdecken“, fügt er hinzu (ebd.). 7 Benjamin kehrt mithin die von Marx und Engels gesuchte Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft8 zwar nicht um, er

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Jennings: „Trugbild der Stabilität“, S. 518. Vgl. ebenso Witte: Walter Benjamin, S. 65. Burkhardt Lindner ist skeptisch, was Marx’ Stellenwert für „Zum Planetarium“ angeht. Lindner: Benjamins Aurakonzeption, S. 241. Das Bild des ‚neuen Leibes‘ in „Zum Planetarium“ lässt sich indes sehr wohl mit Benjamins Äußerungen über Marx im Passagenwerk in Verbindung setzen, die auf sein Vorhaben hindeuten, „das leibliche Kollektivum [...] dem Materialismus zugrunde zu legen“ (GS II.3 1041). Diese Kritik im Namen solcher Nüchternheit erinnert an seine Abgrenzung vom Surrealismus, vgl. Kap. I.4.1. So der Titel eines von Friedrich Engels verfassten, erstmals 1880 publizierten Bandes.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

sucht jedoch nach einem Potential des Marxismus, das bislang unausgeschöpft blieb.

5.2 Utopien der Natur und der Technik Benjamin unterscheidet in seinen Notizen zum Kunstwerk-Aufsatz zwei Utopieformen: Es gebe neben einer „Utopie der zweiten eine Utopie der ersten Natur“ (GS VII.2 665). Mit ‚zweiter Natur‘ meint Benjamin in diesem frühen Stadium des Aufsatzes noch die Technik. 9 Utopien der Natur beziehen sich unter anderem auf „den menschlichen Leib“, auf „Liebe und Tod “; Utopien der Technik auf „gesellschaftliche und technische“ Probleme. Während frühsozialistische Autoren, wie Fourier, noch auf den „menschlichen Leib“ bezogene Utopien entwarfen, sind die neueren Utopien vornehmlich solche der Technik: Im kommunistischen Russland etwa sieht Benjamin „die Planung des Kollektivdaseins [...] mit einer technischen Planung in umfassendem planetarischen Maßstab“ untrennbar verbunden (GS VII.2 666).10 Ob diese Tendenz etwas über das Verhältnis von Menschheit und Natur im Marxismus bzw. Kommunismus aussagt, hinterfragt Benjamin nicht. 11 Der frühen deutschen sozialistischen Bewegung, wie sie sich im ‚Gothaer Programm‘ von 1875 manifestiert, wirft er hingegen einen naiven Glauben an die Technik und einen ruinösen Naturbegriff vor.12 Er kritisiert in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ aufs Heftigste, dass ihr vulgärmarxistischer Begriff von Arbeit 9

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In späteren Fassungen verwendet Benjamin den im Lukács’schen Sinne geprägten Begriff der „zweiten Natur“ nicht mehr. Es verwirrt, dass in der zweiten und in der französischen Fassung dann von „zweiter Technik“ die Rede ist. In der gemeinhin bekannten (dritten) Fassung tauchen beide Begriffe nicht mehr auf. Vgl. dazu die Ausführungen von Lindner im Benjamin-Handbuch: Lindner: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 245. Benjamin geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass sich im Zuge der menschlichen Entwicklung notwendigerweise gesellschaftliche und technische Fragen vor solchen des ‚menschlichen Leibes‘ aufdrängten. Erst wenn diese Fragen der Lösung nahe seien, könnten sich die Konturen der anderen überhaupt erst auftun. Vgl. GS VII.2 665f. Hier ist nicht der Ort, die Frage nach dem Begriff der Natur bei Marx noch einmal aufzurollen. Ein kurzer Hinweis auf unterschiedliche Tendenzen im Früh- und Spätwerk soll daher genügen: In den Pariser Manuskripten glaubt Marx noch daran, dass die privateigentumsfreie „Gesellschaft [...] die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur“ sei. In den späteren Schriften ergibt sich ein anderes Bild: „Zugute kommen soll die neue Gesellschaft allein den Menschen, und zwar eindeutig auf Kosten der äußeren Natur.“ Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, überarbeitete, ergänzte und mit einem Postscriptum versehene Neuausgabe, Frankfurt a.M. 3 1978, S. 159. Die „sozialistischen Utopien des Vormärz“ wichen indes in ihrem Natur-Begriff positiv davon ab (vgl. GS I.2 699).

5.3 LUDWIG KLAGES’ „KOSMOGONISCHER EROS“ ALS EKSTATISCHE VERBINDUNG „FERNSTER SEELEN“

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nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben [will]. [...] Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf eine Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüber stellt (GS I.2 699).

Benjamin meint gar „technokratische Züge“ entdecken zu können (ebd.). In einer weiteren These zerschlägt er den dieser Technikbegeisterung zugehörigen und ebenso naiven „Fortschrittsbegriff“ der sozialdemokratischen Theorie und Praxis. 13 Im Zuge der Industrialisierung formierten sich neben den Arbeiterbewegungen ebenfalls konservative Strömungen, deren Fortschrittsskeptizismus auch den Ruf nach der Bewahrung der Natur umfasste.14 Die konservativen Ankläger des Fortschritts wenden den Blick zurück und idealisieren ein (vermeintlich) vergangenes Verhältnis von Mensch und Natur. So sieht beispielsweise Ludwig Klages die Arbeit des vormodernen Menschen mit der Erde und ihrer jeweiligen Landschaft verbunden: „Ihnen [d.i. den diversen Landzügen] betteten sich ein oder es blieben mit ihnen träumend verschmolzen die ursprünglichen Werke des Menschen.“ 15 Benjamin tritt dieser (auch lebensphilosophisch inspirierten) Vision einer verlorenen Ur-Einheit von Mensch und Natur und jener (sozialistischen) Technikgläubigkeit mit dem ‚kollektiven Leib‘ als einer Utopie von Technik und Natur entgegen. „Zum Planetarium“ setzt so – „im Geiste der Technik “ – einen globalen Maßstab an und doch einen menschlichen: den Leib.

5.3 Ludwig Klages’ „kosmogonischer Eros“ als ekstatische Verbindung „fernster Seelen“ Nach Benjamins intellektuellen Beziehungen zum lebensphilosophisch orientierten Ludwig Klages ist schon des Öfteren gefragt worden.16 Klages, der im 13

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Vgl. These XIII, GS I.2 701. Kritik übt er dabei vor allem an der zugrunde liegenden Zeitvorstellung. Vgl. dazu auch Werner Hamacher: ‚Jetzt‘. Benjamin zur historischen Zeit, in: Benjamin Studies 1. Perception and Experience in Modernity, hg. v. Helga Geyer-Ryan, Paul Koopman und Klaas Yntema, Amsterdam, New York 2002, S. 146-182. „Die Natur hatten andere im Blick,“ konstatiert Rolf Sieferle und meint, dass „die Kritik an den Umweltveränderungen [...] durch die Formen moderner Technik“ „ausschließliche Angelegenheit von Konservativen“ gewesen sei. Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 157. Ob dies so kategorisch gilt, wäre allerdings zu überprüfen. Klages: Mensch und Erde. Sieben Abhandlungen, Jena 1929, S. 21. Schwierigkeiten bestehen in einer adäquaten Abgrenzung Benjamins von Klages, die eine Beziehung weder kategorisch ausschließt noch die Gemeinsamkeiten übertreibt. Beispiel einer letzteren Lesart ist etwa Pauen, der die These aufstellt, „daß die für Klages zentrale

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

faschistischen Deutschland (zumindest zeitweise) Anerkennung genoss, warnte vor der Zerstörung der Natur durch die Technik etwa in Mensch und Erde, einer Schrift, die Benjamin wahrscheinlich kannte, entstand sie doch im Zuge der Jahrhundertfeier der ‚Freideutschen Jugend‘, an der er 1913 teilgenommen hatte. Das ambivalente Verhältnis, das Benjamin zu Klages hatte, umreißt er selbst treffend in einem Brief. Klages’ monumentales Werk Der Geist als Widersacher der Seele nennt Benjamin Scholem gegenüber „ein großes philosophisches Werk“. Er ergänzt jedoch: „In keinem Fall hätte ich mir vorstellen können, daß ein so hanebüchener metaphysischer Dualismus, wie er bei Klages zugrunde liegt, je sich mit wirklich neuen und weittragenden Konzeptionen verbinden könne.“ (B 515f.) Der Dualismus ist bereits aus Klages’ Titel ersichtlich – der lebensfeindliche „Geist“ und die „Seele“ stehen im Konflikt. Welche „neuen und weittragenden Konzeptionen“ er zu erkennen meint, lässt Benjamin an dieser Stelle im Unklaren. Benjamin interessiert sich indessen ganz offensichtlich für Klages’ Band Vom kosmogonischen Eros, weil dieser dort mit den Kategorien Nähe und Ferne operiert.17 Klages hatte das Buch, das unzählige Neuauflagen erfuhr und auch während der Herrschaft des Nationalsozialismus noch Erfolge feierte, 1922 veröffentlicht. Er fragt darin, was der Eros, genauer: der „kosmogonische Eros“ sei und konturiert sein Konzept des Eros in Abgrenzung zur Liebe und zum platonischen Eros; er unterscheidet ihn außerdem vom (Geschlechts-) Trieb und damit implizit von Freuds Eros-Begriff. Klages trennt mithin den Eros vom Sexus und vom Geist. Damit ist einerseits weder die Liebe zu einem anderen Individuum18 noch die Prokreation diesem Eros zuzurechnen19 ; andererseits wehrt sich Klages gegen jede Form einer verkappten Ideenliebe, weil er dahinter den lebensfeindlichen Geist vermutet. Die Distanz zu Benjamins Eros-Konzeption, beispielsweise zur „platonischen Sprachliebe“ (GS

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Lehre vom Ausdruck Benjamins Theorie von innen her durchdringt. Michael Pauen: Eros der Ferne, S. 716. Dabei übersieht Pauen Unterschiede, etwa Benjamins dialektisches Verständnis des Ursprungs, wenn er schreibt, dass Benjamin „mit Klages die Kritik an den Verfallserscheinungen der Gegenwart ebenso [teilt] wie den Glauben an einen besseren ursprünglichen Zustand“. Ebd., S. 715. Die für die vorliegende Arbeit wesentlichen „Schemata zum psychophysischen Problem“ haben eine kurze Literaturliste, auf der einige Werke Klages’, unter anderem Vom kosmogonischen Eros, aufgeführt werden (vgl. GS VI 84). Auf die Relevanz von Klages’ Buch für „Zum Planetarium“ hat schon Irving Wohlfarth hingewiesen. Eros deutet Wohlfarth aber dann doch im Freud’schen Sinne und liest in Benjamins „Zum Planetarium“ die „Vernichtung“ als Thanatos, den von Freud sogenannten Todestrieb. Vgl. Wohlfarth: Walter Benjamin and the Idea of a Technological Eros, S. 72f. Wohlfarth übersieht damit den Benjamin eigentümlichen Eros-Begriff (vgl. Kap. I.3) und die m.E. zentrale Frage der Gemeinschaft. Vgl. zu Klages’ Forderung, die Neigung nicht auf eine Person, sondern auf eine Seele zu richten, auch Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 35-38. Vgl. dazu die „Begriffliche Vorbetrachtung“, das erste Kapitel des Buches: Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 11-31.

5.3 LUDWIG KLAGES’ „KOSMOGONISCHER EROS“ ALS EKSTATISCHE VERBINDUNG „FERNSTER SEELEN“

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II.1 362), könnte darum nicht größer sein.20 Worauf richtet sich dann aber Klages’ ‚bloße‘ „Fernenneigung“, wenn nicht auf ‚Höheres‘, mag man es nun „Idee“ oder „Name“ nennen? – Klages bezieht sich bei seinen Ausführungen auf Nietzsche21 : Für ihn bedeutet der „kosmogonische Eros“ Rausch und Ekstasis. [D]as von ihm ergriffene Einzelwesen erlebt sich als durchpulst und durchflutet von einem gleichsam elektrischen Strom, der wesensähnlich dem Magnetismus unbekümmert um ihre Schranken einander fernste Seelen im verbindenden Zug sich gegenseitig erspüren läßt, das Mittel selber allen Geschehens, welches die Körper trennt, den Raum und die Zeit, in das allgegenwärtige Element eines tragenden und umspülenden Ozeans wandelt und dergestalt unbeschadet ihrer nie zu mindernden Verschiedenheit zusammenknüpft die Pole der Welt. 22

Klages geht es um eine Verbindung „fernste[r] Seelen“. Eine Kosmogonie entfaltet er hier offensichtlich nicht. Erst am Ende des Buches wird deutlich, wie er das Adjektiv „kosmogonisch“ versteht. Der gesuchte „kosmogonische Eros“ sei kein längst vergangener Mythos, denn er habe sich noch nicht verwirklicht; damit überrascht Klages den Leser und versetzt seine zunächst augenscheinlich rückwärtsgewandte Unternehmung in die Gegenwart: Der „kosmogonische Eros“ könne und solle jetzt eine andere (kosmische) Ordnung erzeugen. Klages zählt zunächst diverse bestehende Gemeinschaften auf, in denen sich die gesuchte ‚Verbindung‘ nicht verwirklicht hat oder nicht verwirklichen kann: Da seien die „Interessenverbände, die ohne Ausnahme auf lebensfeindlichem ‚Willen zur Macht‘“ beruhten23 , „Gefühlsverbände einzelner“, wie Liebe und Freundschaft, „Gesinnungsverbände“, schließlich ein „aus dem

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Pauen behauptet zwar, dass Gemeinsamkeiten in der Sprachphilosophie Benjamins und Klages’ recht deutlich seien (Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs, S. 341f.), er lässt sich aber hier (wie auch im Fall der Aura-Konzeption, vgl. Kap. II.2.1) von der Ähnlichkeit der Begriffe und Formulierungen täuschen. So hat auch Klages ein Konzept des Namens, dahinter steht aber wiederum die Dichotomie von Geist und Seele, während Benjamin sein Konzept vor einem theologischen Hintergrund absichert. Auch das Sprachverständnis weist einen entscheidenden Unterschied auf: Klages geht davon aus, dass es „Bilder waren, die sich [...] im Medium der schauenden Seele den selber wieder geschehenden Lautleib schufen“; es handelt sich bei den ersten Lauten um den Ausdruck von Elementarseelen (Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele, 6. Auflage Bonn 1981, S. 1155) – hier zeigt sich ein Paganismus, den Pauen bei seiner Suche nach gnostischen Elementen in Klages’ Werk gelegentlich in den Hintergrund treten lässt; Benjamin hingegen geht es um das „geistige Wesen“ der Dinge und des Menschen; Benennung ist eine Aufgabe des Menschen, die ihn auf Gott ausrichtet: „im Namen teilt des geistige Wesen des Menschen sich Gott mit.“ (GS II.1 144) Vgl. ebd., S. 55f. Sicherlich ließen sich auch weitere Vordenker anführen, etwa C.G. Jung. Vgl. dazu Blochs polemische Ausführungen: Bloch: Das Prinzip Hoffung, Bd. 1, S. 71ff. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 56. Klages übt durchaus auch Kritik an Nietzsche. Vor allem den „Willen zur Macht“ begreift er als „lebensfeindlich“: Ebd., S. 183.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

Blute uralter Stammesgefühle gespeiste[s] Rassenbewußtsein “. 24 An dieser Stelle bekommt seine Vision einen merklich rassistischen Einschlag: „Es müßte sich die Brüderschaft des Blutes erneuert haben kraft Vereinigung ihrer Träger mit dem Geheimnis des Eros. Das nämlich, wie wir jetzt noch zur Kenntnis bringen, wäre erst der – kosmogonische Eros.“ 25 Klages imaginiert hier die esoterische Begründung eines rassischen ‚Blutsverbandes‘. Die rauschhafte Faszination faschistischer Masseninszenierungen nimmt er damit jedoch nicht vorweg. Im Gegenteil: Klages beharrt auf der Esoterik dieser Erfahrung. „Ekstasis“ ist für ihn „immer vollkommene Einsamkeit“. 26 Man rufe sich zurück das Erlebnis des Schauens, so wie wir es zu beschreiben versuchten, und denke hinzu, daß zwei Menschen es gemeinsam erlitten: alsdann wären beide sympathetisch verbunden durch das Ereignis, das den Namen des kosmogonischen Eros trägt! [...] Geschähe das Unerhörte indes auch nur zwischen zweien aus Hunderten von Millionen, so wäre die Fluchmacht des Geistes gebrochen, der entsetzliche Angsttraum der ‚Weltgeschichte‘ zerränne, und es ‚blühte Erwachen in Strömen des Lichts‘. 27

Mit solchen Zeilen kann man einerseits zwar im ‚Dritten Reich‘ Anklang finden. Andererseits ist Klages’ Erlösungsfiktion keineswegs massentauglich oder überhaupt politikfähig: Es ist der Traum vom Ende des Geistes und der Geschichte. Solche Aufhebung des Dualismus von Geist und Seele würde die Aufhebung des Hiatus zwischen Mensch und Natur bedeuten: eine neue kosmische Ordnung.

5.4 Benjamins nüchterner Rausch zwischen „Allernächstem“ und „Allerfernstem“ Benjamins Passus über den Rausch in „Zum Planetarium“ wäre ohne Klages in dieser Form sicherlich nicht denkbar, ebenso wenig ohne Nietzsche. Der Rausch ist auch bei Nietzsche ein verbindendes Ereignis: Das principium individuationis zerbricht28 , es schließt sich „der Bund zwischen Mensch und 24

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Ebd. Klages’ Anschlussfähigkeit an die nationalsozialistische ‚Blut und Boden‘-Propaganda wird hier deutlich. Zugleich erweist sich diese „Brüderschaft des Blutes“ in seinen Augen als defizitär, denn sie ist ebenfalls „behaftet mit dem Entartungsmerkmal des Hanges zum Abstrakten und hat [...] immer auch schon den Übergangsweg beschritten zur Parteigängerschaft bloßer Lehren, Überzeugungen, sittlicher Formeln“ (ebd.). Ebd. Ebd., S. 73. Ebd., S. 184 (Hervorhebung E.A.). Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. III, Bd.1, Berlin 1972, S. 24.

5.4 BENJAMINS NÜCHTERNER RAUSCH ZWISCHEN „ALLERNÄCHSTEM“ UND „ALLERFERNSTEM“

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Mensch wieder zusammen“. 29 „Jetzt“, im „Zauber des Dionysischen“, schreibt Nietzsche, „fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins“. 30 Während Nietzsche die Gemeinschaftlichkeit der „Nächsten“ wortgewaltig beschwört, betont Klages gerade die Verbindung der ‚Fernsten‘: Der Rausch lasse „unbekümmert um ihre Schranken einander fernste Seelen im verbindenden Zug sich gegenseitig erspüren“. 31 Klages meint hier das ergriffene „Einzelwesen“. Für ihn ist der Rausch zwar ebenso wie für Nietzsche der Untergang des Ichs32 ; als ein Gemeinschaftsereignis versteht er den Rausch hingegen nicht. Der Rausch schaffe eine Gemeinschaft mit „Abwesenden“ bzw. „Gewesenen“ 33 , daher der Begriff der Ferne. „Fernste Seelen“ sind nun aber solche, die an einen Körper nicht mehr gebunden sind: die Toten.34 Rausch, wie Benjamin ihn in „Zum Planetarium“ beschreibt, bedeutet indes beides – die Erfahrung des ‚Nächsten‘ wie des ‚Fernsten‘: Ist doch Rausch die Erfahrung, in welcher wir allein des Allernächsten und Allerfernsten, und nie des einen ohne des andern, uns versichern. Das will aber sagen, daß rauschhaft mit dem Kosmos der Mensch nur in der Gemeinschaft kommunizieren kann. (GS IV.1 146f.)

Auf der einen Seite stellt Benjamin auf die „Gemeinschaft“ ab: Das Wort „kommunizieren“ verweist sowohl auf die Sprache als auch auf jene „stoffliche Gemeinschaft“ (GS II.1 147), das ‚unmittelbare‘ und ‚unendliche‘ Medium, in dem die Dinge sich einander miteinander mitteilen (GS IV.1 107).35 Auf der anderen Seite konterkariert er diese Momente sehr subtil: Das Wort „allein “ in der Wendung „wir allein “ ist zunächst auf die Erfahrung des „Rausch[s]“ beziehbar – „allein “ bedeutet dann, dass ‚nur‘ im Rausch diese besondere Erfahrung zu machen sei. Die Satzstellung ‚ist doch allein der Rausch die Erfahrung, [...]‘ wäre in diesem Fall die üblichere. So aber sagt Benjamin: „in welcher wir allein [...]“. „Allein “ und „wir“ sind nebeneinander gestellt. Das hieße je nachdem, wie man die Stelle betont, dass ‚nur wir‘ diesen Rausch erfahren können. Solche Emphase verstärkt die den Leser einschließende Verwendung des „wir“. Anders betont, meint dies aber eine para29

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Ebd., S. 25. Mit anderen Mitteln, nämlich der Aufhebung des Privateigentums, denkt auch der frühe Marx dieses principium individuationis aufzuheben. „Aus logischen Gründen muß der Sozialismus dem immer als ‚bürgerlich‘ gescholtenen Individualismus ein Ende bereiten. Das principium individuationis ist das Prinzip der Differenz, des Anders-Seins. Die von Marx ersehnte Unmittelbarkeit und Einheit stellt schlicht dessen Gegenprinzip dar.“ Barbara Zehnpfennig: Einleitung, in: Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, mit einer Einl., Anm., Bibliographie und Register hg. v. Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005, S. VII-LXXVI, hier: S. LXIII. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 25. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 56 (Hervorhebung E.A.). Vgl. ebd., S. 66. Das Ich hat allerdings für Klages eine andere Bedeutung als für Nietzsche. Ebd., S. 133. Daher schließt Klages sein Buch mit einem Kapitel über den Ahnenkult. Ebd., S.139-181. Vgl. Kap. I.2.2.2.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

doxe Gleichzeitigkeit von Gemeinschaftsdasein („wir“) und Einzeldasein („allein “) im Rausch, man könnte auch sagen: von Versammlung und Vereinzelung. Die Ähnlichkeit mit anderen paradoxen Denkfiguren, etwa der ‚gemeinsamen Verlassenheit‘ von Reim und Name, fällt ins Auge.36 Eine solch paradoxe menschliche Gemeinschaft denkt Benjamin bereits in seinen frühen Schriften – dort allerdings unter theologischen Vorzeichen: Ich glaube, daß nur in der Gemeinschaft, und zwar in der innigsten Gemeinschaft der Gläubigen ein Mensch wirklich einsam sein kann: in einer Einsamkeit, in der sein Ich gegen die Idee sich erhebt, um zu sich zu kommen. [...] Die tiefste Einsamkeit ist die des idealen Menschen in der Beziehung zur Idee, die sein Menschliches vernichtet. Und diese Einsamkeit, die tiefere, haben wir erst von einer vollkommenen Gemeinschaft zu erwarten. (GS II.3 853)

Auch Benjamin beschreibt in dieser frühen Briefstelle wie Nietzsche und Klages einen ‚Untergang‘ des Ichs, doch ist dieser von jenen gänzlich verschieden. Wenn jene „innigste“, „vollkommene[] Gemeinschaft“ der Gläubigen eine ‚unmittelbare‘ und ‚unendliche‘ ist, also eine ‚totale Nähe‘ bzw. absolute Bezogenheit bedeutet, dann ist jene „tiefste Einsamkeit“ mit der vollständigen Bezugslosigkeit des Namens oder der Idee zu vergleichen.37 Der ‚Untergang‘ ist dann vielmehr eine „Rettung “, die ‚Vernichtung des Menschlichen‘ ein Aufstieg. Diese letzteren Motive finden sich in „Zum Planetarium“ nicht38 , der Rausch erscheint vielmehr als eine Gleichzeitigkeit, vielleicht auch als ein Gleichgewicht von Nähe und Ferne39 , in dem die Relationen gewahrt bleiben und nicht in eine Einheit aufgelöst werden. Eine weitere merkwürdige Formulierung hintertreibt die Annahme, der hier beschriebene Rausch habe – wie der dionysische – eine grenzauflösende Wirkung: Benjamin schreibt, wir würden im Rausch „uns versichern“. Solche Reflexivität ist in einem Rausch eigentlich undenkbar. Sie bedeutet den Einschub einer Meta-Ebene in den Rausch, selbst wenn in dieser Beschreibung Motive des „Eintritt[s]“ einer höheren „Macht“ bzw. Autorität fehlen (GS II.2 607), wie sie für die Unterbrechung oder das Zitat ausschlaggebend sind. 40 Benjamin referiert so zwar auf Nietzsche und Klages, gleichwohl ist dieser 36 37

38 39 40

Vgl. Kap. I.3.3. In einer etwas anderen Wendung findet sich ein ähnlicher Gedanke in Benjamins „Das Leben der Studenten“. Dort fordert Benjamin von den Studenten die Einsicht, dass „sie Schaffende, also Einsame und Alternde sein müssen, daß ein reicheres Geschlecht von Jünglingen und Kindern schon lebt, dem sie sich nur als Lehrende weihen können“. Die Einsamkeit resultiert hier aus der Erkenntnis, dass jene „schöne Kindheit und würdige Jugend“ nunmehr nur noch den Nachgebornen möglich ist und dem Schaffenden selbst versagt blieb. Eine „expansive, auf das Unendliche gerichtete Freundschaft der Schaffenden, die auch [...] auf die Menschheit geht“, ist nur mit dieser Einsamkeit zu haben (GS II.1 86). In „Zum Planetarium“ soll der „Taumel der Vernichtung“ (GS IV.1 148) überwunden werden: Siehe unten Kap. I.5.6. Vgl. Kap. I.3.1. Vgl. Kap. I.2.4 und I.3.3.

5.4 BENJAMINS NÜCHTERNER RAUSCH ZWISCHEN „ALLERNÄCHSTEM“ UND „ALLERFERNSTEM“

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‚Rausch‘ grundsätzlich von Klages’ Eros-Erlebnis und Nietzsches dionysischem Rausch unterschieden. Benjamin verfremdet die vorgängigen Konzepte, indem er mit den Relationen, die er im Text beschreibt, auch spielt: Er arbeitet derart filigran mit den Möglichkeiten der Sprache, der invertierten Satzstellung und den variierbaren Betonungen, dass man vermuten möchte, jener Rausch sei allein in diesem Satz darstellbar. Diese Passage bedient sich, wie die Beschreibung des „Bildraumes“ 41 , selbst der ‚Verstellung‘ des Satzes, der Verschiebung von Relationen. Indem Benjamin von „Allernächste[m]“ und „Allerfernste[m]“ spricht (GS IV.1 146), lässt er zugleich offen, wen oder was die beschriebene Gemeinschaft umfasst. Für Klages ist der Sternenhimmel Inbegriff seines „Eros der Ferne“, denn das Firmament bleibt „unantastbar“. 42 Diese Ferne des Kosmos ist immer räumlich und zeitlich. Darauf spielt auch Benjamin in anderem Kontext deutlich an.43 Was aber ist das Nächste, wenn es nicht der Nächste ist? – Im Hinblick auf Nietzsche könnte man sagen, es ist die Natur, denn im Rausch, so Nietzsche, feiere die „entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur [...] ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen“. 44 Nietzsche stellt die Beziehung von Mensch und Natur als Eltern-Kind-Verhältnis dar und auch Benjamin greift bei seiner Darstellung dieser Beziehung auf menschliche Nächsten-Verhältnissen zurück. Der Erste Weltkrieg, der gescheiterte Versuch, jenen besonderen Bezug zum „Allernächsten“ und „Allerfernsten“ herzustellen (GS IV.1 146), ist auf der einen Seite als Geschlechterverhältnis gedacht: Benjamin spricht vom „großen Werben“, „nie erhörter Vermählung mit den kosmischen Gewalten“ und vom „Brautlager“, das in ein „Blutmeer“ verwandelt wurde (GS IV.1 147). Auf der anderen Seite ist die Beziehung des Menschen zur Natur als Mutter-Kind-Verhältnis dargestellt. Die menschliche Gemeinschaft steht in „Zum Planetarium“ zwei ‚weiblichen‘ Größen gegenüber, die die Natur repräsentieren: der „Muttererde“ und der ‚Braut‘, dem Kosmos; sie sind das „Allernächste“ und das „Allerfernste“ (GS IV.1 146f.). Diese Metaphorik markiert einen der fundamentalen Unter41 42

43 44

Vgl. Kap. I.4.2.3. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 124. „Alles, was räumlich fern, so sahen wir, kann in die Nähe rücken, bedingungslos ausgenommen allein die Gestirne! [...] [W]ir haben [...] ‚gegenwärtig‘ immer nur die Erscheinung der Sterne, niemals ihre (bloß erschlossene) Körperlichkeit.“ Darum seien „dem ursprünglichen Sinn die Sterne bald Seelen der Gewesenen, bald deren Aufenthaltsstätte“ gewesen. Ebd., S. 134f. Klages perpetuiert bewusst diese Identifizierung, indem er die Toten und den Sternenhimmel als Inbegriff der Ferne setzt. Vgl. Kap. I.2.1. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 25. Nietzsche soll im Übrigen hier nicht als Vertreter einer Art ‚Nächstenliebe‘ dargestellt werden, er hat im Gegenteil jene Dialektik von Nähe und Ferne, die Benjamin an Dantes Beispiel aufzeigt (vgl. Kap. I.3.2), äußerst zynisch betrachtet: „Nah hab den Nächsten ich nicht gerne: / Fort mit ihm in die Höh und Ferne! / Wie würd er sonst zu meinem Sterne? –“ Nietzsche: Idyllen aus Messina, in: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. V, Bd. 2, Berlin, New York 1973, S. 31.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

schiede zwischen Benjamin und Klages: Benjamin überträgt den „Eros der Ferne“ auf die Beziehung von Mann und Frau45 , während Klages diese zwischenmenschliche Beziehung zu negieren sucht. Benjamin lässt die verfeindeten Nationen als ‚Bräutigam‘ in ‚zwieträchtiger Einheit‘ um den Kosmos werben, weil er einen „planetarischen Maßstab“ sucht. – Dieser „planetarische“ Maßstab ist „im Geiste der Technik“ (GS IV.1 147).

5.5 Die Technik als Medium einer ‚planetarischen Gemeinschaft‘ Benjamin spielt mit der Wendung „im Geiste der Technik “ offensichtlich auf den Untertitel der ersten Ausgabe von Nietzsches Tragödien-Buch an: Eine kleine, aber signifikante Differenz fällt sofort ins Auge. Statt „aus dem Geiste“ heißt es „im Geiste“. Benjamin grenzt sich von Nietzsches Vorstellung ab, die Musik gebe die „universalia ante rem“, „den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern“ 46 , spiegele etwas vor den Dingen und könne dementsprechend aus sich gebären. Die Formulierung „im Geiste“ betont hingegen eine mediale Dimension 47 , welche es der Technik ermöglichen soll, Medium des von Benjamin entworfenen (paradoxen) Rausches zu werden. Im Ersten Weltkrieg ist dieser Rausch, so Benjamins These, aufgrund einer falschen Handhabung der Technik missglückt: Weil aber die Profitgier der herrschenden Klassen an ihr [d.i. der Technik] ihren Willen zu büßen gedachte, hat die Technik die Menschheit verraten und das Brautlager in ein Blutmeer verwandelt. Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik. (GS IV.1 146)

Die „Imperialisten“ haben ein falsches Verhältnis sowohl zur Natur als auch zur Technik: Sie wollen beides beherrschen, deshalb spricht Benjamin in einer Rezension über Jünger (GS III 238) vom „Sklavenaufstand der Technik “. Jünger illustriert diese ‚imperialistische‘ Haltung und ihre hyperbolischen Machtphantasien, wenn er von der „Beherrschung von technischen Wunderwerken der Macht“ schwärmt. 48

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Vgl. Kap. I.3. und I.4.1. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 102. Dazu Wohlfarth: „A ‘second technology’, freed from the first, would no longer be a means but a medium, not the tool of liberated humanity but its extended body – a conflation [...] of the time-honored philosophical opposition between physei und thesei.“ Wohlfarth: Walter Benjamin and the Idea of technological Eros, S. 74. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 131 (Hervorhebung E.A.).

5.5 DIE TECHNIK ALS MEDIUM EINER ‚PLANETARISCHEN GEMEINSCHAFT‘

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Benjamin sucht nach einem anderen Verhältnis des Menschen zu Natur und Technik; zur Veranschaulichung wählt er ein weiteres Mal eine menschliche Nächsten-Beziehung, diesmal das Generationenverhältnis: Das Kind steht dem Menschen bzw. Mann, wie die Frau, als Natur gegenüber. „Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen“, fragt Benjamin, „der die Beherrschung der Kinder durch den Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde?“ (GS IV.1 146) Er gibt zwar den Terminus der „Beherrschung“ nicht auf, verändert aber die Konstellation: Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung des Verhältnisses zwischen den Generationen und nicht der Kinder? (Ebd.)

Benjamin versteht das Generationenverhältnis nicht als unmittelbare „Beherrschung“, sondern als mittelbare – weil auf das Verhältnis und nicht auf das Objekt bezogene – „Beherrschung“. Übertragen auf die Natur bedeutet das: „Und so [ist] auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit.“ (Ebd.) Neben dieser expliziten Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur wirft Benjamin damit indirekt auch das Problem auf, wie die Technik zu ‚bemeistern‘ sei: Wenn die Natur nicht unterworfen werden soll, kann auch der Zugriff auf die Technik nicht in einer unmittelbaren „Beherrschung“ bestehen.49 Benjamin hält die Einbeziehung der Technik für wesentlich, weil nur sie eine menschliche Gemeinschaft in den von Benjamin vorgestellten Dimensionen realisieren kann. „Im Geiste der Technik“ steht jene Tendenz, alle Bereiche der Natur, sei es die Stratosphäre oder den Nordpol zu erobern. Diese Tendenz aufs ‚Ganze‘ macht die Technik zu einem geeigneten Medium für jene im ‚Rausch‘ zu konstituierende Gemeinschaft, welche „Allernächste[s]“ und „Allerfernste[s]“ (GS IV.1 146) umfassen soll. Die Gemeinschaft soll in „Zum Planetarium“ einen „planetarischen Maßstab“ haben: Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr orga49

Wie ‚beherrscht‘ der Mensch dann aber sein Verhältnis zur Technik? In der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes schreibt Benjamin, eine Technik, die nicht mehr der „Naturbeherrschung“ diene, wäre auf ein „Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit“ ausgerichtet: „Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel. Insbesondere gilt das vom Film“. Nicht nur das „Zusammenspiel“ zwischen Menschheit und Natur solle im Kunstwerk ‚geübt‘ werden, auch das Verhältnis zur Technik werde im Film ‚eingeübt‘: „Der Film dient [sic], den Menschen in denjenigen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt.“ (GS VII.1 359f.) Die Beherrschung der Technik soll mithin von der Einübung der bzw. in die Technik abgelöst werden. Der Begriff des „Zusammenspiels“ gewinnt zudem eine andere (weniger an Schiller gemahnende) Nuance, wenn nicht die Kunst als Medium dieser Einübung gilt, sondern der Körper bzw. Leib des Menschen als Instrument oder Medium dieser „Übung“ gedacht werden (vgl. Kap. I.2.4.3).

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

nisiert sich in der Technik eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien. (GS IV.1 147)

Benjamin stellt, statt auf „Völker[] und Familien“, in Klages’ Worten „Brüderschaft[en] des Blutes“ 50 , auf die Menschheit ab. Das, was bei Klages „kosmogonischer Eros“ heißt und durch das exklusive Erlebnis von „zweien aus Hunderten von Millionen“ 51 in die Welt treten kann, ist bei Benjamin der „Kontakt mit dem Kosmos“, und dieser ereignet sich in der Menschheit. Diese neue Ordnung ist in „Zum Planetarium“ allerdings nur im Negativ abgebildet. 52 – Die verfeindeten Kriegsparteien, im Bild des ‚Bräutigams‘ zusammengeschlossen, stellen ex negativo die Menschheit als Gemeinschaft dar, wie sie sich im Medium der Technik bilden könnte.53

5.6 Der „neue Leib“ als Utopie von Technik und Natur Benjamin denkt eine Technik, die als ebenso ‚unmittelbares‘ wie ‚unendliches‘ Medium fungiert, im Bild einer „Physis“ bzw. eines „Leibes“: Der Menschheit „organisiert sich in der Technik eine Physis“ (GS IV.1 147), dies sei „ihr neue[r] Leib“ (GS IV.1 148). Gemäß seiner Unterscheidung von Körper und Leib als Substanz und Funktion54 kann man davon ausgehen, dass Benjamin auf der einen Seite eine gewisse materielle Dimension im Blick

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Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 183. Ebd., S. 184. Gelänge dies, wäre die Technik eine im Klages’schen Sinne „kosmogonische“. Benjamin kann für den Gedanken einer ‚kosmogonischen‘ Neugestaltung durchaus noch andere Vorbilder reklamieren, etwa Fourier. „Der eigenartige Gedanke, daß mit der richtigen Gestaltung der menschlichen Verhältnisse eine grundlegende Veränderung des gesamten Kosmos einhergehe, findet sich bereits bei den frühsozialistischen Autoren des Vormärz.“ Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, S. 167. Zum Potential der Natur bei Fourier schreibt Benjamin: „Das alles illustriert eine Arbeit, die weit entfernt die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern.“ (GS I.2 699) An anderer Stelle schreibt Benjamin über eine solche ‚Menschheit‘: „Die Menschheit als Individualität ist die Vollendung und zugleich der Untergang des leiblichen Lebens. [...] In dieses Leben des Leibes der Menschheit, und somit in diesen Untergang und in diese Erfüllung vermag die Menschheit außer der Allheit der Lebenden, noch partiell die Natur: nbelebtes, Pflanze und Tier durch die Technik einzubeziehen, in der sich die Einheit ihres Lebens bildet. Zuletzt gehört zu ihrem Leben, ihren Gliedern alles was ihrem Glück dient.“ (GS VI 80) Vgl. Kap. I.2.3.

