Ethische und politische Freiheit 9783110815764, 9783110142716


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German Pages 544 [548] Year 1997

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Table of contents :
Vorwort
1. Teil. Klassische Positionen
Natürliche Freiheit
Freiheit und praktische Vernunft
Bürgerliche Freiheit
Natürliche Freiheit, moralische Einschränkungen und der Staat
Kant’s Theory of Justice
Morality and the Liberal Ideal
Freiheit im Liberalismus und bei Marx
2. Teil. Zeitgenössische Positionen
Zwei Freiheitsbegriffe
Liberalism
Gleiche Freiheit für alle
Theoretical Foundations of Liberalism
Defending Liberalism
Liberalism and the Art of Separation
Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses
3. Teil. Rechtsphilosophische Aspekte
Between Utility and Rights
The Utilitarian Logic of Liberalism
Freiheit, Normen und operatives Gerichtsverfahren
4. Teil. Postmoderne Freiheit
The Subject and Power
,Nachmetaphysische Ethik‘ oder: die Freiheit, seine Moral selbst zu wählen
Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens
5. Teil. Entscheidungstheoretische Aspekte
Individualrechte ernst – aber nicht unangemessen ernst genommen
Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit
Positionen und Rechte: Drei Lösungen des Liberalen Paradoxons
Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung kollektiver Entscheidungen
Quellennachweise
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Ethische und politische Freiheit
 9783110815764, 9783110142716

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Ethische und politische Freiheit

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Ethische und politische Freiheit herausgegeben von Julian Nida-Rümelin und Wilhelm Vossenkuhl

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einheitsaufnahme Ethische und politische Freiheit / hrsg. von Julian Nida-Rümelin und Wilhelm Vossenkuhl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-015697-0 ISBN 3-11-014271-6

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Rainer Engel, Berlin Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Manche Themen beschäftigen die Menschheit zu allen Zeiten. Das zeitbedingte Interesse mag schwanken, die Einstellungen mögen sich im Laufe der Zeit ändern, aber nie kann man von ihnen sagen, sie hätten sich nun endgültig erübrigt. Das Thema „Freiheit" gehört dazu. Es hat durch die jüngste historische Entwicklung eine neue Aktualität erfahren, aber es begleitet die theoretische Reflexion über das angemessene, politisch geordnete Zusammenleben in unserem Kulturkreis mindestens seit der griechischen Klassik und hat trotz (oder sogar wegen) seiner unterschiedlichen ideologischen Vereinnahmungen seine zentrale Stellung für das normative Denken insgesamt bewahrt. Die gegenwärtige Diskussion um Liberalismus vs. Kommunitarismus ist keine Auseinandersetzung um begriffliche, ethische und politische Aspekte von Freiheit, sondern um Universalismus vs. Partikularismus, Neutralität vs. Bindung, Individualität vs. Gemeinschaft. Diese Diskussion, aber gleichermaßen, wenn auch unterschwelliger, die politische Entwicklung seit dem Niedergang der kommunistischen Regime in Europa und weltweit, haben das Strömungsbild des politischen Denkens grundlegend verändert. Konzeptionelle und theoretische Gemeinsamkeiten einen jeweils ein politisch höchst heterogenes Spektrum. Der so verstandene Liberalismus reicht von politisch eher rechts stehenden Auffassungen bis weit in die radikale Linke hinein. Gleiches gilt für den Kommunitarismus. Die Diskussion um ethische und politische Aspekte der Freiheitsthematik selbst ist dabei - gegenläufig zu den beeindruckenden Erfolgen der Bürgerrechts- und Demokratiebewegung nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Lateinamerika und Afrika — eher in den Hintergrund getreten. Dieser Reader stellt klassische und zeitgenössische Texte zur Freiheitsthematik zusammen. Im ersten Teil werden die klassischen Positionen von John Locke, Immanuel Kant und John Stuart Mill, gemeinsam mit einigen zeitgenössischen Nachfolgern und Kritikern (Robert Nozick, Thomas Pogge, Michael Sandel und Raymond Geuss) dokumentiert. Der zweite Teil des Readers enthält ausgewählte Texte zur zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Freiheitsthematik von Isaiah Berlin, Ronald Dworkin, John Rawls, Jeremy Waldron, William Galston und Michael Walzer. Der ditte Teil wendet sich rechtsphilosophischen Aspekten mit Texten von H. L. A. Hart, Russell Hardin und Julian Roberts zu. Der vierte Teil dokumentiert das postmoderne Freiheitsverständnis von Michel Foucault, Herbert Scheit und Richard Rorty. Der Band schließt mit Texten, die sich mit der entscheidungstheoretischen Dimension der Freiheitsthematik befassen, von Rainer Trapp, Peter Koller, Lucian Kern/Julian Nida-Rümelin und Martine Nida-Rümelin.

VI

Vorwort

Die Originalbeiträge gehen überwiegend auf eine Tagung „Freiheit in der veränderten Welt" des engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland zurück, die Wilhelm Vossenkuhl im Jahr 1991 in Bayreuth organisierte. Wir danken den Autoren und den Verlagen, die mit ihren Abdruckgenehmigungen diesen Reader ermöglicht haben. München und Göttingen im Juli 1997

Julian Nida-Rümelin Wilhelm Vossenkuhl

Inhalt Vorwort

V 1. Teil Klassische Positionen

John Locke Natürliche Freiheit

3

Immanuel Kant Freiheit und praktische Vernunft

13

John Stuart Mill Bürgerliche Freiheit

28

Robert Nozick Natürliche Freiheit, moralische Einschränkungen und der Staat . . . .

57

Thomas W. Pogge Kant's Theory of Justice

78

Michael J. Sandel Morality and the Liberal Ideal

108

Raymond Geuss Freiheit im Liberalismus und bei Marx

114

2. Teil Zeitgenössische Positionen Isaiah Berlin Zwei Freiheitsbegriffe

129

Ronald Dworkin Liberalism

180

John Rawls Gleiche Freiheit für alle

205

Jeremy Waldron Theoretical Foundations of Liberalism

226

Vili

Inhalt

William Galston Defending Liberalism

249

Michael Walzer liberalism and the Art of Separation

265

John Rawls Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses

279

3. Teil Rechtsphilosophische Aspekte H. L. A. Hart Between Utility and Rights

315

Russell Hardin The Utilitarian Logic of Liberalism

335

Julian Roberts Freiheit, Normen und operatives Gerichtsverfahren

364

4. Teil Postmoderne Freiheit Michel Foucault The Subject and Power

387

Herbert Scheit ,Nachmetaphysische Ethik' oder: die Freiheit, seine Moral selbst zu wählen

405

Richard Rorty Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens

417

5. Teil Entscheidungstheoretische Aspekte Rainer Trapp Individualrechte ernst — aber nicht unangemessen ernst genommen Peter Koller einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit Grundlinien

447 476

Inhalt

IX

Lucían Kern und Julian Nida-Rümelin Positionen und Rechte: Drei Lösungen des Liberalen Paradoxons . . .

509

Martine Nida-Rümelin Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung kollektiver Entscheidungen

519

Quellennachweise

533

1. Teil Klassische Positionen

Natürliche Freiheit John Locke

Auszüge aus: John Locke,

The Second Treatise of Government

Of the State of Nature 4. To understand Political Power right, and derive it from its Original, we must consider what State all Men are naturally in, and that is, a State ofperfect Freedom to order their Actions, and dispose of their Possessions, and Persons as they think fit, within the bounds of the Law of Nature, without asking leave, or depending upon the Will of any other Man. A State also of Equality, wherein all the Power and Jurisdiction is reciprocal, no one having more than another: there being nothing more evident, than that Creatures of the same species and rank promiscuously born to all the same advantages of Nature, and the use of the same faculties, should also be equal one amongst another without Subordination or Subjection, unless the Lord and Master of them all, should by any manifest Declaration of his Will set one above another, and confer on him by an evident and clear appointment an undoubted Right to Dominion and Sovereignty. 5. This equality of Men by Nature, the Judicious Hooker looks upon as so evident in it self, and beyond all question, that he makes it the Foundation of that Obligation to mutual Love amongst Men, on which he Builds the Duties they owe one another, and from whence he derives the great Maxims of Justice and Charity. His words are; The like natural inducement, hath brought Men to know that it is no less their Duty, to Love others than themselves, for seeing those things which are equal, must needs all have one measure; If I cannot but wish to receive good, even as much at every Man's hands, as any Man can wish unto his own Soul, how should I look to have any part of my desire herein satisfied, unless my self be careful to satisfie the like desire, which is undoubtedly in other Men, being of one and the same nature? to have any thing offered them repugnant to this desire, must needs in all respects grieve them as much as me, so that if I do harm, I must look to s u f f e r , there being no reason that other should shew greater measure of love to me, than they have by me, shewed unto them; my desire therefore to be lov'd o f m y equals in nature, as much as possible may be, imposeth upon me a natural Duty of bearing to themward, f u l l y the like affection;

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From which relation of equality between our selves and them, that are as our selves, what several Rules and Canons, natural reason hath drawn for direction of Ufe, no Man is ignorant. Eccl. Pol. Lib. I. 6. But though this be a State of Liberty, yet it is not a State of Licence, though Man in that State have an uncontroleable liberty, to dispose of his Person or Possessions, yet he has not Liberty to destroy himself, or so much as any Creature in his Possession, but where some nobler use, than its bare Preservation calls for it. The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges every one: And Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions. For Men being all the Workmanship of one Omnipotent, and infinitely wise Maker; All the Servants of one Sovereign Master, sent into the World by his order and about his business, they are his Property, whose Workmanship they are, made to last during his, not one anothers Pleasure. And being furnished with like Faculties, sharing all in one Community of Nature, there cannot be supposed any such Subordination among us, that may Authorize us to destroy one another, as if we were made for one anothers uses, as the inferior ranks of Creatures are for ours. Every one as he is bound to preserve himself and not to quit his Station wilfully; so by the like reason when his own Preservation comes not in competition, ought he, as much as he can, to preserve the rest of Mankind, and may not unless it be to do Justice on an Offender, take away, or impair the life, or what tends to the Preservation of the Life, the Liberty, Health, Limb or Goods of another. 7. And that all Men may be restrained from invading others Rights, and from doing hurt to one another, and the Law of Nature be observed, which willeth the Peace and Preservation of all Mankind, the Execution of the Law of Nature is in that State, put into every Mans hands, whereby every one has a right to punish the transgressors of that Law to such a Degree, as may hinder its Violation. For the Law of Nature would, as all other Laws that concern Men in this World, be in vain, if there were no body that in the State of Nature, had a Power to Execute that Law, and thereby preserve the innocent and restrain offenders, and if any one in the State of Nature may punish another, for any evil he has done, every one may do so. For in that State of perfect Equality, where naturally there is no superiority or jurisdiction of one, over another, what any may do in Prosecution of that Law, every one must needs have a Rights to do. 8. And thus in the State of Nature, one Man comes by a Power over another, but yet no Absolute or Arbitrary Power, to use a Criminal when he has got him in his hands, according to the passionate heats, or boundless extravagancy of his own Will, but only to retribute to him, so far as calm reason and consci-

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enee dictates, what is proportionate to his Transgression, which is so much as may serve for Reparation and Restraint. For these two are the only reasons, why one Man may lawfully do harm to another, which is that we call punishment. In transgressing the Law of Nature, the Offender declares himself to live by another Rule, than that of reason and common Equity, which is that measure God has set to the actions of Men, for their mutual security: and so he becomes dangerous to mankind, the tye, which is to secure them from injury and violence, being slighted and broken by him. Which being a trespass against the whole Species, and the Peace and Safety of it, provided for by the Law of Nature, every man upon this score, by the Right he hath to preserve Mankind in general, may restrain, or where it is necessary, destroy things noxious to them, and so may bring such evil on any one, who hath transgressed that Law, as may make him repent the doing of it, and thereby deter him, and by his Example others, from doing the like mischief. And in this case, and upon this ground, every Man bath a Right to punish the Offender, and be Executioner of the haw of Nature. 9. I doubt not but this will seen a very strange Doctrine to some Men: but before they condemn it, I desire them to resolve me, by what Right any Prince or State can put to death, or punish an Alien, for any Crime he commits in their Country. Tis certain their Laws by vertue of any Sanction they receive from the promulgated Will of the Legislative, reach not a Stranger. They speak not to him, nor if they did, is he bound to hearken to them. The Legislative Authority, by which they are in Force over the Subjects of that Common-wealth, hath no Power over him. Those who have the Supream Power of making Laws in England, France or Holland, are to an Indian, but like the rest of the World, Men without Authority: And therefore if by the Law of Nature, every Man hath not a Power to punish Offences against it, as he soberly judges the Case to require, I see not how the Magistrates of any Community, can punish an Alien of another Country, since in reference to him, they can have no more Power, than what every Man naturally may have over another. 10. Besides the Crime which consists in violating the Law, and varying from the right Rule of Reason, whereby a Man so far becomes degenerate, and declares himself to quit the Principles of Human Nature, and to be a noxious Creature, there is commonly injury done to some Person or other, and some other Man receives damage by his Transgression, in which Case he who hath received any damage, has besides the right of punishment common to him with other Men, a particular Right to seek Reparation from him that has done it. And any other Person who finds it just, may also joyn with him that is injur'd, and assist him in recovering from the Offender, so much as may make satisfaction for the harm he has suffer'd.

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11. From these two distinct Rights, the one of Punishing the Crime for restraint, and preventing the like Offence, which right of punishing is in every body; the other of taking reparation, which belongs only to the injured party, comes it to pass that the Magistrate, who by being Magistrate, hath the common right of punishing put into his hands, can often, where the publick good demands not the execution of the Law, remit the punishment of Criminal Offences by his own Authority, but yet cannot remit the satisfaction due to any private Man, for the damage he has received. That, he who has suffered the damage has a Right to demand in his own name, and he alone can remit The damnified Person has this Power of appropriating to himself, the Goods or Service of the Offender, by Right of Self-preservation, as every Man has a Power to punish the Crime, to prevent its being committed again, by the Right he has of Preserving all Mankind, and doing all reasonable things he can in order to that end: And thus it is, that every Man in the State of Nature, has a Power to kill a Murderer, both to deter others from doing the like Injury, which no Reparation can compensate, by the Example of the punishment that attends it from every body, and also to secure Men from the attempts of a Criminal, who having renounced Reason, the common Rule and Measure, God hath given to Mankind, hath by the unjust Violence and Slaughter he hath committed upon one, declared War against all Mankind, and therefore may be destroyed as a Lyon or a Tyger, one of those wild Savage Beasts, with whom Men can have no Society nor Security: And upon this is grounded the great Law of Nature, Who so sheddeth Mans Blood, by Man shall his Blood be shed. And Cain was so fully convinced, that every one had a Right to destroy such a Criminal, that after the Murther of his Brother, he cries out, Every one that findeth me, shall slay me·, so plain was it writ in the Hearts of all Mankind. 12. By the same reason, may a Man in the State of Nature punish the lesser breaches of that Law. It will perhaps be demanded, with death? I answer, Each Transgression may be punished to that degree, and with so much Seventy as will suffice to make it an ill bargain to the Offender, give him cause to repent, and terrifie others from doing the like. Every Offence that can be committed in the State of Nature, may in the State of Nature be also punished, equally, and as far forth as it may, in a Common-wealth; for though it would be besides my present purpose, to enter here into the particulars of the Law of Nature, or its measures of punishment, yet, it is certain there is such a Law, and that too, as intelligible and plain to a rational Creature, and a Studier of that Law, as the positive Laws of Common-wealths, nay possibly plainer; As much as Reason is easier to be understood, than the Phansies and intricate Contrivances of Men, following contrary and hidden interests put into Words; For so truly are a great part of the Municipal haws of Countries, which are only so far right, as they are founded on the Law of Nature, by which they are to be regulated and interpreted.

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13. To this strange Doctrine, vi% That in the State of Nature, every one has the Executive Power of the Law of Nature, I doubt not but it will be objected, That it is unreasonable for Men to be Judges in their own Cases, that Selflove will make Men partial to themselves and their Friends. And on the other side, that 111 Nature, Passion and Revenge will carry them too far in punishing others. And hence nothing but Confusion ans Disorder will follow, and that therefore God hath certainly appointed Government to restrain the partiality and violence of Men. I easily grant, that Civil Government is the proper Remedy for the Inconveniences of the State of Nature, which must certainly be Great, where Men may be Judges in their own Case, since 'tis easily to be imagined, that he who was so unjust as to do his Brother an Injury, will scarce be so just as to condemn himself for it: But I shall desire those who make this Objection, to remember that Absolute Monarchs are but Men, and if Government is to be the Remedy of those Evils, which necessarily follow from Mens being Judges in their own Cases, and the State of Nature is therefore not to be endured, I desire to know what kind of Government that is, and how much better it is than the State of Nature, where one Man commanding a multitude, has the Liberty to be Judge in his own Case, and may do to all his Subjects whatever he pleases, without the least liberty to any one to question or controle those who Execute his Pleasure? And in whatsoever he doth, whether led by Reason, Mistake or Passion, must be submitted to? Much better it is in the State of Nature wherein Men are not bound to submit to the unjust will of another: And if he that judges, judges amiss in his own, or any other Case, he is answerable for it to the rest of Mankind. 14. Tis often asked as a mighty Objection, Where are, or ever were, there any Men in such a State of Nature? To which it may suffice as an answer at present; That since all Princes and Rulers of Independent Governments all trough the World, are in a State of Nature, 'tis plain the World never was, nor ever will be, without Numbers of Men in that State. I have named all Governors of Independent Communities, wheter they are, or are not, in League with others: For 'tis not every Compact that puts an end to the State of Nature between Men, but only this one of agreeing together mutually to enter into one Community, and make one Body Politick; other Promises and Compacts, Men may make one with another, and yet still be in the State of Nature. The Promises and Bargains for Truck, etc. between the two Men in the Desert Island, mentioned by Garcilasso De la vega, in his History of Peru, or between a Swiss and an Indian, in the Woods of America, are binding to them, though they are perfectly in a State of Nature, in reference to one another. For Truth and keeping of Faith belongs to Men, as Men, and not as Members of Society.

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15. To those that say, There were never any Men in the State of Nature; I will not only oppose the Authority of the Judicious Hooker, Eccl. Pol. Lib. I. Sect. 10. where he says, The Laws which have been hitherto mentioned, i. e. the Laws of Nature, do bind Men absolutely, even as thej are Men, although thy have never any settled fellowship, never any Solemn Agreement amongst themselves what to do or not to do, but for as much as we are not by our selves sufßaent to furnish our selves with competent store of things, needful for such a Life, as our Nature doth desire, a Life, fit for the Dignity of Man; therefore to supply those Defects and Imperfections which are in us, as living singly and solely by our selves, we are naturally induced to seek Communion and Fellowship with others, this was the Cause of Mens uniting themselves, at first in Politick Societies. But I moreover affirm, That all Men are naturally in that State, and remain so, till by their own Consents they make themselves Members of some Politick Society; And I doubt not in the Sequel of this Discourse, to make it very clear.

Of the State of War 16. The State of War is a State of Enmity and Destruction; And therefore declaring by Word or Action, not a passionate and hasty, but a sedate seded Design, upon another Mans Life, puts him in a State of War with him against whom he has declared such an Intention, and so has exposed his Life to the others Power to be taken away by him, or any one that joyns with him in his Defence, and espouses his Quarrel: it being reasonable and just I should have a Right to destroy that which threatens me with Destruction. For by the Fundamental Law of Nature, Man being to be preserved, as much as possible, when all cannot be preserv'd, the safety of the Innocent is to be preferred: And one may destroy a Man who makers War upon him, or has discovered an Enmity to his being, for the same Reason, that he may kill a Wolf or a Lyon\ because such Men are not under the ties of the Common Law of Reason, have no other Rule, but that of Force and Violence, and so may be treated as Beasts of Prey, those dangerous and noxious Creatures, that will be sure to destroy him, whenever he falls into their Power. 17. And hence it is, that he who attempts to get another Man into his Absolute Power, does thereby put himself into a State of War with him; It being to be understood as a Declaration of a Design upon his Life. For I have reason to conclude, that he who would get me into his Power without my consent, would use me as he pleased, when he had got me there, and destroy me too when he had a fancy to it: for no body can desire to have me in his Absolute Power, unless it be to compel me by force to that, which is against the Right of my Freedom, i. e. make me a Slave. To be free from such force is the only

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security of my Preservation: and reason bids me look on him, as an Enemy to my Preservation, who would take away that Freedom, which is the Fence to it: so that he who makes an attempt to enslave me, thereby puts himself into a State of War with me. He that in the State of Nature, would take away the Freedom, that belongs to any one in that State, must necessarily be supposed to have a design to take away every thing else, that Freedom being the Foundation of all the rest: As he that in the State of Society, would take away the Freedom belonging to those of that Society or Common-wealth, must be supposed to design to take away from them every thing else, and so be looked on as in a State of War. 18. This makes it Lawful for a Man to kill a Thief, who has not in the least hurt him, nor declared any design upon his Life, any farther then by the use of Force, so to get him in his Power, as to take away his Money, or what he pleases from him: because using force, where he has no Right, to get me into his Power, let his pretence be what it will, I have no reason to suppose, that he, who would take away my Liberty, would not when he had me in his Power, take away every thing else. And therefore it is Lawful for me to treat him, as one who has put himself into a State of War with me, i. e. kill him if I can; for to that hazard does he justly expose himself, whoever introduces a State of War, and is aggressor in it. 19. And here we have the plain difference between the State of Nature, and the State of War, which however some Men have confounded, are as far distant, as a State of Peace, Good Will, Mutual Assistance, and Preservation, and a State of Enmity, Malice, Violence, and Mutual Destruction are one from another. Men living together according to reason, without a common Superior on Earth, with Authority to judge between them, is properly the State of Nature. But force, or a declared design of force upon the Person of another, where there is no common Superior on Earth to appeal to for relief, is the State of War. And 'tis the want of such an appeal gives a Man the Right of War even against an aggressor, though he be in Society and a fellow Subject. Thus a Thief, whom I cannot harm but by appeal to the Law, for having stolen all that I am worth, I may kill, when he sets on me to rob me, but of my Horse or Coat: because the Law, which was made for my Preservation, where it cannot interpose to secure my Life from present force, which if lost, is capable of no reparation, permits me my own Defence, and the Right of War, a liberty to kill the aggressor, because the aggressor allows not time to appeal to our common Judge, nor the decision of the Law, for remedy in a Case, where the mischief may be irreparable. Want of a common fudge with Authority, puts all Men in a State of Nature: Force without Right, upon a Man's Person, makes a State of War, both where there is, and is not, a common Judge.

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20. But when the actual force is over, the State of War ceases between those that are in Society, and are equally on both sides Subjected to the fair determination of the Law; because then there lies open the remedy of appeal for the past injury, and to prevent future harm: but where no such appeal is, as in the State of Nature, for want of positive Laws, and Judges with Authority to appeal to, the State of War once begun, continues, with a right to the innocent Party, to destroy the other whenever he can, until the aggressor offers Peace, and desires reconciliation on such Terms, as may repair any wrongs he has already done, and secure the innocent for the future: nay where an appeal to the Law, and constituted Judges lies open, but the remedy is deny'd by a manifest perverting of Justice, and a barefaced wresting of the Laws, to protect or indemnifie the violence or injuries of some Men, or Party of Men, there it is hard to imagine any thing but a State of War. For wherever violence is used, and injury done, though by hands appointed to administer Justice, it is still violence and injury, however colour'd with the Name, Pretences, or Forms of Law, the end whereof being to protect and redress the innocent, by an unbiassed application of it, to all who are under it; wherever that is not bona fide done, War is made upon the Sufferers, who having no appeal on Earth to right them, they are left to the only remedy in such Cases, an appeal to Heaven. 21. To avoid this State of War (wherein there is no appeal but to Heaven, and wherein every the least difference is apt to end, where there is no Authority to decide between the Contenders) is one great reason of Mens putting themselves into Society, and quitting the State of Nature. For where there is an Authority, a Power on Earth, from which relief can be had by appeal, there the continuance of the State of War is excluded, and the Controversie is decided by that Power. Had there been any such Court, any superior Jurisdiction on Earth, to determine the right between fephtha and the Ammonites, they had never come to a State of War, but we see he was forced to appeal to Heaven. The Lord the Judge (says he) be Judge this day between the Children of Israel, and the Children of Ammon, Judg. 11. 27. and then Prosecuting, and relying on his appeal, he leads out his Army to Batde: And therefore in such Controversies, where the question is put, who shall be Judge? It cannot be meant, who shall decide the Controversie; every one knows what Jephtha here tells us, that the Lord the Judge, shall jugde. Where there is no Judge on Earth, the Appeal lies to God in Heaven. That Question then cannot mean, who shall judge? whether another hath put himself in a State of War with me, and whether I may as Jephtha did, appeal to Heaven in it? Of that I my self can only be Judge in my own Conscience, as I will answer it at the great Day, to the Supream Judge of all Men.

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Of Property 26. God, who hath given the World to Men in common, hath also given them reason to make use of it to the best advantage of Life, and convenience. The Earth, and all that is therein, is given to Men for the Support and Comfort of their being. And though all the Fruits it naturally produces, and Beasts it feeds, belong to Mankind in common, as they are produced by the spontaneous hand of Nature; and no body has originally a private Dominion, exclusive of the rest of Mankind, in any of them, as they are thus in their natural state: yet being given for the use of Men, there must of necessity be a means to appropriate them some way or other before they can be of any use, or at all beneficial to any particular Man. The Fruit, or Venison, which nourishes the wild Indian, who knows no Inclosure, and is still a Tenant in common, must be his, and so his, i. e. a part of him, that another can no longer have any right to it, before it can do him any good for the support of his Life. 27. Though the Earth, and all inferior Creatures be common to all Men, yet every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself. The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the State that Nature hath provided, and left it in, he hath mixed his Labour with, and joyned to it something that is his own, and thereby makes it his Property. It being by him removed from the common state Nature placed it in, it hath by this labour something annexed to it, that excludes the common right of other Men. For this Labour being the unquestionable Property of the Labourer, no Man but he can have a right to what that is once joyned to, at least where there is enough, and as good left in common for others.

Of the Beginning of Political Societies 95. Men being, as has been said, by Nature, all free, equal and independent, no one can be put out of this Estate, and subjected to the Political Power of another, without his own Consent. The only way whereby any one devests himself of his Natural Liberty, and puts on the bonds of Civil Society is by agreeing with other Men to joyn and unite into a Community, for their comfortable, safe, and peaceable living one amongst another, in a secure Enjoyment of their Properties, and a greater Security against any that are not of it. This any number of Men may do, because it injures not the Freedom of the rest; they are left as they were in the Liberty of the State of Nature. When any number of Men have so consented to mahe one Community or Government, they

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are thereby presently incorporated, and make one Body Politick, wherein the Majority have a Right to act and conclude the rest. 119. Every Man being, as has been shewed, naturally free, and nothing being able to put him into subjection to any Earthly Power, but only his own Consent; it is to be considered, what shall be understood to be a sufficient Declaration of a Mans Consent, to make him subject to the Laws of any Government. There is a common distinction of an express and a tacit consent, which will concern our present Case. No body doubts but an express Consent, of any Man, entring into any Society, makes him a perfect Member of that Society, a Subject of that Government. The difficulty is, what ought to be look'd upon as a tacit Consent, and how far it binds, i. e. how far any one shall be looked on to have consented, and thereby submitted to any Government, where he has made no Expressions of it at all. And to this I say, that every Man, that hath any Possession, or Enjoyment, of any part of the Dominions of any Government, doth thereby give his tacit Consent, and is as far forth obliged to Obedience to the Laws of that Government, during such Enjoyment, as any one under it; whether this his Possession be of Land, to him and his Heirs for ever, or a Lodging only for a Week; or whether it be barely travelling freely on the Highway; and in Effect, it reaches as far as the very being of any one within the Territories of that Government.

Freiheit und praktische Vernunft Immanuel Kant

Auszug aus: Immanuel Kant, Grundlegung ^ur Metaphysik der Sitten

Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: so wie Naturnothmndigkeit die Eigenschaft der Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden. Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. Die Naturnothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetz möglich, daß etwas anderes die wirkende Ursache zur Causalität bestimmte; was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstand haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei. Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist das letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein schlechterdings

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guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann, denn durch Zergliederung des Begriffs von einem schlechthin guten Willen kann jene Eigenschaft der Maxime nicht gefunden werden. Solche synthetische Sätze sind aber nur dadurch möglich, daß beide Erkenntnisse durch die Verknüpfung mit einem dritten, darin sie beiderseits anzutreffen sind, unter einander verbunden werden. Der positive Begriff der Freiheit schafft dieses dritte, welches nicht wie bei den physischen Ursachen die Natur der Sinnenwelt sein kann (in deren Begriff die Begriffe von etwas als Ursache in Verhältniß auf etwas anderes als Wirkung zusammenkommen). Was dieses dritte sei, worauf uns die Freiheit weiset, und von dem wir a priori eine Idee haben, läßt sich hier sofort noch nicht anzeigen und die Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft, mit ihr auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen, sondern bedarf noch einiger Vorbereitung.

Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden Es ist nicht genug, daß wir unserem Willen, es sei aus welchem Grunde, Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sittlichkeit für uns bloß als für vernünftige Wesen zum Gesetz dient, so muß sie auch für alle vernünftige Wesen gelten, und da sie lediglich aus der Eigenschaft der Freiheit abgeleitet werden muß, so muß auch Freiheit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen werden, und es ist nicht genug, sie aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von der menschlichen Natur darzuthun (wiewohl dieses auch schlechterdings unmöglich ist und lediglich a priori dargethan werden kann), sondern man muß sie als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt gehörig beweisen. Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde 1 . Nun behaupte ich: daß wir Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn diese letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir können uns hier also von der Last befreien, die die Theorie drückt.

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jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Causalität in Ansehung ihrer Objecte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.

Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Causalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit einem Willen, begabt uns denken wollen, und so finden wir, daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen. Es flöß aber aus der Voraussetzung dieser Ideen auch das Bewußtsein eines Gesetzes zu handeln: daß die subjectiven Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, daß sie auch objectiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen können. Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, daß mich hierzu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unterschieden.

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Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Princip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, daß wir wenigstens das ächte Princip genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit aber und der praktischen Nothwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir dieser Art so zu handeln beilegen, der so groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei, keine genugthuende Antwort geben. Zwar finden wir wohl, daß wir an einer persönlichen Beschaffenheit ein Interesse nehmen können, die gar kein Interesse des Zustandes bei sich führt, wenn jene uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden, im Falle die Vernunft die Austheilung desselben bewirken sollte, d. i. daß die bloße Würdigkeit, glücklich zu sein, auch ohne den Bewegungsgrund, dieser Glückseligkeit theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber dieses Urtheil ist in der Tat nur die Wirkung von der schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze (wenn wir uns durch die Idee der Freiheit von allem empirischen Interesse trennen); aber daß wir uns von diesem trennen, d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustand einen Werth verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch nicht einsehen. Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in logischer Absicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie verschiedne Brüche gleiches Inhalts auf die kleinsten Ausdrücke) zu bringen. Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht

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einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen. Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben kein subtiles Nachdenken erfordert wird, sondern von der man annehmen kann, daß sie wohl der gemeinste Verstand, obzwar nach seiner Art durch eine dunkele Unterscheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt, machen mag: daß alle Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns afficiren, wobei, was sie an sich sein mögen, uns unbekannt bleibt, mithin daß, was diese Art Vorstellungen betrifft, wir dadurch auch bei der angestrengtesten Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand uns immer hinzufügen mag, doch bloß zur Erkenntniß der Erscheinungen, niemals der Dinge an sich selbst gelangen können. Sobald dieser Unterschied (allenfalls bloß durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen, die uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Thätigkeit beweisen) einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns afficiren, wir ihnen nicht näher treten und, was sie an sich sind, niemals wissen können. Dieses muß eine, obzwar rohe, Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt abgeben, davon die erstere nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in mancherlei Weltbeschauern auch sehr verschieden sein kann, indessen die zweite, die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt. Sogar sich selbst und zwar nach der Kenntniß, die der Mensch durch innere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei. Denn da er doch sich selbst nicht gleichsam schafft und seinen Begriff nicht a priori, sondern empirisch bekommt, so ist natürlich, daß er auch von sich durch den innern Sinn und folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur und die Art, wie sein Bewußtsein afficirt wird, Kundschaft einziehen könne, indessen er doch nothwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjects noch etwas anderes zum Grunde liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen und sich also in Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Thätigkeit sein mag (dessen, was gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewußtsein gelangt), sich zur intellectuellen Welt zählen muß, die er doch nicht weiter kennt. Dergleichen Schluß muß der nachdenkende Mensch von allen Dingen, die ihm vorkommen mögen, fällen; vermuthlich ist er auch im gemeinsten Verstände anzutreffen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Thätiges zu

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erwarten, es aber wiederum dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der Anschauung machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird. Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben; daß, obgleich dieser auch Selbstthätigkeit ist und nicht wie der Sinn bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen afficirt (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thätigkeit keine andere Begriffe hervorbringen kann als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln %u bringen und sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, da hingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstände selbst seine Schranken vorzuzeichnen. Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelligenz (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen- sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen erkennen kann, einmal., so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind. Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen ebenso zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen. Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten, gehoben, als wäre ein geheimer Cirkel in unserem Schlüsse aus der Freiheit auf die Autonomie und aus dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, daß wir nämlich vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als Erbittung eines Princips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne einräumen werden, welches wir aber niemals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten. Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die

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Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.

Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine Causalität einen Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch als eines Stücks der Sinnenwelt bewußt, in welcher seine Handlungen als bloße Erscheinungen jener Causalität angetroffen werden, deren Möglichkeit aber aus dieser, die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden kann, sondern an deren Statt jene Handlungen als bestimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig eingesehen werden müssen. Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem Princip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein; als bloßen Stücks der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der Natur gemäß genommen werden müssen. (Die ersteren würden auf dem obersten Princip der Sittlichkeit, die zweiten der Glückseligkeit beruhen.) Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen. Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen.

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Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zu Stande bringen, wobei er dennoch zugleich wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein. Er beweiset hiedurch also, daß er mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze, als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil er von jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mithin keinen für irgendeine seiner wirklichen oder sonst erdenklichen Neigungen befriedigenden Zustand (denn dadurch würde selbst die Idee, welche ihm den Wunsch ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen), sondern nur einen größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann. Diese bessere Person glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich nöthigt, und in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht, essen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.

Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie Alle Menschen denken sich dem Willen nach als Frei. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegentheil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraussetzung derselben als nothwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben so nothwendig, daß alles, was geschieht, auch Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori bei sich fuhrt. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende

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Erkenntniß der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objective Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und nothwendig beweisen muß. Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnothwendigkeit im Widerspruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegescheidung die Vernunft in speculativer Absicht den Weg der Naturnothwendigkeit viel gebähnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch in praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. Diese muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen angetroffen werde, denn sie kann eben so wenig den Begriff der Natur, als den der Freiheit aufgeben. Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens auf überzeugende Art vertilgt werden, wenn man gleich, wie Freiheit möglich sei, niemals begreifen könnte. Denn wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich selbst, oder der Natur, die eben so nothwendig ist, widerspricht, so müßte sie gegen die Naturnothwendigkeit durchaus aufgegeben werden. Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entgehen, wenn das Subject, was sich frei dünkt, sich selbst in demselben Sinne, oder in eben demselben Verhältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn es sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Naturgesetze unterworfen annimmt. Daher ist es eine unnachlaßliche Aufgabe der speculativen Philosophie: wenigstens zu zeigen, daß ihre Täuschung wegen des Widerspruchs darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch als nothwendig vereinigt in demselben Subject gedacht werden müssen, weil sonst nicht Grund angegeben werden könnte, warum wir die Vernunft mit einer Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Widerspruch mit einer anderen, genugsam bewährten vereinigen läßt, dennoch uns in ein Geschäfte verwickelt, wodurch die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche sehr in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber bloß der speculativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freien Bahn schaffe. Also ist es nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn im letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne Titel besessenen vermeinten Eigenthum verjagen kann.

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Doch kann man hier noch nicht sagen, daß die Grenze der praktischen Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen Vernunft, daß diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten. Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjectivbestimmenden Ursachen, die insgesammt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört. Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältniß zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Causalität, begabt denkt, als wenn er sich wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt und seine Causalität äußerer Bestimmung nach Naturgesetzen unterwirft. Nun wird er bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, ja sogar müsse. Denn daß ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe als Ding oder Wesen an sich selbst unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig). Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört, und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja gar als nothwendig denkt, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. Die Causalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Principien einer intelligibelen Welt, von der er wohl nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens als Intelligenz keinen Abbruch thun kann, so gar, daß er die erstere nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i. seinem Willen, nicht zuschreibt, wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn

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er ihnen zum Nachtheil der Vernunftgesetze des Willens Einfluß auf seine Maximen einräumte. Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer Gedanke in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft in Bestimmung des Willens keine Gesetze giebt, und nur in diesem einzigen Punkte positiv, daß jene Freiheit als negative Bestimmung zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Causalität der Vernunft verbunden sei, welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, daß das Princip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d. i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime als eines Gesetzes, gemäß sei. Würde sie aber noch ein Object des Willens, d. i. eine Bewegursache, aus der Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre Grenzen und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts weiß. Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch denken, welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch nothwendig ist, wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende, Ursache abgesprochen werden soll. Dieser Gedanke führt freilich die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die der Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei und macht den Begriff einer intelligibelen Welt (d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst) nothwendig, aber ohne die mindeste Anmaßung, hier weiter als bloß ihrer formalen Bedingung nach, d. i. der Allgemeinheit der Maxime des Willens als Gesetz, mithin der Autonomie des letzeren, die allein mit der Freiheit desselben bestehen kann, gemäß zu denken; da hingegen alle Gesetze, die auf ein Object bestimmt sind, Heteronomie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann. Aber alsdann würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei. Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objective Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann. Sie gilt nur als nothwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens

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(nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft unabhängig von Naturinstincten zu bestimmen) bewußt zu sein glaubt. Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreust für unmöglich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der vermeintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend anders liege als darin, daß, da sie, um das Naturgesetz in Ansehung menschlicher Handlungen geltend zu machen, den Menschen nothwendig als Erscheinung betrachten mußten und nun, da man von ihnen fordert, daß sie ihn als Intelligenz auch als Ding an sich selbst denken sollten, sie ihn immer auch da noch als Erscheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung seiner Causalität (d. i. seines Willens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Subjecte im Widerspruche stehen würde, welcher aber wegfällt, wenn sie sich besinnen und wie billig eingestehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar verborgen) zum Grunde liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht verlangen kann, daß sie mit denen einerlei sein sollten, unter denen ihre Erscheinungen stehen. Die subjective Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse2 ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaß unserer sittlichen Beurtheilung von einigen ausgegeben worden, da es vielmehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt. Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. Ein unmittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdann an der Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches Interesse ist allein rein. Wenn sie aber den Willen nur vermittelst eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraussetzung eines besonderen Gefühls des Subjects bestimmen kann, so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung, und da Vernunft für sich allein weder Objecte des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde das letztere Interesse nur empirisch und kein reines Vernunftinteresse sein. Das logische Interesse der Vernunft (ihre Einsichten zu befördern) ist niemals unmittelbar, sondern setzt Absichten ihres Gebrauchs voraus.

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Principien gemäß zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art von Causalität, von der wie von aller Causalität wir gar nichts a priori bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen. Da diese aber kein Verhältniß der Ursache zur Wirkung, als zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand füir Erfahrung abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, uns Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur gewiß: daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessiti (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte), sondern daß es interessirt, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber %ur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet. Die Frage also, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, kann zwar so weit beantwortet werden, als man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der er allein möglich ist, nämlich die Idee der Freiheit, imgleichen als man die Notwendigkeit dieser Voraussetzung einsehen kann, welches zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch es sittlichen Gesetzes hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst möglich sei, läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals einsehen. Unter Voraussetzung der Freiheit des Willens einer Intelligenz aber ist die Autonomie desselben, als die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt werden kann, eine nothwendige Folge. Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann), sondern auch sie praktisch, d. i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig. Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinäp der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen Vernunft sein würde) ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten, wie reine Vernunft

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Immanuel Kant

praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren. Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte, wie Freiheit selbst als Causalität eines Willens möglich sei. Denn da verlasse ich den philosophischen Erklärungsgrund und habe keinen anderen. Zwar könnte ich nun in der inteligibelen Welt, die mir noch übrig bleibt, in der Welt der Intelligenzen, herumschwärmen; aber ob ich gleich davon eine Idee habe, die ihren guten Grund hat, so habe ich doch von ihr nicht die mindeste Kenntniß und kann auch zu dieser durch alle Bestrebung meines natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen. Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehört, von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, bloß um das Princip der Bewegursachen aus dem Felde der Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch daß ich es begrenze und zeige, daß es nicht Alles in Allem in sich fasse, sondern daß außer ihm noch mehr sei; dieses Mehrere aber kenne ich nicht weiter. Von der reinen Vernunft, die dieses Ideal denkt, bleibt nach Absonderung aller Materie, d. i. Erkenntniß der Objecte, mit nichts als die Form übrig, nämlich das praktische Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen und diesem gemäß die Vernunft in Beziehung auf eine reine Verstandeswelt als mögliche wirkende, d. i. als den Willen bestimmende, Ursache zu denken; die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen: es müßte denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die Triebfeder oder dasjenige sein, woran die Vernunft ursprünglich ein Interesse nähme; welches aber begreiflich zu machen gerade die Aufgabe ist, die wir nicht auflösen können. Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung, welche aber zu bestimmen, auch schon darum von großer Wichtigkeit ist, damit die Vernunft nicht einerseits in der Sinnenwelt auf eine den Sitten schädliche Art nach der obersten Bewegursache und einem begreiflichen, aber empirischen Interesse herumsuche, andererseits aber, damit sie auch nicht in dem für sie leeren Raum transcendenter Begriffe unter dem Namen der intelligibelen Welt krafdos ihre Flügel schwinge, ohne von der Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinsten verliere. Übrigens bleibt die Idee einer reinen Verstandeswelt als eines Ganzen aller Intelligenzen, wozu wir selbst als vernünftige Wesen (obgleich andererseits zugleich Glieder der Sinnenwelt) gehören, immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens, wenngleich alles Wissen an der Grenze derselben ein Ende hat, um durch das herrlische Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich seihst (vernünftiger Wesen), zu welchem wir nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen der Freiheit, als ob sie die Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns zu bewirken.

Freiheit und praktische Vernunft

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Schlußanmerkung Der speculative Gebrauch der Vernunft in Ansehung der Natur führt auf absolute Nothwendigkeit irgendeiner obersten Ursache der Welt-, der praktische Gebrauch der Vernunft in Absicht auf die Freiheit führt auch auf absolute Nothwendigkeit, aber nur der Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens als eines solchen. Nun ist es ein wesentliches Princip alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntniß bis zum Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit zu treiben (denn ohne diese wäre sie nicht Erkenntniß der Vernunft). Es ist aber auch eine ebenso wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, daß sie weder die Nothwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist oder geschieht oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rasdos das Unbedingt-Nothwendige und sieht sich genöthigt, es anzunehmen, ohne irgendein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich genug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann, der sich mit dieser Voraussetzung verträgt. Es ist also kein Tadel für unsere Deduction des obersten Principe der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann; denn daß sie dieses nicht durch eine Bedingung, nämlich vermittelst irgendeines zum Grunde gelegten Interesses, thun will, kann ihr nicht verdacht werden, weil es alsdann kein moralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freiheit sein würde. Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt, gefordert werden kann.

Bürgerliche Freiheit John Stuart Mill

Auszüge aus: John Stuart Mill, Über die Freiheit

Einleitung Der Gegenstand dieser Untersuchung ist nicht die sogenannte Willensfreiheit', die so unglücklich entgegengesetzt wird der zu Unrecht so genannten ,Lehre von der philosophischen Notwendigkeit', sondern es handelt sich um die bürgerliche oder sociale Freiheit. Wir untersuchen die Natur und die Grenzen der Macht, die von der Gesellschaft legitimerweise über das Individuum ausgeübt werden darf. Eine Frage, die in allgemeinen Begriffen selten gestellt und kaum jemals diskutiert worden ist, aber sie beeinflußt tief, wenn auch unbewußt, die praktischen Auseinandersetzungen des Zeitalters und wird sich wahrscheinlich bald als die Lebensfrage der Zukunft erweisen. Sie ist so weit davon entfernt, neu zu sein, daß sie in gewissem Sinne die Menschheit schon von den ältesten Zeiten an in zwei Lager geteilt hat. Aber in dem fortgeschrittenen Stadium, in das die zivilisierten Teile der Menschheit jetzt getreten sind, stellt sie sich unter neuen Bedingungen dar und verlangt eine andere und fundamentalere Behandlung. Der Kampf zwischen Freiheit und Autorität ist der bemerkenswerteste Zug in den Perioden der Geschichte, mit denen wir am frühesten vertraut gemacht werden, vor allem in der Geschichte von Griechenland, Rom und England. Aber in alten Zeiten spielte dieser Kampf sich ab zwischen den Untertanen oder einigen Klassen von Untertanen und der Regierung. Unter Freiheit verstand man: Schutz gegen Tyrannei der politischen Herrscher. Außer in einigen Volksregierungen in Griechenland standen die Herrscher in einem fast selbstverständlichen Gegensatz zu dem Volk, das sie beherrschten. Die Regierung bestand aus einem Herrscher, einem herrschenden Stamm oder einer herrschenden Kaste, die ihre Autorität durch Eroberung oder Erbschaft erhalten hatten, jedenfalls nicht durch das Belieben des Volkes, und die Menschen wagten nicht, ja wünschten vielleicht nicht, ihnen die Herrschaft streitig zu machen, sosehr sie auch gegen deren tyrannische Ausübung Vorkehrungen treffen mochten. Die Macht wurde als notwendig, a b e r

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als höchst gefährlich angesehen, als eine Waffe, die die Herrscher gegen ihre Untertanen nicht weniger als gegen äußere Feinde gebrauchten. Um zu verhüten, daß unzählige Geier über die schwächeren Glieder der Gemeinschaft herfielen, war es nötig, daß ein Raubtier stärker war als die übrigen und beauftragt war, jene niederzuhalten. Aber da der König der Geier nicht weniger als die kleineren Harpyen darauf aus war, über die Herde herzufallen, so war es unerläßlich, daß man in einer ständigen Verteidigungsstellung gegen dessen Schnabel und Klauen war. Darum war es das Bestreben der Patrioten, der Gewalt, die der Herrscher über seine Untertanen ausüben durfte, Grenzen zu setzen, und diese Begrenzung nannte man ,Freiheit'. Auf zwei Wegen wurde versucht, sie zu verwirklichen. Erstens durch Erlangung gewisser Vorrechte, die der Herrscher anerkennen mußte; man nannte sie politische Freiheiten' oder .Rechte'. Wenn der Herrscher sie nicht anerkannte, so hielt man den Widerstand einzelner oder einen allgemeinen Aufstand für berechtigt. Ein zweites, aber im allgemeinen späteres Mittel war die Errichtung verfassungsmäßiger Schranken, durch die die Zustimmung der Gemeinschaft oder einer gewissen Körperschaft, von der man annahm, sie repräsentiere ihre Interessen, zur notwendigen Bedingung der wichtigsten Regierungsakte gemacht wurde. Der ersten dieser Bedingungen sich zu unterwerfen wurde die Regierungsmacht in den meisten europäischen Ländern mehr oder weniger gezwungen. Anders war es mit der zweiten Bestimmung. Sie zu erreichen und, wenn sie in gewissem Grade schon gewährt war, sie zu vervollkommnen wurde überall zum Hauptinteresse der Freiheitsfreunde. Und solange die Menschheit sich damit begnügte, einen Feind durch den anderen zu bekämpfen und von einem Herrn regiert zu werden, unter der Bedingung, daß sie gegen seine Willkürherrschaft mehr oder weniger geschützt sei, ging ihr Ehrgeiz darüber nicht hinaus. Es kam jedoch im Fortschritt der Menschheit eine Zeit, wo die Menschen es nicht mehr für naturnotwendig hielten, daß ihre Herrscher eine unabhängige Macht seien, deren Interessen den ihrigen entgegengesetzt waren. Es erschien ihnen weit besser, wenn die verschiedenen obrigkeitlichen Personen ihre Lehnsleute oder ihre Beauftragten waren, die sie nach Belieben abberufen könnten. Dieser Weg allein schien ihnen volle Sicherheit dafür zu bieten, daß die Regierungsgewalt niemals zu ihrem Nachteil mißbraucht werden könne. Mit der Zeit wurde das neue Verlangen nach einer wählbaren und zeitlich beschränkten Regierung der Hauptgegenstand für die Bestrebungen der Volkspartei, wo immer eine solche Partei existierte, und der Kampf darum überwog wesentlich die früheren Versuche, die Regierungsmacht zu beschränken. In dem Maße, in dem der Kampf darum andauerte, daß die Regierungsgewalt aus periodischen Wahlen durch die Regierten hervorgehe, dachten manche, daß man der Beschränkung jener Gewalt zuviel Aufmerksamkeit gewidmet habe. Das — so schien es — war eine Sicherheit gegen solche Regierende, deren Interessen denen des Volks entgegengesetzt sind. Jetzt aber war es nötig, daß die Regierenden mit dem Volke

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einig seien, daß ihre Interessen und ihr Wille mit denen des Volkes zusammenfielen. Das Volk aber brauchte gegen seinen eigenen Willen nicht geschützt zu werden. Es brauchte nicht seine eigene Tyrannei gegen sich selbst zu fürchten. Wenn nur die Machthaber wirklich dem Volk verantwortlich waren und von ihm ausgetauscht werden konnten, so konnte man wagen, sie mit einer Gewalt zu betrauen, deren Gebrauch das Volk selbst bestimmen konnte. Ihre Macht war nur die Macht des Volkes selbst, konzentriert und gebrauchsfertig. Diese Art zu denken, oder besser gesagt, zu fühlen, war der letzten Generation der europäischen Liberalen gemeinsam, und offenbar herrscht sie auf dem Kontinent noch vor. Glänzende Ausnahmen unter den Denkern des Fesdandes sind die, die eine Grenze anerkennen für das, was eine Regierung tun darf, außer wenn die Regierung nach ihrer Meinung kein Recht hat, zu bestehen. Eine ähnliche Denkungsart würde in dieser Epoche in unserm eignen Land herrschen, wenn die Umstände, die sie eine Zeidang ermutigten, unverändert geblieben wären. Aber bei politischen und philosophischen Theorien, wie bei einzelnen Personen, offenbart der Erfolg oft Fehler und Schwächen, die sonst unentdeckt geblieben wären. Die Vorstellung, daß das Volk es nicht nötig habe, seine Macht über sich selbst zu begrenzen, konnte axiomatisch erscheinen, solange Volksherrschaft etwas war, von dem man nur träumte oder von dem man gelesen hatte, daß es in einer entfernten Periode in der Vergangenheit existiert habe. Auch mußte diese Vorstellung nicht notwendig gestört werden durch zeitweilige Abirrungen wie die der französischen Revolution, deren schlimmste das Werk einiger weniger Usurpatoren waren und die jedenfalls nicht zu den ständigen Auswirkungen populärer Institutionen gehörten, sondern einen plötzlichen und konvulsivischen Ausbruch gegen monarchischen und aristokratischen Despotismus darstellten. Mit der Zeit aber nahm eine große demokratische Republik einen erheblichen Teil der Erdoberfläche ein. Sie entwickelte sich zu einem der machtvollsten Glieder in der Gemeinschaft der Nationen. Dadurch wurde eine wählbare und verantwortliche Regierung zum Gegenstand der Beobachtung und Kritik, wie das mit jeder großen realen Tatsache der Fall ist. Es wurde nun bemerkt, daß Phrasen wie .Selbstregierung' und die .Herrschaft des Volkes über sich selbst' nicht den wahren Sachverhalt ausdrücken. Das .Volk', das die Herrschaft ausübt, ist nicht immer dasselbe wie das, worüber sie ausgeübt wird, und die vielbesprochene ,Selbstregierung' bedeutet nicht, daß jeder von sich selbst beherrscht werde, sondern jeder von allen übrigen. Der ,Wille des Volkes' bedeutet praktisch: der Wille des zahlreichsten und tätigsten Teiles des Volkes; die ,Majorität' umfaßt diejenigen, denen es gelingt, sich als Mehrheit geltend zu machen; es ist darum möglich, daß das Volk wünscht, einen Teil aus seiner Mitte zu unterdrücken, und so sind Vorsichtsmaßregeln gegen diesen wie gegen jeden Mißbrauch der Gewalt nötig. Die Beschränkung der Regierungsmacht über einzelne verliert darum nichts von ihrer Wichtigkeit, wenn die Machthaber

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dem Volke, das heißt der stärksten Partei, verantwortlich sind. Mühelos hat sich diese Beurteilung der Dinge eingebürgert, die sich ebensosehr der Einsicht der Denker empfahl wie der Neigung der wichtigsten Klassen der europäischen Gesellschaft, zu deren wirklichen oder eingebildeten Interessen die Demokratie im Gegensatz steht. Darum wird in politischen Erörterungen die .Tyrannei der Mehrheit' jetzt gewöhnlich unter den Übeln aufgezählt, vor denen die Gesellschaft auf ihrer Hut sein soll. Wie andere Tyranneien wurde und wird sie von den meisten noch heute hauptsächlich dann gefürchtet, wenn sie durch Akte der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird. Aber nachdenkliche Personen bemerken, daß die Gesellschaft, wenn sie selbst der Tyrann ist — die Gesellschaft als Ganzes gegenüber den einzelnen, aus denen sie besteht —, in ihrem Machtmittel nicht beschränkt ist auf die Akte, die sie durch ihre politischen Funktionäre vollziehen kann. Die Gesellschaft kann ihre eigenen Befehle vollstrecken und tut das auch, und wenn sie schlechte statt guter Befehle gibt oder sich überhaupt in Dinge mischt, mit denen sie sich besser nicht befaßte, so übt sie eine soziale Tyrannei aus, die furchtbarer ist als manche Arten obrigkeitlicher Bedrückung. Sie bietet zwar für gewöhnlich nicht die äußersten Strafmittel auf; aber sie läßt weniger Wege zum Entkommen, sie dringt viel tiefer in die Einzelheiten des Lebens und versklavt die Seele selbst. So genügt es nicht, sich gegen die Tyrannei der Machthaber zu schützen, man muß sich auch schützen vor der Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls, vor der Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken denjenigen als Verhaltensregeln aufzuzwingen, die davon abweichen. Man muß sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Muster zu richten. Es gibt eine Grenze für das berechtigte Eingreifen der kollektiven Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und sie gegen Ubergriffe zu schützen ist für eine gute Sicherung des menschlichen Lebens ebenso unentbehrlich wie der Schutz gegen politischen Despotismus. Aber obgleich diese Behauptung nicht leicht in allgemeinen Begriffen zu bestreiten ist, so ist die praktische Frage, wo die Grenze zu setzen sei und wie man die geeignete Abgrenzung finde zwischen persönlicher Unabhängigkeit und der Kontrolle der Gesellschaft, ein Problem, bei dem fast alles noch zu lösen bleibt. Alles, was das Leben für den Einzelnen wertvoll macht, beruht darauf, daß man den Handlungen der andern Menschen Zwang und Schranken auferlegt. Darum müssen einige Verhaltensmaßregeln gegeben werden, zunächst durch das Gesetz; bei den Dingen aber, die für die Gesetzgebung nicht geeignet sind, durch das Dafürhalten der Menschen. Worin diese Regeln bestehen sollten, ist die Hauptfrage für die menschliche Gesellschaft. Diese Frage gehört jedoch, wenn wir einige der einfachsten Fälle

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ausnehmen, zu den Problemen, deren Lösung den geringsten Fortschritt gemacht hat. Nicht 2wei Zeitalter und kaum zwei Länder haben sie auf die gleiche Weise entschieden, und die Entscheidung eines Zeitalters und eines Landes setzt die anderen in Erstaunen. Und doch vermuten die Menschen eines bestimmten Zeitalters oder Landes keine Schwierigkeit darin, so als ob die Menschheit in ihren Urteilen stets übereingestimmt hätte. Die Regeln, die unter ihnen gelten, erscheinen ihnen selbstverständlich und keiner Rechtfertigung bedürftig. Diese fast in der ganzen Welt verbreitete Täuschung ist ein Beispiel für die zauberhafte Macht der Gewohnheit, die nicht nur, wie das Sprichwort sagt, eine zweite Natur ist, sondern beständig für die erste genommen wird. Die Macht der Gewohnheit vermindert, daß man die Regeln des Verhaltens irgendwie mißachtet, die die Menschen einander auferlegen, und die Gewohnheit ist um so zwingender, weil man es meist nicht für nötig hält, Gründe für das zur Gewohnheit Gewordene anzugeben; man bringt solche Gründe weder anderen noch sich selbst zum Bewußtsein. Die Menschen haben sich vielmehr gewöhnt, zu glauben — und einige, die sich Philosophen nennen, haben sie in diesem Glauben bestärkt —, daß diese Dinge mehr durch Gefühl als durch Vernunftgründe entschieden werden, ja, daß Gefühle die Vernunftgründe überflüssig machen. Das praktische Prinzip, das sie bei der Bestimmung menschlicher Handlungen leitet, ist das Gefühl eines jeden, daß jeder andere so handeln müsse, wie man selbst und die eigenen Freunde das gerne hätten. Niemand zwar gesteht sich, daß der Maßstab für sein Handeln nur sein eigenes Belieben ist; aber ein Urteil über Handlungen, das nicht von Vernunftgründen ausgeht, kann nur als persönliche Vorliebe eines Menschen gelten. Und wenn die Gründe nichts anderes geltend machen als ähnliche Vorlieben anderer Menschen, so ist nur das Belieben vieler Menschen an Stelle des einen getreten. Für einen gewöhnlichen Menschen ist jedoch sein eigenes Belieben, wenn es durch das der anderen gestützt wird, nicht allein ein vollkommen genügender Grund, sondern auch der einzige, den er anführen kann für all jene seiner Vorstellungen von Moral, Geschmack oder Schicklichkeit, die ihm nicht von seinem religiösen Glauben ausdrücklich vorgeschrieben werden. Ja selbst zur Interpretation jenes Glaubens ist das persönliche Belieben der hauptsächlichste Führer. Die Meinungen der Menschen über das, was zu loben oder zu tadeln ist, hängen von all den mannigfachen Gründen ab, die ihre Wünsche für das Verhalten der anderen beeinflussen. Und diese Gründe sind so zahlreich wie diejenigen, die ihre Neigung in irgendeiner anderen Hinsicht bestimmen. Zuweilen ist dieser Faktor ihre Vernunftansicht, ein andermal Vorurteil oder Aberglaube, oft soziale Regungen, nicht selten aber auch antisoziale wie Neid oder Eifersucht, Anmaßung oder Hochmut, aber zumeist persönliche Wünsche oder persönliche Furcht, berechtigtes oder unberechtigtes Selbstinteresse. Wo es eine übermächtige Klasse gibt, rührt ein großer Teil der moralischen Begriffe eines Landes von deren Klasseninteressen, von deren Gefühl der Überlegenheit

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als Klasse her. Das moralische Verhältnis zwischen Spartiaten und Heloten, zwischen Pflanzern und Negern, zwischen Fürsten und Untertanen, Adeligen und Roturiers, Männern und Frauen ist zum größten Teil das Ergebnis dieser Klasseninteressen und -empfindungen. Und die Gefühle, die dadurch erzeugt werden, wirken wieder zurück auf das moralische Empfinden der Mitglieder der übermächtigen Klasse, auf ihre Beziehungen untereinander. Wo andrerseits eine einst übermächtige Klasse ihre Übermacht verloren hat oder wo diese Ubermacht unpopulär geworden ist, tragen die herrschenden moralischen Empfindungen oft das Gepräge einer ungeduldigen Abneigung gegen jede Überlegenheit. Ein anderes, sehr bestimmendes Prinzip für die Verhaltensregeln — für das Tun und Lassen der Menschen —, die durch Gesetze oder Meinungen durchgesetzt werden, ist die Unterwürfigkeit der Menschen gegenüber den mutmaßlichen Neigungen oder Abneigungen ihrer augenblicklichen Herrn oder ihrer Götter. Diese Unterwürfigkeit ist, obgleich ausgesprochen selbstsüchtig, doch nicht heuchlerisch. Aus ihr entstanden ganz echte Gefühle des Abscheus; sie bewirkte, daß die Menschen Zauberer und Ketzer verbrannt haben. Unter so vielen niederen Einflüssen haben allgemeine und offenkundige Interessen der Gesellschaft natürlich auch einen Anteil an der Ausrichtung der moralischen Empfindungen gehabt, und zwar einen großen; freilich weniger in Form von Vernunfterwägungen und um ihrer selbst willen, sondern mehr als eine Folge der Sympathien und Antipathien, die aus ihnen entstehen; und Sympathien und Antipathien, die wenig oder oft nichts mit den Interessen der Gesellschaft zu tun haben, wirkten auf die Bildung der moralischen Begriffe ebenso mächtig mit ein. So haben die Neigungen und Abneigungen der Gesellschaft oder einer mächtigen Clique hauptsächlich die Regeln bestimmt, die zur allgemeinen Befolgung festgelegt sind unter dem Schutz von Gesetz oder öffentlicher Meinung. Sehr oft haben die, die in ihrem Denken und Fühlen der Gesellschaft voraus waren, diese Sachlage im Prinzip unberührt gelassen, wenn sie auch im einzelnen damit in Konflikt gerieten. Sie haben sich lieber damit beschäftigt, zu bestimmen, welche Dinge die Gesellschaft billigen oder mißbilligen sollte, als zu fragen, ob diese Tendenzen ein Gesetz für das Individuum seien. Sie bemühten sich lieber, die Gefühle der Menschen in den Punkten zu ändern, in denen sie selbst ketzerisch waren, als um der Freiheit willen gemeinsame Sache mit Ketzern zu machen. Der einzige Fall, in dem der höhere Standpunkt prinzipiell und konsistent von mehr als einem eingenommen wurde, ist der des religiösen Glaubens. Das ist in mehr als einer Beziehung lehrreich, nicht zum mindesten darum, weil es einen schlagenden Beweis für die Unzulänglichkeit dessen bietet, was man ,moralischen Sinn' nennt. Denn das odium theologicum eines ehrlichen Bigotten ist einer der unzweideutigsten Fälle des moralischen Sinnes. Diejenigen, die zuerst das Joch dessen brachen, was man die ,allgemeine Kirche' nannte, waren zumeist ebensowenig gewillt, abweichende religiöse Meinungen zu dulden wie jene

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Kirche selbst. Aber die Hitze des Kampfes ging vorüber, ohne irgendeiner Partei einen vollständigen Sieg zu verschaffen, und jede Kirche oder Sekte war auf die Hoffnung angewiesen, den einmal eroberten Grund weiter zu besitzen. Da die Minderheiten keine Aussicht hatten, einmal Mehrheiten zu werden, so mußten sie dennoch streben, diejenigen, die sie nicht bekehren konnten, um die Erlaubnis zu bitten, von ihnen abweichen zu dürfen. Auf diesem Schlachtfeld fast ausschließlich sind die Rechtsansprüche des Individuums gegen die Gesellschaft auf breiter Grundlage behauptet worden, und das Verlangen der Gesellschaft, Autorität über Abweichende auszuüben, ist oft bekämpft worden. Die großen Schriftsteller, denen die Welt das verdankt, was sie an religiöser Freiheit besitzt, haben zumeist die Gewissensfreiheit als unveräußerliches Recht behauptet und haben absolut geleugnet, daß ein menschliches Wesen anderen für seinen religiösen Glauben verantwortlich sei. Doch ist den Menschen Intoleranz in allem, was ihnen am Herzen liegt, so natürlich, daß religiöse Freiheit kaum irgendwo praktisch verwirklicht ist, außer da, wo religiöse Gleichgültigkeit, die ihren Frieden nicht durch theologische Streitigkeiten gestört haben will, ihr Gewicht in die Waagschale geworfen hat. Im Sinne fast aller religiöser Menschen, selbst in den tolerantesten Ländern, gilt die Pflicht der Duldung nur mit stillschweigender Reserve. Einer verträgt Widerspruch zwar in Dingen, die das Kirchenregiment angehen, aber nicht in bezug auf das Dogma; ein anderer übt Duldung gegen jeden, außer gegen Papisten oder Unitarier, wieder ein anderer gegen jeden, der an eine geoffenbarte Religion glaubt. Einige erstrecken ihre Duldung ein wenig weiter, aber sie machen halt beim Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit. Uberall, wo das Gefühl der Mehrheit noch echt und stark ist, findet man, daß es seinen Anspruch auf Herrschaft nur wenig gemildert hat. In England wiegt infolge der besonderen Umstände unserer politischen Geschichte das Joch der Meinung vielleicht schwerer, das des Gesetzes vielleicht leichter als in den meisten anderen Ländern Europas. Ja, es besteht ein beträchtliches Mißtrauen gegenüber direkten Eingriffen der gesetzgebenden oder ausführenden Gewalt in das Privatleben, aber nicht sosehr, weil man auf die Unabhängigkeit des Individuums angemessene Rücksicht nimmt, sondern weil man, nach alter Gewohnheit, in der Regierung eine dem Volksinteresse feindliche Macht sieht. Die Mehrheit hat noch nicht gelernt, die Macht der Regierung als ihre Macht oder deren Ansichten als eigene Meinungen anzusehen. Wenn sie das gelernt hat, dann wird wahrscheinlich die individuelle Freiheit Angriffen von selten der Regierung ebenso ausgesetzt sein wie jetzt von seiten der öffentlichen Meinung. Aber bis jetzt regt sich noch lebhafter Widerspruch gegen jeden Versuch des Gesetzes, die Einzelnen in Dingen zu beeinflussen, in denen die Individuen bisher an eine Kontrolle nicht gewöhnt waren. Dabei unterscheiden sie wenig, ob die Sache in die legitime Sphäre gesetzlichen Einflusses gehört oder nicht. So ist das Gefühl des Widerstandes, das im ganzen höchst heilsam ist, im einzelnen vielleicht ebenso

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oft übel angebracht wie gut begründet. Es gibt in der Tat kein anerkanntes Prinzip, nach dem das Eingreifen der Regierung als angemessen oder unangemessen bewertet wird. Die Menschen entscheiden nach ihren persönlichen Vorliegen. Einige wollen, sobald sie sehen, daß etwas Gutes getan oder etwas Übles verhindert werden kann, die Regierung sofort veranlassen, dies zu tun. Andere dagegen ertragen lieber jedes soziale Übel, als daß sie sich entschlössen, einen Bereich der menschlichen Angelegenheiten der Regierungskontrolle zu unterwerfen. Je nach der allgemeinen Ausrichtung ihrer Gefühle wählen die Menschen in jedem Einzelfalle die eine oder die andere Lösung, oder sie entscheiden sich nach dem Interesse, das sie an dem fraglichen Gegenstand nehmen. Andere wieder entscheiden sich, je nachdem sie glauben, daß die Regierung in der von ihnen gewünschten Weise handeln werde oder nicht. Sehr selten aber urteilen sie auf Grund einer prinzipiellen Überlegung, welche Geschäfte der Regierung zustehen und welche nicht. Und mir scheint, daß infolge dieses Mangels an Prinzipien die eine Partei sich ebensoviel irrt wie die andere. Das Eingreifen der Regierung wird ebenso oft zu Unrecht angerufen, wie zu Unrecht verurteilt. Der Zweck dieses Aufsatzes ist es nun, ein sehr einfaches Prinzip aufzustellen, das das zweckmäßige Eingreifen der Gesellschaft in die Angelegenheiten der Einzelnen regeln soll, mögen die Mittel des Eingreifens gesetzliche Strafen oder der moralische Druck der öffentlichen Meinung sein. Dieser Grundsatz lautet: Das einzige Ziel, um dessentwillen es der Menschheit gestattet ist, einzelt oder vereint, die Freiheit eines ihrer Mitglieder zu beschränken, ist Selbstschutz Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf ist: Schaden für andere zu verhüten. Das eigene physische oder moralische Wohl des Handelnden ist kein genügender Vorwand. Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorstellungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muß das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten. Jeder ist nur für den Teil seines Handelns der Gesellschaft verantwortlich, der andere betrifft. In dem Gebiet, das nur ihn angeht, ist seine Unabhängigkeit absolut. Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß diese Lehre nur für menschliche Wesen in der Reife ihrer Entwicklung gilt. Wir sprechen nicht von Kindern oder von jungen euten unter dem Alter, das das Gesetz bei Männern und Frauen als Volljährigkeit festsetzt. Diejenigen, die noch die Fürsorge anderer

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gebrauchen, müssen vor den Folgen ihrer eigenen Handlungen wie vor äußerer Unbill geschützt werden. Aus denselben Gründen können wir jene zurückgebliebenen gesellschaftlichen Zustände, in denen die Menschheit gewissermaßen noch unmündig ist, von unserer Betrachtung ausschließen. Die ersten Schwierigkeiten, die sich dem spontanen Fortschritt entgegenstellen, sind so groß, daß selten eine Wahl in den Mitteln, sie zu überwinden, bleibt. Und ein Herrscher, der von dem Wunsche der Vervollkommnung seines Volkes erfüllt ist, darf jedes Mittel ergreifen, um ein Ziel zu erlangen, das sonst vielleicht unerreichbar wäre. Despotismus ist eine legitime Regierungsform, solange es sich um Barbaren handelt, vorausgesetzt, daß deren Höherentwicklung sein Ziel ist und daß die Mittel sich durch das tatsächliche Erreichen dieses Zieles rechtfertigen. Freiheit als Prinzip kommt nicht in Betracht, bevor die Menschen zu freier, gleichberechtigter Diskussion fähig werden; vorher bleibt ihnen nichts anderes übrig als unbedingter Gehorsam gegen einen Akbar oder einen Karl den Großen, wenn sie das Glück haben, einen zu finden. Aber sobald die Menschheit soweit ist, daß sie durch Überzeugung oder Überredung zu ihrer eigenen Fortentwicklung geleitet werden kann (eine Periode, die von den Nationen, mit denen wir uns hier beschäftigen, schon lange erreicht ist), ist Zwang weder in direkter Form noch in der, daß man Ungehorsam mit Strafe belegt, als Mittel für das persönliche Wohl eines Menschen zulässig. Nur um der Sicherheit der anderen willen sind jene Mittel zu billigen. Ich darf wohl erwähnen, daß ich auf jeden Vorteil verzichte, der meinen Argumenten aus der Idee eines abstrakten Rechtes werden könnte, das von jeder Rücksicht auf Nützlichkeit frei ist. Ich betrachte Nützlichkeit als höchstes Kriterium in allen ethischen Fragen, aber ich fasse den Nutzen im weitesten Sinne, der gegründet ist auf die dauernden Interessen des Menschen als eines entwicklungsfähigen Wesens. Und ich behaupte: Diese Interessen rechtfertigen die Unterwerfung der individuellen Selbstbestimmung unter äußere Kontrolle nur für solche Handlungen, die das Interesse anderer betreffen. Wenn jemand anderen Schaden zufügt, so liegt ein deutlicher Anlaß vor, ihn zu bestrafen, entweder durch das Gesetz oder, wo gesetzliche Strafen nicht angewendet werden können, durch allgemeine Mißbilligung. Es gibt auch viele positive Handlungen zum Besten anderer, zu denen jemand mit Fug und Recht angehalten werden kann, daß man zum Beispiel Zeugnis vor einem Gerichtshof ablege oder daß man seinen gebührenden Anteil leiste an der Landesverteidigung oder an anderen Werken im Interesse des Gemeinwesens, unter dessen Schutz wir stehen. Man ist aber auch zu bestimmten Akten persönlichen Wohlwollens verpflichtet, zum Beispiel das Leben eines anderen zu retten oder den Schutzlosen gegen üble Behandlung zu schützen. In all den Fällen, wo es deutlich die Pflicht eines Menschen ist, Bestimmtes zu leisten, kann er bei Unterlassung mit Recht von der Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden. So kann jemand anderen Übles erweisen nicht nur

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durch sein Tun, sondern auch durch sein Unterlassen, stets aber ist er für den Schaden verantwortlich. Im letzten Fall freilich muß man den Zweck viel vorsichtiger erwägen als im ersten. Die Regel ist, daß man jemand verantwortlich macht für den Schaden, den er anderen zugefügt hat; dagegen ist es die Ausnahme, wenn man ihn für das, was er nicht verhindert hat, zur Rechenschaft zieht. Aber es gibt viele Fälle, die klar und wichtig genug sind, um eine Ausnahme von dieser Regel zu rechtfertigen. In allen Dingen, die die äußeren Verhältnisse eines Einzelnen betreffen, ist man mit Recht dem haftbar, dessen Interessen im Spiele sind, und wo es nötig ist, der Gesellschaft als der Beschützerin des Einzelnen. Es sind oft gute Gründe vorhanden, jemanden nicht zur Verantwortung zu ziehen, aber diese Gründe müssen aus den gezielten Nützlichkeitserwägungen des Einzelfalles entspringen: etwa, weil ein Fall vorliegt, in dem der Betreffende besser handelt, wenn er sich selbst überlassen bleibt, als wenn er von der Gesellschaft auf irgendeine ihr mögliche Art kontrolliert wird; oder weil der Versuch, Zwang auszuüben, größere Übel mit sich führen würde als die, die es zu verhindern galt. Wenn solche Gründe den Zwang der Verantwortlichkeit ausschließen, sollte das Gewissen des Handelnden selbst den verlassenen Richterstuhl einnehmen und die Interessen derer, die keinen äußeren Schutz genießen, vertreten. Dabei sollte man sich selbst um so strenger beurteilen, weil der betreffende Fall nicht zuläßt, daß man von anderen gerichtet werde. Aber es gibt eine Lebenssphäre, an der die Gesellschaft im Unterschied von dem Einzelnen nur ein indirektes Interesse hat; sie betrifft den ganzen Umkreis des Lebens, der nur den Einzelnen selbst angeht oder andere höchstens bei eigener, freier, selbst gewollter und nicht erzwungener Zustimmung und Teilhabe. Wenn ich sage: Diese Lebenssphäre geht nur den Einzelnen selbst an, so meine ich — direkt und zunächst. Denn was immer den Einzelnen angeht, kann mittelbar auch die anderen betreffen; der Einwurf, der auf dieses Bedenken gestützt ist, wird im folgenden beobachtet werden. Dies ist also der eigentliche Bereich der menschlichen Freiheit. Er betrifft zunächst die Domäne des Gewissens, und er fordert Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinn: Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und der gefühlsmäßigen Wertung, in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen. Die Freiheit, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen, scheint unter ein anderes Prinzip zu gehören, denn sie fällt unter das Gebiet der menschlichen Betätigungen, das sich an andere Menschen wendet. Aber sie ist doch ebenso wichtig wie die Freiheit des Denkens selbst und beruht zum großen Teil auf denselben Prinzipien; so ist sie von jener nicht zu trennen. Sodann erfordert unser Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Betätigung, die Freiheit, den Plan unseres Lebens so zu entwerfen, wie es unserem Charakter angemessen ist, zu tun, was wir wollen und die Folgen unseres Handelns zu tragen; ungehindert von unseren Mitmenschen, solange wir ihnen kein Leid zufügen — ungehindert auch dann, wenn jene unser Handeln töricht, pervers oder falsch

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finden sollten. Schließlich folgt aus der Freiheit jedes Einzelnen innerhalb derselben Grenzen die Freiheit des Zusammenschlusses der Einzelnen, sofern er anderen kein Leid zufügt. Wobei allerdings die Voraussetzung ist, daß die Personen, die sich zusammenschließen, volljährig sind und weder gezwungen noch getäuscht werden. Keine Gesellschaft ist frei, in der diese Rechte nicht im ganzen respektiert werden, welches auch immer die Form ihrer Regierung sei. Und keine ist vollkommen frei, in der diese Rechte nicht absolut und unbeschränkt gelten. Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, besteht darin, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Art zu suchen, solange wir dabei nicht die Absicht hegen, andere ihrer Freiheit zu berauben oder ihre dahin zielenden Anstrengungen zu durchkreuzen. Jeder ist der eigene Hüter seiner Gesundheit, der körperlichen wie der seelischen und geistigen. Die Menschheit fährt besser, wenn sie zugibt, daß jeder nach eigenem Gutdünken lebt, als wenn sie jeden zwingt, so zu leben, wie es den übrigen paßt. Obgleich diese Lehre nichts weniger als neu ist und manchen wie ein Gemeinplatz anmuten mag, so gibt es kein Prinzip, das der allgemeinen Tendenz des Denkens und Tuns direkter entgegengesetzt ist. Die Gesellschaft hat (gemäß ihrer Einsicht) ebensoviel Mühe darauf verwendet, den Menschen ihre Begriffe von persönlicher wie von sozialer Vortrefflichkeit aufzuzwingen. Die antiken Staaten glaubten sich berechtigt (und die antiken Philosophen unterstützten sie darin), durch öffentliche Autorität jedes Gebiet des Privatlebens zu regeln. Es geschah darum, weil der Staat ein tiefgehendes Interesse an der ganzen körperlichen und geistigen Disziplin jedes Einzelnen hatte. Eine solche Denkungsart mag zulässig gewesen sein in kleinen Republiken, die von mächtigen Feinden umgeben waren; hier bestand die stete Gefahr, daß man von einem äußeren Angriff oder auch von einem inneren Aufstand überrascht wurde. Dabei konnte eine kurze Spanne erschlaffter Energie und Selbstzucht verhängnisvoll werden, und so konnten diese Staaten die heilsame dauernde Wirkung der Freiheit nicht abwarten. In der modernen Welt hat der größere Umfang der Staatswesen und vor allem die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt ein so tiefes Eingreifen des Gesetzes in die Einzelheiten des Privatlebens verhindert, denn diese Trennung legte die Leitung des Gewissen in andere Hände als die Kontrolle der weltlichen Angelegenheiten. Das Triebwerk des moralischen Druckes, das dennoch besteht, verurteilt ein Abweichen von der herrschenden Meinung in persönlichen Dingen strenger als in sozialen Angelegenheiten. Das mächtigste Element, das an der Bildung der moralischen Gefühle teilnimmt, die Religion, steht fast immer unter Fremdherrschaft: entweder durch den Ehrgeiz der Hierarchie, die Einfluß auf alle Lebensgebiete zu gewinnen sucht, oder durch den Geist des Puritanismus. Und einige von den anderen Reformern, die sich in schärfstem Gegensatz gestellt haben zu den Religionen der Vergangenheit, sind in ihrer Behauptung des Rechtes auf geistige Herrschaft keineswegs hinter Kirchen und Sekten zurückgeblieben. Vor allem stiebt Au-

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guste Comte in seinem sozialen System, das er im ,System der positiven Politik' dargelegt hat, nach der Errichtung eines Despotismus der Gesellschaft über das Individuum (allerdings mehr durch moralischen als durch gesetzlichen Zwang), der alle dahingehenden politischen Ideale der strengsten Disziplin hinter sich läßt, die die antiken Philosophen hegten. Abgesehen von den besonderen Lehren einzelner Denker besteht aber überhaupt in der Welt eine zunehmende Neigung, die Macht der Gesellschaft über das einzelne Individuum ungebührlich zu vermehren durch den Einfluß der Meinung wie durch den der Gesetzgebung. Da die Tendenz aller Veränderungen in der Welt darauf gerichtet ist, die Gesellschaft zu stärken und die Macht des Einzelnen zu schwächen, so gehört diese Beeinträchtigung nicht zu den Übeln, die von selbst verschwinden werden, sondern zu denen, die immer furchtbarer werden. Diese Neigung der Menschen, entweder als Gesetzgeber oder als Mitbürger die eigenen Meinungen und Neigungen als Regeln des Verhaltens auf andere zu übertragen, wird energisch unterstützt durch die besten wie durch die ärgsten Gefühlsmomente in der menschlichen Natur. So wird dieser Faktor kaum durch etwas anderes als durch Beschränkung des Einflusses im Zaume gehalten werden können. Da aber diese Macht nicht kleiner, sondern größer wird, wenn nicht eine starke Schranke aus moralischen Uberzeugungen gegen das Übel errichtet wird, so müssen wir, wie die Dinge in der Welt jetzt liegen, erwarten, daß sie sich vergrößern. Es wird für unsere Gedankenführung zweckmäßig sein, wenn wir, anstatt sogleich die Hauptthese zu erwähnen, uns zuerst auf einen Einzelzweig beschränken, in dem unser Prinzip, wenn auch nicht vollkommen, so doch bis zu einem gewissen Grad von der öffentlichen Meinung gebilligt wird. Dieser eine Zweig ist die Freiheit des Denkens, von der sich die Freiheit der Rede und des Schrifttums nicht wohl trennen läßt. Obgleich diese Rechte beträchtlichen Anteil haben an der politischen Moral aller Länder, die sich zu religiöser Duldung und zu freien Institutionen bekennen, so sind die philosophischen und praktischen Gründe, auf denen jene beruhen, dem allgemeinen Bewußtsein doch nicht so vertraut und auch den Stimmführern nicht so bekannt, wie man erwarten sollte. Diese Gründe erstrecken sich, richtig verstanden, viel weiter als nur auf einen Teil des Gegenstandes; darum wird eine eingehende Erwägung dieser Frage zugleich als beste Einführung in die übrigen dienen. Diejenigen, denen alles, was ich sage, schon bekannt ist, werden mich darum hoffentlich entschuldigen, daß ich eine neue Erörterung eines Gegenstandes wage, der in den letzten drei Jahrhunderten sehr oft diskutiert worden ist.