5.6 DER „NEUE LEIB“ ALS UTOPIE VON TECHNIK UND NATUR

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hat55 , auf der anderen Seite bestimmte Relationen und Grenzen, eine ‚Gestalt‘. Die Vorstellung, ‚in der Technik organisiere sich der Menschheit eine Physis‘, findet man auch in anderen Texten Benjamins: Im Surrealismus-Essay gehört die „Physis, die sich in der Technik [...] organisiert“, dem „Kollektivum“ (GS II.1 310), und in seiner Jünger-Rezension stellt er zu Beginn fest, „daß die soziale Wirklichkeit nicht reif war, die Technik sich zum Organ zu machen“ (GS III 238). Das Wort „organisieren“ alludiert somit das „Organ“. 56 Es hat für Benjamin aber auch eine eminent politische Dimension, wie das Beispiel des „organisierenden Schriftstellers“ belegt.57 Die Zweideutigkeit dieser Begriffe hintertreibt den starken Gegensatz zwischen Technik und Natur, wie ihn Klages und andere Vertreter der Lebensphilosophie behaupten.58 Benjamin sieht die Technik als eine „neue[] Naturgestalt“ (GS V.1 493).59 Bei Marx, vor allem in dessen Frühschriften, sucht Benjamin nun nach bestimmten „der Leiblichkeit angehörenden Elemente[n]“ (GS V.2 853), denn Marx lässt dort solche Doppeldeutigkeit des „Organ-Begriffs anklingen. Benjamin hat ein Zitat des frühen Marx mit folgenden Auslassungen für sein Passagenwerk exzerpiert und mit dem Kommentar versehen: Zur Lehre von den Revolutionen als Innervationen des Kollektivs: „Die Aufhebung des Privateigentums ist ... die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne ...; aber sie ist diese Emanzipation ... dadurch, daß ... die Sinne und der Geist der anderen Menschen meine eigene Aneignung geworden. Außer diesen unmittelbaren Organen bilden sich daher gesellschaftliche Organe, ... also z.B. die Tätigkeit in unmittelbarer Gesellschaft mit ande55

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Auch dies könnte man als eine Abgrenzung von Ludwig Klages lesen, dessen eigentliche ‚körperlose‘ Realität eine Form des Eskapismus darstellt, die natürlich politische Lösungen obsolet macht. Zu einer kurzen Geschichte der Begriffe Organ, Organisation und Organismus vgl. Georg Toepfer, der darstellt, dass die Begriffe Organismus und Organisation im Rahmen einer Abgrenzung von Physik und Biologie, im Zuge der Bestimmung ‚Was ist Leben?‘ eine wichtige Bedeutung einnahmen. Dabei finden mehrere Wechsel zwischen der Bezugnahme auf biologisches Leben und die menschliche Gesellschaft statt. Der Begriff der Organisation wird seit Mitte des 17. Jahrhunderts „auf besondere Ordnungsformen von in sich gegliederten materiellen Körpern, seien es Steine oder Lebewesen“ bezogen. Erst im 19. und 20. Jahrhundert „wird die Gleichsetzung von ‚Organisation‘ und ‚Lebendigkeit‘ aufgehoben“. Georg Toepfer: ‚Organisation‘ und Organismus‘ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wortfamilie seit dem 17. Jahrhundert, in: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften, hg. v. Michael Eggers und Matthias Rothe, Bielefeld 2009, S. 83-107, hier: S. 102. Vgl. Kap. I.2.4.2. Hinter dieser Überzeugung steht Klages’ strenger Dualismus von Geist und Leben. Der lebensfeindliche Geist erschafft die lebensvernichtende Technik, die über das Leben keine wesentlichen Einsichten gewinnen lässt. In dieser Notiz des Passagenwerks setzt sich Benjamin konkret mit Klages auseinander: „Es gibt keine seichtere, hilflosere Antithese als die reaktionäre Denker wie Klages zwischen dem Symbolraum der Natur und der Technik sich aufzustellen bemühen. Jeder wahrhaft neuen Naturgestalt – und im Grunde ist auch die Technik eine solche, entsprechen neue ‚Bilder‘.“ (GS V.1 493)

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

ren ... ist ein Organ einer Lebensäußerung geworden und eine Weise der Aneignung des menschlichen Lebens. Es versteht sich, daß das menschliche Auge anders gefaßt, als das rohe, unmenschliche Auge, das menschliche Ohr anders als das rohe Ohr etc. “ 60 (GS V.2 801)

Für den Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte ist es eindeutig, welches Verhältnis geändert werden muss, um alle anderen Verhältnisse neu zu ordnen: Der Hauptwiderspruch besteht in der kapitalistischen Ordnung, die Lösung liegt in der Aufhebung des Privateigentums. Benjamins Rausch der „Menschheit“, der sich ‚in der Technik [...] eine Physis organisiert‘ hat, lässt mit seinen unbestimmten Angaben über das „Allernächste“ und das „Allerfernste“ diese (politische) Frage weitgehend offen. In der letzten Passage von „Zum Planetarium“ wird Benjamins Vorstellung des ‚planetarischen Rausches‘ allerdings etwas konkreter. Dort nimmt Benjamin die Vorstellung eines „Leibes“ der Menschheit noch einmal auf und vergleicht den Ersten Weltkrieg mit einem epileptischen Anfall. „In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl das dem Glück des Epileptikers gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen.“ (GS IV.1 147) Diese ‚Anfälle‘ erscheinen als Befreiungsversuche vom Beherrschungswillen der Imperialisten. Die Gemeinschaft erweist sich nun auch als eine politische. „Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung“, d.h. der Heilung des „neuen Leibes“. Mit dem „Proletariat“ tritt ein politisches Subjekt im Text auf, dessen „Disziplin “ – im Gegensatz zum „pazifistische[n] Raisonnement“ (ebd.) – zur Tat und schließlich zu einer anderen Organisation des „neuen Leibes“ führen soll. Wie diese neue Ordnung beschaffen sein könnte, wird in „Zum Planetarium“ nicht weiter ausgeführt. Stattdessen schließt Benjamin mit einem Satz, der auf den ersten Blick einer Jünger’schen Formulierung zum Verwechseln ähnlich sieht, weil eine historische Dimensi60

Vgl. die vollständige Passage in: Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, mit einer Einl., Anm., Bibliographie und Register hg. v. Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005, S. 91f. Es ist deutlich, dass Benjamins Auslassungen die Überlegung zu den „gesellschaftliche[n] Organe[n]“ in den Vordergrund rücken. Marx bezieht sich in dieser Passage vor allem am Ende mit der Rede von „rohen“ vs. „menschlichen“ Augen auf Feuerbach. Inwieweit er dessen sensualistisches Primat der Sinnlichkeit historisiert hat bzw. trotz solcher Historisierung in bestimmten Aporien des Empirismus verfangen bleibt, steht zur Debatte: „Marx scheint [...] auf diese überwundene Position [d.i. die des englischen Empirismus] zurückzufallen, auch wenn er die Materie, anders als die Empiristen, in einen historischen Prozeß auflöst. Das führt vielmehr zu der Frage, wie materiell die Materie für Marx überhaupt ist – wenn sie sich denn letztlich auf gesellschaftliche Verhältnisse reduziert, die als solche wohl kaum sinnlich wahrnehmbar sind.“ Zehnpfennig: Einleitung, in: Marx: Ökonomischphilosophische Manuskripte, S. LXIV. Es ist zu überlegen, ob Benjamins Verständnis der Marx-Passage als „Lehre von den Revolutionen als Innervationen des Kollektivs“ diese Lücke schließt: Wenn es einen solchen ‚kollektiven Leib‘ gäbe und dieser in Beziehung zur gesellschaftlichen Materie stünde wie zu einem Organ, dessen Innervationen Handlungen zur Folge haben, dann würden die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich sichtbar (siehe die Ausführungen am Ende dieses Abschnitts, S. 100f.).

5.6 DER „NEUE LEIB“ ALS UTOPIE VON TECHNIK UND NATUR

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on fehlt und das Proletariat als Akteur verschwunden ist: „Den Taumel der Vernichtung überwindet Lebendiges nur im Rausche der Zeugung.“ Diese Passage allein als Aussage über biologische Prokreation zu verstehen, erscheint im Hinblick auf den restlichen Text zunächst unsinnig, zumal der Begriff der Zeugung (nicht nur im europäischen Kulturkreis) eine metaphorische Bedeutung hat: Hegel weist darauf hin, dass in Theogonien und Kosmogonien statt „der Vorstellung eines geistigen Schaffens“ immer wieder eine „Veranschaulichung des natürlichen Zeugens“ tritt. 61 Besonders häufig werden Bilder aus dem Bereich der Zeugung und Empfängnis als Metaphern für die ästhetische Produktion verwendet. Nietzsche etwa verbindet bereits im Untertitel der ersten Ausgabe seines Tragödien-Buches natürliche und geistige Prokreation in der Wendung „Geburt aus dem Geiste“. Der Begriff der Zeugung wird im Buch vor allem im Kontext seiner Aussage, dass „nur als ästhetisches Phänomen [...] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ sei62 , relevant: Wer durch die dionysische Kunst am „Urwesen“ teilhat, dem „[dünkt] der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen [...] jetzt wie notwendig “: „Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklichLebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.“ 63 Den Menschen ist unter gewöhnlichen Umständen Einsicht in die „Zeugungslust“ dieses „Urwesens“ und damit in ihre Rolle verwehrt: „unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung [ist freilich] kaum ein anderes [...] als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben“. 64 Nach Nietzsche hat allein der „Genius“, der ‚Erzeuger‘, die Möglichkeit, mehr als eine Figur im Spiel zu sein: Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.65

Auf Ähnlichkeiten dieser Passage mit Benjamins Beschreibung des „Bildraumes“ hat Eva Geulen hingewiesen.66 Der „Bildraum“ tut sich auf, „wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht“ (GS II 309). Während 61 62 63

64 65 66

Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 444. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 43. Ebd., S. 105 (Hervorhebung E.A.). Ob die Begriffe der „Vernichtung“ und „Zeugung“ sowohl bei Jünger als auch bei Benjamin auf Nietzsche zurückgehen, lässt sich nicht entscheiden. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43f. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002, S. 82. Die Passage beschreibe „wissende Distanz und leibhafte Teilnahme“.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

Nietzsches Aussagen in letzter Konsequenz zu einem absoluten Ästhetizismus führen (mithin auch die Vernichtung ästhetisch wird), sucht Benjamin in zwei Feldern gerade die Abgrenzung vom Ästhetischen. Er fordert erstens, dass „die moralische Metapher aus der Politik herausbeförder[t]“ wird, und zweitens, dass durch die „Unterbrechung seiner ‚Künstlerlaufbahn‘“ der „Künstler bürgerlicher Abkunft [...] in Funktion gesetzt“ wird (GS II.1 309). Weder der Politiker noch der „Künstler bürgerlicher Abkunft“ sind in der Passage über den „Bildraum“ das Pendant zu Nietzsches „Genius“. Im Gegensatz zu Nietzsche gibt es hier kein (menschliches) Subjekt.67 Sowohl Nietzsche als auch Benjamin beschreiben indes eine Handlung und ein gleichzeitiges Bewusstsein von dieser Handlung: Im Falle Benjamins ist es ein Sehen und zugleich ein unmittelbares ‚Sehen des Sehens‘. Für Benjamin ist der Begriff der „Zeugung“ dann allerdings keine Metapher. Die Handlung, z.B. der Witz, soll einem Bild entsprechen, das selbst ist – und nicht auf ein Anderes verweist. Damit entgrenzt Benjamin das Prinzip der Performanz aus dem Bereich des Ästhetischen. Im politischen Gebiet stünde ein solches Prinzip für eine Legitimität und Autorität, die sich stets hic et nunc erweisen muss. Benjamins Suche nach einer „Lehre von den Revolutionen als Innervationen des Kollektivs“ (GS V.2 801) bestätigt indessen, dass die Frage, wie es zu solcher Tat – und zwar einer absolut unmittelbaren – kommen soll, ein weiteres Problem darstellt. Im Surrealismus-Essay entwirft Benjamin eine Vision, wie die „Innervationen“ eines kollektiven Körpers in Aktionen umgesetzt werden sollen: Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn in ihr sich Leib und Bildraum so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leibliche kollektive Innervation revolutionäre Entladung werden, hat die Wirklichkeit sich so sehr übertroffen, wie das kommunistische Manifest es fordert. (GS II.1 310)

Diese Vorstellung ist offensichtlich komplexer als jene, die Benjamin am Schluss von „Zum Planetarium“ äußert, wo er davon ausging, dass sich der Menschheit „in der Technik eine Physis [organisiert]“ (GS IV.1 147). Im Surrealismus-Essay beginnt der Prozess (um die umgekehrte Reihenfolge zu wählen) zunächst mit der „profanen Erleuchtung“, diese führt dann in den „Bildraum“ ein, wo sich jene „Physis“ im Medium der Technik in „ihrer ganzen [...] Wirklichkeit“ erzeugen kann. Während in „Zum Planetarium“ der Kontakt der Menschheit mit dem Kosmos (mithin die Beziehung von Mikrokosmos und Makrokosmos) wiederhergestellt werden soll und der „neue[] Leib“ einer planetarischen Gemeinschaft gehört, soll im SurrealismusEssay eine Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Materie und dem ‚Leib des Kollektivs‘ hergestellt werden – dafür steht die „profane Erleuchtung als 67

Vgl. Kap. I.4.2.1.

5.7 DIE NEUE GEMEINSCHAFT

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„materialistische[]“ und „anthropologische[] Inspiration“ (GS II 297). Die „profane Erleuchtung“ sucht nicht nach den „Kräften des Kosmos“ (GS IV.1 146), sondern nach solchen „Kräften“, wie sie in den „veralteten Dingen“ verborgen sind (GS II.1 300). Wenn hier im Verschwindenden, sich Entfernenden „Kräfte der Ferne“ (GS VI 86) wirken, sollen sie nicht in die Kontemplation oder Melancholie führen, sondern unmittelbar zur Tat veranlassen. Der kollektive „Leib“ tritt dann zu diesen Dingen in Beziehung, wie vormals die antike Gemeinschaft zum Kosmos. 68 Eine solch vollständige Durchdringung von ‚Leib‘ und „Bildraum“ bedeutete, dass das, was sich als revolutionäre Spannung in den Dingen zeigt, unmittelbar im ‚Leib‘ wirkt, und dass das, was im ‚Leib‘ wirkt, sich unmittelbar als revolutionäre Entladung zeigt.

5.7 Die neue Gemeinschaft „Zum Planetarium“ endet mit den Worten: „Den Taumel der Vernichtung überwindet Lebendiges nur im Rausche der Zeugung.“ (GS IV.1 148) Benjamin verwendet damit auch im letzten Satz des Textes ein fast identisches Vokabular wie Ernst Jünger in seinem Buch über den „Kampf als inneres Erlebnis“. Man kann davon ausgehen, dass Benjamin in diesem Fall ebenso wie in der zu Beginn dieses Kapitels angeführten Passage die Taktik verfolgt, seinem Kontrahenten bestimmte Begriffe und Motive zu „entführen“ (GS VI 418). Bei Jünger heißt es: „Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht.“ 69 Während Jünger die „Vernichtung“ bejaht, glaubt Benjamin, sie im „Rausche der Zeugung“ ‚überwinden‘ zu können (GS IV.1 148). Jüngers Aussage, der Kampf sei eine „männliche Form der Zeugung“, offenbart nun eine aufschlussreiche Tautologie, die als Phantasma einer „männlichen Selbstzeugung“, als Ausschluss des Weiblichen gelesen werden kann.70 Benjamin hingegen definiert den „neuen Leib“ anders denn über solchen Ausschluss: Das Geschlechterverhältnis wie auch das Generationenverhältnis stellen in „Zum Planetarium“ einerseits die Beziehung der 68 69 70

Auch Lindner meint, dass Benjamin hier „die Vorstellung vom Bild- und Leibraum auf die archaische Praxis der Astrologie“ überträgt. Lindner: Benjamins Aurakonzeption, S. 218. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 50. Claudia Öhlschläger: „Der Kampf ist nicht nur Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung“. Ernst Jünger und das „radikale Geschlecht“ des Kriegers, in: Kunst – Zeugung – Geburt, hg. v. Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg i.Br. 2002, S. 325-353, hier: S. 328. Insoweit ist Öhlschläger zu folgen. Ihre Interpretation, hier handele es sich um eine männliche Kompensationsstrategie angesichts der weiblichen Emanzipation, greift hingegen m.E. zu kurz.

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5. UTOPISCH-NÜCHTERNER AUSBLICK: „ZUM PLANETARIUM“

Menschheit zur Natur dar, andererseits inkludiert Benjamin mittels dieser Analogien Frauen und auch Kinder. Der „Rausch der Zeugung“ ist somit doch auch wörtlich zu begreifen: Schließlich kommt der proletarius von proletus, und das bedeutet zunächst Kinder zu haben.71 Schon in seinen frühen Überlegungen sucht Benjamin nach historischen Exempeln für eine solche „Gemeinschaft mit Frauen und Kinder[n]“ (GS II.1 84, Hervorhebung E.A.).72 Diese sei schwierig, aber auch unerlässlich, weil „deren Produktivität anders gerichtet ist“ (ebd.). Gemeinschaften wie der griechischen wirft Benjamin vor, mit dem Ausschluss von Frauen und Kindern „den zeugenden Eros dem schaffenden nach[ge]stellt“ zu haben (ebd.). Die von Benjamin beschriebene aufgelöste Bindung von Sexus und Eros kann man somit auch als Ausdruck einer Störung des Geschlechter- wie des Generationen-verhältnisses lesen, die Hoffnungen auf eine „Gemeinschaft mit Frauen und Kinder[n]“ schwinden lässt. Der „Rausch der Zeugung“ (GS IV.1 148), in dem „wir allein des Allernächsten und des Allerfernsten, und nie des einen ohne des andern, uns versichern“ (GS IV.1 146), ist Benjamins Vision einer Überwindung dieser Krise, die eine neue Bindung von Sexus und Eros, ein neues „Gleichgewicht von Nähe und Ferne“ (GS VI 86) in Aussicht stellt. Ob es sich dabei um den Anbruch eines Zeitalters erneuter „auratischer Sättigung “ (GS V.1 461) handelt, ist indes fraglich: Von jener „Fülle und Sicherheit“ (GS II.1 376), die Benjamin in Goethes Verse detektiert, klingt hier nur noch die Möglichkeit an ‚sich zu versichern‘. Und diese ‚Versicherung‘ bedeutet etwas anderes als der Rekurs auf den Begriff des Rausches vermuten lässt: Der „sichernde Blick enträt der träumerischen Verlorenheit an die Ferne“ (GS I.2 650), konstatiert Benjamin im Hinblick auf Simmels Beschreibung des modernen Stadtmenschen, der sich von den anderen, die er zwar sieht, aber aufgrund des Großstadtlärmes nicht hören kann, bedroht fühlt. In dieser Hinsicht ist „Zum Planetarium“ trotz seiner pathetischen Sprachgebärden resignativ – oder eben: nüchtern.

71 72

Die Proletarier waren Angehörige der untersten Klasse, die dem römischen Staat nur ihre Nachkommenschaft zur Verfügung stellen konnte. „Es handelt sich um die Frage, die keine Gemeinschaft ungelöst lassen kann und die doch seit den Griechen und frühen Christen kein Volk mehr in der Idee gemeistert hat; immer lastete sie auf den großen Schaffenden: wie sie dem Bilde der Menschheit genügen sollten und Gemeinschaft mit Frauen und Kindern ermöglichten, deren Produktivität anders gerichtet ist. Die Griechen, wie wir wissen, übten Gewalt, indem sie den zeugenden Eros dem schaffenden nachstellten, so daß endlich ihr Staat, aus dessen Inbegriff Frauen und Kinder verbannt waren, zerfiel.“ (GS II.1 84)

II. DIE BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

Benjamin datiert rückblickend den Beginn der Arbeit an seinen Kindheitserinnerungen auf das Jahr 1932 und stellt, fest dass sie schon damals eng mit der Bedrohung verbunden gewesen sei, seine Heimatstadt Berlin auf nicht absehbare Zeit verlassen zu müssen (vgl. GS VII.1 385). Trotz oder gerade aufgrund der sich zu diesem Zeitpunkt erst andeutenden dramatischen persönlichen Situation habe er, so bemerkt Benjamin im Rückblick, eine Wendung der Texte ins Privat-Biographische vermieden: „[D]ie biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen“, treten „in diesen Versuchen ganz zurück[]. Mit ihnen die Physiognomie – die meiner Familie wie die meiner Kameraden“ (ebd.). Stattdessen versuche er, „der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt“. Er schreibt weiter: „Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist.“ (Ebd.) Benjamin datiert rückblickend den Beginn der Arbeit an seinen Kindheitserinnerungen auf das Jahr 1932 und stellt, fest dass sie schon damals eng mit der Bedrohung verbunden gewesen sei, seine Heimatstadt Berlin auf nicht absehbare Zeit verlassen zu müssen (vgl. GS VII.1 385). Trotz oder gerade aufgrund der sich zu diesem Zeitpunkt erst andeutenden dramatischen persönlichen Situation habe er, so bemerkt Benjamin im Rückblick, eine Wendung der Texte ins Privat-Biographische vermieden: „[D]ie biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen“, treten „in diesen Versuchen ganz zurück[]. Mit ihnen die Physiognomie – die meiner Familie wie die meiner Kameraden“ (ebd.). Stattdessen versuche er, „der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt“. Er schreibt weiter: „Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist. “ (Ebd.) Daraus ist die These einer „qualitativen Unabschließbarkeit“ der Berliner Kindheit erwachsen.1 Gegen diese These Davide Giuriatos wendet sich Lindner, der darauf verweist, dass es zwar zwei Versionen gibt, die Benjamin offenbar zur Publikation vorsah (nämlich die Fassung von 1932/33 und die von 1938), die aufgrund äußerer Umstände aber nicht als Buch publiziert wurden. Lindner argumentiert dabei auch im Sinne der von Giuriato ins Feld geführten Schreibprozess-Forschung gegen Giuriato, wenn er darauf hinweist, dass es sich bei der „Gießener Fassung “ von 1932/33 und der sogenannten „Fassung letzter Hand“ von 1938 jeweils um Typoskripte handelt, die Benjamin nicht 1

Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939), München 2006, S. 68.

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

mehr als Korrekturexemplare vorsah.2 Lindner spricht darum statt von der „Fassung letzter Hand“, mit Blick auf den Fundort, vom „Pariser Typoskript“. Es handelt sich dabei ohne Zweifel um eine sehr viel aussagekräftigere Bezeichnung dieser Version, die für diese Arbeit gleichwohl nicht übernommen wird, da dies verdecken würde, dass als Arbeitsgrundlage eben jener „Fassung letzter Hand“ genannte Text der Gesammelten Schriften gedient hat. Im Hinblick auf das neue und laut Lindner und Werner umfangreiche Material hat auch die vorliegende Arbeit einen historischen Index3 , und die Revision bisheriger Ansichten ist denkbar. So äußert Lindner Bedenken im Hinblick auf die These, dass die Berliner Chronik4 , die sich aus der Arbeit an Glossen über Berlin entwickelte, die Benjamin für die „Frankfurter Zeitung “ Anfang 1932 auf Ibiza schrieb, eine Art ‚Keimzelle‘ der Berliner Kindheit sei bzw. dass das nach Benjamins Rückkehr nach Berlin im Herbst des Jahres abgebrochene Manuskript Berliner Chronik den Beginn an der Arbeit an den Kindheitserinnerungen darstelle.5 Er verweist dabei auf Überlegungen und Notizen aus dem Umkreis der vor der Berliner Chronik entstandenen Einbahnstraße. Die Berliner Kindheit und die Einbahnstraße sind textgenetisch durch sechs Texte verbunden, die in der Einbahnstraße unter dem Titel „Vergrößerungen“ gesammelt sind (vgl. GS IV.1 113-116) und von denen Benjamin bekanntlich einige in verschiedene Fassungen der Berliner Kindheit übernommen hat. 6 Eine Entdeckung der Beziehung der Einbahnstraße und der Berliner Kindheit ist somit nicht neu, diese könnte aber durch neues Material noch hervorgehoben werden; sie kann indessen, wie die vorliegende Arbeit im Folgenden zeigen wird, auch im Hinblick auf bereits bekannte Denkfiguren und Motive Benjamins herausgestellt werden. Lindners Bewertung der Überarbeitungen, die Benjamin im Verlauf der Zeit vorgenommen hat, bestätigt nun auch, was eine Synopse aller bislang publizierten Texte7 ergibt: Dass es Benjamin auf der ei2 3

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Vgl. zur Auseinandersetzung mit Giuriatos These v.a.: Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 86-88. Einige Interpretationen von Anna Stüssi: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Göttingen 1977 gehen von falschen Annahmen aus, weil ihr weder die „Gießener Fassung“ noch die „Fassung letzter Hand“ zur Verfügung standen. Die Berliner Chronik findet sich im sechsten Band der Gesammelten Schriften abgedruckt, vgl. GS VI 465-519. Vgl. Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 99-102. In die „Gießener Fassung“ sind „Das Karussel“ (Einbahnstraße: „Karussellfahrendes Kind“, GS IV.1 114f.) und „Verstecken“ (Einbahnstraße: „Verstecktes Kind“, GS IV.1 115f.) aufgenommen (GF 52 und 82f.). In der Adorno-Rexroth-Fassung finden sich „Zu spät gekommen“ (Einbahnstraße: „Zu spät gekommenes Kind“, GS IV.1 113f.), „Die Speisekammer“ (Einbahnstraße: „Naschendes Kind“, GS IV.1 114) und „Verstecke“ (GS IV.1 247, 250 und 253). Und in der „Fassung letzter Hand“ verbleiben „Zu spät gekommen“ (GS VII.1 395f.) und „Verstecke“ (GS VII.1 418), „Das Karussell“ findet sich als Beilage (GS VII.1 431). Ich beziehe mich im Folgenden auf die Berliner Chronik, die „Gießener Fassung“ und die „Fassung letzter Hand“. Die Adorno-Rexroth-Fassung in Band IV der Gesammelten Schrif-

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

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nen Seite um eine „Schließung“ 8 der Texte geht und dass er sämtliche Passagen, in denen er sein Unterfangen reflektiert, streicht.9 Im Hinblick auf die Überarbeitungen ist dabei zum einen zwischen den Differenzen der Berliner Chronik einerseits und der „Gießener Fassung“ und der „Fassung letzter Hand“ andererseits zu unterscheiden, zum anderen zwischen den Differenzen der „Gießener Fassung“ und der „Fassung letzter Hand“. 10 Die Berliner Chronik ist im Vergleich zu beiden späteren Texten weitschweifig, denn Benjamin scheint erst einmal alles festhalten zu wollen, was ihm von seiner Kindheit, aber auch von seiner Jugend und frühen Studentenzeit ins Gedächtnis kommt. Er erwähnt zahlreiche Personen, berichtet von gemeinsamen Erlebnissen und Aktivitäten und erklärt vieles. Einige wenige Abschnitte weisen indes bereits eine Dichte, Geschliffenheit und Abgeschlossenheit auf, die ihnen literarischen Charakter gibt. 11 Solch literarischer Gestalt nähern sich nun alle Texte der „Gießener Fassung“, einige erreichen in der „Fassung letzter Hand“ eine noch größere Dichte der Bezüge und Verweise; dies ist umfangreichen Streichungen und der neuen Pointierung einiger Texte geschuldet. 12 Die Unterschiede zwischen der „Gießener Fassung“ und der „Fassung letzter Hand“ sind deshalb im Allgemeinen geringer als die zwischen der Berliner Chronik und der „Fassung letzter Hand“, aber nicht weniger signifikant. Der Vergleich des frühesten Textes, der Berliner Chronik, mit dem spätesten, der „Fassung letzter Hand“, kann daher besonders deutlich die Veränderungen vorführen: In der Berliner Chronik findet sich in weiten Teilen ein Assoziations- und Erzählfluss, der zumindest zeitweise einer gewissen Chronologie folgt, wie sie die Berliner Kindheit weder in Form der „Gießener Fassung “ noch in Form der „Fassung letzter Hand“ kennt. Benjamin formuliert indessen bereits in der Berliner Chronik, dass seine Erinnerungen nicht autobiographisch sind, da sie nicht den „stetigen Fluß des Lebens“ suchen: „Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede“ (GS

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ten wird außen vor gelassen, da diese ‚kontaminierte‘ Texte vorlegt und auch die Reihenfolge betreffend nicht verlässlich ist. Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 83, 88 und passim. Vgl. ebd., S. 83. Dies wurde bereits von Manuela Günter festgestellt: Vgl. Manuela Günter: Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein, Würzburg 1996, S. 115. Welche Stellung das Felizitas- und das Stefan-Manuskript einnehmen, wird sich erst nach Veröffentlichung der Kritischen Gesamtausgabe beurteilen lassen. Vgl. z.B. die Passage in der Berliner Chronik, welche sich in der „Gießener Fassung“ unter dem Titel „Markthalle Magdeburger Platz“ findet: GS VI 489f. bzw. GF 43f. Sie bleibt bis auf den Schluss und die Einführung eines Motivs unverändert (vgl. Kap. II.4.3). Ein extremes Beispiel ist der Text „Ein Gespenst“, dessen Ende in den drei Versionen unterschiedlich ist, wobei in der letzten Version („Fassung letzter Hand“) gerade das Gegenteil dessen geschildert wird, was in der ersten Fassung (Berliner Chronik) beschrieben wurde. Die Veränderungen der Schlusspassagen sind weit davon entfernt, einer anderen oder plötzlich ‚richtigen‘ Erinnerung an die Ereignisse geschuldet zu sein – sie scheinen vielmehr aus immanenten Gründen durchgeführt, um die einzelnen Texte abzurunden. Vgl. auch Kap. II.3. und II.4.3.

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

VI 488). In der Berliner Chronik gibt es also einige Ungleichzeitigkeiten bzw. Widersprüche zwischen den Reflexionen über die Darstellung und der tatsächlichen Darstellungsweise. Demgegenüber sind nun, wie gesagt, in der „Fassung letzter Hand“ sämtliche Passagen gestrichen, in denen Benjamin seine Unternehmung reflektiert. Die Darstellung setzt dafür bestimmte, bereits in der Berliner Chronik angedachte Punkte desto konsequenter um. Während in der Berliner Chronik beispielsweise einige Menschen aus Benjamins jeweiligem Umfeld namentlich erwähnt sind, gibt es in der „Fassung letzter Hand“ außer der Mutter nur noch wenige Figuren: Die Berliner Kindheit um 1938 ist fast menschenleer. Auch das hat Benjamin in der Berliner Chronik – somit vorgreifend – festgestellt, wenn er schreibt, dass den Menschen in seinen Erinnerungen „nur ein kurzes schattenhaftes Dasein“ gegönnt sei (GS VI 488).13 Offensichtlich ist dieser Anspruch aber erst in der „Fassung letzter Hand“ einheitlich durchgesetzt.14 Diese Entfernung der erklärenden und reflexiven Abschnitte wurde als „Verstummen des Erwachsenen“ gelesen, Giuriato spricht auch von einer „Fundamentalstreichung des eigenen Ichs“. 15 Benjamins Überarbeitungen haben in dieser Interpretation eine negative Konnotation, zumal Assoziationen mit dem Selbstmord Benjamins nahezu unvermeidlich sind: Es wird implizit eine biographische Lesart eingeführt. Doch selbst wenn von der Person Benjamins abgesehen und auf die Frage des Subjektes abgestellt wird, scheinen die Bewertungen der Darstellungsweise negativ ausfallen zu müssen. Manfred Schneider war der Erste, der die Berliner Kindheit unter dem Einfluss von Michel Foucaults Arbeiten im Rahmen der Subjektthematik rezipierte und feststellte, dass der „autobiographische[] Text Berliner Kindheit“ das „vollendete Inkognito seines Autors/Sprechers“ suche, um sich den Dispositiven der Identifizierung zu entziehen.16 Eine gewisse Negativität relativiert sich jedoch, wenn man die Interdependenz zwischen der Entfernung der autobiographischen Elemente, der Streichung der Reflexions-Passagen und anderen Veränderungen der Darstellungen erkennt. So konstatiert bereits Manuela Günter, dass „erst durch die negative Arbeit am Subjekt [...] die Großstadtbilder sichtbar“ werden.17 Sie versucht dementsprechend, Relationen in den Blick zu nehmen und Beziehun13

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Die Präsenz des Todes überschattet die der Menschen, denn, wie Benjamin einige Zeilen später einschränkt, „wenn sie selbst ganze Viertel mit ihre Namen erfüllen so ist auf die Art, wie der des Toten den Denkstein auf seinem Grabe“ (GS VI 489). Carol Jacobs hat dies als „Depersonalization“ bezeichnet, die eine Topographie erzeugt, „filled less with people than with their names, less with things than with their images“. Carol Jacobs: Berlin Chronicle. Topographically Speaking, in: Dies.: In the language of Walter Benjamin, Baltimore 1999, S. 16-38, hier: S. 27. Die „methodologischen Überlegungen weichen ihrer praktischen Umsetzung“, konstatiert auch Günter: Anatomie des Anti-Subjekts, Würzburg 1996, S. 115. Giuriato: Mikrographien, S.192 und S.191. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München, Wien 1986, S. 117. Günter: Anatomie des Anti-Subjekts, S. 134.

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

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gen zu erhellen. Eine Synopse der verschiedenen derzeit publizierten Fassungen verdeutlicht jedoch, dass es nicht, wie Günter meint, „die soziale Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende in Deutschland“ ist, die Benjamin in seinen „Bildern“ unmittelbar ausstellt. 18 Es erstaunt geradezu, dass er Texte mit durchaus kritischem Potential aus der „Fassung letzter Hand“ aussortiert, beispielsweise „Gesellschaft“ oder „Bettler und Huren“ (vgl. GF 87-91 und 92f.).19 Man gewinnt auch im Hinblick auf die Streichungen einzelner Sätze, die den Bezug zur historischen Wirklichkeit in frühen Fassungen einmal herstellten, vielmehr den Eindruck, dass die Texte der Berliner Kindheit abgekapselt werden.20 Dies erinnert an Ernst Blochs Kritik an der Einbahnstraße, deren Abgewandtheit vom aktuellen, gesellschaftlichen Leben er mit den Worten monierte, der Einbahnstraße gelinge keine „Montage, die an wirklichen Straßenzügen mitbaut“. 21 Wie die Einbahnstraße versucht nun auch die Berliner Kindheit im Umkehrzug zu solcher Streichung historischer und biographischer Momente, andere Elemente und ihre Relationen schlagartig im Text herauszustellen. Ein Vergleich der verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit macht deutlich, dass auch in diesem Text eine Form des ‚Zeigens‘ die erzählende und erklärende Position in den Texten bis zu einem gewissen Punkt zurückdrängt. Eine autobiographische Ebene der ‚Kindheits‘-Texte ist so zwar sicherlich nicht zu vernachlässigen, gerade die Berliner Chronik trägt, wie Benjamins Freund Scholem erklärt, zum „Verständnis der Person und der Biographie“ (GS VI 797) des Autors bei, indem sie Näheres zum familiären Hintergrund und wichtigen Jugendfreunden berichtet. Die „Eliminierung des Persönlichen und Anekdotischen“ 22 im Laufe der Bearbeitung wirft aber darüber hinausgehende Fragen auf, die mit der Thematik von Erinnerung und Gedächtnis verbunden sind: Sind die Umarbeitungen Zeichen einer kritischen Autobiographie, die über das Problem der Authentizität von Erinnerungen reflektiert? 18 19

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21

22

Ebd. Nach Lindners Erläuterungen gehe ich im Hinblick auf die Titelliste aus der AgambenSammlung davon aus, dass Benjamin die Texte nicht mehr zum festen Kern der Berliner Kindheit zählte. Vgl. Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 98f. Lindner hat das „Bild der abgekapselten Insel“ aus Benjamin erinnerungstheoretischen Überlegungen als Formprinzip der Berliner Kindheit hergeleitet. Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 113. Bloch: „Revueform in der Philosophie“, S. 371. Brüggemann erkennt in den Texten der Berliner Kindheit ebenfalls „verdeckte Montagen – Montagen, die ihr literarisches Material eher verhüllen, in den Text verweben als offenlegen.“ Dementsprechend bezieht Brüggemann die Berliner Kindheit vor allem auf die Dingwelt der Jahrhundertwende. Heinz Brüggemann: Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer – Räume und Augenblicke in Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“, in: Ders.: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a.M. 1983, S. 233-266, hier: S. 255. Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999, S. 278.

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

Handelt es sich um eine Aussage über den Status des Subjekts? Oder belegen sie, dass die autobiographischen Elemente in den späteren Fassungen nicht länger im Zentrum stehen? Diese Problematik ist in der Rede von der Berliner Kindheit als einer „Antiautobiographie“ 23 oder „Auto’graphie“ 24 und der Bezeichnung des Ichs als eines „Anti-Subjekts“ 25 kondensiert. Giuriato und Lemke gehen davon aus, dass die (produzierten) Leerstellen oder Brüche der Absicht dienen, Aporien von Erinnerung und Gedächtnis in der Darstellung zu reflektieren.26 Pethes und Günter betonen, dass die Streichungen dazu dienen, die „Darstellungen einer allgemein und überindividuell zu verstehenden Berliner Kindheit“ herauszuarbeiten.27 Einen Bezug zu kollektiven Erfahrungen stellt Benjamin allerdings weniger durch den Bezug auf tagesaktuelles Geschehen oder historische Inhalte des kollektiven Gedächtnisses her als durch zahlreiche „mythologisch wie psychoanalytisch codierte“ 28 Motive. Die Berliner Kindheit kommt einer psychoanalytischen Lesart, wie Marianne Muthesius sie vornimmt 29 , entgegen, weil sie ‚anthropologische Konstanten‘ in Symbolen oder Bildern darstellt. Jede Kindheit reißt dieselben Themen an: sei es die Geburt, die Erfahrung der ersten Liebe, die erste Begegnung mit dem Tod oder die Beziehung zur Familie. Wie die meisten Bildungsromane erzählt auch die Berliner Kindheit von diesen Momenten, verfremdet sie jedoch merklich, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit. Diese ‚Verfremdung‘ resultiert freilich auch aus der Präsenz bestimmter Benjamin’scher Schlüsselmotive, darunter die der Nähe und Ferne, die somit einen Vergleich mit der Einbahnstraße ermöglichen. Während die mit diesen Kategorien verbundenen Fragestellungen in der Einbahnstraße aus einer gemeinschaftlichen Perspektive betrachtet werden, greift die Berliner Kindheit sie aus einer individuellen Perspektive auf. Die Kategorien der Nähe und Ferne bedeuten in der Berliner Kindheit vor allem Präsenz und Abgeschiedenheit und stehen in enger Verbindung mit ihren zwei wesentlichen Themen: der Liebe und dem Tod. Gleichwohl sind Nähe und Ferne hier ebenfalls sprachbezogen, das heißt sie betreffen die materielle Seite der Sprache bzw. Benjamins Konzept des Namens. Einige Momente, die Benjamin in seinen Essays reflektiert, kommen in den Texten der Berliner Kindheit zur Darstellung (bspw. die „platonische Sprachliebe“, GS II.1 362). Da Benjamin die von ihm konstatierte und im 23 24 25 26

27 28 29

Ebd., S. 276. Giuriato: Mikrographien, S. 62. Günter: Anatomie des Anti-Subjekts, S. 133. Giuriato sieht die „Erfahrung der eigenen Unerfahrbarkeit“, die sich von der „Unverfügbarkeit des erinnerten Lebens“ herschreibt, dargestellt. Giuriato: Mikrographien, S. 62. Lemke liest in den Texten eine Warnung vor der Gefahr des „Vergessen[s] des Vergessens“. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Würzburg 2005, S. 157. Pethes: Mnemographie, S. 278. Vgl. Günter: Anatomie des Anti-Subjekts, S. 136. Pethes: Mnemographie, S. 280. Marianne Muthesius: Mythos Sprache Erinnerung. Überlegungen zu Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Basel, Frankfurt a.M. 1996.

1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

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ersten Teil dieser Arbeit beschriebene aufgelöste Bindung von Nähe und Ferne wie die von Sexus und Eros in seinem Buch auch darstellt, lässt sich die Reihe, die mit Goethe, Dante, Kraus und Baudelaire begonnen wurde, am Beispiel der Berliner Kindheit fortsetzen. Die Krise, als welche sich diese gelöste Bindung von Nähe und Ferne in der Berliner Kindheit darstellt, ist eine unsichere Beziehung zur Vergangenheit und Zukunft, für welche das Motiv einer ‚leeren Ferne‘ eintritt. Ich werde daher im Folgenden weniger auf den Gedächtnis- und Erinnerungs-Diskurs, zumal den mnemotechnisch orientierten, Bezug nehmen als ein weiteres Mal auf Ludwig Klages, der der Problematik einer Vergegenwärtigung des Vergangenen vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie mit seinem Konzept eines „Eros der Ferne“ begegnet. Bekanntlich stellt die Berliner Kindheit die Verwiesenheit der Zukunft auf die Vergangenheit dar, die, wie bei Baudelaire und Kafka, nicht als historische (vgl. GS I.2 639), sondern als „vorweltliche“ zu verstehen ist (GS II.2 426). 30 Benjamins jüngste Vergangenheit, die Zeit der Jahrhundertwende, ist mit Bildern einer „Vorwelt“ (GS II.2 412) verfremdet31 ; darin besteht ihre thematische Verwandtschaft mit solchen Figuren und Motiven, wie Benjamin sie in seinem Essay über Franz Kafka (vgl. GS II.2 409-438) bearbeitet hat. Der Kafka-Essay ist u.a. von Benjamins Auseinandersetzung mit dem Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen inspiriert, der Das Mutterrecht nachverfolgt und einen „Versuch über die Gräbersymbolik der Alten“ unternommen hat.32 Als symptomatisch für eine gewisse Relevanz Bachofens auch für die Berliner Kindheit können einige Motive sowie die Dominanz der weiblichen Figuren in der Berliner Kindheit angesehen werden.33 Aber auch einige von Benjamins Darstellungsmodi sind noch einmal im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Bachofen und Klages zu bedenken, vor allem jene, die auf Ambivalenz zielen: Die Darstellungen der Berliner Kindheit sind durch Zweideutigkeiten sowie eine merkwürdige Wandelbarkeit der Dinge geprägt, die man mit einem Begriff aus der Berliner Chronik als „das Unstetige“ bezeichnen könnte (GS VI 488). Zentrales Motiv solcher Wandelbarkeit und Ambivalenz ist das Wasser, das Benjamin bereits in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften zugleich als ‚dunkel‘ und ‚unergründlich‘ wie als ‚spiegelnd‘ und ‚klärend‘ beschrieben hatte (vgl. GS I.1 183). Es scheint, als sei in der Berli30

31

32 33

Vgl. Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen, in: Ders.: Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt a.M. 1964, S. 79-97. Im Titel stellt auch Anna Stüssi diese Verwiesenheit heraus: Stüssi: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Göttingen 1977; ebenso Christiaan Hart Nibbrig in seinem Aufsatz: Das déjàvu des ersten Blicks. Zu Walter Benjamins Berliner Kindheit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), S. 709-729. Vgl. dazu auch Burkhardt Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die Berliner Kindheit und die Archäologie des „Jüngstvergangenen“, in: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, hg. v. Norbert Bolz und Bernd Witte, München 1984, S. 27-48. Vgl. dazu auch Benjamins Essay über Bachofen (vgl. GS II.1 219-233). Benjamins Vater taucht beispielsweise in der „Fassung letzter Hand“ zentral nur noch in einem einzigen Text auf: „Eine Todesnachricht“ (GS VII.2 410f.).

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1. EINFÜHRUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR BERLINER KINDHEIT

ner Kindheit die Welt der Jahrhundertschwelle in einem solchem Medium dargestellt: In der Spiegelung verfremdet und als „Vorwelt“ bodenlos tiefsinnig auf der einen Seite, auf der anderen Seite gerade in dieser Verfremdung mit der Hoffnung ausgestellt, dass der mythische Grund erkannt und überwunden werden könne. Solche scheinbar unergründlichen und schwankenden Bilder wählt Benjamin für die Berliner Kindheit, um hier das ‚Hineinragen‘ der „Vorwelt“ in die Gegenwart als einer vergessenen zu signalisieren (vgl. GS II.2 428), wie er es für Kafkas Textwelt aufgezeigt hat. In dieser Hinsicht thematisieren die Berliner Kindheit und die Einbahnstraße die Frage, in welchem Verhältnis Bemerktes und Unvermerktes wie Erinnertes und Vergessenes stehen. Auf je spezifische Weise artikulieren die Texte ein Wissen davon, dass auch das nicht (mehr) Präsente noch eine Wirklichkeit hat und somit Wirksamkeit entfalten kann. In beiden Fällen geht es Benjamin um Formen des Aufmerkens und der Aufmerksamkeit, die nicht nur an inhaltliche, sondern auch an formale Aspekte des jeweiligen Textes gekoppelt sind.

2. DIE TOTEN

2.1 Klages’ „Eros der Ferne“ als „Eros zum Ehemals“ 2.1.1 Klages’ „Schauung“ in Abgrenzung zu einer intellektuellerinnernden Anamnesis Ludwig Klages bezeichnet seinen „Eros der Ferne“ auch als einen „Eros zum Ehemals“ 1 . Die Erfahrung solcher Ferne ist für Klages eine Erfahrung der Vergangenheit, auch wenn sie „in der Ferne des Raumes“ zur Erscheinung kommt. 2 Aus diesem Grund gelten ihm als Inbegriff dieses „Eros der Ferne“ der Sternenhimmel, eine stets unkörperliche Erscheinung3 , und die Toten, körperlose „Vergangenheitsseelen“. 4 Es ist nicht allein der Eros, den Klages in seinem Buch Vom kosmogonischen Eros neu zu besetzen versucht, er möchte auch die platonische Anamnesis gemäß seiner Vorstellungen adaptieren. Eros und Anamnesis sind insoweit miteinander verbunden, als das, was der Liebende am Geliebten als schön erkennt, Abglanz der Idee des Schönen ist, an die er sich im gleichen Zug erinnert. Je stärker die Erinnerung an diese Idee ist, desto eher sucht der Mensch in der Liebe statt körperlicher Erfüllung einen Aufstieg, der ihn jener Sphäre der Ideen bzw. Urbilder näher bringt, in welcher er sie vor seinem Abstieg ins Körperliche geschaut hat. Für Klages ist das Streben, aus dem Bereich der „vergänglichen Abbilder“ und des „Wandelbaren“ aufzusteigen5 , um die Idee, jene „farblose und berührungslose und stofflose Wesenheit“ zu erfahren, allerdings fehlgeleitet.6 In diesem kurzen, von ihm übersetzten Platon-Zitat verrate sich, so meint er, das Anliegen des platonischen Eros: Hier werde „der Wirklichkeit stets augenblicklicher Bilder [...] die zeitlos beständigte Scheinwelt verdinglichter Begriffe“ untergeschoben.7 Die „Schauung“ verflüchtige sich so zur „dialektischen Tat des Verstandes“. 8 Klages’ Konzept der ekstatischen „Schauung“ versteht sich daher als explizites Gegenmodell zu solcher intellektuellen erinnernden „Schauung“. Die so geschauten „Urbilder“ versteht Klages als „Bilder des Gewesenen“; dies habe auch Platon so gesehen: Von jener Vergangenheit der Bilder 1 2 3 4 5 6 7 8

Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 133. Ebd., S. 131. Ebd., S. 134. Ebd., S. 179. Ebd., S. 43. Platon nach Klages zitiert. Ebd. Ebd., S. 180. Ebd.

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2. DIE TOTEN

sei „in die platonische Erotik der Gedanke der Anamnesis ein[ge]floß[en]“. 9 Die „Urbilder“ der platonischen Anamnesis sind ewig und unwandelbar, gerade das zeichne sie vor den ephemeren und versatilen Erscheinungen in der Welt der Körper aus.10 Demgegenüber ist die „Schauung“ eines „Bildes“ für Klages ein einmaliges Ereignis und zeichnet sich vor allem durch die Wandelbarkeit des ‚geschauten Bildes‘ aus: „Das Bild hat Gegenwärtigkeit nur im Augenblick seines Erlebtwerdens“. Es „fließt mit dem immerfließenden Erleben“ 11 , formuliert Klages im Sinne seiner lebensphilosophischen Überzeugungen. Klages grenzt die „Schauung“ aber nicht nur von der platonischen Anamnesis ab, welche von fixierten, verdinglichten Ideen ausgehe, sondern auch vom gewöhnlichen Wahrnehmungsakt. Er chiffriert die verschiedenen Modi in den Kategorien Nähe und Ferne. „Der Fernheit eines Bildes“ in der „Schauung“ stehe der „Nahheit des Wahrnehmungsdinges“ im gewöhnlichen Wahrnehmungsakt gegenüber.12 Verglichen mit einem, der den Käfer auf seiner Hand bemerkt, steht der Betrachter blau überflorter Höhenzüge unter sonst ähnlichen Umständen wesentlich näher dem „Träumer “ oder dem „Versunkenen “. Der unterscheidungsgewillte Beobachter behandelt sogar das Ferne, als ob es ein Nahes wäre, und opfert das Anschauungsbild einer Folge von Stellen, die er nacheinander und somit gesondert durchmißt, wohingegen der Blick des in Betrachtung, und sei es selbst eines nahen Objekts, Versunkenen zweckentlassen gefesselt wird vom Bilde des Gegenstandes und das bedeutet zum mindesten einer Form, die nicht durch Grenzsetzung geschlossen wurde, sondern vom Insgesamt umrahmender Nachbarbilder.13

In der Wahrnehmung des ‚nahen‘ Dinges ist zwar eine gewisse Sukzession und somit eine Zeitlichkeit gegeben, sie dient aber dem „unterscheidungsgewillte[n] Beobachter“ ebenfalls zur ‚Sonderung‘. Diesem ‚Willen‘ zur abschließenden Begrenzung und Abgrenzung steht eine intentionslose „Betrachtung “ gegenüber, die nicht die Bewältigung des Objektes sucht, sondern sich ihm überlässt; Klages hat dafür den Begriff der „pathischen Passivität“ 14 geprägt. Das „Bild “ solcher Betrachtung ist nicht abgeschlossen, sondern ‚umrahmt‘; es wandelt sich, aber der Betrachter segmentiert es nicht, weil sein „Erleben“ ‚mitfließt‘. Zwar fordert auch Goethe, auf den Klages sich mehrfach bezieht, dass man sich „selbst so beweglich und bildsam zu erhalten“ habe wie die Natur15 , für Klages aber bedeutet dies die Ausmerzung des Geistes, um 9 10

11 12 13 14 15

Ebd., S. 131. Die Ideen dienen daher, so Klages, „der Entrechtung des Augenblicks“. Demgegenüber ist „das echte Urbild um seiner Natur des Ereignisses willen etwas unwiederholbar Einziges“. Ebd., S. 108. Ebd., S. 131. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118f. Klages: Vom Traumbewusstsein. Ein Fragment, Hamburg 1952, S. 12. Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen, in: Ders.: Sämtliche Werke nach den Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter, Bd. 12: Zur Naturwissenschaft

2.1 KLAGES’ „EROS DER FERNE“ ALS „EROS ZUM EHEMALS“

117

so das Leben – und damit auch das „Erleben“ – von den Prinzipien des Geistes, der Analyse und dem Urteil16 , zu befreien. Während Goethe den Pol der Verbindung auf den der Sonderung angewiesen sieht17 , sucht Klages den letzteren auszuschalten. Benjamin kritisiert dieses Fehlen sondernder Elemente in seinem Denkbild „Die Bilder und die Ferne“: Die ‚fließenden Bilder‘, die der Träumer sucht, zielten darauf, „der Bewegung selber den Stachel zu nehmen“ (GS IV.1 427). Benjamin hingegen setzt auf eine ‚Berührung‘ – eine Erfahrung der Nähe –, die den Träumer aus dem Traum reißt, weil er von ihr getroffen bzw. betroffen wird.18 Der Schauer, mit dem der Träumer auf solche Nähe reagiert, entspricht dem ‚Zittern‘ der Natur, die gerade als eine in den Bann geschlagene noch infinitesimale Bewegtheit aufweist. 19 Benjamin stellt hier zwar den Dichter als denjenigen vor, der die Natur „unter neuem Anruf in Bann“ schlägt (ebd.)20 , gleichwohl verweist das Bild des Zitterns auf Benjamins Äußerungen zum Ausdruckslosen, das eine Kategorie der Unterbrechung, man könnte auch sagen, der Sonderung darstellt (vgl. GS I.1 181).

2.1.2 Klages’ „Schauung“ vs. Benjamins Auraerfahrung Klages’ „Schauung“ bedeutet den einmaligen Augenblick einer „Vergegenwärtigung “ eines „Gewesenen“, „Abwesenden“ als ‚wandelbares‘, ‚fließendes‘, dennoch nicht formloses „Bild “. Es verwundert daher kaum, dass etwa Michael Pauen diese Momente und vor allem natürlich Klages’ Beispiel der „blau überflorte[n] Höhenzüge“ 21 mit Benjamins Aura-Definition als der

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20 21

überhaupt, besonders zur Morphologie, hg. v. Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt, München 1989, S. 29-69, hier: S. 13. Vgl. zum Urteil: Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 101. Vgl. dazu etwa den sogenannten Akademiestreit zweier Generationen von Wissenschaftlern, auf den Goethe das Prinzip von Polarität und Steigerung überträgt. Es streiten sich je zwei Gegenspieler, von denen der eine auf die Analyse und die Einzelheiten (Daubenton und Cuvier) und der andere auf die Synthese und das Ganze pocht (Buffon und Geoffroy). Goethe bemerkt diesbezüglich: „Möge doch jeder von uns bei dieser Gelegenheit sagen, daß Sondern und Verknüpfen zwei unzertrennliche Lebensakte sind.“ Johann Wolfgang von Goethe: Principes de Philosophie zoologique discutés en mars 1830 au sein de l’Académie Royale des Sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire Paris 1830, in: Ders.: Die Schriften zur Naturwissenschaft, im Auftr. der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina begr. von K. Lothar Wolf, I. Abt. Bd. 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie, hg. v. Dorothea Kuhn, Weimar 1964, S. 373-403, hier: S. 386. „Jede Vogelschwinge, die ihn streift, jeder Windstoß, der ihn durchschauert, jede Nähe, die ihn trifft, straft ihn Lügen.“ (GS IV.1 427) „Daß dieses Meer in Milliarden und aber Milliarden Wellen sich hebt und senkt, die Wälder von den Wurzeln bis ins letzte Blatt mit jedem neuen Augenblick erzittern, in den Steinen der Schloßruine ein ununterbrochenes Stürzen und Rieseln waltet, im Himmel Gase, ehe sie Wolken bilden, unsichtbar streitend durcheinanderwallen – das alles muß er [d.i. der Träumer] vergessen, um den Bildern sich zu überlassen.“ Den Dichter stellt Benjamin also dem Träumer in seiner „pathischen Passivität“ (Klages: Vom Traumbewusstsein, S. 12.) entgegen. Klages: Vom kosmogonischen Eros: S. 118.

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2. DIE TOTEN

„einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag“ (GS I.2 479) in Beziehung setzt.22 Selbst Benjamins Zusatz – „so nah sie auch sein mag “ – hat seine Entsprechung in Klages’ Bestimmung, dass „nicht so sehr der Abstand als die Art der Betrachtung darüber entscheidet, ob er [d.i. der Gegenstand] vom Nahen oder vom Fernen die Charakteristik habe“. 23 Sehr erstaunlich ist allerdings Pauens Behauptung, dass Benjamin von Klages „nicht allein den Terminus [d.i. den der Aura], sondern auch dessen theoretischen Hintergrund [übernimmt]“. 24 Da Klages’ ‚theoretischer Hintergrund‘ jene Feindschaft von Seele und Leben auf der einen Seite und (logozentrischem) Geist auf der anderen Seite darstellt, die mit Benjamins sprachphilosophischen Ansichten in keiner Weise übereinzubringen ist, kann man wohl eher von gemeinsamen Momenten sprechen, wie etwa der ‚Einmaligkeit der Erscheinung‘ und ihrer Ferne. Wenn Klages nun die „Schauung“ als Vergegenwärtigung eines „Abwesenden“ bzw. „Gewesenen“ versteht, so kommt er nicht umhin zu bemerken, dass „gemäß der Wesensgleichheit von zeitlicher und räumlicher Nähe (und demgemäß auch von Hier und Jetzt) [...] ‚Gegenwart‘ vormals ‚Anwesenheit‘ bedeutete und [...] noch heute im gleichen Sinne gebraucht [wird], wenn wir von jemandem sagen, er sei ‚gegenwärtig‘“. 25 Ohne dass Klages es im Weiteren explizieren würde, ist auch seine „Schauung“ nur unter der Bedingung einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne möglich: Es ist die Nähe des Fernen, das zwar gegenwärtig ist, aber unantastbar bleibt, weil es entweder keinen Körper hat oder zumindest nicht als solcher wahrgenommen wird. Dieser Moment der Gegenwärtigkeit eines Fernen entspricht der „Erfahrung der Aura in ihrer Fülle“ (GS I.2 646), die Benjamin in Goethes Versen ausmacht.26 In Klages’ Fall manifestiert sich darin allerdings auch eine bestimmte Haltung zur Zeit, die man als Zukunftsfeindlichkeit bezeichnen könnte und die Benjamin in seinem Bachofen-Aufsatz wie folgt zusammenfasst: La philosophie de Klages [...] ne connaît point d’évolution créatrice mais uniquement le bercement d’un rêve dont les phases ne sont que des reflets nostalgiques d’âmes et de formes depuis longtemps révolues. De là sa définition: Les images originaires sont l’apparition d’âmes du passé. (GS II.1 229f.).27 22

23 24 25 26 27

Benjamin wählt den Panoramablick als Beispiel einer Aura-Erfahrung: „An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ (GS I.2 479) Vgl. Pauen: „Eros der Ferne“, S. 708f. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 119. Pauen: Eros der Ferne, S. 708. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 113. Vgl. Kap. I.3.1. Benjamin: Johann Jakob Bachofen [Übersetzung: Burkhardt Lindner], in: Text + Kritik 31/32 (1971), S. 28-40, hier: S. 36: „Die Philosophie von Klages […] kennt keine schöpferische Entwicklung, sondern einzig das Abrollen eines Traumes, dessen Phasen lediglich heimwehkranke Spiegelbilder längst vollendeter Seelen und Formen sind. Daher seine Definition: Die Urbilder sind Erscheinungen vergangener Seelen.“ (Hervorhebung E.A.)

2.1 KLAGES’ „EROS DER FERNE“ ALS „EROS ZUM EHEMALS“

119

Klages glaubt, die Zukunft sei im Gegensatz zur „Wirklichkeit des Gewesenen“ ein „Hirngespinst“. Sie entkernt den Augenblick durch Vernichtung seines Gehalts an Vergangenheit und zerreißt den befruchtenden Zusammenhang der Nähe mit der Ferne, um an dessen Stelle zu setzen das ahasverisch hinausjagende Bezogensein der Gegenwart auf jenes Gespenst der Ferne, das Zukunft heißt. 28

Ferne ist für Klages nur die Vergangenheit, weil sie wirklich ist bzw. war, niemals die unwirkliche, weil unverwirklichte Zukunft. Begriffen hätten dies, glaubt Klages, nur Wenige: „Unter den Dichtern aber wußten es manche, so auch Goethe.“ Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! ’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandenen in der Gebilde losgebundne Räume! Ergötze dich am längst nicht mehr vorhandnen.29

Mephistos Aufforderung, Faust solle sich bei den „Müttern“ am „längst nicht mehr vorhandenen“ ergötzen, gilt Klages als Beleg dafür, dass es sich bei diesem ‚Ort‘ um die „Mutterwelt des Gewesenen“ handelt. 30 „Urbilder“ können für Klages nur als ‚Gewesenes‘ begriffen und geschaut werden. Auch Benjamin beruft sich in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspiel-Buches auf Goethes „Mütter“ und bezieht sie in einem Bild auf sein Konzept der Ideale bzw. Ideen (vgl. GS I.1 215). Er besteht jedoch auf einer ‚vollständigen Sonderung‘ der Ideen, die jegliche vergegenwärtigende „Schauung“, selbst die von Klages geschmähte intellektuelle, ausschließt. Während für Klages die „Schauung“ authentische, abgeschlossene aber wandelbare „Urbilder“ offenbart, ist Benjamins Konzept des „Ursprungs“ dialektisch: Eine Idee sieht er nicht als in ihrer Totalität ‚umschrieben‘ an, „solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist“ (GS I.1 227). Für Benjamin ist die „Rhythmik “ des „Ursprungs“ daher nur einer „Doppeleinsicht“ zugänglich: „Sie will als Restauration [...] einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein.“ (GS I.1 226) Klages verweigert solche Verwiesenheit einer Sicht zurück auf die Sicht nach vorne und umgekehrt. Dieses Moment grenzt Benjamin aber auch von Proust ab, mit dessen À la Recherche du temps perdu die Berliner Kindheit in Beziehung steht. Anders als Proust will sich Benjamin nicht von der Zeitlichkeit befreien, er will die Dinge nicht in ihrem ahistorischen Wesen schauen, sondern er strebt nach historischer Erfahrung und Erkenntnis, wird aber in die Vergangenheit zurückgewiesen, in eine Vergangenheit indessen, die nicht abge28 29 30

Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 129. Hervorhebung durch Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 132. (Goethe: Faust II, V. 6275-6278.) Ebd., S. 131.

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2. DIE TOTEN

schlossen, sondern offen ist und Zukunft verheißt. Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zukunft und Vergangenheit zu sein,

so beschreibt Peter Szondi die Verwiesenheit des „Kommenden“ auf das Vergangene in der Berliner Kindheit. 31 Dieses Vergangene ist im Falle der Berliner Kindheit einerseits verbunden mit der Stadt Berlin, andererseits handelt es sich bei ihm zunächst auch um die Vergangenheit der Person Walter Benjamin.

2.2 Benjamins „Eingedenken“ und die Krise kollektiver Erinnerung 2.2.1 „Eingedenken“ als Konjunktion individueller und kollektiver Gedächtnisinhalte Erinnerungen, selbst wenn sie in die Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen ja hier einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede,

reflektiert Benjamin in der Berliner Chronik seine Unternehmung (GS VI 488). Das Thema der Erinnerung scheint zunächst auf die Frage des Individuums beschränkt, das sich an die „berliner Jahre“ erinnert. Mit der Ablehnung des Begriffs der „Autobiographie“ weist Benjamin aber auf der einen Seite eine teleologische Narration der eigenen Entwicklung, wie sie bevorzugt der Bildungsroman kennt, von sich, auf der anderen Seite wehrt er sich gegen ein spezifisches Zeit-Modell: Statt des „stetigen Flu[sses] des Lebens“, der „Dauer“ der Zeit, sucht er die „Augenblicke“; Momente, die sich „aus der Zeit heraus[heben]“ (GS I.2 637): 31

Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen, in: Ders.: Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt a.M. 1964, S. 79-97, hier: S. 89. Vgl. auch Stüssi: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, Göttingen 1977; ebenso Christiaan Hart Nibbrig in seinem Aufsatz: Das déjàvu des ersten Blicks, S. 723: „Die Gegenwart ist zugleich Zukunft des ‚Einst‘, dessen vergessener Sinn im ‚Echo‘ der Erinnerung, wenn sie gelingt zurückgeholt, werden kann. Das ‚Gegenbild der Entrückung‘ nach rückwärts wäre nicht das Bewußtsein des unerwarteten Nachhalls von Vergangenem in der Gegenwart, sondern das der nach vorn drängenden, in die Zukunft das Leben weitertragenden Zeit, die Sinn in der Gegenwart so vergißt und zurückläßt, daß ‚man ahnt, man werde eines Tages etwas Vergessenes von dort holen müssen‘.“

2.2 BENJAMINS „EINGEDENKEN“ UND DIE KRISE KOLLEKTIVER ERINNERUNG

121

Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt die sie im Augenblick des Eingedenkens haben. Diese seltsame Gestalt – man mag sie flüchtig oder ewig nennen – in keinem Falle ist der Stoff, aus welchem sie gemacht wird, der des Lebens. (GS VI 488)

Im „Eingedenken“ treten „im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion “ (GS I.2 611). Benjamin sieht darum im „Eingedenken“ eine Alternative zu Prousts Unterscheidung von mémoire volontaire und mémoire involontaire, die aus seiner Sicht „zum Inventar der vielfältig isolierten Privatperson“ gehört. Damit „Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion “ treten können, bedarf es eines ‚Kollektivs‘, einer Versammlung; die „Konjunktion “ findet mithin vor allem im „Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen“ statt. Ihrer, fügt Benjamin hinzu, dürfte bei „Proust wohl nirgends gedacht sein“ (ebd.). Baudelaire hingegen konnte noch „voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war“, weil er sich gewisse „kultische Elemente“ zu eigen machte (GS I.2 638), die bei ihm mit dem Begriff der correspondances, den „Data des Eingedenkens“ (GS I.2 639), verbunden sind. 32 Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als „das Schöne “ dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst. (GS I.2 638)

„Das Schöne“ begreift Benjamin in diesem Zusammenhang „seinem geschichtlichen Dasein“ nach, „als einen Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten“ (GS I.2 638f.).33 Benjamins Vergleich des dem Schönen eigenen Kultwertes mit dem Ahnenkult als einem der wohl ältesten Kulte beruht auf der Ähnlichkeit der Versammlung mit allen Gewesenen, die die Erfahrung solchen „Ergriffenwerden[s]“ (GS I.2 639) teilen. Wie diese Möglichkeit zur Versammlung – und damit die Erfahrung der Aura – schwindet, wenn statt des einzigartigen Kunstwerkes zahlreiche Reproduktionen auftauchen, so ist auch die ‚Abscheidung des Todes und der Toten‘ „im Verlauf der Neuzeit“ mitursächlich für die Verminderung der „Mitteilbarkeit der Erfahrungen“ (GS II.2 449). Das Leben als solches kann nicht erzählt werden34 , weil es „tradierbare Form“ erst „am Sterbenden annimmt “. Darum meint Benjamin in der Berliner Chronik, dass „der Stoff, aus welchem sie 32

33 34

Die correspondances haben als Übereinstimmungen und Korrespondenzen Ähnlichkeit mit dem Reim, der auch über eine Distanz hinweg etwas „klingend“ und stimmig“ „versammelt“ (GS II.1 363, vgl. dazu Kap. I.3.3). Vgl. dazu Kap. I.3.4.1. Giuriato hat dies als „Unverfügbarkeit des erinnerten Lebens“ gelesen und dabei diese Kontexte ausgeblendet. Giuriato: Mikrographien, S. 62.

122

2. DIE TOTEN

[die Gestalt der Jahre und Monate im Eingedenken] gemacht wird, der des Lebens“ nicht sein kann (GS VI 488). Tage des „Eingedenkens“, schreibt Benjamin, „stehen nicht im Verbande der übrigen“, sie „heben sich vielmehr aus der Zeit heraus“ (GS I.2 637). Sie provozieren eine Unterbrechung, durch die sich jene Erfahrung der correspondances einstellt. Neben diesen „festlichen Tagen“ gibt es das Eingedenken am Rande einer Zäsur, die alle Menschen teilen und die sie doch allein erfahren: Vor dem Tod wird aus dem Leben das „gelebte Leben“, und dieses wird zum „Stoff“ für Erzählungen (GS II.2 449). Aus der Nähe des Todes leitet sich eine „Autorität“ ab, an der der Erzählende Anteil hat (GS II.2 450), weil er in dieser Begegnung mit „einem früheren Leben“ (GS I.2 639) nicht nur auf das eigene „gelebte Leben“ (GS II.2 449) zurückblickt, sondern ihm im „Unvergeßliche[n]“ (GS II.2 450) aufgeht, was auch die früheren Generationen betroffen hat und die noch kommenden betreffen könnte

2.2.2 Mortifikation historischer Personen Diese Nähe des Todes manifestiert sich in der Berliner Chronik indessen nicht an Benjamin selbst, sondern an den „Menschen, die in Berlin – wann immer und wer immer – mir die nächsten waren“ (GS VI 488). Statt die „Gewesenen“ in einer vermeintlichen ‚Lebendigkeit‘ zu vergegenwärtigen, sucht Benjamin eine ‚Entfernung des Nächsten‘, die sich in diesem Fall als Mortifikation realisiert: Die Luft der Stadt, die hier beschworen wird, gönnt ihnen [d.i. diesen Menschen] nur ein kurzes schattenhaftes Dasein. Sie stehlen sich an ihren Mauern hin wie Bettler, tauchen in ihren Fenstern geisterhaft empor, um zu verschwinden, wittern um Schwellen wie ein Genius loci und wenn sie selbst ganze Viertel mit ihre Namen erfüllen so ist auf die Art, wie der des Toten den Denkstein auf seinem Grabe. (GS VI 488f.)

Dieses Verfahren entspricht der im ersten Teil der Arbeit beschriebenen Dialektik der ‚Entfernung des Nächsten‘, die in eine ‚Annäherung des Fernsten‘ umschlagen soll35 ; es ist im Sinne Benjamins, gerade das „Jüngstvergangene“ zur „Vorgeschichte“ werden zu lassen, um dessen „Archäologie“ betreiben zu können36 , weil sich die tatsächliche, die ‚unvordenkliche‘ „Vorgeschichte“ den Neueren entzieht.37 Man könnte auch sagen, sie entzieht sich den Erwachsenen, darum legt Benjamin den Fokus auf die Kindheit: In der Berliner Chronik formuliert er die Überzeugung, das Kind habe eine besondere Bezie35 36 37

Vgl. Kap. I.3.2. Vgl. dazu Burkhardt Lindner: „Das ‚Passagen-Werk‘, die Berliner Kindheit und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘“. Über Baudelaire schreibt Benjamin, dass er dem „Unvordenklichen, das sich ihm entzog“ – und damit meint er jene „Vorgeschichte“ – in der „Gestalt des Altmodischen“ huldigte (GS I.2 640).

2.3 FRANZ HESSELS BERLIN-BUCH UND BENJAMINS „TIERGARTEN“

123

hung zum „Totenreich“, welches als „Vorwelt“ in das Reich „der Lebenden hinragt“ (GS VI 489).38 Diese Beziehung, hofft Benjamin, könnte dem sich erinnernden Erwachsenen den Zugang zu einer kollektiven Vergangenheit eröffnen, die mehr umfasst als die in jedem Geschichtsbuch recherchierbaren Fakten und Zahlen. Daß mein Gefühl für jene Tradition der Stadt Berlin, die nicht in ein paar Daten [...] umschrieben ist – für jene topographische Tradition, die die Verbindung mit den Toten dieses Boden darstellt begrenzt ist, liegt schon darin beschlossen, daß meine Familien nicht zu den Eingeborenen gehören. (Ebd.)

Weil es Benjamin um eine mögliche sprachliche Darstellung einer solchen Beziehung geht, wendet er den „Eros der Ferne“ in den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit von den „Toten dieses Boden[s]“ ab und richtet ihn stattdessen auf die Sprache.39 Ein Vorbild, das Benjamin für eine Erzählung von Geschichte hat, die nicht mit Daten hantiert, sondern eine andere „Tradition der Stadt“ (ebd.) aufgreift, ist Franz Hessels Buch Spazieren in Berlin, das Benjamin rezensiert hat. Dieses „ganz und gar epische[] Buch“ (GS III 194), stellt Benjamin in seiner Rezension fest, ist von einem Flaneur geschrieben worden, der „all sein Wissen [...] für die Witterung einer einzigen Schwelle oder das Tastgefühl einer einzigen Fliese“ dahingibt (GS III 195). Hessel scheint, wie einst der ‚sesshafte Erzähler‘, den Benjamin in seinem Erzähler-Aufsatz beschreibt, in die Ferne des Raumes zurückgreifen zu können – und zwar durch eine besondere Nähe zu den Dingen.

2.3 Franz Hessels Berlin-Buch und Benjamins „Tiergarten“ Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt,

beginnt Benjamin „Tiergarten“. 40 Er wertet in diesem Text Irrtum und Irrweg zu einer „Irrkunst“ auf.41 Wie und von wem er diese Kunst gelernt hat, deutet 38 39 40

Im Kontext eines zyklischen Denkens wird diese Vorstellung durch die Nähe von Geburt und Tod erklärt. Vgl. dazu Kap. II.4., in dem es u.a. um Motive von Geburt und Tod geht. Siehe unten Kap. II.2.4 und II.3.3. Der Text „Tiergarten“ weist in der „Gießener Fassung“ und in der „Fassung letzter Hand“ nur minimale Veränderungen im Wortlaut auf, z.B. ersetzt Benjamin ein „begriff“ durch „erfuhr“ (GS VII 394). Die Umarbeitungen werde ich daher im Folgenden nicht weiter thematisieren und als Textgrundlage die „Fassung letzter Hand“ verwenden.

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2. DIE TOTEN

er erst einige Zeilen später an: Es war „ein Landeskundiger, ein Bauer von Berlin, [der] sich meiner annahm“ (ebd.). Gemeint ist hier bekanntlich Franz Hessel; im „Bauer[n] von Berlin “ klingt zudem Aragons Buch Le Paysan de Paris an. Benjamin bezieht sich damit einerseits auf den Surrealismus; andererseits sowohl auf Hessels Person als auch auf dessen Buch Spazieren in Berlin, das er 1929 unter dem Titel „Die Wiederkehr des Flaneurs“ rezensierte (vgl. GS III 194-199). Einige Momente dieser Besprechung, etwa den Umschlag von Stadt in Landschaft, mit dem die ersten Sätze von Spazieren in Berlin spielen42 , nimmt Benjamin in „Tiergarten“ erneut auf. Zahlreiche weitere Beispiele für ähnliche Motive, Orte und Gegenstände legen einen Vergleich der Berliner Kindheit mit Spazieren in Berlin nahe.43 Bei allen Gemeinsamkeiten lassen sich aber auch grundsätzliche Differenzen nicht übersehen: Hessels Ich-Erzähler bewegt sich durch das Berlin der späten zwanziger Jahre, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, und streut dabei gelegentlich Erinnerungen an seine Kindheit ein, die vorherrschende Zeitebene ist jedoch die Gegenwart. Benjamin hingegen erinnert sich an seine Berliner Kindheit und beschränkt damit die Orte auf den Erlebnisradius des kleinen Kindes. Dieser räumlichen und zeitlichen Beschränkung des Unterfangens entspricht eine Darstellung, die nicht das Panorama sucht, sondern in die Tiefe geht. Hessel beginnt sein Buch mit einem Kapitel, das er „Der Verdächtige“ nennt. Dieser „Verdächtige“ ist jedoch bloß ein „harmlose[r] Zuschauer“, der seine misstrauischen Mitbürger durch intentionslose Beobachtung „enerviert“. 44 Hinter seiner Absichtslosigkeit steckt aber doch ein Plan, denn nur ziellos ist zu finden, was er sucht: „Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden...“ 45 Dieser „Erste Blick“ versteht sich als unmittelbarer, als ‚naher‘ Blick auf die Dinge, dem die Sicht nicht durch „Bildungserlebnisse“ verstellt wird.46 Dass auch er solcher „Bildungserlebnisse“ bedurfte, um zu sehen, „was nicht einfach mit Augen zu sehen ist“, gesteht Hessel freilich erst am Ende des Buches.47 Gleichwohl versucht Hessel diesen „Ersten Blick“ in

41 42

43

44 45 46 47

Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 12. Hessel schreibt, durch eine belebte Straße zu gehen, sei wie „ein Bad in der Brandung“. Hessel: Spazieren in Berlin, in: Ders: Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Hartmut Vollmer und Bernd Witte, Bd. 3: Städte und Portraits, hg. und mit einem Nachwort versehen v. Bernd Echte, Oldenburg 1999, S. 9. Vgl. bspw. Jörg Gallus: Labyrinthe der Prosa. Interpretationen zu Robert Walsers „Jakob von Gunten“, Franz Kafkas „Der Bau“ und zu Texten aus Walter Benjamins „Berliner Kindheit“, Frankfurt a.M. 2006, S. 211-225. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 9. Ebd. Vgl. zu weiteren Anknüpfungspunkten dieses „Ersten Blickes“, etwa zu John Ruskins „innocent eye“, Dorothee Kimmich: „Wir sehen nur was uns anschaut.“, S. 157. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 191.