Über die Individualität als ein Element der Wohlfahrt Wir haben nun die Gründe aufgezeigt, die es zur Pflicht machen, daß die Menschen ihre Meinungen frei bilden und rückhaltlos aussprechen. Und

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ebenso haben wir die üblen Folgen nicht verschwiegen, die sich für die intellektuelle und damit auch für die moralische Natur des Menschen ergeben, wenn diese Freiheit nicht gewährt oder nicht allen Hindernissen zum Trotz dennoch erkämpft wird. Weiterhin wollen wir nun untersuchen, ob dieselben Gründe nicht auch fordern, daß die Menschen auch die Freiheit haben, nach ihrer Meinung zu handeln und ihre Überzeugung im Leben durchzusetzen, ohne moralischen oder physischen Zwang von ihren Mitmenschen zu erfahren — solange es auf persönliche Rechnung und Gefahr des Einzelnen geht. Dieser letzte Vorbehalt ist natürlich unerläßlich. Niemand wird behaupten, daß Handlungen so frei sein sollen wie Meinungen. Im Gegenteil: sogar Meinungen verlieren ihre Unantastbarkeit, wenn die Umstände, unter denen sie zum Ausdruck kommen, so sind, daß sie wie eine direkte Aufreizung zu einer Übeltat wirken. Die Ansicht zum Beispiel, daß Kornhändler Ausbeuter der Armen seien oder daß Eigentum Diebstahl sei, sollte ungestraft durch die Presse verbreitet werden dürfen; aber es muß gerechterweise bestraft werden, wenn sie mündlich einem erregten Volkshaufen vorgetragen wird, der sich vor dem Haus eines Kornhändlers zusammenrottet oder wenn sie in Form von Plakaten einer solchen Versammlung bekanntgegeben wird. Handlungen, die ohne zu rechtfertigenden Grund einem anderen Leid zufügen, können, ja müssen sogar in wichtigeren Fällen durch eine nicht wohlwollende Betrachtungsweise und nötigenfalls auch durch tatkräftiges Einschreiten der Menschen verhindert werden. Soweit muß die individuelle Freiheit begrenzt werden, daß niemand anderen Menschen Schaden zufügen darf. Aber solange er niemand belästigt, sondern nur nach dem eigenen Urteil handelt in Dingen, die nur ihn selbst angehen, da beweisen die gleichen Gründe, die für die Gedankenfreiheit sprechen, auch, daß es erlaubt sein muß, ohne Belästigung durch die Mitmenschen auf eigene Kosten die eigene Meinung auch in die Tat umzusetzen. Daß die Menschheit nicht unfehlbar ist, daß ihre ,Wahrheiten' zumeist nur Halbwahrheiten sind, daß die Einstimmigkeit der Meinungen nicht wünschenswert ist, wenn sie nicht ein Ausfluß der vollsten und freiesten Übereinstimmung der entgegengesetzten Ansichten ist, und daß Meinungsvielfalt kein Übel, sondern ein Gut ist, solange die Menschen so schlecht wie bisher imstande sind, alle Seiten der Wahrheit zu erkennen — das ist ein Grundsatz, der natürlich auf die Handlungen der Menschen geradeso anwendbar ist, wie auf ihre Ansichten. Wenn es nützlich ist, daß im unvollkommenen Stadium der menschlichen Erkenntnis verschiedene Ansichten herrschen, so ist es ebenso wichtig, daß es verschiedene Lebensweisen gibt, daß den mannigfachen Charakteren freier Spielraum gelassen werde, solange sie nur nicht andere schädigen. Und ebenso erwünscht ist es, daß der Wert verschiedener Lebensweisen praktisch erprobt werde, wenn jemand sich für fähig hält, sie auszuprobieren. Kurz: es ist wünschenswert, daß in Dingen, die nicht vornehmlich andere betreffen, die Individualität sich behauptet. Wo nicht der eigene Charakter des Handelnden, sondern

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die Überlieferungen und Sitten anderer Leute über das Handeln entscheiden, da fehlt eine der Hauptbedingungen der menschlichen Glückseligkeit und vor allem der Hauptantrieb zu individuellem und sozialem Fortschritt. Wenn man dieses Prinzip aufstellt, liegt die größte Schwierigkeit nicht darin, daß die Mittel, zu diesem Ziel zu gelangen, schwer zu erkennen sind, sondern in der allgemeinen Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Ziel selbst. Empfände man, daß die freie Entwicklung der Individualität zu den Hauptbedingungen der menschlichen Wohlfahrt gehört, empfände man, daß zu allem, was mit den Worten Zivilisation, Unterricht, Erziehung, Kultur bezeichnet wird, die individuelle Freiheit nicht nur als äußeres Beiwerk gehört, sondern daß sie ein notwendiger Bestandteil, ja die eigentliche Bedingung jener Güter ist, bestünde keine Gefahr, daß die Freiheit unterschätzt würde, und die Feststellung der Grenzen zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Kontrolle würde keine besondere Schwierigkeit darstellen. Aber das Übel ist, daß individuelle Selbstbestimmung von der gewöhnlichen Denkweise kaum als besonders wertvoll oder beachtenswert anerkannt wird. Denn die meisten sind zufrieden mit der Lebensweise der Menschen, so wie sie heute ist — der Geschmack der Mehrheit schafft ja eben diese Lebensweise — darum können sie auch nicht begreifen, warum diese Art zu leben nicht gut genug für jeden sein sollte. Und was noch schlimmer ist: Selbstbestimmung gehört nicht zu dem Ideal der meisten moralischen und sozialen Reformer, diese betrachten sie sogar mit Argwohn als ein störendes oder gar rebellisches Hindernis, das der allgemeinen Annahme dessen im Wege steht, was diese Reformer als das Beste für die Menschheit ansehen. Außerhalb Deutschlands verstehen nur wenige den Sinn der Lehre, die Wilhelm von Humboldt — der bedeutende Gelehrte und Politiker — zum Gegenstand seiner Untersuchung machte: ,Der wahre Zweck des Menschen — nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt — ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen', so daß deshalb das Ziel, .wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ... Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung ist. Dafür sind zwei Bedingungen erforderlich: .Freiheit' und .Mannigfaltigkeit der Situationen', aus deren Vereinigung ,Kraft der Individuen' und .mannigfaltige Verschiedenheit' entstehen, die sich miteinander zur .Originalität' verbinden1. Wie wenig auch die Menschen mit einer Lehre wie der Humboldtschen vertraut sind und wie sehr es sie auch überraschen mag, der Individualität einen so hohen Wert zugeschrieben zu sehen, so kann doch der Meinungsunterschied nur ein gradueller sein. Denn es wird niemand das Lebensideal T h e Sphere and Duty of Government', aus dem Deutschen des Barons Wilhelm von Humboldt, S. 1 1 - 1 3 .

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darin erblicken, daß die Menschen sich darauf beschränken, einander nachzuahmen. Es wird niemand behaupten, daß die Menschen in ihrer Lebensweise oder bei der Verfolgung ihrer Interessen ihr eigenes Urteil oder ihren individuellen Charakter gänzlich unterdrücken sollen. Andererseits aber wäre es sinnlos, zu behaupten, daß die Menschen so leben sollten, als ob man, bevor sie selbst auf die Welt kamen, noch von nichts etwas gewußt hätte, und als ob man noch nie ausprobiert hätte, daß die eine Art der Lebensführung einer anderen vorzuziehen sei. Niemand leugnet, daß die Menschen in der Jugend so erzogen werden müssen, daß sie die Ergebnisse der menschlichen Erfahrung kennenlernen und daraus Nutzen ziehen können. Aber es ist das Vorrecht und die eigentliche Lebensgrundlage des Menschen, daß er, zur Reife gelangt, die Erfahrung in seiner eigenen Weise gebraucht und auslegt. Er selbst muß ausfindig machen, welcher Teil der überlieferten Erfahrung für seine eigenen Lebensumstände und seinen Charakter geeignet ist. Die Gewohnheiten und Sitten anderer Leute sind bis zu einem gewissen Grad der Beweis für das, was die Erfahrung sie gelehrt hat — jedenfalls ein mutmaßlicher —, und sie haben insofern Anspruch auf Respekt. Aber einmal kann die Erfahrung dieser Menschen zu eng oder ihre Ausdeutung des Erfahrenen falsch sein. Es kann aber auch die Ausdeutung richtig sein, aber auf einen anderen nicht passen. Gewohnheiten wurden für gewöhnliche Umstände und gewöhnliche Charaktere geschaffen, und der Charakter oder die Verhältnisse eines Menschen können außergewöhnlich sein. Oder aber: obwohl die Gewohnheiten gut sind und auch für einen anderen Menschen passen würden, so erzeugt die Tatsache, daß jemand mit der Gewohnheit übereinstimmt, nur weil sie einmal eingebürgert ist, in einem Menschen keine der Eigenschaften, die das entscheidende Merkmal des menschlichen Wesens sind. Die menschlichen Fähigkeiten des Verstehens, des Urteils, der Unterscheidung, der geistigen Aktivität und selbst der moralischen Wertschätzung werden nur geübt, indem man eine Wahl trifft. Derjenige aber, der etwas nur darum tut, weil es Sitte ist, trifft keine Wahl. Er gewinnt keine Übung darin, das Beste zu erkennen oder zu begehren. Die geistigen und moralischen Kräfte werden, wie die Muskelkräfte, nur gestärkt durch Übung. Diese Fähigkeiten aber bleiben ungeübt, wenn wir etwas nur tun, weil andere es auch tun, oder wenn wir etwas nur glauben, weil es andere glauben. Wenn die Gründe einer Sache nicht der eigenen Vernunft des Menschen begreiflich sind, so kann seine Vernunft nicht gestärkt, sondern eher geschwächt werden, wenn er die Sache dennoch glaubt. Und wenn die Beweggründe für die Handlung eines Menschen nicht mit seinem eigenen Fühlen und seinem Charakter übereinstimmen (bei Handlungen, wo Meinungen oder Rechte anderer nicht in Betracht kommen), so bewirkt er damit, daß seine Gefühle und sein Charakter träg und stumpf und nicht frisch und energisch werden. Wer sich seinen Lebensplan von der Welt oder seiner engeren Umgebung vorzeichnen läßt, der bedarf dazu keiner anderen Begabung als dei affenähn-

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liehen Nachahmung. Derjenige aber, der seinen Lebensplan selbst entwirft, nutzt alle seine Fähigkeiten. Er braucht Beobachtungsgabe zum Sehen, Verstand und Urteilkraft zum Voraussehen, geistige Lebendigkeit, um Material für die Entscheidung zu sammeln, Unterscheidungsgabe, um zu wählen, und wenn er sich entschieden hat, so braucht er Festigkeit und Selbstkontrolle, um an der getroffenen Wahl festzuhalten. Und diese Eigenschaften wird er in dem Maße besitzen und ausüben, in dem er sich gewöhnt hat, sein Handeln von seinem eigenen Urteil und Empfinden abhängig zu machen. Trotzdem ist es möglich, daß jemand auch ohne diese Selbstbestimmung auf dem rechten Wege bleibt und von Unheil verschont wird. Aber worin liegt der Wert eines solchen Menschen? Denn nicht nur das kommt in Betracht, was die Menschen tun, sondern auch was für Menschen es sind, die so handeln. Unter all den menschlichen Werken, die wir zu vervollkommnen und zu verschönern haben, ist das wichtigste doch sicher der Mensch selbst. Nehmen wir einmal an, es sei möglich, daß durch Maschinen — durch Automaten in Menschengestalt — Häuser gebaut würden, Korn angebaut, Schlachten geschlagen, Prozesse geführt, ja selbst Kirchen errichtet und Gebete gesprochen würden: so wäre es doch ein erheblicher Verlust, wenn man solche Automaten gegen Menschen und selbst gegen die Frauen und Männer eintauschen -würde, die heute die zivilisierte Welt bewohnen, obwohl sie doch gewiß nur mäßige Beispiele von dem sind, was die Natur hervorbringen kann und will. Die menschliche Natur ist keine Maschine, die nach einem Modell gebaut wird und die eine genau vorgeschriebene Arbeit verrichten kann, sondern ein Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen. Man wird wahrscheinlich zugeben, daß es wünschenswert ist, wenn die Menschen ihren Verstand gebrauchen, und daß ein einsichtiges Befolgen der Sitte oder selbst gelegentlich ein einsichtiges Abweichen davon besser ist als eine blinde mechanische Abhängigkeit von der Gewohnheit. Man gibt bis zu einem gewissen Grade zu, daß unser Verstand eben unser eigener Verstand sein muß; aber man will nicht ebenso bereitwillig zugestehen, daß auch unsere Begierden und Triebe uns selbst angehören müssen oder daß eigene — und starke — Triebe zu haben nicht nur Gefahr und Versuchung sein muß. Und dennoch sind Begierden und Triebe ebensogut ein Teil eines vollkommenen menschlichen Wesens wie Glaube und Verzicht, und starke Triebe sind nur dann gefährlich, wenn ein ausgleichendes Gegengewicht fehlt, wenn eine Gruppe von Absichten und Neigungen sich stark entwickelt, während andere, die mit ihnen im Gleichgewicht stehen sollten, schwach und inaktiv bleiben. Die Menschen handeln nicht schlecht, weil ihre Leidenschaften stark sind, sondern weil ihr Gewissen schwach ist. Aber es besteht durchaus keine notwendige Verbindung zwischen starken Trieben und einem schwachen Gewissen. Die gegenteilige Verbindung ist sogar das Natürliche. Sagt man: die

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Begierden und Gefühle eines Menschen sind stärker und mannigfaltiger als die eines anderen, so bedeutet das zunächst nur, daß er mehr von dem Rohmaterial der menschlichen Natur besitzt und darum vielleicht mehr zum Bösen, bestimmt aber mehr zum Guten befähigt ist als der andere. Starke Triebe sind ja nur ein anderer Name für Energie. Diese kann gewiß zu üblen Zwekken verwandt werden; andererseits aber wird von einer energischen Natur auch viel mehr Gutes geleistet als von einer trägen und unempfindlichen. Wer am meisten natürliches Gefühl besitzt, hat auch stets die meiste Aussicht, daß seine kultivierten Gefühle die stärksten sein werden. Dieselbe starke Empfänglichkeit, die die natürlichen Triebe lebhaft und kraftvoll werden läßt, ist auch die Quelle, aus der leidenschaftliche Tugendliebe und strengste Selbstdisziplin stammen. Darum tut die Gesellschaft ihre Pflicht und dient ihren eigenen Interessen, wenn sie diese Naturen schützt, nicht aber, wenn sie den Stoff verwirft, aus dem Helden gemacht werden; kann sie doch nicht selbst welche machen. Einen Charakter hat nur der Mensch, der eigene Begierden und Triebe hat als Ausdruck seiner eigenen Natur, wie sie durch Selbsterziehung entwickelt und gemodelt ist. Jemand, der keine eigenen Triebe hat, hat ebensowenig einen Charakter wie eine Dampfmaschine. Wenn aber seine Triebe, außer daß sie sein eigen sind, Stärke haben und von einem starken Willen beherrscht werden, dann hat er einen energischen Charakter. Wer da meint, daß der individuelle Charakter der Begierden und Triebe nicht ermuntert werden dürfe, sich zu entfalten, der muß auch behaupten, daß die Gesellschaft keiner starken Naturen bedürfe, daß sie nicht besser führe, wenn sie viele charaktervolle Persönlichkeiten besäße und daß ein hohes Durchschnittsmaß von Energie nicht wünschenswert wäre. In manchen früheren Stadien der menschlichen Entwicklung waren diese Kräfte vielleicht der Macht, mit der die damalige Gesellschaft sie im Zaume halten und kontrollieren wollte, zu sehr über den Kopf gewachsen. Es gab eine Zeit, wo das Element der Spontaneität und Individualität übergroß war, so daß das soziale Prinzip einen harten Kampf mit ihm zu bestehen hatte. Da war es schwer, Menschen von starkem Körper und starkem Geist dazu zu bringen, daß sie sich Gesetzen fügten, die eine Beherrschung ihrer Triebe von ihnen verlangten. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, übten Gesetz und Zucht ihre Macht über den ganzen Menschen aus — man denke an den Kampf der Päpste gegen die Kaiser — und beanspruchten, das ganze Leben der Menschen zu kontrollieren, um ihren Charakter zu beeinflussen — wozu die Gesellschaft kein anderes Mittel gefunden hatte. Jetzt aber hat die Gesellschaft so ziemlich den Sieg über das Individuum davongetragen, und die Gefahr, die der menschlichen Natur nun droht, ist nicht ein Übermaß, sondern ein Mangel an persönlichen Trieben und Neigungen. Die Dinge haben sich sehr verändert, seit die Leidenschaften derer, die durch ihre Stellung oder durch persönliche Begabung hervorragten, in beständiger Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung begriffen waren und streng in Zucht

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gehalten werden mußten, damit die Menschen in ihrem Bereich in einiger Sicherheit leben konnten. In unserer Zeit lebt jeder, von den höchsten Gesellschaftsklassen an bis zu den untersten, gleichsam unter den Augen einer feindlichen und gefürchteten Zensur. Der Einzelne oder die Familie fragen nicht nur in Dingen, die andere angehen, sondern auch in Fragen, die nur sie selbst betreffen, nicht mehr: Was ziehe ich vor? oder: Was würde meinem Charakter und meinen Neigungen entsprechen? oder: Was bringt das Höchste und Beste in mir zur Entwicklung und zur Entfaltung? Nein, sie fragen sich: Was paßt für meine Stellung? Was pflegen Menschen von meiner gesellschaftlichen Stellung und meinen pekuniären Verhältnissen zu tun? Oder gar, was noch schlimmer ist, sie fragen sich: Was pflegen Leute zu tun, die gesellschaftlich über mir stehen? Ich will damit nicht sagen, daß sie nach dem Üblichen suchen, anstatt nach dem zu fragen, was ihrer wahren Neigung entspricht. Es fällt ihnen nicht ein, eine andere Neigung zu haben, als es eben üblich ist. So wird der Geist selbst unter das Joch gebeugt; selbst bei dem, was die Menschen zu ihrem Vergnügen tun, wird zunächst an Konformität gedacht. Sie lieben in Mengen; sie wählen nur zwischen Dingen, die für gewöhnlich getan werden dürfen, Eigenheiten im Geschmack, Exzentrizitäten im Handeln werden wie Verbrechen gemieden. Zum Schluß haben sie, weil sie ihrer Natur niemals folgen, überhaupt gar keine Natur mehr. Ihre menschlichen Fähigkeiten verdorren und sterben ab; sie werden unfähig, starke Wünsche oder eingeborene Leidenschaften überhaupt zu empfinden, und sie sind gewöhnlich ohne alle urwüchsigen oder im strengen Sinne eigenen Neigungen oder Empfindungen. Ist das nun ein wünschenswerter Zustand der menschlichen Natur, oder ist er es nicht? Nach der Lehre Calvins ist er es durchaus. Denn nach ihr ist die große Sünde des Menschen sein Eigenwille, und alles Gute, dessen der Mensch fähig ist, bezeichnet das Wort .Gehorsam'. Der Mensch hat keine Wahl; so muß er handeln und nicht anders: ,Was nicht Pflicht ist, das ist Sünde.' Die menschliche Natur ist von Grund aus verderbt, und der Mensch darf nicht auf Erlösung hoffen, bevor er nicht die menschliche Natur in sich abgetötet hat. Einen Bekenner dieser Lehre dünkt es nicht sündhaft, wenn man menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Empfänglichkeiten vernichtet: bedarf doch der Mensch keiner anderen Fähigkeit als der, sich in den Willen Gottes zu ergeben. Und es ist besser, daß ein Mensch seine Gaben entbehrt, als daß er nur eine von ihnen für einen anderen Zweck verwende als zur Durchführung dieses vermeintlichen Gotteswillens. So lautet die Lehre Calvins, und zu einer milderen Form derselben bekennen sich viele, die sich nicht Kalvinisten nennen. Die Milderung besteht darin, daß sie dem Willen Gottes eine weniger asketische Auslegung geben, daß sie voraussetzen, es sei Gottes Wille, wenn die Menschen einige ihrer Neigungen befriedigen, aber natürlich nicht in der Weise, die sie selber vorzögen, sondern auf dem Wege

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des Gehorsams, also auf eine Weise, die die Autorität ihnen vorschreibt. So ist auch dieser Weg nicht individuell, sondern für alle gleich. In einer so verfänglichen Form besteht augenblicklich eine starke Tendenz zu dieser engherzigen Lebensauffassung und zu dem gedrückten und trockenen menschlichen Charakter, der durch diese Richtung begünstigt wird. Viele glauben wohl aufrichtig, daß so verkrüppelte und zwergenhafte Formen menschlicher Wesen das sind, wozu der Schöpfer sie bestimmte, so wie viele gedacht haben, daß Bäume, wenn man sie zu Stümpfen kappt oder zu Tiergestalten schneidet, viel vornehmer seien als so, wie die Natur sie gemacht hat. Aber wenn der Glaube, daß die Menschen von einem gütigen Wesen geschaffen worden sind, Teil der Religion ist, so paßt es zu diesem Glauben auch besser, wenn man annimmt, daß jenes Wesen den Menschen alle Gaben dazu verlieh, daß sie gebildet und entwickelt, nicht aber ausgerottet und vernichtet würden, und daß es Freude empfände an jedem Schritt, der seine Geschöpfe dem Ideal, das sie verwirklichen sollen, näherbringt, an jeder Steigerung ihrer Fähigkeiten des Begreifens, des Handelns und des Genießens. Es gibt noch einen anderen Typus menschlicher Größe als den kalvinistischen: eine Auffassung, nach der den Menschen ihre Natur für anderes verliehen wurde, als bloß verleugnet zu werden. ,Heidnische Selbstbehauptung' ist ein Element menschlichen Wertes genausogut wie .christliche Selbstverleugnung'.2 Es gibt ein griechisches Ideal der Selbstentfaltung, mit dem sich das platonische und das christliche Ideal der Selbstbeherrschung vermischen, ohne es zu hemmen. Es mag besser sein, ein John Knox als ein Alkibiades zu sein, aber am besten ist es schon, man ist keiner von beiden, sondern ein Perikles. Hätten wir nur heute einen Perikles, so würde er sicher auch der Tugenden nicht ermangeln, die wir an einem John Knox schätzen. Zu einem edlen und schönen Gegenstand der Betrachtung werden die Menschen nur, wenn sie ihre persönliche Natur innerhalb der Grenzen, die ihnen durch die Rechte und Interessen anderer gezogen sind, kräftigen und kultivieren und nicht, wenn sie alle individuellen Züge in Gleichförmigkeit verwandeln, und ebenso, wie Werke am Charakter ihrer Schöpfer Anteil haben, wird das menschliche Leben dadurch reich, mannigfaltig und anregend, es bietet bessere Gelegenheit zu hohen Gedanken und erhebenden Gefühlen und festigt das Band, das jedes Einzelwesen mit der Gattung verbindet, indem die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung dadurch unendlich viel wertvoller wird. In dem Maße, wie ein Mensch seine Individualität entwickelt, wird er selbst wertvoller für sich und dadurch auch für andere. Das eigene Dasein hat dann mehr Lebens fülle, und wo mehr Leben in dem Einzelnen ist, da ist auch mehr Leben in der Masse, die ja aus den Einzelnen zusammengesetzt ist. Ein gewisser Zwang aber ist immer nötig, um die stärkeren PerStetlings ,Essays*.

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sönlichkeiten daran zu hindern, die Rechte der Schwächeren einzuschränken, aber dafür wird in der Möglichkeit menschlicher Entfaltung ein guter Ausgleich geboten. Die Entwicklungsmöglichkeiten, die der Einzelne dadurch verliert, daß man ihn hindert, seine Neigungen zuungunsten anderer zu befriedigen, würden eben auf Kosten der Entwicklung dieser Menschen gehen. Und auch in sich selbst findet der Einzelne einen Ausgleich der Entwicklung, indem jetzt auch der soziale Teil seiner Anlagen ausgebildet wird und die selbstsüchtigen Regungen unterdrückt werden. Um zum Heile anderer die strengen Regeln der Gerechtigkeit einzuhalten, entwickelt der Mensch die Gefühle und die Gaben, die das Wohl anderer bezwecken. Wenn der Mensch aber in Dingen, die nicht das Wohl anderer betreffen, wenn er nur aus Schikane eingeschränkt wird, entspringt ihm daraus nichts Wertvolles, außer der Charakterstärke, die entwickelt wird, wenn er sich der Einengung widersetzt. Ergibt man sich ihr, so schwächt und ermattet sie schließlich die ganze menschliche Natur. Soll dem Wesen jedes Menschen freier Spielraum gelassen werden, so muß man den verschiedenen Charakteren gestatten, ihr Leben verschieden zu führen. In dem Maße, wie diese Freiheit in jedem Zeitalter gewährt worden ist, ist dieses Zeitalter für die Nachwelt wichtig. Selbst der Despotismus bringt seine schlimmsten Wirkungen nicht hervor, solange unter ihm Individualitäten existieren. Alles aber, was die Individualität ausrotten will, ist Despotismus — ganz gleich, mit welchem Namen es sich belegen mag, gleich auch, ob man es als Gebot Gottes oder als Menschensatzung darstellt. Nachdem ich gezeigt habe, daß Individualität mit Entwicklung zusammenfällt und daß nur die Kultivierung der Individualität hochentwickelte Menschen hervorbringt und hervorbringen kann, möchte ich die Gedankenfuhrung abschließen, denn was kann von einem Zustand der menschlichen Angelegenheiten mehr oder Besseres und Schöneres gesagt werden, als daß er die Menschen dem Besten, was sie werden können, näherbringt? Oder aber — : Was könnte Schlimmeres von irgendeiner Behinderung des Guten gesagt werden, als daß es eben jenes Beste verhindert? Trotzdem werden diese Gedanken zweifellos jene nicht umstimmen, die dieser Uberzeugung am dringendsten bedürfen. Man muß deshalb weiterhin zeigen, daß die entwickelten Menschen für die noch unterentwickelten von Wert sind. Man muß diejenigen, die die Freiheit nicht lieben und sie für sich nicht wählen würden, darauf hinweisen, daß sie irgendwie dafür belohnt werden, wenn sie dennoch anderen Menschen erlauben, von der Freiheit ungehindert Gebrauch zu machen. Zunächst würde ich zu bedenken geben, daß sie möglicherweise etwas von ihnen lernen könnten. Niemand wird leugnen können, daß Originalität in menschlichen Dingen ein wertvolles Element ist. Wir brauchen immer Menschen, die nicht nur neue Wahrheiten entdecken und es herausfinden, wenn das, was einst als Wahrheit gegolten hat, es nicht mehr ist - und vor

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allem aber auch solche, die praktisch neue Wege entdecken und das Beispiel einer aufgeklärteren Handlungsweise, eines besseren Geschmacks und Sinnes im Menschenleben eben. Das kann wohl von keinem geleugnet werden, der nicht glaubt, daß die Welt in jeder Hinsicht Vollkommenheit erreicht hat. Es ist sicher wahr, daß nicht jeder gleichermaßen diese Wohltat erweisen kann, es sind — im Vergleich mit der ganzen Menschheit — nur sehr wenige Menschen, deren Versuche man als eine Verbesserung der üblichen Lebensweise für alle zur Annahme empfehlen könnte. Aber diese wenigen eben sind das Salz der Erde; ohne sie würde das menschliche Leben einem stehenden Gewässer gleichen. Nicht nur sind sie es, die gute, bis dahin ungekannte Neuerungen einfuhren; sie erhalten auch das schon Bekannte lebensvoll. Wenn nichts Neues zu tun wäre, wäre der menschliche Intellekt dann noch notwendig? Wäre es vernünftig, wenn die, die der Uberlieferung folgen, den Grund dafür vergessen und es wie das Vieh tun und nicht wie Menschen? Es liegt in den besten Überzeugungen und Praktiken eine nur zu starke Tendenz, ins Mechanische auszuarten. Gäbe es nicht immer wieder eine Reihe von Menschen, deren stets neue Originalität die Gründe dieser zur Gewohnheit gewordenen Praxis davor bewahrte, zur gedankenlosen Uberlieferung zu werden, so würde diese tote Materie auch nicht den leisesten Zusammenprall mit irgend etwas Lebendigem ertragen können, und es wäre nicht einzusehen, warum die Zivilisation nicht absterben sollte wie einst im byzantinischen Reich. Geniale Menschen stellen sicher immer nur eine kleine Minderheit dar, aber um sie zu erhalten, muß man den Boden pflegen, auf dem sie gedeihen. Der Genius kann nur in der Atmosphäre der Freiheit atmen. Geniale Menschen sind — wie auch schon das Wort besagt — individueller als andere Leute, und sie sind darum minder geeignet, sich, ohne schmerzhaft gepreßt zu werden, in eine der wenigen Formen zu fügen, die die Gesellschaft bereithält, um ihren Mitgliedern die Mühe zu ersparen, sich einen eigenen Charakter zu bilden. Wenn sie sich aus Schüchternheit einer dieser Formen anpassen und alle jene Teile ihres Wesens nicht entfalten, die sich unter dem Druck nicht entfalten können, so wird die Gesellschaft von ihrem Genie nie viel haben. Wenn sie aber einen starken Charakter zeigen und ihre Fesseln zerbrechen, so werden sie zur Zielscheibe für die Gesellschaft, der es nicht gelungen ist, sie zur Mittelmäßigkeit herabzudrücken, auf die sie mit entsetzter Miene die Wort ,wild' und .aufbrausend' anwenden wird; das ist genauso, als ob man sich über den Niagara beklagen wollte, weil er nicht wie ein holländischer Kanal sanft zwischen seinen Ufern dahinfließt. Ich weise ausdrücklich auf die Wichtigkeit des Genies und auf die Notwendigkeit hin, ihm im Handeln und Denken freie Entwicklung zu gewähren, und ich weiß wohl, daß in der Theorie niemand diese Position bestreiten wird, aber ich weiß ebensogut, daß in Wirklichkeit fast jeder diesen Dingen völlig gleichgültig gegenübersteht. Man hält das Genie für eine gute Sache, wenn es einen Menschen instand setzt, ein gelungenes Gedicht zu schreiben

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oder ein Bild zu malen. Aber in seinem wahren Sinn, dem der Originalität im Denken und Handeln, meinen die meisten in ihrem Herzen — obwohl keiner sagt, er bewundere die Originalität nicht —, daß man die genialen Menschen sehr wohl auch entbehren könne. Leider ist das zu natürlich, als daß man darüber erstaunen müßte. Originalität ist das einzige, dessen Nutzen unoriginelle Menschen nicht einsehen können. Sie begreifen nicht, was sie damit anfangen sollen. Wie sollten sie auch? Wenn sie begriffen, was Originalität ihnen Gutes täte, dann wäre es keine. Der erste Dienst, den Originalität ihnen erweisen könnte, wäre, daß sie ihnen die Augen öffnete. Wäre das jemals ganz geschehen, so hätten sie Aussicht, selbst Originale zu werden. Inzwischen sollen sie bedenken, daß niemals etwas getan worden ist, ohne daß irgend jemand es zuerst getan hat und daß alles Gute, das existiert, die Frucht der Originalität ist, und so sollten sie bescheiden genug sein, zu glauben, daß für diese noch immer etwas zu tun ist. Ja, sie sollten überzeugt sein, daß sie selbst die Originalität um so nötiger haben, je weniger sie merken, daß sie ihnen fehlt. Wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, so muß man sagen: wieviel Huldigung auch der wahren oder angenommenen geistigen Überlegenheit dargebracht wird, so strebt die allgemeine Neigung der Dinge doch dahin, der Mittelmäßigkeit die größte Macht über die Menschen zu geben. In der Alten Geschichte, im Mittelalter und in geringerem Maße auch in der langen Ubergangszeit vom Feudalismus zur Gegenwart war Individualität eine Macht für sich. Und wenn sich damit Talent oder eine hohe soziale Stellung verband, so gewann sie eine beträchtliche Macht. Gegenwärtig geht alle Individualität in der Masse unter. In der Politik ist es fast eine Trivialität zu sagen, daß die öffentliche Meinung jetzt die Welt beherrscht. Die einzige Macht, die diesen Namen verdient, ist die Macht der Massen und der Regierungen, sofern diese sich zum Organ für die Neigungen und Instinkte von Massen machen. Das gilt ebenso für die menschlichen und sozialen Beziehungen im Privatleben wie für die öffentlichen Betätigungen. Aber es ist nicht immer dasselbe Publikum, dessen Ansichten den Namen der öffentlichen Meinung tragen: in Amerika kommt als solches die ganze weiße Bevölkerung in Betracht, in England hauptsächlich die Mittelklassen. Aber diese bilden immer eine Masse, das heißt: eine gesammelte Mittelmäßigkeit. Eine noch größere Neuheit aber ist es, daß die Masse ihre Meinungen nicht mehr von Würdenträgern in Staat oder Kirche bezieht, auch nicht von ausgesprochenen Führern oder aus Büchern. Nein, sie beziehen ihre Gedanken von Leuten, die auf gleicher Stufe mit ihnen selbst stehen, die unter dem Eindruck des Augenblicks sie durch die Presse ansprechen oder in ihrem Namen reden. Ich klage über das alles nicht, denn ich glaube nicht, daß als allgemeine Regel mit dem jetzigen Stand des Menschengeistes irgend etwas anderes zu vereinen ist. Aber das hindert nicht, daß die Herrschaft der Mittelmäßigkeit eine mittelmäßige Herrschaft ist. Niemals konnte sich eine Regierung, die von

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einer Demokratie oder einer zahlreichen Aristokratie getragen wird, in ihren politischen Handlungen, Ansichten, Eigenschaften und Geistesstimmungen über die Mittelmäßigkeit erheben, wenn sich nicht die souveränen vielen (wie sie das in ihren besseren Zeiten taten) fuhren und beeinflussen ließen durch die Ratschläge und den Einfluß eines oder mehrerer über ihnen Stehender. Die Einführung aller weisen und edlen Dinge kann stets nur von den Individuen kommen, ja sie geht im allgemeinen zuletzt auf eine Persönlichkeit zurück. Die Ehre und der Ruhm des Durchschnittsmenschen besteht darin, daß er fähig ist, diesen Anregungen zu folgen, daß die weisen und edlen Ideen in ihm ein Echo finden, und daß er sich offenen Auges zu ihnen hinführen läßt. Ich bin nicht für die Art der Heldenverehrung, die dem starken Genie zujubelt, wenn es sich die Herrschaft über die Welt aneignet und sie wider ihren Willen zur Unterwerfung zwingt. Alles, was das Genie beanspruchen darf, ist die Freiheit, den Weg zu zeigen. Die Macht, andere auf diesen Weg zu zwingen, ist nicht nur unvereinbar mit der Freiheit und Entwicklung aller anderen, sondern sie korrumpiert auch den Starken selbst. Wenn aber die Ansichten von Massen oder bloß von Durchschnittsmenschen überall die dominierene Macht sind oder dazu werden, sollten sie dann nicht ein Korrektiv finden in der immer prononcierteren Individualität solcher, die geistig höher stehen? Vor allem um dieser Tatsache willen darf man Ausnahmepersönlichkeiten nicht unterdrücken, sondern man sollte sie ermuntern, wenn sie in ihrem Handeln von der Masse abweichen. Früher war ein solches Abweichen nur dann ein Vorteil, wenn man nicht nur anders, sondern auch besser handelte. Heute aber ist schon das bloße Beispiel des Abweichens, die Tatsache, daß man nicht vor Sitte und Gewohnheit das Knie beugt, ein Verdienst. Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung so stark ist, daß für sie Exzentrizität ein Tadel ist, muß man, um jene Tyrannei zu durchbrechen, geradezu wünschen, daß Menschen exzentrisch sein sollten. Exzentrizität war in der Menschheit stets nach Maßgabe der Charakterstärke vertreten; sie hängt im allgemeinen ab von der Summe des Genies, der Geisteskraft und des Mutes, die sich in der Gesellschaft finden. Die Hauptgefahr unserer Zeit liegt darin, daß heute so wenige Menschen wagen, exzentrisch zu sein. Ich sagte, man müsse ungewohnten Praktiken möglichst freien Spielraum gewähren, damit sich mit der Zeit erweise, welche von ihnen zur Gewohnheit erhoben werden sollen. Aber Unabhängigkeit im Handeln und Mißachtung der Sitte verdienen Ermunterung nicht nur, weil sie die Aussicht eröffnen, daß bessere Handlungsweisen und Sitten, die der allgemeinen Anerkennung würdiger sind als die bisherigen, eingeführt werden. Auch haben nicht nur Menschen von entschiedener geistiger Überlegenheit gerechten Anspruch darauf, ihr Leben nach eigenen Gutdünken einzurichten. Es besteht überhaupt kein Grund, nach einem oder nach einer geringen Zahl von Mustern das ganze menschliche Leben einzurichten. Wenn jemand einigermaßen gesunden Menschenverstand und Erfahrung zeigt, so hat er das Recht, sein

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Leben nach eigenem Urteil zu gestalten, nicht weil ein solches Leben stets an sich das beste wäre, sondern weil es seiner Eigenart am besten entspricht. Menschen sind ja nicht wie Schafe, und selbst diese sind nicht ununterscheidbar gleich. Ein Mensch kann zu einem passenden Rock oder einem passenden Paar Stiefeln nicht gelangen, wenn sie nicht nach seinem Maß gemacht sind oder wenn sie nicht aus ganzen Lagerbeständen für ihn herausgesucht werden. Ist es denn leichter, ein passendes Leben als einen passenden Rock zu finden, oder gleichen sich vielleicht Menschen in ihrem ganzen körperlichen und seelischen Habitus mehr als in der Gestalt ihrer Füße? Und wäre es nur um der Verschiedenheit des Geschmacks willen, so dürfte man nicht versuchen, die Menschen alle nach einem Muster zu gestalten. Aber verschiedene Menschen erfordern auch verschiedene Bedingungen für ihre geistige Entwicklung; sie können sich nicht alle unter ein und derselben Moral gesund entwickeln, wie verschiedene Pflanzen ja auch nicht in derselben Atmosphäre und in demselben Klima gut gedeihen würden. Das, was dem einen zur Entwicklung seiner höheren Natur verhilft, ist für einen anderen hinderlich. Dieselbe Lebensweise ist für den einen eine gesunde Anregung, die alle seine Kräfte zu Arbeit und Lebensgenuß in bester Ordnung hält, während sie für den anderen eine erdrückende Bürde bedeutet, die all sein inneres Leben zunichte macht. So sehr verschieden sind bei den Menschen die jeweiligen Quellen des Vergnügens, der Empfänglichkeit für Schmerz und ihre Reaktion auf verschiedene physische und moralische Einwirkungen, daß — wenn nicht dementsprechend auch ihre Lebensweise mannigfach gestaltet wird — sie weder ihren gerechten Anteil an Glück erhalten noch sich geistig, moralisch und ästhetisch zu dem entwickeln, dessen ihre Natur fähig ist. Warum dehnt man die Duldung nur auf den Geschmack und die Lebensweise aus, die sich durch die Menge ihrer Anhänger Geltung verschaffen? Die Verschiedenheit des Geschmacks ist nirgends (außer in gewissen klösterlichen Anstalten) völlig verpönt. Man kann auch, ohne sich Tadel zuzuziehen, es lieben oder nicht lieben, zu rudern, zu rauchen, Musik zu treiben, zu turnen, Schach oder Karten zu spielen oder zu studieren; denn diejenigen, die diese Dinge lieben, wie die, die sie verachten, sind zu zahlreich, als daß man sie unterdrücken könnte. Aber der Mann oder mehr noch die Frau, der man vorwirft, daß sie tut, was sonst niemand tut, oder daß sie unterläßt, was alle tun, ist der Gegenstand so gehässiger Bemerkungen, als hätte sie ein schweres moralisches Delikt begangen. Die Menschen müssen Titel oder Rang besitzen, oder sie müssen bei Leuten von Rang etwas gelten, wenn sie sich den Luxus leisten wollen, nach Belieben zu leben, ohne an Achtung einzubüßen. Aber auch sie dürfen sich nicht viel Abweichungen von der Norm erlauben, sonst riskieren sie Schlimmeres als nur üble Nachrede; sie sind in Gefahr, ins Irrenhaus zu kommen und ihr Eigentum an Verwandte zu verlieren.3 Es liegt etwas zugleich Verächtliches und Schreckliches in der Art von Beweisen, die den Gerichten in der jüngsten Zeit zur Grundlage dienten, um Menschen für unfähig zu erklären, ihre eigenen Angelegenheiten zu verwalten, und wie die Gerichte sich erlauben, ihr Testa-

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Ein charakteristisches Zeichen fur die gegenwärtige Richtung der öffentlichen Meinung besteht darin, daß sie unduldsam ist gegen jede Bekundung der Individualität. Und die Durchschnittsmenschen sind nicht nur von mäßigem Verstand; mittelmäßig sind sie auch in ihren Neigungen und ihrem Geschmack; ihre Wünsche sind nicht stark genug, als daß sie sie geneigt machten, etwas Unübliches zu tun, und folglich verstehen sie auch diejenigen nicht, bei denen das der Fall ist, und rechnen sie zu den wilden und maßlosen Charakteren, auf die sie gewohntermaßen verächtlich herabblicken. Setzen wir zu dieser allgemeinen Tatsache noch voraus, daß eine starke Bewegung zur Reform der Sitten eingesetzt hat, so ist deutlich, welche Folgen zu erwarten sind. In unseren Tagen aber ist eine solche Bewegung tatsächlich eingetreten. Viel ist geschehen, um das Verhalten stärker an Regeln zu binden und Unregelmäßigkeiten zu entmutigen. Es ist ein Geist der Philanthropie im Schwange, der sich nicht besser betätigen kann, als für die moralische und intellektuelle Hebung der Menschen zu sorgen. Diese Tendenz unserer Zeit bewirkt es, daß die Menschen mehr als in früheren Zeiten dazu neigen, allgemeine Regeln des Verhaltens aufzustellen, und daß sie sich bemühen, jeden Menschen nach diesem Maßstab zu formen. Dieser ausdrücklich oder stillschweigend anerkannte Maßstab aber verlangt, daß man keine starken Leidenschaften haben solle. Das Ideal des Zeitcharakters ist, daß man keinen ausgesprochenen Charakter habe, daß man — ähnlich wie bei den Füßen chinesischer Frauen — alles, was irgendwie an einem Menschen hervorragt und ihn in seiner Statur den Durchschnittsmenschen unähnlich macht, durch Einschnürung verstümmele. Wie es aber zumeist mit Idealen geht, die die eine Hälfte des Wünschenswerten ausschließen, so hat auch der jetzige Standpunkt die Folge, daß selbst ment zu verwerfen, sofern Vermögen genug vorhanden war, um die Gerichtskosten davon zu bestreiten. In solchen Fällen werden alle Einzelheiten des täglichen Leben des Betreffenden durchgegangen, und wenn sich irgend etwas findet, was durch niederträchtigste Betrachtungsweise und Darstellung den Anschein gewinnt, vom absolut Üblichen abzuweichen, so wird diese Tatsache dem Gericht oft mit Erfolg als Beweis der Verrücktheit hinterbracht. Die Geschworenen sind, wenn überhaupt, kaum weniger gemein und unwissend als die Zeugen. Die Richter aber, mit jenem außerordentlichen Mangel an Menschenkenntnis, der uns bei englischen Juristen immer wieder in Erstaunen versetzt, helfen oft noch, jene zu mißleiten. Die Prozesse sprechen Bände über das, was die Volksmeinung von der menschlichen Freiheit hält. Man denkt nie daran, der Individualität irgendeinen Wert zuzuerkennen oder das Recht des Einzelnen, in gewissen Dingen dem eigenen Geschmack zu folgen, irgendwie zu achten; darum begreifen weder Richter noch Geschworene, daß jemand bei gesunden Sinnen solche Freiheit begehren könnte. Als man in früheren Zeiten erwog, ob man die Atheisten verbrennen sollte, schlugen barmherzige Menschen vor, sie lieber in ein Irrenhaus zu sperren. Es würde mich nicht wundern, wenn das auch heute geschähe, und wenn die, die es veranlassen, sich noch rühmten, sie hätten jene Unglücklichen, anstatt sie aus religiösen Gründen zu verfolgen, so human und christlich behandelt, nicht ohne eine stille Befriedigung, daß jenen dabei nach Verdienst geschehen sei.

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von der anderen Hälfte nur armselige Nachahmungen hervorgebracht werden. Das Ergebnis sind nicht große Energien, die durch tatkräftige Vernunft gelenkt werden, auch nicht starke Gefühle, die unter der Herrschaft eines starken Wilens stehen; es bilden sich vielmehr nur schwächliche Gefühle und Impulse, die ohne jeden starken Willen und ohne Vernunft in äußerlicher Ubereinstimmung mit der erforderlichen Regel gehalten werden können. Charaktere, die schon energisch sind, agieren immer konventioneller. Ihr einziges Ventil findet die Energie heutzutage in England fast ausschließlich im Geschäftsleben. Die Energie, die dort aufgewandt wird, kann noch immer für beträchtlich gelten. Was dann übrig bleibt, wird auf irgendein Hobby verwandt. Es mag ein nützliches, selbst ein menschenfreundliches Hobby sein; aber es ist stets nur eine einzige Sache und zumeist eine Kleinigkeit. Die Größe Englands ist jetzt nur eine Gesamtgröße. Unsere Individuen sind klein, und zu Großem sind wir imstande nur, weil wir gewohnt sind, uns zusammenzutun. Damit sind unsere religiösen und moralischen Menschenfreunde vollkommen zufrieden. Aber es waren Menschen von anderem Ausmaß, die England zu dem gemacht haben, was es ist, und Menschen von anderem Schlage werden auch nötig sein, um seinen Verfall zu verhindern. Die Tyrannei der Sitte ist überall das stehende Hindernis des menschlichen Fortschritts, und sie lebt in unaufhörlichem Kampf mit der Neigung, nach etwas Besserem als dem Gewohnheitsmäßigen zu streben — man nenne dieses Prinzip: Geist der Freiheit oder des Fortschritts oder der Reform. Der Geist der Reform ist nicht stets mit Freiheit identisch. Kann es doch geschehen, daß einem Volk Verbesserungen wider seinen Willen aufgezwungen werden. Und sofern der Geist der Freiheit sich solchen Versuchen widersetzt, kann er sich unter Umständen mit den Gegnern der Reform verbinden. Dennoch ist Freiheit die einzige unfehlbare und beständige Quelle der Reform, denn im Sinne der Freiheit gibt es so viele Zentren der Reform, als es Individuen gibt. Das Prinzip des Fortschritts aber widerstrebt in jeder Gestalt, sei es als Liebe zur Freiheit oder zur Reform, dem Zwang der Sitte. Schließt doch Freiheit stets auch Befreiung vom Zwang der Gewohnheit ein; der Kampf zwischen diesen beiden Faktoren stellt das Hauptinteresse in der Geschichte der Menschheit dar. Der größere Teil der Welt hat im eigentlichen Sinne keine Geschichte, denn er steht völlig unter der Tyrannei der Sitte. So ist es im ganzen Osten, da ist Sitte und Gewohnheit in jeder Beziehung das Prinzip, worauf alles abzielt. Recht und Gerechtigkeit bedeuten dort nichts anderes als Ubereinstimmung mit der Sitte. Niemand als höchstens ein von Macht trunkener Tyrann denkt dort daran, sich der Macht der Gewohnheit zu entziehen. Es ist klar, wohin dieser Zustand führt. Diese Völker müssen einst Originalität besessen haben. Sie steigen nicht plötzlich zahlreich, gelehrt und in vielen Lebenskünsten erfahren aus dem Boden hervor. Sie schufen vielmehr aus sich heraus das alles, und so entwickelten sie sich zu den größten und mächtigsten Nationen der Welt — was aber sind sie jetzt? Unter-

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tanen oder Vasallen von Stämmen, deren Vorfahren noch in Wäldern lebten, als ihre eigenen Vorfahren prächtige Paläste und stolze Tempel hatten. Aber die Herrschaft über sie mußte sich die Sitte mit der Freiheit und dem Fortschritt teilen. Ein Volk, so scheint es, kann eine gewisse Zeitlang im Fortschritt begriffen sein, dann aber steht es still. Wann tritt das ein? Wenn es aufhört, Individualität zu besitzen. Sollte ein ähnlicher Wechsel die Völker Europas treffen, so würde er sich nicht genauso abspielen. Die Tyrannei der Sitte, von der diese Nationen bedroht sind, bedeutet genaugenommen nicht Stilstand. Sie ächten zwar die Originalität, aber sie schließen die Veränderung nicht aus, vorausgesetzt, alle verändern sich gleichmäßig. So haben wir die Trachten unserer Vorfahren abgelegt; aber jeder muß sich wie alle anderen kleiden; immerhin darf die Mode ein- oder zweimal im Jahre wechseln. Wir sind darauf bedacht, daß jeder Wechsel um seiner selbst willen stattfinde, nicht aus irgendeiner Idee der Schönheit oder der Bequemlichkeit heraus. Denn eine solche Idee würde nicht im selben Moment von der ganzen Welt Besitz ergreifen und würde nicht in einem solchen Augenblick von allen zugleich auch beiseite geschoben werden. Wir lassen also den Fortschritt und Wechsel zu. Wir machen beständig neue Erfindungen in mechanischen Dingen und halten diese fest, bis sie wieder durch bessere verdrängt werden. Wir sind eifrig in Verbesserungen im Gebiet der Politik, der Erziehung, ja sogar der Moral. In diesem Umkreis freilich besteht unsere Reform darin, daß wir andere Menschen zu überzeugen suchen oder sie zwingen, so gut wie wir selbst zu sein. Nicht gegen den Fortschritt also sind wir eingenommen, im Gegenteil, wir schmeicheln uns, das fortschrittlichste Volk, das jemals lebte, zu sein. Aber wir befehden die Individualität; wir würden meinen, Wunder vollbracht zu haben, wenn es uns gelungen wäre, uns alle gleichzumachen. Denn wir vergessen, daß Ungleichheit der Einzelnen geeignet ist, uns zuerst darauf aufmerksam zu machen, daß das eigene Wesen noch unvollkommen und ein anderes ihm überlegen ist, oder auf die Möglichkeit, etwas noch Besseres hervorzubringen, indem man die Vorteile beider Eigenarten kombiniert. Wir haben ein warnendes Beispiel an China — einem Volk von großem Talent, ja in gewisser Hinsicht von großer Weisheit. Die Chinesen danken das dem großen Glück, daß sie schon frühzeitig mit einer Reihe guter Sitten bekanntgeworden sind. Das ist das Verdienst von Männern, denen mit bestimmten Beschränkungen auch der aufgeklärteste Europäer den Namen von Weisen und Philosophen zuerkennen muß. Sie verstehen es meisterhaft, jedem Mitglied ihrer Gemeinschaft die beste Weisheit, die sie selbst besitzen, zu vermitteln, und sie wissen denjenigen, die sich das meiste davon angeeignet haben, die ehrenvollsten und einflußreichsten Stellen zu sichern. Gewiß hat doch ein Volk, das so handelte, das Geheimnis des menschlichen Fortschritts entdeckt, und man sollte meinen, daß sie an der Spitze der Weltbewegung geblieben seien. Aber das Gegenteil ist eingetreten: Sie stehen still,

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und sie verharren seit Jahrtausenden auf demselben Fleck; wenn sie jemals Reformen erleben sollen, so muß das durch Fremde bewirkt werden. Den Chinesen ist über alles Erwarten gelungen, woran englische Philanthropen so ernsthaft arbeiten: sie haben alle Menschen einander gleichgemacht; sie haben bewirkt, daß sie alle ihr Denken und Tun nach denselben Maximen und Regeln lenken — und das sind die Früchte. Bei uns ist die moderne Herrschaft der öffentlichen Meinung in unorganisierter Form dasselbe, was das chinesische System der Erziehung und Politik in organisierter Form ist. Und wenn es der Individualität nicht gelingt, sich erfolgreich gegen das Joch der öffentlichen Meinung aufzulehnen, so wird Europa trotz seiner edlen Vergangenheit und trotz seines christlichen Bekenntnisses schließlich ein zweites China werden. Was hat Europa bisher vor diesem Los behütet? Was hat die europäische Völkerfamilie zu einem fortschreitenden und nicht stillstehenden Teil der Menschheit gemacht? Nicht, daß diese Menschen irgendwelche überlegenen Eigenschaften besäßen, die, wenn es sie gibt, eine Folge, nicht aber eine Ursache sind. Der Grund ihres Fortschreitens ist vielmehr die Verschiedenheit, die sie in Charakter und Kultur aufweisen. Individuen, Klassen, Nationen waren auffallend verschieden voneinander, sie haben die mannigfaltigsten Wege eingeschlagen, von denen jeder zu einem wertvollen Ziel führt. Jederzeit sind zwar diejenigen, die verschiedene Wege einschlugen, unduldsam gegeneinander gewesen, und jeder hat gewünscht, alle übrigen auf den eigenen Weg zwingen zu können. Aber die Versuche, sich gegenseitig in der Entwicklung zu stören, haben kaum einen dauernden Erfolg gehabt, jeder hat mit der Zeit die Wohltaten empfangen, die die anderen ihm darboten. Mir scheint, daß Europa seine fortschrittliche und vielseitige Entwicklung nur der Verschiedenheit jener Wege verdankt. Aber bereits fängt man an, sich über dieses Gut sehr wenig zu freuen. Wir nähern uns entschieden dem chinesischen Ideal der Gleichartigkeit aller Menschen. Monsieur de Tocqueville bemerkt in seinem jüngsten bedeutenden Werk, wieviel mehr die Franzosen unserer Tage einander gleichen, als sie es in der letzten Generation taten. Man kann dasselbe, ja in weit höherem Grade noch, von den Engländern behaupten. In einer schon zitierten Stelle von Wilhelm von Humboldt erwähnt er zwei Dinge als notwendige Voraussetzungen der menschlichen Entwicklung, die nötig sind, um die Menschen einander ungleich zu machen: nämlich Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen. Die zweite dieser Bedingungen schwindet in England mit jedem Tage immer mehr; denn die Lebensumstände, die verschiedenen Klassen und Individuen zukommen und die ihren Charakter gestalten helfen, werden einander immer ähnlicher. Früher lebten verschiedene Klassen, verschiedene Nachbarschaften, verschiedene Gewerbe und Berufsarten — fast möchte man sagen — in verschiedenen Welten; heute sind diese Unterschiede fast aufgehoben. Vergleichsweise gesprochen, lesen sie jetzt dasselbe, hören und sehen sie dasselbe; sie besuchen dieselben Plätze, hoffen und fürchten dasselbe, und sie besitzen diesel-

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ben Rechte und Freiheiten und verfügen über dieselben Mittel, diese zu realisieren. Sind auch die Unterschiede der Stellung noch groß, so sind sie doch nichts gegen die Unterschiede, die schon überwunden sind. Und die Angleichung ist noch im Fortschreiten begriffen. Alle politischen Umgestaltungen des Zeitalters befördern sie, denn sie gehen alle darauf aus, die Niederen zu erhöhen und die Hohen zu erniedrigen. Jede Ausbreitung der Erziehung mindert die Ungleichheit, denn sie bringt die Menschen unter gemeinsame Einflüsse und macht ihnen gleiche Kenntnisse und Gesinnungen zugänglich. Ebenso wird die Angleichung durch jede Verbesserung der Verkehrsmittel vermehrt, denn sie bringt die Bewohner entfernter Orte in persönliche Berührung, und sie ermöglicht einen regen Austausch zwischen ihnen. Auch die Verbesserung von Handel und Gewerbe wirkt in dieser Richtung, denn dadurch breiten sich die Vorteile leichterer Lebensumstände weiter aus, und alle Gegenstände des Ehrgeizes, selbst die höchsten, werden dem allgemeinen Wettbewerb zugänglich gemacht. Der Wunsch, höher zu steigen, bleibt nicht einer Klasse vorbehalten, er wird allgemein. Noch mehr als alle diese Dinge aber befördern andere Momente die Angleichung der Menschen aneinander: nämlich die Tatsache, daß in allen freien Ländern die Macht der öffentlichen Meinung im Staate immer mehr zunimmt. Wo die gesellschaftlichen Vorzugsstellungen, die ihre Inhaber in den Stand versetzen, die öffentliche Meinung zu mißachten, nivelliert werden, wo der bloße Gedanke an Widerstand gegen die öffentliche Meinung aus dem Sinn des praktischen Politikers schwindet — wo diese Bedingungen erfüllt sind, hört jede gesellschaftliche Stütze der Ungleichheit auf. Denn nur jene einflußreiche Macht in der Gesellschaft, die sich der Macht der größeren Zahl entgegenstellt, hat ein Interesse daran, Meinungen und Tendenzen in ihren Schutz zu nehmen, die von denen der Öffentlichkeit abweichen. Das Zusammenwirken aller dieser Faktoren bildet einen mächtigen, der Individualität feindlichen Einfluß, so daß schwer zu erkennen ist, wie jene sich behaupten soll. Diese Schwierigkeit -wird immer stärker auf ihr lasten, wenn der einsichtsvolle Teil der Gesellschaft nicht zu der Erkenntnis gelangt, daß Individualität Wert hat, daß Unterschiede an sich wünschenswert sind, selbst wenn sie für sich keine Verbesserungen darstellen, ja selbst wenn einzelne Erscheinungen, die dabei auftreten, nachteilig sein sollten. Wenn es je an der Zeit war, die Ansprüche der Individualität geltend zu machen, so ist es jetzt der Fall, wo noch immer viel an der erzwungenen Assimilation fehlt. Nur in den Anfangsstadien kann man ja mit Erfolg einer Vergewaltigung entgegentreten. Das Verlangen, daß alle anderen Menschen uns ähnlich sein sollten, wächst, je öfter es wiederholt wird. Wenn der Widerstand dagegen auf sich warten läßt, bis das Leben auf einen beinahe gleichförmigen Typus gebracht ist, dann werden alle Abweichungen von ihm als ruchlos, unsittlich, ja selbst als ungeheuerlich und naturwidrig betrachtet werden. Die Menschen werden bald unfähig, Verschiedenheit zu begreifen, wenn sie eine Zeidang entwöhnt waren, sie zu sehen.

Natürliche Freiheit, moralische Einschränkungen und der Staat Robert Nozick Auszüge aus: Robert Nozick, Anarchie - Staat — Utopia

Der Naturzustand Die Menschen in Lockes Naturzustand befinden sich in einem „vollkommenen Zustand der Freiheit, nach Gutdünken zu handeln und über ihre Besitztümer und ihre Person zu verfügen, im Einklang mit dem Naturrecht und ohne irgendeinen anderen Menschen um Erlaubnis zu bitten oder von ihm abhängig zu sein" (Abschnitt 4)*. Das Naturrecht fordert, daß „niemand einen anderen an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Eigentum schädigen d a r f (Abschnitt 6). Einige Menschen übertreten diese Grenzen, sie „begehen Übergriffe gegen Rechte anderer und ... tun einander Schaden an", und gegen solche Beeinträchtigungen ihrer Rechte dürfen die Menschen sich und andere verteidigen (Kapitel 3). Der Geschädigte und die in seinem Namen Tätigen können von dem Schädiger fordern, „was den erlittenen Schaden wieder gutmacht" (Abschnitt 10); „jedermann hat das Recht, Verstöße gegen dieses Recht so zu bestrafen, daß sie unterbleiben" (Abschnitt 7); jeder darf, und darf auch nur, „[an einem Rechtsbrecher] so weit Vergeltung üben, wie es eine kühle Vernunft und das Gewissen vorschreibt, das heißt, im Verhältnis zu der Übertretung, also in dem Maße, wie es der Wiedergutmachung und Verhinderung dient" (Abschnitt 8). Es gibt „Unzuträglichkeiten des Naturzustands", für die, so Locke, „wie ich ohne weiteres zugebe, die Staatsgewalt die rechte Abhilfe ist" (Abschnitt 13). Um genau zu erkennen, wofür die Staatsgewalt Abhilfe bringt, darf man nicht lediglich Lockes Liste der Unzuträglichkeiten des Naturzustands zitieren. Man muß sich auch fragen, wie man ihnen im Rahmen des Naturzustands abhelfen könnte — wie man sie vermeiden oder weniger wahrscheinlich machen oder, wenn sie auftreten, abmildern könnte. Erst wenn alle Möglichkeiten des Naturzustands zum Tragen gebracht sind, nämlich alle freiwilligen Regelungen und Vereinbarungen, zu denen die Menschen im Rahmen *

[Die Abschnittsangaben beziehen sich auf John Locke, The Second Treatise of Government, Hrsg.]

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ihrer Rechte gelangen können, und erst wenn deren Wirkungen abgeschätzt sind, erst dann ist man in der Lage, zu erkennen, wie schwerwiegend die Unzuträglichkeiten sind, denen noch durch den Staat abgeholfen werden muß, und abzuschätzen, ob nicht die Kur schlimmer als die Krankheit ist. Im Naturzustand könnte das unterstellte Naturrecht vielleicht nicht alle Fälle passend regeln (siehe die Abschnitte 159 und 160, wo Locke diese Aussage über Gesetzessysteme macht; vgl. aber Abschnitt 124), und wer in eigener Sache richtet, wird im Zweifel stets zu seinen Gunsten entscheiden und sich ins Recht setzen. Er wird die von ihm erlittenen Übel oder Schäden überschätzen, und seine Leidenschaften werden ihn zu dem Versuch treiben, andere unverhältnismäßig zu bestrafen und ihnen übermäßige Wiedergutmachungen aufzuerlegen (Abschnitte 13, 124, 125). Die private und persönliche Durchsetzungen der Rechte (auch derer, die verletzt werden, wenn man selbst übermäßig bestraft wird) führt also zu Fehden, zu einer endlosen Reihe von Vergeltungen und Beitreibungen von Entschädigungen. Und es gibt keine klare Möglichkeit, einen solchen Streit zu schlichten und zu beenden, so daß dies beiden Seiten deutlich ist. Selbst wenn eine Seite erklärt, sie würde ihre Vergeltungen einstellen, so gibt es doch für die andere Seite nur dann Sicherheit, wenn sie weiß, daß die erste sich nicht doch noch zu Entschädigung oder Vergeltung berechtigt fühlt und daher zu dem Versuch, eine passende Gelegenheit auszunützen. Keine Art, wie ein einzelner versuchen könnte, sich für seinen Teil unwiderruflich auf die Beendigung einer Fehde festzulegen, würde der anderen Seite genügend Sicherheit bieten; stillschweigende Übereinkünfte, aufzuhören, wären ebenfalls instabil. Daß beide Seiten das Gefühl haben, Unrecht zu erleiden, das kann auch angesichts der klarsten Rechte und bei Einigkeit über die Tatsachen des Verhaltens der Beteiligten vorkommen; umso mehr Anlaß zu einem solchen Vergeltungskrieg gibt es, wenn die Tatsachen oder die Rechte bis zu einem gewissen Grade unklar sind. Auch kann im Naturzustand einem Menschen die Macht zur Durchsetzung seiner Rechte fehlen; er könnte außerstande sein, einen stärkeren Gegner, der sie verletzt hat, zu bestrafen oder zu Wiedergutmachungsleistungen zu zwingen (Abschnitte 123, 126). Schutyyereinigungen Wie könnte man mit diesen Schwierigkeiten innerhalb des Naturzustands fertigwerden? Fangen wir mit der letzten an. Im Naturzustand kann jeder einzelne seine Rechte durchsetzen, sich verteidigen, Entschädigung eintreiben und strafen (oder er kann es wenigstens versuchen). Andere können auf seine Aufforderung hin an seiner Verteidigung teilnehmen. Sie schlagen mit ihm gemeinsam einen Angreifer zurück oder verfolgen ihn, vielleicht weil sie eine Gemeinschaftsverantwortung empfinden, oder weil sie seine Freunde sind, oder weil er ihnen früher geholfen hat, oder weil sie möchten, daß er ihnen in Zukunft hilft, oder im Austausch für ein Gut, Gruppen von Menschen

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können Vereinigungen zum gegenseitigen Schutze bilden: alle halten sich bereit, bei Anforderung jedem Mitglied zu seiner Verteidigung oder zur Durchsetzung seiner Rechte beizuspringen. In der Einheit liegt Stärke. Solchen einfachen Vereinigungen zum gegenseitigen Schutz haften zwei Mängel an: (1) jeder muß sich dauernd zur Schutztätigkeit bereithalten (und wie soll entschieden werden, wer dem Ruf nach einer Schutztätigkeit nachkommen soll, wenn nicht alle gebraucht werden?); (2) jedes Mitglied kann seine Genossen auf die Beine bringen, indem es behauptet, seine Rechte würden verletzt oder seien verletzt worden. Eine Schutzvereinigung wird sich nicht völlig den Querulanten und Paranoiden unter ihren Mitgliedern ausliefern wollen, nicht zu reden von denen, die unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung versuchen könnten, die Vereinigung zur Verletzung der Rechte anderer einzusetzen. Schwierigkeiten gibt es auch, wenn sich zwei Mitglieder der gleichen Vereinigung streiten und jedes die anderen Mitglieder zu Hilfe ruft. Eine Vereinigung zum gegenseitigen Schutze könnte es damit versuchen, daß sie bei Konflikten zwischen ihren eigenen Mitgliedern einfach nicht tätig wird. Doch das würde Uneinigkeit innerhalb der Vereinigung schaffen und könnte zur Bildung einander bekämpfender Teilgruppen und damit zum Auseinanderbrechen der Vereinigung führen. Auch würde dieses Verfahren mögliche Angreifer veranlassen, möglichst vielen Vereinigungen zum gegenseitigen Schutz beizutreten, um keinen Vergeltungs- oder Abwehrhandlungen ausgesetzt zu sein; daher müßte die Vereinigung Mitglieder vor ihrem Eintritt sehr genau überprüfen. Also werden die Schutzvereinigungen (fast alle, die übrigbleiben, denen genug Mitglieder beitreten) keine Nichteinmischung üben; sie werden gemäß einem Verfahren die notwendigen Schritte prüfen, wenn Mitglieder von anderen behaupten, sie hätten ihre Rechte verletzt. Man kann sich viele willkürliche Verfahren vorstellen (z. B. daß man sich auf die Seite desjenigen Mitglieds stellt, dessen Klage zuerst eingeht), doch die meisten Menschen werden Vereinigungen beitreten wollen, deren Verfahren die Berechtigung der Klagen feststellen möchte. Wenn ein Mitglied der Vereinigung mit Nichtmitgüedern im Streit liegt, so wird die Vereinigung ebenfalls auf irgendeine Weise feststellen wollen, wer im Recht ist, allein schon um nicht ständig und kostspielig auch in alle ungerechten Streitfälle ihrer Mitglieder verwickelt zu sein. Der Übelstand, daß jeder bereit sein muß, gleichgültig, was er gerade tut oder tun möchte und wie wichtig es ihm ist, läßt sich auf die übliche Weise durch Arbeitsteilung und Austausch beheben. Einige Menschen werden für die Schutzleistungen angestellt, und Unternehmer beginnen damit, Schutzleistungen zu verkaufen. Verschiedene Schutzprogramme werden zu verschiedenen Preisen angeboten, damit man sich verschieden umfangreichen und intensiven Schutz verschaffen kann. Der einzelne kann auch speziellere Maßnahmen treffen, statt einer privaten Schutzorganisation jegliche Verfolgung, Festnahme, richterliche Schuldfeststellung, Bestrafung und Beitreibung von Entschädigung zu übertragen.