2.3 FRANZ HESSELS BERLIN-BUCH UND BENJAMINS „TIERGARTEN“

125

seinem Buch darzustellen, indem er dem Leser eine gewisse Unmittelbarkeit suggeriert: Da ist gegen Norden ein Platz mit Holzgerüst, ein Marktgerippe und dicht dabei die Produktenhandlung der Witwe Kohlmann, die auch Lumpen hat [...]. Die Witwe wirft mir böse Blicke zu. Zu schimpfen getraut sie sich nicht, sie hält mich für einen Geheimen.48

Spazieren in Berlin ist zumeist im Präsens gehalten, mit (verfremdenden) rhetorischen Mitteln hält sich Hessel zurück. Einzelne Begegnungen, wie die zitierte, wechseln sich ab mit Episoden, in denen er das „Immergleiche“ (GS III 198) aus seinen Beobachtungen zu extrahieren versucht: Manchmal möchte ich in die Höfe gehen. Im älteren Berlin wird das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe mit dem bisschen Grün in einer Ecke, den Stangen zum Ausklopfen, den Mülleimern und Brunnen, die stehngeblieben sind aus Zeiten vor den Wasserleitungen. 49

In „Berlins Boulevards“ reflektiert Hessel diese Kunst des Flanierens: „Um richtig zu flanieren“, schreibt er, „darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben.“ Flanieren werde dann „eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben“. 50 Hessels Text stellt diese „Lektüre“ des Flaneurs jedoch nicht unmittelbar dar. In Benjamins „Tiergarten“ hingegen ist die Darstellung des Flaneurs, der die Dinge ‚beim Wort genommen‘ wissen will, entsprechend der Analogie von Lesen und Flanieren verfremdet: Es „durchfurchten seine [d.s. Hessels] Pfade diesen Garten, in welchen er die Saat des Schweigens säte.“ (GS VII.1 394) Dieses Schweigen eröffnet – wie Benjamin später im Passagenwerk schreibt – einen anderen Bezug zu den Dingen: Der Flaneur „darf schweigen. Beim Nahen seiner Tritte ist der Ort schon rege geworden, sprachlos, geistlos gibt seine bloße innige Nähe ihm Winke und Weisungen“ (GS V.1 524). In seinem Schweigen wird der Flaneur den stummen Dingen ähnlicher; er versteht nun jene „stumme [...] Sprache der Dinge“ (GS II.1 151), die auf „Winke[n] und Weisungen“ beruht. Dies erinnert an die Blicke der Dinge, die Baudelaire als „regards familiers“ 51 bezeichnet und die Hessel ins Bonmot ‚Nur was uns anschaut, sehen wir‘ gefasst hat. Wie nun solche ‚vertrauten Blicke‘ das Gegenüber in die Ferne ziehen, so führen auch Hessels ‚Pfade des Schweigens‘ in die Ferne, anders gesagt: in die Tiefe.

48 49 50 51

Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 103. Vgl. Kap. I.3.4.

126

2. DIE TOTEN

Er [d.i. Hessel] ging die Steige voran, und ein jeder [Pfad] wurde ihm abschüssig. Sie führten hinab, wenn schon nicht zu den Müttern des Seins, gewiß zu denen des Gartens. Im Asphalt, über den er hinging, weckten seine Schritte ein Echo. Das Gas, welches auf unser Pflaster schien, warf ein zweideutiges Licht auf diesen Boden. Die kleinen Treppen, die säulengetragenen Vorhallen, die Friese und Architrave der Tiergartenvillen – von uns zum ersten Mal wurden sie beim Wort genommen. (GS VII.1 394f.)

Benjamin spielt hier auf Fausts Fahrt zu den „Müttern“ an, die dieser im zweiten Teil von Goethes Werk unternimmt, um Bilder von Helena und Paris zu beschwören. Der Weg in „ewig leere[] Ferne“ 52 ist schon bei Goethe paradoxe Gleichzeitigkeit von Auf- und Abstieg: „Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! / ’s einerlei“, ruft Mephisto Faust zu.53 So wird auch Hessel jede „Steige [...] abschüssig “; die Homonymie von Imperativ und Weg erfasst hier jene doppeldeutige Bewegung. Sie „führt hinab [...] in eine Vergangenheit, die umso bannender sein kann, als sie nicht nur des Autors eigene, private ist“, wie Benjamin in seiner Rezension über Spazieren in Berlin schreibt (GS III 194). Hessel scheint mithin nicht nur in die individuelle, sondern auch in die kollektive Vergangenheit hinabzusteigen. Bei den ‚Müttern des Gartens‘ schweben so zwar nicht wie in Goethes Faust die „Bilder[] aller Kreatur“ 54 ; „Bilder, wo immer sie hausen“, findet jedoch auch der Flaneur (GS III 196). Dass diese Bilder keine ‚Erscheinungen‘ im Klages’schen Sinne sein können, dass es vielmehr einen Bezug zur Sprache gibt, darauf verweist die Wendung ‚die Dinge beim Wort nehmen‘; so ist auch das Motiv der ‚abschüssigen Steige‘ ein Kontrapunkt zu Klages, der es mit einer Regression, dem bloßen Schritt zurück und hinab bewenden lassen will.

2.4 Die Ahnen als entfernte Figuren und Figuren der Entfernung 2.4.1 Dialektik eines (zeitlichen) Auf- und Absteigens Ihr Pendant findet die „Steige“, die hinab führt, in den „Stiegen“, die Benjamin in der Berliner Kindheit beschreibt (ein Auf- und Absteigen findet man in den vertauschten Vokalen auch lautlich dargestellt). Ihre Besonderheit verdanken die „Stiegen“ indes nicht nur den Orten, zu denen sie führen. Schon 52

53 54

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Texte, in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hg. v. Friedmar Apel u.a., I. Abteilung, Bd. 7/1, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt a.M., S. 256 (V. 6246). Ebd., S. 257 (V. 6275). Ebd., S. 257 (V. 6287).

2.4 DIE AHNEN ALS ENTFERNTE FIGUREN UND FIGUREN DER ENTFERNUNG

127

Hessel meint, es hafte „soviel Erinnerung“ an „Treppenhäusern“. 55 Mehr noch als diese Treppenhäuser faszinieren ihn aber die Innenräume. Unter Vorwänden betritt er die Wohnräume seiner Kindheit als Erwachsener noch einmal und erkennt dort schemenhaft die Umrisse des früheren Mobiliars.56 Benjamin dagegen ist an den Wohnungen wenig interessiert, ihm geht es um die Treppenhäuser, die „in der Abgeschiedenheit die Kraft bewahrt“ haben, den als Erwachsenen Zurückkehrenden „wiederzuerkennen, welche die Fassade längst verlor“ (GS VI 487). Sowohl das Äußere, die stets sichtbare Fassade, als auch das Innere, der veränderliche Wohnraum, können nichts bewahren. Die Treppenhäuser hingegen sind vor der Abnutzung durch die alltägliche Betrachtung geschützt und zugleich der tiefgreifenden Umgestaltung enthoben57 : Es sind – wie die Passagen – Durchgänge, in denen man sich weder drinnen noch draußen befindet, die weder gänzlich privat noch völlig öffentlich sind. Die Momente des Auf- und Abstiegs unterscheiden die Treppenhäuser jedoch wesentlich von den Passagen.58 An ein Treppenhaus erinnert sich der Erzähler u.a. in „Tiergarten“, „wo ein Weib, schwebend wie die Sixtinische Madonna, einen Kranz in Händen haltend, aus [einer] Nische trat“ (GS VII.1 395). Benjamin spielt (wie Hessel59 ) mit einer Animierung des Stiegen-Inventars, doch gerät in der Berliner Kindheit nicht nur das „Weib “ auf der Fensterscheibe in Bewegung, sondern auch ihr ‚Bild‘: Die Darstellung oszilliert zwischen antiker Figur mit Emblem60 , verkitschter Gründerzeit-Allegorie und christlicher Mutter Gottes, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie alle Überbringerinnen, Trägerinnen und Vertreterinnen eines Anderen sind. Der Vergleich dieser Figur mit Raffaels das Jesuskind herbei tragender Maria – „schwebend wie die Sixtinische Madon55 56 57

58

59 60

Hessel: Spazieren in Berlin, S. 110. Vgl. ebd. In der Berliner Chronik ist im Gegensatz zur Berliner Kindheit noch offensichtlich, dass Benjamin vermutet, mit dem Treppensteigen eine mémoire involontaire auszulösen. Diese Erinnerungen sind also sowohl an Körperbewegungen als auch an einen „bestimmten Teilbereich des Sinnesspektrums“, an die „begriffsfernen Geschmacks- und Geruchseindrücke“ gebunden. Ansgar Hillach: Erfahrungsverlust und ‚chockförmige Wahrnehmung‘, in: Alternative 23 (1980), S. 110-118, hier: S. 113. (Vgl. dazu auch Kap. I.3.4): „Die Sohlen wären wohl die ersten, die mir, wenn ich die Haustür hinter mir geschlossen hätte, Meldung brächten, daß sie Abstand und Zahl der ausgetretenen in mir selber aufgefunden hätten daß sie auf dieser ausgetretenen Etagentreppe in ihre alten Spuren getreten seien und wenn ich die Schwelle jenes Hauses nicht mehr überschreite ist es die Furcht vor einer Begegnung mit dem Innern dieses Treppenflurs, der in der Abgeschiedenheit die Kraft bewahrt hat, mich wiederzuerkennen, welche die Fassade längst verlor.“ (GS VI 487) Vgl. zur Passage den Eintrag von Heinz Brüggemann: Passage, in: Benjamins Begriffe, Bd. 2, hg. v. Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Frankfurt a.M. 2000, S. 573-618 sowie zur Schwelle als „einer zeitlich oder räumlich inextensiven Gestalt des Zwischen“: Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986, hier: S. 55. Vgl. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 12. Auch dieses Emblem wandelt sich: In der Berliner Chronik trägt die Figur statt des Kranzes noch einen Pokal, vgl. GS VI 487.

128

2. DIE TOTEN

na“ (GS VII.1 395) – verstärkt diese Zwischenstellung. Ernst Bloch hat sich später in Das Prinzip Hoffnung (sicherlich in Kenntnis von Benjamins Text) mit diesem Bild Raffaels auseinander gesetzt. Er nimmt in seiner Beschreibung Motive Benjamins auf, wenn er schreibt, dass der Madonna in diesem Bild „überhaupt kein[] Ort, weder in Nähe noch in Ferne, weder in Diesseits noch in Jenseits“ bestimmt wird.61 Die Gleichzeitigkeit von Auf- und Abstieg, die auch Bloch auf Goethes Faust bezieht, liest er in Beziehung auf die Bewegung der Madonna als dialektisches Moment: „Sie steigt auf, indem sie herabkommt, und kommt herab, indem sie auffährt“. 62 Bloch geht es dabei um eine Tiefe, die nicht nur nach unten, ins „Abgründige“ zieht, sondern auch nach oben und vorne reicht.63 Ähnlich wie Benjamin geht es auch Bloch darum, einer einseitigen Regression im Sinne von Klages eine Dialektik von Regression und Progression entgegenzusetzen. Gegenstand sind dabei gerade auch die ‚Bilder‘ selbst, die als ‚Urbilder‘ oder „Archetypen“ eben nicht im Klages’schen oder Jung’schen Sinne zu verstehen sein sollen. Im Hinblick auf das im Treppenhaus dargestellte „Weib “ lässt sich das Motiv des Auf- und Absteigens auf ihr oszillierendes Bild übertragen, das zudem durch seine allegorischen Momente eine Arbitrarität der Zuweisung ausstellt. Eine Abgrenzung von ahistorischen und universellen ‚Urbildern‘ lässt sich aber auch allgemein an der Darstellung von weiblichen Figuren in der Berliner Kindheit ablesen. Während es durchaus eine Anzahl weiblicher Figuren gibt, denen man im Hinblick darauf, dass sie wie die „Mütter“ in Goethes Faust nur über paradoxes Auf- bzw. Absteigen zu erreichen sind, diese Bezeichnung geben könnte, so hat Benjamin doch auch diese Figuren mit seiner Sprachphilosophie in Beziehung gesetzt und damit eine allzu große Nähe zu Klages und Jung vermieden.

2.4.2 Abwesenheit des Todes und der Toten Die „Stiegen“ in der Berliner Kindheit führen allesamt zu den älteren weiblichen Anverwandten des Kindes, so zur Großmutter in „Blumeshof 12“ oder zur alten Tante Lehmann in „Steglitzer Ecke Genthiner“. 64 Auch in „Blumes61 62 63

64

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Zweiter Band, Berlin 1955, S. 417f. Ebd. „Ein tiefer Blick bewährt sich darin, daß er doppelt abgründig wird. Nicht nur nach unten, was die leichtere, die mehr buchstäbliche Art ist, in den Grund zu gehen. Sondern eben, es gibt auch eine Tiefe nach oben und vorwärts, diese nimmt Abgründiges von unten in sich auf. Zurück und vorwärts sind dann wie in der Bewegung eines Rades, das zugleich eintaucht und schöpft. Wirkliche Tiefe geschieht allemal in doppelsinniger Bewegung: ‚Versinke denn! Ich könnt‘ auch sagen steige! ’s einerlei‘, ruft Mephisto dem Faust zu.“ Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Berlin 1954, S. 174. „Steglitzer Ecke Genthiner“ ist überhaupt nicht und „Blumeshof 12“ nicht in signifikanter Weise bearbeitet worden, wie ein Vergleich der „Gießener Fassung“ mit der „Fassung letzter Hand“ zeigt.

2.4 DIE AHNEN ALS ENTFERNTE FIGUREN UND FIGUREN DER ENTFERNUNG

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hof 12“ wird die Stiege für das Kind zum Ort einer intensiven Erfahrung – einer Erfahrung bannender Nähe: Das Stiegenhaus, das ich betrat, erwies sich als Wohnsitz eines Alps, der mich zuerst an allen Gliedern schwer und kraftlos machte, um schließlich, als mich nur noch wenige Schritte von der ersehnten Schwelle trennten, mich in Bann zu schlagen. (GS VII.1 412)

Das Kind fürchtet sich, derart in dieses Zwischenreich gebannt, weil die Wohnräume der Großmutter eines ausschließen: „Es gab in ihnen keinen Platz zum Sterben [...]. In ihnen war der Tod nicht vorgesehen. Darum erschienen sie bei Tage so gemütlich und wurden nachts der Schauplatz böser Träume.“ (Ebd.) Weder die Großmutter mütterlicherseits noch die Mutter des Vaters, die „ihr gegenüber wohnte“, starben in der eigenen Wohnung. Der Ausschluss des Todes verhindert, dass das Kind sich die Großmütter als verstorbene denken kann: „So ist die Straße mir zum Elysium, zum Schattenreich unsterblicher, doch abgeschiedener Großmütter geworden.“ (GS VII.1 412) Sie scheinen nicht tot zu sein, aber sie sind fort; was bleibt, ist die zum „Schattenreich“ gewandelte Straße. Solches ‚Fortsein‘ zeichnet indes auch die lebendige Großmutter aus, zieht es sie doch in die Ferne: Sie macht „große Seefahrten oder gar Ausflüge in die Wüste unter der Leitung von ‚Stangens Reisen‘“ (GS VII.1 411). An die Stelle ihrer körperlichen Präsenz, die bewusst ausgespart bleibt, tritt daher schon zu Lebzeiten ihre „große, bequeme Handschrift, die den Fuß der Bilder [der Ansichtspostkarten] umspielte, oder sich in ihrem Himmel wölkte“ (ebd.). Die Großmutter ist nicht die einzige Figur, deren Körper durch das Schriftbild ihrer Handschrift ersetzt wird, – ein weiteres Beispiel wäre das Fräulein Pufahl. 65 Zu diesen körperlos scheinenden Figuren gehört ebenso die Tante Lehmann in „Steglitzer Ecke Genthiner“, zu deren Wohnung eine „Stiege“ führt, „steil und atemraubend [...] wie ich es später nur noch in Bauernhäusern gefunden habe“ (GS VII.1 400). Die Tante Lehmann, die dort oben in der „düstern Wohnung“ (ebd.) wartet, ist ein solch mortifizierter Mensch, wie Benjamin ihn in der Berliner Chronik, diese Darstellungsweise antizipierend, beschrieben hatte.66 Die Tante ist zwar nicht tot, aber sie erscheint körperlos, unbeweglich und unveränderlich: In jede Kindheit ragten damals noch die Tanten, die ihr Haus nicht mehr verließen, die immer, wenn wir mit der Mutter zu Besuch erschienen, auf uns gewartet hatten, immer unter dem gleichen schwarzen Häubchen und im gleichen Seidenkleide, aus dem gleichen Lehnstuhl, vom gleichen Erkerfenster uns willkommen hießen (GS VII.1 398f.).

In der Reihung dieser scheinbar unveränderlichen Gegebenheiten vom kleinen Detail zu den räumlichen Gegebenheiten bleibt ihr Körper ausgespart und wird 65 66

Vgl. Kap. II.3.3. Wenn „sie selbst ganze Viertel mit ihre Namen erfüllen so ist es auf die Art, wie der des Toten den Denkstein auf seinem Grabe“ (GS VI 489).

130

2. DIE TOTEN

durch die Textilien, das Mobiliar und sogar die Immobilie ersetzt. Die Unbeweglichkeit der Tante Lehmann, die man als Beschränktheit zu deuten versucht ist, steht in Kontrast zu ihrem großen Wirkungskreis: „Wie Feen, die ein ganzes Tal durchwirken, ohne noch je darein hinabzusteigen, durchwalteten sie ganze Straßenzüge, ohne jemals in ihnen zu erscheinen.“ (GS VII.1 399). Diesem Wirkungskreis der Tante Lehmann gibt Benjamin einen exakten topographischen Ort: Sie residiert in einem „Erker [...], unter dem die Steglitzer in die Genthiner Straße mündet“. Dem Kind sagt der Berliner Vorort „Steglitz“ nichts (vgl. GS VI 472), darum sucht es eine andere Erklärung für den Namen und verfällt auf seine Ähnlichkeit mit dem eines Vogels. Der Vogel Stieglitz schenkte ihr [d.i. der Straße] den Namen. Und hauste nicht die Tante wie ein Vogel, der reden konnte, in ihrem Bauer? Stets wenn ich ihn betrat, war er erfüllt vom Zwitschern dieses kleinen, schwarzen Vogels, der über alle Nester und Gehöfte der Mark, wo seine Sippe einst verstreut gesessen hatte, hinweggeflogen war und beider Namen – der Dörfer und der Sippschaft – die so oft die gleichen waren, im Gedächtnis hatte. (GS VII.1 399)

Die (räumliche) Unbeweglichkeit der Tante hat eine Kehrseite in ihrer (zeitlichen) Weitschweifigkeit. Ihr ‚Flug‘ reicht in die Ferne, zurück in eine Vergangenheit, in der die Ahnen noch durch ihren Namen mit dem Ort verbunden waren, an dem sie lebten. Diese Verbindung von Name und Ort ist nun gelockert, wenn nicht gelöst, denn „ihre Söhne und vielleicht schon Enkel [waren] hier im alten Westen heimisch, in Straßen, die die Namen preußischer Generäle und manchmal auch der kleinen Städte trugen, aus denen sie hierher gezogen waren“ (ebd.). Als Erwachsener erinnert sich der Erzähler an seine Ahnen und an die Orte, wo sie gelebt haben mögen: Wenn die entfernten Verwandten nicht die Häuser, sondern „deren Schatten [...] vor Zeiten hinter sich gelassen“ haben, klingt das, als hätten nicht die Lebenden, sondern die Toten diesen Ort verlassen. Sie erscheinen darum als ortlose Abgeschiedene, die sich noch als Gestorbene zerstreuen und vereinzeln.67 Von ihrer „Vergegenwärtigung“ an einem bestimmten Ort, an einer Gedenkstelle kann daher keine Rede sein.68 Es sind nicht einmal die Vorfahren selbst, die hier der „Fernenneigung“ (GS IV.1 368) des Erzählers Nahrung geben, sondern jene „abgeschiedenen Flecken“. Schließlich verunsichert die Formulierung des Satzes als Frage (in der „Gießener Fassung“ ist sie noch durch ein Fragezeichen markiert), ob dies tatsächlich die Orte sind, an denen die Verwandten lebten. Da67

68

Es mag daher als eine Art Gegenbewegung erscheinen, wenn das Kind seine abgeschiedenen Großmütter und seinen Großvater in einer Straße ‚versammelt‘: „Und weil die Phantasie, wenn sie einmal den Schleier über eine Gegend geworfen hat, gern seine Ränder von unfaßlichen Launen sich kräuseln läßt, hat sie ein Kolonialwarengeschäft, das in der Nähe liegt, zu einem Denkmal des Großvaters gemacht, der Kaufmann war, nur weil sein Inhaber auch Georg hieß.“ (GS VII.1 412) Anders als bei Klages’ ‚Anamnesis‘ vergegenwärtigen sich keine „Vergangenheitsseelen“ und mithin keine „Urbilder“. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 179.

2.5 DER „GROßE STERN“: ‚PLATONISCHE LIEBE‘ DES TOPOGRAPHISCHEN NAMENS

131

mit wird einerseits der konkrete (und individuelle) Ort des Totengedenkens durch die Suche nach besonderen „abgeschiedenen Flecken“ ersetzt, andererseits finden in der Aufzählung der „Schönfließ, Rawitschers, Landsbergs, Lindenheims und Stargards“ (GS VII.1 399) noch einmal Name und Ort zusammen.

2.5 Der „Große Stern“: ‚Platonische Liebe‘ des topographischen Namens 2.5.1 (Platonische) Liebe und Tod In Hessels Spazieren in Berlin möchte der Erzähler vorgeblich am Leben der anderen teilhaben, wird aber immerzu zurückgehalten oder hält sich selbst zurück. Es bleibt ihm, der von den misstrauischen Menschen nicht eingelassen wird, nur der Zutritt über jene halböffentlichen Zwischenbereiche: der Gang in die Hinterhöfe, der Blick durch die Fenster.69 Diese distanzierte Perspektive des Melancholikers färbt auf die Stimmung des Textes ab. In der Berliner Kindheit erfährt das kindliche Ich solches Ferngehaltensein als räumliche Abgeschiedenheit: „Und so war dieser Park, der wie kein anderer den Kindern offen scheint, auch sonst für mich mit Schwierigem, Undurchführbarem verstellt.“ (GS VII.1 394) Diese ‚Verstellung‘ der Wege ist besonders eindrücklich am Beispiel der Statuen im Garten: Friedrich Wilhelm, Königin Luise, Prinz Louis Ferdinand, sie alle erscheinen dem Kind abgeschieden, einmal durch die ‚Wasserläufe‘, die sie vom Kind trennen, dann durch ihre Größe: „Lieber als an die Herrscher wandte ich mich aber an ihre Sockel, weil, was darauf vorging, wenn auch undeutlich im Zusammenhange, näher im Raum war.“ (Ebd.) Zu Füßen des Prinzen Louis Ferdinand stehen „Krokus und Narzisse“, auch sie sind „so unberührbar, als wenn sie unter einem Glassturz gestanden hätten“. Der erwachsene Erzähler gibt eine Erklärungen wieder, die er (vermeintlich70 ) als Kind für sich fand: So kalt im Schönen mußte fußen, was fürstlich ist und ich begriff, warum Luise von Landau, mit der ich im Zirkel gesessen hatte bis sie gestorben war, am Lützowufer gegenüber von der kleinen Wildnis hatte wohnen müssen, die ihre Blüten von den Wassern des Kanals netzen läßt. (Ebd.) 69 70

Vgl. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 10. Die Authentizität dieser ‚kindlichen‘ Einsicht ist durch Benjamins Bemerkungen über die Doppeldeutigkeit des Wassers im Wahlverwandtschaften-Aufsatz infrage gestellt, wo er eine ähnlich anmutende Zeile aus Julius Walters Ästhetik im Altertum zitiert: „Das bewegliche Element, wie es zunächst den Fuß der Schreitenden umspült, benetzt Schönheit spendend die Füße der Göttinnen“. (GS I.1 183)

132

2. DIE TOTEN

Luise von Landau teilt mit den historischen Persönlichkeiten einen tragisch verfrühten Tod und mit ihren versteinerten Figuren die Nähe zu blumenbestandenen Wasserläufen. Diese Kontiguität wird dem Kind zur Kausalität. Was das Kind hier erfährt, fällt ihm „als Wort erst später zu [...]: Liebe“. Doch selbst diese Erfahrung bleibt nicht ‚unverstellt‘, denn „leider taucht das ‚Fräulein‘ an seiner Quelle auf, das sich als kalter Schatten darüber legte“ (ebd.). Das unbekannte „Fräulein“ und ihr „kalter Schatten“ sprechen gleichermaßen von erzieherischen Eingriffen wie vom ‚Eingriff‘ des verfrühten Todes, die eines mit Bestimmtheit ausschließen: die körperliche Nähe. Und so erlebt das Kind als erste Liebe jene Verbindung von Eros und Unnahbarkeit, die Benjamin als „platonische Liebe“ bezeichnete – und die er aufs Engste mit dem Namen verbunden sieht. 71

2.5.2 Topographische Realitäten und mythische Bedeutung Seit Ovids Erzählung von Pygmalion ist die Verlebendigung von Statuen ein Topos der Literatur. Er findet sich auch bei Hessel: Von uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. [...] Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese Heidenmädchen uns angesehen haben. 72

Hessel sucht zumeist nach konkreten Beispielen, auch um den Leser einzubeziehen, der sich an die eigenen kindlichen Erfahrungen einer animierten Welt erinnern soll. Er beschreibt sehr viel ausführlicher als Benjamin bestimmte architektonische Zierfiguren, wiederholt eine erste Unterrichtsstunde über „Säulenarten“, die er als Kind bekommen hat73 , und versucht mit leicht ironischem Unterton einige der allegorischen Gestalten zu entschlüsseln: Ein „Merkurbübchen“ und eine „winzige nackte Landwirtin “ – „das bedeutet gewiß den Bund von Handel und Landbestellung “. 74 Diese Elemente der historistischen Gründerzeit-Architektur stellen zunächst nur einen oberflächlichen Bezug zur Antike her. Indem Benjamin die Verlebendigung der steinernen Figuren in „Tiergarten“ einerseits an die kindliche Erfahrung knüpft, die Ähnlichkeiten mit der mythischen aufweist, und andererseits in sein Konzept der „platonischen Sprachliebe“ (GS II.1 362) einbindet, stellt er eine intensive Beziehung zum Mythos her. Marginale Figuren wie „Karyatiden und Atlanten, [...] Putten und Pomonen“ (GS VII.1 395) sind weder architektonischer

71 72 73 74

Vgl. Kap. I.3.2 und I.3.3. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114.

2.5 DER „GROßE STERN“: ‚PLATONISCHE LIEBE‘ DES TOPOGRAPHISCHEN NAMENS

133

Schmuck noch bloße Allegorie – es geht um eine „Wirklichkeit der Bilder“ 75 , wie sie der Mythos, aber auch das Kind noch kennt. Unter dem Blick dieser Figuren kehrt nun das Kind, „das sich vor dreißig Jahren mit der Mappe an ihrem Fuß vorbeigeschoben hatte“, als Erwachsener zurück, dem sich der altbekannte Ort erneut verfremdet: In ihrem Zeichen [dem der Karyatiden und Atlanten, der Putten und Pomonen] wurde der alte Westen zum antiken, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn mit den Äpfeln der Hesperiden langsam den Landwehrkanal heraufflößen, um bei der Brücke des Herakles anzulegen. Und wieder hatten, wie in meiner Kindheit, die Hydra und der Nemeische Löwe 76 Platz in der Wildnis um den Großen Stern. (Ebd.)

Der letzte Satz verschränkt verschiedene ungleichzeitige Dimensionen miteinander. Bestimmte Namen rufen die Topographie der Stadt Berlin auf, etwa der „Landwehrkanal“ und der „Große Stern“. Zugleich ist diese Topographie mit einer mythologischen Dimension überblendet, die sich wiederum aus den architektonischen Gegebenheiten des Ortes ableitet: Ausgangspunkt ist die Heraklesbrücke am Lützowufer, die Statuen von Herakles im Kampf mit dem Kentauren sowie dem Nemeischen Löwen trägt (Hessel beschreibt sie en detail77 ). Den Kentauren ersetzt Benjamin allerdings durch die Hydra. Im Namen dieser mythologischen Ungeheuer konvergieren Untergang und Erhebung: Herakles tötet zwar die Monstren, nach ihrer Vernichtung werden sie jedoch ans Firmament versetzt und erlangen so als Sternbilder Unsterblichkeit. Die Formulierung „in der Wildnis“ evoziert auf der einen Seite konkrete Ungetüme, auf der anderen Seite aber entfaltet sich die Assoziationsmacht des Namens „Großer Stern“. – Und „einen Platz“ in seiner Nachbarschaft haben die Hydra und der Nemeische Löwe allein als Sternbilder. In dieser Konstellation wird der Platz im Zentrum des Tiergartens, der so genannt wird, weil mehrere große Straßen strahlenförmig auf ihn zulaufen, (als Name) ans Firmament entrückt, zugleich kommen die fernen Sternbilder durch seinen konkreten topographischen Ort nah. Benjamin versucht hier, was er zuerst an Dantes Werk als „platonische Liebe“ beschrieben hatte: den Namen zu entrücken, um das Entfernte anzunähern.78 Anders als bei Dante, dessen „Fernenneigung“ (GS IV.1 368) auf den Namen der Geliebten gerichtet ist, ist sie hier auf Namen übertragen, die nicht Personen, sondern Orten zugehören. Der „Große Stern“ ist nun seiner topographischen Bedeutung enthoben: er steigt auf. Als Sternbilder in seiner Nähe sind die mythischen Monstren vernichtet und ‚geret75 76

77 78

Vgl. dazu das mehr auf Klages als auf Bachofen bezogene Kapitel von Carl Albrecht Bernoulli: Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol, Basel 1924, S. 386-396. Muthesius gibt an, dass in der Handschrift der „Fassung letzter Hand“ eigentlich der „Lernäische Löwe“ genannt werde und schließt daran eine Interpretation an, die Herakles als patriarchalischen Logos identifiziert, der gegen den weiblichen Mythos, verkörpert als Löwe und Schlange, kämpft. Vgl. Muthesius: Mythos Sprache Erinnerung, S. 201ff. und 261. Vgl. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 111f. Vgl. Kap. I.3.2.

134

2. DIE TOTEN

tet‘. 79 Zugleich sind aber diese Monstren in die „Wildnis“ im „Tiergarten“, an einen konkreten Ort in die Stadt Berlin versetzt und ihre ‚Rettung‘ hat (noch) nicht stattgehabt. „Tiergarten“ endet mit einem Vexierbild80 , in welchem eine Mythisierung des Alltäglichen und die Hoffnung auf ‚Rettung‘ unauflösbar miteinander verschränkt sind.

79

80

Von „Rettung“ und der „Erlösung von Schuld“ spricht Muthesius: Mythos Sprache Erinnerung, S. 202. Stüssi nennt es eine ‚Erlösung‘ vom „mythischen Bann“. Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 55. Vgl. Rainer Nägele: Vexierbilder des Lebens, S. 32. Das „Vexierbild [ist], eingezeichnet in ein anderes Bild, sichtbar nur dem Blickwechsel, dem die Konturen der Zwischenräume die versteckte Figur zeigen“.

3. DER NAME

3.1 Die Darstellung der Kindheit in den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit „Das Glück jener Kindheit [...] ist von Ohnmacht, Entstellung, Ungeschicktheit, Warten, Vergessen und Alleinsein durchdrungen“, schreibt Burkhardt Lindner über die Darstellungen der Berliner Kindheit. 1 Er könnte damit auch die Kindheit in der Einbahnstraße meinen, denn die Berliner Kindheit und die Einbahnstraße sind bekanntlich textgenetisch durch sechs Texte verbunden, die in der Einbahnstraße unter dem Titel „Vergrößerungen“ gesammelt sind (vgl. GS IV.1 113-116). Benjamin hat einige dieser Texte in verschiedene Fassungen der Berliner Kindheit übernommen.2 Es erstaunt indessen, wie unterschiedlich „Kindheit“ in der Berliner Kindheit und der Einbahnstraße von der Benjamin-Forschung eingeschätzt wird. Während in der Einbahnstraße das Kind etwa als „Statthalter einer befreiten Menschheit“ 3 gilt, ist die zitierte Negativität Grundtenor der Forschung zur Berliner Kindheit. 4 Das Potential der Kindheit steht jedoch durchaus in Beziehung zu den Unvermögen, darunter den Missverständnissen, des Kindes. Sie und andere ‚negative‘ Erfahrungen haben Ähnlichkeit mit jenen, die Benjamin als Beispiele einer „profanen Erleuchtung“ anführt5 : Das Warten, die Einsamkeit (GS II.1 308f.) – und auch die Liebe, wenn sie sich nicht auf eine Person, sondern auf „die Dinge, denen sie nahe ist“, richtet (GS II.1 299). Nun setzt Benjamin sein Anliegen 1

2

3

4

5

Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die Berliner Kindheit und die Archäologie des „Jüngstvergangenen“, S. 29. Vgl. Kap. II.1. Während in der Einbahnstraße „es“, das Kind, von außen betrachtet und deutlich von der Erzählerperspektive geschieden wird, ist solche Differenzierung in der Berliner Kindheit schwieriger, da sowohl die kindliche als auch die erwachsene Perspektive unter dem Pronomen Ich auftritt. Im Folgenden wird daher gelegentlich von einem erwachsenen Erzähler gesprochen, um diese Perspektive von der des Kindes in den Texten abzugrenzen. Bernd Witte: Walter Benjamins Einbahnstraße. Zwischen ‚Passage de l’Opéra‘ und Berlin Alexanderplatz, in: Walter Benjamin 1892-1940, zum 100. Geburtstag, hg. v. Uwe Steiner, Bern 1992, S. 249-272, hier: S. 252. Eine ähnliche Tendenz findet sich bei Jennings: „Trugbild der Stabilität“, S. 527: „Im vorliegenden Text [d.i. „Baustelle“], also 1928, schreibt er [d.i. Benjamin] den Kindern die Macht zu, die festgefahrenen Strukturen der Gesellschaft zu umgehen“. Giuriato etwa verbindet die Kindheit mit dem Begriff des Barbarentums, vgl. Giuriato: Mikrographien, S. 16. Dieses Moment des Rückgangs aufs „Entmenschte“ (ebd.) sei allerdings produktiv. Vgl. dazu auch Kap. I.4.1.

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3. DER NAME

der ‚Profanisierung‘ bestimmter Erfahrungen in der Berliner Kindheit auf der einen Seite fort, indem er, wie im ersten Kapitel deutlich wurde, die alltäglichsten Orte der Stadt Berlin zum Schauplatz solcher Erfahrungen macht, auf der anderen Seite werden diese Orte aber mit einer alles andere als profanen Bedeutung aufgeladen. Dabei spielt vor allem Benjamins Konzept der „platonischen Sprachliebe“ (GS II.1 362) eine wesentliche Rolle. Die „platonische Sprachliebe“ steht in der Berliner Kindheit in besonderer Beziehung zum Tod, der als absolute Vereinzelung der Einsamkeit des Kindes entspricht. Jene Einsamkeit, die das Kind in der Berliner Kindheit erfährt, ist in den frühsten Aufzeichnungen der Berliner Chronik noch nicht dargestellt. Sie sagt dementsprechend wenig über biographische Tatsachen aus, sondern wird durch bestimmte Textverfahren erst hergestellt, wie ein exemplarischer Vergleich der verschiedenen Fassungen verdeutlicht: In der Berliner Chronik sind Eltern, Freunde und Bekannte noch präsent. Im Überarbeitungsschritt zur „Gießener Fassung “ verschwinden sie oder werden derart ‚schattenhaft‘, wie Benjamin es bereits in der Berliner Chronik reflektierte (vgl. GS VI 488). Auch andere Streichungen und Beschränkungen, die zum Teil als Auslöschungen und darstellungsimmanente Markierung einer Unverfügbarkeit gelesen worden sind6 , haben offensichtliche Darstellungsziele. Sie verdichten den Text, d.h. es werden textimmanente Referenzen verstärkt, wie dieses Kapitel im Vergleich einer Passage aus der Berliner Chronik (GS VI 503-505) mit einem Text aus der „Gießener Fassung “, „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ (GF 40-42), zeigen wird. „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ wiederum soll im Vergleich zu seiner überarbeiteten und umbenannten Version in der „Fassung letzter Hand“ betrachtet werden („Zwei Rätselbilder“, vgl. GS VII.1 400f.). Im Zuge der Umarbeitungen verändert sich der Zugriff auf das Erinnerte deutlich: Während in der Berliner Chronik zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse miteinander verknüpft und Kontexte erklärt werden sowie späteres Wissen in die Erzählung einfließt, fokussiert sich der Blick des Erzählers in der „Gießener Fassung“, mehr noch in der „Fassung letzter Hand“, auf wenige Episoden; Beziehungen werden dort nur noch zwischen diesen Momenten hergestellt. Solche Steigerung der Bezüge im Text ist auch am Umgang mit intertextuellen Verweisen in der Berliner Kindheit insgesamt ablesbar: In den frühen Aufzeichnungen, in der „Gießener Fassung“ eher als in der Berliner Chronik, wird an einigen Stellen explizit, an anderen implizit auf Kafka angespielt. 7 In „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ ist die Anspielung eher indirekt – Benjamin verwendet die Metapher eines verschlossenen Tores, dessen Vieldeutigkeit mit der des Tores in Kafkas „Vor dem Gesetz“ korrespondiert. Benjamin streicht diese Allusion im Laufe der Überarbeitungen zugunsten eines Bildes, 6 7

Vgl. Giuriato: Mikrographien, S. 62. Ein anderes Beispiel wäre die Erwähnung von Odradrek aus Kafkas „Die Sorge des Hausvaters“ im Text „Mummerehlen“. Der Verweis ist in der „Fassung letzter Hand“ nicht mehr zu finden (vgl. Kap. II.5.1).

3.2 DAS ‚VERSCHLOSSENE TOR‘ DES ERWACHSENSEINS

137

das er durch die Zusammenführung verschiedener Motivstränge aus dem Text herausarbeitet.

3.2 Das ‚verschlossene Tor‘ des Erwachsenseins In der Berliner Chronik erinnert sich Benjamin auf wenigen Seiten an seine (Vor-)Schulzeit: An die Erzieherin Fräulein Pufahl, den Lehrer Herr Knoche, seine Mitschüler und Mitschülerinnen – vor allem an jene, die aus einem gehobenen Elternhaus kamen: Ilse Ullstein und Luise von Landau. „Was diese Landaus für ein Adel waren weiß ich nicht. Der Name aber übte eine gewaltige Anziehungskraft auf mich aus und auf meine Eltern – manches gibt mir das Recht, das anzunehmen – wohl keine kleinere.“ (GS VI 504) Ihr Name bleibt dem Kind nun aber aus einem anderen Grunde im Gedächtnis – er war „der erste [...], auf den ich mit Bewußtsein den Akzent des Todes fallen hörte“. Diese Begegnung mit dem Tod ist eine der beiden Erfahrungen, die den Kern von „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ („Gießener Fassung “) bzw. „Zwei Rätselbilder“ („Fassung letzter Hand“) bilden. Die zweite Erfahrung macht das Kind im „Gesangunterricht“ bei Herrn Knoche. Es wurde das Reiterlied aus Wallensteins Lager geübt. „Frisch auf Kameraden, aufs Pferd aufs Pferd, in das Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde da ist der Mann noch was wert, da wird das Herz noch gewogen. “ (GS VI 504f.)

Ein Moment des Unvermögens haftet in der Erinnerung, denn keines der Kinder versteht die Worte „da wird das Herz noch gewogen“ (GS VI 505). Herr Knoche macht sie, die die Wendung gar nicht anders als buchstäblich verstehen können, „begriffsstutzig “ (ebd.). Benjamin stellt dieses noch versagte Verstehen in der Metapher eines verschlossenen Tores dar. Herr Knoche zeigte „vor mir eines jener Tore [...], das wir alle aus unserer Kindheit und vor dessen verschlossenen Flügeln man uns versichert, daß sie den Weg ins spätere, in das wirkliche Leben freigeben“ (GS VI 504). Der Lehrer verspricht, die Kinder würden die Wendung verstehen, wenn sie „groß“ seien. In der Metapher des ‚verschlossenen Tores‘ hieße das: Sie könnten es einmal durchschreiten und auf der anderen Seite das lang ersehnte „wirkliche Leben“ (ebd.) finden. Diese Erwartung wird aus Sicht des erzählenden Ichs, das mittlerweile „groß geworden“ ist (GS VI 505), enttäuscht. Das erwachsene Ich steht jetzt zwar „auf der Innenseite des Tores“, es ist aber immer noch verschlossen. Sich bloß auf der anderen Seite, der Innenseite wiederzufinden, erfüllt die unbestimmten kindlichen Hoffnungen nicht. In Erfüllung gingen die Hoffnungen wohl erst mit der Öffnung des Tores und dem Überschreiten der Schwelle. Während das ‚verschlossene Tor‘ so zunächst das Kind ausschloss,

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3. DER NAME

schließt es nun den Erwachsenen in einem ortlosen Innen ein. Es entsteht ein Sog in die Zukunft, wie ihn schon das Kind erfahren hatte. Zugleich trennt das Tor den Erwachsenen von seiner Kindheit, von seiner Vergangenheit ab, so wie das Kind vom Erwachsenendasein, der Zukunft abgeschieden ist. Das ‚verschlossene Tor‘ ist schließlich nicht nur temporal zu interpretieren, denn der „Innenseite“, der Immanenz, entspricht die andere Seite als ein (transzendentes) Jenseits, in dem das „wirkliche Leben“ (GS VI 504) – erst oder noch – wartet.

3.3 Der „geliebte Name“ 3.3.1 Entfernte Figuren und Schrift als Figur In der „Gießener Fassung“ beginnt der Text „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ mit fast denselben Worten wie die Episode in der Berliner Chronik: „Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige, deren Schriftseite mir deutlicher in Erinnerung haftet als das Bild.“ (GF 40) Das Schlüsselwort „Bild “ ersetzt hier die „Ansichtsseite“ der Postkarte (GS VI 503), die Namen von Herrn Knoche und Fräulein Pufahl überschreiben in dieser Version den Text. In der „Gießener Fassung“ lässt Benjamin einige Erinnerungen aus, vor allem solche, die in der Berliner Chronik nicht mehr auf das Kind, sondern auf den jungen Erwachsenen bezogen waren. Ein Beispiel wäre jener dort erwähnte Schul-Essay „Gedanken über den Adel“ (GS VI 504). Auch allgemein tritt das Thema der gesellschaftlichen Klassen in den Hintergrund, weil Benjamin etwa die Bemerkung über die Doppeldeutigkeit des Wortes streicht.8 Stattdessen steht das Kind mit seinem Erfahrungshorizont im Vordergrund: und in diesen gehört die Sprache. Die Erinnerung an die Postkarten wird von Fräulein Pufahls Handschrift und insbesondere von ihrer „schöne[en], leserlich[en] Unterschrift“ angestoßen (GF 40). Schon in der Berliner Chronik war die Lehrerin als Person nicht unmittelbar präsent. Nichts erfuhr man über ihr Alter, ihr Aussehen oder ihren Status. In der Berliner Kindheit wird diese Leerstelle mit ihrer Unterschrift besetzt. Ihr Name wird zum Material: Das P, mit dem er anhub, war das P von Pflicht, von Pünktlichkeit, von Primus; f hieß folgsam, fehlerfrei und was das l am Ende anging, war es die Figur von lammfromm, lobenswert, lernbegierig. (GF 40)

8

In der Berliner Chronik heißt es noch: „Lange bevor ich eine Schulklasse kennen lernte, trat ich durch sie in nähere Beziehung zu Kindern meiner ‚Klasse‘ in dem Sinn des Wortes, den ich erst zwei Jahrzehnte später kennen lernen sollte.“ (GS VI 504)

3.3 DER „GELIEBTE NAME“

139

Die Buchstaben vereinzeln sich und die drei Konsonanten des Namens werden Anfangsbuchstabe von je drei Tugenden. Das Schriftbild, nicht die Lehrerin, wird dem Kind zur „Figur“ (ebd.) schülerischen Wohlverhaltens, denn die Buchstaben stehen für das Kind in einer sinnlich wahrnehmbaren Relation zum Inhalt – den benannten Tugenden. Der Erzähler relativiert einerseits diese Spielerei durch die Verwendung des Irrealis: „So wäre diese Unterschrift, wenn sie, wie die semitischen aus Konsonanten allein bestanden hätte, nicht nur der Sitz kalligraphischer Vollkommenheit, sondern Wurzel aller Tugenden.“ (GF 40, Hervorhebung E.A.) Der Hinweis auf die semitischen Sprachen bestätigt andererseits das Kind, denn im Hebräischen ist jeder Buchstabe des Alphabets „Wurzel“ eines Wortes (so wäre „f“ die „Wurzel“ von „folgsam“) und hat als Bild entfernte Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Ding.9 Der Name Pufahl referiert in Benjamins Text daher nur schwach auf den lebendigen Menschen. Es sind fast alle Bezüge zur Person abgebrochen, sieht man einmal von ihrer Funktion als Lehrerin ab, die sich in den neu gebildeten Worten widerspiegelt. Wie das Wort, das im Zitat beim ‚Namen aufgerufen‘ (vgl. GS II.1 363), d.h. vereinzelt wird, indem seine Bezüge zu den umstehenden Wörtern im eigentlichen Kontext unterbrochen werden, so vereinzeln sich hier die Buchstaben und lösen ihre gemeinsame Verbindung auf. Das Wort steht als Name „einsam und ausdruckslos“ (ebd.)10 , ihm geht der ‚Schein der Lebendigkeit‘ ab. Solcher ‚Schein‘ ist dem Namen „Pufahl“ der Hauch. Die Reduktion des Namens auf die Konsonanten distanziert ihn von der gesprochenen, auf Präsenz angewiesenen Sprache. Es ist ein Rückzug auf die ‚toten‘ Schriftzeichen. Der Name ist in seiner Lautlichkeit auf das blanke Gerüst verknappt: ohne die Vokale wirkt das Schriftbild bis auf die Knochen reduziert (P F L).11 Wo im Konzept des Zitats nun der doppelgesichtige „Ursprung“ (GS II.1 361) steht, an welchem das Wort nicht nur Name, sondern auch Reim ist, findet sich in der Berliner Kindheit die „Wurzel“. Wie im Reim über Ähnlichkeiten neue Verbindungen entstehen, kann auch der vereinzelte Buchstabe „Wurzel“, Beginn nicht nur eines, sondern vieler Worte werden. Indem Benjamin diese Worte um das Thema der schülerischen Tugend kreisen lässt, spielt er mit der Arbitrarität der Zuweisung. Würde der Kontext der Schule nicht einschränkend wirken, so ließen sich weitaus mehr Worte finden, die in 9

10

11

Es scheint, als würde sich im kindlichen Spiel die jüdische Überzeugung widerspiegeln, der Name Gottes sei Wurzel aller anderen Namen. Vgl. dazu Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, hier: S. 270. Vgl. etwa die verschiedenen Deutungen des „Ausdruckslosen“ als „Erhabenes“ durch Winfried Menninghaus: Das Ausdruckslose. Walter Benjamins Kritik des Schönen durch das Erhabene, in: Walter Benjamin 1892-1940 zum hundersten Geburtstag, hg. v. Uwe Steiner, Bern 1992, S. 33-76, oder Rainer Nägele: The Eyes of the Skull: Benjamin’s Aesthetics, in: Ders.: Theater, Theory, Speculation: Walter Benjamin and the Scenes of Modernity, Baltimore, London 1991, S. 108-135. Auch innerhalb der Adjektivreihen findet sich eine Reduktion der aus dem Namen Pufahl abgeleiteten Konsonanten: So hat PFLicht alle drei, FLeißig nur noch die beiden zweiten, und die Adjektive mit „l“ nur noch den dritten Konsonanten als „Wurzel“ (GF 40).

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3. DER NAME

diesen drei Buchstaben ‚wurzeln‘. Damit würde aber auch die Kategorie der Ähnlichkeit, die hier wirksam scheint, unterminiert. Die Vereinzelung und Verkürzung des Namens hat so eine (eingegrenzte) Potenzierung der Bedeutungsvielfalt zur Folge.12

3.3.2 Das Kenotaph: Die abwesende Tote Fräulein Pufahl ist wie die Tante Lehmann oder die Großmutter in „Blumeshof 12“ abgeschieden13 ; den Inbegriff solcher Abgeschiedenheit stellt in der Berliner Kindheit jedoch Luise von Landaus Name dar. Das Mädchen, das ebenso wie Fräulein Pufahl körper- und gestaltlos bleibt, saß mit dem Kind im „Zirkel“. In der „Gießener Fassung “ wird die Beziehung des Kindes zu Luise im Vergleich zur Berliner Chronik noch hervorgehoben, indem die Eltern und ihr möglicher Einfluss keine Erwähnung mehr finden. Doch fühlt sich das Kind nicht eigentlich zu Luise hingezogen, sondern zu ihrem Namen. Noch für den erwachsenen Erzähler gilt, dass der Name Luise von Landau lebendig bleibt, weil der Mensch Luise von Landau tot ist: „Bis heute blieb er [der Name] mir lebendig, doch nicht darum. Er war vielmehr der erste unter denen Gleichaltriger, auf den ich den Akzent des Todes fallen hörte.“ (GF 40) Die Faszination des Kindes für diesen Namen verbindet sich in der Berliner Chronik mit dem Haus des Mädchens am Lützowufer (vgl. GS VI 504). In der „Gießener Fassung“ verlagert sich die Suche auf das Elternhaus, das nunmehr zum Anhaltspunkt für ein Gärtchen wird, welches diesem gegenüberliegend „in das Wasser [des Kanals] hängt“ (GF 40). Das „Blumenbeet“ am anderen Ufer hat in den Augen des Kindes Ähnlichkeit mit einer Grabstätte (GF 40f.). Es handelt sich um ein besonderes Grab: Und dessen [d.i. des Gärtchens] Anblick verwob sich mit der Zeit so innig mit dem geliebten Namen, daß ich schließlich zur Überzeugung kam, das Blumenbeet, das drüben unberührbar prange, sei der [sic] Kenotaph der kleinen Abgeschiedenen. (GF 40f.)

Weil das Kind das tatsächliche Grab des Mädchens nicht kennt, wird ihm das „Gärtchen“ als Kenotaph zum Grabmal für eine andernorts Bestattete. Das Kenotaph ist ein „leeres Grab“ 14 , das Ludwig Klages als ein Ort der „Vergegenwärtigung des Gewesenen“ gilt. 15 In der Berliner Kindheit bedeutet der Tod des Mädchens im Gegensatz dazu nun nicht nur, dass Luise fort ist, weil sie starb. Die Tote ist als Tote abwesend, wie es die Großmütter in „Blu12

13 14 15

Dies entspricht der jüdischen Tradition, die Tora nur in Konsonanten niederzuschreiben. Ihre „Bedeutungsfülle“, schreibt Scholem, „würde durch vokalisierte Schreibung eingeschränkt.“ Scholem: Der Name Gottes, S. 281. Vgl. Kap. II.2.4. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 159. Ebd., S. 133.

3.4 „ZWEI RÄTSELBILDER“

141

meshof 12“ oder die Vorfahren in „Steglitzer Ecke Genthiner“ sind. In der Berliner Kindheit wiederholt sich das Motiv der Abgeschiedenheit am ‚Kenotaphen‘ selbst, denn das „Gärtchen“ wird überhaupt erst als solcher wahrgenommen, weil es „unberührbar“ am „anderen Ufer“ (GS VII.1 401) liegt. Das „andere Ufer“ ist zugleich konkreter topographischer Ort und abgeschiedenes Jenseits: Doch auch in diesem ‚Jenseits‘ findet sich bloß ein weiterer Verweis in die Ferne, die bis auf diesen Verweis leer erscheint. Da die abwesenden Toten in der „Gießener Fassung“ nicht vergegenwärtigt werden können, richtet sich der „Eros zum Ehemals“ 16 stattdessen auf den Namen, der an sich ‚unbezogen‘ ist und nicht (mehr) auf die Person verweist. Diese Bewahrung des Namens liest sich als ‚platonische Liebe‘ im Benjamin’schen Sinne, die eigentlich eine Namensliebe ist, weil sie den Namen unangetastet wahrt.17 Mit Luise von Landau verbindet das Kind darum eine erste ‚platonische Liebe‘, d.h. die Liebe zu einem Namen, nicht zu einem Menschen.

3.4 „Zwei Rätselbilder“ Diese Erfahrung einer ‚platonischen Namensliebe‘ gewinnt in der spätesten Fassung der Berliner Kindheit, der „Fassung letzter Hand“, durch eine Veränderung des Titels und der Schlusspassage größere Relevanz. Weitere Bearbeitungen betreffen vor allem die Person des Herrn Knoche, der das ‚Amt des Vollstreckers‘ verliert, dafür aber das „Amt des Sehers“ erlangt (GS VII.1 401), – als Person tritt Knoche gegenüber dieser Funktion im Text völlig zurück.18 Die Änderung des Titels von „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ 16 17 18

Ebd. Vgl. Kap. I.3.2 und I.3.3. In der „Fassung letzter Hand“ sind sowohl die Anmerkungen zu Herrn Knoche als auch die Tor-Metapher gestrichen. In den Passagen zu Fräulein Pufahl und Luise von Landau werden in der „Gießener Fassung“ bestimmte Kontexte ausgelassen. Die biographischen Daten zu Herrn Knoche werden in der „Gießener Fassung“ entgegen der ansonsten feststellbaren Tendenz erweitert: Erfuhr man in der Berliner Chronik nur von seinen „Prügelintermezzi“ (GS VI 504), gewinnt seine Person in der „Gießener Fassung“ ein soziologisches Profil. Er gehört zu jenen, deren „Amt [...] in der Vollstreckung“ liegt (GF 41). Diese erweiterte Schilderung führt einerseits den konkreten Schulalltag deutlicher vor Augen (auch das Schulgebäude wird nun beschrieben). Andererseits verstärkt die Rechts- und Strafverfolgungssphäre die Kafka-Allusion, die in der Tor-Metapher bereits angelegt war. Auch in der „Gießener Fassung“ endet mit dieser Metapher der Text. Sie hat mit den unmittelbar im Text geschilderten Gegebenheiten wenig zu tun. Es handelt sich um einen Allgemeinplatz – die Ich-Perspektive (der Berliner Chronik) wird darum in der „Gießener Fassung“ konsequenterweise durch eine auktoriale Erzählhaltung ersetzt: „Da baut ein Tor sich mit verschlossenen Flügeln vor ihm auf, und man versichert ihm, es würde einst sich öffnen, um den Weg ins Leben freizugeben.“ (GF 41)

142

3. DER NAME

(„Gießener Fassung“) in „Zwei Rätselbilder“ („Fassung letzter Hand“) verlagert den Schwerpunkt auch in der Überschrift von den Personen auf eine Sachebene. Die damit verbundene Veränderung der Schlusspassage ist ebenso einschneidend, weil sie die Quantität und Qualität der Bezüge innerhalb des Textes erhöht. Anstelle der Tor-Metapher, die einen Moment erfasst, „wie ihn jeder in seiner Kindheit hatte“ (GF 41), nimmt der Text nun die zuvor konkret beschriebenen Erfahrungen auf. Die Unterscheidung zwischen dem Kind und seinen späteren Entwicklungsstufen wird nicht mehr anhand der Kategorien „nicht-groß“ – „groß“ getroffen, sondern einerseits an der Fähigkeit, zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung unterscheiden zu können (so implizit bereits in der Berliner Chronik), andererseits – und dieses Kriterium ist in der „Fassung letzter Hand“ neu eingeführt – an der Möglichkeit, sich frei bewegen zu können. Damals erschien mir das Ufer des Erwachsenseins durchs Flussband vieler Jahre von den meinen so geschieden wie jenes Ufer des Kanals, von dem das Blumenbeet herübersah und das ich an der Hand des Kinderfräuleins nie betreten hatte. Später, als mein Weg von keinem mehr mir vorgeschrieben wurde und ich auch schon das „Reiterlied “ verstand, kam ich manchmal dicht in der Nähe des Beetes am Landwehrkanal vorüber. (GS VII.1 401)

Der Vergleich irritiert. Im „Flußband“ ist zwar ein Zeitverlauf angedeutet, das Erwachsenwerden wird aber nicht als Ablauf, sondern das Erwachsensein als Ufer auf der anderen Seite des Zeitstromes vorgestellt, der als Grenze fungiert. Auch das ‚verschlossene Tor‘ trennt den Raum in zwei Seiten, aber es war ortslos, denn es definierte zwar ein Außen und ein Innen, alles Weitere jedoch blieb unbestimmt. Das beschriebene Ufer hingegen ist ein konkreter Ort – im Text wie in der Stadt Berlin – und ein erreichbarer.19 Dennoch fühlt sich das Kind vom „anderen Ufer“ hoffnungslos „geschieden“, auch darum, weil es an die „Hand des Kinderfräuleins“ gebunden ist (ebd.). Diese Beschränkungen des körperlichen und des geistigen Horizonts sind später aufgehoben, gleichwohl haben sich die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllt. Die neu errungene Nähe zum Gärtchen bedeutet keine Intensivierung der Erfahrung. Im Gegenteil: Das Gärtchen wirkt ausgelaugt („Aber nun schien es seltener zu blühen.“ Ebd.); die Verbindung zum Namen Luise ist gelockert. Die metaphorische Wendung des „Reiterliedes“ wird mittlerweile zwar begriffen, aber auch hier schlägt der Gewinn in einen Verlust um: Und von dem Namen, den wir einst zusammen festgehalten hatten, wußte es [d.i. das Gärtchen] nicht mehr als jener Vers des Reiterliedes, jetzt, da ich ihn verstand, von jenem Sinn enthielt, den uns Herr Knoche in der Gesangsstunde verheißen hatte. (Ebd.)

19

Das vom Kind aus gesehen andere Ufer des Landwehrkanals ist über die Herkulesbrücke erreichbar (vgl. Kap. II.2.4).

3.4 „ZWEI RÄTSELBILDER“

143

Die Erfüllung des Wunsches, nicht mehr ferngehalten zu werden und endlich zu verstehen, was die Erwachsenen meinen, entleert die Dinge, anstatt sie zu bereichern. Die Erwartung einer Bedeutung erscheint im Rückblick wertvoller als ihre Kenntnis. Endete der Text an diesem Punkt, er wäre ein Lob verlorener unbestimmter kindlicher Hoffnungen. Der Text schließt jedoch mit einem Kommentar des erwachsenen Ich-Erzählers, der im letzten Satz die beiden Rätselbilder, die von der Überschrift des Textes ‚verheißen‘ werden, benennt: „Das leere Grab und das gewogene Herz – zwei Rätselbilder, deren Lösung mir das Leben weiter schuldig bleiben wird.“ (Ebd.) Diese Benennung ist vergleichbar mit der eines Bildes, wie Benjamin sie in „Über Zeichen und Mal“ beschrieben hat20 , denn eine Komposition des Textes tritt erst dann hervor, wenn am Schluss die beiden „Rätselbilder“ genannt werden. Die verschiedenen Arbeitsschritte legen eine Tendenz zur Abgrenzung und Steigerung der Bezüge innerhalb der Texte offen, so dass der Text sich schließlich in der letzten Fassung selbst einrahmt. 21 Zu dieser ‚Rahmung‘ zählt auch der Titel selbst, schließt doch der Bezug auf die Überschrift den Text im letzten Satz rund ab. Zugleich wird er wieder ‚geöffnet‘, denn einerseits konturiert das Ende die beiden Motive, welche die Komposition des Textes bestimmen, klar als „Rätselbilder“, andererseits bietet auch der Erzähler, wie der Lehrer Knoche, keine Erklärung dieser Rätsel und macht den Leser so „begriffsstutzig “ (GS VI 505). Im Unterschied zum Lehrer ist oder gibt er sich selbst unwissend. Das Ende von „Zwei Rätselbilder“ hat initiatorischen Charakter, weil es auch dem Leser die Lösung der „Rätselbilder“ „schuldig bleibt“. Die „Zwei Rätselbilder“ lassen sich nun einzeln und in Bezug zueinander deuten. Als Zitat des Schiller-Liedes ist das „gewogene Herz“ rasch als Metapher für die Beurteilung der Tapferkeit im Kampf erläutert. In Bezug zur Luise-Episode gewinnt die Wendung jedoch eine Doppeldeutigkeit. Das „gewogene Herz“ ist ebenso das zugeneigte, das liebende Herz. Diese Zuneigung ist allerdings eine „Fernenneigung“ (GS IV.1 368), insofern sie sich nicht auf den lebendigen Menschen, sondern auf einen Namen bezieht, der – auf nichts als sich selbst bezogen – entfernt und jenseitig ist. Diese Form der „Fernenneigung“ (GS IV.1 368), die sich gänzlich von der Person und dem begrabe20 21

Vgl. Kap. I.2.3. Hier ließe sich an Georg Simmels Äußerungen über den „Bildrahmen“ erinnern: „Der Rahmen schickt sich nur für Gebilde von abgeschlossener Einheit, wie sie ein Stück Natur niemals hat. Jeder Ausschnitt der Natur ist durch tausend räumliche, historische, begriffliche, gemütliche Beziehungen mit alledem verbunden, das in größerer oder geringerer, physischer oder seelischer Nähe es umgibt. Erst die Kunstform schneidet diese Fäden durch und knüpft sie gleichsam nach innen zusammen. An dem Stück Natur, das wir instinktiv als bloßen Teil in dem Zusammenhange des großen Ganzen fühlen, ist deshalb der Rahmen in demselben Maße widerspruchsvoll und gewalttätig, in dem das innere Lebensprinzip des Kunstwerkes ihn verträgt und fordert.“ Simmel: Der Bildrahmen, in: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und Kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 46-54, hier: S. 50 (Hervorhebung E.A.). Simmel geht es dabei allerdings um eine ‚Entzeitlichung‘ des Werkes, die, wie die Dialektik des Schlusses von „Zwei Rätselbilder“ zeigt, nicht in Benjamins Sinne sein kann.

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3. DER NAME

nen Körper der Verstorbenen löst, findet ihr Bild im Kenotaph. Das „leere Grab“, das in der Berliner Kindheit allein dem Unwissen des Kindes entspringt, ist ansonsten solchen vorbehalten, die in der Ferne umkommen. Die Frage nach Ruhm und Ehre, die im Bild des „gewogenen Herzens“ anklingt, verlagert sich so ins Jenseits. Auch dort wird über den Verstorbenen gerichtet, dabei ist das „gewogene Herz“ wieder ganz literal zu verstehen, zumindest in der ägyptischen Mythologie, wo das Herz des Toten gegen die als Feder symbolisierte Wahrheit aufgewogen wird.22 Das Kind, welches den Ausdruck noch wörtlich versteht, hätte sich darüber nicht gewundert. Im Wechselbezug der Rätselbilder allerdings führt von dieser Stufe des Mythologischen (und wörtlichen Sinnes) das „leere Grab“ hinauf. Denn einerseits kann man das „leere Grab“ als eine ‚leere Ferne‘ lesen, andererseits verweist das „leere Grab“ auf das Grab des auferstandenen Jesus (vgl. Mt. 28,1-10). Somit ist diese ‚leere Ferne‘ in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Anders als für Klages ist das Kenotaph für Benjamin kein Ort der Vergegenwärtigung der Toten.23 Damit vermeidet er eine Substantialisierung des Entfernten wie die naive Vorstellung seiner garantierten Verfügbarkeit. Weil die Toten aber selbst als Tote verschwunden sind, ist die Ferne ohne „Fülle und Sicherheit“ (GS II.1 376), d.h. die Verbindung zu den kollektiven Gedächtnisinhalten scheint gefährdet. 24 Zugleich gewährt das Bild des ‚leeren Grabes‘ die Hoffnung auf die Auferstehung der Körper zum „wirkliche[n] Leben“ (GS VI 504) am Tag des Jüngsten Gerichtes: Die Toten sind fort, weil sie nun ewig leben. Diese Doppeldeutigkeit markiert ein Vexierbild, das zugleich eine mythologische und eine eschatologische Dimension aufweist. Diese Konstellation von „gewogene[m] Herz[en]“ und „leere[m] Grab“ situiert den „Eros der Ferne“ zwischen Liebe und Tod.

22

23 24

Vgl. Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, S. 106ff: Im alten Ägypten entwickelt sich die Idee eines Totengerichtes, das den Toten als Angeklagten versteht. Bei diesem Gericht „wird sein Herz auf eine Waage gelegt und gegen das Symbol der Wahrheit-Gerechtigkeit-Ordnung, eine Feder, abgewogen. Mit jeder Lüge würde das Herz sinken. Das als lügenhaft erwiesene Herz würde von einem Monstrum verschlungen.“ Ebd., S. 103. Vgl. Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 159. Vgl. Kap. II.2.2.

4. DIE KREATUR

4.1 Sexus und Tod 4.1.1 Figuren des Kreatürlichen: Tier, Hure und Kind Der Mensch stellt als Kreatur ein Verfall und Tod anheimgegebenes Geschöpf dar.1 Unter dem Einfluss vor allem der Überlegungen Michel Foucaults und Giorgio Agambens wird über die Kreatur – über Geburt, Leben und Tod – derzeit vornehmlich unter biopolitischen und juridischen Gesichtspunkten diskutiert. Diese Perspektive kann indes selbst einen Ausschluss produzieren, wie das Beispiel Eric L. Santners zeigt, der zum kreatürlichen Leben in den Werken Rilkes, Benjamins und Sebalds arbeitet. Sein Verständnis von Kreatürlichkeit fasst er folgendermaßen zusammen: “ Creatureliness” will thus signify less a dimension that traverses the boundaries of human and non-human forms of life than a specifically human way of finding oneself caught in the midst of antagonisms in and of the political field.2

So verständlich diese Eingrenzung angesichts der jüngeren Geschichte und gewisser aktueller Probleme ist3 , so verfehlt sie zumindest doch das Ausmaß der „Hierarchie der kreatürlichen Welt“, auf die Benjamin Bezug nimmt, „die in dem Gerechten ihre höchste Erhebung hat, [und] in vielfachen Stufungen in den Abgrund des Unbelebten hinab[reicht]“ (GS II.2 460). Zudem ist nicht zu übergehen, dass, wie Sigrid Weigel aufgezeigt hat, dem Begriff der Kreatur bei Benjamin eine Ambivalenz eingeschrieben ist. Auf der einen Seite ist die Kreatur als Geschöpf Gottes ausgewiesen, auf der anderen Seite markiert der Begriff aber auch den Abstand zur Schöpfung vor dem Sündenfall.4

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2

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„Human existence as ‘Kreatur’ and ‘kreatürlich’ emphasizes the human condition in its physical subjection to death and decay, the human subject as created rather than creator.“ Rainer Nägele: Body politics: Benjamin’s dialectical materialism between Brecht and the Frankfurt School, in: The Cambrigde Companion to Walter Benjamin, hg. v. David S. Ferris, Cambridge, New York 2004, S. 152-176, hier: S. 160. Eric L. Santner: On Creaturely Life. Rilke, Benjamin und Sebald, Chicago, London 2006, S. xix. Vgl. dazu z.B. die auf Agambens Texte bezogene Einleitung in: Eva Geulen: Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg 2005, S. 9-16. Vgl. Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt a.M. 2008.

146

4. DIE KREATUR

Neben Benjamins Überlegungen zur Kreatürlichkeit vor allem des Souveräns im Trauerspielbuch (vgl. GS I.1 263ff.) findet sich eine prominente Ausgestaltung der Thematik in Benjamins Essay über Karl Kraus, in welchem das Tier, die Hure und das Kind als ‚Kreaturen‘ eingeführt werden. Diese Figuren tauchen auch in der Berliner Kindheit im Zusammenhang von Sexualität, Zeugung, Geburt und Tod auf. Sie bilden damit ein Art von Gegenfiguren zu jenen entrückten, häufig nur durch ihren Namen oder ihre Stimme vertretenen Frauenfiguren, die keine Körperlichkeit aufweisen: Am Beispiel dieser Frauenfiguren lässt sich aufweisen, dass Benjamin auch in seinen eigenen Darstellungen jene gelöste Bindung von Sexus und Eros umsetzt, die er an Kraus’ und Baudelaires Lyrik aufgezeigt hat. Während auf der einen Seite der mit Nähe assoziierte Sexus an einigen Frauenfiguren vollständig getilgt ist5 , finden sich auf der anderen Seite die „Huren“ (GS VI 742) oder zumindest eng mit dem Thema der Käuflichkeit verbundene Frauenfiguren.6 Überblickt man alle Fassungen der Berliner Kindheit, lässt sich sagen, dass die Frau entweder als körperlos-ferne oder als käufliche auftritt; die Fassungen unterscheiden sich jedoch in ihrem Umgang mit dem Thema: Auch der Sexus und die Nähe sind – wie der Eros und die Ferne – in der „Fassung letzter Hand“ schließlich auf die Sprache bezogen. In der „Gießener Fassung“ wird Sexualität in „Bettler und Huren“ (GF 92f.) sowie „Erwachen des Sexus“ offen thematisiert (GF 32f.). Gemeinsam ist beiden Texten die Relevanz der Straße, die für den Heranwachsenden Ort der Begegnung mit Prostituierten werden soll. Während in „Bettler und Huren“ der Reiz einer Kontaktaufnahme in der Überschreitung einer Klassengrenze liegt, besteht in „Erwachen des Sexus“ das „erste Lustgefühl“ in der Kopplung einer zeitlichen mit einer moralischen Erfahrung. Am jüdischen Neujahrstag versäumt das Kind eine religiöse Zeremonie: Da überkam mich [...] eine heiße Welle der Angst – ‚zu spät, die Synagoge ist verpasst‘ – genau im gleichen Augenblick aber, noch ehe sie verebbt war, eine zweite vollkommener Gewissenlosigkeit – ‚das mag alles laufen wie es will, mich geht’s nichts an‘. Und beide Wellen schlugen unaufhaltsam im ersten Lustgefühl zusammen, in dem die Schändung des Feiertages sich mit dem Kupplerischen der Straße mischte, die mich hier zuerst die Dienste ahnen ließ, welche sie dem erwachten Triebe leisten sollte. (GF 33)

Diesen „Bund “ mit den Straßen thematisiert auch „Bettler und Huren“; er bietet die Möglichkeit, sich der „Herrschaft der Mutter“ zu entziehen, jedoch um den Preis, sich der ‚Herrschaft‘ der Straßen zu unterwerfen: „Ich [hatte] mich in die asphaltenen Bänder der Straße hoffnungslos verstrickt, und die saubersten Hände waren es nicht, die mich freimachten“ (GF 93). In der „Fassung letzter Hand“ findet sich „Bettler und Huren“ gar nicht mehr, „Erwa-

5 6

Vgl. Kap. II.2.4.2 sowie Kap. II.3. Vgl. unten Kap. II.4.3.

4.1 SEXUS UND TOD

147

chen des Sexus“ nur noch als Beilage.7 Dafür sind verschiedene Gründe denkbar8 : Betrachtet man den neu verfassten Text, der den beiden nicht mehr aufgenommenen thematisch am nächsten liegt, kann man auch hier erkennen, dass umschreibende und beschreibende Auseinandersetzungen durch unmittelbare Darstellungen ersetzt worden sind: Die Bedeutsamkeit der Straßen kündigt bereits der Titel „Krumme Straße“ an. Prostitution wird zwar nicht offen angesprochen, die Warenwirtschaft dieser Straße alludiert indessen solche Käuflichkeit: „Es war der Strich, auf dem auch die Monatsgarderoben zu Hause waren.“ (GS VII.1 415) Ein ‚Erwachen des Sexus‘ ist hier ebenso wenig an Personen gebunden wie das ‚Erwachen des Eros‘, das der „geliebte Name“ (GS VII.1 401) und nicht der geliebte Mensch initiiert: Ein „Laden für Schreibbedarf“, der in seinem Schaufenster auch „anstößige Schriften“ auslegt, steht im Zentrum. In „Krumme Straße“ wird die Vereinigung des Sexus mit gewissen Schrifterzeugnissen vorgeführt: „Der Trieb errät, was sich am zähesten in uns erweisen wird; mit dem verschmilzt er.“ (Ebd.) Dabei wird en passant ein Darstellungsprinzip benannt, das die explizite Auseinandersetzung mit dem Sexus ablöst: In solchem Zwielicht [d.i. dem der Abenddämmerung] verhieß das Schaufenster noch mehr als sonst. Denn nun verstärkte sich der Bann, den die auf Scherzpostkarten und Broschüren fasslich dargestellte Unzucht um mich legte (GS VII.1 416).

Dieses „Zwielicht“, das Benjamin in „Tiergarten“ auch als „zweideutiges Licht“ (GS VII.1 395) bezeichnet, entspricht jener Doppel- oder Zweideutigkeit, die Benjamin im Kraus-Essay mit dem „bloßen Sexus“ verbindet. 9

4.1.2 Zweideutigkeit als Darstellungsprinzip Während in der Einbahnstraße vornehmlich einzelne Wörter zwischen ihrer literalen (zumeist körperbezogenen) und ihrer metaphorischen Bedeutung changieren, nimmt diese Zweideutigkeit in der Berliner Kindheit andere Züge an – etwa die einer Zweideutigkeit der Räumlichkeiten. Vor allem dann, wenn der 7

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9

Die Zahl der Texte, die die Berliner Kindheit als Buch umfassen sollte, hatte Benjamin recht früh auf 30 festgelegt (vgl. seinen Brief an Scholem vom 28.2.1933); in der „Fassung letzter Hand“ werden „Das Karussell“ und „Erwachen des Sexus“ nach „Das bucklichte Männlein“ aufgeführt, das definitiv als letzter Text gilt (vgl. GS VII.1 433). Scholem rät Benjamin davon ab, diesen Text zu publizieren, weil er der Einzige im ganzen Buch sei, „in dem ausdrücklich auf Jüdisches bezuggenommen werde und dadurch eine besonders schiefe Assoziation geschaffen werde“. Walter Benjamin, Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, hg. v. Gershom Scholem, Frankfurt a.M. 1980, S. 37. Abgesehen von weiteren biographischen Gründen (Benjamin könnte im Exil den Bezug auf das Judentum als heikel empfunden haben), gibt es textimmanente Motive, die sich auf das Alter des Ich-Erzählers beziehen, das in diesem Text vergleichsweise hoch ist und somit der Beschränkung auf ein kindliches Ich widerspricht. Vgl. Kap. I.3.3 und I.4.