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Eingedenk der Gefahren des Richtens in eigener Sache könnte er die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang ihm Unrecht geschehen ist, einer neutralen oder weniger beteiligten Seite übertragen. Damit auch allen deutlich wird, daß Gerechtigkeit geübt wird, müßte eine solche Stelle allgemeines Ansehen genießen und als neutral und rechtschaffen gelten. Beide Parteien in einem Streit könnten so dem Anschein der Einseitigkeit entgegenzutreten versuchen, und sie könnten sich sogar auf die gleiche Person als Richter einigen und vereinbaren, sich seiner Entscheidung zu unterwerfen. (Oder es könnte ein festgelegtes Verfahren geben, wie eine Partei, die mit der Entscheidung unzufrieden ist, gegen sie Einspruch einlegen kann.) Doch aus naheliegenden Gründen wird eine starke Tendenz bestehen, daß sich diese Funktionen bei der gleichen Person oder Organisation konzentrieren. Die Menschen nehmen heute tatsächlich manchmal ihre Streitigkeiten aus dem staatlichen Gesetzessystem heraus und bringen sie vor andere Richter oder Gerichte ihrer Wahl, z. B. vor religiöse Gerichte. Wenn alle Parteien in einem Streitfall gewisse Seiten des Staates oder seines Gesetztessystems so abstoßend finden, daß sie nichts damit zu tun haben möchten, einigen sie sich vielleicht auf außerstaatliche Formen der Schlichtung oder Rechtsprechung. Die Menschen vergessen leicht die Möglichkeiten, unabhängig vom Staat zu handeln. (Ähnlich vergessen Menschen, die sich unter paternalistische Regelungen begeben möchten, die Möglichkeiten, bestimmte Beschränkungen ihres Verhaltens vertraglich zu vereinbaren oder ein vorhandenes paternalistisches Aufsichtsorgan über sich zu setzen. Statt dessen nehmen sie genau die Beschränkungen hin, die die Gesetzgebung gerade einführt. Gibt es wirklich jemanden, der auf der Suche nach einer Gruppe kluger und einfühlsamer Menschen, die ihm zu seinem eigenen Wohle Regelungen auferlegen sollen, gerade die Menschen wählen würde, die Mitglieder der beiden Kammern des Parlaments sind?) Zweifellos könnten verschiedene Formen gerichtlicher Regelung entwickelt werden, die sich von dem speziellen Paket unterscheiden, das der Staat liefert. Auch die Kosten ihrer Entwicklung und Heranziehung erklären nicht, warum sich die Menschen der staatlichen Form bedienen. Denn man könnte leicht eine große Zahl vorgefertigter Pakete anbieten, unter denen die Parteien wählen könnten. Was die Menschen zum Rechtssystem des Staates treibt, ist wohl seine letztendliche Durchsetzung. Nur der Staat kann ein Urteil gegen den Willen einer der Parteien durchsetzen. Denn der Staat erlaubt niemandem, ein Urteil eines anderen Systems durchzusetzen. Können sich also zu einem Streitfall die beiden Parteien nicht auf eine Schlichtungsmethode einigen, oder hat eine Seite den Verdacht, daß sich die andere nicht an die Entscheidung halten wird (und wenn der andere sich vertraglich einer gewaltigen Buße unterwirft, falls er sich nicht an die Entscheidung hält, welche Organisation solle dann diese Vereinbarung durchsetzen?), so haben die Parteien, die ihre Ansprüche durchsetzen möchten, nur eine einzige vom staatlichen Rechtssystem zugelassene Möglichkeit, näm-

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lieh dieses selbst heranzuziehen. Das kann Menschen, die stark gegen ein gegebenes Staatswesen eingestellt sind, vor besonders unangenehme Entscheidungen stellen. (Wenn das Rechtssystem des Staates die Ergebnisse bestimmter Schlichtungsverfahren durchsetzt, so kann es zur Einigung kommen — angenommen, sie wird auch eingehalten —, ohne daß es zu wirklichem unmittelbarem Kontakt mit Beamten oder Einrichtungen des Staates kommt. Doch das gilt ebenso, wenn ein Vertrag unterzeichnet wird, der nur vom Staat durchgesetzt wird.) Werden die Schutzorganisationen verlangen, daß ihre Klienten auf die Ausübung ihres Rechts auf private Vergeltung verzichten, wenn ihnen von Nichtmitgliedern der Organisation Unrecht geschehen ist? Derartige Vergeltung könnte leicht zu Gegenvergeltung durch eine andere Organisation oder Person führen, und eine Schutzorganisation wird sich in diesem späten Stadium nicht gern in die unangenehme Sache hineinziehen lassen wollen, indem sie ihren Klienten vor der Gegenvergeltung schützen muß. Die Schutzorganisationen werden sich weigern, vor Gegenvergeltung zu schützen, es sei denn, sie hätten vorher die Vergeltung genehmigt. (Oder könnten sie nicht einfach wesentlich mehr für das ausgedehntere Schutzprogramm verlangen, das auch dieses deckt?) Die Schutzorganisationen brauchen nicht einmal zu verlangen, daß der Klient im Rahmen seines Auftrags vertraglich auf sein Recht verzichtet, gegenüber den anderen Klienten Privatjustiz zu üben. Die Organisation braucht nur einem Klienten K, der seine Rechte privat gegenüber anderen Klienten durchsetzt, jeden Schutz vor Gegenvergeltung zu versagen. Die Verhältnisse liegen ganz ähnlich, wie wenn Κ gegen einen Nichtklienten vorginge. Geht Κ nun gegen einen Klienten der Organisation vor, so wird sich diese gegenüber Κ verhalten wie gegenüber irgendeinem Nichtklienten, der seine Rechte privat gegenüber einem Klienten der Organisation durchsetzt (siehe Kapitel 5). Damit wird die Privatjustiz innerhalb der Organisation auf ein ganz geringes Maß herabgedrückt. Die vorherrschende Schut^yereinigung Anfänglich werden mehrere Schutzvereinigungen oder -firmen ihre Dienste im gleichen geographischen Gebiet anbieten. Was geschieht nun bei Konflikten zwischen den Klienten verschiedener Organisationen? Die Dinge liegen verhältnismäßig einfach, wenn die Organisationen zur gleichen Entscheidung über die Behandlung des Falles kommen. (Obwohl vielleicht jede der anderen Seite eine Buße auferlegen möchte). Doch was geschieht, wenn sie die Sachlage verschieden beurteilen, wenn die eine Organisation ihren Klienten schützen möchte, während ihn die andere bestrafen oder ihm eine Wiedergutmachung auferlegen möchte? Nur drei Möglichkeiten sind von Interesse: 1. Die Organisationen kämpfen miteinander. Eine gewinnt immer. Da die Klienten der Verliererorganisation bei Konflikten mit denen der Gewinner-

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organisation schlecht geschützt sind, treten sie aus ihrer Organisation aus und beauftragen die andere. 2. Eine Organisation hat ihre Hauptmacht in einem geographischen Gebiet, die andere in einem anderen. Jede gewinnt die Kämpfe, die nahe bei ihrem Machtzentrum ausgefochten werden, und es gibt ein bestimmtes Absinken mit der Entfernung. Wer einer Organisation angehört, aber im Machtbereich der anderen wohnt, zieht entweder mehr zur Zentrale seiner Organisation oder beauftragt die andere. (Die Grenze ist ungefähr so konfliktgeladen wie die zwischen Staaten.) In keinem dieser beiden Fälle gibt es noch viel geographische Verzahnung. In einem gegebenen Gebiet arbeitet nur noch eine Schutzorganisation. 3. Die beiden Organisationen kämpfen oft und ausgeglichen. Sie gewinnen und verlieren etwa gleich häufig, und ihre durcheinander wohnenden Mitglieder haben häufig Streitigkeiten miteinander. Oder vielleicht erkennen die Organisationen ohne Kampf oder nach ein paar Scharmützeln, daß es ohne Vorbeugungsmaßnahmen ständig zu solchen Kämpfen kommen wird. Auf jeden Fall: um häufige kostspielige und unproduktive Kämpfe zu vermeiden, einigen sich die beiden Organisationen — etwa ihre Führungskräfte — darauf, Streitfälle, in denen sie zu verschiedenen Urteilen kommen, gütlich zu schlichten. Für diese Fälle einigen sie sich darauf, einen Dritten als Richter oder Gerichtshof einzusetzen, sich an ihn zu wenden und sich seinen Entscheidungen zu unterwerfen. (Oder sie stellen Regeln auf, welche Organisation unter welchen Umständen das Entscheidungsrecht hat.) So entsteht ein System von Berufungsgerichten und anerkannten Regeln über die Rechtsprechung und den Gesetzeskonflikt. Es sind zwar verschiedene Organisationen tätig, doch alle sind Teile eines einheitlichen föderativen Rechtsprechungssystems. In jedem dieser Fälle sind fast alle Menschen in einem geographischen Gebiet einem gemeinsamen System unterworfen, das zwischen ihren gegensätzlichen Ansprüchen entscheidet und ihre Rechte durchsetzt. Aus der Anarchie entsteht durch spontane Gruppenbildungen, Vereinigungen zum gegenseitigen Schutz, Arbeitsteilung, Marktverhältnisse, ökonomische Größenvorteile und vernünftiges Eigeninteresse ein Gebilde, das sehr stark einem Minimalstaat oder einer Gruppe geographisch abgegrenzter Minimalstaaten ähnelt. Warum nun unterscheidet sich dieser Markt von allen anderen Märkten? Warum würde hier praktisch ein Monopol entstehen, ohne daß eine Regierung eingreift, die sonst ein solches schafft und aufrechterhält? Der Wert des gekauften Gutes, des Schutzes gegenüber anderen, ist ein relativer: er hängt davon ab, wie stark die anderen sind. Doch im Unterschied zu anderen Gütern, die vergleichend bewertet werden, können maximale Schutzdienstleistungen nicht in Konkurrenz nebeneinander bestehen; die Art dieser Dienst-

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leistung schafft zwischen verschiedenen Organisationen nicht nur eine Konkurrenz um Kunden, sondern auch gewaltsame Konflikte. Und da der Wert des nichtmaximalen Gutes unverhältnismäßig stark mit der Anzahl derer, die das maximale Gut kaufen, fällt, werden sich die Kunden nicht auf die Dauer mit dem geringeren Gut zufriedengeben, und die konkurrierenden Firmen werden in einen Abwärtssog hineingerissen. Daher die drei angeführten Möglichkeiten. Diese unsere Geschichte geht davon aus, daß jede der Organisationen in gutem Glauben versucht, innerhalb der Grenzen des Lockeschen Naturrechts zu handeln1. Doch eine „Schutzvereinigung" könnte Übergriffe gegen andere Personen begehen. Im Lichte von Lockes Naturrecht wäre sie eine gesetzlose Organisation. Was könnte man ihrer Macht praktisch entgegenstellen? (Was kann man der Macht des Staates praktisch entgegenstellen?) Die anderen Organisationen könnten sich gegen sie verbünden. Die Menschen könnten sich weigern, sich mit den Klienten der gesetzlosen Organisation einzulassen, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß sich diese in ihre eigenen Angelegenheiten einmischt. Das könnte der gesetzlosen Organisation die Gewinnung von Klienten erschweren; doch wirksam ist dieser Boykott wohl nur unter sehr optimistischen Annahmen darüber, was sich nicht geheimhalten läßt, und über die Kosten eines Teilboykotts für den einzelnen im Vergleich zu dem Nutzen des umfangreicheren Schutzes, den eine „gesetzlose" Organisation bietet. Ist die „gesetzlose" Organisation einfach ein offener Angreifer, der ohne einen einleuchtenden Gerechtigkeitsanspruch plündert und erpreßt, so wird sie es schwerer haben als ein Staat. Denn der Legitimitätsanspruch des Staates führt seine Bürger zu dem Glauben, sie hätten eine Pflicht, seinen Anweisungen zu gehorchen, seine Steuern zu zahlen, für ihn in den Krieg zu ziehen usw.; daher unterstützen ihn einige Menschen freiwillig. Eine offen aggressive Organisation könnte sich auf keine solche freiwillige Mitarbeit stützen, da sich die Menschen einfach als ihre Opfer und nicht ihre Bürger empfinden würden. Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand Wie, falls überhaupt, unterscheidet sich eine vorherrschende Schutyyereinigung vom Staat? War Lockes Vorstellung falsch, es bedürfe eines Vertrages zur Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft? Er hatte ja auch damit unrecht (Abschnitte 46, 47, 50), daß zur „Erfindung des Geldes" eine „Ubereinkunft" notwendig sei. In einem Gütertauschsystem ist es sehr unbequem und aufwendig, jemanden zu suchen, der hat, was man braucht, und braucht, was man hat, selbst auf einem Marktplatz, der übrigens nicht dadurch zu einem solchen zu werden Locke nahm an, die überwiegende Mehrheit, aber nicht alle im Naturzustand Lebenden würden das Naturrecht erkennen. Siehe Ashcroft, insbes. Teil 1.

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braucht, daß jeder ausdrücklich erklärt, er wolle dort Handel treiben. Die Menschen werden ihre Güter gegen etwas tauschen, für das ihres Wissens ein allgemeinerer Bedarf besteht als für das, was sie haben. Denn jenes werden sie eher gegen das eintauschen können, was sie haben möchten. Aus den gleichen Gründen werden andere eher bereit sein, diesen allgemeiner erwünschten Gegenstand in Tausch zu nehmen. Die Menschen werden sich also beim Tausch auf die marktgängigeren Güter konzentrieren und sie gegen ihre Güter eintauschen; je eher sie dazu bereit sind, desto eher kennen sie andere, die es auch sind, und das verstärkt sich gegenseitig. (Diese Entwicklung wird verstärkt und beschleunigt durch Mittelsmänner, die aus der Erleichterung des Austausche Gewinn zu schlagen versuchen und es ihrerseits oft am günstigsten finden, marktgängigere Güter zum Tausch anzubieten.) Aus naheliegenden Gründen werden die Güter, auf die sich die Einzelentscheidungen immer mehr konzentrieren, bestimmte Eigenschaften haben: einen unabhängigen Anfangswert (sonst könnten sie zunächst nicht als marktgängiger gelten), materielle Dauerhaftigkeit, Teilbarkeit, Transportierbarkeit usw. Es ist keine ausdrückliche Vereinbarung und kein Gesellschaftsvertrag zur Festlegung eines Tauschmittels nötig 2 . Derartige Erklärungen haben etwas Schönes an sich. Sie zeigen, wie eine Gesamtstruktur oder ein Gesamtsystem, von dem man glauben mochte, es könne nur durch die gezielten Bemühungen eines einzelnen oder einer Gruppe Zustandekommen, vielmehr durch einen Vorgang geschaffen und aufrechterhalten wurde, bei dem keineswegs die Gesamtstruktur oder das Gesamtsystem „vorschwebte". Nach Adam Smith sprechen wir von Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand. („Jeder einzelne ist nur auf seinen eigenen Nutzen aus, und dabei wird er, wie in so vielen anderen Fällen, von einer unsichtbaren Hand dazu geführt, einem Ziel zu dienen, das nicht in seiner Absicht liegt.") Das besonders Befriedigende an den Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand (das, so hoffe ich, auch der Analyse des Staates in diesem Buch eigen ist) erklärt sich teilweise aus ihrem Zusammenhang mit dem Begriff der grundlegenden Erklärung, der in Kapitel 1 skizziert wurde. Grundlegende Erklärungen eines Bereiches erklären ja diesen anhand von etwas anderem; sie benützen keine Begriffe aus diesem Bereich. Nur mittels solcher Erklärungen kann man alles an dem Bereich erklären und damit verstehen; je weniger unsere Erklärungen auf Begriffe zurückgreifen, die zu dem gehören, was erklärt werden soll, desto mehr verstehen wir (unter sonst gleichen Umständen). Betrachten wir komplizierte Strukturen, von denen man glauben mochte, daß sie nur durch intelligente Planung zustande kommen könnten, nur durch die Absicht, sie zu verwirklichen. Solche Strukturen kann man geradewegs mit Hilfe von Wünschen, Bedürfnissen, Vorstellungen usw. Siehe Mises (1953), S. 3 0 - 3 4 , dem die Geschichte entnommen ist. (Orig.: Theorie des Geldes und der Umlaufmittel, München 1912. 2. Aufl. 1924.)

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von Menschen zu erklären versuchen, die sich auf die Verwirklichung der Struktur richten. Doch in solchen Erklärungen gibt es Beschreibungen, zumindest in Anführungszeichen, der Struktur als Gegenstand von Vorstellungen und Wünschen. Die Erklärung selbst besagt, daß einige Menschen etwas hervorbringen möchten, das die oder einige der Eigenschaften der Struktur zeigt; daß einige Menschen glauben, der einzige (oder der beste, oder der ...) Weg zur Herstellung der Struktureigenschaften sei..., usw. Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand machen möglichst wenig Gebrauch von Begriffen, die zu dem gehören, was erklärt werden soll; im Unterschied zu den geradlinigen Erklärungen erklären sie die komplizierte Struktur nicht dadurch, daß sie die ausgewachsenen Strukturbegriffe als Gegenstände der Wünsche und Vorstellungen der Menschen einführen. Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand führen also zu einem besseren Verständnis als solche, die das System als Gegenstand der Absichten von Menschen erklären. Daher verwundert es nicht, daß sie befriedigender sind. Eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand erklärt etwas, was wie das Ergebnis eines absichtsvollen Planes eines Menschen aussieht, auf eine Weise, die nichts mit irgendwelchen Absichten zu tun hat. Die entgegengesetzte Art der Erklärung wollen wir „Erklärung mittels der verborgenen Hand" nennen. Eine solche erklärt etwas, was wie eine Menge isolierter Tatsachen aussieht, die (ganz gewiß) nicht das Ergebnis eines Planes ist, als das Ergebnis eines absichtsvollen Planes oder absichtsvoller Pläne eines einzelnen oder einer Gruppe. Manche finden auch solche Erklärungen befriedigend, wie die Beliebtheit von Verschwörungstheorien zeigt3. Ist die vorherrschende Schutzvereinigung ein Staat? Haben wir eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand für den Staat geliefert? Es gibt mindestens zwei Gesichtspunkte, unter denen man meinen könnte, daß das System privater Schutzvereinigungen nicht einem Minimalstaat entspreche: (1) es scheint einigen Menschen zu gestatten, ihre Rechte selbst durchzusetzen; (2) es scheint nicht alle Menschen in seinem Bereich zu schützen. Autoren, die sich an Max Weber orientieren4, sehen das GewaltDie Anfange einer Behandlung von Problemen, die für eine Analyse von Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand von Bedeutung sind, finden sich in den Aufsätzen von E A. Hayek, „Notes on the Evolution of Systems o f Rules of Conduct" und „The Results of Human Action but not of Human Design", in (1967), sowie in Hayek (I960), Kap. 2 u. 4. Siehe auch die Erörterung von Entwurfsverfahren und Filterverfahren in Kap. 10 des vorliegenden Buches [Anarchie — Staat — Utopia, Hrsg.], Um zu erkennen, wie sehr wir noch in den Anfängen stecken, halte man sich vor Augen, daß nichts von dem dort Gesagten erklärt, warum nicht jede wissenschaftliche Erklärung einer funktionalen Beziehung (die sich nicht auf Absichten stützt) eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand ist. Siehe Weber (1947), S. 1 5 6 sowie (1954), Kap. 13. Orig.: Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 1, Kap. 1, Abschn. 17, Abs. 3, sowie Kap. 9, Abschn. 1 - 2 .

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monopol in einem geographischen Gebiet, das mit der privaten Durchsetzung von Rechten unverträglich ist, als entscheidend für die Existenz eines Staates an. Wie Marshall Cohen in einer unveröffentlichten Arbeit zeigt, kann ein Staat bestehen, ohne tatsächlich das Monopol auf die Anwendung von Gewalt zu besitzen, die er nicht anderen ausdrücklich übertragen hat; innerhalb der Grenzen eines Staates kann es Gruppen geben wie die Mafia, den Ku Klux Klan, weiße Bürgerräte, streikende Gewerkschaften, die ebenfalls Gewalt anwenden. Die Beanspruchung eines solchen Monopols genügt nicht (wenn ich es beanspruche, würde ich nicht der Staat werden), und es ist auch keine notwendige Bedingung, daß es keine konkurrierenden derartigen Ansprüche gibt. Es braucht auch nicht jeder die Berechtigung des Anspruchs des Staates auf ein solches Monopol anzuerkennen — vielleicht weil er als Pazifist glaubt, niemand habe das Recht auf Gewalt, oder weil er als Revolutionär einem bestimmten Staat dieses Recht abspricht, oder weil er sich für berechtigt hält, einzugreifen und zu helfen, gleichgültig, was der Staat dazu sagt. Die Aufstellung hinreichender Bedingungen für die Existenz des Staates erweist sich also als eine schwierige und komplizierte Aufgabe 5 . Für unsere jetzigen Zwecke brauchen wir uns nur auf eine notwendige Bedingung zu konzentrieren, die das System der privaten Schutzvereinigungen (oder irgendeine seiner Teilorganisationen) offensichtlich nicht zu erfüllen scheint. Ein Staat beansprucht das Monopol für die Entscheidung, wer wann Gewalt anwenden darf; er behält sich das alleinige Recht vor, berechtigte und zulässige Gewaltanwendung innerhalb seiner Grenzen anderen zu übertragen; darüber hinaus beansprucht er das Recht, jeden zu bestrafen, der das von ihm beanspruchte Monopol verletzt. Das Monopol kann auf zwei Arten verletzt werden: (1) jemand kann Gewalt anwenden, ohne vom Staat dazu ermöchtigt zu sein; (2) eine Gruppe oder eine Person kann sich, ohne selbst Gewalt anzuwenden, als Gegenautorität gebärden (und vielleicht sogar beanspruchen, die einzige legitime Autorität zu sein), die über die Angemessenheit und Berechtigung von Gewaltanwendung entscheidet. Es ist nicht klar, ob ein Staat das Recht beanspruchen muß, die zweite Art der Verletzung zu bestrafen, und es ist zweifelhaft, ob irgendein Staat in der Wirklichkeit darauf verzichten würde, eine nennenswerte Gruppe solcher Leute innerhalb seiner Grenzen zu bestrafen. Ich übergehe die Frage, um was für eine Art von „Dürfen", „Berechtigung" und „Zulässigkeit" es sich handelt. Über moralische Zulässigkeit kann man nicht einfach entscheiden, und der Staat braucht nicht so übertrieben von sich selbst überzeugt zu sein, als daß er das alleinige Recht zur Entscheidung moralischer Fragen beanspruchte. Und wenn man von rechtlicher Zulässigkeit sprechen wollte, müßte man um sich Vgl. die Behandlung des entsprechenden Problems für die Existenz eines Rechtssystems bei Hart (1961), S. 1 1 3 - 1 2 0 .

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nicht im Kreise zu drehen, eine Analyse des Rechtssystems liefern, die nicht auf den Begriff des Staates zurückgreift. Für unsere Zwecke können wir sagen, eine notwendige Bedingung für das Bestehen eines Staates sei, daß er (eine Person oder Organisation) ankündigt, er werde nach Kräften (unter Berücksichtigung der Kosten, der Durchführbarkeit, der wichtigeren Dinge, die er statt dessen tun könnte, usw.) jeden bestrafen, bei dem er feststellt, daß er ohne seine ausdrückliche Genehmigung Gewalt angewandt habe. (Die Genehmigung kann eine besondere sein oder im Rahmen einer allgemeinen Regelung oder Ermächtigung erfolgen.) Auch das genügt noch nicht ganz: der Staat kann sich das Recht vorbehalten, jemandem nachträglich zu vergeben; um zu strafen, muß er vielleicht nicht nur die „unerlaubte" Anwendung von Gewalt festgestellt haben, sondern in einem festgelegten Beweisverfahren zeigen, daß sie stattgefunden hat, usw. Doch wir können jetzt weiterkommen. Die Schutzorganisationen scheinen so etwas nicht anzukündigen, weder einzeln noch zusammen. Und da%u scheinen sie moralisch auch gar nicht berechtigt φ sein. Wenn also das System der privaten Schutzvereinigungen nichts moralisch Unberechtigtes tut, so fehlt ihm offenbar jeder monopolistische Zug, und daher bildet oder enthält es offenbar keinen Staat. Um die Frage des Monopols zu prüfen, müssen wir die Lage einer Gruppe (oder Einzelperson) prüfen, die in einem System privater Schutzorganisationen leben, aber sich keiner von ihnen anschließen will; die selbst beurteilen will, ob ihre Rechte verletzt worden sind, und (bejahendenfalls) sie selber durch Bestrafung und/oder Eintreibung von Entschädigung durchsetzen will. Der zweite Grund dafür, das beschriebene System nicht für einen Staat zu halten, ist der, daß es (abgesehen von Nebenwirkungen) nur diejenigen schützt, die dafür bezahlen; außerdem können verschiedene Grade des Schutzes gekauft werden. Von externen Nutzeffekten wiederum abgesehen, bezahlt niemand etwas für den Schutz anderer, es sei denn, er wolle es so; niemand braucht für andere Schutz zu kaufen oder dazu beizusteuern. Der Schutz und die Durchsetzung der Rechte der Menschen -wird als ein wirtschaftliches Gut behandelt, das auf dem Markt angeboten wird, gleich andern wichtigen Gütern wie Nahrung und Kleidung. Nach der üblichen Vorstellung vom Staat hingegen erhält jedermann, der innerhalb seiner geographischen Grenzen wohnt (oder manchmal sogar, wenn er sich nach draußen begibt), seinen Schutz (oder hat zumindest einen Anspruch darauf). Wenn nicht von privater Seite ausreichende Mittel für die Kosten dieses Schutzes zur Verfügung gestellt werden (für Detektive, Polizisten, Gerichte und Gefängnisse), oder wenn nicht der Staat irgendeine Dienstleistung anbietet, für die er so viel verlangen kann, daß jene Kosten gedeckt werden, 6 so möchte man anIch habe den Vorschlag gehört, der Staat könne sich aus einer Lotterie finanzieren. Doch da er kein Recht hätte, privaten Unternehmern das Entsprechende zu verbieten, warum sollte man dann erwarten, er werde in diesem konkurrenzbestimmten Geschäftszweig mit mehr Erfolg Kunden gewinnen als in irgendeinem anderen?

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nehmen, daß ein Staat, der so ausgedehnten Schutz bietet, eine Umverteilung vornimmt. Es wäre ein Staat, in dem einige Personen mehr bezahlen, damit andere geschützt werden können. In der Tat scheint der ausgesprochenste Minimalstaat, der in der maßgebenden politischen Theorie ernsthaft diskutiert worden ist, der Nachtwächterstaat des klassischen Liberalismus, in diesem Sinne eine Unverteilung vorzunehmen. Doch wie kann eine Schutzorganisation — ein Geschäftsbetrieb — einige belasten, um anderen sein Erzeugnis zur Verfügung zu stellen? 7 (Wir sehen etwa von der Möglichkeit ab, daß einige zum Teil für andere mitbezahlen, weil es für die Organisation zu kostspielig wäre, ihre Einteilung der Kunden und ihrer Beiträge so zu verfeinern, daß sie genau den Kosten der ihnen zugutekommenden Dienstleistungen entsprechen.) Es sieht also nur so aus, daß die vorherrschende Schutzorganisation in einem Gebiet nicht nur das notwendige Gewaltmonopol nicht besitzt, sondern auch nicht allen Bewohnern ihres Gebietes Schutz angedeihen läßt; daher scheint sie kein Staat zu sein. Doch das ist eine Täuschung.

Staat und moralische Einschränkungen Der Minimalstaat und der Ultraminimalstaat Der Nachtwächterstaat des klassischen Liberalismus, der sich auf den Schutz aller Bürger gegen Gewalt, Diebstahl und Betrug, auf die Durchsetzung von Verträgen usw. beschränkt, scheint einen Umverteilungseffekt zu haben 8 . Nun kann man sich mindestens eine Gesellschaftsordnung denken, die ¡ f i schen dem System der privaten Schutzvereinigungen und dem Nachtwächterstaat liegt. Da der Nachtwächterstaat oft als Minimalstaat bezeichnet wird, nennen wir diese andere Gesellschaftsordnung den Ultraminimalstaat. Dieser hat das Monopol auf alle Gewaltanwendung außer bei Notwehr und schließt damit Vergeltung und Eintreibung von Entschädigungen durch Privatpersonen (oder -Organisationen) aus; doch er bietet Schutz- und Durchsetzungsleistungen nur denjenigen, die sie von ihm kaufen. Wer bei dem Monopol keinen Schutzvertrag kauft, erhält keinen Schutz. Der Minimalstaat (Nachtwächterstaat) entspricht dem Ultraminimalstaat in Verbindung mit einem aus dem Steueraufkommen finanzierten Gutscheinsystem (mit eindeutigem Umverteilungseffekt) 9 . Nach diesem System erhalten alle oder einige (z. B. die BeZu der Behauptung, dies täten die Ärzte, siehe Kessell. Hier und im nächsten Abschnitt [letzteren haben wir nicht in diesen Band aufgenommen, Hrsg.] greife ich zum Teil auf meine Behandlung dieser Probleme in Anm. 4 von Nozick (1971) zurück. M. Friedman (1962), Kap. 6. Friedmans Schulgutscheine freilich ermöglichen eine Wahl zwischen verschiedenen Lieferanten des Gutes und unterscheiden sich insofern von den hier eingeführten Schutzgutscheinen.

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dürftigen) aus Steuermitteln aufgebrachte Gutscheine, die nur für den Kauf von Schutzverträgen beim Ultraminimalstaat verwendet werden können. Da der Nachtwächterstaat in dem Maße eine Umverteilung vorzunehmen scheint, wie er einige Menschen zwingt, für den Schutz anderer zu bezahlen, müssen seine Verfechter erklären, warum diese Umverteilungsfunktion des Staates etwas Besonderes ist. Wenn eine gewisse Umverteilung berechtigt ist, um alle zu schützen, warum ist dann nicht auch für andere wünschenswerte Zwecke eine Umverteilung berechtigt? Aus welchem Grunde sollen Schutzleistungen der einzige Gegenstand berechtigter Umverteilung sein? Wenn ein Grund gefunden wird, so könnte er zeigen, daß diese Schutzgewährung mit keiner Umverteilung verbunden ist. Genauer, der Begriff der Umverteilung hat mit bestimmten Gründen für eine Regelung zu tun, nicht mit dieser selbst. Man könnte in verkürzter Ausdrucksweise eine Regelung „Umverteilung" nennen, wenn ihre wesentlichen (oder einzigen möglichen) Begründungen selbst Umverteilungscharakter haben. (Ähnlich für „paternaüstiwche" Funktionen.) Würde man durchschlagende andere Gründe finden, so würde man die Bezeichnung fallen lassen. Ob man sagt, eine Institution, die einigen Geld nimmt und anderen gibt, nehme eine Umverteilung vor, hinge von den Gründen ab, aus denen sie es uns zu tun scheint. Die Rückgabe gestohlenen Geldes oder die Entschädigung für eine Verletzung von Rechten sind keine Gründe mit Umverteilungscharakter. Ich habe bisher davon gesprochen, der Nachtwächterstaat scheine einen Umverteilungseffekt zu haben, um die Möglichkeit offen zu lassen, daß andersartige Gründe dafür gefunden werden, daß einige für den Schutz anderer aufkommen. (Einige solcher Gründe untersuche ich in den Kapiteln 4 und 5.*) Es könnte so aussehen, als nehme der Verfechter des Ultraminimalstaates einen widerspruchsvollen Standpunkt ein, obwohl er sich nicht der Frage stellen muß, warum der Schutz einziger Gegenstand der Umverteilung sein sollte. Er ist sehr auf die Vermeidung von Rechtsverletzungen bedacht und macht dies zur einzigen berechtigten Funktion des Staates; und er behauptet, alle weiteren Funktionen seien unberechtigt, weil sie ihrerseits mit der Verletzung von Rechten verbunden seien. Wenn er nun dem Schutz und der Nichtverletzung von Rechten einen so entscheidenden Platz einräumt, wie kann er dann für den ultraminimalen Staat sein, der doch anscheinend die Rechte einiger Menschen nicht oder nur schlecht schützt? Wie kann er dies im Namen der NichtVerletzung von Rechten vertreten? Moralische Nebenbedingungen und moralische Ziele Diese Frage setzt voraus, daß etwas moralisch Bedeutsames nur ein moralisches Ziel sein kann, ein Endzustand, der als Ergebnis gewisser Handlungen

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angestrebt wird. Es könnte wohl als eine notwendige Wahrheit erscheinen, daß „recht", „sollte" usw. an Hand dessen zu erklären seien, was das meiste Gute hervorbringt oder hervorzubringen beabsichtigt, wobei alle Ziele unter das Gute subsumiert werden 10 . So meint man oft, der Fehler des Utilitarismus (der ja diese Form hat) sei seine zu enge Auffassung vom Guten. Er berücksichtige, so heißt es, nicht angemessen die Rechte und ihre Beachtung, sondern räume ihnen lediglich eine abgeleitete Stellung ein. Viele der Gegenbeispiele gegen den Utilitarismus fallen darunter, etwa die Bestrafung eines Unschuldigen, um eine Gegend von einem rachsüchtigen Wüterich zu befreien. Doch in einer Theorie kann die NichtVerletzung von Rechten an vorderster Stelle stehen, aber auf falsche Weise und am falschen Ort. Denn angenommen, es sei eine Bedingung bezüglich der Minimierung der (gewichteten) Gesamtsumme der Verletzungen von Rechten in den anzustrebenden Endzustand eingebaut. Dann läge so etwas wie ein „Utilitarismus der Rechte" vor; Verletzungen von Rechten (die möglichst gering zu halten sind) träten einfach an die Stelle der Summe des Glücks als utilitaristisch maßgebender Endzustand. (Man beachte, daß die NichtVerletzung der Rechte nicht unser einziges höchstes Gut ist oder auch nur lexikographisch an erster Stelle steht und Kompromissen entzogen ist, wenn es eine wünschenswerte Gesellschaft gibt, in der wir leben möchten, obwohl in ihr einige unserer Rechte gelegentlich verletzt werden, statt daß wir lieber auf eine einsame Insel gingen, auf der man allein überleben kann.) Das würde immer noch die Verletzung der Rechte einzelner verlangen, wenn dadurch die (gewichtete) Gesamtsumme der Verletzungen von Rechten in der Gesellschaft kleiner wird. Beispielsweise könnte die Verletzung der Rechte gewisser Menschen andere von beabsichtigten schweren Rechtsverletzungen abhalten oder ihnen das Motiv dafür nehmen oder sie ablenken usw. Eine wütende Menge, die brennend und mordend durch einen Stadtteil zieht, wird die Rechte der Einwohner verletzen. So könnte man jemanden bestrafen wollen, von dem man weiß, daß er an dem Verbrechen unschuldig ist, das die Menge aufgebracht hat, weil das zur Vermeidung noch größerer Rechtsverletzungen beitragen und damit zu einer möglichst niedrigen gewichteten Summe der Rechtsverletzungen in der Gesellschaft beitragen würde. Im Gegensatz zur Einbeziehung der Rechte in den anzustrebenden Endzustand könnte man sie auch den Handlungen als Nebenbedingungen auferlegen, die nicht verletzt werden dürfen. Die Rechte der anderen bestimmen die Einschränkungen für meine Handlungen. (Eine %ielorientierte Auffassung mit hinzugefügten Einschränkungen wäre: unter den möglichen Handlungen, die die Nebenbedingungen Ν nicht verletzen, wähle man diejenige, die die Zielgröße Ζ maximiert. Hier schränken die Rechte der anderen das zielge10

Eine deutliche Stellungnahme gegen die Auffassung findet sich bei Rawls, S. 30, 5 6 5 - 5 6 6 , dt. S. 48, 6 1 3 - 6 1 4 .

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richtete Verhalten ein. Ich möchte nicht behaupten, zur richtigen moralischen Auffassung gehörten vorgeschriebene Ziele, selbst wenn sie Nebenbedingungen unterworfen sind.) Davon unterscheidet sich die Auffassung, die die Nebenbedingungen Ν in das Ziel Ζ einzubauen versucht. Nach der einen Auffassung darf man die Nebenbedingungen bei der Verfolgung der Ziele nicht verletzen; nach der anderen, die auf die Minimierung der Verletzung von Rechten abzielt, ist eine Verletzung von Rechten (von Nebenbedingungen) erlaubt, um die gesamte Verletzung in der Gesellschaft zu verringern. Leider sind bisher viel zu wenig Modelle der Struktur moralischer Auffassungen angegeben worden; dabei gibt es sicher noch andere interessante Strukturen. Daher ist ein Argument für eine Nebenbedingungs-Struktur, das weitgehend in einer Argumentation gegen eine Endzustands-MaximierungsStruktur besteht, nicht schlüssig, denn das sind nicht die einzigen Möglichkeiten. (Im Abschnitt „Die Unterbestimmtheit der moralischen Theorie" in diesem Kapitel* beschreiben wir eine Auffassung, die keiner der beiden Strukturen entspricht.) Eine Menge von Strukturen muß genau formuliert und untersucht werden; vielleicht erscheint dann irgendeine neue Struktur als die beste. Ob eine Nebenbedingungs-Auffassung auf die Form einer Zielauffassung ohne Nebenbedingungen gebracht werden kann, ist eine heikle Frage. Man könnte sich etwa vorstellen, jeder könne in seiner Zielvorstellung zwischen Rechtsverletzungen durch ihn selbst und durch andere unterscheiden. Erhalten erstere unendliches (negatives) Gewicht in der Zielvorstellung, so kann keine noch so umfangreiche Verhinderung von Rechtsverletzungen durch andere eine Rechtsverletzung durch den Betreffenden selbst aufwiegen. Außer unendlichem Gewicht für Teilziele kommen auch Indexausdrücke vor wie „ich tue das und das". Eine sorgfältig formulierte Abgrenzung der „Nebenbedingungs-Auffassungen" würde diese künstliche Umformung von Nebenbedingungen in Zielauffassungen nicht als Kriterium dafür gelten lassen, daß eine Zielauffassung vorliege. Mathematische Methoden zur Umformung eines Minimierungsproblems mmit Nebenbedingungen in eine Folge uneingeschränkter Minimierungen einer Hilfsfunktion bringen Fiacco/ McCormick. Das Buch ist wegen seiner Methoden wie auch ihrer Grenzen für unsere Frage von Interesse; man beachte die Einbeziehung der Nebenbedingungen in die Straffunktionen, die verschiedenen Gewichte der Straffunktionen (7.1) usw. Um die Frage, ob die Nebenbedingungen absolut sind oder zur Vermeidung schauerlicher moralischer Katastrophen verletzt werden dürfen, und wenn ja, wie die entsprechende Struktur aussehen könnte, um diese Frage hoffe ich weitgehend herumzukommen. Die Behauptung, der Verfechter des Ultraminimalstaates verwickle sich in einen Widerspruch, geht, wie jetzt erkennbar wird, davon aus, daß er ein (Dieser Abschnitt ist nicht in diesem Auszug enthalten, Hrsg.]

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„Utilitarist der Rechte" sei. Sie unterstellt ihm etwa das Ziel, die gewichtete Summe der Rechtsverletzungen in der Gesellschaft möglichst klein zu machen, und dies auch mit Mitteln, die selbst Rechte gewisser Personen verletzen. Statt dessen (oder zusätzlich dazu) könnte er die NichtVerletzung der Rechte zu einer Nebenbedingung des Handelns machen. Die Idee des Ultraminimalstaates ist widerspruchsfrei, wenn sie mit der Vorstellung verbunden ist, wenn jemand gezwungen werde, zum Wohle anderer beizutragen, so sei das eine Verletzung seiner Rechte, doch wenn jemandem ein anderer dringend benötigte Dinge nicht zur Verfugung stelle, auch solche, die zum Schutz der persönlichen Rechte notwendig sind, so sei dies an sich keine Verletzung von Rechten, obwohl es verhindert, daß anderen die Verletzung erschwert wird. (Diese Auffassung ist widerspruchsfrei, falls sie nicht den Monopolcharakter des Ultraminimalstaates selbst als eine Verletzung von Rechten auffaßt.) Daß dies eine widerspruchsfreie Auffassung ist, zeigt natürlich noch nicht, daß sie annehmbar sei. Warum Nebenbedingungen? Ist es nicht unvernünftig, eine Nebenbedingung Ν einzuführen, statt auf die Minimierung der Verletzungen von Ν hinzuarbeiten? (Dann wäre Ν Zielgröße statt Nebenbedingung.) Wenn die NichtVerletzung von Ν so wichtig ist, warum sollte nicht sie dann das Ziel sein? Wie kann die Bemühung um NichtVerletzung von Ν zu einer Weigerung führen, Ν zu verletzen, wenn dadurch umfangreichere Verletzungen von Ν verhindert werden? Mit welchem Grund macht man die NichtVerletzung von Rechten zu einer Nebenbedingung für das Handeln, statt sie lediglich zu einem Ziel des Handelns zu machen? Nebenbedingungen für das Handeln sind Ausdruck des Kantischen Grundsatzes, daß die Menschen Zwecke und nicht bloß Mittel sind; sie dürfen nicht ohne ihr Einverständnis für andere Ziele geopfert oder gebraucht werden. Der einzelne ist unverletzlich. Diese Rede von Zwecken und Mitteln muß etwas verdeutlicht werden. Nehmen wir ein besonders deutliches Beispiel für ein Mittel: ein Werkzeug. Es gibt keine Nebenbedingungen für den Gebrauch eines Werkzeugs außer den moralischen bezüglich seines Gebrauchs gegenüber Menschen. Es gibt Regeln dafür, wie man es gebrauchsfähig erhält („nicht im Regen stehen lassen"), und es gibt mehr und weniger wirkungsvolle Verwendungsweisen des Werkzeugs. Doch wir können alles mit ihm machen, was unseren Zielen dienlich ist. Stellen wir uns nun vor, für den Gebrauch eines bestimmten Werkzeugs gebe es eine übertretbare Nebenbedingung N. Beispielsweise habe man es unter der Bedingung entliehen, daß Ν nicht verletzt werde, es sei denn, der Nutzen daraus überschreite eine bestimmte Grenze, oder es sei zur Erreichung eines bestimmten Zieles notwendig. Dann ist der Gegenstand nicht vollständig mein Werkzeug, das ich ganz nach Gutdünken verwenden könnte. Trotzdem ist er ein Werkzeug,

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selbst angesichts der übertretbaren Nebenbedingung. Kommen Nebenbedingungen hinzu, die nicht übertreten werden dürfen, so darf der Gegenstand in dieser Hinsicht nicht als Werkzeug verwendet werden. In dieser Hinsicht ist er überhaupt nicht Werkzeug. Kann man genug Nebenbedingungen einfuhren, so daß ein Gegenstand überhaupt nicht, in keiner Hinsicht als Werkzeug gebraucht werden kann? Kann das Verhalten gegenüber einem Menschen so eingeschränkt werden, daß er für keinen Zweck gebraucht wird, den er nicht selbst gewählt hat? Das ist eine unerfüllbare Bedingung, wenn sie verlangt, daß jeder, der uns ein Gut liefert, ausdrücklich jeder Verwendung desselben zustimmen müsse. Auch die Forderung, er dürfe gegen keine geplante Verwendung etwas einzuwenden haben, würde zweiseitigen Austausch stark behindern, nicht zu reden von Abfolgen mehrerer Tauschakte. Es genügt, wenn die andere Seite genug Gewinn von dem Tausch erwarten kann, so daß sie ihn auszuführen bereit ist, obwohl sie gegen die eine oder andere Verwendung des Tauschobjekts etwas einzuwenden hat. Unter diesen Umständen wird die andere Seite nicht bloß als Mittel in dieser Hinsicht gebraucht. Doch wenn jemand nicht zu dem Tausch bereit wäre, wenn er wüßte, welche Verwendung des Tauschobjekts beabsichtigt ist, so wird er als Mittel verwendet, auch wenn er genug geboten bekommt, um (in seiner Unwissenheit) auf den Tausch einzugehen. („Die ganze Zeit hast du mich bloß benutzt", könnte jemand sagen, der sich nur deshalb auf den anderen eingelassen hat, weil er dessen Ziele und seine Rolle dabei nicht kannte.) Ist man moralisch verpflichtet, seine Absichten zu enthüllen, wenn man Grund zu der Annahme hat, der andere würde sich nicht auf die Sache einlassen, wenn sie ihm bekannt wären? Benutzt man den anderen, wenn man es nicht tut? Und wie ist es, wenn sich der andere überhaupt nicht benutzen lassen will? Wenn man sich daran freut, einen anziehenden Menschen vorübergehen zu sehen, benutzt man ihn dann bloß als Mittel?11 Wie ist es bei einem Objekt sexueller Phantasien? Diese und ähnliche Fragen sind für die Moralphilosophie sehr interessant, nicht aber, so meine ich, für die Philosophie der Politik. Diese beschäftigt sich nur mit bestimmten Hinsichten, in denen man andere nicht als Mittel gebrauchen darf; vor allem darf man sie nicht körperlich angreifen. Eine Nebenbedingung für das Handeln gegenüber anderen besagt, daß andere nicht auf die und die Weise gebraucht werden dürfen. Nebenbedingungen drücken in der jeweiligen Hinsicht die Unverletzlichkeit anderer aus. Diese Art der Unverletzlichkeit wird folgendermaßen formuliert: „Gebrauche die Menschen nicht auf die und die Art als Mittel." Eine Endzu11

Was führt wozu? Diese Frage ist oft am Platze, wie auch hier: - Was ist der Unterschied zwischen einem Zen-Lehrer und einem analytischen Philosophen? - Der eine spricht in Rätseln, und der andere verrätselt die Sprache.

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stands-Auffassung dagegen würde (wenn überhaupt) die Auffassung, die Menschen seien Zwecke und nicht bloß Mittel, anders ausdrücken: „Gebrauche die Menschen möglichst wenig auf die und die Art als Mittel." Mit der Befolgung dieser Anweisung kann verbunden sein, daß jemand auf eine solche Art als Mittel gebraucht wird. Hätte Kant diese Auffassung vertreten, so hätte bei ihm die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs so gelautet: „Handle so, daß die Menschen möglichst wenig bloß als Mittel gebraucht werden", und nicht so: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."12 Nebenbedingungen drücken die Unverletzlichkeit anderer Menschen aus. Doch warum soll man nicht einigen Menschen um des größeren gesellschaftlichen Wohles willen etwas antun? Als einzelne sind wir ja alle manchmal bereit, Schmerzen oder Opfer um eines größeren Vorteils willen oder zur Vermeidung größeren Schadens auf uns zu nehmen. Wir gehen zum Zahnarzt, um späteres größeres Übel zu verhüten; wir leisten unangenehme Arbeit um ihres Ergebnisses willen; manche essen Diät, um etwas für ihre Gesundheit oder ihr Aussehen zu tun; manche sparen für ihr Alter. In jedem dieser Fälle nimmt man etwas auf sich um seines größeren Gesamtwohles willen. Warum soll man sich nun nicht auf den entsprechenden Standpunkt stellen, einige Menschen hätten Nachteile auf sich zu nehmen, die anderen größere Vorteile einbringen, also das gesellschaftliche Gesamtwohl heben? Doch es gibt kein Wesen Gesellschaft, das um seines eigenen Wohles willen ein Opfer auf sich nähme. Es gibt nur die verschiedenen Einzelmenschen mit je ihrem eigenen Leben. Benützt man einen von ihnen um des Wohles anderer Willen, so wird er ausgenützt, und den anderen wird gedient. Sonst nichts. Ihm wird um anderer willen etwas angetan. Das wird (absichtlich?) verdeckt, wenn man von einem gesellschaftlichen Gesamtwohl spricht. Wenn ein Mensch auf diese Weise benützt wird, so fehlt es an Rücksicht darauf, daß er ein selbständiger Mensch ist 13 , daß er nur einmal lebt. Er gewinnt durch sein Opfer kein größeres Wohl, und niemand ist berechtigt, es ihm aufzuzwingen — am wenigsten ein Staat oder eine Regierung, die (im Gegensatz zu anderen Menschen) von ihm Loyalität verlangt und daher zwischen den Bürgern peinlich neutral sein muß. Freiheitliche Nebenbedingungen Die moralischen Nebenbedingungen für unser Handeln spiegeln, so behaupte ich, die Selbständigkeit unserer individuellen Existenz wider, die Tatsache, daß es zwischen uns keinen moralischen Ausgleich geben kann: ein 12 13

I. Kant, Grundlegung apr Metaphysik der Sitten, Riga, 1785, 2. Aufl. 1786, S. 66 f. Siehe Rawls, Abschnitte 5, 6, 30.

Natürliche Freiheit, moralische Einschränkungen und der Staat

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Leben wird nicht durch andere aufgewogen, so daß sich ein größeres gesellschaftliches Gesamtwohl ergäbe. Es ist nicht gerechtfertigt, einige um anderer willen zu opfern. Dieser Grundgedanke, daß es verschiedene Einzelmenschen mit einem je selbständigen Leben gibt, so daß keiner für andere geopfert werden darf, liegt den moralischen Nebenbedingungen zugrunde, führt aber auch, wie ich glaube, zu der freiheitlichen Nebenbedingung, die körperliche Übergriffe gegen andere verbietet. Je überzeugender eine Endzustands-Maximierungs-Auffassung, desto überzeugender muß der ihr entgegenzusetzende Grundgedanke moralischer Nebenbedingungen sein. Umso ernster muß also die Existenz selbständiger Einzelmenschen genommen werden, die einander nicht Mittel sind. Ein Grundgedanke, der moralische Nebenbedingungen gegen die große intuitive Uberzeugungskraft der Endzustands-Maximierungs-Auffassung stützen kann, dürfte zur Herleitung einer freiheitlichen Nebenbedingung gegen physische Aggression genügen. Wer diese spezielle Nebenbedingung ablehnt, hat drei Möglichkeiten: (1) er muß alle Nebenbedingungen ablehnen; (2) er muß dafür, warum es moralische Nebenbedingungen gibt und nicht einfach eine zielgerichtete Maximierungsstruktur, eine andere Erklärung angeben, aus der die freiheitliche Nebenbedingung nicht folgt; oder (3) er muß den Grundgedanken bezüglich der Selbständigkeit der Einzelmenschen in seiner starken Form anerkennen und dabei behaupten, physische Angriffe gegen andere Menschen seien mit ihm vereinbar. Wir haben also eine vielversprechende Skizze eines Schlusses von der moralischen Form auf den moralischen Inhalt vor uns: zur Form der Moralität gehört F (moralische Nebenbedingung); die beste Erklärung 14 dafür ist ρ (eine starke Formulierung der Selbständigkeit der Einzelmenschen); und aus ρ folgt ein bestimmter moralischer Inhalt, nämlich die freiheitliche Nebenbedingung. Der so gewonnene spezielle moralische Inhalt, der sich besonders auf die Tatsache stützt, daß es selbständige Einzelmenschen mit einem je eigenem Leben gibt, ist nicht die vollständige freiheitliche Nebenbedingung. Er verbietet die Opferung eines Menschen um eines anderen willen. Weitere Schritte wären nötig, um zu einem Verbot der paternalistischen Aggression zu kommen: der Anwendung oder der Drohung mit Gewalt zum Wohle des Betroffenen. Dazu muß man sich auf die Tatsache stützen, daß es selbständige Einzelmenschen gibt, deren jeder sein eigenes Leben führen soll. Ein Nichtangriffsgrundsatz wird oft für die Regelung der Beziehungen zwischen den Staaten für angebracht gehalten. Welchen Unterschied sollte es aber zwischen souveränen Menschen und souveränen Staaten geben, der zwischen ersteren die Aggression zulässig machte? Warum dürften Menschen gemeinschaftlich, mittels ihrer Regierung, jemandem etwas antun, was kein 14

Siehe Harman (1965), sowie (1973), Kap. 8, 10.

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Staat einem anderen antun darf? Am ehesten gibt es noch Gründe gegen die Aggression zwischen Einzelmenschen; im Unterschied zu Staaten haben sie nicht als Bestandteile Einzelmenschen, zu deren Schutz oder Verteidigung andere mit Recht eingreifen können. Ich möchte mich hier nicht mit den Einzelheiten eines Grundsatzes befassen, der physische Übergriffe verbietet; ich möchte nur bemerken, daß er nicht die Anwendung von Gewalt gegen einen anderen verbietet, der einen bedroht, selbst wenn er unschuldig ist und keine Vergeltung verdient. Eine ungewollte Bedrohung geht von jemandem aus, der unabsichtlich an einem Vorgang mitwirkt, aufgrund dessen er bei freiwilliger Mitwirkung ein Angreifer wäre. Wenn jemand einen Dritten packt und in einen tiefen Brunnen auf dich hinabwirft, so ist der Dritte unschuldig und eine Gefahr; hätte er sich freiwillig in dieser Flugbahn auf dich gestürzt, so wäre er ein Angreifer. Wenn nun der Fallende seinen Sturz auf dich überleben würde, darfst du dann trotzdem deine Strahlenkanone nehmen und den fallenden Körper zerstören, ehe er dich erreicht und zermalmt? Freiheitliche Verbote werden gewöhnlich so formuliert, daß sie Gewaltanwendung gegen Unschuldige ausschließen. Doch eine ungewollte Bedrohung scheint mir etwas anderes zu sein, worauf andere Grundsätze anzuwenden sind 15 . Eine vollständige Theorie auf diesem Gebiet muß also auch die anderen Nebenbedingungen angeben, die bei ungewollter Bedrohung gelten. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn Unbeteiligte einen Gefährder schütten: Unbeteiligte, die selbst keine Gefahr bilden, aber sich in einer solchen Lage befinden, daß sie duch das einzige Mittel zur Anwendung der Gefahr geschädigt werden, so daß man diese nicht treffen könnten, ohne auch sie zu treffen. (Manche Gewaltanwendung gegen Dritte, um einem Angreifer beizukommen, richten sich nicht gegen unbeteiligte Schützer; wenn etwa das unschuldige Kind eines Angreifers gefoltert wird, um ihm Einhalt zu gebieten, so hatte dieses ihn nicht geschützt) Darf man wissentlich unbeteiligte Schützer verletzen? Wenn man es im Zuge eines Angriffs auf einen Angreifer darf, darf sich dann der Unbeteiligte wehren (falls er sich nicht gegen den Angreifer wenden kann)? Haben wir dann zwei Menschen, die beide gegeneinander in Notwehr kämpfen? Oder: wenn man gegen jemanden, der einen ungewollt bedroht, Gewalt anwenden, gerät man dann in die gleiche Rolle ihm gegenüber, so daß er jetzt mit Recht weitere Gewalt gegen einen anwenden kann (angenommen, er könne dies, aber er könne nicht die Gefahr, die er ursprünglich bildete, abwenden)? Ich schleiche mich hier um diese unglaublich schwierigen Fragen herum und bemerke nur, daß eine Auffassung, die die Nichtaggression in den Mittelpunkt zu stellen behauptet, sie an irgendeiner Stelle einmal lösen muß. 15

Siehe Thomson, S. 5 2 - 5 3 . Seit der Niederschrift meiner Arbeit hat Hospers (1972/1973) ähnliche Probleme behandelt.

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Kant's Theory of Justice* Thomas W. Pogge

When he finished the Groundwork in 1785, Kant was convinced that he could produce the Metaplasie of Morals within a very short time.1 However, the latter work did not appear until 1797. This substantial delay alone might suggest that his final account of morals was quite different from what Kant himself had envisaged twelve years earlier. Concentrating mainly on its political part, I shall try to show that the position Kant developed in the 1790's — in Theory and Practice, Perpetual Peace, Rechtslehre, and Tugendlehre — is in fact quite different from, and also more successful than, the rudimentary account in the Groundwork. A reader familiar with those later works may well wonder whether they display a systematic theory at all. And indeed, the theory I shall attribute to Kant is nowhere clearly stated. Nonetheless, I think that my conjecture makes good sense of the political principles Kant affirms, and also coheres well with other Kantian themes and with much of what he has to say about the justice of political actions and institutions. *

1

Many thanks to Bruce Ackerman and Charles Larmore for helpful discussions of an earlier draft. Work on this essay was supported by a grant from the Columbia University Council for Research in the Humanities. - In references to Kant's works, I am using the following abbreviations: Ak. The Prussian Academy Edition of Kant's works. R· Reflexionen; in: Ak volume XIX. Reiss: Hans Reiss (ed.): Kant's Political Writings (Cambridge: Cambridge U. P. 1970). Enlightenment (1784): cited by Ak volume VIII and Reiss. Universal History (1784): cited by Ak volume VIII and Reiss. Groundwork (1785): cited by Ak volume IV and H.J. Paton's translation (New York: Harper and Row 1964). Theory and Practice (1793): cited by Ak volume VIII and Reiss. Religion (1793): cited by Ak volume VI and the Greene/Hudson translation (New York: Harper and Row 1960). Perpetual Peace (1975): cited by Ak volume VIII and Reiss. Rechtslehre (1797): Part I of the Metaphysic of Morals, in Ak volume VI. Tugendlehre (1797): Part II of the Metaphysic of Morals, in Ak volume VI. Contest (1798): cited by Ak volume VII and Reiss. - As the available translations of Kant's political philosophy are rather unreliable, I have frequently given my own translations, sometimes by correcting the best existing version. See for example Arnulf Zweig (ed.): Kant, Philosophical Correspondence (Chicago: University of Chicago Press 1967) 119, 132 (letters 243 and 347).

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Being a reconstruction of Kant's own position, the theory I shall sketch is not as progressive as many of his recent followers would like. But no purpose is served by torturing Kant's own work until it matches what we now view as the most reasonable Kantian theory of justice for our time.2 Doing so would block our understanding of what impelled Kant to hold the views we now find offensive. Despite this ambition to do justice to Kant's texts, my conjecture does not achieve a perfect fit, and two or three of its implications are at variance •with more conservative positions Kant explicitly endorsed. It is for this reason that my interpretation, though it heightens the systematic unity of his political philosophy, is at best one critical reconstruction rather than the definitive reading. But let's look at the theory I postulate, and at how it contrasts with Kant's account in the Groundwork.

I. Let me begin with a brief restatement of two elements that both Kant's earlier and later accounts have in common. First, the metaphysic of morals is to cover whatever can be said a priori, from a practical point of view, about subjectively free beings, i. e. agents who conceive of themselves as facing choices.3 In analogy to the theoretical realm, the a priori part of morality is rooted in our (transcendental) faculties. Kant holds however, in disanalogy to his position in the theoretical realm, that a priori moral laws derive from reason alone. Our having a sensibility makes only this difference: Moral laws are for us (not for God) imperatives in that they assert themselves against our natural inclinations. A second crucial element of both the earlier and the later account is that pure practical reason is conceived as having both a formal aspect, requiring unity in the form of consistency and universality, and a material aspect, requiring (roughly) that reason itself be promoted in the world. The require-

Section VII will say a little about how this latter theory might be developed out of Kant's own. The characterization of this discipline as a priori must be taken with a grain of salt: Kant's metaphysic of morals presupposes more than the moral law of reason together with the categories of the understanding (causality etc.), the forms of intuition (space and time), and analytic truths. One might say that Kant shows us what his a priori metaphysic of morals would prescribe on the hypothetical assumption (empirically true, but not knowable a priori) of certain very general circumstances of human life. Thus, most of Kant's particular principles and prescriptions cannot be derived a priori - unless they were expanded by the appropriate if-clauses, stipulating the existence of rational-sensuous beings, land, talents, sexuality, children, money, and so forth.

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Thomas W Pogge Theoretical/Speculative

Analytic Synthetic a priori a posteriori

Practical logic

metaphysic of nature

metaphysic of morals

science

moral anthropology

ments issuing from the formal aspect alone are presented as taking precedence over those that follow only when the material aspect is added.4 The Groundwork envisions the metaphysic of morals as embedding these elements in a rather straightforward way. At the most general level, reason's practical demand can be expressed as the moral law (for us: the categorical imperative) which furnishes a negative criterion for testing maxims (subjective principles of action): I may act only on maxims that I can at the same time will to be universal law (Groundwork 421/88). This condition admits of a (stronger) formal and a (weaker) material reading. The former generates perfect duties by rejecting maxims that, universalized, lead to a contradiction in conception — a contradiction between the maxim's conduct universalized and the maxim's end.5 Not all maxims passing this test are acceptable, however, as the material reading generates its own imperfect duties by rejecting maxims that, universalized, lead to a contradiction in the will, i. e. to a contradiction with an end that, as a rational being, one necessarily wills.6 Perfect duties are presented as stringent and precise, while imperfect duties are by contrast vague and open-ended. Perfect duties always take precedence; they

Here is a clear statement of this priority of form over matter, from the later period: "To ensure that practical philosophy is at one with itself, it is first necessary to resolve the question of whether, in problems of practical reason, we should begin from its material principle, i. e. its end (as an object of the will), or from its formal principle [...]. The latter principle must undoubtedly take precendence" {Perpetual Peace 376f./121 f.). To use Kant's own example: Promises would not be accepted in a world where people felt free to give promises in bad faith. The deceitful promisor, qua universalization, wills that such a world exist — that everyone be permitted deceitful promises, and hence that there not be a functioning institution of promising. Yet she must also will there to be a functioning institution of promising, as otherwise her promise could not attain its objective. A world in which people do not help one another in distress or don't develop their talents conflicts with the end that as a rational being one necessarily wills, namely the preservation and enhancement of rational nature as such. This end of reason appears in the transition to the second formula of the categorical imperative, prescribing that one treat rational beings, potential possessors of a good will and hence bearers of absolute value, never merely as a means, but always as an end as well. - T h e distinction between perfect and imperfect duties is most clearly stated at Groundwork 424/91.

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act as absolute constraints upon a rational will, regardless of how much of reason's end may be at stake.6" This brief sketch of the Groundwork account is obviously extremely rough, but it is still sufficient to bring out one main problem with that position — hotly debated ever since the early days of Kant scholarship — the so-called content problem: Is the categorical imperative empty? And, if not, how significant are the constraints it can generate? It is commonly assumed that one important function of moral principles is that of settling practical conflicts; and nothing in the Kantian procedure guarantees success in this matter. Many practical conflicts may be such that each protagonist can will (the realm of ends associated with) the universalization of his entire system of maxims. It would be interesting to enquire whether this objection admits of a rebuttal that draws upon only the argumentative resources provided in the Groundwork. Whatever the answer may be, I believe that Kant's later writings offer a modified account that self-consciously confronts this difficulty. What is striking about this later account is the small role played in it by the categorical imperative: It is reverently mentioned a few times, but not used in the argument for particular duties as, clearly, the Groundwork had anticipated that it would be.7 Instead, Kant starts out with a fundamental divide -within the metaphysic of morals — postulating two spheres of morality, each with its own highest principle. Duties of virtue are constraints on a person's actions that are necessary to secure that person's own inner freedom (Tugendlehre 382n); these constraints answer to reason's demand for autonomy or self-determination, as against determination by whatever natural inclinations may rise up. This demand follows closely Kant's practical solipsism in the Groundwork. Reason here merely demands motivational unity, separately within each individual: each person is to have a coherent, universalizable, and complete system of maxims. Duties of justice are constraints on a person's actions that are necessary to secure the external freedom of others·, these constraints are designed to rule My understanding of Kant's position in the Groundwork is developed in The Categorical Imperative in Otfried Höffe (ed.): Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar; Frankfurt/M.: Klostermann 1989. By emphasizing the reducing prominence of the categorical imperative, I do not mean to deny that it could be interpreted as providing a rationale both for the new division of the metaphysic of morals (which captures part of Kant's earlier distinction between perfect and imperfect duties) and for the highest principles in either sphere. But if so, then the categorical imperative must be interpreted as requiring me to take an interest not (only) in that hypothetical world in which everyone always acts on my chosen maxims, but in that actual world in which different persons' claims are liable to conflict; the internal consistency of each person's hypothetical world (realm of ends) does very little towards ensuring mutual consistency in the one real world we all must share. For a proposal in this direction, see Otfried Höffe: Der kategorische Imperativ als Grundbegriff einer normativen Rechts- und Staatsphilosophie in Nichts Sehr. Festschrift fir Robert Spaemann ^um 60. Geburtstag (1987).

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out (as the duties of the Groundwork arguably did not) the possibility of practical conflict among different persons. Since in our world such conflict arises in spatial and physical terms, we can say more suggestively that, on the new account, reason demands that persons' domains of external freedom be mutually consistent — the constraints must be such that at any given time each particular right to an object (including human bodies), and access to each particular space, (insofar as these are exclusionary) belongs to at most one person8. This new (purported) demand of reason ensures then in advance that adequate principles of (justice and, a fortiori, of) morals will achieve a consistent ordering of the competing external claims of different persons. The innovation also provides Kant with a criterion for the appropriate extent of morally mandated coercion: Force may (and should) be used for the sake of justice only. Persons should be coerced exactly insofar as is necessary to meet reason's demand for the compatibility of our domains of external freedom.9 The justice/virtue dichotomy is somewhat complicated by Kant's view that we have not only (direct) duties regarding our conduct, but also indirect duties to deliberate in certain ways. We ought to act not merely in accordance with our duties of justice and of virtue, but also from (a motive of) duty. This demand, however, given that it is not necessary for interpersonal consistency, is itself a demand not of justice but of virtue (Rechtslehre 231/§ C). Justice requires only outward compliance with duties of justice, and so is indifferent to the agent's motives and ends.10 In the following diagram, the sphere of justice is marked by italics — the remaining area represents the sphere of virtue or ethics. So duties of justice do not match the Groundworks perfect duties towards others: Lies and deceitful promises are paradigmatic violations of perfect duties towards others (as well as towards oneself), yet they do not violate dudes of justice (Rechtslehre 238&n). They are like non-beneficence in that they do not infringe the other's domain of external freedom, but merely her wish for truthfulness or help (only will/will, not will/wish conflicts are problematic - Rechtslehre 230). (To keep one's promises is, of course, a duty of justice: one must physically cede to the other the right that is hers by verbal transfer — see Rechtslehre 220). Kant sometimes seems to claim that duties of virtue can not be commanded or enforced. While this seems true of indirect-ethical duties, one may well doubt whether it is true in general. There is nothing imossible, it seems, about preventing the utterance of a lie, or in requiring citizens to show, annually say, that they had done something in the way of promoting their talents or helping the needy. - For more on the justice/virtue distinction see the introduction to the Tugendlehre, esp. Sections II, VI—Χ, XIV. Even this point does not undermine the project of providing a rationale for Kant's later theory of justice in terms of the categorical imperative. The appearance of the categorical imperative as a test of maxims might merely be an artefact of its being formulated to steer an agent's inner deliberations. For the first-person standpoint, constraints on maxims don't add anything over and above constraints on external action: Being resolved to act outwardly in accordance with duty rules out indifference towards one's motives, as it already entails that the mere recognition of such a duty shall provide a sufficient motive for compliance. The categorical imperative might then still furnish a criterion for external conduct·. An action

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duties of virtue

Duties of justice (juridical legislation)

(ethical legislation) indirect-ethical duty to fulfill all dudes from a motive of duty

in accordance with duty from duty

II. As early as 1784, Kant called for "the most precise determination and protection of the limits of [each person's] freedom so that it can coexist with the freedom of others"; but then he viewed this as necessary to fulfilling "the highest intention of nature" (Universal History 22/45). What arguments might Kant offer for presenting the same demand now as a requirement of reason? In some sense, after all, conflicts are necessarily resolved: If two external claims are inconsistent, at least one of them will not be satisfied. Force is as effective a mechanism for ensuring mutual consistency as law. So why should reason demand domains of external freedom precisely delimited in advance? Beyond his remark that reason "states this as a postulate not capable of further proof" {Rechtslehre 231), I don't think Kant answers this question. A Hobbesian appeal to self-interest is, of course, unavailable. Kant might argue here that force cannot resolve conflicts among rational beings, as such conflicts are not about what will happen, but about what ought to happen. He might also consider it a separate requirement of reason that there be domains of external freedom, defined by law. Reason would then issue two independent practical demands: for the unification of each agent's will, or a consistent system of maxims; and for the unification of all agents' conduct, or a consistent system of constraints on external action. Finally, Kant might argue that in the absence of secure domains of external freedom we could not develop our moral dispositions and hence not achieve even inner freedom (autonomy) and moral worth. This would provide one way of accounting for the contrast between Kant's earlier and later theories: The later theory, but not the Groundwork, is committed to the claim that without justice, presupposing effective juridical laws, there would be no morality at all, and human life on earth would lose its value (cp. Rechtslehre 332). Though it would have been important to Kant, I shall put aside the problem of ultimate foundations,11 investiis wrong absolutely, if all maxims intending it are impermissible. Thus it might still be made to serve as the foundation of both spheres of the metahysic of morals, as well as of the division itself. For further reflections on this problem, see Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit (Berlin: de Gruyter 1984) Teil A, esp. II and IV.