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4. DIE KREATUR

Raum einen abwesenden (menschlichen) Körper gewissermaßen vertritt, trägt er anthropomorphe Züge. Neben dieser Dialektik einer Mortifikation der Menschen und einer ‚Animierung‘ bzw. Anthropomorphisierung der Dingwelt fällt auch eine Doppeldeutigkeit des Raumes an sich auf. Auf der einen Seite wird der Raum metaphysisch aufgeladen (wie das jenseitige „andere Ufer“ in „Zwei Rätselbilder“, GS VII.1 401)10 , auf der anderen Seite erscheint die Wohnung ‚körperlich‘, beispielsweise in „Das Telefon“, wo sich das Motiv der Geburt11 im Gang durch einen „dunklen Korridor“ spiegelt (GS VII.1 390f.). Wenn es in „Das Telefon“ über die „Nachtgeräusche“ der ersten Telefone heißt: „Die Nacht, aus der sie kamen, war die gleiche, die jeder wahren Geburt vorhergeht“ (GS VII.1 390), dann spielt Benjamin auf eine symbolische Verbindung des weiblichen Schoßes mit der Nacht an. Zu diesem Motivkreis zählt auch das Wasser, das in „Krumme Straße“ in Gestalt eines Schwimmbades das Motiv der Geburt invertiert: Den Fuß über die Schwelle setzen bedeutete, von der Oberwelt Abschied nehmen. Danach bewahrte einen nichts mehr vor der überwölbten Wassermasse im Innern. Sie war der Sitz einer scheelen Göttin, die darauf aus war, uns an die Brust zu legen und aus den kalten Kammern uns zu tränken, bis dort oben nichts mehr an uns erinnern werde. (GS VII.1 415f.)

In der Berliner Kindheit ist mithin der Sexus, wie der Eros, dem Tod verpflichtet12 , beides stellt Benjamin in verschiedenen Motiven, vor allem aber anhand des (historischen) Raumes dar. Diese Verbindung von Sexus und Tod im Stadtraum findet Benjamin bei Baudelaire vorgezeichnet (vgl. GS V.1 55), dem sich durch diese Konstellation aus Sicht Benjamins ein Zugang zu den „chthonischen Elementen“ der Stadt Paris eröffnet hat (ebd.), wie Benjamin ihn für Berlin sucht (vgl. GS VI 489). Die Koppelung der Motive Wasser, Nacht und Mutterschoß verweist, zumal im Hinblick auf ihre je zweideutige Verwendung, auf Benjamins Beschäftigung mit dem Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen.13 Wie die Erde als 10 11

12

13

Vgl. Kap. II.3.4. Das Telefon hängt in einem „Winkel des Hinterkorridors“: „Wenn ich dann, meiner Sinne mit Mühe mächtig, nach langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach.“ (GS VII.1 391) Eine der verwunderlichsten Beziehungen des Sexus auf den Tod findet sich im ersten Text der „Fassung letzter Hand“, wo sich in den „Loggien“, die zugleich Wiege des „Neugeborenen“ (GS VII.1 386) und „Mausoleum“ des Kindes sind (GS VII.1 388), Geburt und Tod miteinander verschränken. Hervorzuheben ist Benjamins Bachofen-Aufsatz, in welchem er auch auf die Rezeption Bachofens durch Ludwig Klages und Alfred Schuler hinweist. Klages’ „Eros zum Ehemals“ (Klages: Vom kosmogonischen Eros, S. 133), der sich auf die Toten richtet, wäre ohne Bachofens Beschäftigung mit dem Tod bzw. der Gräbersymbolik der Alten kaum denkbar: „In seinem ‚Eros Cosmogonos‘ entwirft Klages das natürliche und anthropologische System des Chthonismus. Indem er die mythischen Substanzen des Lebens wieder einbe-

4.2 DAS „HEILIGE“ UND „VERWÖHNTE TIER“ („DER FISCHOTTER“)

149

Mutterschoß Geburt und Tod bedeute14 , so gilt Bachofen auch das Wasser „als Lebenswasser und als Totenwasser“. 15 Ähnlich hat auch Benjamin auf solche Zweideutigkeit des Wassers in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften angespielt: „Denn einerseits ist es das Schwarze, Dunkle, Unergründliche, andrerseits aber das Spiegelnde, Klare und Klärende.“ (GS I.1 183) Zweideutigkeiten sind Benjamin eigentlich suspekt, wenn sie Vermischung oder „Ununterschiedenheit“ bedeuten (vgl. Benjamins Ausführungen zu Sokrates GS II.1 130-132). Anderseits können seltsame ‚Mischungen‘ und ‚Mischwesen‘ auch ein Signum verrückter und entstellter Gegebenheiten sein; dies hat Benjamin in seinem Essay über Franz Kafka dargestellt (vgl. GS II.2 430). In der Berliner Kindheit sind bestimmte Kreaturen, das Tier und das „Weib “, ebenfalls als Darstellung der gelösten Bindung von Sexus und Eros, Nähe und Ferne zu lesen. Benjamin greift dabei vorweltlich-mythische Bilder auf, jedoch nicht ohne ihnen eine Ambivalenz (zumeist im Verweis auf seine sprachphilosophischen Überlegungen) einzuschreiben.

4.2 Das „heilige“ und „verwöhnte Tier“ („Der Fischotter“) In seinem Essay über Karl Kraus verwehrt sich Benjamin dagegen, dass das Tier eine ‚reine Kreatur‘ sei, die dem Menschen als positives Gegenbild, als „Tugendspiegel der Schöpfung“ (GS II.1 341) entgegengehalten werden könne, denn Benjamin begreift die Kreatur als eine zu reinigende (vgl. GS II.1 365). Für Benjamin steht dabei weniger die christlich verstandene „kreatürliche Schuld“, d.h. die Erbsünde (vgl. GS I.1 308) im Vordergrund, wie er sie

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zieht, indem er sie dem Vergessen entreißt, dem sie anheimgefallen waren, erteilt der Philosoph den ‚Urbildern‘ das Bürgerrecht.“ Benjamin: Johann Jakob Bachofen, S. 34. Vgl. Bachofen: Gräbersymbolik der Alten, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. v. Karl Meuli, 3. Auflage Basel 1954, S.116. Benjamin sieht bei Bachofen eine Vermischung von Leben und Tod, erkennt darin aber einen gewissen „dialektischen Geist“: „So erschien in dieser unvordenklich alten Ordnung der Tod keineswegs als gewaltsame Zerstörung. Das Altertum sieht ihn immer in enger Beziehung zum Leben. Der dialektische Geist einer solchen Auffassung entsprach in höchstem Maße dem Bachofens. Man kann sogar sagen, daß der Tod ihm der Schlüssel zu jeglicher Erkenntnis war, da dieser die entgegengesetzten Prinzipien der dialektischen Bewegung versöhnt. So ist er auch der weise Vermittler von Natur und Geschichte: was historisch gewesen ist, fällt schließlich mit dem Tod in den Bereich der Geschichte.“ Benjamin: Johann Jakob Bachofen, S. 30f. Bernoulli: Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol, S. 302. Bernoulli fasst diese Zweideutigkeit in seinem Buch, das Benjamin 1926 rezensierte (vgl. GS III 43-45), folgendermaßen zusammen: „Das Wasser vermag überdies Weiß in Schwarz und Schwarz in Weiß zu verwandeln – tritt es doch selbst aus dem Dunkel ans Licht. Am Wasser tritt besonders der stets vorhandene Gegensinn seiner Wirkungen zutage“. Ebd., S. 303.

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4. DIE KREATUR

im Trauerspielbuch aufgearbeitet hat, als das Moment einer Verstrickung, das er im Rahmen seiner Überlegungen zum Schicksal als „Schuldzusammenhang des Lebendigen“ bezeichnet (GS II.1 175). Aus diesem Zusammenhang kann sich das Tier (oder allgemeiner gesprochen: die Natur) ob seiner bzw. ihrer Stummheit nicht lösen. In der Berliner Kindheit hat Benjamin die Frage einer solchen nicht diskursivierbaren Schuld, wie er sie etwa im Kafka-Essay gerade auch an tierischen oder hybriden Gestalten festgemacht hat, eher am Beispiel solcher Figuren wie des „bucklichten Männleins“ bearbeitet denn anhand einer Tier-Figur.16 Doch ist auch der Fischotter im gleichnamigen Text ein merkwürdiges Zwischenwesen zwischen Land und Wasser, das aus der Sicht des Kindes ambivalent charakterisiert wird: Der Fischotter ist ein „verwöhntes“ als auch ein „heiliges Tier“ (GS VII.1 407). Beides hängt mit seiner Behausung zusammen, mit der das Tier in der Vorstellung des Kindes verschmilzt. Benjamin greift in „Der Fischotter“ 17 mit dem Motiv der Behausung bzw. des Wohnens ein Motiv auf, mit dem er sich in seiner Rezension von Franz Hessels Buch Spazieren in Berlin bereits eingehend beschäftigt hatte. Schon Hessel legt in seinem Buch in „Paläste der Tiere“, nachdem er eine kleine Einführung in die Geschichte des Zoologischen Gartens gegeben hat, den Akzent auf die „merkwürdigen Behausungen“ der Tiere.18 Dass man den „Tieren Tempel gebaut“ hat, sieht Hessel als Fortsetzung der „alten Tierkulte der Vorzeit“. 19 Während Hessel zahlreiche Fakten einstreut und sich von seiner Bemerkung über die „Tierkulte der Vorzeit“ ironisch distanziert, indem er die Tempel als Staffage enttarnt, evoziert Benjamin aus der Perspektive des Kindes, dem die Tiere als anthropomorphisierte Akteure ihres eigenen Kultes erscheinen, eine deutlich andere, unheimliche Stimmung. Von den Straußen, welche vor einem Hintergrund von Sphinxen und Pyramiden Spalier bildeten, bis zu dem Nilpferd, das seine Pagode wie ein Zauberpriester bewohnte, der auf dem Wege ist, leibhaftig mit dem Dämon, dem er dient, sich zu verschmelzen, war kaum ein Tier, dessen Behausung ich nicht liebte oder fürchtete. (GS VII.1 406)

Die Behausung des titelgebenden Fischotters ist im Vergleich zu den beschriebenen Käfigen noch unheimlicher, denn dieser gehört zu den „Insassen des Weichbildes“: Diese Orte an der Peripherie sind einsam, ähnlich wie die 16 17 18

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Vgl. Kap. II.5. „Der Fischotter“ gehört zu den für die „Fassung letzter Hand“ nicht weiter bearbeiteten Texten. Hessel: Spazieren in Berlin, S. 100: „Das Kamel hat seine Moschee. [...] Einen echt altägyptischen Tempel haben die Strauße. Wenn sie aus ihren Toren ins Freie wippen, sind sie von Hieroglyphen und Pharaonenstatuen umrahmt. [...] Das Nilpferd aber hat sein eigenes Haus. Innen ist ein schauriges rotes Götzenheim [...]. Ob sich der indische Elefant für die Mosaikdrachen interessiert, die auf den Türen seines Palastes abgebildet sind? Liebt das Zebra sein afrikanisches Gehöft, der Büffel sein Borkenpalais?“ Ebd.

4.2 DAS „HEILIGE“ UND „VERWÖHNTE TIER“ („DER FISCHOTTER“)

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in „Steglitzer Ecke Genthiner“ erwähnten „abgeschiedenen Flecken“ (GS VII.1 399), und zeigen als „abgestorbenste Region des Gartens“ die Zeichen des Todes (GS VII.1 407). „Dieser Winkel des Zoologischen Gartens“ trug die Züge des Kommenden. Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, daß sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich jemals aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes. “ (GS VII.1 407)

Benjamin lädt somit den konkreten topographischen Ort – ähnlich wie in „Zwei Rätselbilder“ – auf, indem er ihn zum Schauplatz einer besonderen Zeit-Erfahrung macht. Die Besonderheit des Ortes ist aber gerade auch mit der Behausung des Fischotters, einem vergitterten Wasserbassin samt Grotte, verbunden. In die Darstellung der Behausung schreibt sich jenes Prinzip des „Unstetigen“ ein (GS VI 488), das Benjamin in der Berliner Chronik als Thema seines Buches expliziert und welches gelegentlich mit dem Motiv des Wassers verbunden ist20 : Die Bilder, mit welchen die Behausung umschrieben werden, verändern sich fast mit jedem Satz. Benjamin überträgt offenbar die Verwandlungsfähigkeit, die dem Wasser und seinen versatilen Gestalten, wie Proteus und Nereus, eigen ist, auf die Behausung. Wie dieses Potential zum Gestaltenwechsel im Falle des Proteus mit der Möglichkeit eines Wissens von der Zukunft in Verbindung steht, so versetzt es auch die Behausung des Fischotters in den Stand eines „prophetischen Winkel[s]“ (GS VII.1 407). Sie wird zunächst als „Brunnenrand“ beschrieben, der wie „in der Mitte eines Kurparks aufstieg“ (GS VII.1 407). Der Brunnen, ein beliebtes Märchenmotiv und dort häufig unerwartete Passage zu einem anderen Ort, erscheint indes bereits im nächsten Satz aufgrund seiner vergitterten Brüstung als „der Zwinger des Fischotters“ (ebd.). Damit ist der Durchgang zu einem anderen Ort verwehrt, da der „Zwinger“ wohl eher das Kind abhält, als dass es den Fischotter einsperrt, denn flüchtig wirkt das Tier allemal. Die Einschränkung des Tieres erfährt das Kind so als eigenen Ausschluss, der zunächst die Bedeutsamkeit des Fischotters steigert. Ein kleiner Fels- und Grottenbau umsäumte im Hintergrunde das Oval des Beckens. Es war als Wohnung für das Tier gedacht; doch habe ich es niemals darin angetroffen. Und so blieb ich häufig, endlos wartend, vor dieser unergründlichen und schwarzen Tiefe, um irgendwo den Otter zu entdecken. Gelang es endlich, war es sicher nur für ein Nu, denn augenblicklich war der gleißende Insasse der Zisterne wieder von neuem in der nassen Nacht verschwunden. (GS VII.1 407)

Von einem „Zwinger“ erscheint dem Kind die Behausung nun aber doch verschieden, weil das Wasser in seiner ‚Unergründlichkeit‘ einen großen Teil zur 20

Vgl. Kap. II.1.

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4. DIE KREATUR

Faszination beiträgt. Die Behausung erscheint ihm darum als eine Zisterne. Als solche ist der Zwinger kein Ort der Gefangenschaft, sondern – und wer will es angesichts der „schwarzen Tiefe“ wissen – Ort eines Allerheiligsten: Gewiß, in Wahrheit war es keine Zisterne, in der man den Otter hielt. Doch wenn ich in sein Wasser blickte, war mir immer als stürze Regen sich in alle Gullis der Stadt nur um in dieses Becken zu münden und sein Tier zu speisen. Denn es war ein verwöhntes Tier, das hier behaust war und dem die leere feuchte Grotte mehr als Tempel denn als Zufluchtsstätte diente. Es war das heilige Tier des Regenwassers. (Ebd.)

Die seltsame Wendung vom ‚verwöhnten Tier‘ verweist auf einen Traum, den Benjamin in der Einbahnstraße berichtet. „Ich sah im Traum ‚ein verrufenes Haus‘. ‚Ein Hotel, in dem ein Tier verwöhnt ist. Es trinken fast alle nur verwöhntes Tierwasser.‘ “ (GS IV.1 120) Der Begriff des Verwöhnens ist hier in zweifacher Weise tendenziell negativ konnotiert, zum einen weil er auf käufliche sexuelle Dienste verweist, die ‚nur‘ den tierisch-kreatürlichen Teil des Menschen ansprechen, zum anderen weil die ‚Verwöhnung‘ in diesem Fall deutlich auf das etymologisch verwandte Wort ‚Gewöhnung‘ verweist – d.h. eine Gewöhnung an allzu gute Umstände, die mithin als selbstverständlich genommen werden. Mit diesem Selbstzitat in der Berliner Kindheit verstärkt Benjamin auch dort eine gewisse Doppeldeutigkeit der beschriebenen Behausung. Die sexuelle Konnotation ist in „Der Fischotter“ jedoch mit einer Zurücknahme verbunden („die leere, feuchte Grotte [dient] mehr als Tempel denn als Zufluchtsstätte“, GS VII.1 407), die im Einklang mit der Vermutung steht, dass der hier angedeutete weibliche Körper für das Kind nicht der einer Geliebten, sondern der der Mutter ist. Auch der Regen, der durch unsichtbare Kanäle aus anderen Regionen herbeifließt, um das ‚verwöhnte Tier‘ zu „speisen“, verdichtet die Assoziation dieses Ortes mit dem Körper der Mutter.21 In diesem Sinne erinnert sich der Erzähler: „Im guten Regen war ich ganz geborgen. [...] Wie gut begriff ich, daß man in ihm wächst.“ (GS VII.1 408) Indem die Behausung des Fischotters anthropomorphisiert dargestellt wird, zeigt Benjamin also nicht nur das Tier als eine Kreatur, die „dem Schoße der Familie“ – d.h. dem der Mutter – noch nicht „entronnen“ ist (GS II.2 414), sondern auch das Kind.22 Aus Sicht des Kindes ist zwar der Fischotter abgeschie21

22

Stüssi schreibt: „Als Fischotter im Regen hausend, ist das Kind Embryo einer heimatlichen Welt, die noch nicht geboren ist.“ Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 201. Muthesius weist darauf hin, dass der Regen „in seiner Fruchtbarkeitsbedeutung den mütterlichen Aspekt in sich trägt.“ Muthesius: Mythos Sprache Erinnerung, S. 71. Mit dem Regen verbindet Benjamin während eines Drogenexperimentes zudem das Motiv des Kämmens, das ihm als „eigentliches Walten der Mutter“ (GS VI 608) gilt. Da Benjamin im gleichen Zuge „das Männliche“ mit einem „Gitter“ assoziiert (GS VI 609), meint Stüssi, der Regen führe „zu den ‚Müttern‘, weg aus der männlich-rationalen Welt von Herrschaft und Arbeit in den Schoß, den kreativen Ursprung, wo die Gegensätze noch nicht geschieden sind“. In diesem Sinne liest sich das Motiv des Gitters als männliche Herrschaft über ‚das Weibliche‘. Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 200. Diese Gegensätze entsprechen jedoch nicht der Perspektive des Kindes, aus der der Text geschrieben ist.

4.3 DIE STUMMEN „WEIBER“ („MARKTHALLE“)

153

den, darin spiegelt sich aber auch eine Abscheidung bzw. Geborgenheit des Kindes selbst: Es ist in der Wohnung der Eltern in „Stunden hinterm trüben Fenster“ ohne sein Wissen „bei dem Fischotter zuhause“ (GS VII.1 408). Wie in „Zwei Rätselbilder“ ist das Kind ferngehalten, anders als dort, wo sich seine „Fernenneigung“ (GS IV.1 368) im Kenotaphen auf den Namen richtet, berauscht sich das Kind jedoch in „Der Fischotter“. 23 Dieser Rausch besteht in der Erfahrung einer segmentierten Zeit, die als solche zur positiven Erfahrung einer Dauer wird: „Denn niemals war der liebe, lange Tag mir lieber, niemals länger als wenn Regen mit seinen feinen oder groben Zähnen ihm langsam Stunden und Minuten strähnte.“ (GS VII.1 407) Diese RauschErfahrung ist eine prophetische, ähnlich jener, die an den abgeschiedenen Orten gemacht werden kann. Was diese Zukunft für das Kind bedeutet, wird nicht konkretisiert. Für den Erwachsenen aber, der sich an diese Erfahrungen des Kindes beim Anblick der Fischotter-Behausung erinnert, überblenden sich Bilder von Geburt, Sexus und Tod. Die Zweideutigkeiten, welche die Darstellung des Fischotters wie seiner Behausung bestimmen, hat Benjamin in einem weiteren Text der Berliner Kindheit – in „Markthalle“ – als ständiges Changieren zwischen Bildern des ‚Profanen‘ und des ‚Heiligen‘ gestaltet.

4.3 Die stummen „Weiber“ („Markthalle“) 4.3.1 Die „käufliche Ceres“: Verbildeter Sexus und verbildete Ökonomie In seinen Arbeiten hat Benjamin die Figur der „Hure“ aus Baudelaires Texten aufgenommen und ausgearbeitet; es geht ihm dort vor allem um die Frau als bzw. in Analogie zur Ware sowie um die Ähnlichkeiten, die sich zwischen der Frau, die ihren Körper verkauft, und dem Schriftsteller, der nur seinen Geist feil zu bieten hat, ergeben (vgl. GS I.2 352).24 In der Berliner Kindheit entwickelt Benjamin das Motiv der ‚käuflichen Frau‘ in der „Fassung letzter Hand“ nicht mehr an der „Hure“; ‚die Frau‘ ist von der Frage der Käuflichkeit nunmehr mittelbar in Gestalt der „Marktweiber“ betroffen. Im Vergleich zu den „Huren“ sind die „Weiber“ in „Markthalle“ enger an die animalische und vegetabilische, an die kreatürliche Welt gebunden. Sie sind, wie der Fischot23

24

„Und unersättlich sah ich ihm [d.i. dem Regen] dann zu. Ich wartete. Nicht bis es nachließ. Sondern daß es mehr und immer üppiger herunterrausche. Ich hörte es an die Scheiben trommeln, aus den Tiefen strömen und gurgelnd in die Abflußrohre niederrauschen.“ (GS VII.1 407) Vgl. dazu auch Kap. I.3.3.

154

4. DIE KREATUR

ter, ‚eingegittert‘; wer hier ein- oder ausgeschlossen ist, bleibt indes auch in diesem Fall unentscheidbar. Dem Text „Markthalle Magdeburger Platz“ (GF 43f.), der in der „Fassung letzter Hand“ schlicht mit „Markthalle“ übertitelt ist (GS VII.1 402), liegen zwei kurze Notizen in der Berliner Chronik zugrunde: Vor allem denke man nicht, daß da von einer Markt-Halle die Rede war. Nein, man sprach „Mark-Talle “ und wie diese beiden Wörter in der Gewohnheit des Sprechens verschlissen waren, daß keines seinen ursprünglichen „Sinn “ beibehielt, so waren in der Gewohnheit dieses Ganges verschlissen alle Bilder, die er bot, so daß keines sich dem ursprünglichen Begriff von Einkauf oder Verkauf darbietet. (GS VI 475)

Die Erinnerung an ein durch Gewohnheit verfremdetes Wort initiiert den Text. In der Berliner Chronik beschreibt Benjamin die Wörter bzw. die Bilder als „verschlissen“, als seien sie wie ein Stoff abnutzbar. In der Berliner Kindheit nennt er sie hingegen „verschliffen“ (GS VII.1 402). Die Frage, ob das Kind über den „ursprünglichen Begriff von Einkauf und Verkauf“ aufgrund seines Alters noch nicht verfügt und die Szenen deshalb missversteht, ist nicht eindeutig zu beantworten, denn es könnte auch die „Gewohnheit“ sein, welche die Bilder derart ‚verschleift‘. Gewöhnlich oder alltäglich wirken diese Bilder darum aber nicht. Im Gegenteil: Sie sind verfremdet. Die Markthalle erscheint mehr als vorzeitliche Landschaft denn als städtischer Innenraum. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass diese Szene an eine sumpfig-archaische Welt erinnert, wie Bachofen sie in seinem Buch Das Mutterrecht entworfen hat.25 Hatte man den Vorraum mit den schweren, in kräftigen Spiralen schwingenden Türen hinter sich gelassen, heftete sich der erste Blick auf die Fliesen, die von Fischwasser oder Spülwasser schlüpfrig waren und auf denen man leicht auf Karotten ausgleiten konnte oder auf Lattichblättern. (GS VII.1 402)

Im Zentrum der Beschreibung stehen in „Markthalle“ die Marktweiber. Es sind enigmatische Figuren, deren Status – wie der des Fischotters – eigentümlich schwankt und kippt. Bereits die erste Erwähnung spielt mit einem Para25

So etwa durch Bernd Witte: Benjamin macht „die eigene biographische Gegenwart durchsichtig auf eine Urgeschichte hin, die im Bachofenschen Sinne als gynaikokratische bestimmt ist. Wie in dessen Schriften [...] wird die archaische Mutterwelt aufgeboten als Gegenbild gegen die als Bedrohung empfundene arbeitsteilige Leistungsgesellschaft.“ Witte: Bilder der Endzeit. Zu einem authentischen Text der Berliner Kindheit von Walter Benjamin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 570-592, hier: S. 587. Siehe auch Muthesius: Mythos Sprache Erinnerung, S. 171f. Sie sieht „Zustände des Hetärismus [auf]leuchten“ (ebd., S. 171), auch ihr entgeht indessen der ambivalente bzw. doppeldeutige Bezug, den etwa die „käufliche Ceres“ hat (GS VII.1 401). Sowohl in der Berliner Chronik als auch in der „Gießener Fassung“ beziehen sich zudem die Schlusspassagen, die das Versinken in eine unterseeische Welt beschreiben, auf gewisse chthonische Elemente (vgl. GS VI 490 und GF 44). Mögliche Gründe für die Streichung dieser Passagen könnten in der allgemeinen Tendenz begründet liegen, den motivischen Bezug auf andere Texte zugunsten einer erhöhten Selbstreferentialität zu kappen.

4.3 DIE STUMMEN „WEIBER“ („MARKTHALLE“)

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dox: „hinter Drahtverschlägen“ sind sie nicht eingepfercht, sondern „thronten“ dort als „schwerbewegliche Weiber“. Diese ‚Schwerbeweglichkeit‘ zeugt von ihrer Nähe zu den Vegetabilien. Man kann sie aber, mit Bachofen, auch als eine Nähe zu den „res res sanctae (de[n] unverrückbaren Dingen)“ 26 lesen, denn Benjamin inszeniert die „Weiber“ schon im nächsten Satz als „Priesterinnen“. Diese Inauguration ins sakrale Amt ist jedoch ihrerseits ironisiert und verfremdet, weil diese „Priesterinnen“ einer „käuflichen Ceres“ dienen (ebd.). Benjamin gelingt hier eine wechselseitige Verfremdung: Der alltägliche Markt gewinnt einerseits etwas Sakrales, andererseits ist auch dieses verfremdende Bild in Rückbezug auf den Kontext des Marktes verfremdet, denn Ceres ist hier „käuflich“. Ceres, im Griechischen Demeter, ist Göttin des Ackerbaus, der Ehe – und der Toten. Ihr Beiname lautet Ceres legifera, die gesetzgebende Ceres. In Bachofens Mutterrecht steht die Stufe des geordneten Matriarchates unter ihrem Zeichen.27 Ihr Bild wie das ihrer ‚Dienerinnen‘ oszilliert allerdings in „Markthalle“ zwischen Entrückung und Profanierung. Während Ceres die Göttin der Ehe ist, scheint die „käufliche Ceres“ Schutzherrin der gewerblichen ‚Liebe‘ zu sein: Ihre „Marktweiber“ sind darum nicht nur „Priesterinnen“, sondern auch „Kupplerinnen“. Ihre (vermeintlich) sakrale Beziehung zum Kreatürlichen und Vegetabilischen ist durch die Käuflichkeit ihrer Waren ‚verbildet‘. 28 Die „Marktweiber“ sind auf der einen Seite sprachlos, ‚verkehren‘ miteinander über vorsprachliche Laute, über Gesten zumal der unbelebten Materie – und sind auch in diesem Sinne mehr ‚stumme Natur‘ (vgl. GS II.1 154). Auf der anderen Seite sind sie „unantastbare strickwollene Kolosse“ und fallen damit in eine Kategorie der Ferne, die ansonsten nur dem Namen oder Kultbild zuteil wird (vgl. GS I.2 480). Diese „Weiber“ prostituieren sich als Dienerinnen der „käuflichen Ceres“ zwar nicht unmittelbar, aber sie vertreten grundsätzlich das Prinzip der „Hure“, „Verkäuferin und Ware in einem“ zu sein (GS V.1 55). Das Kind hat keinen „Begriff von Einkauf und Verkauf“, keinen von der Käuflichkeit der Frau; eine Ahnung davon findet sich jedoch im Bild einer ‚WarenErzeugung‘, die hier im literalen Sinne des Wortes statthat: Brodelte, quoll und schwoll es nicht unterm Saum ihrer Röcke, war dies nicht der wahrhaft fruchtbare Boden? Warf nicht in ihren Schoß ein Marktgott selber die Ware: Beeren, Schaltiere, Pilze, Klumpen von Fleisch und Kohl, unsichtbar beiwohnend ihnen, die sich ihm gaben? (GS VII.1 402) 26 27

28

Bernoulli zitiert nach Benjamin: Johann Jakob Bachofen, S. 31. In der Stufenfolge des Muttertums bezeichnet sie die zweite – cerealisch-eheliche – Stufe, welche die aphroditisch-hetärische ablöst. Vgl. zur Abfolge das Schema bei Gerhard Plumpe: Die Entdeckung der Vorwelt. Erläuterungen zu Benjamins Bachofenlektüre, in: Text + Kritik 31/32 (1971), S. 19-27, hier: S. 27. Der Hetärismus gilt als die „ursprünglichste Phase der Menschheitsgeschichte, die in überaus naturalistischer Manier unmittelbar aus den Bedingungen einer Zeugen, Gebären und Vergehen umschließenden Sumpfvegetation hergeleitet wird“. Ebd., S. 20. Über die Prostitution schreibt Benjamin im Kraus-Essay, sie sei eine „soziale Verbildung des weiblichen Sexus“ unter den Bedingungen des Tauschverkehrs (GS II.1 353).

156

4. DIE KREATUR

Die öffentlich-geheime Begattung der Marktweiber spielt auf eine symbolische Identität des weiblichen Schoßes mit der Erde an, wie Bachofen sie aufgezeigt hat: Ceres hat ihre doppelte Funktion als Göttin des Ackerbaus und der Ehe, weil das Besäen des Feldes das des Schoßes bedeutet.29 Äußerlich zeigen die „Weiber“ in „Markthalle“ keinerlei Anzeichen dieser Vorgänge: Sie stehen „träge gegen Tonnen gelehnt oder die Waage mit schlaffen Ketten zwischen den Knien“ da. Die Waage, das einzige Motiv, das Benjamin im Überarbeitungsschritt von der Berliner Chronik zur „Gießener Fassung“ noch einfügt, ist zunächst Instrument der „Marktweiber“ zum Abwiegen der Waren. Sie ist aber auch Symbol der Ceres, wie Bachofen erläutert: „Die aenea libra [d.i. die erzene Waage] zeigt uns die Naturmutter als Geberin, als gerechte Verteilerin, dadurch auch als Lenkerin und Vermittlerin des Güterverkehrs.“ 30 Die Waage erscheint allerdings in „Markthalle“ nicht als Zeichen eines ausgeübten Rechtes, hängt sie doch mit „schlaffen Ketten zwischen den Knien“. Weil das konkrete Abwiegen ausgesetzt ist, kann sich auch kein „Begriff von Einkauf und Verkauf“ einstellen. Die Waage ist also einerseits Zeichen eines ausgesetzten mütterlichen Rechts, andererseits Statthalter einer ebenso ausgesetzten Tausch-Ordnung, des geregelten Zahlungsverkehrs.31 Beide – sowohl das Prinzip der Ceres als auch das der kapitalistischen Warenwirtschaft – sind in „Markthalle“ verfremdet. Damit ist eine Pervertierung des Status der Frau und der Natur ‚auf dem Markt‘ vorgeführt, zugleich ist aber eine bloße Rückwendung auf vermeintlich ideale vormoderne Zustände ebenfalls verstellt.

4.3.2 Kreatürliche „Weiber“ vs. entfernte Frauenfiguren In ihrer abwartenden Haltung ähneln die „Weiber“ anderen weiblichen Figuren der Berliner Kindheit, darunter steinernen allegorischen Gestalten wie den Karyatiden, die das Kind an den Fassaden der Häuser bemerkt. Diese Gestalten, zumeist Dienerinnen und Vermittlerinnen, gemahnen an die Gehilfen und Boten, die Benjamin in den Texten Kafkas entdeckt, an die „Unfertigen und Ungeschickten“, die „aus dem Mutterschoß der Natur [noch] nicht voll entlassen“ sind (GS II.2 414f.) und einer „Mutterwelt“ angehören, die Benjamin 29

30 31

Bachofen: Gräbersymbolik der Alten, S. 242: „Der Erde wie des Weibes Schoß öffnet die männliche Pflugschar; diese doppelte Tat ist im Grunde nur Eine und gegenüber der Erde sowohl als gegenüber dem Weibe [...] eheliche Verbindung.“ Ebd., S. 254. Die Waage ist noch in einem weiteren Sinne Symbol: Sie steht sowohl für eine dies- als auch für eine jenseitige Urteilsprechung (vgl. dazu Kap. II.3.4). Der Text schließt damit, dass die „Marktweiber“ „schweigend die Reihen der Hausfrauen musterten, die mit Taschen und Netzen beladen mühsam die Brut vor sich durch die glatten, stinkenden Gassen zu steuern suchten“ (GS VII.1 401). Die Berliner Kindheit erzeugt so eine Stimmung, wie Benjamin sie bei Kafka detektiert hat: Kafka hat „in dem Spiegel, den die Vorwelt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen“ (GS II.2 427).

4.4 DAS KIND ALS KREATUR ZWISCHEN SPRACHLOSIGKEIT UND SPRACHE

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als älter als den Mythos bezeichnet (vgl. GS II.2 415). Dass diese Gruppe komplementär zu jenen körperlosen, zumeist durch Sprache und Stimme vertretenen Frauenfiguren steht, lässt sich an „Steglitzer Ecke Genthiner“ ablesen; dort begegnet dem Kind nach dem Erklimmen der Stiege nicht nur die Tante Lehmann, sondern auch ihre alte Dienerin. Sie [die alten Dienerinnen] waren meist massiver als die Gebieterinnen, und es kam vor, daß der Salon da drinnen [...] mir nicht so viel zu sagen hatte wie das Vestibül, in dem die alte Stütze, wenn ich kam, mir das Mäntelchen wie eine Last abnahm und, wenn ich ging, die Mütze, als wenn sie mich segnen wollte, mir in die Stirn drückte. (GS VII.1 400)

Dieses ‚alte Weib‘ kommuniziert wie die „Marktweiber“ ausschließlich über Gesten. Die Benennung als „alte Stütze“ markiert zudem ihre Verwandtschaft mit den marginalen Trägerfiguren der Gründerzeit-Architektur, dem plebs deorum. In diesen Figuren formiert sich ein anderer Frauentypus als in der Tante Lehmann: Die von Benjamin konstatierte Trennung von Eros und Sexus, stellt er in der Berliner Kindheit durch die Aufspaltung des Frauenbildes in zwei Extreme dar. Während die Tante Lehmann unbeweglich erscheint, aber in ihrer Körperlosigkeit in die Ferne schweifen kann, sind die Dienerinnen und „Weiber“ äußerst körperlich – „massiver“ – und in ihrer Erdverbundenheit unbeweglich. Die Tante und das Fräulein sind als Figuren asexuell, dem Eros und jener Form einer „platonische[n] Sprachliebe“ verpflichtet (GS II.1 362), die ihre Neigung auf den Namen richtet; die „Weiber“ hingegen sind mit dem Sexus, Zeugung und Geburt verbundene Figuren: Sie sind stumm wie die Materie und die Kreatur und fallen somit unter das Prinzip der Nähe. Die Beziehung dieser Figuren zu Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen wird allerdings erst im Hinblick auf die Figur des Kindes explizit.

4.4 Das Kind als Kreatur zwischen Sprachlosigkeit und Sprache In seinem Essay zu Karl Kraus ist das Kind die dritte Figur, die als Kreatur auftritt, es hat jedoch im Vergleich zum Tier und zur „Hure“ eine Sonderstellung. Auch das Kind ist keine ‚reine Kreatur‘, aber im Gegensatz zum ‚stummen Tier‘ und der ‚lügenden Hure‘ (vgl. GS II.1 361) hat es Sprache bzw. erlangt Sprache. Es ist darum dem sprachlosen Tier zunächst nah, entfernt sich jedoch von diesem wie von seiner eigenen stummen Existenz, sobald es das Sprechen lernt. Der hohe Stellenwert der Sprache bzw. der Sprachphilosophie bei Benjamin wird im Vergleich mit anderen Autoren deutlich, die ebenfalls die Beziehung

158

4. DIE KREATUR

des Kindes zur Sprache und Dingwelt überdenken. Ernst Jünger beschäftigte sich in seinem Band Typus, Name, Gestalt32 in den sechziger Jahren mit dieser Thematik. Die Verwendung bestimmter Termini wie „Name“ und „Ursprung“, die Benjamin in den zwanziger Jahren besetzt hat, könnte eine implizite Auseinandersetzung Jüngers mit Benjamin markieren, sie erlaubt in jedem Fall einen kontrastiven Vergleich. Jünger nimmt einen Bereich der Dingwelt an, den er „das Ungesonderte“ oder „Namenlose“ nennt33 . Dessen Macht erfährt vor allem das noch nicht vollständig in die Sprache übergetretene Kind. Jünger versteht diesen Bereich als eine Art ‚Nährgrund‘, der sich durch seine ungeheure Potentialität auszeichnet und aus dem sich auch die Sprache speist, in den aber „weder Wort noch Namen [...] hinab“ reichen.34 Er sieht zwar die Notwendigkeit, dass sich das „Ungesonderte“ sondert, dass eine der Möglichkeiten sich realisiert35 , begreift indessen „Namen und Bestimmungen“ auch „als Minderungen“ 36 : So erleidet das Kind einen Verlust, sobald es die Namen der Dinge kennt.37 Bei Benjamin besteht im Gegensatz dazu das Potential des ungesonderten „Stofflichen“ (GS IV.1 107) gerade darin, dass es die „Grundlage des Namens“ ist (vgl. GS VII.2 795). Benjamin sieht in der undifferenzierten und darum möglichkeitsträchtigen „stofflichen Gemeinschaft der Materie“ sogar das „Residuum“ des „schaffenden Gotteswortes“ (ebd.). Den Namen versteht Benjamin daher, anders als Jünger, nicht als schnöde Klassifikation, sondern als Verwirklichung dieses Potentials. Der Name hat zudem, wie Benjamin im Kraus-Essay ausführt, auch im Hinblick auf die Kreatur eine besondere Bedeutung, denn er individuiert die Kreatur und macht sie ansprechbar.38 Der Name 32 33 34 35

36 37

38

Ernst Jünger: Typus, Name, Gestalt, Stuttgart 1963. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Die Zeitstruktur, die Jünger annimmt, entspricht dabei der, die Benjamin in „Der Fischotter“ beschrieben hatte (vgl. Kap. II.4.2): „Das Ungesonderte ist indessen nicht das Neue, sondern eher das Uralte; es ist an jedem Orte und zu jeder Zeit. Wo es auftritt, wiederholt es den Ursprung, und es ist nicht nur ‚neu‘, sondern auch ‚immer wieder neu‘ in dieser Wiederholung, also in seiner Eigenschaft des Ursprünglichen.“ Ebd., S. 62. Ebd., S. 87. Das Kind sei „klüger als seine Schulmeister. Von Anfang an hat es nicht nur die Lilie besessen, sondern alle Wiesen und Wälder, die je geblüht haben, und ihren Grund dazu. Wie viele Namen wir ihm auch nennen, so können wir ihm doch nicht mehr als eine winzige Parzelle seines Eigentums bewußt machen.“ Ebd. Anders als Klages, der solche Beurteilung durch den Geist grundsätzlich ablehnt (vgl. Kap. II.2.1), sieht Jünger allerdings den Bezug der Sprache zur Macht: „Das Wahrgenommene wird von ihm [d.i. dem Wort] mit einem Mantel bekleidet. [...] Dadurch wird ihm nicht Wirklichkeit, wohl aber Wirksamkeit verliehen.“ Ebd., S. 42. Solches ‚Anrufen‘ oder ‚Aufrufen‘ bedeutet in Benjamins Kraus-Essay die Zitation vor ein (Gottes-)Gericht, welches destruktiv und damit ‚reinigend‘ wirkt – sowohl im Falle der Sprache wie der Kreatur. Im Gegensatz zum Reim, der die Wörter aufeinander bezieht (sie müssen somit als differenzierte vorliegen), ‚individuiert‘ der Name auch das Wort vollständig, weil der Name „dasjenige“ ist, „durch das sich nichts mehr“ mitteilt, und darum das Medium ist, „in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt“ (GS II.1 144). Der Name ist ohne Referenz.

4.4 DAS KIND ALS KREATUR ZWISCHEN SPRACHLOSIGKEIT UND SPRACHE

159

ist mithin für Benjamin Medium einer Aufwertung der Kreatur, die durch die Benennung als Einzelne in den Bereich der Sprache emporgehoben wird. Benjamin deutet nun an verschiedenen Stellen des Kraus-Essays mit Begriffen wie „Rauschen“ und „Summen “ auch einen undifferenzierten, bloß stofflichen Teil der Sprache an. Diese Ebene wird indessen nicht im positiven Sinne als vieldeutig verstanden – auch die Sprache muss „aus der kreatürlichen Welt herauf[steigen]“ (GS II.1 362). Moment jenes Aufstieges ist der Reim, der zugleich für das Kind die Schwelle von Sprachlosigkeit zu Sprache markiert: „Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt.“ (GS II.1 361) Der Reim ist Ort einer „philosophischen Erkennungsszene“ (GS II.1 360), zum einen sprachimmanent, denn es treffen zwei Endsilben aufeinander, die sich aufgrund ihrer Ähnlichkeit ‚erkennen‘, zum anderen erkennt das Kind diese Ähnlichkeit zweier distinkter Einheiten und hat mithin das vorsprachliche Stadium eines unsegmentierten Lautkontinuums hinter sich gelassen. Einen „Kamm“ (GS II.1 361) stellt der Reim auch darum dar, weil hier einerseits unabhängig von inhaltlichen Bedeutungen die Wörter oder Laute „stimmig “ und „klingend“ (GS II.1 363) auf einander referieren, andererseits aber dieses Zusammenstimmen ebenfalls einer philosophisch begründbaren Notwendigkeit folgt. Somit ist ein Verweis in die „kreatürliche Welt“ wie in eine höhere Sphäre gegeben. Im Vergleich zu Jünger ist also Sprache für Benjamin nichts bloß (auf die Natur) Gesetztes, sondern steht als ‚rauschende Quelle‘ in dieser selbst. Während Jünger nun (wie Ludwig Klages) die „Anschauung“ 39 als eine andere, ‚tiefere‘ Form der Erkenntnis dem begrifflichen Denken entgegenstellt, ist Benjamins ‚andere‘ Erkenntnisweise alles andere als sprachfeindlich: Benjamin bezeichnet sie in seinem Trauerspiel-Buch als „Vernehmen“ bzw. „Urvernehmen“ (GS I.1 216f.), das allerdings nicht (mehr) unmittelbar erfasst, sondern nur erinnert werden kann.40 Selbst wenn man in der Berliner Kindheit die Darstellung eines „Urvernehmen[s]“ nicht im starken Sinne konstatieren möchte, so fällt doch auf, dass sich der Erzähler verschiedentlich daran erinnert, wie das Kind die akustische Signatur des alltäglichen Lebens wahrnimmt: Es lässt sich auf das „Rauschen“ (GS II.1 361) und „Summen “ (GS II.1 358) ein und erfährt das Potential dieser undifferenzierten akustischen Sphäre beispielsweise in „Der Fischotter“, wo der Regen ihm die „Zukunft [zu]rauschte“ (GS VII.1 408). Auch in den beiden prominentesten Texten der Berliner Kindheit, in „Die Mummerehlen“ und „Das bucklichte Männlein “, spielt die akustische Sphäre eine wesentliche Rolle.

39 40

Jünger: Typus, Name, Gestalt, S. 35. „Die platonische Anamnesis steht dieser Erinnerung vielleicht nicht fern“, schreibt Benjamin weiter (GS I.1 217).

5. DENK-F IGUREN EINER ENTZOGENEN NÄHE UND EINER BANNENDEN F ERNE

5.1 „Die Mummerehlen“ und das „bucklichte Männlein“ Die „Mummerehlen“ ist in der frühen „Gießener Fassung“ der erste Text der Berliner Kindheit. Mit der Niederschrift der „Mummerehlen“ hielt Benjamin 1933 auch die Berliner Kindheit für abgeschlossen: Im übrigen kann ich den Text, wenn ich es will, als abgeschlossen ansehen, da mit der Abfassung des letzten Stücks – der Reihenfolge nach das erste, denn es ist als Anfangsstück ein Pendant zum letzten, dem „buckligen Männlein “ geworden – die Zahl von dreißig erreicht ist. (B 563)

In diesem Brief an Scholem berichtet Benjamin jedoch auch davon, dass „die Aussichten sie als Buch erscheinen zu sehen, [...] verschwindend“ seien (ebd.). Im Laufe der Jahre, in denen die Publikation der Texte in einem Band tatsächlich immer wieder scheitert, tritt „Die Mummerehlen“ den ersten Platz im Buch an „Loggien“ ab1 ; zudem wird der Text radikal gekürzt. Ein Bezug zwischen der „Mummerehlen“ und dem „bucklichten Männlein“, das der abschließende Text bleibt, ist durch die Position im Buch – die „Mummerehlen“ ist nun der einundzwanzigste Text – nicht mehr offensichtlich. Einige Gemeinsamkeiten bleiben jedoch bestehen: Die „Mummerehlen“ und das „bucklichte Männlein“ sind die einzigen (beide aus Kinderliedern entlehnten) Figuren in der Berliner Kindheit, die, unter lauter Dingen und Orten, titelgebend sind. 2 Die massiven Eingriffe in „Die Mummerehlen“ könnten einerseits bedeuten, dass Benjamin die Idee, die „Mummerehlen“ sei ein Pendant zum „bucklichten Männlein“, aufgegeben hat, andererseits könnte er auch versucht haben, diese Struktur herauszuarbeiten.3 Die zweite These wird dadurch gestützt, dass Benjamin in der „Fassung letzter Hand“ viele Textpassagen, die von der Figur der „Mummerehlen“ wegführen, wieder gestrichen hat, etwa die 1

2

3

Wobei Benjamin offenbar in der Titelliste der Berliner Kindheit, die in Agambens Sammlung zugänglich wurde, noch einmal den Tausch von „Loggien“, dem Text also, der in der „Fassung letzter Hand“ an erster Stelle steht, mit „Die Mummerehlen“ überdacht hat. Vgl. Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S. 99. In der „Gießener Fassung“ lautet ein Titel noch „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ (in der „Fassung letzter Hand“ lautet er dann „Zwei Rätselbilder“), hierbei handelt es sich aber um Personen, nicht um Kinderliedfiguren. Giuriato sieht einen Notizzettel, auf dem sich recto Stichworte zum „bucklichte Männlein“ und verso Bemerkungen zur „Mummerehlen“ finden, als weiteren Beleg einer PendantKonstruktion: Vgl. Giuriato: Mikrographien, S. 199 u. 286.

162

5. DENK-FIGUREN EINER ENTZOGENEN NÄHE UND EINER BANNENDEN FERNE

Beschreibung seiner Kinderfotos und der Kafkas, die Geschichte vom chinesischen Maler, der in sein Bild einging, und einiges mehr. Die Figur der „Mummerehlen“ tritt dadurch deutlich in den Vordergrund. Diese Beispiele haben zudem gemeinsam, dass jeweils Passagen über Bilder und Fotografien gestrichen werden. Das gilt ebenfalls für die einzige längere Textpassage, die Benjamin für die „Fassung letzter Hand“ aus „Das bucklichte Männlein“ streicht; sie referiert auf ein ‚Daumenkino‘. 4 Die ersten Aufzeichnungen, die mit dem Text „Die Mummerehlen“ in Beziehung stehen, sind bekanntermaßen zugleich Keimzelle für Benjamins Überlegungen zum „mimetischen Vermögen“. 5 Unter der Überschrift „Zur Lampe“ erörtert Benjamin die Frage, ob das Kind auf das „Fernste[]“ wie auf die „Dinge[] seiner Umwelt“ mit der „Gabe der Mimesis“ anwortet (GS VII.2 792). Das „Fernste“ ist auch in diesem Zusammenhang der „Kosmos“, der „Gestirnstand [...] im Augenblicke des Geborenwerdens“, und das Nächste die profane Dingwelt: „Und irre ich mich, wenn ich meine, daß sie [d.s. die mimetischen Kräfte] sich in mir den Stühlen, Treppenhäusern, Schränken, Stores, ja einer Lampe angebildet haben, wie meine Kinderzeit sie um sich hatte.“ (Ebd.) In eben jener zuletzt genannten Lampe figuriert bereits in dieser frühen Notiz ein gewisser Widerstreit des Optischen mit dem Akustischen. Denn obgleich das Äußere der Lampe eingehend beschrieben wird (vgl. GS VII.2 793), ist es ihre Akustik, die besticht: „Hier steht die Lampe fest. Doch sie war tragbar.“ Man konnte [...] mit ihr sich durch die ganze Wohnung hinbewegen, begleitet immer von dem Klirren des Zylinders in der Scheide und der Glocke auf ihrem Blechreif und dieses Scheppern gehört dem dunklen Lied der Brandung an, das in der Mühsal des Jahrhunderts schläft (GS VII.2 792f.).

Es folgt die noch in der „Fassung letzter Hand“ zentrale Passage, in der Benjamin – das neunzehnte Jahrhundert wie eine leere Muschel ans Ohr legend – statt der Geräusche und Töne des öffentlichen Lebens solche leisen Neben- und Hintergrundgeräusche des privaten Alltags hört, wie sie dem eingeschränkten Lebenskreis des Kindes entsprechen.6 Es sind in dieser frühen Notiz Geräusche, die das Anzünden der Lampe begleiten. Gleichwohl fragt Benjamin: „Hat diese Lampe je gebrannt? “ (GS VII.2 793) In den ersten Skizzen zur „Mummerehlen“ in der Berliner Chronik, die mit den zitierten Notizen nur über die Beschreibung der alltäglichen Geräuschewelt 4 5

6

Auch Lemke beobachtet ein „Zurücktreten des Visuellen gegenüber dem Akustischen“. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 154. Die Verbindungen der Berliner Kindheit zum „mimetischen Vermögen“ hat Anja Lemke herausgearbeitet. Ebd., v.a. S. 60-78, sowie Lemke: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, in: Benjamin-Handbuch, S. 653-663. In dieser Notiz schreibt Benjamin über die Lampe, nicht über die Muschel: „Wenn ich sie meinen Ohren näh[e]re, höre ich nicht den Lärm von Feldgeschützen oder die Klänge offenbachscher Ballmusik noch die Fabriksirenen.“ Das Bild der Muschel, die die Lampe ersetzen wird, schließt aber unmittelbar an. Vgl. GS VII.2 793.

5.1 „DIE MUMMEREHLEN“ UND DAS „BUCKLICHTE MÄNNLEIN“

163

in Beziehung stehen und in denen die Figur der „Mummerehlen“ selbst noch gar nicht auftaucht, interessiert sich Benjamin wiederum für akustische Phänomene, und zwar für Kinderlieder: Diese Melodien gehörten zur Wohnung wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, wenn meine Mutter ihn ungeduldig nach der Börse oder dem Notizbuch, die zu unterst lagen, durchsuchte, wie der dumpfe Knall mit dem am Abend der Gasstrumpf der Hängekrone überm großen Tisch im Speisezimmer an dem Streichholz sich entzündete, wie das Kreischen des Aufzugs, welcher Speisen und Geschirr aus der Küche beförderte, wie das Geräusch, mit dem der heimkehrende Vater mittags die Wohnungstür aufschloß und den Stock in den Schirmständer fallen ließ. (GS VI 511)

Fünf zuvor genannte Liedzeilen wird Benjamin durch eine von der Muhme Rehlen bzw. der „Mummerehlen“ ersetzen und damit den Fokus auf solche Neben- und Hintergrundgeräusche richten, die Dinge und Personen einem Ort ganz eigentümlich und beiläufig unterlegen. Die für ihr Kind singende Mutter hat darum in der „Gießener Fassung“ keinen Platz mehr. Wie in allen anderen Texten der Berliner Kindheit sind auch hier die Personen entfernt. Diese Depersonifikation ist selbst am Missverständnis des Namens der Muhme Rehlen als „Mummerehlen“ noch ablesbar, mit dem Benjamin in der „Gießener Fassung“ einsetzt: „In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun ‚Muhme‘ nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen.“ (GF 7) Es folgt eine kurze Reflexion des Missverständnisses, wobei die in der „Gießener Fassung“ verwendeten Formulierungen in anderen Texten das Wirken des „bucklichten Männleins“ bezeichnen: „Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art, es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht.“ (Ebd., Hervorhebungen E.A.) Es ist darum nicht verwunderlich, dass u.a. Stüssi die „Mummerehlen“ als eine „Inkarnation “ des „bucklichten Männleins“ versteht, die dem Kind, wie auch das „bucklichte Männlein“, ‚die Welt verstellt‘ 7 , die ihm Anlass gibt, ,Anstoß zu nehmen‘. In „Die Mummerehlen“ (GF) wirkt das Missverstehen im Gegensatz zu allen Missgeschicken in „Das bucklichte Männlein“ allerdings produktiv, indem es einen ‚anderen Weg‘ zu den Dingen, gar in „ihr Inneres“ weist (GF 7). So wollte der Zufall, daß in meinem Beisein einmal von Kupferstichen war gesprochen worden. Am Tag darauf steckte ich unterm Stuhl den Kopf hervor: das war ein Kopf-ver-stich. Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun musste, um im Leben Fuß zu fassen. (Ebd.)

Die Erklärung sowie das Beispiel streicht Benjamin. Damit tilgt er zugleich jene Beschreibungen, die auf Gemeinsamkeiten der „Mummerehlen“ mit dem „bucklichten Männlein “ bzw. auf ihre Identität hinweisen könnten. Gegen eine Identität der beiden Figuren spricht zudem Benjamins Aussage, die 7

Vgl. Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 162.

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5. DENK-FIGUREN EINER ENTZOGENEN NÄHE UND EINER BANNENDEN FERNE

„Mummerehlen“ sei ein „Pendant“ zum „bucklichten Männlein“ (B 563). Die These ihrer gegenläufigen Verwiesenheit stärkt indes auch ein erster Vergleich der Figuren: Die von seinem Buckel zwangsläufig ausgestellte Körperlichkeit des „bucklichten Männleins“ steht im Gegensatz zur absoluten Körperlosigkeit der als „Geist“ bezeichneten „Mummerehlen“ (GF 7 bzw. GS VII.1 417). Ihrer Körperlosigkeit entspricht (v.a. in der „Fassung letzter Hand“) eine äußerste Flüchtigkeit, der selbst ihre Stimme unterliegt und die sie in einen Figurenkreis mit den Großmüttern, Luise von Landau sowie der Tante Lehmann und ihrer „brüchige[n] und spröde[n] Stimme“ rückt (GS VII.1 399).8 Die Mummerehlen war noch schwerer [als die Muhme Rehlen] aufzutreiben. Lange stand mir das Rautenmuster für sie ein, das auf dem Teller in einem Dunst von Graupen und Sago schwamm. Ich löffelte mich langsam darauf zu. Was man von ihr erzählt hat – oder mir nur erzählen wollte – weiß ich nicht. Sie selber vertraute mir nichts an. Sie hatte vielleicht fast keine Stimme. (GS VII.1 417f.)9

Anders als diese abgeschiedenen Frauenfiguren hat das „bucklichte Männlein “ nicht bloß einen Körper; indem es „sich in den Weg“ stellt, setzt es körperlichen Widerstand entgegen (GS VII.1 430). An diesem Punkt stellt Benjamin eine Dialektik von Nähe und Ferne dar: Das „bucklichte Männlein“ treibt die 8

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Stüssi lag die „Fassung letzter Hand“ noch nicht vor. Der Bezug auf die „Gießener Fassung“ bzw. die in Band IV.1 der Gesammelten Schriften abgedruckte Version mag ein weiterer Grund für die Konfusion, d.h. die Identifikation von „Mummerehlen“ und „bucklichtem Männlein“ sein. Ausgehend von der „Gießener Fassung“ lässt sich nämlich behaupten, dass die „Mummerehlen [...] ein Wort gerade für das Wortlose, für die stumme Seite der Dinge“ ist. Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 163. Die Passage, in der die „Mummerehlen“ als „das Stumme, Lockere, Flockige“ (GF 10) beschrieben wird, hat Benjamin jedoch gestrichen und der „Mummerehlen“ in der „Fassung letzter Hand“ „fast keine Stimme“ gegeben und damit immerhin ihre vollständige Stummheit ersetzt. Wie irreführend die Charakterisierung der „Mummerehlen“ als stumm ist, zeigt auch das folgende Missverständnis Stüssis: Sie zieht Benjamins Aufsatz „Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“ heran und meint, Benjamins „Intention scheint dahin zu gehen, der menschlichen Sprache die Aufgabe zuzuerkennen, die stumme Sprache der Dinge in menschliche Sprache zu übersetzen. Am Schluß ist aber angedeutet, daß sie dieses Stumme dabei zu bewahren hat, als Inkognito des Wortes Gottes“ (ebd., S. 164). Stüssi zitiert nun: „Es ist nämlich Sprache in jedem Falle nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren.“ (GS II.1 156) Stüssi verwechselt hier das Stumme mit dem Symbolischen. Der Unterschied könnte jedoch gravierender nicht sein: Die stumme Sprache der Dinge ist ihre „Mitteilung der Materie in der stofflichen Gemeinschaft“ (GS VII.2 795), diese ist zwar „Grundlage des Namens“ (ebd.), aber ihr Prinzip ist das Ähnlichkeit und Nähe, der auf einander ausgerichteten Kommunikation. Das Symbolische hingegen ist absolut ungerichtet, bezugslos. In den früheren Versionen vermutet das Kind sie „im Affen, welcher auf dem Tellergrund im Dunst von Graupen oder Sago schwamm“ (GF 9). Lemke liest das als eine Verschiebung vom Bild ins Ornament. Vgl. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 78. M.E. spricht dieser Wechsel vom Figurativen ins Ornamentale für den Zusammenhang der „Mummerehlen“ mit den Gestirnen, da Benjamin in einer Notiz überdenkt, ob „das Ornament Sternenblicke festhält“ (GS II.3 958).

5.2 DER AURATISCHE BLICKWECHSEL ALS ‚MIMETISCHER ZWANG‘

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Entfernung der Dinge, das unvermeidliche Vergessen voran – und schwindet zuletzt selbst (vgl. GS VII.1 430). In „Die Mummerehlen“ findet sich hingegen eine komplementäre Dialektik von Ferne und Nähe: Sie, die als solche entfernt ist, steht für einen Zwang zur Ähnlichkeit und Nähe, den nicht die Dinge, sondern die Sprache ausübt.

5.2 Der auratische Blickwechsel als ‚mimetischer Zwang‘ 5.2.1 Das Blickmotiv in Benjamins Überlegungen zum „mimetischen Vermögen“ In der „Fassung letzter Hand“ wird durch eine umfassende Streichung10 am Beginn des Textes der Anschluss an folgende Ausführungen, die sich zunächst vor allem auf eine lautliche Ähnlichkeit der Worte „Mummerehlen“ und „mummen“ bezieht, unmittelbar: Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. (GS VII.1 417)

Dieser letzte Satz ist ein fast wörtliches Zitat11 aus Benjamins Schriften über Die „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“ (vgl. GS II.1 204-210 und 210-213). Wer diesen Zwang ausübt, sagt Benjamin in keinem der beiden Aufsätze; er spricht stattdessen von „natürlichen Korrespondenzen“ (GS II.1 205 und 211), die „Stimulantien und Erwecker jenes mimetischen Vermögens“ sind, „welches im Menschen ihnen Antwort“ gibt (GS II.1 211). Wichtigstes Beispiel sind ihm, wie in der frühen Notiz, die Gestirne (vgl. ebd.), die noch an der Rede vom „Aufblitzen“ der Ähnlichkeiten Anteil haben (GS II.1 213). Dieses Blitzen der Gestirne verbindet Benjamin in einer Notiz aus den Vorarbeiten zur „Lehre vom Ähnlichen“ mit dem Blick: Sind die Gestirne mit ihrem Blick aus der Ferne das Urphänomen der Aura? Darf man annehmen, daß der Blick der erste Mentor des mimetischen Vermö-

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Benjamin streicht alle Sätze von „Das Mißverstehen verstellte mir die Welt“ bis einschließlich „Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen“ (GF 7). Im ersten Aufsatz, dem zur sogenannten „Lehre vom Ähnlichen“, heißt es: „Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehn, die wir besitzen, ist nichts als nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.“ (GS II.1 210) In „Über das mimetische Vermögen“ ist der Satz stilistisch etwas verfeinert (vgl. ebd.).

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5. DENK-FIGUREN EINER ENTZOGENEN NÄHE UND EINER BANNENDEN FERNE

gens war? daß die erste Anähnlichung sich dem Blick vollzieht ? 12 (GS II.3 958)

Den Blick hat Benjamin später in „Über einige Motive bei Baudelaire“ als Aura-Phänomen bezeichnet, das sich angesichts der erwiderten Erwartung eines Blickes einstellt. 13 In diesem Sinne bedeutet die erste „Anähnlichung“ an einen Blick, zurückzublicken – das heißt auch eine Erwiderung des Blickes zu erwarten (vgl. ebd.). Die oben zitierten anthropologischen Überlegungen beziehen sich damit nicht nur auf die Geburtsstunde der Menschheit, sondern sind komplementär zu Benjamins Thesen in der Baudelaire-Arbeit: Hier schlägt der Mensch, der sich von (der) Ferne aus dem Himmel angeblickt fühlt, den Blick auf, dort ist es das Kunstwerk, das vom Menschen angeblickt und so mit dem Vermögen belehnt wird, den Blick zu erwidern (vgl. GS I.2 646f.). Diese erwiderte Erwartung eines Blickes zeichnet auch die „Wahrnehmung im Traume“ aus, bei der die „Dinge, die ich sehe, [...] mich ebenso wohl [sehen] wie ich sie sehe“ (GS I.2 647). Auch diese reziproken ‚Blicke‘ zwischen Mensch und Ding sind auratisch (vgl. ebd.). In einer solchen auratischen „Traumwahrnehmung“ „bemächtigt“ die Sache „sich unser“ (GS V.1 560).

5.2.2 Versagter vs. bannender Blick In „Die Mummerehlen“ und „Das bucklichte Männlein“ ist diese Erfahrung ins Alptraumhafte entstellt, denn das Kind erfährt die ‚Bemächtigung‘ durch die Worte und Dinge als „Blicke, die mich dingfest machten“ (GS VII.1 429), als nahezu magischen Bann. Auch anhand des Blickmotivs, das als einziges visuelles Motiv Benjamins Streichungen übersteht, lassen sich die „Mummerehlen“ und das „bucklichte Männlein“ unterscheiden: Im Gegensatz zur „Mummerehlen“ trifft der Blick des „bucklichten Männleins“ – jedoch ohne die Möglichkeit einer Erwiderung zu gewähren: „Allein ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich.“ (GS VII.1 430) Während der Blick des „bucklichten Männleins“ dem Kinde derart zu nahe kommt und es in Bann schlägt, fehlt dem Blick der „Mummerehlen“ diese Nähe, er trifft das Kind nicht, wie es am neu formulierten Ende des Textes in der „Fassung letzter Hand“ heißt: „Ihr Blick fiel aus den unentschlossenen Flocken des ersten Schnees. Hätte er mich ein einziges Mal getroffen, so wäre ich mein Lebtag getrost geblieben.“ (GS VII.1 418) Mit dieser Veränderung des Textendes geht eine weitere, wesentliche inhaltliche Änderung einher: In seinen ersten Überlegungen zum „mimetischen Vermögen“ hält Benjamin eine Nachahmung der „Vorgänge [...] am Him12 13

In beiden Aufsätzen über das mimetische Vermögen spielt die Frage nach dem Zusammenhang von Fernenneigung, Himmel, Blick und Wort keine Rolle. Vgl. Kap. I.3.4.

5.2 DER AURATISCHE BLICKWECHSEL ALS ‚MIMETISCHER ZWANG‘

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mel“ sowohl in der Gemeinschaft als auch in der Geburtsstunde jedes Einzelnen für denkbar (GS VII.2 792). Gleichwohl vermutet er, dass „die Bildekräfte, die die Spätgebornen kennen, nicht mehr so ins Weite auszugreifen fähig sind “ wie die der „früher Lebenden“ (ebd.), darum erfolgt in den frühen Fassungen der „Mummerehlen“ eine „Anähnlichung“ (GS II.3 958) des Kindes an die es umgebende Dingwelt. Bei dieser „Anähnlichung“ an die Dinge will Benjamin es offensichtlich nicht belassen, denn in der „Fassung letzter Hand“ vertreten die Worte den Zwang, „ähnlich zu werden“ (vgl. GS VII.1 417). Diese inhaltliche Veränderung im Laufe der verschiedenen Fassungen passt ins Bild einer Berliner Kindheit, welche auch die Erfahrung der Ferne mit einer „platonischen Sprachliebe“ (GS II.1 362) statt mit dem Himmel und seinen Gestirnen verbindet. Der „Zwang“ der Worte zur mimetischen „Anähnlichung“ ist allerdings solcher „platonischen Sprachliebe“ entgegengesetzt, denn nicht das Kind betrachtet die Worte, die sich unter seinem Blick zerlegen und neu zusammensetzen14 , sondern die Worte ‚blicken‘ das Kind an, als erwarteten sie eine Erwiderung in seiner „Anähnlichung“. Diese bannende Nähe geht von Wörtern aus, die keine Abstrakta oder die Stellvertreter der erziehenden Eltern sind, welche sich ein „musterhafte[s] Kind[]“ wünschen15 , es sind solche, die das Kind „Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten“ (GS VII.1 417).16 Wenn der Erzähler sagt: „Ich war entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich war.“ (GS VII.1 417), handelt es sich um eine mise en abyme des Entstellungsmotivs, weil das Kind von Ähnlichkeit mit entstellten Worten entstellt ist. Diese sind im wahrsten Sinne ent-stellt. – Betonung und Zäsuren werden falsch gesetzt, Silben verschluckt, diese „Entstellung “ der Wörter ist vergleichbar mit jener, die Witz, Traum und Missverständnis vornehmen.17 Vor allem der Witz und der ‚witzige Traum‘ unterscheiden sich aber in einer Hinsicht von den Wortentstellungen in der Berliner Kindheit, 14 15

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Vgl. Kap. II.3.3. In der frühen Notiz nimmt Benjamin durchaus noch auf die Eltern Bezug – und zwar am Beispiel der Kinderfotografien: „Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehn, die wir besitzen, ist nichts als nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Noch unsere Eltern übten ihn auf uns. Niemals so peinlich wie beim Photographen.“ (GS VII.2 793) Die Veränderungen im Text stehen wiederum im Dienste einer Entfernung der Menschen zugunsten der Sprache bzw. Dingwelt. Benjamin sieht aber auch prinzipiell einen Zusammenhang zwischen der Erziehung und bestimmten Techniken der Nähe: „Gehorsam als die Kategorie der Nähe in der religiösen Erziehung.“ (GS V.2 1214) In der „Gießener Fassung“ folgt nun die später gestrichene Beschreibung der Fotografieszenen. Dort heißt es über die Möglichkeit, sich selbst ähnlich zu sein: „Nur meinem eigenem Bilde nie. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit von mir selbst mit mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln (barock), die nach meinem Bilde gierten“ (GF 8). Damit ist die Bindung des Zwanges, ähnlich zu werden, wieder auf die Dinge selbst übergegangen und nicht mehr bei den Wörtern. Vielleicht hat Benjamin auch darum diese lange Passage gestrichen. Vgl. Kap. I.4.2.

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denn sie haben eine Pointe. Ihnen ist ein Moment des Umschlags eigen, das jene Entstellung herausstellt, das, anders gesagt, den Zuhörer aufmerken – und lachen oder erwachen lässt. Die Berliner Kindheit hingegen zeigt jene Entstellungen als dauernde Gewohnheit. Nachlässigkeit und Gewohnheit machen aus der „Gnädigen Frau“ die „Nähfrau“ (GS VII.2 425), aus der Markthalle die „Mark-Thalle“ (GS VII.1 402), aus dem „Blumes-Hof“ den „Blume-zof“ (GS VII.1 411). Zu alledem kommt das Unwissen des Kindes, das die ‚richtige‘ Aussprache und den ‚richtigen‘ Sinn (noch) nicht kennt und sich seinen eigenen Reim auf das macht, was es hört und sieht. Das gewohnheitsgemäß ‚Entstellte‘, für die Erwachsenen selbstverständlich, erscheint aber doch einem – dem Kind – ungewöhnlich, ja außerordentlich. Es kann das Missverständnis zwar nicht aufklären, aber verklären, indem es das entstellte Wort mit einer diffusen Bedeutung auflädt, die noch der Erwachsene zu erinnern vermag. Erst darin liegt die Möglichkeit des Umschlags geborgen.

5.3 Gewohnheit und Entstellung Gelegentlich hat Benjamin eine Verbindung zwischen der Gewohnheit und dem Wohnen hergestellt: Das Bestreben, sich an einem Orte wohnhaft zu machen, sei mit der Ausprägung von Gewohnheiten engstens verknüpft, denn es „besteht darin, [uns] ein Gehäuse [...] zu prägen“ (GS V.1 292). Das Kind kann ein solches ‚Gehäuse‘ nicht selbst prägen; es ist in seinem täglichen Leben umstellt von den Gewohnheiten der Eltern wie von dem Mobiliar ihrer der Wohnung. Sein ‚Gehäuse‘ richtet sich darum nicht nach seiner Gestalt, sondern seine Gestalt formt sich nach diesem ‚Gehäuse‘: „Ich war entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich war. Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt.“ (GS VII.1 417) Die Muschel, welche sich unter anderem als Symbol des „bergende[n] Mutterleibes“ 18 interpretieren lässt, ist in diesem Fall ein zwingendes ‚Gehäuse‘, das die Entstellung dem Körper des Kindes einschreibt. Über diesen Zusammenhang von Körper, Gewohnheit und Erinnerung hatte Benjamin in der Berliner Chronik nachgedacht19 , in der Berliner Kindheit fehlen solche Überlegungen. Der Erzähler kann hier nur noch auf die „Muschel“, auf das „Gehäuse“ zurückgreifen: Ich halte sie ans Ohr. Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, nicht einmal Pferdegetrappel 18 19

Bernoulli: Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol, S. 137. Benjamin erwartet in der Berliner Chronik eine durch bestimmte Körperbewegungen ausgelöste mémoire involontaire (vgl. dazu auch Kap. I.3.4), vgl. GS VI 487.

5.4 WIDERSTAND DES ENTZOGENEN („DAS BUCKLICHTE MÄNNLEIN“)

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auf dem Pflaster oder die Marschmusik der Wachtparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, das aus dem Blechbehälter in den Eisenofen fällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet und das Klirren der Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und Hintertreppe. (GS VII.1 417)

Es sind jene nebensächlichen Geräusche, von deren Erinnerung der Text zuerst seinen Ausgang nahm. Hier zündet jemand das Licht an; einer fährt vorbei oder will vielleicht hineingelassen werden. Die Menschen sind verschwunden, nur ihre akustischen Schatten stehlen sich noch um die Wohnung. Dem Erzähler rauscht so in der Muschel Alltägliches zu; nichts ist darunter, was einst kollektive Erfahrung gewesen wäre. Es ist das Gewohnte, eine akustische „nächste Nähe“ (GS VI 453), die hier im Rauschen verschleiert und entfernt – als einmaliger Moment an einem bestimmten Ort – erscheint. Diese akustische Aura-Erfahrung20 ist schließlich durch eine mise en abyme auf die Sprache, auf Vers und Lied, verwiesen: Das zuletzt genannte ‚entstellte Verschen‘ von der „Mummerehlen“ ist, wie die leere Muschel, selbst ein ‚Gehäuse‘. „[E]ndlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei. ‚Ich will dir was erzählen / von der Mummerehlen‘. Das Verschen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz“ (GS VII.1 417).

5.4 Widerstand des Entzogenen („Das bucklichte Männlein“) Das „bucklichte Männlein“ ist vielfältig mit anderen Gestalten identifiziert worden, etwa mit Kafkas Odradek, dem buckligen Zwerg aus Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte (vgl. GS I.2 693) oder, wie bereits erwähnt, mit der „Mummerehlen“: Sie alle gelten als „entstellte Figuren des Vergessens“. 21 Um das Rätsel dieser Gestalt zu lösen, greift man bereitwillig auf andere Passagen zurück, in denen das „bucklichte Männlein “ auftaucht, die prominenteste darunter ist sicherlich jene in Benjamins Essay zu Kafka. Das sorgt gelegentlich für mehr Verwirrung, denn Benjamin scheint sich zu widersprechen: Dort stiftet das Männlein, anders als in der Berliner Kindheit, nämlich keinen Schaden – es steht als „eine dunkle Mahnung“ und „ein Stein des 20

21

In einer Notiz spricht Benjamin auch von der „Aura der Geräusche“: WBA Ms 909, hier zitiert nach Lindner: Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit, S.104. Lemke: Gedächtnisräume des Selbst, S. 163.

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Anstoßes [...] im Weg“ (GS II.2 565). In einer frühen Notiz spricht Benjamin gar von den „Fehlleistungen“, die entstehen, wenn das „bucklichte Männlein uns helfen will“. 22 Diese Ambivalenz klingt noch in einigen Formulierungen der Berliner Kindheit an, wenn es zum Beispiel über das „Männlein “ heißt: „Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg.“ (GS VII.1 430) Im Gegensatz zur „Mummerehlen“, auf die immer nur im Unklaren verwiesen werden kann, setzt das „bucklichte Männlein“ einen anscheinend körperlichen Widerstand entgegen – und das, obgleich es (anders als die Liedverse vermuten lassen) vom Kind „nie gesehen“ wurde (GS VII.1 430). Die Verse, die Benjamin aus dem Kinderlied zitiert, konkretisieren dieses ‚im Weg Stehen‘: Das erzählende Ich, in der letzten Strophe als „liebes Kindlein “ angesprochen, hat die feste Absicht etwas zu tun, wird aber bei seiner Handlung gestört, denn das „bucklichte Männlein“ ist immer schon da: „Will ich in mein Keller gehn, / Will mein Weinlein zapfen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Thut mir’n Krug wegschnappen.“ (Ebd.) Es hindert das Kind, indem es etwas zerbricht (das „Töpflein“) oder zerteilt (das „Müslein “); man könnte sagen: Dinge entzweit. Einerseits erfährt das Kind, dass es „zu spät!“ (GS IV.1 113) ist und somit ‚davor‘ stehen bleibt wie vorm ‚verschlossenen Tor‘ in „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ (vgl. GF 42).23 Andererseits werden die Dinge in Mitleidenschaft gezogen: „Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn. Ein Nachsehn, dem die Dinge sich entzogen“ (GS VII.1 430). Das Wort „Nachsehn“ wird, wie die Dinge durch das „bucklichte Männlein“, zerteilt. Seine zunächst aufgerufene negative Bedeutung im Sinne eines sich herausstellenden Nachteils kippt durch die Wiederaufnahme des Wortes im zweiten Satz in seine wörtliche Bedeutung. Dieses „Nachsehn“ blickt den Dingen aber nicht einfach hinterher, es will sich dessen versichern, dass sie noch vorhanden sind. Die Dinge jedoch entziehen sich dieser Versicherung, und im „Nachsehn“ klingt nun dank des elidierten ‚e‘ ein ‚Nachsehnen‘ an, welches jenes Verhältnis zu den im Vergehen begriffenen Dingen aufruft, von dem die Berliner Kindheit handelt. Denn das, was Benjamin hier zeitgerafft darstellt, sind nicht nur Missverständnisse und Missgeschicke; es ist sein ‚groß Werden‘, das verfremdet und auf die Dinge übertragen wird – darum werden sie kleiner: „[B]is aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank geworden war. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie dem Männlein zu eigen machte.“ (Ebd.) Dieser mit dem „Schrumpfen“ einhergehende Zuwachs des Buckels lässt sich an den Dingen, die längst verschwunden sind, nun nicht mehr ausmachen, an den Wörtern hingegen ist er offensichtlich – als die Diminutiv-Endung „-lein “.