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gating instead the inner unity of his theory of justice, and the plausibility of its more concrete implications. The main structural innovation of Kant's later theory concerns how duties of justice are argued for by appeal to pure practical reason. According to the Groundwork, reason makes demands upon persons' conduct directly, by imposing perfect duties. The later account, by contrast, views pure practical reason as making demands on systems of constraints that might regulate interactions in a society. Here the principles of reason function, as it were, as meta-constraints — constraining what constraints ought to be imposed upon individuals. Hence reason's demands affect persons only indirectly: by constraining what rights and duties a just social order is to stipulate.12. In the Groundwork, Kant presented a necessary condition for the permissibility of maxims — perhaps hoping to establish, one by one, a collection of (self-imposed) constraints strong enough to safeguard the mutual consistency of our external freedoms. On the new account, Kant proceeds in the opposite direction: Reason's principles pare down the field of potential public systems of constraints. And the preeminent condition that reason imposes upon such systems is that they ensure interpersonal consistency. All schemes not meeting this condition are eliminated in the very first step; the solution of the "content problem" is assured in advance. Or is it really? As presented thus far, the new strategy merely relocates the problem. It leaves us with an indefinite variety of systems of constraints, each of them meeting the consistency condition. If persons were to embrace different ones of these schemes, each doing "what seems just and good to hinT (Rechtslehre 312), then a social order ensuring interpersonal consistency would once again not be achieved. Different schemes for achieving mutual consistency will be mutually inconsistent. In response to reason's demand for interpersonal consistency, Kant's later theory of justice sees its task then in pruning further the set of consistent systems of constraints — ideally own to a single one. This reduction will result in strengthening/multiplying the constraints that the shrinking number of surviving schemes share in common. The first step in this reduction is taken through the other component of pure practical reason's formal aspect — the demand for universality. One person should have a particular external freedom only if that same freedom is enjoyed by everyone. There ought to be no restrictions on any one person's freedom that do not equally apply to all. In a spatial metaphor: Consistency One passage I will cite in support of this begins by asserting the equal freedom principle (or formal principle of justice) as an imperative. This imperativistic formulation is reminiscent of the Groundwork. However, the sequel states very clearly that this principle does not obligate individuals directly: "Although this law imposes an obligation on me, it does not in any way expect, let alone require, that I should myself restrict my freedom to these conditions, purely for the sake of this obligation. Rather, reason merely says that my freedom, in its idea, is so restricted, and that it may also actively be so restricted by others" (Recbtskbre 231).

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requires that no two persons' domains of external freedom overlap, while universality demands that all domains be of the same shape and size. Taken together, these two conditions constitute what I shall refer to as Kant's formal principle of justice. Even the full formal principle is clearly insufficient for selecting a unique system of constraints. The range of eligible schemes may have been greatly reduced, but a good deal of indeterminacy still remains. For example, the demands for consistency and universality cannot settle whether everyone should enjoy access to all land and have a duty to concede such access to others, or whether all should enjoy (the chance of) exclusionary possession of land while having a duty not to trespass on land owned by others. Kant's first principle also fails to exclude schemes under which everyone's freedom is equally restricted, but more severly than would be necessary for consistency. It is at this point that Kant introduces the material aspect of pure practical reason into his theory ofjustice. This engenders his material principle of justice which demands (roughly) the thriving of reason, and the promotion of its development both in the species and in each particular person. This principle, as opposed to the formal one, is teleological. It defines a dimension in which humankind may progress indefinitely; there is no limit to enlightenment. Given is teleological character, what schemes the material principle favors will vary with historical context. However, it does give politics some definite long-term goals (see Section IV). The so-enhanced theory will narrow down the field a good deal further. By now, in fact, Kant is in a position to assert a quite significant set of constraints definitively — he speaks of these as natural laws, stipulating natural rights and natural duties. 13 Yet the resulting theory is still not strong enough to yield one unique consistent scheme. There is still some residual indeterminacy regarding cases of potential conflict with respect to which even the material principle is indifferent (the problem of coordination). For example, you might embrace a scheme under which people drive on the left-hand side of the road, while I favor the equally acceptable scheme of driving on the right. This last indeterminacy, irresolvable a priori, requires a central legislative process to complement the constraints of natural law by those of positive law. Natural law comprises then such constraints as are uniformly imposed by any scheme that meets all three conditions of pure practical reason. Insofar as such schemes still diverge, natural law is incomplete. Positive law irons out this incompleteness by selecting, on empirical grounds (such as convenience) and to some extent arbitrarily, one system of constraints from among those that satisfy pure practical reason. 13

The world "natural" here means only that such laws have their origin in reason, that their validity can thus be recognized by reason a priori (Rechtslehre 224).

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In the remainder of this essay, I shall attempt a critical reconstruction of some important aspects of Kant's political philosophy. This reconstruction will be critical in that at times I shall contrast the positions Kant actually takes with the positions he ought to take, given the basic structure of his theory. As the main elements of this basic structure, I shall keep fixed Kant's principles of justice and the way they constrain laws and institutions (directly) and the conduct of persons (indirecdy). It will further be assumed that the formal principle always takes precedence over the material one (see again footnote 4), and that within the formal principle the consistency condition has priority over the demand for universality. There is then a strict lexical hierarchy of altogether three principles — in order of priority: {FP-l} Consistency: {FP-2} Universality: {MP} Enlightenment:

rational persons ought to coexist under a system of constraints ensuring mutually consistent domains of external freedom; that system ought to limit everyone's external freedom equally the constraints should be general and universal; the system of constraints ought optimally to promote the development and fluorishing of reason.

Sections III—Y discuss Kant's ideal of justice for a self-contained civil society in general: Section III explains how Kant's endorsement of absolute sovereignty arises from {FP-l}; Section IV focuses on some further features on Kant's ideal, derivable from {FP-2} and {MP}; and Section V deals with the apparent tension between the two previous sets of demands, thereby stipulating the proper attitudes and relationship of sovereign and citizens. Section VI examines then how Kant seeks to extend the theory developed thus far to the international plane. And Section VII, finally, sketches a somewhat modified Kantian theory of justice, which might be more plausible in our time.

III.

As the supreme requirement of justice Kant postulates that rational-sensuous beings should live not in a state of nature, but in a juridical or law-governed state. 14 The preeminence of this requirement can be explained by its being the only one entailed by {FP-l} alone: A juridical state is defined as any condition in which the mutual consistency of our external freedoms is asKant calls this state "rechtlich" or "gesetzlich" and kindly adds the Latin "status iuridicus" {Theoty and Practice 292/76, Perpetual Peace 283/127). Translations as "rightful", "lawful", or "legal" are misleading, because a juridical state may well be unjust (in reference to natural law); and, as constitutive of legality, cannot itself be legal, or lawful, in reference to positive law. (Cf. how "rechtlich" contrasts with "rechtmäßig" at Perpetual Peace 373n/118n.)

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sured. What is involved in such a state can be explained through three considerations. The first we have already encountered: There must be a legislative power complementing natural by positive law, thereby fully specifiying the complete system of constraints. A juridical state is necessary for resolving the problem of coordination, i. e. conflicts involving alternative fully acceptable systems of rights and duties. The second consideration starts out from the problem of interpretation. 15 Provisions must be made, through codification and adjudication, for determining definitively what laws there are, 16 and how they apply to particular cases. In the absence of such provisions, no domains of external freedom have been intersubjectively delimited in a public fashion. This consideration supports the demand for a juridical state, and also broadens it by postulating the need for a mechanism of authoritative determination. The third consideration is based on the claim that it is not unjust to disregard at least some natural laws when one lacks adequate assurances that others will comply as well. 17 Here Kant breaks radically with his earlier account (see Groundwork 438 f./106): In the absence of assured reciprocity, even natural rights and duties whose interpretation is unproblematic will have only presumptive or comparative validity (cp. Rechtslehre 257). Maintaining consistent domains of external freedom requires therefore an enforcement mechanism that is strong enough to overcome countervailing forces. This third consideration again both supports and broadens Kant's demand for a juridical state. Taken together, these considerations allow Kant to derive, from {FP-l} alone, the paramount requirement of justice: Rational beings with sensuous inclinations ought to coexist in a juridical state that solves the above three problems, i.e. that contains mechanisms for determining, applying, and enforcing a consistent distribution of domains of external freedom. Kant sought further to use these arguments in support of the modern state as the (one and only) form of social association that is unconditionally mandated by pure practical reason. (The three considerations would roughly correspond to Montesquieu's three branches of government.) However, one 15 16

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Rechtslehre 312. Cp. Theory and Practice 275/61. The relationship of natural and positive law is then more complex than the first consideration would suggest. Natural law, whether complete or not, requires intersubjective recognition to fulfill its function. Natural law must then not only be complemented by, but also be incorporated into positive law, if a public delimitation of domains of external freedoms is to be achieved. Perpetual Peace 349n/98n; Rechtslehre 307. - Kant isn't saying that without such assurances people will not comply, but that they need not comply. Thus his point, though related to, is not identical with what we now know as the assurance problem; see John Rawls: A Theory of Justice (Cambridge: Harvard U. P. 1971) 270, and references there.

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may well doubt whether these arguments, so interpreted, are successful. How can Kant dismiss a priori the possibility that coordination might be achieved through custom as preserved in culture, and that peer pressure might provide authoritative determinations and sufficient incentives for compliance? The mere presumption that we are developing a scheme of justice for a world of beings who have, and know each other to have, non-rational incentives (who experience the laws of pure practical reason as constraints) seems too slender a basis on which to assert that no form of anarchism could effectively maintain our external freedom. Now I believe that Kant takes his view to be exempt from such empirical challenges, because the problems raised by the three considerations have an a priori status. It may well be the case, Kant would concede, that human nature is such that this or that form of social life could ensure a stable delimitation of external freedoms, thus reducing or even eliminating conflicts. But reason, in {FP-1}, demands more than this: What must be excluded is the mere possibility of conflicts for which there is no effective mechanism of authoritative settlement. Though appeal to custom may resolve all actual conflicts for centuries on end, it still does not constitute a reasonable decision mechanism, because it cannot cope with those possible conflicts in which the proper interpretation of custom itself is in dispute. That Kant understood {FP-l} in this formalistic way is confirmed by the fact that, following Hobbes, he subscribed to (what I call) the dogma of absolute sovereignty, to the view that a juridical state presupposes an authority of last resort. In Kant, as in Hobbes, this view arises roughly as follows. A juridical state, by definition, involves a recognized decision mechanism that uniquely resolves any conflict. This mechanism requires some active authority, because a mere written or unwritten code (rules, law, scripture, ...) can not settle conflicts concerning its own interpretation. Any limited or divided authority would not do, however, as conflicts might arises about the precise location of the limit or division. There must then exist one ultimate and supreme universal authority: the sovereign, if there are to be secure domains of external freedom at all. 18 Given this formalistic reading of {FP-l}, the transition from a state of nature to a juridical state must then, in this respect, appear as the crossing of a sharp line — rather than as a matter of degree, involving a greater or lesser empirical incidence of conflicts. A juridical state exists only if there is 18

See Theory and Practice 291/75, 299/81; Rechtslehre 319. - This reasoning is anticipated in Aquinas, and clearly stated in Marsilius and Bodin. It maintained its hold well into the 20th century, when it declined together with the Austinian conception of jurisprudence. See Geoffrey Marshall: Parliamentary Sovereignty and the Commonwealth (Oxford: Oxford U. P. 1957) Part I; S. I. Benn and R. S. Peters: Social Principles and the Democratic State (London: Allen and Unwin 1959) Chapters 3 and 12; and H.L.A. Hart: The Concept of Law (Oxford: Oxford U. P. 1961).

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a "logically" complete decision mechanism, which, to be complete, must provide for an absolute sovereign as the instance of last appeal. If this condition is not met, no matter how peaceful our intercourse, then we are still in a state of nature, reason's demand for justice remaining unfulfilled. But absolutist government, though necessary, is not sufficient for the existence of a juridical state. It is also requisite that political power be exercised through laws — though Kant may not emphasize this enough. 19 Thus a dictator who pushes others around at his whim is not a sovereign in Kant's sense. Although he has effective power, he does not underwrite a consistent distribution of domains of external freedoms. Rather, there are no such domains, as any external claim is always liable to be invaded or left unprotected. The emergence of such a dictatorship does not then constitute the transition from a state of nature to a juridical state (cp. R 7980). It is quite difficult, of course, to give criteria for when a state officially governed by laws becomes dictatorial in this sense.20 And it my well have been this difficulty — together with the rarity of pure dictatorships in modern Europe and his wish to urge obedience — that disinclined Kant to dwell on this distinction. What {FP-l} requires then, on Kant's understanding, is that there be an arrangement under which persons are governed through a consistent system of laws, the determination, application, and enforcement of which is under the ultimate authority of an absolute sovereign. Such an arrangement Kant refers to as a civil constitution or state — the "conditio sine qua non of all other external duties" (Theory and Practice 289/73) and hence of external freedom. This paramount requirement of justice has two applications to individuals: In a state of nature, persons — if they cannot avoid each other 21 — have a highest-order duty jointly to incorporate themselves under a common civil constitution. In a juridical state, i. e. when a civil constitution is already in place, persons have a highest-order duty to support that constitution by obeying the laws and by complying with the commands, verdicts, etc., of any authority duly empowered by the sovereign.22 Though the first of these du19

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Often, however, when Kant preaches obedience, he clearly takes for granted that this condition is satisfied. Thus we are asked "to obey the currently existing legislative power, irrespective of its origin" or "to obey the authority that has power over you [because it] is already in possession of the legislative function" (Rechtslehre 319, 372). - 'Dictatorship' is my term for government without law; Kant uses 'barbarism' (at R 7700 and in the Anthropology). In a draft for Perpetual Peace Kant says that law atrophied through much arbitrary power is better than no law at all (Ak XXIII 183). So in this respect perhaps the transition from a state of nature to a juridical state does permit of gradations. See Theory and Practice 289/73; Perpetual Peace 349n/98n; Rechtslehre 256, 352. Theory and Practice 299 f./81; Rechtslehre 318 ff., 340. These two duties mirror Hobbes's obligations to the same effect, as expressed in his first two natural laws — see Thomas Hobbes: Leviathan (Harmondsworth: Penguin 1981) 190/XTV. In Hobbes, however, these obligations are primarily prudential, as is reflected in the exception he recognizes in cases where the agent's own life is a stake. Hobbes is also rather less committed to the rule of law than Kant is.

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ties raises interesting questions, only the second will be further discussed: in Section V.

IV. Both {FP-2} and {MP} have implications both (A) for the design of a civil constitution and (B) for the laws to be enacted. What follows is a brief exploration of these four areas in turn. A.l: Pursuant to {FP-2}, the constitution of a state should reflect the will of the united people, each person having equal political rights (Religion 98/ 90). 23 The people may either exercise sovereignty themselves (perhaps through representatives — Rechtslehre 341) or may allow sovereignty to be exercised in their behalf by a king or by a group of nobles. Even when sovereignty is thus transferred, the people maintain their status as ideal ("background") sovereign, as is manifested in Kant's demand that sovereignty always be exercised in whatever way the people wish. 24 The reason is that the mechanism determining the law cannot be said to constrain everyone's external freedom equally (even if the laws it generates are general and universal), if it is a mechanism to which only some would consent.25 Yet, can we realistically hope to find a legislative mechanism to which everyone would content? Kant an solve this difficulty by asserting that, given our duty to coexist in a juridical state, each person must be prepared to accept whatever mechanism is favored by a majority. This acceptance constitutes part of (what he calls) the original contract, which "must be the ultimate basis on which a civil constitution is established" (Theory and Practice 296/79). The exercise of sovereignty by a king would then satisfy {FP-2} if and only if that arrangement pleases a majority of the people, because all (unanimously) accept the idea that a majority should be decisive in this matter. Kant clearly believed that many actual civil constitutions are not based in this way upon the majority preference of a united people. But this fact does not invalidate these constitutions: "The idea of an original contract upon 23

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Kant also appeals to volenti non fit iniuria at the highest level to establish the people as original sovereign (Rechtslehre 313 f.). If sovereignty now rests with a king, for example, he is not automatically entitled to adopt a new form of regime. It does not depend "on the sovereign's free choice and discretion to subject the people to whatever constitution he wished. For even if the sovereign decided to go over to democracy, he might still be doing the people an injustice; for they might themselves detest this form of constitution and find one of the two others more congenial" (.Rechtslehre 340; cf. also 341 f.; and R 8055, 7769, 7734). If the case of a mechanism to which nobody would consent is a serious possibility, it would have to be excluded by appeal to {MP}.

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which all rightful legislation of a people must be founded" is "merely an idea of reason". 26 Kant does not postulate an actual social contract, which might be broken and thus become null and void (Theory and Practice 302/83). His original contract is hypothetical, expressing "the general will as it is given a priori". 27 It provides an immutable norm or ideal, toward which both the sovereign and the people are to orient their conduct. A.2: {MP} imposes two important conditions on how the civil constitution is to be designed. Taken together, these define a republican (as opposed to a despotic) form of regime. First, the three powers of determining, applying, and enforcing the laws should be in separate hands {Rechtslehre 316/§48), in order to rule out arbitrariness as far as possible. 28 It must be noted, however, that Kant's interpretation of {FP-l} proscribes any real separation of powers. There can be no genuine checks and balances at the highest level, because reason requires a single last court of appeal in all conflicts (the dogma of absolute sovereignty). Consistently, Kant (as Rousseau) views the sovereign as entitled to dismiss and replace executive and judicial officials: 29 "The sovereign may divest the ruler of his power, depose him, or reform his administration." The separation of powers in then a demand on the sovereign to abstain from (i. e. to delegate) jurisprudential and executive functions. The second condition of republicanism is that sovereignty rest with the people (or their elected representatives).30 Kant subscribes here to the enlightenment hope that the people "will gradually come to the stage where [...] they will be able to create for themselves a legislation ultimately founded on right" (Perpetual Peace 372/118). At that time there will no longer be a reason for the people's political freedom to be abridged, for sovereignty to be exercised in their behalf by others. 31 (And there is an important further 26 27

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Perpetual Peace 350/99 f. with Theory and Practice 297/79. Perpetual Peace 378/123; see also 344/94, 351n/99n; Theory and Practice 294Í./77, 297 {{./ 79 f.; and R 7740: "The contractus originarius is the principle for explaining not how the status civilis originates, but what it should be like." The constitution, after all, must operate on "such warped wood as humanity is made of" ( Universal History 23/46; cf. Perpetual Peace 369/115). Kant also appeals to considerations of stability {Universal History 25/48; Perpetual Peace 336/112 f.). Rechtslehre 317. Cp. Jean-Jacques Rousseau: The Social Contract (Harmondsworth: Penguin 1968) 102/III: 1. To forestall misunderstanding, I should here explain Kant's remark that "democracy, in the proper sense of the word, is necessarily a despotism" (Perpetual Peace 352/101). Here "democracy" denotes a regime in which the people exercise executive power — which, of course, would necessarily violate either the first or the second condition of republicanism. In accordance with Rechtslehre 338 f., I shall use "democracy", "aristocracy", and "autocracy" in reference to the holders of legislative power, or sovereignty. As its derivation from {MP} suggests, the ideal of a pure republic is exalted by Kant in teleologica! terms: "The old empirical (and statutory) forms, which serve only to effect the subjection of the people, should resolve themselves into the original (rational) form which alone makes freedom the principle and indeed the condition of all coercion [...] and this will eventually by realized in letter as well as in spirit. This, then, is [...] the ultimate end of all

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reason for vesting it in the people: As sovereign, the people will decide about war und peace, which will make war, the ultimate negation of a juridical state among nations, much less likely — see Section VI below.) Having sketched Kant's abstract commitments regarding the ideal constitution, it remains to concede that some of his concrete claims fail, rather grotesquely, to honor these commitments. There are two important cases. First, Kant notes in brackets that women, grouped here with children, cannot be citizens, i.e. cannot participate in legislation.32 This fails to realize that "androcracy" — like aristocracy — clearly violates {MP} (plus {FP-2} as well, if androcracy is not favored by a majority of all persons. Secondly, Kant holds that the economically dependent cannot be citizens either,33 again without realizing the similar dubiousness of this excusión. If economically dependent citizens are indeed an impediment to reasonable legislation, then certainly {MP} would be better served by raising these people from their dependence than by denying them the franchise.34 And indeed, Kant once does call freedom, equality, and independence innate rights ('Rechtslehre, 237 f.). B.1: Coming now to the laws' content: {FP-2} prescribes that the laws must treat everyone equally. In conjunction with {FP-l} this entails that "legislation proceeds from the principle of limiting the freedom of each to those conditions under which it can be consistent with the freedom of everyone else according to a universal law". 35 Kant is quick to point out that this demands only formal equality, that there may be special privileges and prerogatives so long as these are not hereditary, but rather earned, and (attached to offices and positions that are) in principle open to all {Perpetual Peace 351n/ 99n). This allows him to say that equality is "perfectly consistent with the

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public right" {Rechtslehre 340 f.). Given {FP-2}, the attainment of a fully just pure republic would presuppose that the people want to exercise sovereignty themselves (cp. footnote 24 above). However, once sufficiently mature, the people ought to want to be sovereign. Theory and Practice 295/78. - As his contractual account of marriage (see footnote 41 below) confirms, Kant clearly accepted women as rational beings. Perhaps he meant to exclude them from citizenship only because and insofar as they are economically dependent (cf. Rechtslehre 314), in which case my first objection would collapse into the second. But then Kant did not recognize even the possibility of independent women; and insisted that all wives must obey their husbands. Theory and Practice 295/78; Rechtslehre 314 f. This second exclusion was certainly motivated by Kant's commitment to political equality, by his reluctance to have a large land-owner be permitted to deliver the votes of all his dependents - cp. Patrick Riley: Kant's Political Philosophy (Totowa: Rowman and Littlefield 1983) 112. In addition, Kant may well have considered the incidence of economic dependence, and even of poverty, to be an ineradicable feature of the human condition. But he must also have thought that economic dependents are bound to be politically immature or otherwise unfit to be colegislators. In a draft for Theory and Practice Kant calls servants "parasites upon citizens" (Ak XXIII 137). Religion 98/90. Cf. Theory and Practice 295/75 f.; Rechtslehre 230/§ C.

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utmost inequality" in (acquired) rights and possessions (Theory and Practice 291 f./75). But it is perfectly ««consistent with his remark (again in brackets and referring to children as well) that wives must obey their husbands ( Theory and Practice 292/75). B.2: One main contribution of {MP} in the area of legislation is to urge progress toward less restrictive systems of law, i. e. ones that impose weaker constraints (without violating the consistency and universality conditions). Like the weak Pareto principle, this component of {MP} generates only a partial ordering: There isn't one equal distribution of domains of external freedom affording everyone "more" freedom than they would have under any other equal and consistent distribution.36 Still, this component is by no means trivial. One of its corollaries, for instance, is the principle that laws must not force persons to be virtuous. Any system of law containing provisions regarding matters of virtue can be transformed into a less restrictive one lacking them. Given the way of justice/virtue distinction was defined, the latter system will still satisfy {FP} if the former did. This corollary entails two prohibitions. The law may not impose duties of virtue. And it must be indifferent to the citizens' inner attitudes, must impose duties of justice, but not their indirect-ethical counterparts — as Kant puts it: the sovereign must require only the legality, not the morality, of actions. There are other advances towards enlightenment for which Kant argues on independent grounds. For example, there should not be a law "whereby certain articles of faith and religious practices are declared permanent"; 37 nor a law restricting freedom of expression in the public forum. 38 In addition, Kant is committed to the claim that, other things being equal, a society with more mature members is therefore also a more reasonable one. 39 Although Kant clearly held the citizens' happiness to be irrelevant as a legislative consideration (e. g. Theory and Practice 298/80), justice — through {MP} — would then nevertheless require that the sovereign shape social and 36

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In his earlier work Kant does not appreciate this point, demanding a constitution that would allow the greatest equal freedom for all (Critique of Pure Reason Β 373; Universal History 22/45). - It is curious to observe the same development in Rawls's thinking: Compare his old Formulation of the first principle of justice (A Theory of Justice 302) with his new one in The Basic Liberties and Their Priority in S. M. McMurrin (ed.): The Tanner Lectures on Human Value III (Salt Lake City: U. of Utah Press 1982) 5. Rawls's shift was prompted by H.L.A. Hart's outstanding review "Rawls on Liberty and Its Priority" reprinted in N. Daniels (ed.): Reading Rawls (New York: Basic Books 1974). As this would "conflict with the destiny and purpose of humankind" (Theory and Practice 304f./85). Enlightenment 36 ff./55 ff. Cp. Theory and Practice 304/84. See esp. Enlightenment. Cp. also Kant's argument in the Groundwork to the effect that we have a reason-based ethical duty to develop our talents and to help others in distress (see footnote 6 above).

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economic institutions with an eye to minimizing illiteracy, poverty, and severe inequality in rights and possessions, wherever these tend to keep people dull and dependent. 40 Perhaps Kant believed that there would be little leeway left for choice in these matters, since {FP-2} and {MP} jointly entail — even prior to the existence of a civil constitution — economic arrangements of a (roughly) libertarian sort that would rule out redistributive taxation.41 This belief would however seem implausible: Redistributive tax laws to promote enlightenment would not necessarily violate universality, so long as they are uniformly applied pursuant to general laws. Moreover, such oudays might also be financed differently, e. g. through returns on collectively owned assets. In concluding Section IV, I should point out that Kant often mentions two formulas for assessing legislation about which I have said nothing so far. First, he offers "the following proposition as the transcendental formula of public law: 'All actions affecting the right of other human beings are unjust if their maxim is not compatible with their being made public'" (Perpetual Peace 381/126). Kant is not clear on what he means by it; but in any case, this does not constitute a substantive principle. Right afterwards Kant says that if there are maxims "which I cannot publicly acknowledge without thereby provoking the resistance of everyone", then "this necessary and general (hence a priori foreseeable) opposition can not arise from anything other than the injustice with which it threatens everyone" (ibidem). This explanation, plainly, already presupposes principles of justice, presumably {FP} and {MP}. (It also presupposes the people's eager allegiance to those principles, of which we are hardly assured a priori.) A little below, however, Kant uses the appeal to publicity quite differently: as emphasizing that all rights and duties of justice must fit together into a single public system of law. There can be no right of the people to rebel against even a tyrannical sovereign, he says, because no civil constitution could both recognize a sovereign as the ultimate criterion of external right and wrong and allow the people to decide for themselves when to comply with the sovereign's laws — such a constitution would not provide the wel40

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The characteristic features of the so-called modern welfare state could then be justified within Kant's theory only insofar as they are deemed (a) necessary, pursuant to {FP-l}, for the stability of the state itself (Theory and Practice 298 f./80), or (b) suportdve of the enlightenment of the populace as demanded by {MP}. According to Kant, anything that can conceivably be used or be in someone's power is potentially property (Rechtslehre 246, 250) and can be appropriated qua temporal priority of claim {Rechtslehre 251, 259, 263). (This last rule seems dubious, given that some are born later than others.) Changes in ownership can come about only through voluntary transfer (Rechtslehre 271) - be it of ownership (intelligible possession) or of aspects thereof. (As a curiosity aside: The latter case is exemplified by marriage, which Kant saw as a contract entitling both spouses "to the life-long possession of each other's sexual attributes" — Rechtslehre 277).

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defined decision mechanism required for a juridical state. 42 This second, rather more successful use of the formula shows then that an external action cannot be right if it could not be permitted explicidy within a complete system of laws of justice. This reaffirms {FP-l} as I have interpreted it in Section III: A juridical state requires clearly demarcated domains of external freedom so that all know in advance what they have a right to do or a duty to forebear. The other formula is: "Whatever [laws] a people cannot impose upon itself, cannot be imposed upon it by the legislator either." 43 Immediately after this formulation, Kant applies it to an example, directing us to ask "whether a people may enact for itself a law [...]". 4 4 A search for a sophisticated explanation of what a people can or cannot decree would then miss Kant's point. This formula again is not a substantive principle. Its import is that a body of legislation ought to accord with the same substantive principles of justice, whether sovereign power be in possession of the people, as ideally it should be, or of anyone else. Universality and enlightenment are unconditional demands of pure practical reason; their validity is not tied to any particular perspective. Positive law is to meet these demands, not because that is in the people's interest (a policy good for them, but perhaps not for an autocrat), but because this is what reason requires of any legislator whatever. It is an autocrat's duty "to treat the people in accordance with principles that comply with the spirit of the laws of freedom (as a people mature in reason would prescribe them for itself), even if the people is not literally asked for its consent" (Contest 91 /187). The two formulas merely reaffirm then the essence of Kant's theory, which is to inform the conduct of both the people and the sovereign. As suggested by the image of the original contract, the existing sovereign — even if autocratic or aristocratic — is to be conceived of as exercising legislative power in behalf of the people. This entails that each person must obey the sovereign; and that the sovereign must enact only (laws that a democratic sovereign may enact, namely) laws satisfying universality and promoting enlightenment. 42 43 44

Perpetual Peace 382/126 f. Cp. Theory and Practice 303n/84n. Theory and Practice 304/85. Cp. 297/79. Enlightenment 39 £/57 f.; Rechtslehre 327 f., 329. Theory and Practice 305/85. Thus Kersting errs when he ascribes to Kant (and then criticizes him for) the view that any — or at least any democratic — sovereign is infallible, i. e. will necessarily enact only just legislation ( Wohlgeordnete Freiheit 265, 272, 308 f., 344). This view is thoroughly implausible, because Kant offers an independent criterion of just legislation; and it is certainly not a necessary truth that legislation enacted by a majority of the people (or of their representatives) will satisfy, for example, the universality condition. Kersting seems to think that Kant must hold this implausible view in order to justify his insistence upon the citizen's absolute duty of obedience. I shall try to show in the next section that Kant offers a far superior position that reconciles the fallibility of any sovereign with the absolute command to obedience.

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V. These two commands may seem to pull in opposite directions, at least in our non-ideal world of fallible and corruptible legislators. On the one hand, Kant is not a legal positivist; he asserts that political arrangements and laws can be unjust. On the other hand, he also holds that we must comply with the existing constitution and laws, irrespective of their content. The present section discusses how Kant reconciles these two positions. My interpretative hypothesis affords a straightforward resolution of the problem. The duty of strict obedience to the existing sovereign is entailed by {FB-l} alone — without it we have no determinate decision mechanism, hence no civil constitution, hence no juridical state. An alleged right on the part of the people to disobey the existing sovereign for the sake of universality or enlightenment, on the other hand, would depend for support on {FP2} or {MP} respectively, and is therefore trumped by the higher-ranking requirement of compliance. "Any law-governed constitution, even if it is only in small measure just, is better than none at all" (Perpetual Peace 373n/118n), in that at least it upholds the idea of law, of guaranteed domains of external freedom. 45 Now while my reading is certainly committed to this response as far as it goes, I think there are interesting further ramifications. What is missing so far is the idea that both sovereign and citizen do not only have an outward and active, but also an inner, reflective persona. Part of this idea can already be found in Hobbes who (pace Kant) 46 does acknowledge duties of the sovereign. For Hobbes, the demand for a juridical state, in conjunction with the dogma of absolute sovereignty, entails that there ought to be a sovereign who has no obligations in foro externo, i.e. no obligations that anyone else could rightfully interpret or enforce. The sovereign's laws and commands are by definition just (Leviathan 232/XVIII). Yet, they may fail to bc good (leviathan XXX, esp. 388) by being, for example, inequitable or ineffective. There is room then for duties of the sovereign in foro interno (before his own consci-

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There are several instances of this reasoning, showing how Kant tacitly relies on the priority of {FP-l}. Thus he writes, for example: "even if [the supreme legislative] power or its agent, the chief of state, has violated the original contract [...] the subject is still not permitted to offer counter-resistance. The reason for this is that the people, under an existing civil constitution, has no longer any right to determine how the constitution should be administered. For suppose it did have this right, and that it disagreed with the judgment of the actual chief of state, who is to decide which side is right? Neither can act as judge of its own cause. Thus there would have to be another chief above the chief of state to decide between the latter and the people, which is self-contradictory" (Theory and Practic 299 f./81; cp. Perpetual Peace 382/126 f.; Rechtslehre 320). Theory and Practice 303 f./84; R 7667.

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enee or before God) which obligate him to promote the interests of his citizens, even to accord them certain rights.47 Kant offers an expanded version of this idea. Externally, the sovereign is, once again, the authoritative criterion of justice or public right; for practical purposes, whatever the sovereign declares right is right, and thus counts as being fully in accordance with natural law. And again, the sovereign ought, inwardly, to view things differently, i. e. should by no means assume that his legislation will automatically accord with natural law: The sovereign is fully responsible, internally, for ensuring that political arrangements and the laws satisfy the principles of justice as far as possible.48 Now Kant extends this idea by introducing an analogous split on the side of the citizen as well. While the citizen must, still as in Hobbes, externally count the existing laws and regime as perfectly just, he may, and should, be inwardly fully aware that he has "inalienable rights [...] about which he is entitled to make his own judgments" (Theory and Practice 304/84). The citizens' dual status is then as follows. They must not pass judgment upon the sovereign's performance which "must be considered to have been outwardly in keeping with right"; the sovereign, "regarded as the source of all laws, is incapable of any unjust action" (Rechtslehre 321n). They must not appropriate unilaterally the objects of any rights the sovereign should but does not concede. Nor do the people have rights to refusal or resistance, corresponding to the sovereign's duties towards them — let alone a right to prevent or punish violations of these duties. Yet, while practically constrained in these ways, they remain cognitively free and competent (no less so, in principle, than the sovereign) to make judgments about laws and institutions. On this reconstruction of it, Kant's reconciliation instantiates a pattern familiar from our ordinary conception of jurisprudence. Once a verdict has been rendered, citizens have no right whatever to resist it or to refuse compliance — let alone to punish the jury. Thus we must outwardly treat the acquitted as innocent and the convicted as guilty. (And the practice of judicial settlement would be entirely pointless, if this were not so.) Yet, even though a verdict plays such a constitutive (defining) role, all participants also conceive there to be an independent fact of the matter, making the verdict either correct or incorrect. Thus, a judge or jury must not simply decide as they please, secure in the knowledge that their judgment, whatever it may be, will 47

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Rousseau subscribes to the same idea: Only under complex, highly favorable conditions does the legislative will of the united people tend to coincide with the enlightened general will. See The Soda/ Contract Book II. Cp. R 7989: "As head of state he is therefore always in the right, even while as human being he is in the wrong." — In modern terminology (cp. A Theory of Justice 85 f.; and reference there), one could say that the Hobbes-Rousseau-Kant picture of sovereignty is split: It is a mechanism of pure procedural justice when looked at from the outside, but a mechanism of imperfect procedural justice when viewed from within.

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count as correct. Rather they have a most solemn obligation, in foro interno, to ascertain the facts, and to apply the law, in good faith and to the best of their abilities. And ordinary citizens need not cognitively accept the official judgment — though they must practically. They are perfectly free to have — and even express - the opinion that, say, an innocent person has been convicted. On my view, Kant applies this reconciliation to political authority in general.49 This reading has an important consequence. If the constitution and the laws are liable to be more or less just depending on their conformity to the principles of justice, and if the citizens, though not entitled to judge this matter in a practical respect, are permitted and competent to judge it theoretically, then it would seem important to tap this competency of the people in order to support the sovereign in his task to promote reasonable institutions. A basic yardstick for the sovereign's good will is then furnished by the question to what extent it tolerates purely theoretical debate. And just this idea we find repeatedly expressed in Kant: "To deny [the subjects] this freedom [of the pen] would deprive the supreme rule [...] of any knowledge of matters that he himself would change if he knew of them, thereby bringing him in contradiction with himself."50 Similarly, after giving an example of a law that a people cannot "judge to have been enacted in good will", Kant continues: "In all cases, however, where the supreme legislation did nevertheless adopt such measures, it would be permissible to pass general and public judgment upon them, but never to offer any verbal or active resistance" ( Theory and Practice 304 f./85). But what if the sovereign enacts a law prohibit-

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Having said this, I must confess that Kant admits an exception to the requirement of absolute obedience to the authorities. There are three passages: "When human beings command anything that in itself is evil (directly opposed to the law of morality) they must not, nor ought they to, be obeyed" (Religion 99n/90n; cp. 154n/142n; R 7975). "It is a categorical imperative: Obey the authorities (in all matters not contradicting inner morality) which have power over you" (Rechtslehre 371). The people "must not resist/disobey except in those cases that fall outside the civic union, e.g. forced worship, coercion to commit unnatural sins: assassination etc." (R 8051). Probably Kant thought that only passive resistance could ever be justified, that it could never be against inner morality to refrain from an officially prohibited action. Whether or not this distinction is morally and conceptually tenable, it seems that, at least on my reconstruction of it, no resistance can be justified within Kant's theory of jusdce. Perhaps Kant thought there to be duties of virtue that can conflict with, and override, even the paramount duty of justice; but I cannot speculate about this matter here. Suffice is to say that Kant's acknowledgement of exceptions punctures his allegiance to the dogma of absolute sovereignty by restoring the potential for conflicting claims about the rightness of external actions. (There is no decision mechanism for mediating a dispute between sovereign and citizen about whether some act would constitute an unnatural sin, or contradict inner morality.) It thus pushes Kant towards what, as Section VII will argue on independent grounds, is a plausible modification of his theory of justice. Theory and Practice 304/85. Cp. Enlightenment 41/59; Contest 89/186. All these passages show that Kant did not consider the sovereign infallible.

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ing the passing of general and public judgment upon any of its laws, may the citizens or may they not pass general and public judgment upon that law? On my interpretation, Kant would have to say that they may not. 51 And we know, in fact, that in 1794 Kant bowed to an angry Frederick William II, promising not to publish on religion again while privately commenting: "Recantation and denial of one's inner convictions is base, but silence in a case like the present is a subject's duty'". 52 Any changes required in light of {FP-2} and {MP} are then the sole responsibility, in foro interno, of the present sovereign, who alone may "alter the existing constitution if it does not accord well with the idea of the original contract" {Rechtslehre 340). "What sequence can progress be expected to follow? The answer is: not the usual sequence from the bottom upwards, but from the top downwards." "It is not merely conceivable that we can continually approach [a political constitution conforming to the requirements of reason]; so long as it can be reconciled with the moral law, it is also the duty of the chief of state (not of the citizens) to do so."53 The current sovereign alone can decide whether a transition to a republican constitution does not expose the state to excessive dangers from abroad and whether the people are ready to legislate for themselves (Perpetual Peace 372/118). And this position Kant accepts — and must accept, given the priority of {FP-l} — even though he well realizes that in this way progress may be stalled unreasonably by the existing sovereign who is made from the same warped wood as the rest of us (Perpetual Peace 371/117).

VI. It may seem at first that a separate discussion of how Kant's theory of justice applies on the international plane is superfluous. Humankind at large is merely a special case of a collection of rational-sensuous beings, and thus required to form (what Kant variously calls) an international or universal state, a cosmopolitan constitution, or, more specifically, a world republic.54 Thus one might think that the results of Kant's theory of justice must, without further ado, be applied globally, yielding the demand for a unified world state under a single world sovereign. 51

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Kant speaks at R 7989 of the "right of remonstrance, which [...] the sovereign can also take away". Ak XII 406. - After the monarch's death, Kant felt released from this promise and resumed publication on religious subjects. Contest 92&n/l 88&n. Cp. Rechtslehre 320 f. Theory and Practice 310/90; Perpetual Peace 357/105, 379/123. Cp. Critique of Judgment § 83; Rechtslehre 343.

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Two considerations support this view. First, neither the number of persons involved, nor heterogeneities of history or culture, language or technology, race or even species, can possibly make a difference to what justice demands — which for Kant, after all, is determined by pure practical reason a priori. And secondly, one can also not appeal to Kant's proviso that, only if they cannot avoid each other, ought persons jointly to incorporate themselves under a common constitution. The point of this proviso is to waive the requirement in cases where stable domains of external freedom are safeguarded by the mere fact of total separation. The roviso exempts only insular individuals and groups (such as, perhaps, Europeans vis-a-vis the American Indians before 1492), and thus cannot apply today. This is clear from the transitivity of the relation 'must form a common civil constitution': For two persons, Λ and Z, to be required to coexist under a common constitution it is enough that they be interdependent, i. e. that there be a chain of persons between them, such that all persons in the chain have intercourse with their respective neighbors. The common constitutions governing A and Β, Β and C, C and D, etc., must all be one and the same, because otherwise one person would fall under two different jurisdictions, which would open up the possibility of conflicts regarding the delimitation of her external freedom. These two considerations notwithstanding, the problem of global justice still involves a peculiar complexity, arising as follows. So far, we have been making an important simplifying assumption. I have written as though a set of interdependent persons could only coexist either in a juridical state, under a common civil constitution, or in a state of nature. However, there is an important intermediate case, which can be defined by the existence of at least one civil constitution limited in scope (i. e. not governing all members of the set). And it is this state, of course, in which our world has been for a good number of centuries. How does Kant's theory assess this condition relative to the two others? Recourse to {FP-l} alone is sufficient to answer this question. It is clearly inferior to a globally juridical state, because there ae possible conflicts (between agents belonging to different jurisdictions) for which there is no determinate decision mechanism. On the other hand, it is superior to a thoroughgoing state of nature, because such a decision mechanism does exist for some possible conflicts — which also upholds reason' ideal of law, of mutually consistent domains of external freedom. Reflecting these considerations, let me call semi-juridical an overall state in which some, but not all, relations between persons are still in a state of nature. Kant's theory of justice applied to the world at large ranks then any fully juridical above any semi-juridical state, and any semi-juridical state above any complete state of nature.55 55

It is obviously crucial, especially in the present section, to keep distinct the two meanings of "state" - in German: "Zustand" and "Staat" — as invoked, for example, by "state of nature" and "world state", respectively.

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Understandably, Kant is rather uncomfortable with this theory's demand for a world state, presupposing (as for him it does) an absolute world sovereign. His position on this matter is extraordinarily unsettled, sometimes leading to inconsistencies even within a single passage. He experiments with a number of arguments that might get him out of the commitment, but then at times also embraces it wholeheartedly. Let's begin with a brief look at his arguments against a world state. One consideration is that universal peace may engender inactivity and cultural decline (Universal Histoiy 26/49, 20f./44.). But this can provide no relief, as it can at most involke {MP}, whereas the conflicting demand for a world state rests on {FP-l} alone. Secondly, Kant claims that his ideal of a cosmopolitan constitution would be undermined, "if [...] it could lead to the most fearful despotism (as had indeed happened more than once with overly large states)" (Theory and Practice 310f./90). This claim fails for the same reason, as republicanism again is a demand only of {MP}. The third argument is a (later) improvement on the second. It claims that effective government of very large territories is impossible, so that any attempt to institute a world state will lead to a relapse into a state of nature (anarchy or dictatorship). Thus an international state, and hence perpetual peace, "if of course a unrealizable idea". 56 This argument, though at least it appeals to {FP-l}, is still unsuccessful, because Kant is deeply committed to the view that we must never assume that something unachieved in the past is therefore unachievable, nor drop a morally mandated project, unless it is "demonstrably impossible". 57 And that standard is certainly not met by mere hunches, even Kant's. The claim that, for better or worse, a law-governed world state is feasible today would probably be accepted by a majority of social theorists. There are traces of two further arguments. These do not aim to undermine the ideal of a world state as such, but rather concern the path of transition from a semi-juridical to a fully juridical state (cp. R 8045). The fourth argument asserts that this transition would, impermissibly, pass through a state of nature: The transfer of legislative power from each national to one global sovereign is different from any ordinary transition of sovereign authority (even, say, from monarchy to democracy), because it destroys the bonds of political union through which each united people has its distinctive identity.58 This problem could arguably be solved by conceiving the creation 56 57 58

Rechtslehre 350. Cf. Perpetual Peace 367/113. Theory and Practice 309 f./89. Cf. Rechtslehre 354 f. The national sovereigns (representing these unions - Rechtslehre 338/§ 51) also cannot remain in existence by jointly incorporating themselves under a meta-constitution in analogy to how persons in a state of nature can jointly incorporate themselves under a civil constitution. Kant had proposed this solution (Theory and Practice 312f./92), but then rejected it as contradictory (Perpetual Peace 354/102): A global constitution requires the creation of a world

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of a global sovereign on the model of immigration. But then it is not so obvious in any case whether Kant does, or we should, take too seriously the problem of a momentary relapse into a state of nature. The fifth argument is this: Within an already existing civil constitution there is a mechanism, for the authoritative determination of external right and wrong. It must then depend on that mechanism whether a people ought to incorporate itself with others under a cosmopolitan constitutions.59 — But this cannot work. Yes, the existing sovereign is the last court of appeal in this matter in foro externo, but it may still be true that the sovereign ought in foro interno to promote a world state. Or, if the sovereign ought to subject the people to whatever constitution they prefer, it may still be true that they ought to prefer a world state. 60 The preceding arguments contrast sharply with Kant's ringing endorsement of a world republic: "For states in their relation to each other, there cannot be any reasonable way out of their lawless condition which entails only war except that they, like individual human beings, should give up their savage (lawless) freedom, adjust themselves to public coercive laws, and thus establish a continuously growing international state (civitas gentium), which will ultimately include all the nations of the world. But under their idea of the law of nations they absolutely do not wish to do this, and so reject in practice what is correct in theory. If all is not to be lost, there can be, then, in place of the positive idea of a world republic, only the negative surrogate of an alliance which averts war, endures, and checks the force of that hostile inclination away from law, though such an alliance is in constant peril of its breaking loose again" {Perpetual Peace 357/105). This passage strikingly reveals the ironic quality of the essay: Kant proposes a federation of states which he himself considers a negative surrogate capable at best of engendering a fragile peace — while he holds back the positive idea of a world republic, the only fully rational organization of humankind and the only hope for a really stable peace. The passage also sug-

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sovereign, which would annihilate all national sovereigns and dissolve the underlying nations into a single people. There cannot be a world state of sovereign states on pains of there being competing last courts of appeal. I suspect this thought to be behind Kant's assertion that states have "outgrown the coercive right of others to subject them to a wider law-governed constitution" (Perpetual Peace 355 f./ 104). - Note that Kant makes the opposite claim two years later (Rechtslehre 350, 343): "the state of nature among nations, just like that among individuals, is a condition that should be abandoned in favour of entering a juridical state"; states must not remain in "the condition of natural freedom [but have] the right to compel each other to abandon this state of war [and thus must seek] a constitution that will establish an enduring peace". These two sentences are precisely analogous to what Kant would say about the goal of republicanism: In foro externo the existing sovereign decides whether this goal is to be promoted. Still, it is the morally correct ideal, and hence should be wanted by the people and thus be promoted by the sovereign.

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gests what may be the true reason for Kant's hesitations to advocate a (for now Utopian) world republic: A semi-juridical state (like fully juridical one) allows a great deal of room for moral improvement (or deterioration). Kant might then have thought it irresponsible to throw all his support behind reason's ultimate ideal of a world republic,61 given that there is also the ideal of a morally much improved semi-juridical state — an ideal not so overwhelmingly opposed by the powers that be. Promoting a pacific federation might in addition be the best way of bringing about the historical and cultural preconditions that would make possible an eventual transition to a world republic. {FP-2} & {MP} Secondary axis of progress {FP-1}: primary

world despotism ·

world republic

axis of

warring despotisms Schlichtung) regelt und subsumptive Aussagen nur als Darstellungsmodus verwendet. 2. Der Operationalismus hat wichtige praktische Auswirkungen nicht nur in der Praxis des Gerichtsverfahrens, sondern im gesamten Umgang mit kulturgebundenen Normen. Nur auf seiner Basis können in einer komplexen Welt Konflikte pragmatisch und flexibel ausgetragen werden. Damit ist er sogar Vorbedingung für die Erhaltung der Freiheit. Im gegebenen Rahmen können diese Gedanken allerdings nur skizzenhaft belegt werden.

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2. Normative Tendenzen Man geht gewöhnlich davon aus, daß moralische und rechtliche Konflikte anhand eines Fundus bereits bestehender Normen gelöst werden. Im konkreten Fall werden Tatbestände unter normativen Vorschriften subsumiert. Diese Subsumtion set2t voraus, daß die allgemeinen praktischen Begriffe ihrer jeweiligen Anwendung vorausgehen. Dies möchte ich die These der normativen Transzendenz nennen. Die Aufgabe der praktischen Philosophie läge dann darin, diese Normen zu begründen. Der ethische Realismus etwa versucht, die Normen als realen Bestandteil des Rechtsempfindens darzustellen. Damit wären ethische Normen in irgendeinem Sinn objektive Teile der Welt; sie zu mißachten wäre vergleichbar mit der Mißachtung einer sonstigen begrifflichen Norm. Der Relativismus verzichtet auf eine universelle Begründung von Normen und sucht seinen Heil in lokalen Normen, wie etwa dem Rechtsempfinden eines Volkes oder einer Gemeinschaft. Drittens versucht der Konstruktivismus seine Normen aus einer verallgemeinerbaren Prozedur abzuleiten. Die Normen sind dann solche Verhaltensregeln, die verfolgt werden müssen, wenn (zum Beispiel) eine Allgemeinheit von Akteuren ihre Ziele erreichen sollen. Der Konstruktivismus ist die klassische liberale Position. Seine deutlichste Ausprägung in den letzten Jahren fand er in Rawl's A Theory of Justice (Rawls 1971)1. Die Normen, die er in diesem Werk ableitet, sind diejenigen, die sich ergeben würden, wenn man rationale Akteure zwingt, einen Normenkodex unter Abstraktion von ihren eigenen konkreten Interessen aufzustellen. Nach diesem System am einfachsten abzuleiten sind solche Normen, wie zum Beispiel das Lügenverbot, die formelle und kalkülmäßige Widersprüche abwenden. Schwieriger sind jedoch Normen mit einem konkreten Inhalt wie etwa das Schadensverbot. Um das Problem in solchen Fällen auf den einfachsten Nenner zu bringen: Wer ist mein Nachbar? Wer ist der berechtigte Empfänger meiner Schutzpflichten?2 Angesichts solcher Schwierigkeiten sind in letzter Zeit immer mehr Moraltheoretiker auf die anderen beiden Positionen ausgewichen. Dazu zählt gewissermaßen auch Rawls selbst, der in seinen Schriften seit 1971 sich auf das Normenempfinden der ,westlichen Demokratie' beruft — also nicht allein auf universelle Verfahrensregeln, sondern auf das empirisch vorhandene

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Für die Zwecke dieser Ausführungen verstehe ich die Theorie der rationalen Wahl als .konstruktivistisch'. Mein Einwand gegen gängige Theorien der rationalen Wahl, wie ich an anderer Stelle dargestellt habe (Roberts 1994), richtet sich gegen ihren dogmatisch-individualistischen Begriff des Akteurs. Zu diesem Problem vgl. insbesondere O'Neill 1989, 2 1 3 ff.

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Empfinden einer konkreten Gemeinschaft. Dieses Thema hat in den USA bei,communitarians' eine willige Aufnahme gefunden 3 . Fraglich ist es jedoch, ob eine solche Position angesichts der heute weder aufkeimenden Kulturkonflikte, die sich immer häufiger in Zerstörung und Krieg entladen, befriedigen kann. Lokale, gemeinschaftsgebundene Normen wirken bei zwischengemeinschaftlichen Konflikten eher verschärfend auf Spannung und Haß. Die These des absoluten Normenpluralismus ist in der konkreten Welt entweder naiv, oder (wie im Falle der Nationalsozialisten im Verhältnis zu den Juden) ein verlogener Euphemismus. Angesichts der Unzulänglichkeiten des einfachen Relativismus scheinen neuere Überlegungen sich wieder einer Spielart des Realismus zu nähern. Ich erwähne hier O'Neill 1989, die füir eine Neubelebung des karitativen Prinzips plädiert (das sie allerdings .konstruktivistisch' abzuleiten vorgibt), oder Höffe 1990, der sich für eine Rückkehr zu .kategorischen' Rechtsprinzipien ausspricht. Ich will diese Ansätze hier jedoch nicht besprechen, und begnüge mich mit der Bemerkung, daß die Begründung allgemeiner realer Normen nach wie vor problematisch bleibt, solange man ohne Rückgriffe auf die Theologie auskommen will.

3. Operation und Norm Konventionellen Ansätzen ist die These der normativen Präexistenz gemein; sie unterscheiden sich nur darin, wie der jeweilige Kodex zu begründen sei. Zwischen konkurrierenden Kodizes zu vermitteln bereitet ihnen jedoch allen große Schwierigkeiten. In diesem Aufsatz skizzieren wir eine operative Auffassung der Normativität und verweisen auf seine Vorteile innerhalb einer moralisch und rechtlich zerrissenen Welt. Es handelt sich um eine Radikalisierung des von Rawls und anderen aufgerufenen .Konstruktivismus' in einer Form, die seinem Gebrauch in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie näher entspricht4. Der Grundgedanke ist folgender: ,konstruieren' lassen sich nur Verfahrensnormen, die per se inhaltsleer sind. Darüber hinaus sind alle inhaltlichen Normen legitim, sofern sie Die Diskussionen im deutschsprachigen Raum greifen parallele Themen auf. Wichtig ist vor allem die Debatte über konstruktive .Letztbegründungen' ethischer Normen, wie sie von Vertretern der Erlanger Schule und von J. Habermas unternommen wurden. Eine Übersicht über diese Ansätze bietet Gethmann 1992. Vgl. auch Roberts 1992, Kap. 5. Vgl. dazu Rawls selbst, der sein eigenes Projekt von konstruktivistischen Ansätzen in der Philosophie der Mathematik und in Kants Transzendentalismus explizit distanziert (Rawls 1989, 98).

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sich den Verfahrensnormen beugen. U m das E n t s t e h e n u n d Aufeinanderprallen

von inhaltlich widersprüchlichen Normen nachzuvollziehen, bedient man sich der Konstruktion nicht um fertige Inhalte abzuleiten, sondern um einen geregelten Schlagabtausch zu ermöglichen. Ich nehme das kantische Bild des Vernunfttribunals beim Wort und verfolge, inwiefern normative Verbindlichkeit sich aus der Dynamik des gegnerischen Räsonnierens ergibt. Im mathematischen Konstruktivismus ist der Gedanke, daß die Allgemeinheit einzig im Verfahren liegt, an mehreren Stellen schon entwickelt worden. Das zeigt sich im intuitionistischen Prinzip, daß mathematische Wahrheit mit dem Vorliegen eines .effektiven Verfahrens' gleichzusetzen ist. Modellierungen dieses Prinzips ergeben sich unter anderem in Gentzens System des .natürlichen' Schließens, sowie in der .dialogischen' Begründung der Logik durch die Erlanger Schule. Für die praktische Philosophie reichen diese Ansätze allerdings allein nicht aus. Dort läßt sich die Arithmetik zwar als reine Verfahrenslehre rekonstruieren; hier geht es aber gerade auch um die Inhalte und ihre Legitimation. Die reine Verfahrenslehre bestimmt, wie einmal angenommene Inhalte (empirische Daten, zum Beispiel) im Kalkül manipuliert werden. In der Moral verlangt man aber auch Regeln dafür, wie ein Inhalt überhaupt zu einem solchen wird. Dieses Defizit wird von Konstruktivisten nicht übersehen; aber meistens wird der moralische Inhalt lediglich stipulativ eingeführt, was den Konstruktionsgedanken zunichte macht. Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl das Verallgemeinerungsprinzip bzw. der Symmetriegedanke: was ich für mich selbst verlange, muß ich ,logischerweise' auch für andere verlangen. Dieses Prinzip ist aus seinen verschiedentüchen Ausformungen bei Kant, Rawls, Apel, Habermas und den Erlanger Konstruktivisten, um nur einige zu nennen, bekannt genug. Neben der klassischen konstruktivistischen Position, die ihr moralisches Grundprinzip .transzendental' einzuführen trachtet, sehen sich auch Vertreter der Theorie der rationalen Wahl immer mehr dazu gedrängt, altruistische oder nicht-ausbeuterische Prinzipien quasi unter der Hand zu stipulieren; als Beispiel nenne ich Gauthiers angeblich Hobbessche Ethik (Gauthier 1986; vgl. insbesondere die These des ,proviso' — S. 209 f). Unsere Radikalisierung von Rawls besteht nun darin, daß wir auf der von ihm so genannten ,reinen Verfahrensgerechtigkeit' bestehen. Das bedeutet: a) wir verzichten soweit möglich auf Grundwerte, Grundüberzeugungen und Urzustände sowie auf alle altruistischen Anthropologien; und b) wir beschränken uns auf eine rein empirisch-deskriptive Voraussetzung, nämlich, daß alle zwischenmenschlich geltenden Regeln sich aus konfliktuösen Handlungen ergeben. Im einzelnen: Bekanntlich unterscheidet Rawls zwischen reiner und vollkommener Verfahrensgerechtigkeit. Reine Verfahrensgerechtigkeit wäre eine Prozedur, die sich an a) hält, indem ,gerecht' äquivalent ist mit .Ergebnis dieses

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Verfahrens', und b) zumindest nicht ausgeschlossen wird. Das Verfahren selbst begründet und gewährleistet die Gerechtigkeit. Vollkommene Verfahrensgerechtigkeit andererseits ist ein Verfahren, das gerechte Ergebnisse zwar herbeiführt, aber nicht selbst das Kriterium für sie bietet. Rawls' Beispiel für reine Verfahrensgerechtigkeit ist das Glücksspiel; für vollkommene Verfahrensgerechtigkeit führt er die Tortenteilungsprozedur an (derjenige, der die Torte aufteilt, darf erst als letzter die eigene Portion wählen). Beide Verfahren ergeben ,faire' Lösungen, über die man sich nicht beklagen darf. Dies jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Der Glücksspieler kann sich nicht beklagen, weil das Spiel gerade darin besteht, daß man sich bestimmten Unberechenbarkeiten aussetzt; ,Fairneß' erschöpft sich im Ablauf des Spiels selbst. Für den Tortenverteiler sieht die Sache jedoch anders aus: das Kriterium der Gerechtigkeit (möglichst gleichmäßige Verteilung) steht bereits außerhalb des Verfahrens fest; die Stärke des Verfahrens beruht lediglich darin, daß es dieses Kriterium mehr oder weniger vollständig erfüllt. Reine Verfahrensgerechtigkeit ist also verfahrensimmanent; vollkommene ist verfahrenstranszendent. .Konstruktivistisch' gesehen wäre der reinen Verfahrensgerechtigkeit eigentlich der Vorzug zu geben. In der praktischen Ausführung seines Systems verlegt sich Rawls allerdings auf die vollkommene (indem er anhand des Urzustandes seine Grundprinzipien einführt). Das von ihm gewählte Beispiel für reine Verfahrensgerechtigkeit — das Glücksspiel — unterstreicht auch seine Zweifel gegenüber der Durchführbarkeit des immanenten Weges. Wir wollen jedoch an der reinen Verfahrensgerechtigkeit festhalten. Das bedeutet folgende Erweiterungen von a) und b), oben: Prinzip der Immanenz und der Eindeutigkeit. Gerechtigkeitswirksame Verfahren sind unabhängig von transzendenten Regeln und eindeutig im Ergebnis. Grundsätzlich ist jedes Verfahren, d. h. jede zur Gerechtigkeit führende Transformation, ohne präexistente Regeln. Die einzige Vorbedingung ist der bereits oben genannte Punkt, daß nur aus konfliktuösen Handlungen ergangene Entscheidungen für die Gerechtigkeit relevant sind. Dagegen sind etwa Naturkatastrophen oder liebevolle Eintracht normativ belanglos. Denn: die Natur handelt nicht, und Eintracht ist nicht konfliktuös (obwohl sie selbstverständlich in bezug auf mögliche Konflikte durchaus moralisch gehaltvoll sein könnte). Andererseits sind Aufruhr, Krieg, Mord und Totschlag (zumindest potentiell) gerechtigkeitsbewirkende Transformationen. Auch sie erreichen praxisleitende Entscheidungen. ,Land A ist militärisch stärker als Land B' ist eine solche, und zwar mit der wesentlichen praktischen Eigenschaft, daß sie eindeutig ist.

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Kriege, Duelle und andere mit brachialer Gewalt ausgetragene Streitigkeiten haben, wie das Glücksspiel und sportliche Wettkämpfe, die Eigenschaft, daß der Aufruf einer höheren Instanz ausgeschlossen ist. Der einmal festgelegte Rahmen der Entscheidung kann nicht gesprengt werden, und muß eine eindeutige Entscheidung hervorbringen. Wenn zum Beispiel Land A mit Land Β einen Krieg anfangt, dann gibt es keine Umkehr, die nicht einer Niederlage gleichkäme. Wer sich von vornherein auf einen bestimmten Rahmen festgelegt hat, der kann ihn nur dann verlassen, indem er praktisch damit die Niederlage zugibt. Letzteres ist ebenso der Fall bei sportlichen oder spielerischen Wettkämpfen: wenn ich beim Schachspiel gegen die Regeln verstoße oder sonst irgendwie ,aussteige', habe ich für die Zwecke dieses Spieles schlicht verloren. Das heißt: wenn zwei sich auf ein konfliktuöses, gerechtigkeitswirksames Verfahren eingelassen haben, muß der Ausgang eindeutig sein, solange nicht beide auf das Verfahren verzichten. Prin2ip der Kräfteerhaltung (Festhalten an ergangene Entschei-

dungen; jHobbes-Prinzip'). Es hat wenig Sinn über etwas zu streiten, worüber man sich in einem gleich gelagerten Fall im gleichen ,Spielrahmen' bereits gestritten hat. Dieses pragmatische Prinzip ist fundamental für das Entstehen von Normenstrukturen. Einzelkonflikte werden binär .abgehakt'; übergeordnete Normen entstehen, indem verbleibende, systembestimmte Konflikte später und unter möglichst vollständiger Bäbehaltung früherer Entscheidungen gefallt werden. Im gewissen Sinne bilden Normenstrukturen also einen Beth-Baum. Dies ist bei der Präjudizlehre des Common Law offensichtlich. Auf symbolischer, ritueller Ebene wiederholt sich der gleiche Vorgang immer wieder in sportlichen Wettkämpfen (A schlägt B, C schlägt D; in der zweiten Runde spielt A gegen C, wobei die Gültigkeit der ersten Runde stillschweigend vorausgesetzt wird). Daß konfliktuöse Handlungen mit Normen operieren, bedeutet nicht die Unterwerfung unter Normen als solchen, sondern den vernünftigen Versuch, Konfliktbereiche möglichst einzugrenzen. Dies ist eine Anwendung von Hobbes' Erklärung der Souveränität: die Gemeinschaft instauriert einen Monarchen und gehorcht seinen Befehlen nicht deswegen, weil diese transzendente Normen sind, sondern weil sie das Feld kämpferischer Auseinandersetzungen möglichst begrenzen will, und den Aufwand für Entscheidungen effizient einsetzen will. Der Souverän ist nach dieser Auffassung also nicht der mit direktem Zugang zu den Quellen der Gerechtigkeit ausgestattete Vikar Gottes (wie es nach der platonisch-kanonistischen Rechtsauffassung erscheinen könnte). Er ist lediglich der Hüter des Bestandes bereits entschiedener Streitigkeiten. Sich im gegebenen Fall an diesen Bestand halten ist, insofern die Gemeinschaft eine entsprechende Ordnungsstufe erreicht hat, für

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den Einzelnen die einzige Gewähr dafür, daß andere auch gezwungen werden können, sich daran zu halten. Zusammenfassend stellen wir fest:,Normen' beziehen sich auf exemplarische Kampfentscheidungen. Die Logik ihrer Anwendung ist nicht subsumierend (Tatsachen werden einem feststehenden begrifflichen Gerüst zugeordnet), sondern narrativ-vergleichend (vergangene Streitigkeiten werden mit dem vorliegenden verglichen; unbestreitbare Ähnlichkeiten zwingen zumindest in dem Punkt zur Übernahme der früheren Entscheidung). Vergangene Entscheidungen bestimmen die Praxis jedoch nur, insofern sie nach den Regeln eines Kampfes entstanden sind. Im bürgerlichen Leben beziehen sich so gut wie keine aufrufbaren normativen Prinzipien auf physische Kampfhandlungen (anders allerdings in der internationalen Politik!). Insbesondere deswegen sind Verfahrensprinzipien notwendig, die etwa in Gerichtsstreitigkeiten dem ,Kampf-Prinzip seine charakteristische Eindeutigkeit und Immanenz erhalten. Auf diese wollen wir nun kurz eingehen.

4. ,Kampf Ein Kampf ist ein Streit, der inhaltlich umgrenzt ist und öffentlich bezeugt wird 5 . Das erfordert, minimal: 1) Drei Teilnehmer (zwei Kontrahenten, ein Zeuge), und 2) die Möglichkeit zu entscheiden, wer gewonnen hat (inhaltliche Umgrenzung). Bildlich können wir sagen: Ein Vulkanausbruch oder das Eindringen von Flüchtlingen in eine fremde Stadt bringen Konflikte mit sich. Die Beteiligten sind einander bestens indifferent; eine ,Lösung' bietet sich nur an, indem die Konfliktquelle versiegt. Ganz anders ein Kampf. Im Fußballspiel toben auch Haß und Ablehnung; aber jede Seite ist auf die andere angewiesen, denn ohne Gegner hat das ,Gewinnen' keine Bedeutung. Ohne auf die Vorgeschichte dieses Gedankens einzugehen, begnügen wir uns an dieser Stelle mit einem Hinweis auf die zentrale Rolle des Kampfes bei Hegel und stellen fest, daß diese Problematik in der aktuellen Diskussion weiter thematisiert wird (etwa in Honneth 1992). Unerläßlich ist es jedoch zu betonen, daß der Gedanke des Kampfes keine anthropologische Behauptung ist, und erst recht nicht so zu verstehen ist, als beinhalte sie einen Pathos des Kriegerischen (wie etwa bei Carl Schmitt oder Der Gegensatz zwischen Konflikt und K a m p f deckt sich mit dem Kantischen Begriffspaar Streit und Krieg; Der Streit der Fakultäten, A A VII, 35.

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Ernst Jünger). Kampf bedeutet in unserem Zusammenhang nichts mehr als intersubjektive Normenbildung und Wahrheitsfindung. In dem Sinne aber — daß also der praktische Einsatz fur jede noch so wissenschaftlich-abstrakte Wahrheitsfindung wesentlich ist — ist er ein allgemeines Verfahren. Das Prinzip des Kampfes ist nicht lediglich moraltheoretisch aufzufassen, sondern ist eine Modellierung des Wahrheitsbegriffes überhaupt6.

5. Regeln des Kampfes 5.1. Inquisition und formula Wir wenden uns nun den Regeln des Kampfes zu. Um unseren Grundgedanken zu verdeutlichen, ist es wichtig zu erinnern, daß die Rechtspraxis von unterschiedlichen Verfahrensbegriffen geprägt ist. Es gibt richterzentrierte Verfahren und es gibt parteienzentrierte. Im richterzentrierten Verfahren obliegt es dem Richter, die (prozeßunabhängige) ,Wahrheit' zu erkennen und die entsprechende Norm anzuwenden. Dabei ist er grundsätzlich aktiv: Er organisiert die Beweisführung und die Rechtsnormen, die angewendet werden, entstammen seiner Kenntnis. Dies ist der inquisitorische Verfahrensbegriff; der Richter, als Inquisitor, ist sowohl privilegiertes Subjekt der Erkenntnis wie auch Pastor, und die Rolle der anderen Beteiligten richtet sich nach dem liturgischen Bild hilfsbedürftiger und irrender Sünder. Im formularischen Verfahrensprinzip ist der Richter dagegen grundsätzlich passiv7. Mit ihrer .formula' bestimmen die Parteien selbst, welches Spiel sie spielen wollen, und wie. Die eigentliche Aufgabe des Richters beginnt erst nach Ablauf des .Spiels'; er gewährleistet, daß sein Ausgang anerkannt und durchgesetzt wird. Seine Rolle ist vergleichbar mit der des Schiedsrichters im Tennis. Von ihm wird nicht erwartet, den Kontrahenten Unterricht im Tennisspielen zu erteilen; er wacht darüber, daß die Regeln eingehalten werden, und verkündet schließlich das Ergebnis an die Öffentlichkeit. In diesem Verfahren verfügt der Richter nur über die allgemeinen Verständigungsmöglichkeiten; er ist kein Spezialist. Im formularischen Verfahren darf der Richter Laie sein.

Dies war bereits der Zweck von Hegels Ausführungen in Kapitel IV der Phänomenologie des Geistes. Obwohl bereits bei Kant der wissenschaftliche Wahrheitsbegriff (.Verstand") von der Praxis (.Vernunft") umrahmt war, blieb die Beziehung zwischen den beiden unklar. Erst mit Hegels dynamisch-konstruktiver Ableitung der Verstandeskategorien wurde ein Ansatz gemacht, sie zu verdeutlichen. Ausfuhrlicher hierzu Roberts 1988, Kap. 2. Zur Terminologie ¿nquisitio' und .formula' siehe Pollock & Maitland 1968. In neueren Diskussionen ist der Gegensatz auch unter dem Begriffspaar .inquisitional' und .adversarial' bekannt.

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Für uns ist das formularische System interessant, weil es konstruktivistisch vorgeht. Vorausgesetzt werden nur die Verfahrensregeln: der Inhalt, der im Prozeß .erkämpft' wird, unterliegt nur diesen. Darüber hinaus gibt es weder Normen noch .objektive Wahrheiten', die als transzendente oder überhistorische Gegebenheiten das Verfahren bestimmen würden. Das angelsächsische Rechtssystem ist rein formularisch; die inquisitorischen Prinzipien, die im späten Mittelalter auf dem Kontinent aufkamen, haben die Insel nie erreicht 8 . Das deutsche System andererseits ist, zumindest außerhalb der Reichweite der ZPO, stark vom inquisitorischen Gedanken beeinflußt. In ihm leben allerdings die gegensätzlichen Prinzipien als .Verhandlungsgrundsatz' und .Untersuchungsgrundsatz' nebeneinander fort. 5.2. Bestandteile des Verfahrens Die Bestandteile des Verfahrens sind: Wette, Prozeß und Vollstreckung. 5.2.1. Wette Wesentlich für eine dynamische Ableitung der Normenhafügkeit ist, daß nicht vom Phänomen des Eigeninteresses abstrahiert wird. Darin unterscheidet sich dieser Ansatz gleich am Anfang etwa von dem Rawlsschen 9 . Ausgelöst wird der Rechtskampf durch das Bestehen eines konkreten Interesses, oder, besser, durch den Widerspruch zweier Interessen. Ohne einen mit praktischen Folgen versehenen Widerspruch soll kein gerichtlicher Streit entstehen. Das Gericht ist nicht dazu da, um abstrakte Normen zu verkünden. Seine Funktion ist, einen praktischen Erfolg durchzusetzen (bzw. zu verwehren). Konkret gesprochen: der Kläger muß sich auf eine Leistungsklage fesdegen. Wenn er keine praktische Leistung verlangt, dann ist es ihm nur in Ausnahmefallen erlaubt, eine Feststellungsklage zu erheben (§ 246 ZPO). Zum Beispiel: der mit seinem Nachbarn zerstrittene Kläger soll ein konkretes Tun oder Unterlassen beantragen. Es ist keine Sache des Gerichts, den Gegner lediglich verbal zu verdammen. Der Gedanke, daß der Richter zunächst nur Zuschauer ist bei einem Kampf, für den sich die Parteien entschieden haben und den sie austragen sollen, ist ein leitendes Prinzip gerichtlicher Praxis unter dem Common Law. Insbesondere wird das Bild von Gladiatoren in einem Kampf-,Arena' immer wieder verwendet, um das grundsätzliche Verbot einer Einmischung des Richters zu erhärten. (Vgl. die neuerliche Entscheidung R ν Whybrow and Saunders [1994] NLJ 124 sowie die darin zitierten Fälle.) Der ebenfalls häufig angeführte Vergleich eines sportlichen Wettkampfes, wonach der Richter den Schiedsrichter (,umpire") spielt, geht auf eine klassische Stelle bei Frederick Maitland zurück (Pollock & Maidand 1968, II 670 f). Die wesentlichen Eigenschaften des Richters nach diesem Verfahrensprinzip wurden bereits von Hobbes in Kap. 26 des Leviathan erläutert (Hobbes 1968, insb. 327 f). Sie unterscheidet sich darin auch von einer Diskursethik Habermasscher Prägung. Die Ausgangsposition der Streitenden ist gerade nicht .zwanglos', die vorliegende Kommunikation eben nicht störungsfrei.