22 23

Ms 906 zitiert nach Giuriato: Mikrographien, S. 286. Vgl. Kap. II.3.3.

5.5 „GEWOHNHEIT UND AUFMERKSAMKEIT“

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5.5 „Gewohnheit und Aufmerksamkeit“ 5.5.1 Verstellung als Mahnung zur Aufmerksamkeit Das Einschreiten des „bucklichten Männleins“ behindert aber nicht nur das aufwachsende Kind, sondern schließlich auch den Erwachsenen, der sich zu erinnern sucht. „Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg. Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding, an das ich kam, den Halbpart des Vergessens einzutreiben. “ (GS VII.1 430) Wie bei der Metapher des ‚verschlossenen Tores‘ in „Herr Knoche und Fräulein Pufahl“ (GF 42) scheint es gleichgültig, ob man als Kind durch Missverständnisse und Unwissen von der ‚wahren‘ Bedeutung der Dinge und Wörter abgeschieden ist oder als Erwachsener mit vollem Wissen jene erwartete Bedeutung nicht (mehr) hat finden können, vielleicht gar die Erwartung selbst vergessen hat. Für das Kind ist der Weg nach vorne und zurück versperrt, denn es kann die beabsichtigten Handlungen nicht ausführen, weil die Dinge ihm unbrauchbar geworden sind. Für den Erwachsenen hingegen scheint – das legt vor allem der Stellenwert des Vergessens nahe – nur der Weg zurück versperrt. Das „bucklichte Männlein“ „vertritt“ aber ebenso „den Weg in die Zukunft“ (GS II.2 682). Man könnte auch sagen, der Weg nach vorne ist verstellt, weil der Weg zurück vertreten ist. Dass eine solche Unterbrechung des gewohnten Gangs nicht böswillig, sondern unerlässlich ist, bedeutet Benjamin mit dem Ausdruck „zuvorkommend“. Er bezeichnet nicht nur eine zeitliche Relation, sondern fällt durch eine positive Konnotation auf: „Zuvorkommend“ öffnet ein höflicher Mensch uns die Tür. – Hier wird sie „zuvorkommend“ verstellt. Warum? Über das „bucklichte Männlein“ heißt es in der Berliner Kindheit: „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen.“ (GS VII.1 430) Die Strophen des zitierten Kinderliedes verleiten zu der Annahme, dieser Satz bedeute ‚Weil einen dieses Männlein ansieht, gibt man nicht acht‘, denn im Lied ist das „bucklichte Männlein“ Agens. Statt solcher kausalen Verknüpfung ist jedoch anzunehmen, dass das „bucklichte Männlein“ blickt nicht weil, sondern wenn die Achtsamkeit fehlt; auch hier stellt es eine „Mahnung“ dar (GS II.2 565).

5.5.2 Die entstellten „Namen der Kindheit“ Widerpart solcher Aufmerksamkeit ist die Gewohnheit. Anders als die Berliner Kindheit mit all ihren gewohnheitsgemäß entstellten Wörtern denken lässt, versteht Benjamin Gewohnheit durchaus nicht als ein bloß Negatives,

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sondern hält sie für ebenso notwendig wie die Aufmerksamkeit24 : „Alle Aufmerksamkeit muß in Gewohnheit münden, wenn sie den Menschen nicht sprengen, alle Gewohnheit von Aufmerksamkeit verstört werden, wenn sie den Menschen nicht lähmen soll“, schreibt Benjamin in „Gewohnheit und Aufmerksamkeit“ (GS IV.1 407f.). ‚Gesprengt‘ würde der Mensch, der immerzu „Anstoß nehmen“ muss (GS IV.1 408), der, von allem und jedem getroffen und betroffen, in tausend Richtungen zugleich getrieben wäre. ‚Gelähmt‘ wäre der Mensch, der nur das „Hinnehmen“ (ebd.) kennt, ohne sich je zum Handeln verpflichtet zu fühlen. Für Benjamin liegt nun „die äußerste Entfaltung der Aufmerksamkeit“ in einem feinen „Lauschen“, welches unwillkürlich beim „leisesten Geräusche, einem Murmeln, dem Flug eines Insektes“ aufmerkt (GS IV.1 408). Diese „Aufmerksamkeit“ kennt schon das Kind auf der „Schmetterlingsjagd“ in der Berliner Kindheit. Das Flattern des Falters erscheint als eine wortlose, „fremde Sprache“, in welche das Kind sich „vergafft“, der es sich „anschmiegt“, um des Schmetterlings habhaft zu werden (GS VII.1 392). Eine Erinnerung an diese Erfahrung stellt sich für den Erwachsenen ein, wenn er das Wort „Brauhausberg“ hört, das einerseits seiner Bedeutung entleert ist – der „Name hat alle Schwere verloren, enthält von einem Brauhaus überhaupt nichts mehr“, das andererseits aber jene Sommertage kondensiert25 , die das Kind auf solcher Schmetterlingsjagd am „Brauhausberge“ zugebracht hat: Die Tage sind in diesem Namen als Ähnliche versammelt. Für den Erwachsenen wird darum das, was für das Kind die Jagd nach dem Schmetterling war, die Jagd nach solchen Namen: Das Wort wird zum ‚zitternden Schmetterling‘ (vgl. GS VII.1 393). Das Wort „Brauhausberg“ ist mithin wie das Wort „Mummerehlen“ selbst ein durch Gewohnheit und Vergessen entstelltes ‚Gehäuse‘: „Es hat das Unergründliche bewahrt, womit die Namen der Kindheit dem Erwachsenen entgegentreten. Langes Verschwiegenwordensein hat sie verklärt.“ (ebd.) In diesen „Namen der Kindheit“ (ebd.) schlägt lange vergessene Gewohnheit in ein gespanntes, dem Zittern antwortendes Aufmerken um. Dieses Zittern, das Benjamin in „Die Ferne und die Bilder“ als infinitesimale Bewegtheit noch im Ruhenden, als Nähe im Entfernten gefasst hat26 , ist optisches Pendant des Summens und Rauschens, an das sich der Erzähler in „Die Mummerehlen“ erinnert. Einem solchen Schwirren oder Summen ähneln indes nicht nur die Geräusche in „Die Mummerehlen“; auch das „bucklichte Männlein“ hat seine Ähnlichkeit mit ihnen, klingt seine Stimme doch „wie das Summen des Gasstrumpfes“ (GS VII.1 430).

24 25

26

Vgl. dazu auch seine Überlegungen im Kunstwerk-Aufsatz und das Kap. I.2.4.3. In der Berliner Chronik spielt Benjamin noch mit diesem Bild: „Und damit habe ich das Wort verraten, in das sich wie hunderte von Rosenblättern in einen Tropfen von rose malmaison hunderte von Sommertagen ihre Gestalt, ihre Farbe und ihre Vielzahl opfernd mit ihrem Dufte erhalten haben.“ (GS VI 495) Vgl. Kap. II.2.1.

5.6 DAS GEBET DER AUFMERKSAMKEIT

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Die Berliner Kindheit stellt mithin den Versuch eines Rückgangs in der Sprache selbst dar, auf unergründliche, verklärte Worte zunächst, die als „Namen “ keine aktuellen Referenzen mehr haben, die darum aber wie ein ‚Gehäuse‘ bestimmte Geräusche versammeln können.27 Diese erinnern, obschon sie einen historischen Index haben und kaum mehr sprachlich erscheinen, an jenen Moment, wenn das Kind auf „den Kamm der Sprache gelangt“ (GS II.1 361) ist, wo es im „Rauschen“, die „kreatürliche Stimme“ (GS II.1 358) der Sprache vernimmt.

5.6 Das Gebet der Aufmerksamkeit In einem Vortrag über Kafka nennt Benjamin das „bucklichte Männlein “ „auch so ein Vergessenes, [...] das wir einmal gewußt haben, und da hatte es seinen Frieden“ (GS II.2 682). Das „bucklichte Männlein“ erscheint als Figur eines Vergessenes, das scheinbar „vorweltlich“ in die unsrige Welt noch „hineinragt“ (GS VI 488) und so zum mahnenden Stein des Anstoßes wird. Es ist darum mit jenen Kreaturen verwandt, die zwar nahe sind, aber doch abgezirkelt bleiben. Zu ihnen hat das Kind eine besondere Beziehung, weil es selbst durch unzugreifbare Momente im Sinne des von Benjamin konstatierten Zusammenhangs von Gewohnheit und Wohnen entstellt ist; gerade das Gewohnte ist als „nächste Nähe“ nicht zugänglich und wird erst wieder bemerkt, wenn sich ein Widerstand einstellt. Es fehlt dann eine – vermeintlich selbstverständliche – Sicherheit, wie Benjamin sie für den Moment des Erwachens beschrieben hat. „Erwachen ist der exe[m]plarische Fall des Erinnerns: der enorme und wichtige Fall, daß uns gelingt, des Nächsten (Naheliegendsten) uns zu erinnern.“ (GS V.2 1214) Die Berliner Kindheit stellt dar, wie dieses Erinnern nicht mehr gelingt: Darum entziehen sich noch die nächsten Dinge, ohne dass sie als Körper entfernt wären. Umgekehrt ist die „Mummerehlen“ zwar körperlos und fern, da aber die Beziehung der „neueren Menschen“ (GS IV.1 146) zu jener Ferne des Sternenhimmels geschwunden, diese Ferne leer und ohne „Fülle“ (GS II.1 376) 27

Peter Szondi hat dies weniger räumlich denn zeitlich aufgefasst: „Wer aber in seine Vergangenheit reist, dem treten Wirklichkeit und Name stets wieder auseinander. Sei es, daß der Name die Wirklichkeit überlebt hat und sie nun in der Erinnerung als Schemen vertritt, sei es, daß in jenen Erlebnissen des Zum-ersten-Mal der Name da war, bevor seine Realität erfahren wurde, oder die Erfahrung da, bevor sie auf einen Namen hörte, so daß sie unverstanden blieb wie die prophetische Schrift, die im Buch des Lebens den Text unsichtbar glossierte.“ Szondi: Benjamins Städtebilder, in: Ders.: Lektüren und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 134-149, hier: S. 144.

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5. DENK-FIGUREN EINER ENTZOGENEN NÄHE UND EINER BANNENDEN FERNE

ist, schlägt die Beziehung in einen ‚Zwang zur Ähnlichkeit‘ um, den nun die nächsten Dinge, darunter auch Wörter, auszuüben scheinen. Einzig in dieser letzten Übertragung auf die Sprache gründet Benjamin die Aussicht, jene Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne bewahren – und erneuern – zu können. Es hat längst abgedankt. Doch seine Stimme, die wie das Summen des Gasstrumpfs ist, wispert mir über die Jahrhundertschwelle die Worte nach: ‚Liebes Kindlein, ach ich bitt, / Bet’ für’s bucklicht Männlein mit!‘ (GS VII.1 430)

Wer nicht vor oder zurück kann, der richtet seinen Blick in die Höhe, scheint man angesichts dieser Wendung zum Gebet am Ende des Textes (wie der gesamten Berliner Kindheit) schlussfolgern zu müssen. Das Gebet richtet sich indes nicht in die Höhe, sondern in eine schmutzige und sumpfige Tiefe, wie Benjamin es am Beispiel Kafkas dargestellt hat, der in seine „Aufmerksamkeit [...] alle Kreatur eingeschlossen“ hat (GS II.2 432). Für das „bucklichte Männlein“ zu beten, hieße darum nicht nur für diese abgedankte und entfernte Figur zu beten, sondern für all das in ihrem Kreis Versammelte: für das „Lumpengesindel“ (GS VII.1 430), das Ausgeschlossene, die vergessenen, entstellten Dinge. Und weil in dieser Aufmerksamkeit wiederum Hoffnung liegt, ist das Männlein nicht ‚bucklig‘, sondern „bucklicht“.

SCHLUSS

Die vorliegende Arbeit hat die Kontexte von Benjamins These einer Krise der Erfahrung in der Moderne ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit Ludwig Klages und im Hinblick auf seine literarischen Kurzprosasammlungen aufgearbeitet. Benjamins Einbahnstraße und seine Berliner Kindheit sind in diesem Zusammenhang von großer Relevanz, da es sich bei der Krise der Erfahrung auch um eine Krise schriftlicher Tradierung handelt. Benjamin hat, wie gezeigt wurde, in beiden Texten auf diese Krise mit neuen Darstellungsverfahren reagiert. Die Bedeutung, vor allem der Berliner Kindheit, erweist sich insbesondere auch darin, dass Benjamin kritische Fragen der Moderne – anders als im thematisch nahestehenden Passagenwerk – als Probleme der Erfahrung formuliert. Diese Probleme kommen in den literarischen Werken in einer spezifischen Weise – als Motive und Figuren – zur Darstellung. Eine Untersuchung der sprachlichen Verfahren Benjamins konnte zeigen, dass Benjamin Motive und Begriffe aus dem Umkreis von Eros und Aura im Sinne seiner (Sprach-)Philosophie in Abgrenzung zu Klages besetzt, um ihrer irrationalistischen und (prä)faschistischen Vereinnahmung entgegenzuwirken. Neben erkenntnis- und wahrnehmungstheoretischen Fragen spielen dabei, wie die Arbeit darlegen konnte, auch die Thematik der Gemeinschaft und erinnerungstheoretische Fragen eine wichtige Rolle. Die Problematik kollektiver Erinnerung hat in den literarischen Texten allerdings noch einmal andere Dimensionen haben, da sie dort ausgehend von der Figur des Kindes thematisiert wird. Weitere kritische Fragen der Moderne, die auch andere Autoren ausgearbeitet haben, werden von Benjamin auf eine andere Weise dargestellt: Was Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung später als den Umschlag von Rationalität in Mythologie zeitlich – als ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ – aufgefasst haben1 , hat Benjamin in seinen literarischen Texten in räumlichen Motiven als Bann und Abscheidung dargestellt. Indem die Arbeit verschiedene Relationen von Nähe und Ferne im Zusammenhang von Benjamins Eros- und Aura-Konzept beleuchtete, konnte sie Benjamins Annahme herausstellen, dass die Kulturleistungen und -produkte, mit deren Hilfe der Mensch Distanz zu seiner Umwelt erzeugte, ihm in der Moderne so „brennend auf den Leib“ gerückt sind (GS VI.1 131), wie einst die unbezwungene Natur. Selbst die Sprache, die mit ihrer Möglichkeit, Abwesendes zu repräsentieren, eigentlich Distanz garantiert, wird in Benjamins Berliner Kindheit dargestellt, als übe sie einen solchen Zwang aus. Die Arbeit konnte zeigen, dass Benjamin die Sprache in die Problematik eines Verlustes der Erfahrung aber auch darum einbezieht, weil er – wie die Untersuchung nachweist – Erfahrungen aus 1

Vgl. Adorno/ Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 33.

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dem Umkreis von Eros und Aura auf sie zu übertragen versucht. Sprache bietet, vor allem als Schrift, damit noch die Möglichkeit Erfahrungen (im emphatischen Sinne Benjamins) zu machen. Benjamin führt die Sprache zudem gegen den irrationalistischen Bildbegriff Ludwig Klages’ und dessen These einer Erkenntnis durch ‚Anschauung‘ an. Vor allem der Bezug zu theologischen Momenten in seinen frühen sprachphilosophischen Aufsätzen garantiert eine unüberbrückbare Differenz zu Klages’ pagan inspirierten Theorien. Die Arbeit widerlegt so die These einer theoretischen Nähe der beiden, indem sie die motivischen Ähnlichkeiten auf zunächst unscheinbare, schließlich aber entscheidende Unterschiede befragte. Der hohe Stellenwert der Sprache offenbart sich mithin nicht nur am Beispiel der hier für die Interpretation hinzugezogenen frühen sprachphilosophischen und späteren essayistischen Texte Benjamins, sondern manifestierte sich auch in seinen literarischen Werken. Diese Differenzierung zwischen Benjamins philosophisch-essayistischen und literarischen Texten wurde in der vorliegenden Arbeit bewusst vorgenommen, um deutlich herausstellen zu können, auf welche Weise sie aufeinander zu beziehen sind. Es zeigte sich, dass im Falle Benjamins die Möglichkeit, Übertragungen aus dem Bereich der Literatur in den der Philosophie sowie umgekehrt aus dem Bereich Philosophie in den der Literatur vorzunehmen, vornehmlich auf seinem Denken in (räumlichen) Relationen beruht. Ausgehend von einer Perspektive, die nach solchen Relationen fragt, können topische Prinzipien in Benjamins essayistischen und literarischen Texten beschrieben werden, die sowohl die Grundlage einiger sprachphilosophischer Konzepte bilden als auch die Figurenwelt der Berliner Kindheit organisieren. Indem die Integrität der literarischen Texte gewahrt wurde, ließ sich verdeutlichen, dass das Verhältnis von Benjamins sprachphilosophischen Konzepten und der Figurenwelt seiner literarischen Texte eines der analogen bzw. ähnlichen Ordnung ist. Das heißt, es handelt sich nicht um ein Modell, weil jeder Darstellung bestimmte Qualitäten, Konnotationen und Verweise auf andere Diskurse eigen sind, die die Beibehaltung einer gewissen Konkretion einfordern. In diesem Zuge musste Benjamins Sprachphilosophie als Kontext aufgearbeitet werden. Die Untersuchung widmete sich dabei auch Elementen in Benjamins Sprachphilosophie, die bislang kaum beleuchtet waren, wie etwa dem Reim oder dem Witz, und stellte ihren Bezug zu den Kategorien Nähe und Ferne heraus; aufgrund ihrer spezifischen Perspektive konnte sie aber auch einen neuen Blick auf vielfach diskutierte Begriffe, wie den Namen oder das Zitat, werfen. (Räumliche) Relationen sind im Hinblick auf Benjamins Sprachverständnis insofern von Belang, als dass bestimmte Elemente seiner Sprachphilosophie über das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Bezügen charakterisiert werden können. Einerseits geht Benjamin nicht nur von einer (menschlichen) Lautsprache aus, sondern nimmt auch eine ‚stumme‘ Sprache der Dinge an, die auf ihrer „stofflichen Gemeinschaft“ und das bedeutet: auf Verbindungen, beruht. Andererseits führt er mit seinem Konzept des Na-

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mens eine Kategorie ein, welche sich gerade durch ihre Referenzlosigkeit auszeichnet. Die vorliegende Arbeit legte dar, dass sich auf Grundlage dieser Zuschreibungen die genannten sprachphilosophischen Konzepte und bestimmte Figurengruppen der Berliner Kindheit aufeinander beziehen lassen. Im Hinblick auf die Berliner Kindheit stellt dahingehend eine Voraussetzung dar, dass es Benjamin nicht um ein Gedenken an Personen, sondern um Figuren geht, die vornehmlich als Träger von Eigenschaften dienen, aufgrund derer sie eine eng begrenzte Funktion im Text haben. Die Figurenwelt der Berliner Kindheit ist so zwar autobiographisch inspiriert, trägt jedoch teils märchenhafte, teils mythologische Züge. Die namenlosen, über stumme Winke kommunizierenden „Weiber“ wurden daher jener ‚laut- und namenlosen Sprache‘ und die ‚fernen‘ Frauenfiguren aufgrund ihrer Stimme oder aufgrund ihres Namens der Lautsprache zugeordnet. In diesem Zusammenhang rekonstruierte die vorliegende Studie weitere motivische und thematische Elemente, die in Benjamins Texten mit der jeweiligen Figurengruppe assoziiert werden und die ihrer Gegenüberstellung dienten. So konnte gezeigt werden, dass die Frauenfiguren hinsichtlich ihrer Körperlichkeit und Körperlosigkeit einander gegenübergestellt und mit Sexus und Eros bzw. Nähe und Ferne assoziiert werden. Damit ließ sich ein Bezug zu Benjamins Überlegungen zu Eros und Aura in seinen Essays über Charles Baudelaire und Karl Kraus herstellen. Auch hier ließ sich im Hinblick auf sprachphilosophische Elemente eine ähnliche Hierarchie herausarbeiten, wie sie die diametral entgegengesetzten Figurengruppen aufweisen: In der Berliner Kindheit treten die Frauenfiguren als Dienerinnen und Herrinnen auf, in Benjamins Essay über Karl Kraus, hat auch die Sprache als Reim aus der Welt des Kreatürlichen in das Reich des Namens aufzusteigen. Wenn man nun sowohl das ‚stumme Weib‘ als auch den ‚ausdruckslosen Namen‘ als Denkfiguren begreift, so erscheint die Komplexität im Falle der philosophischen und essayistischen Texte zunächst größer, wenn man annimmt, dass es dem Leser leichter fällt, sich eine konkrete Gestalt als ein ungegenständliches Konzept vorzustellen. Doch zeigten sich gerade an den zentralen Figuren der Berliner Kindheit, der „Mummerehlen“ und dem „bucklichten Männlein“, dass die Darstellung von Konzepten als Figur Interferenzen erzeugt, vor allem wenn sie – wie im Fall des „bucklichten Männleins“ – als Agens auftreten oder bereits mit Bedeutung aufgeladen sind. Die literarischen Darstellungen können so zwar anschaulicher als viele Passagen der essayistischen Texte sein, sie sind jedoch ebenso vieldeutig. Zudem erzeugt die Perspektivierung durch eine Figur verschiedene Momente der Verbindung (etwa über ihre Erinnerungen), die eine ähnliche Komplexität zur Folge haben können wie die Referenzen, die Benjamin in seinen essayistischen Texten zwischen einzelnen Begriffen herstellt. Diese Perspektivierung trägt darüber hinaus zu einer affektiven Dimension der Texte bei, die jedoch, weil Benjamin das Kind als Figur und nicht als Person darstellt, kaum den Anschein von Subjektivität hinterlässt. Obgleich es gewisse Einschränkungen der Perspektive

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gibt, die durchaus denen eines Kindes entsprechen, hat man dennoch nicht den Eindruck, als sähe man die Welt der Berliner Kindheit durch die Augen eines Kindes. Vielmehr gibt es ein Moment der Entäußerung dieser Perspektive. Wie dieser Eindruck einer ‚sachlichen‘ Haltung entsteht, konnte die Arbeit auch erklären, indem sie beschreibt, wie die Bindung des Kindes nicht an Personen, sondern vornehmlich an die Sprache dargestellt wird. So konnte von den literarischen Texten der Bogen zu Benjamins Konzepten geschlagen werden, zumal zu jener Erfahrung, die Benjamin im Kraus-Essay „platonische Sprachliebe“ nennt. Die Arbeit stellte mithin heraus, dass in Benjamins literarischen Darstellungen die Thematik der Aura auch noch einmal andere Dimensionen hat, als seine These von der ‚Zertrümmerung der Aura‘ im Kunstwerkaufsatz vermuten lässt. Der Blick auf die literarischen Elemente, die Benjamin in seinen Essays verhandelt, konnte auch deutlich machen, dass bereits in Benjamins Essay zu Baudelaire im Vergleich zum Kunstwerkaufsatz weitere Ebenen der AuraThematik zu konstatieren sind. Denn einerseits thematisiert Benjamin zwar auch hier die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken und die Fotografie, andererseits werden aber Motive aus Baudelaires Lyrik, darunter etwa das Motiv des Blickes, behandelt bzw. von Benjamin selbst ansatzweise ausgestaltet. Um diese interpretatorischen Beigaben Benjamins besser konturieren zu können, stellte die Untersuchung sie in den Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit diesen Motive bei Goethe, Dante und Kraus. Ausgehend davon wurde nachgewiesen, dass Benjamin diese Motive in seinen literarischen Schriften verwendet, vor allem aber konnte gezeigt werden, wie er sie modifiziert hat und welche Implikationen dies vor dem Hintergrund seiner These zur Krise der Erfahrung in der Moderne hat. In diesem Zuge weist die Arbeit eine bislang unbeachtete Dimension der von Benjamin konstatierten Krise der Erfahrung nach. Die vorliegende Untersuchung trägt zu einer Differenzierung des Benjamin’schen Eros-Begriffes bei, indem sie sowohl für seine literarischen als auch für seine essayistischen Texte nachweist, dass Eros sowohl als Überbegriff für eine Verbindung von Nähe und Ferne und mithin von Eros und Sexus stehen, als auch als Gegenbegriff zum Sexus dienen kann, wenn Benjamin diese Verbindung gelöst sieht. Eros ist für Benjamin in der Moderne Gegenstand einer Spaltung, die auf der einen Seite Sexus, Körperlichkeit und Kreatürlichkeit ‚bloßlegt‘, auf der anderen Seite aber auch die Möglichkeit bietet, Eros in eine „platonische Sprachliebe“ zu wandeln (GS II.1 362). In diesem Sinne lässt sich auch eine von Benjamin hergestellte Verbindung von Aura und Sprache konstatieren: Wenn es eine auratische Erfahrung noch gibt, dann als eine akustische, wie die Berliner Kindheit zeigt. Die Untersuchung kann somit eine Vielzahl von Erfahrungsformen ausweisen, die Benjamin vornehmlich in seinen literarischen Texten darstellt, die man ausgehend von der im Kunstwerkaufsatz beschriebenen ‚Krise der Aura‘, welche eher den Verlust dieser Erfahrung nahelegt, nicht unbedingt vermuten würde. In dieser Hinsicht kann die Übertragung der Erfahrung der Aura

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und des Eros auf die Sprache als Benjamins Versuch einer ‚Rettung‘ dieser Erfahrungen gelesen werden. Aufgrund dieses hohen Stellenwertes der Sprache legte die Arbeit ebenfalls einen Fokus auf die sprachlichen Verfahren in Benjamins Texten. Im Sinne einer Übertragung gewisser Erfahrungen auf die Sprache sind diese Verfahren auch als ein Versuch Benjamins zu begreifen, dem Leser besondere Erfahrungen mit seinen Texten zu ermöglichen. So konnte die Studie darlegen, dass im Vergleich zur Berliner Kindheit der Leser in der Einbahnstraße unmittelbar mit Benjamins Spiel mit wechselnden Relationen konfrontiert ist. Benjamin arbeitet mit Hinweisen und Anweisungen, die nicht nur auf der Semantik, sondern auch auf der Materialität der Wörter beruhen. Der Umschlagpunkt solcher Kippfiguren ist in Benjamins Äußerungen zur Montage (und nicht nur dort) als „Unterbrechung“ (GS II.2 697) gedacht. Während diese „Unterbrechung“ bislang vornehmlich als Zäsur verstanden wurde, hat die vorliegende Arbeit gezeigt, dass Benjamin ihr auch eine „organisierende Funktion “ zuschreibt (GS II.2 696), die bestimmte „Konfigurationen“ (GS II.2 602) herausstellt. Damit weist die Untersuchung auf einen bislang nicht eingehend erforschten Bereich hin: Das Begriffsfeld der Organisation, das Benjamin hier bewusst im Hinblick auf seine Referenzen sowohl auf physische wie auf politische Einheiten gewählt hat, wäre auch im Hinblick auf Benjamins Auseinandersetzung mit dem frühen Karl Marx noch einmal genauer zu betrachten. Auch mit Blick auf die sprachlichen Verfahren hat die Untersuchung daher versucht, die Implikationen der jeweiligen Zusammenhänge nicht auszublenden. So konnte gezeigt werden, dass die „Unterbrechung“ je nach Kontext einen politischen Impetus oder eine theologische Dimension hat oder dass sie vornehmlich auf den Rezipienten oder auf interne Referenzen eines Mediums abgestellt kann sein. Die Bedeutung dieser Denkfigur einer „Unterbrechung“ mit „organisierender Funktion “ hat die Arbeit zudem in den Kontext der von Benjamin beschriebenen Krise der Erfahrung gesetzt, die sich auch darin manifestiert, dass nicht (mehr) zugreifbare Dinge bestimmend wirken. Hier versteht Benjamin die „Unterbrechung“ als ein Mittel, erneut Distanz zu schaffen und so wiederum eine Stellungnahme zu ermöglichen. Schließlich wurde das Prinzip einer „Unterbrechung“, die Konfigurationen herausstellt, auch in den großen Rahmen der Untersuchung gesetzt, und als Abgrenzung Benjamins von Klages, der vielfach die Metapher des Fließens bemüht, erörtert. Es ließe sich nun in mehrfacher Hinsicht an die vorliegende Arbeit anschließen; dabei wäre zunächst Benjamins (und auch Klages’) Bezug auf Goethe von Interesse. Es stünden zwar nicht die Erfahrung der Aura und des Eros im Vordergrund, aber in Goethes literarischen wie naturwissenschaftlichen Werken sind Momente der Nähe und Ferne, des Trennens und Verbindens so allgegenwärtig, dass auch hier die Vermutung naheliegt, dass Nähe und Ferne mehr als bloße Raum- bzw. Zeitwahrnehmungen darstellen. Von Klages ausgehend müsste die Frage nach (visuell vorgestellten) Anschauungs- bzw. Erkenntnis-

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modi im Vordergrund stehen, von Benjamin ausgehend zunächst jenes besondere „Gleichgewicht von Nähe und Ferne“, das für ihn auch den ‚schönen Schein‘ kennzeichnet (GS VI 86).2 Weiterer Aufschluss wäre von Ernst Blochs Ausarbeitung der Goethe’schen Motive zu erwarten, denn Bloch entwickelt in Das Prinzip Hoffnung – von den gleichen Goethe-Versen wie Benjamin ausgehend – die Vorstellung einer Dialektik von Nähe und Ferne, die er in den philosophischen Kontext von (Ur-)Bild und Verwirklichung stellt. Er interpretiert Nähe und Ferne explizit, während Benjamin sie in seinen Darstellungen verwendet. Nähe und Ferne illustrieren bei Bloch daher zum einen eher philosophische Probleme, zum anderen sind die Bezüge zu bestimmten Diskursen, etwa zum Materialismusproblem, deutlicher.3 In einem Vergleich mit Benjamin ließe sich möglicherweise erhellen, ob oder inwieweit Kategorien wie Entelechie und Form für Benjamins sprachphilosophische Konzepte eine Rolle spielen. Es ginge dabei ebenfalls um einen bislang noch ausstehenden, umfassenden Blick auf Benjamins Goethe-Rezeption 4 , der neben Benjamins Auseinandersetzung etwa mit Goethes „Urphänomen“ im Passagenwerk auch ähnliche (literarische) Motive und Figuren erfasst.5 Schließlich wäre zu fragen, ob sich Nähe und Ferne als ‚philosophische Metaphern‘ durch die europäische Geistesgeschichte ziehen. Von Interesse wären beispielsweise solche Modelle, welche die Entwicklung der Menschheit zumeist als eine fortschreitende Distanzierung des Menschen von seiner Umwelt lesen.6 Ernst Cassirers Modell der mimischen, analogischen und symbolischen Ausdrucks-Stufe7 und Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit8 2

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Damit würde der in dieser Arbeit ausgeklammerte Diskurs über den (ästhetischen) Schein einbezogen, der über „Hülle“ (GS I.1 195) und „Schleier“ (GS V.1 461) einen Bezug zur Ferne hat: „Die Ferne erscheint verschleiert“, heißt es etwa in einer Notiz zur Aura (GS V.1 461). Vgl. Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte, seine Substanz, Frankfurt a.M. 1972, S. 16f. Auszugehen wäre dabei u.a. von Cornelia Zumbuschs Vergleich der Symbol-Begriffe Benjamins und Aby Warburgs, der Goethes „Urphänomen“ als wichtige Schnittstelle ansetzt: Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagenwerk, Berlin 2004. Vgl. dazu auch Eva Geulens Aufsatz: Simmels Goethebuch und Benjamins Wahlverwandtschaftenaufsatz, (unveröffentlicht). Dabei wäre z.B. an einen Vergleich der mysteriösen Tante Makarie aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre mit den Tanten der Berliner Kindheit zu denken, deren eingeschränkte Mobilität im Kontrast zu ihren großen Wirkungskreisen steht. Oder an das Motiv der Faust’schen „Mütter“, das Benjamin in der Vorrede des Trauerspielbuchs verwendet. „Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen“, schreibt etwa Aby Warburg. Aby Warburg: Einleitung, in: Ders.: Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke, Berlin 2000, S. 3-6, hier: S. 3. Cassirer denkt diese Distanzierung auch in der Sprache selbst: „Je weniger jetzt die Sprachform noch danach strebt, ein sei es unmittelbares, sei es mittelbares Abbild der gegenständlichen Welt zu bieten, [...] um so deutlicher ist sie damit zu ihrer eigentümlichen Leistung, zu ihrem spezifischen Sinn durchgedrungen. Jetzt erst hat sie statt des mimischen oder analogischen Ausdrucks die Stufe des symbolischen Ausdrucks erreicht, der, indem er

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könnten dabei als Beispiele solcher anthropologischer Narrationen besonders interessant sein, weil sie räumliche Distanzierung mit Sprach- bzw. ZeichenModellen verknüpfen. Gerade Blumenbergs „Metaphorologie“, die an „die Substruktur des Denkens [...], an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisation “ heranzukommen versucht9 , offenbart selbst ein topisches Modell und im Begriff der „Nährlösung“ noch ein schwaches Moment der Fruchtbarkeitsmetaphorik, die bei Benjamin in der Assoziation der ‚stofflichen‘ Stufe der Sprache mit dem Sexus recht deutlich ist. Benjamins Darstellungen werfen zudem methodisch einige Fragen auf, die über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen. Schwierigkeiten bereitet seine Art Begriffe zu verwenden wie auch sein Umgang mit Figuren und Motiven: Angesichts der Reihe an Texten, welche die Erfahrung des Eros und das Motiv des Blickes verbinden, lässt sich zwischen systematischen, teilweise auch typologisch anmutenden Aussagen und historischen Diagnosen kaum unterscheiden. Diese Frage nach Historizität oder systematischem Ort solcher Typen, Strukturen oder Einschnitte ist bei zeitgenössischen Denkern wie Michel Foucault oder Giorgio Agamben noch virulent. Agamben böte sich für einen Vergleich insbesondere an, nicht nur, weil er Benjamin bekanntermaßen rezipiert, sondern weil auch ihm, wie Benjamin, ein „topologische[r] Denkstil“ 10 eigen ist. Die Begriffe und Bilder, mit denen Benjamin arbeitet, lassen sich nur ungenügend als Motive oder Metaphern beschreiben, denn sie stehen, wie die Arbeit darlegte, in einem Beziehungsgefüge mit anderen Begriffen und Bildern. Weil ihnen somit ein prozessuales Moment zukommt, wurde hier der Begriff der Denkfigur verwendet. Er hat den Vorzug, auf die räumlich und variabel erscheinende Anordnung von Textelementen in Benjamins Darstellungen zu verweisen, die man, mit einem Begriff aus Benjamins Texten, als Konfiguration bezeichnen könnte. Den Begriff der Figur hat diese Arbeit darüber hinaus aber auch in seiner Bedeutung als (literarische) Gestalt herangezogen, um so auf bisher kaum beschriebene Verfahren Benjamins hinzuweisen: Benjamin arbeitet auf der einen Seite mit einer Art Personifikation von Konzepten durch Zuschreibung von Eigenschaften und Handlungsvermögen und auf der anderen Seite mit einer Depersonifikation von (biographischen) Persönlichkeiten durch eine Reduktion ihrer Charakteristik und ihrer Handlungsoptionen, die sie zur Figur machen. Schließlich ging es um eine besondere Atmosphäre oder Ein-

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sich von jeder Ähnlichkeit mit dem Gegenständlichen abscheidet, nun gerade in dieser Entfernung und Abkehr einen neuen geistigen Gehalt gewinnt.“ Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, in: Ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Birgit Recki, Bd. 16, Hamburg, Mainz 2009, S. 75-104, hier: S. 85. Siehe dazu den ersten Abschnitt von „Theorie der Unbegrifflichkeit“, in dem Blumenberg die Entstehung des Begriffs anthropologisch „aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung“ ableitet. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-18, hier: S. 11. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1997, S. 13. Eva Geulen: Giorgio Agamben. Zur Einführung, S. 26.

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färbung von Benjamins Darstellungen. Diese Qualitäten machen den Reiz seiner Texte aus, denn ihnen kann bzw. soll eine besondere Stimmung des Lesers entsprechen, die dem, was in der Berliner Kindheit als Eros-Erfahrung des Kindes beschrieben wird, durchaus nicht fern ist. Die Untersuchung hat Benjamin darum jedoch nicht lediglich als Melancholiker und Allegoriker im Zeichen des Aufschubs oder Entzuges begriffen, sondern zu zeigen versucht, wie auch diese Denkfiguren mit Benjamins emphatischen Sprach- und Textverständnis zusammenhängen, das von einer (politischen) Wirkungskraft der Texte ausgeht. Die Dissertation beleuchtet Benjamins Texte in diesem Sinne als ein wichtiges Zeugnis seiner philosophischen wie literarischen Auseinandersetzung mit Ludwig Klages, dessen (prä)faschistische Positionen sich auch im Medium literarischer Motive artikulieren.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Umschlagsabbildung: Walter Benjamin im Soldatenkostüm, Atelier Selle & und Kuntze Potsdam, ca. 1897; aus dem Bestand des Walter BenjaminArchivs, Akademie der Künste, Berlin. Abbildung 1, S. 38: Sasha Stone: Umschlag der Erstausgabe der Einbahnstraße, Rowohlt Verlag, Berlin 1928; aus dem Bestand des Walter BenjaminArchivs, Akademie der Künste, Berlin. Abbildung 2, S. 39: Beispielseite der Erstausgabe der Einbahnstraße; aus dem Bestand des Walter Benjamin-Archivs, Akademie der Künste, Berlin. Alle Abbildungen sind mit Genehmigung des Walter Benjamin-Archivs gedruckt.