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Der Kläger muß ferner nicht nur eine konkrete Leistung verlangen, sondern auch ein unmittelbares Eigeninteresse vorweisen können (Legitimation und Prozeßstandschaft; im englischen Recht,locus standi*). Im engeren Sinn: der Kläger muß eine eigene Betroffenheit, etwa einen bezifferten Schaden nachweisen können. Moralisches Entrüsten begründet keine Prozeßlegitimation. Ein privater englischer Bürger hatte zum Beispiel kein locus standi, einen Streik für widerrechtlich erklären zu lassen {Gouriet ν Union of Post Office Workers). In einem neuerlichen Fall hatte der unverheiratete Vater, der kein Verhältnis mehr zur Freundin hatte und aus eher religiösen Gründen handelte, kein locus standi, den Schwangerschaftsabbruch seiner Freundin zu verhindern. Es ist nicht Sache des einzelnen Klägers, öffentliche Normen durch die Gerichte verkünden zu lassen 10 . Im weiteren Sinn ist der Kampf immer eine Wette — ein Spiel, wo durchaus mit Verlust gerechnet werden muß. Vorbedingung des Entstehens eines .selbständigen Selbstbewußtseins' (das seinerseits den gesamten Raum der Wahrheit und der Vernunft bedingt) war bereits für Hegel das ,Daransetzen des Lebens', der ,Kampf auf Leben und Tod' 11 . Und der frühere ,trial by combat' wurde im englischen Recht mit dem ,wager' eingeleitet12. Selbst für den Rechtsschutzversicherten bleibt der Rechtsstreit sowohl mit Risiken als auch mit materiellem und persönlichem Einsatz verbunden. Die Kosten des zivilen Rechtsstreits wird auch der erfolgreiche Kläger meistens bis zu einem gewissen Grad selbst tragen müssen. Gegen strafrechtliche Haftung kann man sich grundsätzlich nicht versichern. Die bei Gerichts Streitigkeiten verlorene Zeit und Seelenruhe ist sowieso nie zu ersetzen. Mit anderen Worten: der Rechtsstreit ist immer mehr als nur eine mechanische restitutio in integrum. Er ist eine persönliche Verausgabung im Zuge einer Wahrheitsfindung. Wem an einer solchen nichts liegt, ist fast immer besser beraten, sich dem Gerichtsstreit fernzuhalten. Dieses Uber-sich-selbsthinausgehen ist allerdings auch ein bezeichnendes Element am politischen und geistig-ideologischen Kampf. In diesen Tätigkeiten verbürgt gerade das Risiko — vom Abgewähltwerden, vom Scheitern, von Mißachtung und Armut — , daß etwas wichtiges verhandelt wird. Nicht zuletzt basiert auch der wissenschaftliche Streit auf konkreten Interessenskonflikten. 5.2.2. Entscheidungsverfahren: Quantität und Kommensurabilität Im Prozeß entscheidet sich der Streit. Nach dem Verhandlungsgrundsatz ist dies eine Entscheidung, die sich von selbst bzw. mechanisch ergibt. Das spezielle Verfahren ist ein quantitatives Aufwiegen: jeder Kontrahent gewinnt dort, wo der Gegner nicht widersprechen kann. Explizit wird dieses Prinzip 10 11 12

Generell, vgl. Wade 1988, Kap. 19. Hegel 1 9 6 9 - 7 1 , III 149. Vgl. etwa Pollock & Maidand 1968, II 634.

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nur auf tatsächlich unbestrittene Vorbringungen angewandt (etwa § 138 ZPO: .Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, sind als zugestanden anzusehen ...'); implizit ist es jedoch der Hintergrund des ganzen formularischen Vorgehens. Die formula bestimmt, in welchem Rahmen eine Glaubhaftmachung zu vollbringen ist; danach ist der Ausgang einem schlichten quantifikatorischen Maß überlassen. (Man könnte es mit einem Rennen vergleichen. Dort besagt die ,formula', lauft möglichst schnell von hier bis dort. Der Ausgang bestimmt sich dann alleine nach dem quantifikatorischen Verhältnis der Teilnehmerleistungen.) Die genaue Gewichtung der Beweismaterialien ist in der Praxis nicht einfach, jedoch richtet sie sich grundsätzlich nach dem Gedanken der Quantität. Ein Augenzeuge zählt mehr als ein Bericht nach Hörensagen, weil der Augenzeuge unendlich mehr von einem Vorfall erzählen könnte (auch wenn er zur Kernfrage nicht mehr sagen kann). Aus diesem Prinzip der formularischen Entscheidung oder der Entscheidung nach Quantität folgt das Prinzip der Kommensurabilität. Damit das Übergewicht der einen oder anderen Partei sich sozusagen von selbst zeigt, müssen ihre Leistungen und ,Waffen' strikt kommensurabel sein. Der formularische Gedanke verlangt, daß die Parteien sich von vornherein auf eine bestimmte Art des Kampfes einlassen. Ein Tennisschläger wird in einem Wetdauf nicht zu gebrauchen sein. Das leitende Prinzip ist die Mündlichkeit (vgl. § 128 ZPO). Alles, was vorgebracht wird, ist vermittelt durch die mündlichen Aussagen der Parteien vor Gericht. Selbst Gegenstände, Schriften oder Dokumente werden in mündliche Rede übersetzt. Der Göttin Justizia auf dem Old Bailey in London sind die Augen verbunden, weil sie sich ausschließlich auf ihr Gehör verläßt. Folglich hat das Gericht keinen Zugang zu unmittelbaren Fakten. Konstruktiv gesehen gibt es auch keine solchen: Faktum ist schlicht nur das, was sich nach der Gegenüberstellung der Aussagen bewährt. Im formularischen Verfahren spielt der Augenscheinbeweis so gut wie keine Rolle. (Der von der ZPO zugelassene Augenscheinbeweis muß gewissermaßen als Derogation vom Mündlichkeitsprinzip gesehen werden.) Verallgemeinernd würden wir sagen: Es gibt keine unmittelbaren Wahrheiten, nur bewährte Zeugenaussagen. Dementsprechend wird auch das Verhältnis zu Rechtsnormen im formularischen Verfahren anders gefaßt. Absolute Rechtsnormen gibt es genausowenig wie unmittelbare Fakten. Bereits existierende Entscheidungen sind verbindlich in genau demselben Sinne wie bewährte Tatsachenzeugnisse: sie werden als noch-nicht-effektiv-widersprochen aufgefaßt. Gesetze, Gerichtsentscheidungen und ähnliche Normen sind nicht qualitativ anders als zugestandene Tatsachen: sie sind lediglich Bestandteile des vorläufig gegebenen ,Wissens' des Gerichts. Dies ist aber ein geschichtlicher und demgemäß wandelbarer Zustand, keine Sache der absoluten Geltung. (Zugestandene Tatsachen

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und in der Verhandlung geltend gemachte Rechtsnormen ergeben zusammen einen einheitlichen Wissenszustand, der mit den Wissenszuständen — Stadien' — der intuitionistischen Forschungslogik vergleichbar ist 13 . Dem Stadium ist es u. A. wesentlich, daß seine Inhalte bei Bedarf revidiert werden können.) Zuletzt ergibt sich aus dem formularischen Prinzip der Quantität der Gedanke der Entscheidungsimmanen$ Dies ist die Grundlage für die bereits erwähnte Passivität des Richters bei dieser Verfahrensart. In einem englischen Verfahren ist es zumindest prinzipiell möglich, daß ein Richter sich während des gesamten Verfahrens bis zur Urteilsverkündung auf reine Höflichkeitsäußerungen beschränkt und bei Bedarf Bestimmungen zum Ablauf (Zeitpunkt des Vertagens usw.) äußert. Am Anfang des Rechtsstreits ist der Richter ein unbeschriebenes Blatt. Was dann schließlich auf das Blatt geschrieben wird, ergibt sich in einer von ihm weder eingeleiteten noch entwickelten Verhandlung. Grundsätzlich wichtig ist, daß der Richter nicht nur keine Tatsachenkenntnisse mit sich bringt, sondern daß er auch keine eigenen Rechtskenntnisse importiert (was bereits Hobbes betonte — Leviathan Kap. 26). Dies liegt im Widerspruch zum inquisitorischen Prinzip, wo sowohl eigene Tatsachenermittlung (etwa der Augenscheinbeweis) wie auch Normenanwendung (,iura novit curia*) die eigentliche Rolle des Gerichts prägen. Formalistisch gesehen beruhen jedoch beide Bestandteile der Entscheidung auf dem Vorbringen der Parteien. Die Nichtintervention des Richters prägt den Prozeßverlauf. Grundsätzlich gilt: Alle Entscheidungen irgendwelcher Art werden mit dem Gegner ausgehandelt, nie mit dem Richter. Er betritt den Gerichtssaal als unbeschriebenes Blatt, ohne sich vorweg mit dem Fall beschäftigt zu haben. Er bewahrt eine Distanz, die für Laien auf Anonymität hinausläuft (u. a. durch das Tragen der Perücke). Auftritte von Richtern in den Medien sind verpönt. All dies nicht um die Macht zu mystifizieren (entsprechende Regeln gelten auch für Laienrichter und für Geschworene), sondern um zumindest symbolisch das operative Prinzip zu untermauern. Der ,Kampf soll von den Kämpfenden entschieden werden. 5.2.3. Konkretion Im Rechtsstreit unterwerfen die Parteien ihre konkreten Interessen einem abstrakten Wettkampf. Die Allgemeinheit, die sich im Prinzip der quantitativen Vergleichung zeigt, ist von den Parteien hergestellt und gewollt. Sie bleibt jedoch nur ein Mittel: Zweck ist die Wiederkehr in eine weiter ausgebildete konkrete Situation. Als Widerpart der anfänglich eingegangenen Wette erscheint die sich am Schluß ergebende Veränderung. 13

Vgl. hierzu Grzygorczyk 1964; allgemeiner auch Roberts 1992, 248.

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Diese Konkretion zeigt sich an zwei Punkten. Erstens ist es für das Gericht wesentlich, seine Erkenntnisse und Entscheidungen in die Tat umsetzen zu können. Hier entwickelt sich erst seine aktive Funktion. Die beiden Kontrahenten vor Gericht zeichnen sich dadurch aus, daß sie fáhig und willens sind, eine Wette einzugehen. Der dritte Teilnehmer, das Gericht selbst, hat als unumgängliche positive Eigenschaft die Macht. Im Prozeßrecht zeigt sich diese Macht in den Vorrichtungen zur Zwangsvollstreckung, die zum Beispiel einen wesentlichen Teil des ZPO ausmachen. Diese umfassen alle möglichen Arten des Zwangs bis hin zur physischen Gewaltanwendung (Haft). Prinzipiell ist die rein physische Macht jedoch nicht mit der Konkretion einer Kampfentscheidung gleichzusetzen. Diese Konkretion besteht im wesentlichen nur darin, daß ein Wissenszustand für alle in diesem Forum nachfolgenden Kampfhandlungen verbindlich wird. Ein einmal erreichtes Erkenntnisstadium wird zu einer unbestreitbaren Tatsache, sowohl für das jeweils erkennende Gericht (,Das Gericht ist an die Entscheidung, die in den von ihm erlassenen End- und Zwischenurteilen enthalten ist, gebunden', §318 ZPO) als auch für andere Gerichte im Wege der Präzedenzwirkung. Dies ist jedoch von der Selbstbindung im generellen Sinn zu unterscheiden. Ein höchstes Gericht kann sich prinzipiell nicht binden. Insgesamt sind Entscheidungen lediglich Feststellungen, wer von zwei Kontrahenten gewonnen hat; und davon kann das erkennende Gericht nicht mehr abweichen. Für einen neuen Streit jedoch bindet nur das, was nicht wirksam zum Zeitpunkt des neuen Streites bestritten werden kann. Die Präjudizwirkung, obwohl wesentliche Leitlinie, ist letztendlich nur eine Verwaltungsmaßnahme; und das höhere, der Präjudizwirkung nicht unterworfene Gericht kann sie ablehnen. Das Gericht verkündet keine eigenen Normen; es entscheidet lediglich zwischen denen, die von den Parteien vorgelegt werden. Die Entscheidung steht also nicht für alle Zeiten fest. Sie kann entweder durch die Entscheidung eines übergeordneten Gerichts überholt werden — insbesondere etwa wenn das Parlament, das im englischen System das höchste Gericht darstellt, ein neues Gesetz verabschiedet. Oder die Entscheidung kann durch die sich ändernden Tatsachen des Lebens relativiert werden. Wissenszustände werden konstruktivistisch gesehen nie ,vergessen'; aber sie können ihre Relevanz verlieren. Obwohl eigene vorige Entscheidungen bindend sind, heißt dies nicht, daß ausschließlich die eigenen zu berücksichtigen sind. Gewohnheitsrecht und ausländisches Recht sind ebenso als Normquellen zu berücksichtigen (vgl. § 293 ZPO). Wichtig ist, daß die inhaltliche Bindung unmittelbar eintritt. Prinzipiell wehren sich die Gerichte dagegen, den einmal getroffenen Tatsachenbefund zu überprüfen. Die Revision, die eher als die Berufung als das paradigmatische Rechtsmittel anzusehen ist, beschränkt sich auf Verfahrensfehler. Einmal ausgekämpfte Tatsachenentscheidungen sind Fakten; anfechten lassen sie sich

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höchstens dann, wenn formelle Verfahrens fehler dazu fuhren, daß sie nicht als Entscheidungen angesehen werden können.

6. Korollaria 6.1. Moral und Wahrheit Im Grundsatz verstehen sich unsere Überlegungen weder im engeren Sinne als ,Rechtsphilosophie' noch als Moraltheorie. Sie sind metaphysisch, indem sie sich auf die gemeinsame Wurzel von Verstand und Moral richten. An das prozeßtheoretische Modell knüpft sich zunächst die Hoffnung, daß der konstruktivistische Anspruch, Wahrheitsansprüche auf Verfahrensprinzipien zu gründen, sich erfüllen läßt. Wenn gezeigt werden kann, daß solche Verfahrensprinzipien in einem intersubjektiven Raum eingebettet sind, dann bewährt sich damit auch das implizit kantische Prinzip, daß ,Verstand' letztendlich von ,Vernunft' geleitet werden muß. Somit wäre die Praxis eine Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und Erfahrung überhaupt; und daraus folgt die Allgemeinverbindlichkeit der praktischen Verfahrensregeln, die man im weitesten Sinne als Moral bezeichnen kann. Bisher fehlte uns, wie bereits angedeutet, eine adäquate Deduktion dieser Verfahrensprinzipien. In der ,konstruktivistischen' Ethik selbst war man bisher zu sehr darauf bedacht einen festen Bestand an fixen Normen herzuleiten. Dies läge im Widerspruch zur eigentlichen Tendenz des Konstruktivismus. In der Logik hat man die Syntax in vielen Aspekten dynamisch aufgelokkert, ohne jedoch den semantischen Sinn dieser Dynamik überzeugend festlegen zu können 14 . Der weitestgehende Versuch ist die dialogtheoretische Interpretation der Erlanger Schule; in diesem Fall ist die ,Semantik' (des Dialogs) so abstrakt gehalten, daß sie kaum mehr als ein Wunschprogramm liefern kann. Der Beitrag des prozeßtheoretischen Modells ist, daß der Auslöser des Dialogs und der Bewährungsprozeß der elementaren Wahrheiten identifiziert wird mit der Folge, daß der Dialog aus dem abstrakten Bereich des ,Spiels' herausgehoben wird 15 . Das hierzu erforderliche allgemeine Prinzip des 14 15

Vgl. van Benthem 1988; Metsehl 1992. Das Prozeßrecht kann natürlich als Spiel im Sinne der Spieltheorie gesehen werden. Es ist aber ein sehr einfaches Spiel: es hat nur zwei Ausgänge; die ,Spielhandlung' selbst ist sehr einfach (quantitatives Überrumpeln des Gegners); und das Ziel ist nicht taktisch (unmittelbar nutzenmaximierend) sondern deklaratorisch. Sein Interesse liegt weniger in seinen kalkulatorischen Eigenschaften, eher in der .Bedingung der Möglichkeit' eines sinnvollen Streites überhaupt. Mit anderen Worten: Prozeßtheorie beschäftigt sich mit Begründungsfragen, Entscheidungstheorie mit deren Ausarbeitung. Trotzdem sind die Einzelheiten des Verfahrensrechts von größtem Interesse; siehe unten.

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Kampfes wurde, wie oben angedeutet, in der hegelschen Tradition weiter verfolgt, wo das Verfahren generell als Kampf um Anerkennung ausgelegt wird. Die drei Momente dieses Kampfes gehen aus dem oben beschriebenen Modell hervor. Es sind 1. die Einfuhrung der .Hypothesen' als von Wetteinsätzen unterstützte Aussagen; 2. ihre Gegenüberstellung und Aussonderung durch quantitatives Gewichten; und 3. die Konkretion durch ein Tribunal, das mit irgendwie verbindlicher Macht ausgestattet ist. Ich behaupte nicht, daß meine knappen Ausführungen an dieser Stelle mehr geleistet hätten als Zielvorgaben für weitere Arbeit. Eine strenge Modellierung müßte sich besonders weiter auf die zweite Stufe konzentrieren, wo der eigentliche JDialog' abläuft. Zum Beispiel: die reinen Dialogmechanismen im Sinne von Lorenzen müßten hier vermutlich mit Forschungsregeln à la Popper angereichert werden, damit man zum Beispiel Aussagen aussondern könnte, die nicht bestritten aber auch nicht relevant oder glaubwürdig sind. Eine Semantik des Kampfes scheint aber jedenfalls mehr zu versprechen, als von der Dialogsemantik allein geleistet wurde 16 . Wichtig ist der fundamentale Punkt: es gibt keine Wahrheit, die beanspruchen könnte, eine diesen Prozeß irgendwie transzendierende Gültigkeit zu besitzen. In diesem Sinne ist eine prozeßtheoretische Wahrheitsbegründung auch nicht als Konsens- oder Konventionaltheorie zu verstehen: die .Publikation' durch das Tribunal ist zwar ein Bestandteil der Wahrheitsfindung, aber dies ist nicht empirisch sondern apriorisch zu verstehen. Negativ ausgedrückt: die Frage nach einer nicht-öffentlichen und nicht-geschichtlichen Wahrheit hat keinen Sinn, und demgemäß hat auch eine Ausdrucksweise, die unterstellt, daß man doch irgendwie den Ort einer ,nur menschlichen' Wahrheit von außen bestimmten könnte (etwa als .Konvention'), keinen Platz. 6.2. Grundrechte Was sind die Folgen einer solchen Deduktion für Praxis und Selbstbestimmung? Am ehesten lassen sie sich im politischen Bereich modellieren. Wesen des prozeßtheoretischen Modells ist es ja gerade, daß Ansprüche öffentlich erhoben, verhandelt und konkretisiert werden. Der Kalkül der Individualentscheidungen, das etwa in der Entscheidungstheorie vorwiegt, wäre demnach als Ausgangsposition nur bedingt tauglich. Die Ursprünge der Selbstbestimmung sind nach unserer Konstruktion zunächst im Medium der kollektiven Kommunikation zu suchen. Der Verzicht auf zeitlose Normen zwingt uns, den Katalog der Grundrechte aufzugeben. Es gibt keine Grundrechte, die man in einem Grundgesetz oder einer Verfassung festhalten könnte. Die Instanzen der Streitent16

Vgl. hierzu auch Roberts 1992, Kap. 5.

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Scheidung sind jeder anderen Normenquelle übergeordnet. In Großbritannien etwa ist das Parlament auch das höchste Gericht. Es gibt keine anderen neben- oder gar übergeordneten Instanzen, deren Verfügungen bindend wären. Es gibt kein Verfassungsgericht, und selbst die Kirche wurde schon zu einem früheren Zeitpunkt der Verfügungsgewalt des Parlaments untergeordnet. Folglich wird mit Recht behauptet, daß die britische .Verfassung' in Erskine May, dem Handbuch der parlamentarischen Verfahrensregeln, zu finden ist 17 . Insgesamt stellt man fest, daß die juristische Metatheorie nicht aus Kodizes von quasi-ethischen Normen besteht (Grundgesetz; Grundrechten), sondern aus Verfahrensvorschriften. Dies ist sowohl geschichtlich der Fall (Magna Carta, Bill of Rights usw.) wie auch in gegenwärtigen verwaltungsrechtlichen Diskussionen über die Grundbedingungen fairer Konfliktentscheidungen (.natural justice*)18. Ein Entscheidungstribunal ist in dem Maße als Quelle erstrittener Gültigkeit relevant, wie es die Regeln des .Kampfes' beachtet. Auch Verwaltungsentscheidungen können als Kampfentscheidungen interpretiert werden. Auf diesem Prinzip, und ihrer Entwicklung in der Theorie des natural justice, gründet sich die Systematik der Rechtsmittel 19 . Entsprechend ist der .Souverän' (gleichwohl ob ,Volk' oder .Monarch') keine übergeordnete ontologische Instanz und auch nicht der Hüter von irgendwelchen Werten. Er ist lediglich eine Vollstreckungsinstanz im Dienste der Streitgewinner. Nach der Vertragstheorie geht der Einzelne auf in die höhere Volksgemeinschaft; der Staat ist dann eine juristische Person, dessen Organe ihre Legitimation aus dieser höheren Einheit schöpfen 20 . Für eine 17 18

19

20

Zu diesem Thema vgl. Wade 1988, 28. Diese werden als ,nemo iudex in causa sua' und ,audi alteram partem' aufgefaßt. In bezug auf unsere hiesigen Ausführungen können wir sagen: ,nemo iudex' ergibt sich aus dem Immanenzprinzip (Nichtintervention des Richters; keine verfahrenstranszendenten Normen), und ,audi alteram partem' aus dem Eindeutigkeitsprinzip (binäre Entscheidung zwischen zwei auftretenden Kontrahenten). Das neuere englische Verwaltungsrecht hat sich mit diesem Thema in einer Reihe von Entscheidungen beschäftigt, angefangen im Jahre 1963 mit Ridge ν Baldwin. Vgl. im allgemeinen Wade 1988, 465 ff. Auf dieser Basis können auch Tatsachenfeststellungen angefochten werden, ,wenn sie ein rationales Tribunal nicht hätte treffen können' - etwa angesichts der quantitativen Verhältnisse der vorgebrachten Beweise. Vgl. hierzu auch die im englischen Verwaltungsrecht zentrale Lehre des ,ultra vires'; Irrationalität — d. h. willkürlicher Umgang mit der quantitativen Gewichtung - ist nie ,intra vires' eines Tribunals. Die auf Wednesbury folgenden Entscheidungen sind bestimmend für diese Problematik. Vgl. Wade 1988, 398. 'An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragsschließenden setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen, und der durch ebendiesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält.' (Rousseau 1971, 19) Dieses Bild bleibt im kontinentalen Staatsrecht nach wie vor bestimmend. Vgl. etwa Häberle 1988, wo vom .Prozeß der Vergemeinschaftung' nach dem ,Paradigma des fiktiven Vertragsschlusses' gesprochen wird (87).

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operationalistische Staatstheorie dagegen ist das einschlägige Rechtsinstitut nicht Gesellschaftsvertrag, sondern Vertretung und Vollmacht. Der Unterschied liegt darin, daß die Legitimation des Bevollmächtigten abhängig ist von der Zustimmung des Vertretenen; er darf niemals (im Gegensatz zu einer juristischen Person) ein eigenes Interesse geltend machen 21 . Dem Prinzip nach vertreten die Staatsorgane also keinen .Gesamtkörper', sondern unmittelbar die einzelnen Bürger. Der Staat, mit anderen Worten, vollzieht und konkretisiert die Ergebnisse individueller .Kämpfe'; diese allein, in ihrem interaktiven Kraftfeld, konstituieren und legitimieren ihn. Operativ begründete Normen — aufgefaßt als Ergebnisse von Kampfhandlungen — sind nicht weniger verbindlich als ihre transzendent begründeten Konkurrenten. Es fällt sogar auf, wie konservativ die Entscheidungen formularischer Gerichte ausfallen. Da allgemeine Normen (wie etwa Grundrechte) kaum zur Verfügung stehen, sondern lediglich punktuelle Entscheidungen zu konkreten Fällen, bewegt sich die Rechtsprechung nur graduell. Die Struktur des formularischen Systems beruht darauf, daß einmal ausgehandelte Entscheidungen nie leichtfertig (ζ. B. unter Verwendung systemtranszendierender Normen) angetastet werden. Ein ,Wissensstadium', um es konstruktivistisch auszudrücken, ist für jeden neuen Fall kein verzichtbares Provisorium, sondern geltende Wahrheit im vollen Sinne. Ohne diese Systemträgheit wäre das formularische Rechtssystem wie auch der Konstruktivismus insgesamt auf die eigene Person und die Durchsetzungsmacht ihrer Willkür zurückgetrieben (was ja im Positivismus nationalsozialistischer Prägung — Schmittscher Dezionismus und Rassische' Wissenschaftstheorie — ausdrücklich der Fall war). Es gibt, um den Grundsatz zu wiederholen, keine systemtranszendierende Quelle von Inhalten. Transzendent im Sinne von unabdingbar sind nur die formalen Bedingungen des Kampfes. Der Versuch, dessen ungeachtet zu transzendenten Inhalten zu gelangen, ist, wie schon oben bemerkt (§ 3), eine immer wieder vorkommende Entgleisung ansonsten konsequent konstruktivistischer Ansätze 22 . Andererseits steht das formularische System trotz seines Konservatismus' dem Fremden, Neuen und Unerwarteten grundsätzlich offen gegenüber. Für immer fixierte Normen gibt es nicht: allen noch so bizarren Vorstellungen steht das Recht zu, sich im kämpferischen Verfahren Geltung zu verschaffen. Bei dem von Hobbes angeführten .covenant', handelt es sich um ein Verhältnis der Vertretung, wie aus Leviathan Kap. 17 hervorgeht. Jeder Bürger soll dabei ,own and acknowledge himself to be Author of whatsoever he that so beareth their Person [d. h., der Souverän] shall act, or cause to be acted, in those things which concern he common peace and safety' (Hobbes 1968, 227). Hier liegt vermutlich ein Fehler H. Dinglers, dessen ansonsten konsequent operationalistisches System einerseits die euklidische Geometrie hypostasierte, andererseits einem bedenklichen metaphysischen Voluntarismus frönte. VgJ. Willer 1992 und Weiß 1992, beide in Janich 1992; außerdem die in Dingler 1987 enthaltenen Aufsätze.

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7. Anwendungen Wie schon angedeutet, läßt sich das prozeßtheoretische Prinzip als Modell der Wahrheitsgewinnung überhaupt, also auch im theoretischen Bereich, verstehen. Zum Abschluß möchte ich mich jedoch auf zwei Aspekte im praktischen Bereich konzentrieren. 7.1. Pflicht und Pathos Eine Moraltheorie ohne Pathos ist vermutlich nur von beschränktem Wert. Gewissermaßen scheint dies auch besonders bei konstruktivistischen Ansätzen ein Mangel zu sein. Während der Realist sich auf Gott berufen kann, und der Relativist auf das Solidaritätsgefühl der Gemeinschaft, stehen dem Konstruktivist nur die trockenen Reize des Urzustandes oder des aufgeklärten Selbstinteresses zur Verfugung. Diesem Problem kann durch das Prinzip des kämpfenden Verfahrens Abhilfe geschaffen werden. Erstens kann der Kampf gegen Menschen (und andere spontane Wesen) auf Dauer kein Kampf rein um Ausgrenzung oder Beherrschung sein, sondern der Kampf geht um Anerkennung, wozu immer zwei gehören. Ich brauche deine Anerkennung, damit ich zu meiner Wahrheit komme; und von dir als lediglich besiegtem und beherrschtem Objekt ist eine solche Anerkennung nicht zu erlangen. Dies war ja schon das Thema der hegelschen Dialektik von Herr und Knecht. Auf die neuere Moraltheorie bezogen ist dieses Prinzip das, was Onora O'Neill als ,the obligation to meet agency-threatening needs' bezeichnet (O'Neill 1989, 233). Wo sie diese Obligation jedoch als inhaltliche Norm anzusehen scheint, wollen wir sie als Bedingungsmöglichkeit des Verfahrens einstufen. Ohne andere Akteure, deren freie Verfügungen nicht von unerfüllten Bedürfnissen niedergeschmettert sind, gibt es für mich auch keine Gegner in meinem eigenen praxisbegründenden Kampf. Die Pflicht bei anderen diese Bedürfnisse zu berücksichtigen, ergibt sich allein daher. Dies ist weder altruistisch noch nutzenmaximierend; es ist eine apriorische Bedingung meiner Weltentstehung. (Dies soll allerdings keine Neuauflage des transzendentalen Symmetriearguments sein. Das Bedürnis, sich anderen Personen als Person anerkennend darzustellen ist wichtig, aber keine ontologische 'Möglichkeitsbedingung'. Anerkennung hat seine Wurzeln in dem einfachen pragmatischen Gedanken, daß es sich nicht lohnt, meinen eigenen Fortbestand durch Kämpfe gegen Gleichstarke zu riskieren.) Zweitens eröffnet der kollektive Kampf eine Perspektive auf Versöhnung mit der realen Weltordnung: der Staat ist kein unnahbares und noumenales Wesen (vergleichbar mit den Richtern im Werke F. Kafkas), sondern ein Vertreter, dessen Vollmacht auf meiner Zustimmung beruht, und dessen ge-

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schichtliches Entstehen und Bestehen auch für mich eine Rolle offenhält. (Diese Thematik, die bei Marx und Lukács eine wichtige Rolle spielt, läßt sich zurückverfolgen zu einem Denker ganz anderer Couleur, nämlich E. Burke.) 7.2. Interkulturelle Hermeneutik Eine unmittelbare Anwendung findet das prozeßtheoretische Prinzip auf den Bereich, der jetzt mit dem Begriff ,interkulturelle Hermeneutik' bezeichnet wird. Das Problem der kulturellen Intoleranz tritt in unserer Welt immer häufiger hervor. Selbst innerhalb der EU gibt es Spannungen, etwa aufgrund der unterschiedlichen Normvorstellungen verschiedener Länder zu Fragen wie Abtreibung und Drogenrecht. Das Prinzip, daß es bei solchen Auseinandersetzungen weniger um einklagbare Grundrechte als um die flexible Reaktion auf jeweilige konkrete Bedürfnisse geht, müßte sich auch im rechtlichen Bereich durchsetzen. Dabei fallen zum Beispiel die Normvorstellungen von Kulturträgern wie die katholische Kirche durchaus als tatsächliche Wissenszustände ins Gewicht. Sie sind jedoch auch dem jeweiligen Kampfverfahren unterworfen. Noch deutlicher sind die kulturellen Spannungen, die über die alten ethnischen Grenzen der EU-Länder hinausgehen, vor allem die Spannung zwischen Islam und den westlichen Ländern. Im Westen hat seit dem Krieg die starke Tendenz geherrscht, viele Bereiche der Kultur einfach aus dem justiziablen Bereich auszugrenzen. Unter dem Stichwort ,Kunst kennt keine Pornographie' hat man seit zwanzig Jahren mehr oder weniger darauf verzichtet, Zensur und die Instrumente des Strafrechts auf kulturelle Erzeugnisse anzuwenden. Dies ist jedoch keineswegs so liberal, wie man sich ursprünglich vorgestellt hat. Kunstwerke erheben soziale Machtansprüche genau wie alle anderen Aussagen im öffentlichen Raum. Wenn man sie einfach gelten läßt, oder dem Automatismus des ,Marktes' überläßt, so verlieren die Rezipienten dieser Machtansprüche ihre Möglichkeit einer kämpferischen Erwiderung. Doppelt problematisch wird es, wenn, wie so oft in den reichen Industrieländern geschieht, Kunstwerke im Rahmen einer staatlichen Subventionspolitik gefördert oder verbreitet werden. Stellvertretend für viele Kontroversen, die in diesem Gebiet aktuell sind, sei die Affäre um Salman Rushdie. Zumindest denkbar ist es, daß die ganze Kontroverse sich hätte entschärfen lassen, wenn die englischen Blasphemiegesetze auch von nicht-christlichen Religionen in Anspruch genommen werden könnten. Eine interkulturelle Hermeneutik muß fremde Kulturen ernst nehmen. Dazu reicht nicht aus, daß man sich auf eine irgendwie einfühlsame .Horizontverschmelzung' einstellt. Um den Fremden ernst zu nehmen, muß man ihn gewissermaßen auch als Gegner sehen, und ihm deswegen auch die geeig-

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neten Mittel des Kampfes zur Verfügung stellen23. Dazu gehört möglicherweise auch die Gelegenheit, eine gerichtliche Zensur zu erwirken.

Entscheidungen Gouriet ν Union of Post Office Workers [1978] AC 435 R ν Whybrow and Saunders [1994] NLJ 124 Ridge ν Baldwin [1964] AC 40 Wednesbury Corporation ν Ministry of Housing and Local Government (No. 2) [1966] 2 QB 275

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23

Siehe Vossenkuhl 1990.

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4. Teil Postmoderne Freiheit

The Subject and Power Michel Foucault

Why Study Power: The Question of the Subject* The ideas which I would like to discuss here represent neither a theory nor a methodology. I would like to say, first of all, what has been the goal of my work during the last twenty years. It has not been to analyze the phenomena of power, nor to elaborate the foundations of such an analysis. My objective, instead, has been to create a history of the different modes by which, in our culture, human beings are made subjects. My work has dealt with three modes of objectification which transform human beings into subjects. The first is the modes of inquiry which try to give themselves the status of sciences; for example, the objectivizing of the speaking subject in grammaire générale, philology, and linguistics. Or again, in this first mode, the objectivizing of the productive subject, the subject who labors, in the analysis of wealth and of economics. Or, a third example, the objectivizing of the sheer fact of being alive in natural history or biology. In the second part of my work, I have studied the objectivizing of the subject in what I shall call "dividing practices." The subject is either divided inside himself or divided from others. This process objectivizes him. Examples are the mad and the same, the sick and the healthy, the criminals and the "good boys." Finally, I have sought to study — it is my current work — the way a human being turns him- or herself into a subject. For example, I have chosen the domain of sexuality — how men have learned to recognize themselves as subjects of "sexuality."

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"Why Study Power: The Question of the Subject" was written in English by Michel Foucault; "How is Power Exercised?" was translated from the French by Leslie Sawyer.

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Thus it is not power, but the subject, which is the general theme of my research. It is true that I became quite involved with the question of power. It soon appeared to me that, while the human subject is placed in relations of production and of signification, he is equally placed in power relations which are very complex. Now, it seemed to me that economic history and theory provided a good instrument for relations of production; that linguistics and semiotics offered instruments for studying relations of signification; but for power relations we had no tools of study. We had recourse only to ways of thinking about power based on legal models, that is: What legitimates power? Or we had recourse to ways of thinking about power based on institutional models, that is: What is the state? It was therefore necessary to expand the dimensions of a definition of power if one wanted to use this definition in studying the objectivizing of the subject. Do we need a theory of power? Since a theory assumes a prior objectification, it cannot be asserted as a basis for analytical work. But this analytical work cannot proceed without an ongoing conceptualization. And this conceptualization implies critical thought — a constant checking. The first thing to check is what I should call the "conceptual needs." I mean that the conceptualization should not be founded on a theory of the object — the conceptualized object is not the single criterion of a good conceptualization. We have to know the historical conditions which motivate our conceptualization. We need a historical awareness of our present circumstance. The second thing to check is the type of reality with which we are dealing. A writer in a well-known French newspaper once expressed his surprise: "Why is the notion of power raised by so many people today? Is it such an important subject? Is it so independent that it can be discussed without taking into account other problems?" This writer's surprise amazes me. I feel skeptical about the assumption that this question has been raised for the first time in the twentieth century. Anyway, for us it is not only a theoretical question, but a part of our experience. I'd like to mention only two "pathological forms" — those two "diseases of power" — fascism and Stalinism. One of the numerous reasons why they are, for us, so puzzling, is that in spite of their historical uniqueness they are not quite original. They used and extended mechanisms already present in most other societies. More than that: in spite of their own internal madness, they used to a large extent the ideas and the devices of our political rationality. What we need is a new economy of power relations — the word economy being used in its theoretical and practical sense. To put it in other words: since Kant, the role of philosophy is to prevent reason from going beyond

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the limits of what is given in experience: but from the same moment — that is, since the development of the modern state and the political management of society — the role of philosophy is also to keep watch over the excessive powers of political rationality. Which is a rather high expectation. Everybody is aware of such banal facts. But the fact that they're banal does not mean they don't exist. What we have to do with banal facts is to discover — or try to discover — which specific and perhaps original problem is connected with them. The relationship between rationalization and excesses of political power is evident. And we should not need to wait for bureaucracy or concentration camps to recognize the existence of such relations. But the problem is: What to do with such an evident fact? Shall we try reason? To my mind, nothing would be more sterile. First, because the field has nothing to do with guilt or innocence. Second, because it is senseless to refer to reason as the contrary entity to nonreason. Lastly, because such a trial would trap us into playing the arbitrary and boring part of either the rationalist or the irrationalist. Shall we investigate this kind of rationalism which seems to be specific to our modern culture and which originates in Aufklärungi I think that was the approach of some of the members of the Frankfurt School. My purpose, however, is not to start a discussion of their works, although they are most important and valuable. Rather, I would suggest another way of investigating the links between rationalization and power. It may be wise not to take as a whole the rationalization of society or of culture, but to analyze such a process in several fields, each with reference to a fundamental experience: madness, illness, death, crime, sexuality, and so forth. I think that the word rationalisation is dangerous. What we have to do is analyze specific rationalities rather than always invoking the progress of rationalization in general. Even if the Aufklärung has been a very important phase in our history and in the development of political technology, I think we have to refer to much more remote processes if we want to understand how we have been trapped in our own history. I would like to suggest another way to go further towards a new economy of power relations, a way which is more empirical, more directly related to our present situation, and which implies more relations between theory and practice. It consists of taking the forms of resistance against different forms of power as a starting point. To use another metaphor, it consists of using this resistance as a chemical catalyst so as to bring to light power relations, locate their position, find out their point of application and the methods used. Rather than analyzing power from the point of view of its internal

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rationality, it consists of analyzing power relations through the antagonism of strategies. For example, to find out what our society means by sanity, perhaps we should investigate what is happening in the field of insanity. And what we mean by legality in the field of illegality. And, in order to understand what power relations are about, perhaps we should investigate the forms of resistance and attempts made to dissociate these relations. As a starting point, let us take a series of oppositions which have developed over the last few years: opposition to the power of men over women, of parents over children, of psychiatry over the mentally ill, of medicine over the population, of administration over the ways people live. It is not enough to say that these are antiauthority struggles; we must try to define more precisely what they have in common. 1) They are "transversal" struggles; that is, they are not limited to one country. Of course, they develop more easily and to a greater extent in certain countries, but they are not confined to a particular political or economic form of government. 2) The aim of these struggles is the power effects as such. For example, the medical profession is not criticized primarily because it is a profit-making concern, but because it exercises an uncontrolled power over people's bodies, their health and their life and death. 3) There are "immediate" struggles for two reasons. In such struggles people criticize instances of power which are the closest to them, those which exercise their action on individuals. They do not look for the "chief enemy," but for the immediate enemy. Nor do they expect to find a solution to their problem at a future date (that is, liberations, revolutions, end of class struggle). In comparison with a theoretical scale of explanations or a revolutionary order which polarizes the historian, they are anarchistic struggles. But these are not their most original points. The following seem to me to be more specific. 4) They are struggles which question the status of the individual: on the one hand, they assert the right to be different and they underline everything which makes individuals truly individual. On the other hand, they attack everything which separates the individual, breaks his links with others, splits up community life, forces the individual back on himself and ties to his own identity in a constraining way. These struggles are not exactly for or against the "individual," but rather they are struggles against the "government of individualization." 5) They are an opposition to the effects of power which are linked with knowledge, competence, and qualification: struggles against the privileges of knowledge. But they are also an opposition against secrecy, deformation, and mystifying representations imposed on people.

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There is nothing "scientistdc" in this (that is, a dogmatic belief in the value of scientific knowledge), but neither is it a skeptical or relativistic refusal of all verified truth. What is questioned is the way in which knowledge circulates and functions, its relations to power. In short, the régime du savoir. 6) Finally, all these present struggles revolve around the question: Who are we? They are a refusal of these abstractions, of economic and ideological state violence which ignore who we are individually, and also a refusal of a scientific or administrative inquisition which determines who one is. To sum up, the main objective of these struggles is to attack not so much "such or such" an institution of power, or group, or elite, or class, but rather a technique, a form of power. This form of power applies itself to immediate everyday life which categorizes the individual, marks him by his own individuality, attaches him to his own identity, imposes a law of truth on him which he must recognize and which others have to recognize in him. It is a form of power which makes individuals subjects. There are two meanings of the word subject subject to someone else by control and dependence, and tied to his own identity by a conscience or self-knowledge. Both meanings suggest a form of power which subjugates and makes subject to. Generally, it can be said that there are three types of struggles: either against forms of domination (ethnic, social, and religious); against forms of exploitation which separate individuals from what they produce; or against that which ties the individual to himself and submits him to others in this way (struggles against subjection, against forms of subjectivity and submission). I think that in history, you can find a lot of examples of these three kinds of social struggles, either isolated from each other, or mixed together. But even when they are mixed, one of them, most of the time, prevails. For instance, in the feudal societies, the struggles against the forms of ethnic or social domination were prevalent, even though economic exploitation could have been very important among the revolt's causes. In the nineteenth century, the struggle against exploitation came into the foreground. And nowadays, the struggle against the forms of subjection — against the submission of subjectivity — is becoming more and more important, even though the struggles against forms of domination and exploitation have not disappeared. Quite the contrary. I suspect that it is not the first time that our society has been confronted with this kind of struggle. All those movements which took place in the fifteenth and sixteenth centuries and which had the Reformation as their main expression and result should be analyzed as a great crisis of the Western experience of subjectivity and a revolt against the kind of religious and moral power which gave form, during the Middle Ages, to this subjectivity. The

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need to take a direct part in spiritual life, in the work of salvation, in the truth which lies in the Book — all that was a struggle for a new subjectivity. I know what objections can be made. We can say that all types of subjection are derived phenomena, that they are merely the consequences of other economic and social processes: forces of production, class struggle, and ideological structures which determine the form of subjectivity. It is certain that the mechanisms of subjection cannot be studied outside their relation to the mechanisms of exploitation and domination. But they do not merely constitute the "terminal" of more fundamental mechanisms. They entertain complex and circular relations with other forms. The reason this kind of struggle tends to prevail in our society is due to the fact that since the sixteenth century, a new political form of power has been continuously developing. This new political structure, as everybody knows, is the state. But most of the time, the state is envisioned as a kind of political power which ignores individuals, looking only at the interests of the totality or, I should say, of a class or a group among the citizens. That's quite true. But I'd like to underline the fact that the state's power (and that's one of the reasons for its strength) is both an individualizing and a totalizing form of power. Never, I think, in the history of human societies — even in the old Chinese society — has there been such a tricky combination in the same political structures of individualization techniques, and of totalization procedures. This is due to the fact that the modern Western state has integrated in a new political shape, an old power technique which originated in Christian institutions. We can call this power technique the pastoral power. First of all, a few words about this pastoral power. It has often been said that Christianity brought into being a code of ethics fundamentally different from that of the ancient world. Less emphasis is usually placed on the fact that it proposed and spread new power relations throughout the ancient world. Christianity is the only religion which has organized itself as a Church. And as such, it postulates in principle that certain individuals can, by their religious quality, serve others not as princes, magistrates, prophets, fortunetellers, benefactors, educationalists, and so on, but as pastors. However, this word designates a very special form of power. 1) It is a form of power whose ultimate aim is to assure individual salvation in the next world. 2) Pastoral power is not merely a form of power which commands; it must also be prepared to sacrifice itself for the life and salvation of the flock. Therefore, it is different from royal power, which demands a sacrifice from its subjects to save the throne. 3) It is a form of power which does not look after just the whole community, but each individual in particular, during his entire life.

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4) Finally, this form of power cannot be exercised without knowing the inside of people's minds, without exploring their souls, without making them reveal their innermost secrets. It implies a knowledge of the conscience and an ability to direct it. This form of power is salvation oriented (as opposed to political power). It is oblative (as opposed to the principle of sovereignty); it is individualizing (as opposed to legal power); it is coextensive and continuous with life; it is linked with a production of truth — the truth of the individual himself. But all this is part of history, you will say; the pastorate has, if not disappeared, at least lost the main part of its efficiency. This is true, but I think we should distinguish between two aspects of pastoral power — between the ecclesiastical institutionalization which has ceased or at least lost its vitality since the eighteenth century, and its function, which has spread and multiplied outside the ecclesiastical institution. An important phenomenon took place around the eighteenth century — it was a new distribution, a new organization of this kind of individualizing power. I don't think that we should consider the "modern state" as an entity which was developed above individuals, ignoring what they are and even their very existence, but on the contrary as a very sophisticated structure, in which individuals can be integrated, under one condition: that this individuality would be shaped in a new form, and submitted to a set of very specific patterns. In a way, we can see the state as a modern matrix of individualization, or a new form of pastoral power. A few more words about this new pastoral power. 1) We may observe a change in its objective. It was no longer a question of leading people to their salvation in the next world, but rather ensuring it in this world. And in this context, the word salvation takes on different meanings: health, well-being (that is, sufficient wealth, standard of living), security, protection against accidents. A series of "worldly" aims took the place of the religious aims of the traditional pastorate, all the more easily because the latter, for various reasons, had followed in an accessory way a certain number of these aims; we only have to think of the role of medicine and its welfare function assured for a long time by the Catholic and Protestant churches. 2) Concurrently the officials of pastoral power increased. Sometimes this form of power was exerted by state apparatus or, in any case, by a public institution such as the police. (We should not forget that in the eighteenth century the police force was not invented only for maintaining law and order, nor for assisting governments in their struggle against their enemies, but for assuring urban supplies, hygiene, health and standards considered necessary for handicrafts and commerce.) Sometimes the power was exercised by private ventures, welfare societies, benefactors and generally by philanthropists.

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But ancient institutions, for example the family, were also mobilized at this time to take on pastoral functions. It was also exercised by complex structures such as medicine, which included private initiatives with the sale of services on market economy principles, but which also included public institutions such as hospitals. 3) Finally, the multiplication of the aims and agents of pastoral power focused the development of knowledge of man around two roles: one, globalizing and quantitative, concerning the population: the other, analytical, concerning the individual. And this implies that power of a pastoral type, which over centuries — for more than a millennium — had been linked to a defined religious institution, suddenly spread out into the whole social body; it found support in a multitude of institutions. And, instead of a pastoral power and a political power, more or less linked to each other, more or less rival, there was an individualizing "tactic" which characterized a series of powers: those of the family, medicine, psychiatry, education, and employers. At the end of the eighteenth century Kant wrote, in a German newspaper — the Berliner Monatsschrift — a short text. The title was Was heisst Aufklärung! It was for a long time, and it is still, considered a work of relatively small importance. But I can't help finding it very interesting and puzzling because it was the first time a philosopher proposed as a philosophical task to investigate not only the metaphysical system or the foundations of scientific knowledge, but a historical event — a recent, even a contemporary event. When in 1784 Kant asked, Was heisst Aufklärung?, he meant, What's going on just now? What's happening to us? What is this world, this period, this precise moment in which we are living? Or in other words: What are we? as Aufldärer, as part of the Enlightenment? Compare this with the Cartesian question: Who am I? I, as a unique but universal and unhistorical subject? I, for Descartes is everyone, anywhere at any moment? But Kant asks something else: What are we? in a very precise moment of history. Kant's question appears as an analysis of both us and our present. I think that this aspect of philosophy took on more and more importance. Hegel, Nietzsche ... The other aspect of "universal philosophy" didn't disappear. But the task of philosophy as a critical analysis of our world is something which is more and more important. Maybe the most certain of all philosophical problems is the problem of the present time, and of what we are, in this very moment. Maybe the target nowadays is not to discover what we are, but to refuse what we are. We have to imagine and to build up what we could be to get rid of this kind of political "double bind," which is the simultaneous individualization and totalization of modern power structure.

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The conclusion would be that the political, ethical, social, philosophical problem of our days is not to try to liberate the individual from the state, and from the state's institutions, but to liberate us both from the state and from the type of individualization which is linked to the state. We have to promote new forms of subjectivity through the refusal of this kind of individuality which has been imposed on us for several centuries.

How is Power Exercised? For some people, asking questions about the "how" of power would limit them to describing its effects without ever relating those effects either to causes or to a basic nature. It would make this power a mysterious substance which they might hesitate to interrogate in itself, no doubt because they would prefer not to call it into question. By proceeding this way, which is never explicitly justified, they seem to suspect the presence of a kind of fatalism. But does not their very distrust indicate a presupposition that power is something which exists with three distinct qualities: its origin, its basic nature, and its manifestations? If, for the time being, I grant a certain privileged position to the question of "how" it is not because I would wish to eliminate the questions of "what" and "why." Rather it is that I wish to present these questions in a different way; better still, to know if it is legitimate to imagine a power which unites in itself a what, a why, and a how. To put it bluntly, I would say that to begin the analysis with a "how" is to suggest that power as such does not exist. At the very least it is to ask oneself what contents one has in mind when using this all-embracing and reifying term; it is to suspect that an extremely complex configuration of realities is allowed to escape when one treads endlessly in the double question: What is power? and Where does power come from? The litde question, What happens? although flat and empirical, once it is scrutinized is seen to avoid accusing a metaphysics or an ontology of power of being fraudulent; rather it attempts a critical investigation into the thematics of power. "How," not in the sense of "How does it manifest itself?" but "By what means is it exercised?" and "What happens when individuals exert (as they say) power over others?"

As far as this power is concerned, it is first necessary to distinguish than which is exerted over things and gives the ability to modify, use, consume, or destroy them — a power which stems from aptitudes directly inherent in the body or relayed by external instruments. Let us say that here it is a question of "capacity." On the other hand, what characterizes the power we are analyzing is that it brings into play relations between individuals (or be-

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tween groups). For let us not deceive ourselves; if we speak of the structures of the mechanisms of power, it is only insofar as we suppose that certain persons exercise power over others. The term "power" designates relationships between partners (and by that I am not thinking of a zero-sum game, but simply, and for the moment staying in the most general terms, of an ensemble of actions which induce others and follow from one another). It is necessary also to distinguish power relations from relationships of communication which transmit information by means of a language, a system of signs, or any other symbolic medium. No doubt communicating is always a certain way of acting upon another person or persons. But the production and circulation of elements of meaning can have as their objective or as their consequence certain results in the realm of power; the latter are not simply an aspect of the former. Whether or not they pass through systems of communication, power relations have an specific nature. Power relations, relationships of communication, objective capacities should not therefore be confused. This is not to say that there is a question of three separate domains. Nor that there is on one hand the field of things, of perfected technique, work, and the transformation of the real; on the other that of signs, communication, reciprocity, and the production of meaning; finally that of the domination of the means of constraint, of inequality and the action of men upon other men 1 . It is a question of three types of relationships which in fact always overlap one another, support one another reciprocally, and use each other mutually as means to an end. The application of objective capacities in their most elementary forms implies relationships of communication (whether in the form of previously acquired information or of shared work); it is tied also to power relations (whether they consist of obligatory tasks, of gestures imposed by tradition or apprenticeship, of subdivisions and the more or less obligatory distribution of labor). Relationships of communication imply finalized activities (even if only the correct putting into operation of elements of meaning) and, by virtue of the modifying the field of information between partners, produce effects of power. They can scarcely be dissociated from activities brought to their final term, be they those which permit the exercise of this power (such as training techniques, processes of domination, the means by which obedience is obtained) or those which in order to develop their potential call upon relations of power (the division of labor and the hierarchy of tasks). Of course the coordination between these three types of relationships is neither uniform nor constant. In a given society there is no general type of equilibrium between finalized activities, systems of communication, and power relations. Rather there are diverse forms, diverse places, diverse cirWhen Habermas distinguishes between domination, communication, and finalized activity, I do not think that he sees in them three separate domains, but rather three "transcendentals."

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cumstances or occasions in which these interrelationships establish themselves according to a specific model. But there are also "blocks" in which the adjustment of abilities, the resources of communication, and power relations constitute regulated and concerted systems. Take for example an educational institution: the disposal of its space, the meticulous regulations which govern its internal life, the different activities which are organized there, the diverse persons who live there or meet one another, each with his own function, his well-defined character — all these things constitute a block of capacitycommunication-power. The activity which ensures apprenticeship and the acquisition of aptitudes or types of behavior is developed there by means of a whole ensemble of regulated communications (lessons, questions and answers, orders, exhortations, coded signs of obedience, differentiation marks of the "value" of each person and of the levels of knowledge) and by the means of a whole series of power processes (enclosure, surveillance, reward and punishment, the pyramidal hierarchy). These blocks, in which the putting into operation of technical capacities, the game of communications, and the relationships of power are adjusted to one another according to considered formulae, constitute what one might call, enlarging a little the sense of the word, disciplines. The empirical analysis of certain disciplines as they have been historically constituted presents for this very reason a certain interest. This is so because the disciplines show, first, according to artificially clear and decanted systems, the manner in which systems of objective finality and systems of communication and power can be welded together. They also display different models of articulation, sometimes giving preeminence to power relations and obedience (as in those disciplines of a monastic or penitential type), sometimes to finalize activities (as in the disciplines of workshops or hospitals), sometimes to relationships of communication (as in the disciplines of apprenticeship), sometimes also to a saturation of the three types of relationship (as perhaps in military discipline, where a plethora of signs indicates, to the point of redundancy, tightly knit power relations calculated with care to produce a certain number of technical effects). What is to be understood by the disciplining of societies in Europe since the eighteenth century is not, of course, that the individuals who are part of them become more and more obedient, nor that they set about assembling in barracks, schools, or prisons; rather that an increasingly better invigilated process of adjustment has been sought after — more and more rational and economic — between productive activities, resources of communication, and the play of power relations. To approach the theme of power by an analysis of "how" is therefore to introduce several critical shifts in relation to the supposition of a fundamental power. It is to give oneself as the object of analysis power relations and not power itself — power relations which are distinct from objective abilities as

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well as from relations of communication. This is as much as saying that power relations can be grasped in the diversity of their logical sequence, their abilities, and their interrelationships. What constitutes the sperific nature of power? The exercise of power is not simply a relationship between partners, individual or collective; it is a way in which certain actions modify others. Which is to say, of course, that something called Power, with or without a capital letter, which is assumed to exist universally in a concentrated or diffused form, does not exist. Power exists only when it is put into action, even if, of course, it is integrated into a disparate field of possibilities brought to bear upon permanent structures. This also means that power is not a function of consent. In itself it is not a renunciation of freedom, a transference of rights, the power of each and all delegated to a few (which does not prevent the possibility that consent may be a condition for the existence or the maintenance of power); the relationship of power can be the result of a prior or permanent consent, but it is not by nature the manifestation of a consensus. Is this to say that one must seek the character proper to power relations in the violence which must have been its primitive form, its permanent secret and its last resource, that which in the final analysis appears as its real nature when it is forced to throw aside its mask and to show itself as it really is? In effect, what defines a relationship of power is that it is a mode of action which does not act directly and immediately on others. Instead it acts upon their actions: an action upon an action, on existing actions or on those which may arise in the present or the future. A relationship of violence acts upon a body or upon things; it forces, it bends, it breaks on the wheel, it destroys, or it closes the door on all possibilities. Its opposite pole can only be passivity, and if it comes up against any resistance it has no other option but to try to minimize it. On the other hand a power relationship can only be articulated on the basis of two elements which are each indispensable if it is really to be a power relationship: that "the other" (the one over whom power is exercised) be thoroughly recognized and maintained to the very end as a person who acts; and that, faced with a relationship of power, a whole field of responses, reactions, results, and possible inventions may open up. Obviously the bringing into play of power relations does not exclude the use of violence any more than it does the obtaining of consent; no doubt the exercise of power can never do without one or the other, often both at the same time. But even though consensus and violence are the instruments or the results, they do not constitute the principle or the basic nature of power. The exercise of power can produce as much acceptance as may be wished for: it can pile up the dead and shelter itself behind whatever threats it can imagine. In itself the exercise of power is not violence; nor is it a consent which, implicitly, is renewable. It is a total structure of actions

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brought to bear upon possible actions; it incites, it induces, it seduces, it makes easier or more difficult; in the extreme it constrains or forbids absolutely; it is nevertheless always a way of acting upon an acting subject or acting subjects by virtue of their acting or being capable of action. A set of actions upon other actions. Perhaps the equivocal nature of the term conduct is one of the best aids for coming to terms with the specificity of power relations. For to "conduct" is at the same time to "lead" others (according to mechanisms of coercion which are, to varying degrees, strict) and a way of behaving within a more or less open field of possibilities2. The exercise of power consists in guiding the possibility of conduct and putting in order the possible outcome. Basically power is less a confrontation between two adversaries or the linking of one to the other than a question of government. This word must be allowed the very broad meaning which it had in the sixteenth century. "Government" did not refer only to political structures or to the management of states; rather it designated the way in which the conduct of individuals or of groups might be directed: the government of children, of souls, of communities, of families, of the sick. It did not only cover the legitimately constituted forms of political or economic subjection, but also modes of action, more or less considered and calculated, which were destined to act upon the possibilities of action of other people. To govern, in this sense, is to structure the possible field of action of others. The relationship proper to power would not therefore be sought on the side of violence or of struggle, nor on that of voluntary linking (all of which can, at best, only be the instruments of power), but rather in the area of the singular mode of action, neither warlike nor juridical, which is government. When one defines the exercise of power as a mode of action upon the actions of others, when one characterizes these actions by the government of men by other men — in the broadest sense of the term — one includes an important element: freedom. Power is exercised only over free subjects, and only insofar as they are free. By this we mean individual or collective subjects who are faced with a field of possibilities in which several ways of behaving, several reactions and diverse comportments may be realized. Where the determining factors saturate the whole there is no relationship of power; slavery is not a power relationship when man is in chains. (In this case it is a question of a physical relationship of constraint.) Consequently there is no face to face confrontation of power and freedom which is mutually exclusive (freedom disappears everywhere power is exercised), but a much more complicated interplay. In this game freedom may well appear as Foucault is playing on the double meaning in French of the verb conduire - to lead or to drive, and se conduire - to behave or conduct oneself, whence ¡a conduite, conduct or behavior. (Translator's note)

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the condition for the exercise of power (at the same time its precondition, since freedom must exist for power to be exerted, and also its permanent support, since without the possibility of recalcitrance, power would be equivalent to a physical determination). The relationship between power and freedom's refusal to submit cannot therefore be separated. The crucial problem of power is not that of voluntary servitude (how could we seek to be slaves?). At the very heart of the power relationship, and constantly provoking it, are the recalcitrance of the will and the intransigence of freedom. Rather than speaking of an essential freedom, it would be better to speak of an "agonism 3 " — of a relationship which is at the same time reciprocal incitation and struggle; less of a face-to-face confrontation which paralyzes both sides than a permanent provocation. How is one to analyse the power relationship?

One can analyze such relationships, or rather I should say that it is perfectly legitimate to do so, by focusing on carefully defined institutions. The latter constitute a privileged point of observation, diversified, concentrated, put in order, and carried through to the highest point of their efficacity. It is here that, as a first approximation, one might expect to see the appearance of the form and logic of their elementary mechanisms. However, the analysis of power relations as one finds them in certain circumscribed institutions presents a certain number of problems. First, the fact that an important part of the mechanisms put into operation by an institution are designed to ensure its own preservation brings with it the risk of deciphering functions which are essentially reproductive, especially in power relations between institutions. Second, in analyzing power relations from the standpoint of institutions one lays oneself open to seeking the explanation and the origin of the former in the latter, that is to say finally, to explain power to power. Finally, insofar as institutions act essentially by bringing into play two elements, explicit or tacit regulations and an apparatus, one risks giving to one or the other an exaggerated privilege in the relations of power and hence to see in the latter only modulations of the law and of coercion. This does not deny the importance of institutions on the establishment of power relations. Instead I wish to suggest that one must analyze institutions from the standpoint of power relations, rather than vice versa, and that the fundamental point of anchorage of the relationships, even if they are embodied and crystallized in an institution, is to be found outside the institution.

Foucault's neologism is based on the Greek αγώνισμα meaning "a combat." The term would hence imply a physical contest in which the opponents develop a strategy of reaction and of mutual taunting, as in a wrestling match. (Translator's note)

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Let us come back to the definition of the exercise of power as a way in which certain actions may structure the field of other possible actions. What therefore would be proper to a relationship of power is that it be a mode of action upon actions. That is to say, power relations are rooted deep in the social nexus, not reconstituted "above" society as a supplementary structure whose radical effacement one could perhaps dream of. In any case, to live in society is to live in such a way that action upon other actions is possible — and in fact ongoing. A society without power relations can only be an abstraction. Which, be it said in passing, makes all the more politically necessary the analysis of power relations in a given society, their historical formation, the source of their strength or fragility, the conditions which are necessary to transform some or to abolish others. For to say that there cannot be a society without power relations is not to say either that those which are established are necessary, or, in any case, that power constitutes a fatality at the heart of societies, such that it cannot be undermined. Instead I would say that the analysis, elaboration, and bringing into question of power relations and the "agonism" between power relations and the intransitivity of freedom is a permanent political task inherent in all social existence. Concretely the analysis of power relations demands that a certain number of points be established: 1) The system of differentiations which permits one to act upon the actions of others: differentiations determined by the law or by traditions of status and privilege; economic differences in the appropriation of riches and goods, shifts in the processes of production, linguistic or cultural differences, differences in know-how and competence, and so forth. Every relationship of power puts into operation differentiations which are at the same time its conditions and its results. 2) The types of objectives pursued by those who act upon the actions of others: the maintenance of privileges, the accumulation of profits, the bringing into operation of statutary authority, the exercise of a function or of a trade. 3) The means of bringing power relations into being, according to whether power is exercised by the threat of arms, by the effects of the word, by means of economic disparities, by more or less complex means of control, by systems of surveillance, with or without archives, according to rules which are or are not explicit, fixed or modifiable, with or without the technological means to put all these things into action. 4) Forms of institutionalization·, these may mix traditional predispositions, legal structures, phenomena relating to custom or to fashion (such as one sees in the institution of the family); they can also take the form of an apparatus closed in upon itself, with its specific loci, its own regulations, its hierarchical structures which are carefully defined, a relative autonomy in its functioning (such as scholastic or military institutions); they can also form

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very complex systems endowed with multiple apparatuses, as in the case of the state, whose function is the taking of everything under its wing, the bringing into being of general surveillance, the principle of regulation and, to a certain extent also, the distribution of all power relations in a given social ensemble. 5) The degrees of rationalisation·, the bringing into play of power relations as action in a field of possibilities may be more or less elaborate in relation to the effectiveness of the instruments and the certainty of the results (greater or lesser technological refinements employed in the exercise of power) or again in proportion to the possible cost (be it the economic cost of the means brought into operation, or the cost in terms of reaction constituted by the resistance which is encountered). The exercise of power is not a naked fact, an institutional right, nor is it a structure which holds out or is smashed: it is elaborated, transformed, organized; it endows itself with processes which are more or less adjusted to the situation. One sees why the analysis of power relations within a society cannot be reduced to the study of a series of institutions, not even to the study of all those institutions which would merit the name "political." Power relations are rooted in the system of social networks. This is not to say, however, that there is a primary and fundamental principle of power which dominates society down to the smallest detail; but, taking as point of departure the possibility of action upon the action of others (which is coextensive with every social relationship), multiple forms of individual disparity, of objectives, of the given application of power over ourselves or others, of, in varying degrees, partial or universal institutionalization, of more or less deliberate organization, one can define different forms of power. The forms and the specific situations of the government of men by one another in a given society are multiple; they are superimposed, they cross, impose their own limits, sometimes cancel one another out, sometimes reinforce one another. It is certain that in contemporary societies the state is not simply one of the forms or specific situations of the exercise of power — even if it is the most important — but that in a certain way all other forms of power relation must refer to it. But this is not because they are derived from it; it is rather because power relations have come more and more under state control (although this state control has not taken the same form in pedagogical, judicial, economic, or family systems). In referring here to the restricted sense of the word government, one could say that power relations have been progressively governmentalized, that is to say, elaborated, rationalized, and centralized in the form of, or under the auspices of, state institutions. Relations of power and relations of strategy The word strategy is currently employed in three ways. First, to designate the means employed to attain a certain end; it is a question of rationality fune-

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tioning to arrive at an objective. Second, to designate the manner in which a partner in a certain game acts with regard to what he thinks should be the action of the others and what he considers the others think to be his own; it is the way in which one seeks to have the advantage over others. Third, to designate the procedures used in a situation of confrontation to deprive the opponent of his means of combat and to reduce him to giving up the struggle; it is a question therefore of the means destined to obtain victory. These three meanings come together in situations of confrontation — war or games — where the objective is to act upon an adversary in such a manner as to render the struggle impossible for him. So strategy is defined by the choice of winning solutions. But it must be borne in mind that this is a very special type of situation and that there are others in which the distinctions between the different senses of the word strategy must be maintained. Referring to the first sense I have indicated, one may call power strategy the totality of the means put into operation to implement power effectively or to maintain it. One may also speak of a strategy proper to power relations insofar as they constitute modes of action upon possible action, the action of others. One can therefore interpret the mechanisms brought into play in power relations in terms of strategies. But most important is obviously the relationship between power relations and confrontation strategies. For, if it is true that at the heart of power relations and as a permanent condition of their existence there is an insubordination and a certain essential obstinacy on the part of the principles of freedom, then there is no relationship of power without the means of escape or possible flight. Every power relationship implies, at least inpotentia, a strategy of struggle, in which the two forces are not superimposed, do not lose their specific nature, or do not finally become confused. Each constitutes for the other a kind of permanent limit, a point of possible reversal. A relationship of confrontation reaches its term, its final moment (and the victory of one of the two adversaries) when stable mechanisms replace the free play of antagonistic reactions. Through such mechanisms one can direct, in a fairly constant manner and with reasonable certainty, the conduct of others. For a relationship of confrontation, from the moment it is not a struggle to the death, the fixing of a power relationship becomes a target - at one and the same time its fulfillment and its suspension. And in return the strategy of struggle also constitutes a frontier for the relationship of power, the line at which, instead of manipulating and inducing actions in a calculated manner, one must be content with reacting to them after the event. It would not be possible for power relations to exist without points of insubordination which, by definition, are means of escape. Accordingly, every intensification, every extension of power relations to make the insubordinate submit can only result in the limits of power. The latter reaches its final term either in a type of action which reduces the other to total impotence (in which case victory over the adversary replaces the exercise

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of power) or by a confrontation with those whom one governs and their transformation into adversaries. Which is to say that every strategy of confrontation dreams of becoming a relationship of power and every relationship of power leans toward the idea that, if it follows its own line of development and comes up against direct confrontation, it may become the winning strategy. In effect, between a relationship of power and a strategy of struggle there is a reciprocal appeal, a perpetual linking and a perpetual reversal. At every moment the relationship of power may become a confrontation between two adversaries. Equally, the relationship between adversaries in society may, at every moment, give place to the putting into operation of mechanisms of power. The consequence of this instability is the ability to decipher the same events and the same transformations either from inside the history of struggle or from the standpoint of the power relationships. The interpretations which result will not consist of the same elements of meaning or the same links or the same types of intelligibility, although they refer to the same historical fabric and each of the two analyses must have reference to the other. In fact it is precisely the disparities between the two readings which make visible those fundamental phenomena of "domination" which are present in a large number of human societies. Domination is in fact a general structure of power whose ramifications and consequences can sometimes be found descending to the most incalcitrant fibers of society. But at the same time it is a strategic situation more or less taken for granted and consolidated by means of a long-term confrontation between adversaries. It can certainly happen that the fact of domination may only be the transcription of a mechanism of power resulting from confrontation and its consequences (a political structure stemming from invasion); it may also be that a relationship of struggle between two adversaries is the result of power relations with the conflicts and cleavages which ensue. But what makes the domination of a group, a caste, or a class, together with the resistance and revolts which that domination comes up against, a central phenomenon in the history of societies is that they manifest in a massive and universalizing form, at the level of the whole social body, the locking together of power relations with relations of strategy and the results proceeding from their interaction.

,Nachmetaphysische Ethik' oder: die Freiheit, seine Moral selbst zu wählen Herbert Scheit

„Ethik ohne Metaphysik" ist etwas Vertrautes1. Ob ,nachmetaphysische Ethik' dasselbe sein soll oder das Umsteigen auf eine ,neue' Ethik signalisieren will, ist nicht so ohne weiteres ausgemacht. Wer eine solche Bezeichnung verwendet und offensichtlich als .Erklärung' ein abgewandeltes Foucault-Zitat nachschickt2, weckt Erwartungen — falsche Erwartungen freilich, wie man bald erkennen wird. Ich werde nämlich weder eine einigermaßen präzise Bestimmung des Ausdrucks ,nachmetaphysisch' anbieten können (von einer Definition im strengen Sinn ganz zu schweigen!), noch werde ich eine der Ethikkonzeptionen im Detail präsentieren, die des öfteren mit diesem Prädikat belegt werden, d. h. ich gehe weder auf Nietzsche, Heidegger oder Foucault ausführlich ein, noch auf Wittgenstein oder Rorty, und schon gar nicht werde ich eine eigene,nachmetaphysische' Auffassung von Ethik entwickeln. Meine Absicht ist viel bescheidener. Zum einen will ich deutlich machen, daß vernunft- oder rationalitätskritische Positionen das Gros der neuzeitlichen normativen Moraltheorien an einem empfindlichen Nerv treffen; zum andern will ich zeigen, daß die Ethik, auch in Gestalt eines weniger ehrgeizigen und damit anscheinend .humaneren' Ersatzangebots, das nicht leisten kann, was sich die Leute im allgemeinen (oder auch nur ein paar Politiker oder Wissenschaftler) von der Ethik erhoffen. Selbst wenn ich keine zufriedenstellende Bestimmung von .nachmetaphysisch' liefern kann, komme ich natürlich nicht darum herum, wenigstens ganz grob zu umreißen, was dieser schwammige Ausdruck in der Moralphilosophie meinen könnte. Aus dem Titel des Aufsatzes ließe sich folgern: ,nachmetaphysisch' solle offensichtlich soviel wie der mindestens genauso vage Ausdruck .postmodern' bedeuten, und zwar im Sinne des nur allzu oft malträtierten Slogans des „anything goes" verwendet, der ja als das charakteristische Zumindest als Buchtitel! Natürlich ist G. Patzig gemeint. Das genaue Zitat lautet: .Jedermann hat seine eigene Ethik auszubilden" (zit. nach: Wilhelm Schmid 1991, S. 78).

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Merkmal der Postmoderne, und dies meint dann im Klartext: unserer Gegenwart, gelten soll. Für mein Thema hieße dies: So wie postmoderne Architektur aus einer Vielzahl von Stilarten nach Belieben wählen (und sie dann auch nach eigener Wahl kombinieren) kann, so soll man sich auf dem Supermarkt der Ethikangebote umsehen und dann diejenige auswählen, die einem paßt. Die großen ,,(Meta-)Erzählungen" der Moderne sind ja für Postmoderne 3 obsolet, und deshalb müsse man sich auch in der Moraltheorie vor großen Entwürfen letzter Orientierungen und allgemein verbindlicher Normensysteme verabschieden. Der Sache angemessener, wenn auch immer noch in Metaphern, könnte man auch sagen: Da die Moral — ,Moral' nicht im alltäglichen Sinn genommen wie die Moral einer Fußballmannschaft oder die Moral im Straßenverkehr, sondern im philosophischen Sinn — da also die Moral auch Anleitungen bieten will, was jeder einzelne tun sollte, um aus seinem Leben ein geglücktes und lebenswertes Leben zu machen, will man natürlich keine Konfektionsware von der Stange, die zwar vielen Menschen einigermaßen, aber keinem so richtig passen will; man sucht vielmehr einen auf die jeweilige Person zugeschnittenen Anzug, soll heißen: eine Moral, die tatsächlich in der Lage ist, dem einzelnen zu einer ihm angemessenen und daher von ihm voll akzeptierbaren Lebensform zu verhelfen. Weniger bildhaft gesagt — und dies wäre dann die in Aussicht gestellte Bestimmung von .nachmetaphysisch' — : eine ,nachmetaphysische' Ethik würde allen Ernstes bestreiten, daß es so etwas wie kategorische, also unbedingte und allgemeinverbindliche moralische Normen gibt, Forderungen, die deshalb für alle Menschen ohne Ausnahmen gelten sollen, weil sie auf das Wesen der Vernunft oder das Wesen des Menschen als solchen bezugnehmen. Selbstverständlich trifft diese Umschreibung nicht nur auf die erwähnten Nietzsche und Co. zu, aber genau so klar ist auch, daß eben diese Autoren zwar nicht prinzipiell gegen Regeln, aber auf jeden Fall gegen allgemein verbindliche, man könnte auch sagen: gegen absolutistische Regeln, gegen letzte Orientierungen und allumfassende Sinnstrukturen Sturm laufen. Jeder, der sich auch nur ein bißchen in der Moralphilosophie der Neuzeit auskennt, wird sofort, und zwar mit gutem Recht, einwenden: Das mag ja durchaus so sein, aber mit Moralität (im modernen Verständnis), mit einer Ethik (als der Reflexions- und Begründungstheorie von Moral) habe dies doch herzlich wenig zu tun. Den moralischen Standpunkt einzunehmen, bedeute doch: Bereitschaft zur Universalisierung von Handlungsmaximen und Normen. Die Minimalforderung für einen vernünftigen Begriff von Moral sei doch, daß jede(r) andere an meiner Stelle zum selben Urteil kommen müsse, sich denselben Regeln und Forderungen unterwerfen würde, wenn ein Urteil oder eine Norm das Prädikat .moralisch' verdienen soll. Diese mittlerweile klassisch zu nennende Beschreibung der Postmoderne stammt bekanntlich von Lyotard (1986, S. 14).

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Dieser sozusagen begriffsanalytische Einwand stimmt natürlich, und doch ließen sich die Kritiker einer normativen, prinzipien- oder regelgeleiteten Auffassung von Moralität nicht so leicht aus dem moralischen Diskurs ausbooten. Sie würden zwar den Ausdruck ,Moralität' nicht gern verwenden, aber sie würden, so scheint es zumindest, voll und ganz eine, wenn nicht gar die wesentliche Errungenschaft der modernen Moralauffassung unterschreiben und trotzdem im selben Atemzug vehement bestreiten, daß daraus sozusagen analytisch die Merkmale kategorische Unbedingtheit und strenge Universalisierbarkeit folgen. Der moderne Standpunkt, den auch die ,Postmetaphysischen' energisch verteidigen würden, ist: Moralität und Freiheit gehören untrennbar zusammen, d. h. eine Forderung, eine Norm kann mich nur dann in einem moralischen Sinn verpflichten, wenn ich frei zustimmen kann. Ein Kennzeichen für das neuzeitlich-moderne Denken ist eben, daß eine moralische Pflicht nur als JV/teverpflichtung gedacht werden kann. Eine Handlungsregel, ein Gesetz kann nur dann moralisch genannt werden, wenn es, wie Kant (GMS Β 73 f.) sagt, der „eigenen Gesetzgebung" entsprungen ist, auf dem „Prinzip der Autonomie des Willens" beruht. Gerade dieses Prinzip der Autonomie ist es, das den ,nachmetaphysischen' „Abschied vom Prinzipiellen" (Marquard) und Allgemeinen auslöst. Man nimmt nicht so sehr daran Anstoß, daß eine allgemeingültige Moral dem konkreten Einzelfall nicht angemessen sein könnte; man stößt sich vielmehr daran, daß die moderne, und das heißt fast immer: die sich auf Kant berufende, Interpretation der Moralität als allgemeine Norm, als allgemeines Gesetz gerade dem wesentlichen Merkmal von Moralität nicht gerecht werden kann, Ausdruck von Freiheit zu sein und Freiheit zu ermöglichen. Von einem Prinzip der Freiheit zu sprechen, sei doch reiner Hohn, denn der Sache nach werde dieses Prinzip praktisch unmittelbar als Gesetz als kategorische Pflicht ausgelegt. Die Moral werde damit nicht nur terminologisch dem Recht angeglichen, es werde vielmehr in unguter Weise der Dominanz des Rechtsförmigen und der Dominanz von Vorschriften und Verboten in der Moral selbst Raum geschaffen. Einem Gesetz, einer Pflicht gegenüber sind doch nur Gehorsam und Unterwerfung das adäquate Verhalten. Hegel mag ja rechthaben, daß der Boden des Rechts die Freiheit sei, aber wenn man, wie mittlerweile üblich, das Recht als (positivierte) Rechtsordnung, eben als Gesetz versteht, wird Moralität zwangsläufig als Gebot und Verbot, als Bevormundung, aber nicht mehr als die Ausdrucksform von Autonomie und Mündigkeit erscheinen. Einfach gesagt: Die juristische Ausdrucksweise in der modernen Moralphilosophie ist überhaupt kein Zufall. Sie ist vielmehr ein Indiz dafür, daß die angebliche Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft letztlich doch zur Gehorsamskultur gegenüber Gesetzen verkommt. Die Moderne entdeckt gewissermaßen in ihrem Moralprinzip die Freiheit, erschrickt aber heillos vor den möglichen Folgen ihrer Entdeckung und sieht sich deshalb gezwungen, diese eröffnete Kontingenz des Handelns sofort zu zähmen, sie in allgemeine

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Normen und strenge Verbindlichkeiten zu kanalisieren und so dieses Handeln aus Freiheit doch wieder berechenbar zu machen 4 . Diese Ungereimtheit, Autonomie durch die Unterwerfung des handelnden Subjekts unter moralische Gesetze erläutern zu wollen, d. h. der offensichtliche Umschlag von Freiheit in Bevormundung, wird deutlicher, wenn man sich dieses „Selbst" ansieht, das in der „Selbstgesetzgebung" der „praktischen Vernunft" am Werk sein soll. Von Kant wird diese „eigene Gesetzgebung" unmittelbar und ohne weitere Begründung mit der „allgemeinen Gesetzgebung" identifiziert 5 , aber auch seine gegenwärtigen Schüler im weitesten Sinn — die Diskursethiker, die ehemalige Erlanger Schule, Rawls, Höffe, ja auch die Regelutilitaristen — stehen nicht viel besser da. Es wird so getan, als sei diese Gleichsetzung das Selbstverständlichste auf der Welt und deshalb die einzig .vernünftige' Interpretation, um den Begriff der Autonomie und Freiheit vom Ruch der Willkür reinzuwaschen, aber es wird nicht stringent nachgewiesen, daß diese .Erklärung' wirklich nur eine Erläuterung sei, daß mein eigener Wille, obwohl er nicht delegiert (und damit auch nicht repräsentiert) werden kann 6 , in diesem allgemeinen Willen ohne Abstriche zur Geltung kommt. Das „Selbst" der modernen autonomen Moral ist also ein allgemeines Selbst, der vernünftige und allgemeine Wille, das transzendentale Ich, der unvoreingenommene, unbeteiligte Beobachter, die ideale Kommunikationsgemeinschaft und wie die Bestimmungen sonst noch lauten, aber niemals Ich selbst, dieses empirische Individuum. Dieses empirische Ich wird vielmehr aus der praktischen Vernunft ausgeschlossen 7 . Nun ist ja der „allgemeine Willen" schon in der Rousseauinterpretation ein notorischer Streitpunkt, aber auch in der Fassung der „allgemeinen Gesetzgebung", der „idealen Kommunikationsgemeinschaft" usw. wird das Verständnis nur scheinbar erleichtert — denn es soll ja auf keinen Fall eine empirische Versammlung aller Vernünftigen sein. So bleibt letztlich bloß die Interpretation übrig, es handle

So ausdrücklich Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral": „(D)er Mensch würde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht' (KSA 5, 293). Kant hat dieses Problem ganz deutlich gesehen: „Wäre aber jeder frei ohne Gesetz, so könnte nichts Schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern, was er wollte, ... Vor dem wildesten Tier brauchte man sich nicht so fürchten, als vor einem gesetzlosen Menschen. ... Sie (sc. die Freiheit) muß (!) sich daher selbst Gesetz sein" (Bd. 27, S. 1320, 1322). Eine (text)genaue und ausführliche Analyse dieses ganzen Komplexes liefert G. Prauss (1983). „... daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und daß er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzweck nach aber allgemein gesetzgebenden, Willen gemäß zu handeln" (Grundlegung, S. 73). Der locus classicus ist natürlich Rousseau: C. S. II, 1. Damit wären wir schon bei einem Hauptthema von Foucault: Die Vernunft der Moderne, auch und gerade als praktische Vernunft, ist eben nicht zwanglos und herrschaftsfrei. Sie konstituiert sich vielmehr über den Ausschluß und die Ausgrenzung, also über Strukturen unterdrückender und d. h.: negativer Macht.

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sich um die hypothetische Überlegung des „als ob": Nur ein Urteil oder ein Gesetz, das frei von Parteilichkeit und nach reiflicher Überlegung von allen gebilligt würde oder ak2eptiert werden könnte, das also fáhig wäre, bei allen vernünftigen Wesen Zustimmung zu finden, darf „moralisch" genannt werden 8 . Eine derart mit irrealen Fiktionen gespickte Moral ist dann freilich auf dem besten Weg, zum moralischen Paternalismus zu verkommen, werden doch bestimmte moralische Intuitionen einiger armchair-philosophers unseres Kulturkreises ungeniert als schlechthin allgemein ausgegeben 9 . Ist schon nicht ganz einsichtig 10 , wie hypotheüsche Überlegungen jemanden zu etwas verpflichten können sollen (es sei denn, man habe gerade das im Sinn, was das schiere Gegenteil von Freiheit ist: nämlich Naturgesetze, die tatsächlich in irreale Konditionalsätze umgeformt werden können), so ist noch weniger einsichtig, warum gerade solche hypothetischen Überlegungen ein besonders guter und überzeugender Grund fiir mich sein sollten, nach ihnen zu handeln. Ich selbst müßte davon überzeugt sein, und dafür ist es gerade kein besonders triftiges Argument, daß ich etwas tun sollte, weil es auch Frau Jones aus Chicago oder Herr Chung aus Nanking tun sollte oder könnte. Daß sich die Moralphilosophen im allgemeinen herzlich wenige Gedanken darüber machen, was für jemanden ein ,guter Grund" sein könnte, moralisch zu handeln, läßt sich an der verbalen Akrobatik ablesen, mit der sie allgemein verbindliche Normen zu begründen versuchen. Ihre Fixiertheit auf Objektivität verrät schon, daß sie unbeirrt an der These der mittelalterlichen Metaphysik festhalten, daß „ens, verum et bonum convertuntur". Und was die beanspruchte „Vernünftigkeit" ihrer Begründung angeht: Darf eine Begründung tatsächlich dieses Prädikat beanspruchen 11 , wenn man darauf verwiesen wird, daß es sich eben um ein nicht begründbares „Faktum" handle, weil es „vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit" vorausgeht (KpV A 163)? Ist es tatsächlich überzeugend, Freiheit an einem Gesetz festzumachen, das „sich für sich selbst uns aufdringt" (KpV A 96), an nicht hintergehbaren, unvermeidlichen Voraussetzungen, die man „immer schon" machen müsse (!), wenn man bloß den Mund auftut oder denkt 12 ? Der berühmte Mann auf Um nicht Vaihingers „Philosophie des Als ob" zu strapazieren, verweist man besser auf Kants Interpretation des Gesellschaftsvertrags („Gemeinspruch", S. 153) oder Rawls' „original position" („Eine Theorie der Gerechtigkeit", S. 28). Die im allgemeinen nicht besonders geschätzten Demoskopen unterziehen sich wenigstens der Mühe, ein einigermaßen repräsentatives Sample zu erstellen, wenn sie vorgeben, die „öffentliche Meinung" dingfest zu machen. Zumindest einigen Kritikern der hypothetischen „original position" von Rawls nicht, so z. B. R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt 1984, S. 252 ff. Oder ist nicht der Ausdruck „Verzweiflungstat" angemessener, den Prauss in diesem Zusammenhang verwendet (1983, 67)? Apel findet den Clou seiner transzendentalpragmatischen „Letztbegründung" moralischer Normen gerade in solchen Unausweichlichkeiten. Ist dies nicht schon Rousseaus Paradox, daß man von Allgemeinwillen „gezwungen werden" könne, „frei zu sein" (C. S. I, 7)?

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der Straße käme bei dieser Zumutung nicht mehr mit, daß eine vernünftige Begründung gerade in der Kapitulation der Vernunft vor dem Faktum bestehe, daß sich Freiheit aus der unausweichlichen Verstrickung in unvermeidliche Bedingungen erweisen lasse. Die verbalen Klimmzüge wollen offenbar das Paradox der neuzeitlichen Ethik verschleiern: Wenn Freiheit und Autonomie nur im Blick auf ein allgemeines Gesetz, eine allgemeine Regel verstanden werden können, handelt es sich dabei schlicht um etwas anderes: um Unterwerfung, um Zwang, um ein Nicht-anders-können, aber nicht um eine freie Entscheidung. Was der normalen Vernunft 13 mit Recht als Disjunktion erscheinen muß — moralische Autonomie oder moralisches Gebot —, wird von der überwältigenden Mehrheit der modernen Moralphilosophen als Identität angesehen. Autonomie wird damit in Wirklichkeit zur Bevormundung des Ichs durch den allgemeinen Willen, die praktische Vernunft, den idealen Beobachter, die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die mir großzügig zugestandene Freiheit entpuppt sich in Wahrheit als der unbedingte Gehorsam gegenüber den Vorschriften einer mir selbst letztlich fremd gegenüberstehenden Instanz. Wenn eine ,nachmetaphysische Ethik' in etwa auf diese Weise den Zwangscharakter endarven will, der im modernen Begriff der Moralität steckt, ist sie natürlich nicht besonders originell. Es ist auch nicht so, als ob man erst auf Nietzsche oder die Poststrukturalisten hätte warten müssen, um darauf zu kommen, daß Vernunft nicht bloß Freiheit und Toleranz, sondern auch Zwang und Ausschließung bedeutet. Einige Zeit vor Nietzsche (und Foucault in manchen Punkten überraschend ähnlich!) polemisierte schon einmal ein Philosoph gegen die Zwangsherrschaft der Ideen von Vernunft, Wahrheit und Moralität. Er insistierte darauf, daß moralische Ideale für die Menschen nur dann etwas taugen können, wenn sie zum wirklichen „Eigentum" des „Einzelnen" geworden sind. Die Terminologie verrät es: Ich meine Max Stirner 14 . Man mag von ihm halten, was man will, aber Stirner zeigt, und zwar in konsequenter Fortsetzung der Hegeischen Kritik am Kantischen Sollen (wenn auch ohne dessen Absicherung in der „Sittlichkeit" oder den postmodernen „Üblichkeiten"!), daß Moralität als Norm und als Ideal verstanden die Menschen daran hindert, so etwas wie eine Identität entwickeln zu 13

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Sie würde sich an Nietzsche halten: „... .autonom' und .sittlich' schließt sich aus" (KSA 5, 293). So - „Der Einzige und sein Eigentum" — lautet der Titel von Surners Hauptwerk (1845). Die Philosophiegeschichder mögen den in Bayreuth geborenen Stirner durchaus zurecht ins zweite oder gar dritte Glied verbannt haben. Aber meines Erachtens verdient er mehr, als bloß eine skurrile Fußnote in der Entwicklung des jungen Marx zu sein. Eine A r t von .Rehabilitierung' Sarners versuchte ich in meiner Bayreuther Antrittsvorlesung (Max Sürners „Egoismus": eine Philosophie der Gedankenlosigkeit? in: J. Knoblauch / P. Peterson (Hg.), Ich hab .Mein Sach' auf Nichts gestellt. Texte zur Aktualität von Max Stirner, Berlin 1996, S. 9 6 - 1 1 0 ) .

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können. Angesichts moralischer Normen und Ideale zerfällt man immer in zwei Iche: den empirischen Menschen, der man wirklich ist, und den eigentlichen, weil moralischen Menschen, der man zwar sein oder werden soll, aber niemals wirklich sein kann. Auf dem moralischen Standpunkt ist also das Subjekt nie bei sich selbst. Es wird vielmehr zu einer gespaltenen Persönlichkeit, wobei zu allem Unglück unbesehen der eine Teil, der sich tatsächlich entscheiden muß und deshalb fragt, wie er handeln solle, sich dem Urteil des allgemeinen, aber selbst-losen und deshalb geisterhaft-blassen Ichs unterwerfen soll 15 . Wenn Moral mit dem „Sollen", mit Gesetzen und allgemein verbindlichen Normen gleichgesetzt wird, ist das Idealbild des Menschen der Schizoide, aber nicht das selbstbewußt freie, in eigener Regie handelnde Individuum. Moralität ist damit für Stirner um keinen Deut besser als der Entfremdungszustand der Religion, denn der Einzelne kann auf sein „Heil" (und d. h. für ihn: auf seine Ganzheit, auf eine Identität) immer nur hoffen, sie aber nie leben. Eine zwingende Konsequenz solcher oder ähnlicher moralitätskritischer Überlegungen wäre: Wenn moralisches Handeln wirklich Freiheit sein soll, die Fähigkeit, sein Leben in Autonomie zu gestalten, dann darf man sich nicht am moralischen Gesetz orientieren, um ein akzeptables Verständnis von Moral und Ethik zu erhalten. Das adäquate Modell müßte vielmehr der Rat sein, und zwar der Ratschlag eines guten Freundes. Bei einer solchen sozusagen konsiliatorischen und nicht-normativen Ethik wird nämlich nicht nur die Freiheit der Stellungnahme dem Ratschlag gegenüber offengelassen, was bei einem Gesetz gerade nicht der Fall ist; es wird auch deutlich gemacht, daß die eigentliche Verantwortung dem Handelnden selbst überlassen bleibt. Diese andere Sichtweise moralischer ,Normen', und nicht die Überzeugung, daß die antike Ethik für uns nachzueiferndes Vorbild sein müßte, ist der ausschlaggebende Grund dafür, daß ζ. B. Foucault fur den Entwurf einer Ethik auf die Antike Bezug nimmt 16 : eben weil sich dort keine Gebotsmoralität, keine normative und auf Allgemeingültigkeit abzielende Moralauffassung finde, sondern ein Typ von Ethik, der auf den freundschaftlichen Rat und Vorschlag dessen sich gründet, der es geschafft hat, so etwas wie ein gelungenes und damit vorbildliches Leben zu führen. Überspitzt formuliert macht der auf allgemeine Regeln und Gesetze fixierte moralische Diskurs aus dem Individuum ein zwiespältiges, metaphysi„Können wir Uns das gefallen lassen, daß ,Unser Wesen' zu Uns in einen Gegensatz gebracht, daß Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, aus Uns selbst Uns verbannt zu sehen?" (Stirner 1981, S. 34) In seinen letzten Büchern über die Geschichte der Sexualität (Sexualität und Wahrheit, Band 2 und 3). Foucault mag mit seiner Interpretation der Antike zuviel Gutes antun, aber einige Indizien deuten doch darauf hin, daß er nicht ganz daneben liegt. Zu Foucaults Ethik jetzt ausführlich: W. Schmid 1991.

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sches Wesen, das in einer wirklichen und einer Über- bzw. Hinterwelt leben muß. Derselbe Diskurs degradiert aber auch das Individuum zum austauschbaren Exemplar einer Gattung, denn es wird vom Einzelnen verlangt, so zu handeln wie jeder x-beliebige an seiner Stelle auch handeln sollte. Eine solche Auffassung von Ethik und Moral gestattet es den Menschen nicht, eine Identität zu finden, und sie erlaubt dem Individuum schon gar nicht, sich eine eigene und damit unverwechselbare Identität zu schaffen. Dieses Manko einer allgemeinverbindlichen Moral macht überdeutlich, warum ,nachmetaphysische Ethiken' überhaupt kein schlechtes Gewissen haben, die Grenze zwischen Ethik und Ästhetik (wie übrigens auch die Grenze zwischen Philosophie und Literatur) zu verwischen. Ethiken, die von einer Uberwelt allgemeiner Normen nichts wissen wollen, verstehen sich ausdrücklich als „Lebenskunst", nicht, um mit den diversen Lebenshilfen in Taschenbuchformat konkurrieren zu wollen und so die ,Brauchbarkeit' dieser anderen Ethik für die alltägliche Praxis zu beweisen. Es geht ihnen vielmehr um das, was Selbstkonstituierung des Subjekts genannt werden kann 17 . Eine eigene Identität zu finden, heißt doch: aus den verschiedenen und disparaten Handlungsweisen und Rollen seines Lebens eine Ganzheit bilden zu wollen. Ethik zielt (schon von der griechischen Wortbedeutung her) darauf ab, einen „Charakter" zu formen, eine Persönlichkeit, die in der Lage ist, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, ihrem Leben eine besondere Form zu verleihen, oder wie Nietzsche provozierend meint: ihrem Charakter „Stil" zu geben 18 . Die Ethik ist doch kein Verfahren der Klonung, so daß jeder zu einer der unzähligen Kopien der allgemeinen Gattung Mensch werden soll. Die moralische Einstellung soll doch jedem die Chance bieten, er selbst sein zu können und sich, salopp gesprochen, in dieser von ihm gewählten Lebensform wohlfühlen zu können. Da dies die jeweils eigene Leistung jedes Individuums sein muß, drängt sich ein ästhetisches Verständnis der Ethik direkt auf. Denn ,Kunst' ist ja Formung, Gestaltung und Transformation. Ein Bild oder ein Roman präsentiert sich eben dann als gelungen, wenn man nicht ein Konglomerat von heterogenen Stücken, sondern eine Komposition der mannigfaltigen Motive und Elemente zu einem Ganzen dargeboten bekommt. In dieser Weise sollte eine Ethik jeden in die Lage versetzen, aus der Vielfalt seiner Handlungen und den scheinbar disparaten Rollen ein kohärentes Bild seines W. Schmid weist nach, daß diese Formel sogar für Foucault gilt, obwohl gerade er zu denen gerechnet wird, die den „Tod des Subjekts" propagiert hätten. Dazu beigetragen hat sicherlich die letzte Seite der „Ordnung der Dinge", wo es heißt, daß „der Mensch eine gute Erfindung" sei, und daß man „sehr wohl wetten" könne, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand" (1974, S. 462). „Eins ist Noth. - Seinem Charakter ,Stil geben' - eine große und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt" (Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 290).

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Lebens in der Welt zu schaffen, um in seinen unterschiedlichen Äußerungen und Taten sich selbst wiedererkennen und wiederfinden zu können. Die Grundfrage der Moral - was soll ich tun? - stellt sich dann in einem anderen Licht dar. Ein ,guter' Grund, ein überzeugender Grund, etwas zu tun, ist es, wenn diese Handlungsweise sich in ein „kohärentes Gesamtbild" oder einen Lebensentwurf „sinnvoll einfügen" läßt 19 . Der Test, ob diese kontinuierliche Integration in die Identität eines Selbsts gelungen ist, wäre dann die Frage, ob wir unser Leben als garths, so wie es ist und verlaufen ist, akzeptieren könnten. Und dies hieße dann: ob wir bereit und willens wären, es nochmals in derselben Weise zu leben 20 . Eine solche sozusagen ästhetische Auffassung von Ethik, die dem Leben des Individuums den Charakter einer Ganzheit verleihen will, paßt viel besser zu solch -wichtigen Begriffen der Moral wie „Achtung", „Würde der Person", „Zweck an sich". Sie erlaubt es darüber hinaus auch, bestimmte (freilich nicht nur positive!) Charakteristika des moralischen Diskurses besser verständlich zu machen als die üblichen Moraltheorien, die auf allgemeine Verbindlichkeit aus sind. Zum ersten Punkt. Moralisches Handeln bewegt sich im Medium von Achtung und Verachtung. Achtung vor der Würde der Person ist gewissermaßen das moralische Gefühl par excellence. Um jemanden achten zu können, ist aber nicht Konsens oder allgemeine Ubereinstimmung nötig. Man kann jemanden schätzen oder achten, auch wenn er mit einem selbst nicht derselben Meinung ist, man aber überzeugt ist, daß er sich ein Urteil oder seine Entscheidung nicht leicht gemacht hat oder daß er Charakter zeigt, d. h. seinem Leben eine gestaltende Form zu verleihen sucht. Achtung bezieht sich also in erster Linie nicht auf diese Leistung oder jene Eigenschaft, Achtung erweist man einer Person als ganzer. Achtung setzt weiterhin gegenseitige Anerkennung voraus. Aber auch hier sind wieder die sozusagen kontingenten und historischen Bedingungen meines Lebens entscheidend. Um als moralisch Handelnder Achtung zu finden, ist es nicht so wichtig, was irgendjemand in Oakland oder gar die Menschheit als solche von mir denkt. Für meine Selbstachtung zählen praktisch nur die von mir selbst geschätzten Personen, auf deren Urteil ich etwas gebe. Ich will ja als diese konkrete Person, die ich tatsächlich bin, geachtet werden und nicht bloß als Angehöriger der abstrakten Entität Menschheit. Und gerade 19

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So formuliert es zu Recht R. Bittner (1983, S. 181, 184). Dagegen sei die „fiktive Billigung aller Vernünftigen" gerade „kein guter Grund", sich eine Handlungsregel zu eigen machen (S. 176). A. Nehamas hält dies füir die akzeptablere Interpretation der vielumstrittenen Formel der „ewigen Wiederkehr" bei Nietzsche: „Die ewige Wiederkehr ist demnach keine Theorie über die Welt, sondern eine Ansicht über das ideale Leben. Sie besagt, daß ein Leben nur dann gerechtfertigt ist, wenn man dasselbe Leben, das man bereits hatte, noch einmal zu leben wünschte" (1991, S. 22).

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dann, wenn man seine eigenen Handlungen moralisch beurteilen will, richtet man normalerweise seinen Blick nicht so sehr auf die Allgemeinheit und deren Konsens. Man stellt sich viel eher die Frage, ob man sich selbst noch in die Augen schauen kann, ob also diese Handlung oder dieser Urteil zu der Lebensform paßt, zu der man sich entschieden hat. Moralische Urteile und moralisches Handeln akzentuieren die Gan^eit des Individuums. Wenn man jemanden nach moralischen Kriterien beurteilt, zielt man nicht auf einzelne seiner Fähigkeiten oder Verdienste ab. Daß seine Person als ganze gemeint ist, zeigt sich schon an der üblichen Ausdrucksweise. Man sagt dann ja, daß der Betreffende nicht in seiner Eigenschaft als Politiker oder Wissenschaftler interessiert, sondern darin, was er als Mensch sei. Dasselbe gilt in gleicher Weise für die urteilende Person selbst: In einem moralischen Urteil setze ich mich gewissermaßen als ganze Person und nicht bloß in einer bestimmten Eigenschaft oder Rolle aufs Spiel. Dies macht dann auch verständlich, warum man sich in moralischen Diskussionen so stark gefühlsmäßig engagiert. Und gerade diesem Phänomen, daß moralische Urteile so stark emotionsgeladen sind, können die Theorien des unparteiischen Beobachters als der eigentlich moralischen Instanz, die hypothetische Verallgemeinerung, der „Schleier des Nichtwissens" usw. nicht gerecht werden. Wenn die Moral „die Bedingungen wechselseitiger Achtung bzw. Mißachtung" bestimmt21, also auf die Person als ganze abzielt, wird auch deutlich, warum die moralische Dimension in der modernen Gesellschaft für so wichtig gehalten wird. In unserer pluralistisch-differenzierten Gesellschaft findet sich der Einzelne in praktisch allen Lebensbereichen sozusagen nur noch parzelliert, nur in bestimmten Rollen und Verhaltensweisen agierend wieder. Seine Wertschätzung wird ihm jeweils nur noch nach bestimmten Aspekten zuerteilt. Man selbst, Mensch ist man sozusagen fast überhaupt nicht mehr, eigentlich nur noch im privaten Kreis seiner Freunde. Daher kann es für diese Fähigkeit, eine Identität, eine Ganzheit aus seinem Leben machen zu können, auch keine gesellschaftlichen Vorgaben oder vorgestanzten Formen geben. Es bleibt mir selbst als meine ureigenste, sozusagen private Leistung überlassen, ob ich diese Identität im Leben und Handeln zustandebringe. In allen öffentlichen Lebensbereichen, also in dem, was den überwiegenden Teil unseres Lebens ausmacht, gelten nur bestimmte Aspekte der jeweiligen Person. Man wird dort geschätzt wegen seiner wissenschaftlichen Qualitäten, wegen seines Gespürs für die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen, als guter Unterhalter, aber wenn man von einem Politiker ζ. B. sagt (d. h. eigentlich sagen muß!), er sei ein redlicher Mensch, dann ist dies alles andere als ein Lob für seine politischen Leistungen. Damit sind wir schon beim zweiten Punkt: den Konsequenzen aus einem solchen Verständnis von Moraütät und Ethik als der Selbstkonstituierung des Luhmann definiert so seinen „soziologischen" Moralbegriff (1984, S. 215).

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Subjekts. Was folgt daraus? Zunächst einmal, daß die Ethik nicht als Lückenbüßer einspringen kann, wenn die Politik, die Wirtschaft oder auch die Wissenschaft versagen und nicht mit den drängenden Problemen dieser Gesellschaft fertig werden. Moral kann also nicht zur Kompensation gesellschaftlicher Defizite herbeigerufen werden. Denn die Moral (also auch die Ethik als die Theorie der Moral) hat eben die Person als gan^e zum Bezugspunkt, während die erwähnten gesellschaftliche Sphären der Politik, der Wirtschaft oder Wissenschaft den Menschen immer nur in unterschiedlichen Rollen, d. h. nur in Aspekten oder „ Teilen" seines Selbsts enthalten. Das Individuum, der Mensch ist also in keinem gesellschaftlichen Teilbereich, in keinem der gesellschaftlichen Systeme ganz enthalten 22 . Verhaltensweisen und Regeln, die die Konstitution einer personalen Identität ermöglichen wollen, haben eben eine andere Aufgabe als Verhaltensweisen, die spezifisch auf die Erhaltung der Funktionsgesetzlichkeiten bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche zugeschnitten sind. Der Appell an moralische Normen setzt an der falschen Stelle an, wenn man damit den verfahrenen Wagen der Politik oder der Wirtschaft aus dem Dreck ziehen will, so wie der Appell an Fairneß kaum die sportlichen Leistungen einer Mannschaft steigert. So wird man sich wohl, wenn auch schweren Herzens, damit abfinden müssen, daß der Umwelt der Appell an eine „neue", ökologische Ethik genauso wenig hilft wie der Wissenschaft der Appell an eine Wissenschaftsethik. Und schon gar nicht ist ein Konsens über moralische Grundwerte geeignet, den (scheinbaren) Auflösungsprozeß einer Gesellschaft stoppen zu können. Dies wäre nämlich die zweite Konsequenz einer ,nachmetaphysischen' Sicht der Ethik. So mancher sieht in unserer Gesellschaft alte Solidaritäten schwinden und meint dann, dem drohenden Chaos mit mehr Moral und Ethik beikommen zu können, so wie eben früher die Gesellschaft durch den Konsens über die allgemein verbindlichen Moralnormen integriert worden sei. Der Therapievorschlag „mehr Moral" ist natürlich plausibel, wenn man die Moral als Gesetz und Vorschrift und damit als eine Art sublimer Rechtsordnung nimmt. Diese Therapie hieße jedoch für unsere Gesellschaft, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Wenn nämlich der moralische Standpunkt immer den ganzen Menschen nicht nur ins Spiel bringt, sondern sogar aufs Spiel setzt — einige Seiten vorher wurde ja darauf hingewiesen, daß es ein fast untrügliches Kennzeichen moralischer Diskurse sei, von starken Gefühlen begleitet zu sein —, dann bin ich als moralisches Subjekt nicht der neutrale, desinteressierte Beobachter. Ich bin nicht nur engagiert, ich bin hier sogar als ganzer Mensch engagiert. Setzt man sich aber mit seiner ganzen Person für oder gegen etwas ein, wird einem der Rückzug von dieser Position nicht

Obwohl man nur allzu häufig den Eindruck bekommt, daß jemand nur noch Politiker ist oder von der Forschung mit Haut und Haaren vereinnahmt wird.

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mehr so leicht fallen23. Die Moral wäre damit gerade wegen ihrer ureigensten Funktion, ein Selbst zu konstituieren, nicht geeignet, eine neutralisierende, friedenstiftende, versöhnende Funktion in einer differenzierten Gesellschaft zu übernehmen. Das Fazit meiner Überlegungen ist schnell gezogen. Die ,nachmetaphysische Ethik' macht eigentlich nur deutlich, was im Grunde von jeder Ethik zu erwarten ist, die das Prinzip der Autonomie des Subjekts zu ihrem Fundament macht. Sie bringt damit allerdings diejenigen (zugegebenermaßen etwas unsanft) auf den Erdboden zurück, die in unserer „veränderten Welt" allzu optimistische Hoffnungen auf die Moral und die Ethik setzen, sei es als Bindemittel für eine brüchig gewordene Gesellschaft, sei es als schlagkräftige mobile Reserve, die dort einspringen könnte, wo Erziehung, Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft versagen.

Literatur: Bittner, Rüdiger, Moralisches Gebot oder Autonomie? Freiburg—München 1983 Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste, Sexualität und Wahrheit, Band 2, Frankfurt 1986 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt 1984 Lyotard, François, Das postmoderne Wissen, Graz-Wien 1986 Nehamas, Alexander, Nietzsche. Leben als Literatur. Göttingen 1991 Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 4, München 1988 Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, KSA Bd. 5, München 1988 Prauss, Gerold, Kant über die Freiheit als Autonomie, Frankfurt 1983 Schmid, Wilhelm, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/Main 1991 Stirner, Max, Der Einzige und sein Eigentum (1845), Stuttgart 1981

Luhmann ist einer der wenigen, der mit seinem detachierten - viele würden eher sagen: zynischen - Blick diese „polemogene Seite", die die Moral auch hat, herausstreicht (1984, S. 318).

Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens Richard Rorty

Jeder, der — wie ich im ersten Kapitel* — sagt, die Wahrheit sei nicht „dort draußen", wird sich dem Verdacht des Relativismus und Irrationalismus aussetzen. Jeder, der — wie ich im zweiten Kapitel — Zweifel an der Unterscheidung zwischen moralischen und klugem Verhalten anmeldet, wird sich der Immoralität verdächtig machen. Um diesen Verdacht zu zerstreuen, muß ich den Beweis fuhren, daß die Unterscheidungen zwischen Absolutismus und Relativismus, zwischen Rationalität und Irrationalität und zwischen Moralität und Zweckdenken veraltete, unhandliche Werkzeuge sind — Überbleibsel eines Vokabulars, das wir zu ersetzen versuchen sollten. Aber „Beweisführung" ist nicht das richtige Wort. Wenn man nämlich, wie ich, intellektuellen Fortschritt als die Übernahme ausgewählter Metaphern in den allgemeinen Sprachgebrauch versteht, wird man Einwände gegen die eigenen Neubeschreibungen einiger Dinge weitgehend durch die Neubeschreibung anderer Dinge widerlegen und so versuchen, diese Einwände von den Flanken her einzukreisen, indem man die Reichweite der Metaphern erweitert, die man am meisten schätzt. Ich werde also folgende Strategie anwenden: ich versuche, das Vokabular, in dem diese Einwände formuliert sind, schlecht aussehen zu lassen; dabei werde ich den Gegenstand wechseln, statt dem Gegner die Wahl der Waffen und des Terrains zu überlassen, was ich täte, wenn ich mich seiner Kritik frontal stellte. In diesem Kapitel werde ich die Behauptung aufstellen, daß den Institutionen und der Kultur einer liberalen Gesellschaft besser mit einem Vokabular der moralischen und politischen Reflexion gedient wäre, das die oben aufgezählten Unterscheidungen meidet, als mit einem, das sie konserviert. Ich werde zu zeigen versuchen, daß das Vokabular des Aufklärungsrationalismus zwar für die Anfange der liberalen Demokratie entscheidend war, aber jetzt zum Hindernis für die Erhaltung und Verbesserung demokratischer Gesell[Dieser Text ist dem Buch Kontingent, Ironie und Solidarität entnommen. Dieser Kapitelverweis und folgende beziehen sich auf dieses Buch, Hrsg.]

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Schäften geworden ist. Ich werde behaupten, daß das Vokabular, das ich in den ersten beiden Kapiteln umrissen habe, ein Vokabular, das um Vorstellungen von Metapher und Selbsterschaffung kreist, nicht mehr um Vorstellungen von Wahrheit, Rationalität und moralischer Pflicht, zu diesem Zweck besser geeignet ist. Ich sage jedoch nicht, daß die oben skizzierte Auffassung von Sprache, die wir von Wittgenstein und Davidson kennen, und das Verständnis von Gewissen und Selbstheit, das sich bei Freud und Nietzsche findet, etwa „philosophische Grundlagen der Demokratie" liefern könnten. Denn die Idee einer „philosophischen Grundlage" verschwindet mit dem Vokabular des Aufklärungsrationalismus. Diese Auffassungen geben keine Grundlage für Demokratie ab, sondern machen möglich, daß deren Praxis und Ziele neu beschrieben werden können. Im folgenden werde ich versuchen, die Hoffnungen einer liberalen Gesellschaft auf eine nicht-rationalistische und nichtuniversalistische Art zu beschreiben, die ihrer Verwirklichung mehr nützt als ältere Beschreibungen dieser Hoffnungen. Eine solche Neubeschreibung unserer gegenwärtigen Institutionen und Praktiken zielt nicht darauf, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen; es soll sozusagen ein Haus neu möbliert, nicht aber abgestützt oder verbarrikadiert werden. Der Unterschied zwischen einer Suche nach Begründungen und dem Versuch einer Neubeschreibung ist, so würde ich behaupten, emblematisch für den Unterschied zwischen der Kultur des Liberalismus und älteren Formen kulturellen Lebens. In ihrer Idealform wäre die Kultur des Liberalismus nämlich eine durch und durch aufgeklärte und säkulare Kultur. In ihr bliebe keine Spur von Göttlichem, weder in Form einer vergöttlichten Welt noch eines vergöttlichten Selbst. Sie hätte keinen Raum für die Vorstellung, es gebe nicht-menschliche Kräfte, denen die Menschen verantwortlich sein sollten. Eine solche Kultur würde nicht nur die Idee der Helligkeit, sondern auch die der „Hingabe an die Wahrheit" und der „Erfüllung der tiefsten Bedürfnisse des Geistes" aufgeben oder drastisch uminterpretieren. Der Prozeß der Entgötterung, den ich in den beiden ersten Kapiteln beschrieben habe, würde im Idealfall darin kulminieren, daß wir nichts mehr mit der Vorstellung anfangen können, der Sinn des Lebens endlicher, sterblicher, zufällig existierender menschlicher Wesen leite sich von irgend etwas anderem ab als endlichen, sterblichen, zufällig existierenden Menschen. Warnungen vor „Relativismus", Fragen, ob gesellschaftliche Institutionen in der Moderne zunehmend „rational" geworden seien, und Zweifel daran, daß die Ziele einer liberalen Gesellschaft „objektive moralische Werte" darstellen, würden in dieser Kultur nur noch als Kuriositäten erscheinen. Damit meine Behauptung, daß meine Ansicht sich gut mit einer liberalen Staatsordnung verträgt, eine gewisse Anfangsplausibilität gewinnt, möchte ich Parallelen zwischen ihr und Isaiah Berlins Verteidigung der „negativen Frei-

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heit" gegen teleologische Konzeptionen menschlicher Vollkommenheit aufzeigen. In seinen „Two Concepts of Liberty" sagt Berlin, wie ich im ersten Kapitel, wir müßten den Versuch aufgeben, Vokabulare, Praktiken und Werte wie Teile eines Puzzles zusammensetzen zu wollen. Aufgeben müssen wir, sagt Berlin, „die Uberzeugung, daß alle positiven Werte, an die Menschen geglaubt haben, am Ende miteinander verträglich sein oder sogar auseinander folgen müssen 1 ". Daß ich so viel Gewicht auf Freuds Forderung lege, wir sollten uns selbst jeweils nur als eines von vielen Experimenten der Natur verstehen, nicht als die Krönung dessen, was die Natur entworfen hat, findet seine Entsprechung in Berlins Verwendung von Mills Formulierung „Experimente mit dem Leben" (auch in Jeffersons und Deweys Verwendung des Begriffes „Experiment" zur Beschreibung der amerikanischen Demokratie). In meinem zweiten Kapitel habe ich mich abwertend über den KantischPlatonischen Versuch geäußert, das zu tun, was Berlin als „eine Spaltung unserer Persönlichkeit" bezeichnet: „in den transzendenten dominanten Kontrolleur und das empirische Bündel von Begierden und Leidenschaften, das diszipliniert und gegängelt werden muß 2 ". Berlin zitierte am Ende seines Essays Joseph Schumpeters Satz: „Die Einsicht, daß die Geltung der eigenen Uberzeugungen nur relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren." Berlins Kommentar: „Mehr als das zu verlangen ist vielleicht ein tiefes, unheilbares metaphysisches Bedürfnis; wenn man aber zuläßt, daß dieses Bedürfnis das Handeln bestimmt, so ist das ein Symptom für ebenso tiefe und gefährlichere moralische und politische Unreife 3 ." Die Ansicht, daß die von Schumpeter beschriebene Haltung ein Zeichen für Zivilisiertheit sei, läßt sich in meinem Sprachgebrauch ungefähr so übersetzen: Die liberalen Gesellschaften unseres Jahrhunderts haben zunehmend mehr Menschen hervorgebracht, die die Kontingenz des Vokabulars erkennen können, in dem sie ihre höchsten Hoffnungen zum Ausdruck bringen — also die Kontingenz ihres Gewissens —, und dennoch auf dieses Gewissen weiter vertrauen. Autoren wie Nietzsche, William James, Freud, Proust und Wittgenstein geben Beispiele für das, was ich „Freiheit als Erkenntnis der Kontingenz" genannt habe. In diesem Kapitel werde ich behaupten, daß diese Erkenntnis die Haupttugend der Mitglieder einer liberalen Gesellschaft ist und daß die Kultur einer solchen Gesellschaft darauf zielen sollte, uns von unseren „tiefen metaphysischen Bedürfnissen" zu heilen. Um zu prüfen, wie sich der Vorwurf des Relativismus aus meinem Gesichtswinkel ausnimmt, werde ich Anmerkungen Michael Sanders, eines scharfen zeitgenössischen Kritikers der liberalen Tradition, zu Berlin Essay 1 2 3

Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford University Press 1969, S. 167. Ebd., S. 134. Ebd, S. 172.

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betrachten. Sandel sagt, Berlin „kommt dem Fall ins relativistische Dilemma gefährlich nahe". Er fragt: „Wenn die eigenen Uberzeugungen nur relativ gültig sind, warum dann unerschrocken für sie einstehen? Ist in einem tragisch gestalteten moralischen Universum, so wie es Berlin annimmt, das Ideal der Freiheit weniger der grundsätzlichen Inkommensurabilität der Werte unterworfen als andere, konkurrierende Ideale? Wenn ja, worin könnte sein privilegierter Status bestehen? Und wenn Freiheit keinen moralisch privilegierten Status hat, wenn sie nur ein Wort unter vielen ist, was kann dann zugunsten des Liberalismus gesagt werden4?"

Wenn er diese Fragen stellt, hält Sandel das Vokabular des aufgeklärten Rationalismus für selbstverständlich. Weiter nutzt er es aus, daß Schumpeter und Berlin dieses Vokabular auch selbst verwenden, und versucht dadurch die Inkohärenz ihrer Ansicht zu zeigen. Sandels Fragen in einiger Ausführlichkeit zu untersuchen hilft vielleicht zu klären, welche Art Anschauungen Menschen haben, die die Begriffe „Relativismus" und „moralisch privilegiert" nützlich finden. Dadurch wird vielleicht auch klarer, warum man besser den Begriff „nur relativ gültig" meldet, wenn man die Geisteshaltung derer charakterisiert, die Schumpeter, Berlin und ich rühmen möchten. Daß Uberzeugungen nur „relativ gültig" sind, klingt vielleicht so, als meine man, daß sie nur gegenüber solchen Menschen gerechtfertigt werden können, die bestimmte andere Uberzeugungen haben — aber nicht gegenüber jedermann. Wenn das jedoch gemeint wäre, dann hätte der Begriff keine kontrastierende Kraft, denn dann gäbe es keine interessanten Aussagen von absoluter Geltung. Absolute Geltung beschränkte sich dann auf Binsenweisheiten, elementare mathematische Wahrheiten und dergleichen: die Art Uberzeugungen, die niemand bestreiten will, weil sie weder umstritten sind noch zentrale Bedeutung für irgend jemandes Selbst- und Lebensverständnis haben. Alle Uberzeugungen, die für das Selbstbild einer Person zentral sind, haben dies Gewicht deshalb, weil ihr Vorhandensein oder Fehlen als Kriterium zur Unterscheidung zwischen guten und schlechten Menschen dient, zwischen der Art von Person, die man sein, und der Sorte, die man nicht sein will. Eine Uberzeugung, die sich gegenüber jedermann rechtfertigen läßt, interessiert fast niemanden. Um an ihr festzuhalten, braucht es keinen „unerschrockenen Mut".

Michael Sandel, „Introduction" zu: ders. (Hg.), Liberalism and its Critics, New York University Press 1984, S. 8. Mit diesen Bemerkungen gibt Sandel eher den Standard-Einwand, weniger seine eigene Einstellung zu Berlin wieder. An anderer Stelle habe ich mich mit Sandels Ansichten ausführlicher auseinandergesetzt und versucht, manche Einwände gegen Rawls zu entkräften, die er in seinem Buch Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge: Cambridge University Press 1982, formuliert hat. Siehe dazu meinen Aufsatz „Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie", in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 273-289.

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Also müssen wir den Terminus „nur relativ gültige Überzeugungen" so auffassen, daß er einen Kontrast zu Aussagen bildet, die vor allen unverdorbenen Menschen gerechtfertigt werden können — das heißt, vor all denen, bei denen die Vernunft, verstanden als wahrheitssuchendes Vermögen, oder das Gewissen, verstanden als eingebauter Rechtschaffenheits-Detektor, stark genug sind, schlimme Leidenschaften, vulgären Aberglauben und fundamentale Vorurteile zu überwinden. Die Vorstellung von „absoluter Geltung" ergibt nur dann Sinn, wenn man ein Selbst annimmt, das einigermaßen genau aufzuspalten ist in einen Teil, den es mit dem Göttlichen gemeinsam hat, und einen anderen, den es mit den Tieren teilt. Wenn wir aber diesen Gegensatz zwischen Vernunft und Leidenschaft oder zwischen Vernunft und Willen akzeptieren, dann werden wir Liberalen unserer Sache schaden. Wer von uns mit Freud und Berlin darin einer Meinung ist, daß Personen nicht in Vernunft und Leidenschaft gespalten werden sollten, muß darauf bestehen, daß die traditionelle Unterscheidung zwischen „rationaler Uberzeugung" und „Überzeugung, die durch Ursachen statt durch Gründe bewirkt ist", abgeschafft oder wenigstens nur noch eingeschränkt gebraucht werden sollte. Am besten schränkt man die Verwendung dadurch ein, daß man die Entgegensetzung zwischen rationalen und irrationalen Formen der Überzeugung nur innerhalb eines Sprachspieles gelten läßt, statt sie auf die interessanten und wichtigen Veränderungen des sprachlichen Verhaltens zu übertragen. Ein so eingeschränktes Verständnis von Rationalität ist alles, was wir uns noch erlauben können, wenn wir die zentrale Behauptung des ersten Kapitels akzeptieren: daß das, was am Ende zählt, das Auswechseln von Vokabularen, nicht von Überzeugungen ist, das Auswechseln von Wahrheitswert-Kandidaten, nicht die Festlegung eines Wahrheitswertes. In einem Sprachspiel, in einem Sortiment von Vereinbarungen über das, was möglich und unmöglich ist, können wir sinnvoll Unterscheidungen treffen zwischen Gründen für Überzeugungen und von Gründen verschiedenen Ursachen für Überzeugungen. Wir fangen dabei mit offensichtlichen Unterschieden an, zum Beispiel dem zwischen einem sokratischen Dialog und einer hypnotischen Suggestion. Dann versuchen wir die Unterscheidung dingfest zu machen, indem wir uns mit weniger eindeutigen Fällen befassen, ζ. B. mit Gehirnwäsche, Medienüberflütung und dem, was Marxisten „falsches Bewußtsein" nennen. Man kann keine klare Trennungslinie zwischen Überredung und Gewalt ziehen, und also auch keine klare Trennungslinie zwischen einer Ursache für Überzeugungswechsel, die zugleich ein Grund war, und einer anderen, die eine „bloße" Ursache war, aber diese Unterscheidung ist nicht verschwommener als die meisten anderen auch. Sobald wir aber die Frage stellen, wie wir von einem Vokabular zu einem anderen, von einer herrschenden Metaphorik zu einer anderen kommen, fangt die Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen an, ihre Brauchbarkeit zu verlieren. Diejenigen, die die alte Sprache sprechen und keine Lust

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zum Wechsel haben, die das Sprechen eben dieser Sprache für ein Markenzeichen der Rationalität oder Moralität halten, werden die Anziehungskraft der neuen Metaphern — der neuen Sprachspiele, die die Radikalen, die Jugend oder die Avantgarde spielen, vollkommen irrational finden. Daß die neuen Sprechweisen beliebt sind, wird als Abhängigkeit von einer „Mode" oder als „das Bedürfnis zur Rebellion" oder „Dekadenz" angesehen. Die Frage, warum Leute so sprechen, wird abgewiesen; sie ist kein Gesprächsthema — man möchte sie an die Psychologen oder, wenn nötig, an die Polizei verweisen. Umgekehrt sind in der Sicht derer, die versuchen, die neue Sprache zu benutzen, die neuen Metaphern in den täglichen Sprachgebrauch aufzunehmen, die anderen irrational — Opfer ihrer Leidenschaft, ihrer Vorurteile, ihres Aberglaubens, einer überlebten Vergangenheit und so weiter. Man kann darauf zählen, daß die Philosophen auf beiden Seiten diese einander entgegengesetzten Beschwörungen der Unterscheidung zwischen Grund und Ursache unterstützen, indem sie eine Moralphilosophie oder Erkenntnistheorie oder Sprachphilosophie entwickeln, die ein schlechtes Licht auf die jeweils andere Seite wirft. Wenn man die Behauptung akzeptiert, daß es keinen archimedischen Punkt außerhalb gibt, von dem aus wir das besondere historisch bedingte, zeitgebundene Vokabular, das wir in der Gegenwart benutzen, beurteilen könnten, dann muß man die Idee aufgeben, es könne ebenso Gründe zur Verwendung von Sprachen geben, wie es innerhalb von Sprachen Gründe gibt, Behauptungen zu glauben. Das läuft darauf hinaus, daß man sich von der Idee verabschieden muß, intellektueller oder politischer Fortschritt sei rational in einem Sinn von „rational", der in bezug auf Vokabulare neutral ist. Aber da es sinnlos scheint, zu sagen, daß alle die großen moralischen und intellektuellen Errungenschaften der europäischen Geschichte — die Christenheit, die Wissenschaft Galileis, die Aufklärung, die Romantik usw. — nur ein glücklicher Sturz in vorübergehende Irrationalität waren, bleibt als Lehre zu ziehen, daß die Unterscheidung zwischen rational und irrational weniger nützlich ist, als sie einst schien. Haben wir erst einmal erkannt, daß Fortschritt für das Gemeinwesen wie für den einzelnen ebenso eine Sache des Gebrauchs neuer Worte ist wie der Argumentation von Voraussetzungen ist, die in den alten Worten formuliert sind, dann erkennen wir, daß ein kritisches Vokabular im Umkreis von Wörtern wie „rational", „Kriterien", „Argument", „Begründung" und „absolut" schlecht geeignet ist, die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen zu beschreiben. Am Schluß eines Aufsatzes über Freuds Verständnis der Irrationalität schreibt Davidson, daß wir — wenn wir die Vorstellung von „absoluten Kriterien für Rationalität" erst einmal aufgegeben haben und den Terminus „rational" in der Bedeutung etwa von „innerer Kohärenz" verwenden — den Anwendungsbereich dieses Terminus eng begrenzen; sonst wären wir gezwungen, viele Dinge „irrational" zu nennen, denen wir hohen Wert zubilligen

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möchten. Wir müßten vor allem das als „irrational" beschreiben, was nach Davidson „eine Form der Selbstkritik und Umkehr [ist], die wir hochschätzen und die sogar als das Wesen der Rationalität und die Quelle der Freiheit galt". Davidson spitzt das zu: „Was ich meinem, ist eine besondere Art von Wunsch oder Wert zweiter Ordnung und die Handlungen, die dadurch ausgelöst werden. Das geschieht, wenn ein Mensch sich ein positives oder negatives Urteil über seine Wünsche bildet und handelt, um diese Wünsche zu ändern. Aus der Sicht der veränderten Wünsche gibt es keinen Grund für die Veränderung — der Grund kommt aus einer unabhängigen Quelle und beruht auf weiteren und teilweise kohärenten Überlegungen. Der Handelnde hat Gründe, seine Gewohnheiten und seinen Charakter zu ändern, aber diese Gründe kommen aus einem Reich der Werte, das den Inhalt derjenigen Meinungen oder Werte, die Veränderungen unterliegen, notwendig fremd bleibt. Wenn es zu einer Veränderung kommt, kann die Ursache der Veränderung deshalb nicht ein Grund für das sein, was sie verursacht. Eine Theorie, die Irrationalität nicht erklären könnte, wäre eine, die auch unsere heilsamen und gelegentlich erfolgreichen Bemühungen um Selbstkritik und Selbstbesserung nicht erklären könnte5."

Davidson hätte natürlich unrecht, wenn Selbstkritik und Selbstbesserung immer in einem Rahmen nicht-trivialer Wünsche höchstmöglicher Ordnung stattfanden, jener Wünsche des wahren Selbst, die für unsere Menschlichkeit von zentraler Bedeutung sind. Denn dann würden diese Wünsche höchster Ordnung den Widerstreit zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung schlichten und rationalisieren. Aber Davidson nimmt an — zu Recht, glaube ich —, daß die einzigen Kandidaten für solche Wünsche höchster Ordnung so abstrakt und leer sind, daß sie keine schlichtende Kraft haben: „Ich möchte gut sein" oder „ich möchte rational sein" oder „ich möchte die Wahrheit wissen" sind Beispiele für solche Wünsche. Da das, was als „gut" oder „rational" oder „wahr" zählt, durch den Ausgang des Streites zwischen den Wünschen erster und zweiter Ordnung entschieden wird, haben wehmütige Beteuerungen eines guten Willens höchster Ebene kaum die Kraft, in diesen Streit einzugreifen. Wenn Davidson recht hat, dann sind die Voraussetzungen, die meist gegen Berlin und Schumpeter ins Feld geführt werden, falsch. Wir werden nicht voraussetzen können, daß es einen größtmöglichen Rahmen gibt, innerhalb dessen wir zum Beispiel die Frage stellen könnten: „Wenn Freiheit keinen moralisch privilegierten Status hat, wenn sie nur einer unter vielen Werten ist, was kann dann zugunsten des Liberalismus gesagt werden?" Wir können nicht voraussetzen, daß Liberale in der Lage sein sollten, sich über die Kontingenzen der Geschichte zu erheben und die Art individueller Freiheit, die der moderne liberale Staat seinen Bürgern anbietet, als nur einen unter vielen Werten anzusehen. Wir können auch nicht voraussetzen, daß es vernünftig ist, solche Freiheit in eine Reihe mit anderen Kandidaten zu stellen (zum Donald Davidson, „Paradoxes of Irrationality", in: Richard Wollheim und James Hopkins (Hg.), Philosophical Essays on Freud, Cambridge: Cambridge University Press 1982, S. 305.

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Beispiel mit dem Sinn für nationale Ziele, den die Nazis eine kurze Zeit den Deutschen boten, oder mit dem Sinn für Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, der die Religionskriege inspirierte) und dann „die Vernunft" zur Prüfung dieser Kandidaten einzusetzen, um so herauszufinden, welche „moralisch privilegiert" sein mögen. Nur unter der Voraussetzung, es gäbe einen solchen Standpunkt, zu dem wir uns vielleicht erheben können, hat die Frage Sinn: „Wenn die eigenen Uberzeugungen nur relativ gültig sind, warum soll man dann unerschrocken zu ihnen stehen?" Umgekehrt wird weder Schumpeters Formulierung „relative Geltung" noch der Verdacht eines „relativistischen Dilemmas" zutreffend scheinen, wenn man Davidson darin zustimmt, daß neue Metaphern Ursachen, nicht aber Gründe für einen Wechsel der Überzeugungen sind, und Hesse zugesteht, daß neue Metaphern intellektuellen und politischen Fortschritt möglich gemacht haben. Wenn man diese Behauptungen für richtig hält, dann existiert kein sogenanntes „relativistisches Dilemma" mehr, sowenig, wie für jemanden, der glaubt, es gebe keinen Gott, noch Blasphemie existiert. Denn dann gibt es keinen übergeordneten Standpunkt, dem wir verantwortlich wären und gegen dessen Prinzipien wir verstoßen könnten. Ebensowenig gibt es dann etwas wie die Prüfung konkurrierender Werte in Hinsicht auf mögliche moralische Privilegiertheit. Denn es wird keine Möglichkeit bestehen, sich über die Sprache, Kultur, Institutionen und praktischen Verhaltensweisen zu erheben, die man angenommen hat, und keine Möglichkeit, sie auf gleicher Ebene mit allen anderen zu sehen. Wie Davidson sagt: „eine Sprache sprechen ... ist kein Merkmal, das der Mensch verlieren kann, während er seine Kraft zum Denken behält. Es bestehen keine Aussichten, jemand könne einen Beobachtungsposten zum Vergleich von Begriffsschemata beziehen, indem er zeitweilig sein eigenes abstreift 6 ." Oder, wie Heidegger sagt, „die Sprache spricht den Menschen", Sprachen verändern sich im Lauf der Geschichte und deshalb können Menschen ihrer Historizität nicht entrinnen. Sie können allenfalls die Spannungen in ihrer eigenen Epoche beeinflussen, um die Anfange der nächsten Epoche vorzubereiten. Wenn aber die Voraussetzungen von Sandels Fragen richtig sind, dann haben Davidson und Heidegger natürlich nicht recht. Sprachphilosophie nach Davidson und Wittgenstein — Sprache als historische Kontingenz verstanden, nicht als ein Medium, das allmählich die wahre Form der wahren Welt oder des wahren Selbst annimmt — weicht dieser Frage aus. Wenn wir meinen, daß Sandel die Fragen, die er stellt, zu Recht stellt, dann fordern wir statt dessen eine Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Moralpsychologie, die die Interessen der Vernunft wahren, eine Unterscheidung zwischen Moral und Klugheit beibehalten und damit garantieren, daß Sandels Fragen Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 264.

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den Kern treffen. Dann werden wir eine andere Auffassung von Sprache brauchen, eine, die Sprache als Medium zum Auffinden einer Wahrheit versteht, die entweder dort draußen in der Welt oder wenigstens tief innen im Selbst liegt, dort, wo wir die ewigen, ahistorischen Wünsche höchster Ordnung finden, welche die Entscheidungen zwischen untergeordneten Konflikten treffen. Wir werden die Subjekt-Objekt- und Schema-Inhalt-Modelle der Forschung wiederbeleben, die Davidson und Heidegger als veraltet beschreiben. Gibt es eine Möglichkeit, die Schranken zwischen der traditionellen Ansicht, daß die Frage: „Woher weiß man das?" immer angemessen ist, und der Ansicht, daß wir manchmal nur fragen können: „Warum sprichst du so?" zu öffnen? Philosophie als Lehrfach macht sich lächerlich, wenn sie bei solchen Gelegenheiten vortritt und sagt, sie werde ein neutrales Gebiet finden, auf dem der Streit sich schlichten lasse. Es ist ja nicht so, als ob es den Philosophen gelungen wäre, neutralen Boden unter die Füße zu bekommen. Es würde ihnen besser anstehen zuzugeben, daß es die eine Möglichkeit, solche Schranken zu öffnen, die einzig passende Stelle, auf die man zurücktreten kann, nicht gibt. Möglichkeiten, die Schranken zu öffnen, gibt es so viele, wie es Themen für eine Konversation gibt. Man kann das Problem auf dem Weg über verschiedene Paradigmata des Menschseins in Angriff nehmen — den kontemplativen Menschen dem Dichter gegenüberstellen, oder den Frommen der Gestalt, die den Zufall für wert hält, über ihr Schicksal zu bestimmen. Oder man kann unter dem Gesichtspunkt einer Ethik der Freundlichkeit ansetzen und fragen, ob Grausamkeit und Ungerechtigkeit weniger würden, wenn wir alle aufhörten, uns über „absolute Geltung" den Kopf zu zerbrechen, oder ob im Gegenteil nur diese Sorge unserem Charakter die nötige Standfestigkeit bewahrt, unerschrocken die Schwachen gegen die Starken zu verteidigen. Oder man kann — meiner Meinung nach fruchtlos — von der Anthropologie und der Frage ausgehen, ob es „kulturelle Universalien" gibt, oder von der Psychologie und der Frage nach psychologischen Universalien. Wegen dieser unbegrenzten Pluralität der Ausgangspunkte, dieser Menge von Möglichkeiten, das Problem von der Seite anzugehen und den Gegner versuchsweise von den Flanken her einzukreisen, gibt es in der Praxis nie Schranken. Eine echte, praktische Schranke, im Gegensatz zu einer künstlichen, theoretischen, hätte man nur dann, wenn bestimmte Themen und bestimmte Sprachspiele tabu wären — wenn es in einer Gesellschaft allgemeine Übereinstimmung darüber gäbe, daß bestimmte Fragen immer angemessen, bestimmte Fragen vorrangig vor bestimmten anderen, eine feststehende Ordnung der Diskussion vorhanden und Seitwärtsbewegungen unerlaubt wären. Das wäre eine Gesellschaft von genau der Art, die Liberale zu verhindern suchen — eine Gesellschaft, in der die „Logik" herrschte und die „Rhetorik" geächtet wäre. Für die Idee einer liberalen Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung,

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daß alles erlaubt ist, sofern es um Worte im Gegensatz zu Werken, um Überzeugungskraft im Gegensatz zu Gewalt geht. Diese Aufgeschlossenheit sollte nicht deshalb gehegt und gepflegt werden, weil, wie die Bibel sagt, die Wahrheit groß ist und siegen wird, auch nicht, weil, wie Milton meint, in freiem und offenem Kampf die Wahrheit immer gewinnen wird. Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn sie sich damit ^ufriedengibt, das „wahr" ψ nehmen, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt. Deshalb erweist man einer liberalen Gesellschaft einen schlechten Dienst, wenn man versucht, sie mit „philosophischen Grundlagen" auszustatten. Denn der Versuch, solche Grundlagen zu liefern, setzt eine natürliche Ordnung der Themen und Argumente voraus, die den Ergebnissen von Auseinandersetzungen zwischen alten und neuen Vokabularen übergeordnet ist und sie kassiert. Dieser letzte Punkt erlaubt mir, zu der weitergehenden Behauptung zurückzukehren, die ich zuvor gemacht habe: die Behauptung war, daß eine liberale Kultur eine verbesserte Selbstbeschreibung braucht, nicht ein Sortiment von Grundlagen. Die Vorstellung, sie brauche Grundlagen, war das Ergebnis des aufklärerischen Sziendsmus, der seinerseits ein Überbleibsel des religiösen Bedürfnisses nach der Beglaubigung menschlicher Pläne durch nicht-menschliche Autoritäten war. Für liberales politisches Denken im achtzehnten Jahrhundert war es natürlich, ein Bündnis mit der am meisten versprechenden kulturellen Entwicklung dieser Zeit, den Naturwissenschaften, zu versuchen. Unglücklicherweise benutzte aber die Aufklärung einen großen Teil ihrer politischen Rhetorik dazu, das Bild des Naturwissenschafders als einer Art Priester auszumalen und ihn als jemanden zu betrachten, der — weil er „logisch", „methodisch" und „objektiv" vorgeht — mit einer nichtmenschlichen Wahrheit in Verbindung treten könne 7 . Das war damals ein nützliches Verfahren, aber nicht in unserer Zeit. Denn erstens sind die Naturwissenschaften nicht mehr der interessanteste oder am meisten versprechende oder aufregendste Bereich der Kultur. Zweitens haben Wissenschaftshistoriker klargemacht, wie wenig dieses Bild des Naturwissenschaftlers mit tatsächlichen wissenschaftlichen Leistungen zu tun hat, wie unsinnig es ist, den Versuch zu machen, so etwas wie eine „naturwissenschaftliche Methode" zu isolieren. Obwohl die Naturwissenschaften seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts tausendfach Knospen getrieben und dadurch eine Verwirklichung von politischen Zielen möglich gemacht haben, die ohne sie nicht hätten verwirklicht werden können, sind sie trotzdem in den Hintergrund des kulturellen Lebens getreten. Diese Rezession erklärt sich weitgehend schon aus der Schwierigkeit, die unterschiedlichen Sprachen zu beherrschen, 7

Diesen Punkt habe ich weiter ausgeführt in: „Science as Solidarity", in: John S. Nelson u. a. (Hg.), The Rhetoric of the Human Sciences, Madison: University of Wisconsin Press 1987, S. 38 52; und „Pragmatism Without Method", in: Paul Kurtz (Hg.), Sidney Hook Philosophy of Democracy and Humanism, Buffalo: Prometheus Books 1983, S. 259 — 273.

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in denen die verschiedenen Wissenschaften betrieben werden. Diese Entwicklung sollte man nicht beklagen, sondern versuchen, mit ihr umzugehen. Das können wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Bereiche richten, die an der Vorderfront der Kultur stehen, die die Phantasie der Jungen anregen — nämlich Kunst und politische Utopie. Am Anfang des ersten Kapitels habe ich gesagt, daß die Französische Revolution und die romantische Bewegung eine Ära einleiteten, in der wir allmählich lernten, die historische Rolle sprachlicher Innovation anzuerkennen. Diese Anerkennung ist in dem vagen, irreführenden, aber verheißungsvollen und inspirierenden Gedanken zusammengefaßt, Wahrheit werde gemacht, nicht gefunden. Ich habe auch gesagt, daß heutige Intellektuelle den Blick auf Literatur und Politik richten, wenn sie sich mehr um Ziele als um Mittel kümmern. Ich kann jetzt das Korollar hinzufügen, daß wir in diesen Gebieten nach der Charta einer liberalen Gesellschaft suchen sollten. Wir brauchen eine Neubeschreibung des Liberalismus derart, daß die Hoffnung, Kultur im ganzen könne „poetisiert" werden, den Platz der aufklärerischen Hoffnung einnimmt, Kultur könne „vernünftig" gemacht oder „verwissenschaftlicht" werden. Das heißt, wir müssen die Hoffnung, daß eine Gleichheit der Chancen zur Erfüllung idiosynkratischer Wunschträume erreicht werden könne, an die Stelle der Hoffnung rücken, daß jedermann „Leidenschaft" oder Phantasterei durch „Vernunft" ersetzen möge. Meiner Meinung nach wäre der Kulturheld eines liberalen Gemeinwesens im Idealfall Blooms „starker Dichter", nicht der Krieger, der Priester, der Wilde oder der wahrheitsuchende, der „logische", „objektive" Naturwissenschaftler. Eine solche Kultur würde das Vokabular der Aufklärung abstreifen, das die Voraussetzungen für Sandels Kampfansage an Berlin enthält. Sie würde nicht mehr von Gespenstern namens „Relativismus" und „Irrationalismus" heimgesucht. Eine solche Kultur würde nicht mehr annehmen, daß jede Form kulurellen Lebens nur so stark ist wie ihre philosophischen Grundlagen. Sie würden vielmehr die Vorstellung solcher Grundlagen fallenlassen und die Rechtfertigung liberaler Gesellschaft einfach als eine Frage des historischen Vergleichs mit anderen Versuchen zu sozialer Organisation vergangener und solcher, die Utopisten sich für die Zukunft ausmalen — betrachten. Eine solche Rechtfertigung für ausreichend zu halten, hieße, die Konsequenz zu ziehen aus Wittgensteins Beharren darauf, daß Vokabulare — und zwar alle Vokabulare, sogar diejenigen, welche die Wörter enthalten, die für uns am wichtigsten, für unsere Selbstbeschreibungen entscheidend sind — von Menschen geschaffen wurden, Werkzeuge für das Erschaffen anderer menschlicher Artefakte sind, zum Beispiel von Gedichten, utopischen Gesellschaften, wissenschaftlichen Theorien und zukünftigen Generationen. Es hieße genaugenommen, die Rhetorik des Liberalismus um diesen Gedanken herum zu bauen. Man würde dann die Idee aufgeben müssen, daß der Liberalismus gerechtfertigt und die nazistischen oder marxistischen Feinde des Li-

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beralismus dadurch widerlegt werden könnten, daß man sie gegen eine Wand aus Argumenten zurückdrängt — und sie zu dem Eingeständnis zwingt, liberale Freiheit habe ein „moralisches Privileg", das ihren eigenen Werten fehlt. Aus der Perspektive betrachtet, die ich empfehle, wird jeder Versuch, einen Gegner in dieser Weise in die Enge zu treiben, sofort scheitern, wenn sich zeigt, daß die Wand, gegen die er gedrängt wird, nur ein anderes Vokabular, eine weitere Art ist, Dinge zu beschreiben. Dann zeigt sich, daß die Wand nur eine gemalte Kulisse ist, wieder nur ein Menschenwerk, ein Bühnenbild für die Kultur. Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, daß sie zu schätzen weiß, daß alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte. Kurz, aus meinen Überlegungen zu der Behauptung, Berlins Position sei „relativistisch", möchte ich die Lehre ziehen, daß man einem solchen Vorwurf nicht entgegentreten, sondern ausweichen soll. Wir müssen lernen, Fragen wie: „Woher weiß man, daß Freiheit das Hauptziel der gesellschaftlichen Organisation ist?" einfach beiseite zu schieben, genauso wie Fragen vom Typ: „Woher weißt du, daß Jones unserer Freundschaft würdig ist?" oder „Woher weißt du, daß Yeats ein bedeutender Dichter, Hegel ein bedeutender Philosoph und Galilei ein bedeutender Naturwissenschaftler ist?" Wir müssen die Treue zu gesellschaftlichen Institutionen als etwas ansehen, das so wenig der Rechtfertigung durch Rückgriff auf allgemein anerkannte Voraussetzungen bedarf, aber auch so wenig willkürlich ist wie die Wahl von Freunden oder Helden 8 . Eine Wahl dieser Art trifft man nicht durch Rückgriff auf Kriterien. Ihr kann keine voraussetzungslose kritische Reflexion vorangehen, sie kann nicht ohne besondere Sprache und außerhalb eines besonderen historischen Kontextes stattfinden. dann spreche ich natürlich nicht von einem neutralen Standpunkt aus. Ich ergreife in der Auseinandersetzung Partei für Berlin und versuche, ihm als Handlanger zu dienen, indem ich etwas philosophisches Unterholz ausdünne. Ich habe nicht die Absicht, die Unterscheidung zwischen dem Kognitiven und dem NichtKognitiven wiederzubeleben, und schon gar nicht habe ich vor, die Treue zu sozialen Einrichtungen der zweiten Kategorie zuzuordnen. Mit Davidson meine ich aber, daß die Unterscheidung zwischen wahr und falsch (die positivistische Kennzeichnung des „kognitiven Status") auf Sätze vom Typ: „Yeats war ein großer Dichter" und: „Demokratie ist besser als Tyrannei" ebenso anwendbar ist wie auf Sätze vom Typ: „Die Erde kreist um die Sonne". Gegen die angeführten Sätze von der Form: „Woher weißt du, daß ...?" wende ich nur ein, daß es keinen gangbaren Weg gibt, Zweifel in solchen Fällen zum Schweigen zu bringen. Wer solche Fragen hartnäckig weiter stellt, verlangt eine Erkenntnislage [epistemicposition], in der sich vermutlich niemand je befinden wird, sofern es sich um Fragen von moralischem Gewicht handelt.

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Ich bin nicht neutraler — und Philosophie kann in politischen Fragen dieser Größenordnung nicht neutraler sein — als Locke, der diese „Handlanger"Metapher erfand, zwischen Hylomorphismus und Korpuskulartheorie neutral war. Aber auch hier gilt: Wenn ich sage, daß Neutralität kein Desideratum ist, dann sage ich das nicht aus philosophisch neutraler Perspektive. Ich schaffe nicht Grundlagen für den Liberalismus, indem ich etwa behauptete, die neuere Sprachphilosophie Davidsons und Wissenschaftsphilosophie Kuhns hätten bewiesen, daß die Philosophen der Vergangenheit sich mit ihrer Forderung nach Neutralität im Irrtum befanden. Ich sage nur, daß uns Davidson, Wittgenstein und Dewey mit Neubeschreibungen vertrauter Phänomene ausrüsten, die zusammengenommen Berlins Darstellungsweise alternativer, politischer Institutionen und Theorien unterstützen. Diese Philosophen helfen eine Neubeschreibung für den politischen Liberalismus zu liefern, aber der politische Liberalismus verhilft umgekehrt auch ihnen zu einer Neubeschreibung ihres Tuns — einer Neubeschreibung, die uns erkennen läßt, daß es keine natürliche Ordnung philosophischer Untersuchungen gibt. Nichts verlangt von uns, daß wir uns erst Klarheit über die Sprache, dann über Glauben und Wissen, dann über Personalität und zum Schluß über die Gesellschaft verschaffen sollten. Es gibt keine „erste Philosophie" — weder die Metaphysik, noch Sprachphilosophie noch Wissenschaftsphilosophie ist so etwas. Aber, noch einmal und dann nicht mehr, auch diese Behauptung über die Philosophie ist selbst nur ein Vorschlag zur Terminologie, zugunsten derselben Sache: der gegenwärtigen liberalen Kultur ein Vokabular zur Verfügung zu stellen, das ganz ihr eigenes und von allen Rückständen eines älteren, für die Bedürfnisse vergangener Tage geeigneten anderen Vokabulars gereinigt ist. Daß man im Interesse eines politischen Liberalismus der philosophischen Neutralität abschwören muß, kann ich vielleicht schmackhafter machen, indem ich noch einmal zur Wittgensteinschen Analogie zwischen Vokabularen und Werkzeugen zurückkehre. Ich habe im ersten Kapitel gesagt, daß dieser Vergleich problematisch ist, weil die Person, die ein neues Werkzeug konstruiert, meist im voraus erklären kann, wozu es dienen soll, warum sie es braucht; im Gegensatz dazu läßt sich erst im nachhinein erklären, wozu sich die Erschaffung einer neuen Form kulturellen Lebens, eines neuen Vokabulars verwenden läßt. Solange wir noch dabei sind herauszufinden, wie sie sich nutzen lassen, können wir das Christentum, die Newtonsche Physik, die romantische Bewegung oder den politischen Liberalismus nicht als Werkzeug betrachten. Denn in diesem Stadium gibt es noch keinen klar formulierten Zweck, zu welchem dies Werkzeug ein Mittel ist. Sobald wir aber begriffen haben, wie sich die Vokabulare dieser Bewegungen nutzen lassen, können wir eine Geschichte des Fortschritts erzählen: wir zeigen dann, wie die Übernahme bestimmter Metaphern in den allgemeinen Sprachgebrauch dem Ziel diente, all das Gute möglich zu machen, das sich in neuerer Zeit ereignet

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hat. Mehr noch: wir können all diese guten Ereignisse als besondere Beispiele eines allgemeineren Guten, des Gesamtzieles sehen, dem die Bewegung diente. Dieser Prozeß war Hegels Definition von Philosophie: „Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt." Die Bedeutung dieser Definition verstehe ich so: „eine Beschreibung finden all der für die eigene Zeit charakteristischen Dinge, die man am höchsten schätzt, mit denen man sich unerschrocken identifiziert, eine Beschreibung, die sich als Beschreibung des Zweckes eignet, zu dessen Erreichung die historischen Entwicklungen, die zur eigenen Zeit führten, Mittel waren". Diese Bedeutung von „Philosophie" vorausgesetzt, folgt daraus: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden", wie Hegel sagte. Das Christentum wußte nicht, daß Linderung der Grausamkeit sein Zweck war; Newton wußte nicht, daß sein Zweck die moderne Technologie war; die romantischen Dichter wußten nicht, daß ihr Zweck ein Beitrag zur Entwicklung des ethischen Bewußtseins war, das sich für die Kultur des politischen Liberalismus eignete. Aber wir wissen dies alles jetzt, weil wir „Spätgeborenen" eine Geschichte des Fortschritts von der Art erzählen können, wie jene, die selbst den Fortschritt zuwege bringen, es nicht können. Wir können diese Pioniere als Werkzeugmacher statt als Entdecker betrachten, weil wir klares Verständnis des Produktes haben, das mit den Werkzeugen angefertigt wurde. Das Produkt sind wir, unser Bewußtsein, unsere Kultur, unsere Lebensform. Jene, die uns ermöglicht haben, konnten nicht ahnen, was sie möglich machten, und konnten deshalb auch nicht beschreiben, zu welchem Ende ihre Arbeit ein Mittel war. Aber wir können es. Das möchte ich jetzt auf den besonderen Fall der Beziehung zwischen politischem Liberalismus und dem Rationalismus der Aufklärung anwenden. Diese Beziehung war das Thema von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung. Sie betonten, zutreffend meine ich, daß die Kräfte, die von der Aufklärung freigesetzt wurden, sich gegen die Aufklärung selbst richteten. Im Lauf des Triumphzuges aufklärerischer Ideen während der letzten beiden Jahrhunderte hat die von Horkheimer und Adorno so genannte „zersetzende Rationalität" der Aufklärung die Ideen von „Rationalität" und „menschlicher Natur" unterlaufen, die das achtzehnte Jahrhundert für selbstverständlich hielt. Sie zogen daraus den Schluß, daß der Liberalismus jetzt intellektuell bankrott sei und seine philosophischen Grundlagen verloren hat, ebenso wie die liberale Gesellschaft moralisch bankrott sei und ihren sozialen Zusammenhang verloren habe. Diese Folgerung war falsch. Horkheimer und Adorno meinten, daß die Begriffe, mit denen eine historische Entwicklung in Gang gesetzt und beschrieben wurde, auch die richtigen Begriffe zur Beschreibung eines Unternehmens bleiben, und sie zogen daraus den Schluß, daß die Auflösung dieser Begrifflichkeit zugleich den Ergebnissen der Entwicklung das Recht oder die Möglichkeit — oder beides — zur weiteren Existenz nimmt. Das ist aber fast

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nie der Fall. Im Gegenteil, die Begriffe, die von den Begründern einer neuen Form kulturellen Lebens benutzt wurden, werden weitgehend aus dem Vokabular der Kultur ausgeliehen sein, die man abzulösen hofft. Erst wenn die neue Form alt und ihrerseits zum Ziel von Angriffen der Avantgarde geworden ist, wird die Begrifflichkeit jener vordem neuen Kultur Form annehmen. Die Terminologie, in der eine reife Kultur auf unfaire Weise andere an sich selbst mißt, in der sie ihre Verteidigung formuliert, wird kaum aus den Begriffen bestehen, die ihre Geburt einleiteten. Horkheimer und Adorno stellen bewundernswert dar, wie philosophische Grundlagen der Gesellschaft, die sie als sprachliche Herrschaftsinstrumente der Regierenden ansehen, vom Skeptizismus der Aufklärung unterlaufen wurden. Sie sagen: „Die Aufklärung hat schließlich nicht bloß die Symbole (für Kollektive), sondern auch ihre Nachfolger, die Allgemeinbegriffe, aufgezehrt und von der Metaphysik nichts übriggelassen als die abstrakte Angst vor dem Kollektiv. Begriffe sind vor der Aufklärung wie Rentner vor den industriellen Trusts: keiner darf sich sicher fühlen9."

Zu den Unterscheidungen, die dieser Auflösung nicht standhalten konnten, gehören auch „allgemeine Geltung im Unterschied zur relativen „Geltung" und „Moralität im Unterschied zur Klugheit". Wie Horkheimer und Adorno sagen, bewirkt der Geist der Aufklärung, daß mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja, der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind 10 ". In meinen Jargon übersetzt, heißt das, daß jede besondere theoretische Betrachtungsweise, so gesehen, nur ein weiteres Vokabular, eine weitere Beschreibung oder Sprechweise ist. Horkheimer und Adorno hielten es für wahrscheinlich, daß die Zivilisation diesen Prozeß nicht überleben könne, und hatten kein Heilmittel dagegen vorzuschlagen, es sei denn das, was Ricoeur treffend die „Hermeneutik des Verdachtes" genannt hat — die ständig wachsende Erwartung, daß jeder neue theoretische Vorschlag vielleicht nur eine neue Entschuldigung zur Bewahrung des status quo sei. Sie sagten, „indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter und damit auch die Beziehung auf Wahrheit 11 ." Aber Vorschläge für die Freunde des Fortschritts hatten sie nicht. Sie hatten keine utopische Vision einer Kultur, die ein Verständnis des zersetzenden Charakters der Rationalität, der charakteristischen Selbstzerstörung der Aufklärung verkörpern und nutzen könnte. Sie versuch9

10 11

Max Horheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: S. Fischer 1969, S. 29. Ebd., S. 17. Ebd., S. 3.

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ten nicht zu zeigen, wie „pragmatisiertes Denken" seine Blindheit verlieren und klarsichtig werden könnte. Aber verschiedene andere Autoren, die den aufklärerischen Liberalismus bewahren und den Rationalismus der Aufklärung verabschieden wollten, haben genau das getan. John Dewey, Michael Oakeshott und John Rawls haben alle dazu beigetragen, die Vorstellung zu untergraben, daß ein überhistorisches Begriffssystem „absoluter Geltung" als „philosophische Grundlegung" des Liberalismus fungieren könne, aber sie haben auch alle dieses Untergraben für eine Möglichkeit gehalten, liberale Institutionen zu stärken. Ihr Argument lautete, daß liberale Institutionen nur gewinnen könnten, wenn sie vom Zwang, sich mit den Begriffen einer solchen Grundlegung zu verteidigen, befreit würden — daß es nur gut wäre, wenn sie die Frage: „Worin besteht das Privileg der Freiheit?" nicht beanworten müßten. Alle drei würden gern zugeben, daß wir dadurch nur eine zirkuläre Rechtfertigung unserer Praktiken gewinnen können, eine Rechtfertigung, die eine Facette unserer Kultur dadurch in günstiges Licht rückt, daß sie eine andere auch noch lobend hervorhebt und unsere Kultur auf unfaire Weise mit anderen vergleicht, indem sie unsere Maßstäbe anwendet. Ich schlage vor, daß wir solche Autoren als den Triumph einer Aufklärung betrachten, die sich selbst aufhebt und erfüllt. Ihr Pragmatismus ist die Antithese zum Rationalismus der Aufklärung, obwohl er (nach guter dialektischer Art) selbst erst durch den Rationalismus möglich wurde. Er kann als Vokabular eines ausgereiften (von Naturwissenschaft und Philosophie befreiten) Aufklärungsliberalismus dienen. Ich möchte von jedem dieser drei Autoren eine Textpassage zitieren, um an ihre Positionen zu erinnern. Dewey spielt auf Hegels Definition von Philosophie an, wenn er sagt: „Wenn man anerkennt, daß die Philosophie unter dem Vorwand, sich mit der endgültigen Realität zu beschäftigen, in Wahrheit mit den kostbaren Werten befaßt war, die in soziale Traditionen eingebettet sind, daß sie aus einem Zusammenstoß sozialer Ziele, aus einem Konflikt zwischen überkommenen Institutionen und gegenwärtigen, damit unvereinbaren Tendenzen entstanden ist, dann wird man erkennen, daß die Aufgabe einer künftigen Philosophie in der Klärung der Vorstellungen liegen wird, welche die Menschen von den sozialen und moralischen Zwisten ihrer Gegenwart haben12."

Rawls spielt in seinen Dewey-Lectures sowohl auf Berlin wie auf Dewey an, wenn er sagt: „Eine Konzeption von Gerechtigkeit wird nicht durch ihre Treue zu einer vorangehenden und an uns weitergegebenen Ordnung gerechtfertigt, sondern durch ihre Übereinstimmung mit unserem tieferen Verständnis von uns selbst und unseren Hoffnungen sowie durch unsere Erkenntnis, daß sie in Ansehung unserer Geschichte und der Traditionen, die in unser öffentliches Leben eingegangen sind, die für uns vernünftigste Doktrin ist13." 12 13

John Dewey, Reconstruction in Philosophy, Boston: Beacon Press 1948, S. 26. John Rawls, „Kantian Constructivism in Moral Theory", Journal of Philosoph/ 77 (1980), S. 519.

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Oakeshott schließlich schreibt in einem Satz, den auch Dewey geschrieben haben könnte: „Eine Moral ist weder ein System allgemeiner Prinzipien noch ein Regelkodex, sondern eine Volkssprache. Allgemeine Prinzipien, sogar Regeln können daraus weggelassen werden, aber (wie andere Sprachen auch) ist sie nicht von Grammatikern geschaffen, sondern von Sprechenden gemacht. In einer moralischen Erzählung soll man nicht Theoreme lernen, wie zum Beispiel, daß gutes Verhalten in fairem Handeln oder Menschenfreundlichkeit besteht, auch nicht Regeln wie „immer die Wahrheit sagen", sondern man soll lernen, die Sprache intelligent zu sprechen ... Sie ist keine Anweisung zum Formulieren von Urteilen über Verhaltensweisen oder zur Lösung sogenannter moralischer Probleme, sondern praktisches Einüben der Begriffe, in denen man denken, entscheiden, handeln und sich ausdrücken soll14."

Dieses Oakeshott-Zitat verschafft mir ein Sprungbrett für die Erklärung, warum ich meine, daß die Unterscheidung zwischen Moraütät und Klugheit und dann der Terminus „Moral" selbst nicht mehr nützlich sind. Mein Argument nutzt die vertraute antikantianische Behauptung, die Oakeshott hier voraussetzt, daß nämlich „moralische Prinzipien" (der kategorische Imperativ, das utilitaristische Prinzip usw.) nur insofern sinnvoll sind, als sie eine stillschweigende Beziehung zu einer ganzen Reihe von Institutionen, Praktiken und Vokabularen moralischer und politischer Überlegungen einschließen. Sie sind Erinnerungen an und Abkürzungen für solche Praktiken, aber nicht ihre Rechtfertigungen. Allenfalls sind sie pädagogische Hilfen zum Erwerb solcher Praktiken. In diesem Punkt herrscht Einigkeit zwischen Hegel und neueren Kritikern konventioneller Moral- und Rechtsphilosophie, wie Annette Baier, Stanley Fish, Jeffrey Stout, Charles Taylor und Bernard Williams 15 . Wenn man diesen Punkt akzeptiert, wird man natürlich folgende Frage stellen: „Wenn doch die klassische Kantische Entgegensetzung von Moraütät und Klugheit gerade als Gegensatz zwischen der Berufung auf ein Prinzip und der Berufung auf Zweckmäßigkeit formuliert ist, welchen Sinn hat es dann, den Begriff,Moraütät' beizubehalten, nachdem wir die Idee eines .moralischen Prinzips' verabschiedet haben. Oakeshott schlägt eine Antwort vor, mit der er Hegel folgt: Wir können „Moraütät" beibehalten, sofern wir aufhören, Moraütät für die Stimme des göttüchen Teiles unserer selbst zu halten, und sie statt dessen als die Stimme unseres Selbst denken, die wir als Angehörige eines Gemeinwesens, als Sprecher einer gemeinsamen Sprache haben. Wir können die Unterscheidung zwischen Moraütät und Klugheit beibehalten, wenn wir sie nicht als den Unterschied zwischen einer Berufung auf Unbedingtes und einer auf Bedingtes, 14 15

Michael Oakeshott, Of Human Conduct, Oxford: Oxford University Press 1975, S. 7 8 - 7 9 . Natürlich ist uns dieser Punkt auch schon durch Marx und Marxisten vertraut. Er ist bei ihnen aber leider unscharf wegen einer verschwommenen Unterscheidung zwischen Ideologie und einer Denkform (derjenigen der Marxisten selbst), die dem Verdacht, Ideologie zu sein, entrinnt. Zur Unbrauchbarkeit des Ideologiebegriffs siehe Raymond Geuss, The Idea of a Critical Theory, Cambridge: Cambridge University Press 1981.

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sondern als den Unterschied zwischen einer Berufung auf die Interessen unseres Gemeinwesens und der Berufung auf unsere eigenen, möglicherweise konfligierenden privaten Interessen verstehen. Wichtig an dieser Verlagerung ist, daß sie die Frage: „Leben wir in einer moralischen Gesellschaft?" unmöglich macht. Sie macht es unmöglich zu meinen, es gebe etwas, das sich zu meinem Gemeinwesen so verhält wie mein Gemeinwesen zu mir, eine größere Gemeinschaft namens „Menschheit", die eine immanente Natur hat. Oakeshotts Antwort paßt auf die societas im Gegensatz zu einer universitas (Oakeshotts Bezeichnungen), auf eine Gesellschaft, die man als Arbeitsgemeinschaft von Exzentrikern zum Zweck des wechselseitigen Schutzes, nicht als Versammlung von Seelenverwandten sehen sollte, die sich in einem gemeinsamem Ziel vereint haben. Oakeshotts Antwort trifft sich mit Wilfrid Sellars' These, daß Moralität zu einem Bereich gehört, den er „Wir-Intentionen" nennt, daß die Kernbedeutung von „unmoralischer Handlung" ist: „etwas von der Art, das wir nicht tun 16 ." In dieser Sicht ist eine unmoralische Handlung etwas, das, wenn es überhaupt getan wird, dann nur von Tieren oder von Menschen, die zu anderen Familien, Stämmen, Kulturen oder historischen Epochen gehören. Wenn eine Handlung dieser Art von einem von uns vollzogen wird oder wieder und wieder von ihm vollzogen wird, dann gehört diese Person nicht mehr zu uns. Sie wird zu einer Ausgestoßenen, wird ein Mensch, der nicht unsere Sprache spricht, auch wenn er sie einst zu sprechen schien. In Sellars' wie in Hegels Sicht nimmt Moralphilosophie die Form einer Antwort an auf die Frage: „Wer sind ,wir', wie sind wir zu dem geworden, was wir sind, und was wird aus uns werden?"; sie ist nicht mehr Antwort auf die Frage: „Welche Regeln sollten mein Handeln bestimmen?" Mit andern Worten: Moralphilosophie hat nun die Form historischer Erzählung und utopischer Spekulation, nicht die einer Suche nach allgemeinen Prinzipien. Dieses Oakeshott-Sellars-Verständnis von Moralität als einer Reihe von Praktiken, unseren Praktiken, verschärft den Unterschied zwischen der Konzeption, die Moralität als die Stimme des gottgleichen Teils unseres Seele sieht, und der anderen, die sie als Stimme eines kontingenten menschlichen Artefaktes sieht, einer Gemeinschaft, die während ihres Wachsens den Wechselfällen von Zeit und Zufall unterworfen war — nur eines von vielen „Experimenten" der Natur. So wird klar, warum die Unterscheidung zwischen Moralität und Klugheit zusammenbricht, wenn wir versuchen, sie auf Fragen zu übertragen, die darauf zielen, ob der Leim, der unsere Gesellschaft zusammenhält, seiner Natur nach „moralisch" oder „klug" sei. Die Unterscheidung ist nur in bezug auf Einzelpersonen sinnvoll. In bezug auf Gesellschaften hätte sie nur dann Sinn, wenn „Menschheit" über die verschiedenen von der 16

Siehe Wilfried Sellars, Science and Metaphysics, London: Roudedge & Kegan Paul 1968, Kap. 6 — 7. Diesen Punkt werde ich im neunten Kapitel wieder aufnehmen.

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Geschichte bis heute aufgebrachten Lebensformen hinaus und jenseits ihrer noch eine Natur hätte. Wenn die Forderungen einer Moralität aber die Forderungen einer Sprache sind und wenn Sprachen historische Kontingenzen sind, nicht Versuche, die wahre Gestalt der Welt oder des Selbst zu erfassen, dann ist das „unerschrocken für die eigenen moralischen Uberzeugungen einstehen" eine Sache unserer Identifikation mit einer solchen Kontingenz. Ich möchte jetzt versuchen, diesen Punkt mit meiner früheren Behauptung zusammenzubringen, die besagte, daß die Helden der liberalen Gesellschaft der kraftvolle Dichter und der utopische Revolutionär sind. Eine Synthese dieser Art mag paradox und zum Scheitern verurteilt scheinen, wenn man den Dichter und den Revolutionär als „entfremdet" denkt. Das Paradox beginnt sich aufzulösen, wenn man eine Annahme aufgibt, die oft hinter dem modernen Gebrauch des Begriffs „Entfremdung" steht. Das ist die Vorstellung, daß diejenigen entfremdet sind, die im Namen der Menschlichkeit gegen willkürliche und unmenschliche soziale Restriktionen protestieren: Diese Vorstellung kann man durch eine andere ersetzen: daß Dichter und Revolutionäre, im Namen der Gesellschaft selbst, gegen Aspekte dieser Gesellschaft protestieren, die Verrat an dem Bild üben, das sie von sich selbst hat. Diese andere Vorstellung scheint den Unterschied zwischen Revolutionär und Reformer auszulöschen. Man kann aber den Idealfall einer liberalen Gesellschaft als einen definieren, in dem dieser Unterschied ausgelöscht ist. Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn ihre Ideale durch Uberzeugung statt durch Gewalt, durch Reform statt durch Revolution, durch freie, offene Begegnungen gegenwärtiger sprachlicher und anderer Praktiken mit Vorschlägen für neue Praktiken durchgesetzt werden. Das heißt aber, eine liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer Freiheit, kein Ziel außer der Bereitwilligkeit, abzuwarten, wie solche Begegnungen ausgehen, und sich dem Ausgang zu fügen. Sie verfolgt keine andere Absicht als die, Dichtern und Revolutionären das Leben leichter zu machen und darauf zu achten, daß sie ihrerseits anderen das Leben nur durch Worte, nicht durch Taten erschweren. Große Dichter und Revolutionäre ernennt diese Gesellschaft deshalb zu ihren Helden, weil sie erkennt, daß sie ist, was sie ist, die Moralität hat, die sie hat, die Sprache spricht, die sie spricht, nicht weil sie damit soweit wie möglich dem Willen Gottes oder der Natur des Menschen entspricht, sondern weil bestimmte Dichter und Revolutionäre in der Vergangenheit so sprachen, wie sie sprachen. Menschen, die ihre Sprache, ihr Gewissen, ihre Moral und ihre hochfliegendsten Hoffnungen als kontingente Ergebnisse verstehen, die sehen, daß diese Ergebnisse zustandegekommen sind, weil Metaphern, die irgendwann zufallig gemacht wurden, in den täglichen Sprachgebrauch aufgenommen wurden — diese Menschen erwerben damit eine Identität mit ihrem eigenen Selbst, die sie zu geeigneten Bürgern eines ideal-liberalen Staates macht. Des-

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halb wären die idealen Bürger und Bürgerinnen eines solchen idealen Staates diejenigen, die sich die Gründer und Erhalter ihrer Gesellschaft lieber als Dichter denn als Menschen vorstellen, die die Wahrheit über die Welt oder die Menschheit entdeckt oder erahnt haben. Die Bürger und Bürgerinnen selbst mögen dichten oder nicht, ihre eigenen Metaphern für idiosynkratische Phantasievorstellungen finden oder nicht, sich diese Phantasien bewußt machen oder auch nicht. Mit Sicherheit aber werden sie genug Freud für den Alltagsgebrauch kennen, um die Gründer und Umformer der Gesellschaft, die anerkannten Gesetzgeber ihrer Sprache und damit ihrer Moralität, selbstverständlich als Menschen anzusehen, die zufallig treffende Worte für ihre Phantasievorstellungen fanden, Metaphern, die zufällig den undeutlich empfundenen Bedürfnissen der übrigen Gesellschaft entsprachen. Sie werden genug Bloom für den Alltag verstehen, um für selbstverständlich zu halten, daß die deutlichsten Beispiele für das, was sie von der Gesellschaft erhoffen, der revolutionäre Künsder und Naturwissenschaftler sind, nicht der Akademie Künsder oder der Normalwissenschafder. Kurz, die Bürger meiner liberalen Utopie wären Menschen, die Sinn für die Kontingenz der Sprache ihrer Überlegungen zur Moral und damit ihres Gewissens hätten. Sie wären liberale Ironiker — Menschen, die Schumpeters Kriterium für Zivilisiertheit erfüllten, Menschen, die Engagement mit dem Sinn für die Kontingenz ihres Engagements verbänden. Zum Abschluß dieses Kapitels will ich versuchen, die Gestalt des liberalen Ironikers schärfer zu fassen, indem ich meine Auffassung abgrenze gegen zwei Philosophen, mit denen ich auf vielen Gebieten übereinstimme, deren Ansichten sich aber in diesem Punkt auf entgegengesetzte Weise von meinen unterscheiden. Grob gesagt, ist der Unterschied folgender: Michel Foucault ist ein Ironiker, der kein Liberaler sein will; und Jürgen Habermas ist ein Liberaler, der kein Ironiker sein will. Foucault und Habermas kritisieren, wie Berlin, dieselben Platonschen und Kantschen Versuche, einen zentralen Bestandteil des Selbst zu isolieren. Beide sprechen Nietzsche entscheidende Bedeutung zu. Foucault meint, er habe von Nietzsche gelernt, sich nicht auf eine suprahistorische Perspektive einzulassen, nicht den Versuch zu unternehmen, zeitlose Ursprünge zu finden — sondern sich mit einer genealogischen Erzählung von Kontingenzen zufriedenzugeben 17 . Nietzsche hat ihn auch gelehrt, zweimal hinzusehen, wenn er dem Liberalismus begegne — zu sehen, daß hinter den neuen Freiheiten, die eine politische Demokratie gebracht hat, neue Formen von Zwang stehen, auferlegt von demokratischen Gesellschaften. Während aber Foucault sich von Nietzsche inspiriert fühlt, sieht Habermas Nietzsches Denkweg als eine Sackgasse, auch wenn er mit dessen Kritik 17

Siehe Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Geschichte", in: ders., Von der Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 83 — 109.

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an der „subjektzentrierten Vernunft" des traditionellen Rationalismus übereinstimmt. In Habermas' Sicht erklärt Nietzsche betreffs der „Emanzipation" der Menschheit den Bankrott der „Subjektphilosophie" (sie ist, vereinfacht gesagt, der Versuch, moralische Pflichten aus unserem Lebenskern abzuleiten, die Ursprünge unserer Verantwortung für andere tief in unserem Inneren, jenseits von historischen Kontingenzen und den Zufällen der Sozialisation, zu finden). Habermas sagt: „Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne [das heißt der Versuch, zurechtzukommen mit dem Verlust der sozialen Zusammenhänge, die es in prämodernen Gesellschaften gab] 18 zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes 19 ." Habermas versteht diesen Verzicht auf Emanzipationsversuche als Nietzsches Vermächtnis an Heidegger, Adorno, Derrida und Foucault — ein katastrophales Vermächtnis, durch das philosophische Reflexion im besten Fall unerheblich, im schlimmsten Fall aber zum Gegner für liberale Hoffnung wurde. Habermas meint, daß diese Theoretiker, die von ihrer eigenen Ironie aufgezehrt werden, eine Art reductio ad absurdum der Subjektphilosophie zustande gebracht haben. Habermas selbst untergräbt in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche dessen Angriff auf unsere religiösen und metaphysischen Traditionen, indem er die „Subjektphilosophie" durch eine „Philosophie der Intersubjektivität" ersetzt und den alten „subjektzentrierten Begriff der ,Vernunft'", der Kant und Nietzsche gemeinsam ist, durch etwas, das er „kommunikative Vernunft" nennt. Habermas vollzieht damit denselben Denkschritt wie Sellars: beide Philosophen versuchen, Vernunft als Internalisierung sozialer Normen zu verstehen, nicht als eine angeborene Komponente des Selbst. Habermas möchte demokratische Institutionen auf dieselbe Weise „begründen", die Kant sich erhoffte — aber er will es besser machen und beruft sich deshalb auf die Vorstellung von einer „herrschaftsfreien Kommunikation", die an Stelle der „Achtung für menschliche Würde" treten soll; unter ihrer Schirmherrschaft wird die Gesellschaft kosmopolitischer und demokratischer werden. Foucault regiert auf Versuche dieser Art — Versuche, wie Habermas, Dewey oder Berlin eine Philosophie um die Bedürfnisse einer demokratischen Gesellschaft herum aufzubauen — mit dem Hinweis auf die Nachteile dieser Gesellschaft, auf die Art, in der sie den Raum für Selbsterschaffung und private Projekte verweigert. Er akzeptiert, wie Habermas und Seilars, Meads 18

19

Siehe Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 S. 166: „Der Diskurs der Moderne hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bindungskräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen." Ebd., S. 117.

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Ansicht, daß das Selbst eine Schöpfung der Gesellschaft sei. Abweichend von ihnen aber ist er nicht bereit zuzugeben, daß die Ausprägungen des Selbst, die die moderne Gesellschaft geformt hat, besser wären als die von früheren Gesellschaften geschaffenen Weisen des Selbstseins. Ein großer Teil von Foucaults Werk — in meinen Augen der wertvollste Teil — besteht in der Darstellung der Wirkweise von kulturellen Anpassungsmustern, die für liberale Gesellschaften typisch sind: sie haben ihren Angehörigen Einschränkungen einer Art aufgezwungen, von der alte, prämoderne Gesellschaften sich nicht hätten träumen lassen. Er ist nicht bereit, eine Verminderung von Schmerz als Kompensation für diese Einschränkungen gelten zu lassen, sowenig wie Nietzsche eine solche Verminderung als Kompensation für das Ärgernis der „Sklavenmoral" akzeptierte. Mein Dissens mit Foucault läuft darauf hinaus, daß ich behaupte, diese Verminderung sei allerdings eine Kompensation für jene Einschränkungen. Wie Habermas meine ich, daß Foucaults Bild davon, wie die Macht unsere gegenwärtige Subjektivität geprägt hat, zustande kommt durch eine „Ausblendung all der Aspekte, unter denen die Erotisierung und Verinnerlichung der subjektiven Natur doch auch einen Gewinn an Freiheit und Ausdrucksmöglichkeit bedeutet haben 20 ". Wichtiger noch scheint mir, daß eine zeitgenössische liberale Gesellschaft selbst schon die Einrichtungen zu ihrer Verbesserung enthält — zu einer Verbesserung, die die von Foucault gesehenen Gefahren verringert. Ich habe den Verdacht, das soziale und politische Denken der westlichen Welt hat die letzte ifegn^-Revolution, die es noch brauchte, hinter sich 21 . John Stuart Mills Vorschlag, daß die Regierungen sich auf die Optimierung des Gleichgewichtes zwischen Nicht-Einmischung in das Privatleben und Verhindern von Leiden konzentrieren sollten, scheint mir ein passendes Schlußwort zum Thema zu sein. Fragen wie etwa die, wem Leiden zugefügt wird, kann man dem Wirken einer freien Presse, freier Universitäten und der aufgeklärten öffentlichen Meinung überlassen — zum Beispiel durch Bücher wie Wahnsinn und Gesellschafi und Uberwachen und Strafen, aber auch Germinal, Black Boy, The Road to Wigan Pier und 1984. 20

21

Ebd., S. 342. Damit nimmt Habermas die Kritik von Michael Walzer und Charles Taylor auf. Siehe ihre Aufsätze in: David Couzens Hoy (Hg.), Foucault A Critical Reader; Oxford: Blackwell 1986. Ich kritisiere ähnliche Mängel in meinem Aufsatz „Moral Identity and Private Autonomy", in: François Ewald (Hg.), Foucault, Paris: Editions du Seuil, im Druck. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß die Welt die letzte politische Revolution hinter sich hätte, die sie braucht. Man kann sich kaum vorstellen, daß ohne gewaltsame Revolution eine Verringerung der Grausamkeit in Ländern wie Südafrika, Paraguay oder Albanien zustande kommt. Aber in solchen Ländern ist nackter Mut (wie ihn die Führer von COSATU oder die Unterzeichner der Charta 77 gezeigt haben) die Tugend, auf die es ankommt; scharfsinnige Reflexionen, die Beiträge zur Gesellschaftstheorie liefern, sind dabei wenig gefragt. In diesen Gegenden ist die „Entlarvung", die Foucault so gut beherrscht, irrelevant. Denn dort zeigt sich die Gewalt nackt und öffentlich, und niemand hat noch Illusionen.

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Foucault scheint jedoch mit Marx und Nietzsche die Überzeugung zu teilen, daß es mit uns schon zu weit gekommen ist, als daß eine Reform noch aussichtsreich wäre — daß wir eine Erschütterung brauchen, daß unsere Phantasie und Willenskraft durch die Sozialisation, die uns zuteil geworden ist, zu sehr eingeschränkt sind, als daß wir eine Alternative zu der Gesellschaft, in der wir jetzt leben, überhaupt denken könnten22. Er war nicht bereit, sich als Mitglied irgendeiner „Wir-Gruppe" zu denken, schon gar nicht der Gruppe „Wir Liberale", wie ich. Er sagte: „Ich appelliere an kein ,Wir' — an keines der ,Wirs', deren Konsensus, deren Werte, deren Traditionen das Rahmenwerk für einen Gedanken herstellen und die Bedingungen bestimmen, unter denen er für gültig erklärt werden kann. Das Problem besteht vielmehr genau darin, zu entscheiden, ob es wirklich nützlich ist, und die Werte, die man anerkennt, durchzusetzen; oder ob es nicht vielleicht nötig ist, die Frage ausführlich zu bedenken und damit die zukünftige Formulierung eines ,Wir' zu ermöglichen 23 ."

Das ist in der Tat das Problem. Aber ich stimme in der Frage, ob es tatsächlich nötig ist, ein neues „Wir" zu bilden, nicht mit Foucault überein. Genau in diesem Punkt, ob es genügt, „wir Liberalen" sagen zu können, oder nicht, bin ich von Grund auf anderer Meinung als er24. Foucault würde sich gegen meine Vermutung verwahren, daß seine Bücher von einer liberalen, reformistischen politischen Kultur leicht zu assimilieren sind. Ich glaube eine Teilerklärung für seine Abneigung liegt darin, daß er trotz seiner Übereinstimmung mit Mead, Seilars und Habermas in dem Punkt, daß das Selbst, das Subjekt Mensch, immer nur ist, was kulturelle Anpassung aus ihm macht, selbst doch noch im Bereich der Denkweise bleibt, die sich etwas tief innen im Menschen vorstellt, das durch kulturelle Anpassung deformiert wird. Ein Beweisstück für diese Behauptung ist Foucaults merkliches Widerstreben gegen die Behauptung (wie ich im vierten Kapitel zeigen will), daß es eine „Sprache der Unterdrückten" nicht gibt. 22

23

24

Foucault sagte einmal in einem Interview: „Ich meine, sich ein anderes System vorzustellen, heißt unsere Teilnahme am gegenwärtigen System weiterführen." {Language, Counter-Memory, Practice, S. 230). Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York: Pantheon 1984, S. 385. Das Zitat stammt aus einem Gespräch mit Rabinow. Ich stimme mit Foucault darin überein, daß die Konstituierung eines neuen „Wir" sich tatsächlich aus der richtigen Fragestellung ergeben kann. Eine Intellektuellengemeinschaft konstituierte sich im 17. Jahrhundert durch Galileis Frage: „Gibt es irgendeine Bewegung, die .natürlicher' wäre als eine beliebige andere?" Eine andere konstituierte sich durch Marx' Frage: „Ist der Staat mehr als das Exekutivorgan der Bourgeoisie?" Aber der Aufbau neuer Gemeinschaften ist ebensowenig ein Ziel für sich wie die politische Revolution. Andererseits ist aber die Ausdehnung der Reichweite des gegenwärtigen „Wir" eine der beiden Unternehmungen, von denen ein ironistischer Liberaler annimmt, sie seien für sich schon Ziele; die andere ist die Selbst-Erfindung. (Mit „Ziel für sich" meinen diese Liberalen aber nur „ein Unternehmen, dessen Verteidigung auf der Grundlage eines nichtzirkulären Argumentes ich mir nicht vorstellen kann".)

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Gelegentlich suggeriert er, er spreche „für" die Geisteskranken, oder sein Werk enthülle „unterdrücktes Wissen ... Blöcke historischen Wissens, die im Gebäude funktionaüstischer und systematischer Theorie vorhanden, aber verhüllt waren25." Viele Passagen bei Foucault, auch die oben zitierte über das „Wir", sind Beispiele für das, was Bernard Yack die „Sehnsucht nach totaler Revolution" und die „Forderung, daß unsere Autonomie in unseren Institutionen verkörpert werde26", genannt hat. Gerade diese Art Verlangen, meine ich, sollte unter Bürgern einer liberalen Demokratie dem Privatleben vorbehalten sein. Autonomie, wie sie selbstschöpferische Ironiker von der Art Nietzsches, Derridas oder Foucaults suchen, könnte nie von sozialen Institutionen verwirklicht werden. Autonomie ist nichts, was alle Menschen tief in ihrem Inneren hätten; es ist etwas, was bestimmte besondere Menschen durch Selbsterschaffung zu erreichen hoffen und einige von ihnen tatsächlich erreichen. Sie hat keine Bedeutung für den Wunsch der Liberalen, Grausamkeit und Schmerz zu vermeiden — Foucault teilte diesen Wunsch, auch wenn er nicht willens war, ihn mit diesen Worten auszudrücken. Die meisten Ironiker beschränken diese Sehnsucht auf ihre Privatsphäre, so (jedenfalls möchte ich das im fünften Kapitel zeigen) wie Proust; Heidegger und Nietzsche hätten es auch tun sollen. Foucault war mit der Beschränkung auf die Privatsphäre nicht zufrieden. Habermas ignoriert diese Sphäre, weil sie für seine Ziele irrelevant ist. Der Kompromiß, den dies Buch vertritt, läuft auf den Vorschlag hinaus: Privatisiert den Nietzsche-Sartre-Foucaultschen Versuch zur Authentizität und Reinheit, damit ihr euch davor schützen könnt, in eine politische Einstellung abzugleiten, die euch zu der Überzeugung bringen würde, daß es ein wichtigeres soziales Ziel als die Vermeidung von Grausamkeit gibt. So viel zu meinen Einwänden gegen Foucaults Versuch, Ironiker, aber nicht Liberaler zu sein. Daß ich mich mit Habermas' Versuch, Liberaler, aber kein Ironiker zu sein, nicht einverstanden bin, wird offenkundig, wenn man 25

26

Foucault in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1 9 7 2 77, Brighton: Harvester Press 1980, S. 82. Habermas kommentiert diese Passage (Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 328). Ich bin derselben Meinung wie er, wenn er sagt, sie illustriere Foucaults Versuch, die Schwierigkeit selbstbezüglicher Annahmen dadurch zu vermeiden, daß er „seine Genealogie vor allen übrigen Humanwissenschaften in einer Weise auszeichnet, die mit den Grundannahmen der eigenen Theorie vereinbar ist." Wie Habermas meine ich, daß dieser Versuch mißlang. Bernard Yack, The Longing for Total Revolution: Philosophie Sources of Social Dimension from Rousseau to Marx and Nietzsche, Princeton: Princeton University Press 1986, S. 385. Yack hat sehr gute Argumente fur seine Behauptung, daß die Idee von etwas zutiefst Menschlichem, das die Gesellschaft defomiert habe, von Rousseau stammt und in Kants Versuch, einen Teil des Selbst von der Natur auszunehmen, weiterlebt. Sellars' Naturalisierung der Unterscheidung zwischen Verpflichtung und Wohlwollen bietet uns, wie Meads Auffassung vom Selbst, die verführerische — für den gegenwärtigen Radikalismus typische — Vorstellung endlich aufzugeben, daß die „Gesellschaft" an sich schon entmenschliche.

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sich klarmacht, wie tief zuwider Habermas meine Behauptung sein muß, daß eine liberale Utopie eine poetisierte Kultur wäre. Habermas betrachtet meine ästhetisierende Rede von Metapher, Begriffserneuerung und Selbsterfindung als unglückselige Faszination von der Idee der „welterschließenden Funktion der Sprache", die im Gegensatz zur „problemlösenden" Funktion der Sprache in der „innerweltlichen Praxis" trete. Er mißtraut der Begeisterung für die welterschließende Kraft der Sprache, die er in Neo-Nietzscheanern wie Heidegger und Foucault findet. Er hält Castoriadis' Versuch, sich (in Gesellschaft als imaginäre Institution) auf diese Funktion zu berufen, für ebenso dubios27. Habermas ist bereit, Kuhns Argument zu akzeptieren, daß „die SpezialSprachen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral, Wissenschaft und Politik usw. ... von der Leuchtkraft metaphorischer Redewendungen leben 28 ". Er meint aber, daß ich zu weit — gefährlich weit — gehe, wenn ich behaupte, „Wissenschaft und Moral, Wirtschaft und Politik seien in dergleichen Weise -wie Kunst und Philosophie einem Prozeß sprachschöpferischer Protuberanzen ausgeliefert29". Er will, daß die „Geltungsansprüche" der Welterschließung auf ihren Gehalt in der innersprachlichen Praxis hin überprüft werden. Er möchte, daß es Formen der Argumentation zwischen „Expertenkulturen" gibt, die nicht von aufregenden, romantischen Erschließungen neuer Welten umgeworfen werden können. Er hat mehr Angst vor einem „romantischen Umsturz" etablierter Institutionen, wie ihn Hitler und Mao vorgeführt haben, als vor der erstickenden Wirkung, die die „Kruste der Konvention" (Dewey) haben kann. (Ein Beispiel dafür wäre die möglicherweise erstickende Wirkung, die die traditionelle Trennung verschiedener „Kultursphären" hat). Habermas hat mehr Angst vor Autoren, die wie Foucault ihre eigene Autonomie in Institutionen widergespiegelt sehen möchten,

27

28 29

Siehe zum Beispiel Habermas' Kommentar zu Castoriadis' Idee von der „Selbstdurchsichtigkeit einer Gesellschaft ..., die ihren imaginären Ursprung nicht unter außergesellschaftlichen Ursprüngen verdeckt und sich explizit als selbst-instituierende Gesellschaft weiß" {Derphilosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 370). Habermas kritisiert Castoriadis und mich, weil wir uns der Lebensphilosophie hingegeben hätten; sein Vorwurf läuft ungefährt darauf hinaus, daß wir beide poetisieren wollten, statt rational zu argumentieren. Meine (selbstverständlich stärker sympathisierende) Meinung zu Castoriadis findet sich in meinem Aufsatz „Unger, Castoriadis, and the Romance of a National Future", Northwestern University Law Review (im Druck). Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 245. Ebd., S. 241. Das Zitat ist Habermas' Zusammenfassung der Hauptgedanken meines Artikels „Deconstruction and Circumvention", in: Critical Inquiry 11 (1984), S. 1 - 23, eine Zusammenfassung, in der er sagt, ich hätte mir „die nüchternen Einsichten des Pragmatismus" vernebeln lassen vom „Nietzscheanischen Pathos einer ins Linguistische gewendeten Lebensphilosophie" (a. a. O., S. 242).

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als Angst vor dem, was Foucault fürchtete — die Fähigkeit der Expertenkulturen, „Biomacht" auszuüben 30 . Habermas hat jedoch dieselbe Antwort auf beide Angstmuster. Er ist überzeugt, daß die Gefahren, die von beiden Seiten drohen, vermieden werden können, wenn Entscheidungen über Veränderungen in öffentlichen Institutionen und Strategien getroffen werden durch einen Prozeß „herrschaftsfreier Kommunikation". Das scheint mir eine gute Neuformulierung der traditionellen liberalen Behauptung, daß es nur eine Möglichkeit gibt, das Fortdauern der Grausamkeit in sozialen Einrichtungen zu verhindern: Maximierung der Qualität des Unterrichts, Maximierung der Pressefreiheit, der Gelegenheiten zum Lernen und der Gelegenheiten, politischen Einfluß zu nehmen, und dergleichen mehr. Die Differenz zwischen Habermas' Versuch, eine Form von Rationalismus wiederherzustellen, und meiner Empfehlung zur Poetisierung der Kultur spiegelt sich keineswegs in politischen Meinungsverschiedenheiten wider. Wir unterscheiden uns nicht in der Einschätzung des Wertes traditioneller demokratischer Institutionen, auch nicht in bezug auf die Verbesserungen, die sie brauchen, auch nicht in Hinsicht auf das, was man „Herrschaftsfreiheit" nennen sollte. Wir haben nur verschiedene Vorstellungen von dem wünschenswerten Selbstbild einer demokratischen Gesellschaft, von der Rhetorik, in der sie ihre Hoffnungen ausdrücken sollte. Anders als meine politischen Differenzen zu Foucault sind meine Differenzen mit Habermas, wie man so sagt, „bloß philosophische" Differenzen. Habermas meint, es sei essentiell für eine demokratische Gesellschaft, daß ihr Selbstbild den Universalismus und eine Form des aufklärerischen Rationalismus inkarniere. Er hält seine Darstellung der „kommunikativen Vernunft" für eine Möglichkeit, den Rationalismus wieder aktuell zu machen. Ich will weder Universalismus noch Rationalismus aktualisieren, vielmehr beide auflösen und durch etwas anderes ersetzen. Deshalb sehe ich Habermas' Substitution der „subjektzentrierten Vernunft" durch „kommunikative Vernunft" einfach als eine irreführende Formulierung für das, was mich beschäftigt: daß man eine Gesellschaft dann liberal nennen kann, wenn sie sich damit zufriedengibt, „wahr" (oder „richtig" oder „gerecht") zu nennen, was immer sich als Resultat einer unverzerrten Kommunikation ergibt, was immer sich als Meinung in einer freien, offenen Begegnung durchsetzt. Diese Substitution läuft darauf hinaus, daß man die Vorstellung von einer prästabilierten Harmonie von Subjekt und Objekt der Erkenntnis verabschiedet und damit zugleich die traditionelle epistemologisch-metaphysische Problematik. Habermas ist bereit, den Großteil dieser Problematik aufzugeben. Aber selbst nachdem er das getan hat, besteht er immer noch darauf, den Prozeß Habermas ist jedoch keineswegs unachtsam gegenüber dieser zweiten Gefahr, die er als „Kolonisarion der Lebenswelt" diagnostiziert hat. Siehe seine Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, Bd. 2.

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unverzerrter Kommunikation als Konvergenzprozeß zu sehen und diese Konvergenz als Garantie für die „Rationalität" einer solchen Kommunikation. Als Rest-Differenz zwischen Habermas und mir bleibt folgendes: Sein Universalismus führt dazu, daß er diese Konvergenz an die Stelle ahistorischer Grundlagen rückt, während mein Insistieren auf der Kontingenz der Sprache dazu führt, daß ich schon gegenüber der Idee einer „universellen Geltung", für die eine solche Konvergenz bürgen können muß, mißtrauisch bin. Habermas möchte die traditionelle (Hegel und Peirce gemeinsame) Geschichte von der asymptotischen Annäherung an foci imaginarii bewahren. Ich möchte sie ersetzen durch eine Geschichte von der wachsenden Bereitwilligkeit zum Leben mit Pluralitäten und zum Beenden der Suche nach universeller Geltung. Eine zwanglose Ubereinstimmung möchte ich verstehen als Übereinstimmung darin, wie man gemeinsame Ziele erreicht (zum Beispiel die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens von Atomen oder Menschen, das Erreichen gleicher Lebenschancen, die Verringerung von Gewalt), aber ich möchte diese gemeinsamen Ziele vor dem Hintergrund eines wachsenden Verständnisses für die radikale Vielfalt privater Ziele sehen, für den radikal poetischen Charakter individuellen Lebens und für die ausschließlich poetischen Grundlagen des „Wir-Bewußtseins" hinter unseren sozialen Institutionen. Indem ich den Universalismus verabschiede, möchte ich den Ansprüchen der Ironiker, denen Habermas mißtraut, Gerechtigkeit widerfahren lassen: Nietzsche, Heidegger, Derrida. Habermas betrachtet diese Autoren unter dem Aspekt öffentlicher, politischer Erfordernisse. Ich stimme mit Habermas darin überein, daß sie als politische Philosophen im besten Fall unnütz und im schlimmsten Fall gefährlich sind, aber ich möchte daran festhalten, daß sie und andere ihresgleichen eine wichtige Rolle für die Anpassung des privaten Identitäts-Verständnisses der Ironiker an ihre liberalen Hoffnungen spielen. Dabei geht es aber nur um Anpassung, nicht um Synthese. Meine „poetisierte" Kultur ist dadurch charakterisiert, daß der Versuch, die privaten Formen des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit und das Gefühl der Verpflichtung anderen gegenüber eins werden zu lassen, aufgegeben wurde. Habermas aber hält diese Aufsplitterung des Selbst, die Aufteilung des abschließenden Vokabulars in zwei unabhängige Teile, für ein anfechtbares Unternehmen. Für ihn sieht diese Aufsplitterung wie ein Zugeständnis an den Irrationalismus aus, wie ein Versuch, dem „Anderen der Vernunft" Rechte einzuräumen. Meiner Ansicht nach ist der Gegensatz von Vernunft und ihrem Anderen (zum Beispiel Leidenschaften, Nietzsches Wille zur Macht, Heideggers Sein) leicht auszuräumen, wenn wir die Idee aufgeben, „Vernunft" sei der Name einer heilenden, versöhnenden, einenden Macht — der Quelle der Solidarität. Wenn es keine solche Quelle gibt, wenn die Idee der Solidarität eine glückliche, aber zufällige Schöpfung der Moderne ist, denn brauchen wir keine Vorstellung einer „kommunikativen Vernunft" als

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Ersatz fur „subjektzentrierte Vernunft" mehr. Wir müssen Religion nicht mehr durch die Darstellung einer heilenden und einenden Macht ersetzen, die das Werk übernimmt, das einst Gott getan hat. Ich -würde gern die religiöse wie die philosophische Hoffnung auf einen supra-historischen Grund oder auf eine Konvergenz am Ende der Geschichte ersetzen durch eine historische Erzählung vom Aufkommen liberaler Institutionen und Angewohnheiten — der Institutionen und Angewohnheiten, die dazu gemacht waren, Grausamkeit zu verringern, eine Regierung durch Konsensus der Regierten zu ermöglichen und es viel herrschaftsfreie Kommunikation -wie möglich stattfinden zu lassen. Eine solche Erzählung würde klären, unter welchen Bedingungen die Idee von der Wahrheit als Korrespondenz zur Realität allmählich verdrängt wurde durch die Idee von der Wahrheit als dem, was im Lauf freier und offener Auseinandersetzung zur Uberzeugung wird. Der Wechsel von der Epistemologie zur Politik, von der Erklärung der Relation zwischen „Vernunft" und Realität zur Erklärung der Weise, wie politische Freiheit unser Verständnis des Nutzens von Forschung verändert hat, ist ein Wechsel, den Dewey vollziehen wollte, gegen den Habermas sich aber wehrt. Habermas will noch immer daran festhalten, daß „das transzendierende Moment allgemeiner Geltung ... alle Provinzialität [sprengt] ... die beanspruchte Gültigkeit ... sich von der sozialen Geltung einer faktisch eingespielten Praxis [unterscheidet] und ... dieser doch gleichwohl als Grundlage des tatsächlichen Konsensus [dient]" (a. a. O., S. 375). Eben dieser Ausdruck auf allgemeine Geltung ist nicht mehr glaubwürdig, wenn man von der „Kontingenz der Sprache", wie ich es genannt habe, überzeugt ist; und eine poetisierte Kultur würde nicht daran denken, diesen Anspruch noch zu erheben. Sie würde statt dessen mit Dewey überzeugt sein, daß „Imagination das wichtigste Instrument des Guten" ist. „Kunst [ist] moralischer ... als die Sittenlehren. Denn diese sind entweder Absegnungen des Status quo ..., oder sie tendieren dazu, es zu werden. Die moralischen Propheten der Menschheit sind immer Dichter gewesen, auch wenn sie in freien Reimen oder Parabeln sprachen 31 ."

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John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 401.

5. Teil Entscheidungstheoretische Aspekte

Individualrechte ernst aber nicht unangemessen ernst genommen Rainer Werner Trapp

Insbesondere seit der Aufklärung brach sich die neuzeitliche Wiederentdekkung des Individuums auch in Rechtssystemen Bahn. So löste sie u. a. eine in den jüngsten Jahrzehnten geradezu exponentiell angeschwollene Flut von Forderungen nach allerlei Individualrechten (= IR) aus, die zu großen Teilen weithin bereits demokratisch-gesetzliche Realität sind. Speziell im Rahmen der alten Epikureischen, seit Hobbes variantenreich neuformulierten Vertragskonzeption des Rechts genießen einige dieser IR — und zwar die am leichtesten, nämlich selbst „unverschleiert" rationalen Egoisten gegenüber mit Partikularnutzengewinnen für diese begründbaren — den Sonderstatus von »Ur-Rechten«; als solche lassen sie sich als Ergebnisse eines aus dem vorgesellschaftlichen Zustand herausführenden ursprünglichen Rechtetausches charakterisieren: Per fiktiver Übereinkunft verzichtete man allseits auf sein eines, unbegrenztes, jedoch höchst unsicheres, weil nur nach dem Maß der je eignen Kräfte erzwingbares „Naturrecht" auf alles und jedes; stattdessen handelte man sich eine Reihe von IR ein, die zwar begrenzt, dafür aber — da von einer eigens zu diesem Zweck einzurichtenden Exekutive erzwingbar — weit sicherer garantiert waren. Der Bereich derart konzipierter UrRechte umfaßt ausschließlich in dem Sinne »harte« Rechte, daß diese noch ohne jeden Schleier der Unwissenheit und allein mit realen, starken Paretogewinnen begründbar sind; als solcher enthält er noch keinerlei»einseitige Solidaritätsrechte« für in bestimmter Hinsicht Schwache — wie etwa alle Sozialleistungsrechte für von Natur aus Behinderte — oder sonstige »weiche« Rechte, deren Gewährung einigen Vertragspartnern einen auch langfristig einseitig bleibenden Nutzentransfer abfordern kann. Die heutzutage vorliegende Ansammlung aller je geforderten IR ist weit umfangreicher als jener Rechte-Kernbereich des klassischen Kontraktualismus. Sie enthält »harte« und »weiche« Rechte diverser Art und Spezifikationsstufen. Diese umfassen an der Spitze wenige hochallgemein, ja teilweise vage bis leerformelhaft formulierte Fundamentalrechte. So fordert man vorzugsweise in Präambeln von Verfassungen oder Charten, in Grundrechtsartikeln,

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den obersten Axiomen von Ethiksystemen, aber auch in politisch-moralischen Sonntagsreden Rechte wie dasjenige auf „Menschenwürde", auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit", auf das „gleiche Maß an Respekt und Achtung" (Dworkin), auf „life, liberty, and the pursuit of happiness", auf „die gleiche Freiheit eines jeden als Bedingung jedes weiteren Rechts" (H. L. A. Hart), bisweilen noch vermehrt um ein für jeden gleiches Recht auf „Wohlergehen" (G. Vlastos), usw. Sämtliche nichtpaternalistischen Interessenaggregationsethiken gründen u. a. auf der Forderung nach dem Recht eines jeden auf souveräne Bestimmung seiner eigenen Partikularinteressen. Mitunter unterstrich man Reklamierungen von Fundamentalrechten solcher Art noch dadurch, daß man sie zu natur- oder gottgegebenen Rechten erklärte, die jedermann bereits auf Grund seines Menschseins per se zukämen und die insofern jedem positiven Recht vorgeordnet seien. Im breiten Fuß der Rechte-Pyramiden, die sich aus modernen Rechts Systemen extrahieren lassen, drängen sich dagegen zahllose weit konkreter gefaßte, materiale IR. Neben Freiheitsrechten wie demjenigen auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Schutz des Bankgeheimnisses und zahlreicher sonstiger Daten, auf Verweigerung von Wehrdienst oder der Aussage vor Gericht, auf freie Wahl von Arzt, Beruf oder Ort einer Niederlassung, umfassen sie diverse, teils hochspezifizierte Anspruchsrechte auf Sozial- und Fürsorgeleistungen des Staates, auf Asyl, auf Einspruch gegen staatliche Bau- oder Strafverfolgungsmaßnahmen, auf strikte Einhaltung von allerlei formalen Prozeduren, auf eine bestimmte Luftqualität und nächtliche Ruhe, usw. usf. Dieser gigantische, höchst heterogene Katalog von IR aus den verschiedensten Gebieten eines Rechtssystems läßt sich nach einer Vielzahl von Kriterien und Relationen baumartig gliedern bzw. ordnen. Neben juristischen Klassifikationen danach, ob es sich um (unter alsdann selbst weitergliederbaren Bedingungen oder gar unbedingt gewährte) Rechte des Bürgers gegen andere Bürger oder gegen den Staat, um das Inkraftsetzen, Aufheben oder Auslegen von Rechten regelnde Metarechte etc. handelt, lassen sich alternative rechtsphilosophisch-ethische Systematisierungen nach Art, Inhalt und Bedingung des von einem Recht gewährten Anspruchs vornehmen. Die in der angloamerikanischen Diskussion oft zugrundegelegte Rechte-Klassifikation nach Hohfeld 1 etwa läßt sich von daher in verschiedene Richtungen hin verfeinern. Rechtsgüterabwägungen erlauben überdies die Menge aller Rechte durch Prioritätsregeln für Rechtekonflikte mindestens partiell zu ordnen. Der hiesige Zweck erfordert eine derartige Klassifizierung und Hierarchisierung von Rechten jedoch nicht einmal in groben Zügen. Es genügt, jedes einem normativen System entnehmbare IR als einen — im positiv-rechtlichen Fall auch staatlich erzwingbaren — Anspruch zu begreifen, der einem Indivi1

Vgl. Hohfeld (1919).

Individualrechte ernst — aber nicht unangemessen ernst genommen

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duum χ gegenüber mindestens einem anderen Individuum y auf eine Leistung (positive IR) oder Unterlassung (negative IR) der Art ζ gewährt wird. Derart als 3-stellige Relationen aufgefaßt können IR einerseits spezielle Rechte sein. Als solche — man spricht hier auch von iura in personam — beinhalten sie positive oder negative Ansprüche gegen spezifizierte Individuen, wie etwa denjenigen auf Erfüllung irgendeines Privatvertrages über einen Gütertausch oder gegenseitigen Forderungsverzicht. Andererseits können IR — wie dasjenige auf Unfallhilfeleistung oder freie Meinungsäußerung — insofern allgemeine sein, als sie Ansprüche auf Tun oder Unterlassen gegen Klassen von nicht konkret benannten Individuen, im Grenzfall gar gegen jedermann überhaupt, zum Ausdruck bringen. Zumeist werden in diesem Sinne allgemeine IR kurz 2-stellig auch als iura in rem, als Ansprüche von χ auf die Sache (den Zustand, Prozeß, ...) ζ bezeichnet. Daß χ im Situationstyp S g e g e n y i , . . . y „ (η S; 1) ein Rechtsanspruch der Art ζ gewährt ist, impliziert nun bekanntermaßen bereits institutionell-analytisch, daß die Personenj/,...^» in S eine dementsprechende Leistungs- bzw. Unterlassungsß/Z/VA/ gegen χ haben. Jede IR- Gewährung führt mithin schon von daher zu einer Einschränkung des Freiheitsspielraumes anderer. Liegt nun überdies der Regelfall vor, daß jede der Alternativen des noch verbleibenden Handlungspielraumes — der oftmals nur noch deren eine umfaßt — für die Verpflichteten einen geringeren Folgen(erwartungs)nutzen hätte als irgendeine Alternative ihres ohne jene Pflicht gegebenen größeren Spielraums, dann verpflichtet die Zuteilung eines IR an ein Individuum mindestens ein anderes zur Hinnahme von Nutzenverlusten. Kurz: Dem durch ein IR geförderten Partikularinteresse der Rechtsinhaber steht jeweils eine potentielle und bei Inanspruchnahme des fraglichen Rechts zumeist auch tatsächliche Schädigung der Partikularinteressen anderer gegenüber. Jede IR-Gewährung produziert somit bereits institutionell-analytisch bestimmte Interessenkonflikte zwischen Berechtigten und damit Verpflichteten. Neben letztere treten jedoch üblicherweise noch zahlreiche weitere, lediglich kausal-empirisch implizierte, für die gesellschaftliche Rechtfertigung einer IR-Gewährung jedoch oft weit gewichtigere Interessenkonflikte. Diese bestehen zwischen den Rechtsinhabern und all denjenigen Dritten, die zwar nicht direkt durch jenes Recht zu Leistungen oder Unterlassungen verpflichtet sind, deren Partikularinteressen aber bei Einhaltung jener Verpflichtungen durch die hierzu direkt Verpflichteten kontingenterweise geschädigt würden. So schädigen IR auf materielle staatliche Leistungen unter bestimmten Bedingungen, obwohl sie direkt nur die zuständigen Behörden verpflichten, u. a. indirekt die Interessen Dritter. Hierzu gehören primär all diejenigen, die als Steuerzahler insgesamt mehr zur Finanzierung jener Leistungen und eventueller Folgen der von ihnen bewirkten Motivationsveränderung manches Leistungsempfängers beitragen als sie selbst von ihnen profitieren. Sämtliche etwa dem deutschen Polizei- oder Strafprozeßrecht zugrundeliegenden IR

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schränken analog direkt zwar nur die HandlungsSpielräume von Amtsträgern aus Exekutive und Jurisdiktion ein; zugleich jedoch befördert das aus solchen Rechten folgende Verbot bestimmter Verbrechensbekämpfungsmittel, ζ. B. des Abhöranlageneinsatzes selbst gegen organisierte Großkriminelle, typischerweise den Erfolg verbrecherischen Tuns. Überdies senkt es das Rechtsbewußtsein bei manchen Beobachtern eben dieser Tatsache und somit die allgemeine Rechtstreue. Also schädigen derartige IR ersichtlich mindestens die Interessen all derjenigen rechtstreuen Bürger, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Verbrechensopfern oder deren Angehörigen werden, oder die als Steuerzahler und in sonstiger Weise die gesellschaftlichen Kosten der Kriminalität mitzutragen haben. Da Staatsbedienstete zugleich Bürger und Steuerzahler sind, kann natürlich einundieselbe Person durch ein IR sowohl direkt verpflichtet als auch indirekt geschädigt werden. Freilich finden sich auch IR der entgegengesetzten Art; ihre Gewährung zieht sogar soziale Paretogewinne nach sich. Solche IR schränken zunächst die durch sie direkt Verpflichteten insofern nicht real ein, als jene ausnahmslos die fraglichen Verpflichtungshandlungen als für sie ohnehin optimal auch freiwillig wählen würden, oder aber, wenigstens bei Annahme einer allgemeinen derartigen Pflichtenerfüllung, insgesamt mehr Nutzen als Kosten durch jene Rechte zu erwarten hätten. Überdies dienen solche Rechte unter normalen Umständen mindestens auf lange Sicht auch den Interessen aller indirekt von ihnen Betroffenen. Ungeachtet dieser Doppelverknüpfung von IR mit direkten Pflichten für andere sowie zahlreichen indirekten Folgen für Dritte wurde es unter Politikern, Juristen, aber auch Ethikern vor allem seit den siebziger Jahren weithin zur Gewohnheit, der Öffentlichkeit gegenüber jede Erweiterung des Katalogs von Freiheits-, Leistungs- und sonstigen Rechten per se als bedeutsame moralisch-rechtliche Errungenschaft darzustellen. Vernachlässigt wurde die durch jene Doppelverknüpfung gestellte Aufgabe, auch die Vor- und Nachteile solcher Rechtsgewährungen für die verschiedenen Gruppen der hiervon Betroffenen konsequentiell angemessen abzuwägen und ins öffentliche Licht zu rücken. Das Ergebnis solcher Abwägungen wird freilich von der hierbei eingenommenen Interessenperspektive abhängen. Dies gilt allzumal für alle im vorgenannten Sinne»weichen«, auch langfristig einen nur einseitigen Nutzentransfer bewirkenden IR; gemeint sind Rechte, deren Vorteile einerseits und ihnen korrespondierende direkte Pflichten sowie indirekte Nachteile andererseits einseitig verteilt sind. Dies unterscheidet sie etwa von gruppen- oder generationenvertraglichen Krankenversicherungs- oder Rentenrechten, welche mindestens langfristig insofern die Nutzenwaage für jedermann einigermaßen im Gleichgewicht halten, als sie dieselben Individuen zu verschiedenen Zeiten begünstigen bzw. belasten. Einseitige Rechte dagegen bevorzugen eine Gruppe von Betroffenen, jeweils auf die gesamte Lebensspanne bezogen,

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eindeutig zugunsten einer anderen. Sofern sie »Solidaritätsrechte« in der anfangs skizzierten Bedeutung sind, wird diese Begünstigung — als eine unverdiente Benachteiligung durch die Natur oder widrige Lebensumstände wenigstens teilweise ausgleichend — noch weithin Zustimmung finden. Für zahlreiche andere einen einseitigen Nutzentransfer verursachende Rechte gilt dies jedoch aus gutem Grunde nicht mehr. Ihnen gegenüber wird nicht nur der Hartherzige entgegnen können, daß der von anderen bei ihrer Gewährung einseitig zu erbringende Transfer ungerecht sei; denn er gleiche eben nicht — wie jener, dem alten Prinzip des nemetikon dikaion verpflichtete — unverdiente sonstige Nachteile der Rechtsinhaber aus. Als Beispiele für in dieser Weise einseitig wirkende IR nehme man die bereits angedeuteten Bürgerrechte, welche etwa den sog. „großen Lauschangriff' 2 oder eine nichtöffentliche Zeugenanhörung generell verbieten, welche die Handlungsspielräume verdeckter Ermittler aufs äußerste einschränken u. ä.; de iure kommen sie zwar jedermann zu; defacto aber begünstigen sie vor allem die kleine Gruppe organisiert tätiger Berufsverbrecher auf Kosten der Interessen der (im wesentlichen) rechtstreuen Mehrheit der Gesellschaft. Dies ist schon deshalb so, weil die Mitglieder letzterer nur äußerst selten in Umstände gelangen, in denen jene Rechte ihnen überhaupt Nutzen bringen könnten. Standesvereinigungen von Rechtsanwälten etwa, die sich z. T. aus vielfaltiger Wahrnehmung der Interessen derartiger Minoritäten-Klientel kräftig alimentieren, werden solche ihren Arbeitserfolg tendenziell erhöhenden IR daher naturgemäß positiver beurteilen als Polizeibeamte oder Vereinigungen von Verbrechensopfern. Schon um jede derartige Partikularinteressenrelativität zu vermeiden, ist die nachfolgend zu betrachtende Hauptfrage dieses Papiers, nämlich die nach vernünftigen Kriterien der Rechfertigung von IR, nicht aus der Sicht dieser oder jener Interessengruppe zu stellen; sie ist vielmehr einzig aus der neutralen Perspektive des Interesses der Gesellschaft als ganzer anzugehen. Dies aber heißt, ihre Beantwortung einer Ethik anzuvertrauen, welche IR-Gewährungen, ebenso wie alle sonstigen Entscheidungen mit mehr als einem Betroffenen, allein am Ziel einer maximalen Beförderung des gerecht definierten Allgemeininteresses zu bemessen vorschreibt. Nun ist letzteres offenbar — mindestens meiner Ansicht nach — eine für jeder ihrer η Dimensionen ceteris paribus monoton steigende Funktion aller η beteiligten Partikularinteressen sowie darüber hinaus einer Reihe von Gerechtigkeitsparametern. Damit aber bleibt auch eine gegenüber Partikularinteressen neutrale Antwort auf jene hiesige Hauptfrage von vorneherein in mindestens doppelter Hinsicht relativ. Sie hängt zunächst von der Art der Aggregationsethik, oder genauer, von der mathematischen Funktion ab, die man für die „gerechte" Aggregation von numerisch repräsentierten Partikularinteressen an etwas zu einem Allgemeininteresse Angesichts der Normalkonstellation, in denen es in Demokratien zu derartigen „Angriffen" des Staates kommt, kann jener Begriff nur Kopfschütteln hervorrufen.

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hieran zugrundelegt. Bekanntlich wurden in der Ethiktheorie sehr verschiedene Funktionen hierfür vorgeschlagen und ζ. T. aus obersten Gerechtigkeitsprinzipien axiomatisch abgeleitet. „Gerechte" Interessenaggregation ist damit relativ auf die die Wahl jener Axiome leitende Wertintuition. Selbst wenn sich jedoch eine Einigung in der Gesellschaft über eine bestimmte dieser Funktionen als „die einzig gerechte" ergäbe, so bliebe die Einzelfall-Antwort darauf, ob ein bestimmtes IR dem Allgemeininteresse dient, immer noch in mindestens einer zweiten Hinsicht relativ. Denn jene Antwort hinge von der empirischen Einschätzung sowie Bewertung der kausalen Folgen ab, die man bei der Gewährung oder Versagung jenes Rechts angesichts der je vorliegenden Umstände fur die hiervon Betroffenen zugrundelegt. Denn erst diese determinieren ja die zu aggregierenden Partikularnutzenwerte für jede dieser beiden Alternativen. Nun können drastisch veränderte Umstände diese Partikularnutzenwerte wie auch jene weiteren das Allgemeininteresse mitdeterminierenden Parameterwerte dermaßen verändern, daß ein vordem nicht oder nur eingeschränkt zu gewährendes IR nunmehr im Allgemeininteresse zu gewähren bzw. ohne jene Einschränkung zu gewähren wäre oder umgekehrt. IR werden hiermit als den Umständen anzupassende Instrumente einer gerechten Losung von Interessenkonflikten aufgefaßt; als solche können sie jedoch weder prinzipiell als impossibilia noch als sacrosancta gelten. Diese Forderung nach einer am jeweiligen Allgemeininteresse orientierten Rechtfertigung eines jeden IR gründet unmittelbar auf folgender Ansicht: Alle IR, die nicht bereits aus den das Allgemeininteresse selbst definierenden Axiomen folgen, sind normativ-systematisch sekundär. Ihnen begründungstheoretisch voranzusetzen ist eine Ethik, die den angedeuteten Rechtfertigungsmaßstab für IR allererst zur Verfügung stellt. Letzter Grund für diese theoretische Subordination von IR ist die moderne Wendung zweier wohlbekannter alter Einsichten. Deren erste geht auf Aristoteles zurück. Sie verweist darauf, daß das oberste Ziel jeglichen Handelns intrinsisch und damit mehr als nur extrinsisch-instrumentell wertvoll sein müsse. Dies könne jedoch nur etwas sein, bezüglich dessen sich nicht mehr sinnvoll fragen lasse, warum oder wofür es denn gut und erstrebenswert sei. Ein derartiges individuelles summum bonum nun sei allein eudaimonia. Die Hauptströmung des modernen Konsequentialismus entkleidete dieses teleion „Glück" seiner von Aristoteles und anderen antiken Ethikern gegebenen verschiedenen inhaltlichen Normierungen; stattdessen faßt sie es liberaler als einen Zustand der relativ maximalen Gesamtbefriedigung, der sich — je nach den Neigungen des Betreffenden — variabel aus Teilbefriedigungskomponenten diverser Art und Dignität, von sinnlich-physischer über intellektuelle und ästhetische bis hin zu hehrster moralischer Befriedigung zusammensetzen kann. Nun gibt es jedoch zumeist keine bestimmte Handlung, welche das derart selbstbestimmte Individualglück eines jeden Betroffenen zugleich maximieren

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würde. Vielmehr kostet im Regelfall des Interessenkonflikts des einen maximale Interessenbefriedigung den Preis der nur suboptimalen Beförderung des Interesses mindestens eines anderen. In derartigen Fällen könnte ein neutraler Entscheider, würde er die antike, rein individuelle Glücksmaximierung für die Beteiligten anstreben, keine der verfügbaren Alternativen als ethisch richtige auszeichnen. Dies jedoch würde jeweils einen deontischen und mithin auch logiseben Widerspruch implizieren. Dieser zweiten elementaren Einsicht Rechnung tragend erkannte spätestens die europäische Aufklärung die eigentliche Aufgabe einer säkularisierten und zugleich metaphysikfreien Ethik darin, allgemein akzeptable formale Prinzipien anzugeben, welche situational auseinanderstrebende Partikularinteressen zu einem gerecht aggregierten Allgemeininteresse zu bündeln gestatten. Die so veränderte Ethikkonzeption blieb damit — wie die antike — zwar ^ielorientiert. Anders als jene sah sie das Endziel ethischen Handeln aber nicht mehr in der Maximierung der je eigenen individuellen summa bona, sondern nunmehr in derjenigen eines einzigen, hieraus aggregativ konstituierten sozialen summum bonum. Soagalteleologie ersetzt die alten Individualteleologien. Diese Wandlung zeitigte bereits formal einen entscheidenden Vorteil. Das neue Endziel erweist sich nämlich selbst dann als (mindestens im Prinzip) immer erreichbar, wenn ein Interessenkonflikt die gleichzeitige Erreichung der je vorliegenden individuellen Endziele bereits logisch ausschließt. Auf der Grundlage dieser sozialteleologischen Auffassung von Ethik nun können IR — wie behauptet — nur sekundäre ethiktheoretische Gegenstände sein. Denn sie sind einseitig relativ auf Partikularinteressen: Sie basieren auf letzteren und damit auf dem Nutzen-, Befriedigungs- oder Glücksbegriff. Niemals aber gilt das Umgekehrte. Es ist immer sinnvoll zu fragen, warum ein Recht für denjenigen, dem es zukommt, wertvoll ist. Mithin ist es — anders als das Glück — lediglich extrinsisch-instrumentell, nicht aber intrinsisch wertvoll. Die Antwort auf jene Frage verweist dann auch auf nichts anderes als die Glückssteigerung oder den Nutzen, den die jeweiligen Inhaber jenes Rechts bei dessen Inanspruchnahme aus dem Tun oder Unterlassen anderer ziehen würden. In einer normalen, nichtmasochistischen Welt wird aus eben diesem Grunde keine Forderung etwa nach der Sozialleistung einer täglichen Tracht Prügel je zu vernehmen sein. (In einer Welt von Masochisten könnte dies anders sein.) Da jenen Nutzengewinnen aber, wie betont, vielfach Nutzenverluste der durch das Recht direkt Verpflichteten und/oder indirekt Belasteten gegenüberstehen, drängt sich die vorgeschlagene Bemessung von Rechtsgewährungen am Maßstab des jene Gewinne und Verluste gleichermaßen einbeziehenden Allgemeininteresses aus neutraler Sicht geradezu auf. Eine i. S. von Robert Nozick oder Ronald Dworkin „rechtsbasierte" Ethik, die bestimmte materiale IR unabhängig von jedwedem gerecht bestimmten" Allgemeininteresse an ihnen als primär ethiktheoretische Gegenstände betrachtet, ist dieser Ansicht

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zufolge bereits vor jeder näheren Prüfung des Gehalts jener Rechte als methodisch fundamental fehlbasiert abzulehnen. Wie aber konstituiert sich jener Maßstab des „gerecht bestimmten Allgemeininteresses"? An welcher der alternativen Definitionen hiervon ist folglich die Lösung unseres hiesigen Hauptproblems, welche IR unter bestimmten angenommenen Umständen moralisch legitimierbar sind und welche nicht, zu bemessen? A. a. Ο.3 versuchte ich meine Antwort hierauf — die wie jedwede derartige Antwort auf normativen Prämissen ruht und daher schon aus erkenntnistheoretischen Gründen keine (auch nur vorläufig) objektive Wahrheit beanspruchen kann 4 - in Gestalt einer allgemeinen Theorie der Gerechtigkeit vorzulegen. Insbesondere wurde dort im Detail dafür argumentiert, daß eine solche Theorie nicht rein nut^enorientiert („welfarist") sein dürfe. Sie sollte mithin den Grad des Allgemeininteresse an jeder der Optionen einer Alternativenmenge nicht allein auf der Grundlage der hierdurch erreichbaren Nutzen^uwächse bzw. -niveaus der Betroffenen bestimmen, wie es etwa der klassische Utilitarismus oder Rawls' Mm«?'«-Konzeption empfehlen. Außer von manifestierten Graden der beteiligten Partikularinteressen sollte das jeweilige Allgemeininteresse vielmehr wesentlich auch von Nichtnut^en- oder Gerechtigkeitsinformation mitdeterminiert werden. Zu dieser gehört zuallererst der Grad der Berücksichtigungswiirdigkeit eines angemeldeten Partikularinteresses im Hinblick auf sämtliche hierfür situational relevanten Aspekte. Je nach Art der Situation können diese einige oder alle der folgenden Faktoren umfassen: Die Qualität oder Dignität der beteiligten Arten von Befriedigung, die Präferenzmotive, die Entstehungsgeschichte der spezifischen Bedürftigkeit, die einer Nachfrage nach Einkommens-, Leistungs- oder sonstigen Nutzentransfers durch andere Betroffene zugrundeliegt, hierbei insbesondere das Maß des Selbst- bzw. Fremdverschuldetseins jener Bedürftigkeit, ferner den Grad der bisherigen sowie künftig beabsichtigten Berücksichtigung der Interessen anderer durch den Anspruch3

4

Vgl. Trapp (1988) sowie die auf den theoretischen Kern komprimierte Darstellung in (1990a). Vgl. Trapp (1990b), (1997) und (1988), S. 1 0 5 - 1 6 7 . Noch schlechter um Objektivitätsunspmche steht es, wenn man — wie ich in (1988) — von einer hinreichend regelungsstarken Ethik Kompensatonyität i. d. S. verlangt, daß sie bei zahlreichen Bedürftigkeitskonstellationen auch langfristig einseitig bleibende Nutzentransfers gebietet. Damit würde es möglich, daß bestimmte Individuen bei Befolgung jener Normen, auf ihre Lebenszeit bezogen, Nutzenverluste im Vergleich zu klugem egoistischen Handeln selbst unter der unrealistisch günstigen Annahme hinzunehmen hätten, daß jedermann diese Ethik perfekt befolgt. Dies jedoch impliziert unmittelbar, daß jede kompensatorische Ethik nicht nur nicht als objektiv wahr beanspruchbar ist; sie ist zudem nicht einmal als objektiv nützlich behauptbar. Denn dies würde erfordern, daß mindestens ihre perfekte allgemeine Befolgung sich für jedermann gegenüber kluger Eigeninteressenverfolgung auszahlen würde. Letzterer Nachweis läßt sich aber nur für eine ethisch unzureichende „MinimalmoraT'auf der Basis spieltheoretischer Modellbildung präzise erbringen. Vgl. hierzu Trapp (1997).

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steller selbst, kurz, alle situational relevanten Aspekte der Leistungsvorgeschichte desjenigen, der ein bestimmtes Interesse anmeldet. Auch können natürliche Handikaps und Benachteiligungen Anlaß zu besonderer Fürsorge und mithin zu ceteris paribus kompensatorisch stärkerer Berücksichtigung bestimmter Partikularinteressen sein. All diese multiattributive Gerechtigkeitsinformation ist am Ende jener Betrachtung der Berücksichtungswürdigkeit eines Partikularinteresses durch einen zwischen 0 und 1 variierenden Interessengewichtungsfaktor numerisch zu repräsentieren, mit welchem der jeweilige manifestierte Nutzenwert zu multiplizieren ist. Zum Allgemeininteresse zu aggregieren sind sodann allein die derart bestimmten verdienten Grade der beteiligten Partikularinteressen. Ein zwar vorhandenes, aber ζ. B. gar nicht, d. h. nur mit dem Faktor Null zu berücksichtigendes Partikularinteresse in einer Angelegenheit erhält auf diese Weise keinerlei numerischen Einfluß auf die Bestimmung des diesbezüglichen Allgemeininteresses. Neben jener Gerechtigkeitsinformation ist jedoch auch weit mehr Nut^eninformation zu berücksichtigen als der klassische Utilitarismus oder Maximin dies vorschreiben. Ersterer bemißt das Allgemeininteresse bekanntlich ausschließlich am jeweiligen Maximum der Nutzenzuwachssummen. Dies jedoch impliziert unerfreulicherweise, daß eine größtmögliche Gleichheit der bewirkbaren Nutzenniveauwerte im Falle gleicher Berücksichtigungswürdigkeit nur allenfalls implizit, nämlich bei Annahme recht restriktiver Zusatzbedingungen über die Einkommen-Nutzen-Funktionen der Beteiligten, als ethisches Teilziel verfolgbar ist. Explizit bleibt es moralisch gleichwertig, ob eine bestimmte Summe von Nutzenzuwachswerten sich aus gleichen oder äußerst ungleichen Summanden zusammensetzt und welche neuen Niveauwerte diese Summanden erzeugen. Es zählt allein die größere Summe. In vielen Anwendungsfällen würde diese vielkritisierte Vernachlässigung der Verteilungsgerechtigkeit jedoch zu höchst kontraintuitiven Geboten führen. Kontraintuitive Resultate in wiederum anderen Fällen zeitigt auch die Maximin-Regel, die sich einseitig am relativ höchsterreichbaren Niveau des jeweils Schlechtestgestellten orientiert und damit die Interessen aller supraminimales Niveau Erreichenden völlig außer acht läßt. Als ebenfalls sowohl rein nutzenniveauorientiert wie auch nicht auf jeder ihrer η Dimensionen ceteris paribus monoton steigend bleibt auch die Mim«/«-Nachbesserungsvariante Leximin unbefriedigend. All diese ethischen Unzulänglichkeiten lassen sich durch die Konstruktion einer nicht rein nutzenorientierten, mathematisch hinreichend komplexen Aggregationsfunktion vermeiden. Diese hätte zunächst die in einer Entscheidungssituation bereits vorliegenden Befriedigungsausgangsniveaus der Betroffenen sowie die von diesen aus durch die situationalen Alternativen erreichbaren Veränderungswerte durch getrennte Variablen zu repräsentieren. Diese Veränderungswerte wären nach obigen Kriterien der Berücksichtigungswürdigkeit alsdann zu gewichten; schließlich sollten die so gewonnenen verdienten Niveaus in der Weise egalitätsorientiert zu einem Allgemeininteressenwert aggregiert werden,

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daß letzterer mit fallenden Streuungen verdienter Niveauwerte gleicher Summe zwar tendenziell steigt, daß dennoch aber jede Paretoverbesserung — auch wenn sie stärkere Niveaustreuungen als zuvor bewirkt — im Allgemeininteresse liegt. Eine all diese Anforderungen erfüllende Aggregationsfunktion schlug ich in (1988, 1990a) als einziges formales Entscheidungsprinzip jener „Gerechtigkeitsutilitarismus" (= GTJ) genannten Theorie der Gerechtigkeit vor. Der durch sie definierte quantitative Begriff des Allgemeininteresse an etwas ist offensichtlich kein rein empirischer, objektiv meßbarer Begriff; vielmehr ist er von vorneherein in gleich zweifacher Weise wertungsinfiziert. Zunächst einmal verlangt GU — hierin noch über die Anforderungen der meisten sonstigen Aggregationsfunktionen hinausgehend — sog. volle interpersonale Vergleichbarkeit der Partikularnutzen. Interpersonale „Nutzenmessungen" selbst geringerer Stärke können jedoch — hierin ist den wirtschaftswissenschaftlichen Kritikern solcher Verfahren zuzustimmen — nicht als echte, objektive Meßverfahren gelten; die hierbei nötige Bestimmung der interpersonalen Umrechnungsfaktoren für Nutzeneinheiten und Nullpunktabstände ist, trotz mancher gegenteiliger Bekundung, nicht ohne ethische Wertungen möglich. Noch ersichtlicher gilt letzteres für die Bestimmung der Gewichtungsfaktoren, welche die Grade der multiattributiven Berücksichtigungswürdigkeit der manifestierten Partikularinteressen repräsentieren. Mehr noch als die an Maximin/Leximin oder dem klassischen Utilitarismus orientierte Bestimmung des Allgemeininteresses fußt GU-Entscheiden im Einzelfall — und mithin auch bei der Frage der Rechtfertigung eines bestimmten IR — von daher auch auf den ethischen Intuitionen des jeweiligen Entscheiders. Dennoch kann durch eine Anonjmitäts- bzw. NeutralitâtÂotàeïung sichergestellt werden, daß der Entscheider nicht aus seiner Partikularinteressensicht, sondern unparteilich wertet. Sie verlangt, die Werte jener Faktoren nur von allgemeinen Merkmalskombinationen abhängig zu machen und die Individualität der Beteiligten außer Betracht zu lassen. Bei Annahme irgendeiner Permutation jener Merkmale über den jeweils Beteiligten dürfte sich an der Zuordnung von Merkmalskombination und Faktorwert mithin nichts ändern. Nähme der Entscheider also z. B. an, selbst die Merkmale eines Betroffenen aufzuweisen, die ihm dessen Interessen nur in einem bestimmten submaximalen Grade als berücksichtigungswürdig erscheinen lassen, so müßte er seine eigenen Interessen im selben Maße geringer zu gewichten innerlich bereit sein. Selbst bei derart neutraler, rein ethischer Bewertung jedoch können verschiedene Bewerter durchaus zu verschiedener Auffassung darüber gelangen, ob ein bestimmtes IR aus GU-Sicht im Allgemeininteresse liegt oder nicht, in welcher Weise es durch Einführung oder Streichung von Gewährungsbedingungen einzuschränken oder auszuweiten sei usw. Eine GU-basierte Beurteilung von Sozialleistungsrechten etwa wird wesentlich davon abhängen, inwiefern der Beurteiler eher von bedürfnis- oder von verdienstorientierten Überzeu-

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gungen bei der Bemessung der Berücksichtigungswürdigkeit von Interessen geleitet ist, inwieweit der Selbstverschuldungsgrad an der ein Bedürfnis schaffenden Lage eine Rolle spielt u. ä. Dennoch kann selbst mittels GU mindestens im Modell näherungsweise „das eine" Allgemeininteresse bestimmt werden. Hierfür wäre nicht allein die Nutzenstandardisierungs- und Gewichtungsfaktorenbemessung durch den Entscheider selbst maßgeblich. Vielmehr wäre mittels einer Art Proto- Aggregation per Durchschnittsbildung aus den i. o. S. unparteilich festgesetzten Werten in den Faktorenvektoren jedes hierbei Stimmberechtigten zunächst je ein socialer Vektor dieser drei Faktoren zu ermitteln. Dieser wäre dann bei der eigentlichen GU-Aggregation zugrundezulegen. Betrachten wir nach dieser Skizzierung allgemeiner Kriterien der ethischen Legitimierbarkeit von IR nunmehr die Frage von IR- Gewährungen aus aggregationsethischer Sicht etwas konkreter. Zu beseitigen ist zunächst ein verbreitetes Mißverständnis: Vor allem Vertreter von sog. rechtsbasierten („rightbased", Dworkin)5 Ethikkonzeptionen bemängeln bekanntlich an allen rein „%ielhasierten" („goal-based") Ethiken, daß letztere keinerlei IR für gültig erklärten und daß ebendies untragbare Ergebnisse zeitige. Demgegenüber ist jedoch folgendes zu betonen: So^ialteleologische Ethikkonzeptionen räumen gewisse IR sogar als absolut gültig ein. Es sind dies all jene, allerdings durchweg hochallgemein formulierten Rechte, die aus den obersten Prinzipien der fraglichen Ethik selbst folgen. Im Falle von GU wären dies die nachstehenden Rechte eines jeden: 1) Dasjenige auf Einbeziehung der je eigenen Partikularinteressen in die Aggregation — ohne jedes Ansehen der Person; 2) dasjenige auf Unparteilichkeit bei der Bemessung von deren interpersonaler Stärke sowie Berücksichtigungswürdigkeit, 3) (im Regelfall) dasjenige auf Tatsachenannahme — sowie Wertungssouveränität bei der Bestimmung der eigenen Interessen, mithin auf eigene empirische Einschätzung der von jeder Alternativoption mutmaßlich bewirkten Weltverläufe sowie auf multiattributive Bewertung derselben auf sämtlichen ihrer Wertdimensionen. Die Rechte 1) sowie 3) gewährt im übrigen jede nichtpaternalistische Aggregationsethik. Dworkin etwa erachtet als das oberste aller IR dasjenige auf „gleiche Rücksicht und Achtung" 6 . Ohne exzentrische Auslegung dieser ziemlich vagen Formulierung scheint mir jenes Recht jedoch von 1), 2) und 3) zusammen impliziert zu werden. Mithin würde das oberste Recht einer der bekanntesten rechtsbasierten Theorien von GU als %ielbasierter Theorie ebenfalls eingeräumt! (Dmrkins auch in anderer Hinsicht angreifbare Einteilung aller Ethiktheorien in jene beiden Arten sowie drittens noch pflichtbasierte („duty based") Konzeptionen fußt schon von daher auf wenig präzisen Abgrenzungskriterien.) Wie 5 6

Vgl. etwa Dworkin (1978) und (1981). So an zahlreichen Stellen von (1978)

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Alan Gewirth mit Blick auf den klassischen Utilitarismus betont7, gewährt jede zielbasierte Ethik ferner jedermann das Recht auf Verfolgung von deren spezifischem Endziel. GU gewährt also 4) in jeder ethischen Entscheidungssituation das Recht auf Wahl der in ihr GU-optimalen Option. All diese auch aggregationsethisch absolut gewährten IR sind freilich nur formale Rechte; denn sie gewähren nur Ansprüche auf Einhaltung bestimmter Prozeduren beim Bestimmen der besten Option sowie alsdann auf Wahl dieser Option selbst. Technisch gesprochen räumen sie die Entscheidungsorientierung an einer in vorgeschriebener Weise zu ermittelnden abhängigen Variablen, nicht jedoch an irgendeiner Konstanten ein. Sie gewähren folglich keine Ansprüche auf bestimmte konkret benannte, materiale Handlungsweisen, Prozesse oder Zustände unabhängig von jedweden verdienten Interessen anderer an deren Nichtherbeiführung, wie dies materiale IR tun. GU ist aber durchaus in einem noch weiteren Sinn formalen Rechten gegenüber offen, als bislang dargestellt. So folgen einige weitere als fundamental bezeichnete Rechte zwar nicht explizit aus den obersten Prinzipien von GU. Sie sind mit diesen jedoch zumindest vereinbar. Hierzu gehört etwa das von H. L. A. Hart als Voraussetzung sämtlicher sonstiger Rechte bezeichnete „gleiche Recht aller Menschen frei zu sein" 8 . Denn — so argumentiert Hart überzeugend — ohne freiwillige Verleihung oder Übertragung von Rechten per Versprechen, Autorisierung, Vertragsbeitritt oder einfach Zustimmung eines Individuums kämen die damit konstituierten Rechte anderer gar nicht erst legitim zustande. Freiheit in diesem allgemeinen Sinne als Recht zur freien Entscheidung für oder gegen etwas gefaßt schließt GU aber durch keinerlei Vorschrift aus. Das nämliche gilt für die von Gregory Vlastos als oberste reklamierten Rechte auf ein prima facie gleiches Maß an Freiheit sowie Wohlergehen („freedom and well-being")9. Denn Vlastos räumt hiermit selbstredend nicht dem verurteilten Straftäter den gleichen Anspruch auf Freiheit wie dem Schuldlosen oder dem Faulen ceteris paribus den gleichen Anteil an einem gemeinsam erarbeiteten Produkt wie dem Fleißigen ein. Konkrete Ansprüche seien aus diesen abstrakten Gleichheitsrechten vielmehr erst auf der Basis zusätzlicher Merkmale, wie Schuld-, Verdienstgrad usw. herleitbar. Wird dies jedoch zugestanden, dann erweist sich auch GU als mit jenen beiden rein abstrakten Rechten vereinbar. Ähnlich zu argumentieren wäre für das von fohn Mackie als oberstes angesehene Recht aller Individuen „to progressively choose how they shall live" 10 . Naheliegenderweise versteht Mackie dies schon deshalb nicht als das Recht eines jeden, immer und überall zu tun, was ihm beliebt, weil vielfach die Verfolgung der Lebensziele einer Person diejenige 7 8 9 10

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Gewirth (1981), wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 94. Hart (1955), wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 77 und bes. S. 90. Vlastos (1962), wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 58. Mackie (1978), wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 175.

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mindestens einer anderen be- oder gar verhindert. Für letzteren [ethisch allererst nichttrivialen! R. W T.] Fall seien die Grade, in denen jenes oberste Recht den Beteiligten zukomme, durch Kompromißprinzipien im Hinblick auf die relevanten Merkmale des jeweiligen Interessenkonflikts einzuschränken. Eben dies jedoch tun — so läßt sich Mackie hier entgegnen — in theoretisch einfachster Weise gerechtigkeitssensible Interessenaggregationsprinzipien. Auch dieses „Fundamentalrecht" wäre folglich, als per se noch keinerlei materiale Ansprüche garantierend, mit GU verträglich. Ein klarer Antagonismus zwischen einer am Allgemeininteresse orientierten und einer rechtsbasierten Ethik besteht — dies machen letztere Einsichten deutlich — also nur im Hinblick auf konkret formulierte, materiale IR. Gegeben ist er immer dann, wenn letztere einen bestimmten materialen Anspruch auf etwas auch für eine Klasse von Fällen gewährt, für welche erstere jenen Anspruch angesichts der verdienten entgegengesetzten Interessen anderer nicht zu gewähren vorschreibt. Dies gibt Anlaß zur Betrachtung einer grundsätzlichen Frage: Läßt eine Interessenaggregationsethik wie GU materiale Rechte überhaupt zu und wenn ja, welche Funktion haben diese für eine solche Ethik? Die eindeutige Antwort hierauf lautet: Anders als für staatlich garantierte Normensysteme ist das Konzept eines materialen IR für eine jede mit einem einzigen formalen Allzweckentscheidungsprinzip arbeitende Aggregationsethik in theoretischer Strenge überflüssig. Dennoch haben IR - ähnlich wie deontische Faustregeln — auch hier eine wichtige pragmatische Funktion. Faustregeln, die das Lügen, Stehlen, Töten u. a. verbieten oder — schon spezifischer — die Rettung Ertrinkender mindestens dem Schwimmkundigen gebieten, gelten in solchen Ethiken nicht absolut, sie genießen lediglich ein rein pragmatisches Asyl; denn vielfach fehlt dem Entscheider die Zeit zur Aggregation von situationalen Interessenstärken, die ihrerseits komplexe Folgenerwägungen der Betroffenen voraussetzen, oder ist ihm aus sonstigen Gründen die Information nicht verfügbar, die für eine buchstabengetreue Anwendung der Aggregationsfunktion vorliegen müßte. Faustregeln entsprechen dem jeweiligen Maximierungsgebot aber natürlich jeweils nur unter halbwegs normalen Umständen. Unter außergewöhnlichen, statistisch sehr seltenen Fällen kann ihre Befolgung dem Allgemeininteresse zuwiderlaufen. Weiß der Entscheider im Einzelfall, daß solche außergewöhnlichen Umstände vorliegen, dann hat er zu tun, was ihm ein strikt deontologischer Regelbegriff verbieten würde, nämlich statt der Faustregel das Maximierungsgebot zu befolgen. Gerade weil die oben genannten Regeln nur Faustregeln sind, erlaubt GU insofern im jeweiligen situationalen Allgemeininteresse, potentielle Mörder bezüglich des Aufenthaltsortes ihrer Opfer anzulügen, für einen ansonsten Verhungernden Nahrung zu stehlen, Tyrannen à la Hitler auch gewaltsam zu beseitigen, bzw. — wenn letztere denn ihre Kräfte beim Schwimmen überschätzen sollten — die Gelegenheit zu nutzen und den Dingen selbst als geübter Rettungsschwimmer ihren Lauf

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zu lassen. All dies heißt im übrigen nicht die Faustregel dem Ein^elfall zu opfern. Vielmehr bringt man — auf der Ebene des Allgemeinen verbleibend und dem Gleichheitsgrundsat% genügend — statt der αΙΙψ pauschalen nur eine situationsangemessen spezifizierte Regel zur Anwendung. Eine analoge pragmatische, theoretisch stricto sensu jedoch entbehrliche Funktion haben im Rahmen von GU nun auch alle materiellen IR. Sie bündeln sozusagen nur bestimmte sprachlich-analytische Folgen von ethischen Geboten, die in den Klassen der Normalfdlle zahlreicher n-Personen-Interaktionskonstellationen (n > 2) nach GU Zustandekommen. Genauer: Aus dem Sachverhalt, daß sich unter Normalumständen in jener Konstellation nach GU ein bestimmtes Leistungs- oder Unterlassungen^/ für einen der beteiligten Rollenträger ergibt, folgt ein diesem korrespondierendes Recht für mindestens einen anderen Rollenträger. Implizit auf jene Normalfallklasse bewogen läßt sich dann auch nach GU kurz von einem materialen Recht auf einen bestimmten Zustand sprechen. Da dessen Gewährung aber nur in jener Normalfallklasse im Allgemeininteresse liegt, haben materiale IR — wie Faustregeln — nur prima fade Geltung. Diese Auffassung bezüglich des theoretischen Stellenwerts von IR im Rahmen von Interessenaggregationsethiken wird knapp durch Thomas Scanions Hinweis gegen rechtsbasierte Ethiken resümiert, daß „rights themselves need to be justified somehow, and how other than by appeal to the human interests their recognition promotes and protects . , . " n . Eine bloße prima facie-Gótang kommt dabei selbst den rational am leichtesten begründbaren »Ur-Rechten« zu; es sind dies diejenigen, die selbst kluge Egoisten einander auf wechselseitig anerkanntes Eigentum, auf Unverletzlichkeit des Körpers, auf gegenseitige Vertragserfüllung u. a. in einem fiktiven ursprünglichen Gesellschaftsvertrag zusprechen würden. Unter hinreichend außergewöhnlichen Umständen wären auch sie im Allgemeininteresse außer Kraft zu setzen bzw. von vornherein durch entsprechende allgemeine Vordersatzbedingungen einzuschränken. Man fingiere, der Besitzer eines Landstriches, auf dem — wie sich herausstelle, einzig in der Welt — ein Wunderkraut gegen jede Art von Krebs wachse, ernte dieses nur, um es anschließend, seinen misanthropischen Neigungen freien Lauf lassend, öffentlich zu verbrennen. Sollte sein Besitzrecht hier unangetastet bleiben? Als gerade im Allgemeininteresse geboten — und zwar bei jedweder paretoinklusiven Konzipierung desselben — erscheint prima vista ferner die staatliche Garantie eines uneingeschränkten, absoluten Rechts auf Erfüllung privatvertraglich fixierter Leistungen. Spieltheoretische Untersuchungen wiesen nach, daß die Nichtexistenz einer solchen Garantie spezieller Rechte rationale Egoisten mindestens in einmaligen Gefangenendilemmata sowie zahlreichen weiteren Spieltypen zur Wahl nonkooperativer Handlungsstrategien veranlassen 11

Vgl. Scanion (1977), S. 81.

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müßte; eben dies jedoch würde jedem Spielpartner Nutzenverluste im Vergleich zu allseits kooperativem Vertragserfüllungsverhalten zufügen. Dieses Argument, daß garantierte Erfüllungsrechte mithin gar Paretoverbesserungen nach sich zögen, setzt jedoch u. a. voraus, daß durch die Vertragserfüllung keine Dritten geschädigt werden. Eben dies kann jedoch selbst bei scheinbar unanstößigen Kaufverträgen drastisch der Fall sein. Man stelle sich vor, ein AIDS-Forscher haben das allerorten gesuchte Sofortheilmittel gegen jene Seuche gefunden und sich vertraglich verpflichtet, seine diesbezüglichen Unterlagen dem meistbietenden Pharmakonzern zu überlassen. Letzterer gedenke aber keineswegs, das Medikament auch zu produzieren, da dies den weit gewinnträchtigeren Absatz anderer seiner Produkte, welche bei AIDS als langjähriger Krankheit lindernd wirken, zum Erliegen brächte. Sollte hier nicht der Beteiligten Recht auf Vertragserfüllung im offensichtlichen Allgemeininteresse aufgehoben und der Verkauf der Unterlagen nur an einen späteren Produzenten des Medikaments, auch wenn dieser weniger zahlt, zugelassen werden? Bei einer nicht rein nutzenorientierten Definition des Allgemeininteresses eingeschränkt werden sollten weiterhin Erfüllungsansprüche, die insofern geringer oder gar nicht berücksichtigungswürdig sind, als sie auf der Basis einer ethisch anstößigen Vereinbarungsgrundlage zustande kamen. Dieser Forderung genügt die hiesige Gesetzesrealität insofern bereits, als sie eine rechts- oder auch nur sittenwidrig erlangte Vertragsgrundlage nicht anerkennt. Kein Kidnapper etwa kann, um ein eindeutiges Beispiel zu wählen, die ihm vertraglich zugesagte Zahlung eines Lösegeldes nach Freilassung des Entführten im Namen eines speziellen Erfüllungsrechtes einklagen. Wo aber endet jenseits positiver Rechts- oder Sittenwidrigkeit die Freiheit der Entscheidung von Vertragspartnern und wo beginnt mithin die ethische Anstößigkeit des dem Vertrag zugrundeliegenden Status Quo? Entscheidet der Hungernde, der sich unter dem Druck seiner Situation „freiwillig" zum Verkauf einer Niere oder zu sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen verpflichtet, von einem ethisch akzeptablen Status Quo aus? Tun dies der keineswegs hungernde Normalverdiener, der eine derartige Verpflichtung für einen entsprechend höheren Preis eingeht, oder der Prominente, der sich mit Blick auf Veröffentlichungsdrohungen über die Geheimnisse seines Sexuallebens zu bestimmten Leistungen vertraglich verpflichtet? Allein die umfassende Diskussion der Legitimität — und nicht nur Legalität — des IR auf Erfüllung von Verträgen aller Art wirft hochdiffizile ethische Fragen auf, die nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Berücksichtigungswürdigkeit beantwortbar sind. Betrachten wir einige weitere elementare, uns unter den vorliegenden Normalbedingungen mit gutem Grund als selbstverständlich erscheinende Freiheits- und Menschenrechte. Eine nur geringe gedankenexperimentelle Anstrengung enthüllt, daß auch sie nicht unter allen denkbaren Bedingungen, mithin nicht unbedingt oder absolut gültig sind, sondern unter hinreichend ver-

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änderten Normalumständen im Allgemeininteresse einzuschränken wären. So schließt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Normalfall diejenigen ein, auch öffentlich Miniröcke oder grüne Haare zu tragen, „Lady Chatterley" zu lesen u. ä.. Seine sofortige entsprechende Beschneidung im Interesse Dritter wäre jedoch etwa dann angeraten, wenn der Anblick derartiger Verhaltensweisen bei hinreichend vielen Passanten regelmäßig empörungsbedingte, tödliche Herzanfälle auslösen würde. Den Infarkt einer viktorianisch denkenden Dame pro Jahrzehnt wird man hinzunehmen bereit sein; würde dagegen plötzlich jede öffentliche Inanspruchnahme dieser Rechte zwei Drittel aller zufälligen Passanten dahinraffen, so wären sie wohl ebensowenig mehr zu gewähren wie dasjenige auf Abfeuern von Schrotflinten in vollbesetzten U-Bahnen. Als selbstverständlich mutet uns ferner unter den gegenwärtig normalen Umständen das vom Recht auf körperliche Unversehrtheit gedeckte Recht an, vom Staat nicht zum Blutspenden gezwungen werden zu dürfen. Gäbe es aber keinerlei freiwillige Blutspender sowie Blutersatzstoffe mehr und nähme zugleich die Zahl der ohne Blutkonserven tödlichen, mit fremdem Blut aber leicht kurierbaren Verletzungen drastisch zu, so hätte man vermutlich alsbald auch über eine der Steuerzahlung ähnliche Bürgerpflicht zum regelmäßigen Blutspenden nachzudenken. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit zieht weiterhin als vielleicht augenfälligstes Verbot dasjenige jeglicher Folterpraktiken durch Staatsorgane nach sich. Staatliches Recht, das mit einer gewissen Mindestwahrscheinlichkeit vorkommende und nicht nur rein fiktiv-gedankenexperimentell bleibende Interessenkonflikte gerecht zu lösen die Aufgabe hat, findet seit Jahrhunderten Normalumstände vor, angesichts derer es die allerbesten Gründe gibt, jenes Verbot ebenso wie die vorgenannten als praktisch kategorisch anzusehen. In der theoretischen Ethik jedoch, welche für beliebige denkbare, wie auch immer unwahrscheinliche Konfliktkonstellationen gerechte Lösungen anzubieten und zu begründen hat, erweist sich selbst dieses Verbot, und damit das ihm korrespondierende Individualrecht, als keineswegs absolut gültig. Ein ehemaliger norddeutscher Ministerpräsident diskutierte einst — unklugerweise vor einem weniger am besonnenen Räsonnement und reflexiven Gleichgewicht orientierten Publikum, als mir es hier vergönnt ist — eine Variante folgenden Falls: Man nehme an, terroristische Fanatiker hätten aus Rache für eine ihnen unliebsame staatliche Maßnahme irgendwo in einer Millionenstadt eine Atombombe installiert, die per Zündmechanismus in wenigen Stunden detonieren werde. Ein verhaftetes Mitglied der Gruppe weigere sich unter Hinweis auf sein Aussageverweigerungsrecht, den Lagerungsort der Bombe zu enthüllen. Es erscheint mir, ebenso wie jenem Politiker damals, mehr als offensichtlich, daß jedwede ihren Namen verdienende Ethik hier nicht nur zu erlauben, sondern zu gebieten hätte, besagtem Bombenleger einige seine Aussagefreudigkeit erhöhende Motivationshilfen notfalls auch der rauheren Art

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zu geben. Selbst in diesem Fall auf der strikten Beachtung jener Rechte zu bestehen, wie es mancher Teilnehmer der damaligen Diskussion tat, läuft auf nichts Geringeres als eine Barbarei gegen die berechtigten, übergeordneten Interessen von Millionen Betroffenen und somit auf ein ethisches Skandalon hinaus. Es wäre überdies eine Verkennung der impliziten NormalitätsvomusSetzung jener IR-Gewährung. Den Samthandschuh positiver Legalität hier auszuziehen, hieße insofern mitnichten, mit rohen Händen illegitim zuzugreifen. Es hieße allein — in jenem Bilde ausgedrückt — den noch weicheren, weil den eklatant berechtigteren, wie auch größeren Interessen aller anderen Betroffenen dienenden Handschuh der Moral überzustreifen. Hierbei wäre speziell für GU auch relevant, was jede rein nutzenorientierte Aggregationsethik außer acht läßt: Daß sich nämlich besagter Bombenleger erstens selbst schuldhaft in jene Lage gebracht hat, wo ihm das Übel einer erzwungenen Aussage droht, und daß er dieses zweitens immer noch durch freiwilliges Aussagen abwenden kann. Sein Interesse an einer Abwendung dieses Übels auch angesichts des damit hinzunehmenden Todes zahlloser anderer, nicht schuldhaft in jene Lage Geratener verdient mithin keinerlei Berücksichtigung, was die ethische Entscheidung zusätzlich vereinfacht. Dessenungeachtet ist — dies wiederhole ich auch vor einem vernunftgeneigten Publikum mit Bedacht — im staatlichen Recht solange pauschal am uneingeschränkten Folterverbot festzuhalten, als Szenarien wie das geschilderte reine Fiktionen sind und polizeiliche Versuchungen zu Aussageerzwingungen mit normalerweise weit weniger hehren Absichten nicht von der Hand zu weisen sind. Sollte sich dies jedoch ändern und nuklearer Terror jener Art durch Erpresser, Politfanatikern oder Großkriminelle technisch möglich und üblich werden, so läge es im Allgemeininteresse, selbst die IR auf Aussageverweigerung und körperliche Integrität unter präziser Benennung jener Fallklasse einzuschränken. Materiale IR sind, wie alle Gesetze, kein Selbstzweck. Wie ausgangs begründet, sind sie für hinreichend wahrscheinliche Konfliktkonstellationen konstruierte, sinnvolle Instrumente sozialen Interessenausgleichs. Anders als in der theoretischen Ethik können sie dennoch im staatlichen Recht als unverzichtbare Instrumente gelten; dies erzwingt allein die praktische Notwendigkeit, daß dem Bürger Orientierungssicherheit im Bereich staatlicher Regelungen gewährleistet sein muß. Die Legislative kann dem Bürger nicht — wie eine theoretische Ethik — lediglich ein differenziertes formales Interessenaggregationsprinzip vorgeben, demzufolge ein bestimmtes IR dann zu gewähren wäre, wenn sich dies im jeweiligen Konstellationstyp angesichts aller Aspekte als aggregativ optimal erwiese. Allein die potentiell unendliche Anzahl derartiger Konstellationen sowie die jenem Prinzip innewohnenden Wertungsfaktoren ließen eine für das gesellschaftliche Zusammenleben hinreichende Rechtssicherheit und Erwartungsstabilität nicht entstehen. Zugleich wäre es unpraktikabel, eine größere Allgemeininteressendienlichkeit von IR von vorneherein dadurch anzustreben, daß man ihnen auch nur die — sagen

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wir — je hundert wahrscheinlichsten Fallkonstellationen, unter denen es zu gewähren bzw. zu verweigern ist, als explizite Antecedensbedingungen voranstellt. Selbst der schmale Kanon gegenwärtiger deutscher Grundrechte nähme hiermit biblische Ausmaße an. Also müssen IR notgedrungen, wie vordem behauptet, für Konstellationen einigermaßen »normaler« Art pauschal gewährt werden; damit aber werden sie tendenziell zu unspezifisch formuliert. Eben dies wird rationale Individuen jedoch veranlassen, die von ihnen gewährten Vorteile auch dann zu beanspruchen, wenn ein Fall aus der vom Gesetzgeber zugrundegelegten »Normalfalk-Klzsse. nicht vorliegt. Das kann mitunter dazu führen, daß der als Ausnahme gedachte Fall zur faktischen Regel und so die Gesetzeslücke zum Haupteingang in einen Rechtsanspruch wird. Die zu unspezifisch formulierten Gewährungsbedingungen z. B. des Vermieterrechts auf Kündigung („Eigenbedarf"), ferner manche Strafprozeß — oder sozialen Leistungsrechte oder, gerade gegenwärtig notorischer noch, des Grundrechts auf politisches Asyl exemplifizieren im deutschen Rechtsbereich jenen Sachverhalt. Statt, wie beabsichtigt, allein politisch, rassisch oder religiös Verfolgten zu dienen, kommt letzteres Recht bekanntermaßen seit längerer Zeit de facto zunehmend sog. „Wirtschaftsflüchtlingen" zugute, die überdies zu Teilen den Zeitraum ihrer Anspruchsprüfung durch Drogenhandel 12 , verbotenes Glücksspiel oder diverse Eigentumsdelikte ökonomisch lukrativer zu gestalten wissen. Die negativen Auswirkungen, die jene unerfreuliche Verschiebung der vom Gesetzgeber angenommenen Normalumstände der individuellen Asylrechtsbeanspruchung, deren Benennung von einer nicht am Allgemeininteresse orientierten, deontologischen Moral lange tabuisiert wurde, auf immer umfangreichere Gruppen von Drittbetroffenen hat, liegen vor aller Augen. Auch und gerade aus moralischen Gründen legen sie eine beträchtliche Spezifizierung der Bedingungen nahe, unter denen dieses Recht sowie die ihm angeschlossenen Einspruchsrechte gegen Ablehnungsbescheide und Ausweisungverfügungen gewährt wird. Aus GU-Sicht zu beschneiden wären insbesondere die diesbezüglichen Rechtsmittel von straffällig gewordenen Asylbewerbern. Derartige Korrekturen würden im übrigen keineswegs das Recht auf politisches Asyl einschränken; sie würden dieses vielmehr von einem Recht auf faktisch weit mehr allererst zu einem Recht auf politisches Asyl werden lassen. Eine weitere Frage wäre es dann, inwieweit auch ein begrifflich sauber vom Asylrecht getrenntes Bleibe- oder Einwanderungsrecht im Allgemeininteresse läge. Die Antwort hierauf wird entscheidend von der hierbei zugrundegelegten Theorie der Berücksichtigungswürdigkeit von Partikularinteressen sowie zweitens von deren Umfang abhängen; man könnte ja allein das nationale 12

Laut Auskunft der lokalen Polizeibehörde - siehe „Frankfurter Rundschau" vom 10.9.92 — sind z. B. 80% aller in ihrem Bereich agierenden Drogenhändler Asylbewerber.

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oder, wie universelle Varianten von Aggregationsethik es fordern, das globale Allgemeininteresse zum Maßstab machen, oder schließlich irgendeine Kompromißvariante anwenden, derzufolge nationale Teilinteressen stärker als sonstige zu gewichten sind. Rechtfertigen könnten letzteres speziell politische Entscheidungsträger in Demokratien mit mindestens zwei Argumenten: 1) mit stärkeren Verpflichtungen der Volksvertreter gegenüber denjenigen, die sie primär zum Zweck der Vertretung ihrer Interessen gewählt haben, sowie 2) mit dem Hinweis, daß bei der global allgemein gehandhabten Höhergewichtung der je eigenen nationalen Interessen keine Nation auf Kosten anderer bereits formal, von der gewählten Betroffenenmenge her, Bevorzugung erfährt. Fraglos am einfachsten wäre die Beurteilung eines Zuwanderungsrechtes unter Standard-Grenznutzenannahmen bei jeweils universeller Anwendung der rein nut^enorienäerten klassisch-utilitaristischen Aggregationsfunktion oder, evidenter noch, der Niveau-Maximin- Regel : Noch auf wohl lange Sicht hin wäre ihnen zufolge jenes Recht unbeschränkt einzuräumen. Deutlich komplexer wäre die Problematik für eine auch die Berücksichtigungswürdigkeit der beteiligten Interessen im Hinblick auf diverse mögliche Aspekte einbeziehende Funktion wie GU. Allein die Wertungsabhängigkeit der Frage, welche dieser Aspekte ethisch zählen, läßt hier keine derart eindeutige Aussage zu. Ein rein wirtschaftlich begründetes Einwanderungsinteresse etwa von islamischen Fundamentalisten wird man sicher dann gering zu gewichten haben, wenn man u. a. folgenden Aspekt für ethisch relevant erachtet: Inwieweit hängt der jeweilige Einwanderungsaspirant selbst religiösen oder politischen Uberzeugungen an, welche eine (bei hinreichender eigener Stärke auch gewaltsame) Intoleranz gegen andere derartige Uberzeugungen, ferner eine in vielen Hinsichten geringere Berücksichtigung von Fraueninteressen usw. beinhalten? Daß die Berücksichtigungswürdigkeit von Interessen bei der aggregationsethischen Beurteilung von IR-Gewährungen überhaupt zählt, wird nun auch und gerade derjenige zugestehen müssen, der eine Stärkung von IR befürwortet und das eindeutige Ergebnis rein nut^enorientierter Aggregation im Falle des letztgenannten Rechtes begrüßt. Denn andere, weit elementarere und mit GU für Normalfallkonstellationen gut begründbare IR würden just bei reiner Nutzenorientierung grotesk verletzt, wie einschlägige Gedankenexperimente klarmachten. Der einfach Nutzensummen-Utilitarismus müßte etwa bereits dann gebieten, einen jeweils per Volksabstimmung zu ermittelnden Straftäter als „Sündenbock der Woche" zusätzlich zu seiner gesetzlichen Bestrafung auch öffentlich als „Watschenmann" am Pranger zu präsentieren, wenn die aggregierten Freuden aller dies Goutierenden sich als größer erweisen ließen als die Pein des jeweiligen Opfers sowie der mit ihm Sympathisierenden. Krankenhausbesucher hätten als unfreiwillige Organspender um Leib und Leben zu furchten, sobald durch die Transplantation von Herz, Lunge, Leber, Nieren usw. einer einzigen gesunden Person mehreren Todkranken eine si-

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chere normale Lebenserwartung zu verschaffen wäre. Der zu Unrecht einer Vergewaltigung bezichtigte Farbige wäre vom Sheriff dem rassistischen Mob zum Lynchen zu übergeben, falls allein dies das ansonsten angedrohte Lynchen mehrerer anderer Farbiger zu verhindern verspräche. Unschuldige wären zu bestrafen, oder in sonstiger Weise zu opfern, Schuldige freizusprechen, sofern dies die unter den gegebenen Umständen erzeugbare Nutzensumme maximierte usw. usf. Manche Kritiker erachteten derartige Anwendungsergebnisse des klassischen Utilitarismus, die selbst von dessen Regel-Variante nur teilweise vermeidbar sind, bereits als hinreichend für die völlige Verwerfung jeglicher Form von Interessenaggregationsethik und für die Unabdingbarkeit von unter allen Umständen strikt einzuhaltenden materiellen IR und ihnen korrespondierenden Verboten. Dieser Auffassung ist zunächst zuzugestehen, daß entsprechende IR fraglos ausreichende Instrumente sind, um kontraintuitive Resultate wie die exemplarisch genannten zu blockieren. Zugleich ist jedoch zweierlei hinzuzufügen, was jene Vertreter von rechtsbasierten oder deontologischen Ethiken offenbar verkennen: 1) Daß nämlich absolute materiale IR, wie sorgfältig auch immer man sie formuliert, insofern ψ starke Blockadeinstrumente sind, als sich ebenfalls leicht Umstände fingieren lassen, in denen ihre Gewährung ethisch nicht akzeptable Folgen für andere hervorriefe — man erinnere sich an die vordem gegebenen Beispiele; 2) daß eine nicht rein nutsgnorientierte, hinreichend ,.gerechtigkeitssensible" Aggregationsethik in besagter Hinsicht weder schwach noch stark ist; sie gestattet somit, zwischen der Scylla von kontraintuitiven Implikationen absoluter Rechtsgewährungen einerseits und der Charybdis anderer nicht hinnehmbarer Anwendungsfolgen jeder Art von rein nutyenorientierter Aggregation andererseits maßgerecht hindurchzusteuern. Inwiefern nun gelingt speziell GU letzteres? Bezüglich des SündenbockBeispiels ist dies am offensichtlichsten. Wem — wie dem Kritiker jenes Resultats — eine die Rachsucht befriedigende Schadenfreude am öffentlich ausgestellten Leiden anderer kein berücksichtigungswürdiges Interesse konstituiert, der gewichte dieses einfach mit dem Faktor 0. Weitere berücksichtigungswürdige, signifikante Nutzengewinne hinreichender Stärke wären von jener Maßnahme realistischerweise nicht zu erwarten. Also ergäbe sich auf der Basis aller sonstigen beteiligten Interessen ohne weiteres ihr Verbot als GU-optimal. Dies rechtfertigt zugleich ethisch die entsprechende staatliche prima facie-Rechtsgewährung. Eine darüber hinausgehende Forderung auch in der theoretischen Ethik nach einem absoluten entsprechenden IR, das nicht nur in den tatsächlich gegebenen Normalumständen, sondern in beliebigen denkbaren Umständen strikt einzuhalten wäre, hätte dagegen als unangemessen stark zu gelten. Würde allein jene Maßnahme etwa surrealistischerweise derart generalpräventiv wirken, daß sie sämtliche kriminellen Absichten aller von ihr Kenntnis erhaltenden Personen im Keime ersticken würde, dann läge ihre

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Einführung bei gleichzeitiger massenmedialer Verbreitung ihres Vollzugs durchaus im Allgemeininteresse. Trotz des rein quantitativen Nutzengewinnes im Falle einer Zwangstransplantation bzw. einer Aushändigung des Unschuldigen läßt sich auch deren Verbot nach GU ähnlich wie das vorige leicht rechtfertigen. Zwar ist das innere Begehren zu überleben — so wäre zu argumentieren — bei keinem der hier jeweils Beteiligten bereits an sich verwerflich. Auf ihm aber auch in Konstellationen öffentlich zu bestehen, in denen zu seiner Erfüllung andere Unschuldige getötet werden müßten, ist dies jedoch; eben diese Tatsache berechtigt den ethischen Entscheider, in dem Maße geringe Gewich tungsfaktoren für jene Interessen zu veranschlagen, daß insgesamt besagte Verbote den höheren Aggregationswert aufweisen. Alle bislang betrachteten IR dienten ausschließlich der wenigstens kursorischen konkreten Exemplifizierung der vordem lediglich allgemein gehaltenen These, daß IR einem angemessenen definierten Allgemeininteresse normativsystematisch nach^uordnen sind. Es versteht sich, daß am hiesigen Orte bezüglich keines dieser Beispiele, geschweige denn einer darüber hinausgehenden Auswahl an wichtigen, aktuell hierzulande gewährten Rechten, eine sachgerecht detaillierte Analyse der Frage vorlegbar ist, inwieweit jene Rechte aus GUSicht im Allgemeininteresse liegen. Allein die quantitative Bemessung der faktischen Vor- und Nachteile, welche die Gewährung bzw. Verweigerung des fraglichen Rechts für die Gruppen aller hiervon verschieden Betroffenen mutmaßlich hätte, wäre äußerst komplex; sie erforderte Annahmen über alle nutzenrelevanten Teilfolgen beider Alternativen sowie deren jeweilige Bewertung durch die Betroffenen. Die Anzahl dieser Annahmen wäre selbst dann noch beträchtlich, wenn man die Komplexität der Folgenerwägungen dadurch praxisgerecht reduzierte, daß man diese nicht für jedes kausal betroffene Individuum einzeln, sondern für einigermaßen homogen betroffene Untergruppen, die alsdann gemäß der Zahl ihrer Mitglieder zu gewichten wären, pauschal vornähme. Hinzu kämen komplizierte, je nach Art des Rechts verschiedene Betrachtungen bezüglich aller Aspekte, welche für die Grade der Berücksichtigungswürdigkeit der so gewonnenen Partikularinteressenstärken relevant sind. Wie anfangs betont, werden diese auch bei der geforderten Einnahme einer durch Rollentausch-Annahmen als neutral auszuweisenden, ethischen Perspektive letztlich von subjektiven Wertungen abhängen. Dies gilt specialiter auch für politische Entscheidungsträger, die sich am Ende wirklich einmal das Allgemeininteresse und nicht allerlei sonstige Überlegungen zur Richtschnur bei Rechtsgewährungsfragen nehmen; sie werden daher unvermeidlich von ihrem Privileg Gebrauch machen müssen, während der Periode ihrer demokratischen Legitimierung von ihren eigenen Wertungen ausgehen zu dürfen und dabei zu eventuell ganz anderen Ergebnissen zu kommen als ihre gleichfalls rein ethisch argumentierenden Kritiker.

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Rein theoretisch wäre eine»Entindividualisierung« jener Wertungen im übrigen durchaus erreichbar. Hierzu müßte man lediglich die drei Arten von wertungsbehafteten Faktoren — also die genannten Berücksichtigungswürdigkeitsfaktoren für Partikularinteressen sowie die zwei für jede GU-Aggregation erforderlichen Standardisierungsfaktoren zur Vereinheitlichung personaler Nutzenskalen — zuvor social statt nur vom Entscheider selbst festsetzen lassen. Ein arithmetischer Mittelwert aus sämtlichen (jeweils unparteilich im angedeuteten Sinne festzulegenden) individuellen Faktorwert-Vorschlägen von Seiten der Stimmberechtigten könnte hierbei den »richtigen« sozialen Wert für jene Faktoren definieren. In der alltäglichen Entscheidungspraxis freilich wird eine aufwendige derartige Protoaggregation kaum je vornehmbar sein, so daß die ethischen Uberzeugungen des Entscheiders selbst letztlich hier ausschlaggebend sein werden. Dennoch gibt es Interessenkonstellationen, wo sich das alte Aufklärungsideal eines einzigen, cum grano salis, „objektiv" erkennbaren intérêt général oder bien común mit Bezug auf die Frage von IR-Gewährungen auch praktisch realisiert. Auf zwei solcher Fälle sei abschließend hingewiesen. Deren einer legt die Einräumung eines (gegenwärtig noch) fast nirgendwo gewährten Rechts, deren anderer umgekehrt die Einschränkung einer Reihe hierzulande noch gewährter Rechte nahe. Die hierbei zugrundegelegte Definition von „Allgemeininteresse" ist derart voraussetzungsarm, daß sie sämtliche je vorgeschlagenen auch nur halbwegs plausiblen Aggregations funktionen als Spezialfälle umfaßt. Somit in fast jedem Sinne von Allgemeininteresse möglichst global zu gewähren wäre ein Sozialleistungsrecht, das die einzige mir absehbare, vernünftige Antwort auf die strukturell bedingte und daher unabstellbare Unfähigkeit des heutigen Rechtsstaates darstellt, mit seinen Mitteln den gigantisch gewinnträchtigen Handel mit harten Drogen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, geschweige denn zu unterbinden. Jeder Staatsbürger, der (per Test nachgewiesenermaßen) bereits heroinsüchtig, also kein Erstkonsument ist, und der zugleich auf begleitende staatliche Angebote von Entzugstherapien bis hin zur Ersatzdrogenzuteilung einzugehen nicht willens oder fähig ist, sollte ein Anrecht auf regelmäßige, kontrollierte 13 , kostenlose Verabreichung der zur Befriedigung seiner Sucht nötigen Heroinmenge erhalten. Der private Handel mit Heroin sollte dabei, ebenso wie das kostenlose sog. „Anfixen" von Neukonsumenten, weiterhin unter — möglichst drastisch zu verschärfender — Strafe gehalten werden. Die unmittelbare Hauptfolge jener Rechtsgewährung läge auf der Hand: Zunächst hätte kein minimal vernünftiger Süchtiger selbst bei stark fallenden Heroinpreisen mehr einen Grund, mehr oder weniger unreines und 13

Auf keinen Fall sollte Heroin, wie von manchen Freigabe-Verfechtern gefordert, kostengünstig frei für jedermann käuflich sein! Dies könnte in der Tat allerlei labile Charaktere zu Erstkonsumenten werden lassen.

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daher zusätzliche Gesundheitsgefahren bergendes Heroin weiterhin auf dem Schwarzmarkt zu erwerben und, um dies zu können, allerlei auch fur ihn unerfreuliche Aktivitäten im Bereich der Beschaffungskriminalität oder -prostitution auf sich zu nehmen. Ferner hätten süchtige, aber auch nichtsüchtige Dealer nunmehr kein Motiv mehr, noch nicht Süchtige zum — mit Blick auf den späteren Profit notfalls kostenlosen — Erstkonsum zu verfuhren. Jeder erfolgreich „Angefixte" wäre laut Voraussetzung ja kein späterer zahlender Kunde mehr! Die Lawine immer neuer Heroinsüchtiger käme hiermit abrupt zum Stehen. Ohne noch verbleibende Gewinnaussichten und angesichts der nach wie vor geltenden Strafandrohung hierfür wäre der Erwartungsnutzen des illegalen Heroinimportes aber deutlich negativ. Also würde der Heroinschwarzmarkt infolge eines Nachfragemangels — und als Folge davon — auch Angebots mangels alsbald, ganz ohne die gegenwärtigen vergeblichen Repressionsanstrengungen, schlicht in sich zusammenbrechen. Selbstverständlich genügt die Tatsache, daß die Süchtigen selbst ersichtlich von jener rein ökonomischen Art der Beseitigung eines der Übel unserer Zeit profitieren würden, noch nicht zu ihrer Rechtfertigung im Allgemeininteresse. A.a. O. 14 legte ich jedoch im einzelnen dar, daß jene Rechtsgewährung auch für jede der sonstigen Gruppen von hiervon nutzenrelevant Betroffenen mit einer Ausnahme insgesamt Nutzengewinne erbrächte. Dies gilt bei plausibler multiattributiver Verrechnung aller Vor- und Nachteile für die jeweiligen „Normalmitglieder" der Gruppen der zukünftigen potentiellen Süchtigen, der potentiellen Opfer von Beschaffungskriminalität und -prostitution (AIDS, u. a.!), der Polizei- und Ermittlungsbehörden, der Steuerzahler, und — mit entsprechenden kostenneutralen Flankierungsmaßnahmen — sogar der Süchtigenbetreuer und Mohnanbauer. Einzig die Drogenhändler aller Stufen wären die großen Verlierer jener Maßnahme. Da ihre Geschäftsinteressen jedoch laut allgemeiner Auffassung keinerlei Berücksichtigung verdienen, ergäbe eine Betrachtung aller verdienten Nutzenniveauveränderungen, daß jene Rechtsgewährung sozial sogar auf eine Paretoverbesserung hinausliefe und mithin ohnejeden interpersonalen Nut^envergleich rechtfertigbar wäre. Dies gälte im übrigen auch, wenn sich ein Rest von Süchtigen unvernünftigerweise nach wie vor auf dem Schwarzmarkt versorgen würde, und das Übel somit nicht beseitigt, sondern nur entscheidend verringert wäre. Daß jenes IR dennoch bislang kaum irgendwo eingeräumt wird, ist aus Sicht jeder gerechtigkeitssensiblen, am Allgemeininteresse orientierten und paretoinklusiven Verantwortungsethik als schwerwiegende politische Irrationalität, die auf einer verfehlt optimistischen Einschätzung der repressiven Bekämpfung jenes Multimilliarden-Geschäftes beruht, zu kritisieren. Eine überhaupt nicht konsequentialistisch, sondern strikt deontologisch begründete Ablehnung jenes Rechts („Der Staat darf, was auch immer die Fol14

Vgl. Trapp (1988), S. 622 ff.

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gen hiervon seien, grundsätzlich keine Drogen dieser Art verteilen!") andererseits läuft auf eine grobe Verantwortungslosigkeit gegenüber den zahlreichen hiervon kausal Betroffenen hinaus. Durch folgenblindes Festhalten an diesem unter den mittlerweile eingetretenen Umständen untragbaren Prinzip stellt eine derart argumentierende Politik nicht nur sämtliche Betroffenen der genannten Gruppen außer den Drogenhändlern deutlich schlechter, als sie bei jener alternativen Regelung ständen; sie schwächt überdies ganz allgemein Staat und Gesellschaft gegenüber den infolge ihrer Milliarden-Potenzen auch legal ökonomisch immer mächtiger werdenden Drogenkartellen. Alle Bemühungen jener Politik, die selbst ohne jedes polizeiliche Versagen unvermeidliche Ohnmacht sämtlicher rein repressiven Bekämpfungsstrategien jener Kriminalitätsform durch medienspektakuläres öffentliches Präsentieren von konfiszierten Heroinmengen allenfalls im zweistelligen Kilogramm-Bereich kaschieren zu wollen, müssen auf den denkenden Betrachter nachgerade lächerlich wirken. Als lediglich Promille- oder günstigstenfalls kleinste Prozentsätze der insgesamt illegal eingeführten Heroinmenge abschöpfend, verringern derartige »polizeiliche Großerfolge« nur kurzfristig lokal das Schwarzmarktangebot, erhöhen so die Preise und damit den finanziellen Druck auf die betreffenden Süchtigen; hierfür wiederum zahlen nachfolgend auch die anderen Betroffenengruppen, vorzugsweise die Opfer der hierdurch produzierten vermehrten Aktivitäten im Bereich der Beschaffungskriminalität und -prostitution. Ähnlich eindeutig, wie das bezeichnete Sozialleistungsrecht für Heroinsüchtige im gerecht definierten Allgemeininteresse läge, liegt die Gewährung einer Reihe vordem schon erwähnter IR, welche die Bekämpfung insbesondere der organisierten Großkriminalität auf das Äußerste behindern und im Endeffekt mithin kontinuierlich einseitige unverdiente Nut^entransfers größeren Ausmaßes von rechtstreuen auf kriminelle Personengruppen15 befördern, nicht im gerecht definierten Allgemeininteresse. Als aus aggregationsethischer Sicht skandalös muß es gelten, wenn etwa nicht zuletzt einige in den USA seinerzeit eingeräumte IR im Verbund dazu führten, daß außergerichtlich des mehrfachen Mordes überführbare Cosa-Nostra-Bosse am Ende lediglich wegen verbotenen Waffenbesitzes verurteilt werden konnten. Aggregationsethisch intolerabel ist aber selbst eine Tatsache wie die, daß das spanische IR auf Unverletzlichkeit der Wohnung („inviolabilidad del domicilio") es einem Ermittlungsrichter erlaubt, die polizeilich beantragte Durchsuchung der Wohnung eines mit 365 g Heroin festgenommenen Dealers als unbegründet zu untersagen16; sie legt es dringend nahe, die Bedingungen jener Rechtsgewährung jedenfalls insoweit zu verschärfen, daß derartige Rechtsauslegungen nicht mehr im rich15

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Es erhellt, daß auch Nutzentransfers, zu denen Rechtsbrecher andere Rechtsbrecher zwingen, am Ende der Transferkette immer auf Kosten von Nichtrechtsbrechern erfolgen. So geschehen laut „El Pais" vom 1.8.92.

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terlichen Interpretationsspielraum verbleiben. Analog zu argumentieren wäre gegen weitere allzu pauschal-unbedingt gewährte IR, welche vielerorts eine erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in einem rechtsstaatlichen Rahmen verhindern, der zugleich den berücksichtigungswürdigen Mehrheitskomponenten des Allgemeininteresses stärker als kriminell-asozialen Sonderinteressen kleiner Minderheiten von „freeridern" und „foul-dealern" 17 verpflichtet wäre. Es sind dies Rechte, die — vom Liberal-Fundamentalismus abwegigerweise zu geradezu unverzichtbaren Definitionsbestandteilen des Rechtsstaatsbegriffs selber erklärt — auch von manchem nicht eigennützig an ihnen interessierten Wohlmeinenden ohne angemessene Erwägung des durch sie produzierten gesellschaftlichen Schadens befürwortet werden. Sie verbieten den Behörden selbst bei bestbegründetem Verdacht auf schwerste Delikte die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die Umkehrung der Beweislast bei Nachweisen der Herkunft hoher Geldvermögen, den „großen Lauschangriff' auf Privatwohnungen, ferner wirksamere Formen des Einsatzes verdeckter Ermittler, einen besseren Schutz von Zeugen durch deren teilweise Anonymisierung bei Aussagen gegen organisiert Schwerkriminelle und anderes dem Allgemeininteresse Dienliche mehr. Auch manche hiesigen Datenschutzrechte wirken angesichts der Betroffenenkreise, denen sie — weniger von der Absicht des Gesetzgebers her, wohl aber der Sache nach — einerseits Nutzen bzw. andererseits Schaden bringen, insgesamt in hohem Grade allgemeininteressenwidrig. Dies gilt zwar zuvörderst für die Groß- und speziell Wirtschaftskriminalität, keineswegs aber nur für diese. Der Fall eines marokkanischen Asylbewerbers, der eine junge Frau „sexuell mißhandelt und mit Messerstichen schwer verletzt" 18 hatte, enthüllte unlängst, daß die zuständigen Frankfurter Behörden unter Hinweis auf Datenschutzrechte seit mehr als 15 Jahren selbst schwerstkriminelle Asylbewerber nicht dem Zirndorfer Bundesamt, wie von dort erbeten, zwecks einer vorrangigen Abwicklung der entsprechenden Asylverfahren meldeten. Als das allgemeine Rechtsbewußtsein sowie speziai- und generalpräventive Wirkungen unterminierend kaum im Allgemeininteresse liegen dürfte auch ein soeben 19 vom Berliner Datenschutzbeauftragten gefordertes Recht, demzufolge bei sog. „Bagatelldelikten", wie Ladendiebstahl, ertappte Personen eine erkennungsdienstliche Registrierung verweigern dürften. Ähnliches gilt für einige die Festnahmevoraussetzungen und vor allem Beweisregeln betreffende IR im Kontext des in den 70-iger Jahren liberalisierten Demonstrationsstrafrechtes, die es den Mitgliedern jener notorischen Wandertruppen von extremistischen Gewalttätern seit Jahren erlauben, nach polizeilichen Festnahmen umgehend ungestraft wieder in Ak-

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18 19

Über den Unterschied von „freeridern" und „fouldealern" sowie einige interessante Folgerungen hieraus vgl. Pettit (1986). So wörtlich in der „Frankfurter Rundschau" vom 29.8.92. Siehe „Frankfurter Rundschau" vom 21.8.92.

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tion zu treten. Der jene Liberalisierung wesentlich mitveranlassende Rudolf Wassermann bezeichnete in einer Fernsehsendung jüngst rückblickend die jener damaligen Rechtsgewährung zugrundeliegende Folgeneinschätzung, vom neofaschistischen Mob neuerdings zur Einsicht gebracht, als groben Irrtum, den es durch eine entsprechende Gesetzesveränderung alsbald zu korrigieren gelte. Dieser Katalog von IR, welche in ihrer vorliegenden Fassung dem Allgemeininteresse grob zuwiderlaufen, ließe sich, insbesondere bei einem Blick auf geltendes deutsches Haft- sowie Strafprozeßrecht, problemlos erweitern. Das hiesige Papier läßt hierzu ebensowenig den Raum wie zu einer sachangemessenen Begründung der These, daß unter plausiblen Annahmen über die verschiedenen Partikularinteressenstärken relativ homogener Betroffenengruppen sowie über die weit mehrheitliche Bewertung von deren Berücksichtigungswürdigkeit die Allgemeininteressenwidrigkeit derartiger IR unschwer auch numerisch nachweisbar wäre. Diese wäre dermaßen eindeutig, daß die überwältigende Mehrheit der (bezogen auf jene effektiver zu bekämpfenden Deliktarten) rechtstreuen Bürger einem gedachten Vertrag über eine angemessene Einschränkung bzw. teils gar Aufhebung jener Rechte rationalerweise zustimmen müßten. Dies gälte bereits bei Einnahme einer unverschleiertrealen und erst recht einer verschleiert- neutralen Interessenperspektive. Zwar erlitten auch sie in dem gering wahrscheinlichen Fall, da sie selbst falschlich in den z. B. eine polizeiliche Belauschung begründenden Anfangsverdacht gerieten, durch jene IR-Beschneidungen kurzzeitig gewisse unverdiente Teilnutzenverluste. Bei der Berechnung des langfristigen G?.w«/erwartungsnutzens würde sich diese jedoch als durch anderweitige Teilnutzengewinne, die zumeist mit weit höherer Wahrscheinlichkeit einträten, deutlich überkompensiert erweisen: Weg fielen sämtliche monetären, psychologischen und sonstigen Kosten der durch jene Rechte erst bewirkten zusätzlichen Kriminalitätsgewinne, welche alle rechtstreuen Bürger — sei es als direkte oder indirekte Opfer von Verbrechen, sei es als ihre Bekämpfung, Bestrafung und sozialen Schäden mitfinanzierende Steuerzahler oder auch nur zornige Beobachter unbestraft zu Lasten Dritter ergaunerter Nutzengewinne — andernfalls anteilig mitzutragen hätten. Aus verschleiert-neutraler Perspektive heraus — etwa bei der Annahme, mit Gleichwahrscheinlichkeit jede der möglichen sozialen Rollen zu erhalten — müßten im übrigen sogar die kriminellen Profiteure jener Rechte jeder dem Allgemeininteresse dienenden Einschränkung derselben zustimmen. Zu bedenken wäre schließlich, daß jedermann, dem aus jener Einschränkung am Ende wirkliche Nachteile erwüchsen, eben dies durch das Unterlassen von Straftaten jederzeit vermeiden könnte. Er hätte diese Verluste folglich selbst zu verantworten. Wer dies durch den Hinweis auf die soziale Bedingtheit ihres Handelns oder gar die Leugnung jeder Willensfreiheit bestreiten wollte, übersähe die Fallstricke des Arguments vom umstandsdeterminierten

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Automaten: Auch all diejenigen, die als Geber, Exekutor oder Anwender und Ausleger von Gesetzen agieren, unterliegen sozialer Determination; auch sie könnten sich mithin nicht — wie von ihnen gefordert — gegen die Versuchung zu Aufhebungen, Einschränkungen, ja sogar Verletzungen und bewußten Fehlauslegungen von kriminalitätsbegünstigenden Rechten sowie zu äußerster Härte bei Strafbemessungen frei und verantwortlich entscheiden. Vielfach bestehen gerade die auf eine Erhöhung der Moralität staatlichen Handelns abzielenden Bewerter, der bisherigen Argumente ungeachtet, dennoch im Namen der»Freiheit des einzelnen« uneingeschränkt auf jenem exzessiv-liberalen Rechtsstaatsbegriff und allen von ihm eingeschlossenen IR. Die jene Auffassung nach sich ziehende normative Konzeption zeigt sich jedoch nicht nur blind gegen die Tatsache, daß hiermit wenigen ein unverdient höherer Freiheitsgrad auf Kosten einer Verringerung sowohl der Freiheit aller hierdurch Verpflichteten wie auch des Nutzenniveaus aller die Folgen hiervon Tragenden zugeschanzt wird; sie verkennt zugleich — was im Ergebnis gravierender ist — eine hieraus mitherrührende fortschreitende Erosion und Selbstunterminierung des Rechtsstaates dadurch, daß eine wachsende Anzahl von Bürgern - verstimmt über die unverdienten Nutzenverluste, die ihnen ein gegenüber notorischen Gesetzesverächtern anämisch schwacher Staat zugunsten letzterer zumutet — sich von jener Art von Rechtsstaat innerlich entfremdet abwendet, dem durch immer dreistere Formen der Steuerhinterziehung, eine zunehmende Anfälligkeit für aktive und passive Korruption wie auch durch legale Arten der Solidaritätsverweigerung und Versagung von Gemeinschaftspflichten zum Schaden des Allgemeinwohls Ausdruck verleiht, sowie am Ende äußerstenfalls gar den Rechtsstaat selbst durch entsprechendes Wahlverhalten offen in Frage stellt20. Wenig überzeugen kann es letztlich auch, wenn strikte Gegner jeglicher Tendenzen beim heutigen Gesetzgeber, auf drastisch veränderte Normalumstände mit dementsprechenden Neubemessungen von IR zu reagieren, geradezu ahnenkultartig den Willen früherer Gesetzgeber, hierzulande vorzugsweise denjenigen der „Mütter und Väter des Grundgesetzes", beschwören. Zu diesem Argument greift man eigenartigerweise häufig in Kreisen, die ansonsten keineswegs zu mater- oder gar paternalistischer Autoritätshörigkeit neigen. Zwar muß früherer gesetzgeberischer Wille beim richterlichen Auslegen vorgegebener Gesetze ein Mitkriterium bleiben. Er kann jedoch, wenn frühere, auf gute Motive, aber ganz andere Annahmen über Normalumstände gegründete pauschale Rechtsgewährungen sich angesichts einer veränderten Realität als allzu mißbrauchsanfällig und allgemeininteressenwidrig erweisen, Man verstehe dies nicht als Monokausalitätsthese miß; zweifellos gibt es noch zahlreiche weitere Mitursachen für die genannten Auswirkungen. Deren Unerfreulichkeitsgrad legt es jedoch nahe, jede einzelne dieser Ursachen zwecks Anregung ihrer möglichst weitgehenden Beseitigung deutlich offenzulegen.

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kein vernünftiger Grund gegen eine situationsgerechte Spezifizierung jener Rechte durch den aktuellen Gesetzgeber sein. Analog wäre für die Einführung oder Erweiterung von zuvor verweigerten oder begrenzten IR, sofern diese im Allgemeininteresse liegt, zu argumentieren. Im übrigen hätte sich auch der Wille des je früheren Gesetzgebers wohl in anderen als den vorliegenden Rechts formulier ungen geäußert, wenn er sich auf der Grundlage jener später eintretenden Umstände gebildet hätte. Hierüber aber muß gar nicht spekuliert werden. Denn ein Gesetz ist nicht durch den Verweis auf den Willen seines Gebers, sondern nur durch den Nachweis des Allgemeininteresses an ihm als vernünftig rechtfertigbar. Letzteres aber bemißt sich an den — ihrer Berücksichtigungswürdigkeit nach zu gewichtenden — Partikularinteressen an ihm, welche selbst allemal auf die angesichts derjeweiligen Umstände von ihm künftig erwartenden Folgen ausgerichtet sind. Im Allgemeininteresse liegen können IR dabei keineswegs erst, wenn sie — ihre Vor- und Nachteile für das Individuum zusammengenommen — jedermann Nutzengewinne bringen, wie dies der anfangs angedeutete Kernbereich eines auch für rationale Egoisten lohnenden Gesellschaftsvertrages tut. Rechte dürfen somit auch langfristig einseitige Nutzentransfers bewirken. Gerade ein kompensatorisches Aggregationskonzept, wie GU es darstellt, legitimiert derartige Rechte ja grundsätzlich dann moralisch, wenn ihre Gewährung im gerecht definierten Allgemeininteresse vertretbar ist, wenn sie also als echte »Solidaritätsrechte« gelten können. Gesetzlich gewährte materiale IR sind, so läßt sich der Kern dieser Überlegungen knapp resümieren, ethiksystematisch nachgeordnete Verfügungen, die — soweit sie im gerecht bestimmten Allgemeininteresse liegen — prima facie auch moralisch gültig und insofern ernst zu nehmen sind. Unter wie auch immer veränderten Umständen absolut ernst zu nehmen — wie die obersten Prinzipien einer sie erst legitimierenden Allgemeininteressenkonzeption, über deren Bestimmungskriterien speziell bei politischen Anwendungen idealiter eine Art protogesetzlicher Mehrheitsbeschluß herbeizuführen wäre — sind sie aus der Sicht einer vernunftgegründeten Ethik jedoch nicht.

Literatur Dworkin, R., Taking Rights Seriously, London, 1978 Dworkin, R., „Is There a Right to Pornography?", in: Oxford Legal Studies I, 1981, S. 1 7 7 - 2 1 2 ; wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 1 5 3 - 1 6 7 Gewirth, Α., „Are There Any Absolute Rights?", in: Philosophical Quarterly, 1981, S. 1 - 1 6 ; wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 9 1 - 1 0 9 Hart, H. L. Α., „Are There Any Natural Rights?", in: The Philosophical Review, 1955, S. 1 7 5 - 9 1 ; wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 7 7 - 9 0 Hohfeld, W N., Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, Yale, 1919

Individualrechte ernst — aber nicht unangemessen ernst genommen

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Mackie, J. L., „Can There Be a Right-Based Moral Theory?", in: French P. A. / Uehling T. E. / Wettstein Η. Κ. (Hrsg.), Studies in Ethical Theory, Bd. 3,1978; wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 168-181 Pettit, P., „Free Riding and Foul Dealing", in: J. of Philosophy, 1986, S. 361 - 3 7 9 Scanion, T. M., „Rights, Goals, and Fairness", in: Erkenntnis, 1977, S. 81—95 Trapp, R. W, Nicht-Klassischer Utilitarismus - eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M., 1988 Trapp, R. W, „Utilitarianism Incorporating Justice ...", in: Erkenntnis, 1990, S. 3 4 1 - 3 8 1 (= 1990a) Trapp, R. W., „Ein grundsätzliches Argument gegen jeglichen Wertungskognitivismus", in: Holz, H. (Hrsg.), Die Goldene Regel der Kritik, Bern/New York, 1990, S. 2 0 9 - 2 2 7 (= 1990b) Trapp, R. W, „The Potentialities and Limits of a Rational Justification of Ethical Norms or „What Precisely is Minimal Morality?"", in: Fehige, C. / Wessels U. (Hrsg.), Preferences, Berlin/New York, 1997 Trapp, R. W, „Sind moralische Aussagen, objektiv wahr?", in: Lenzen, W. (Hrsg.), Das weite Spektrum der Analytischen Philosophie, Berlin/New York, 1997, S. 4 0 8 - 4 2 8 Vlastos, G., „Justice and Equality", in: Brandt, R. B. (Hrsg.), Social Justice, Prentice-Hall, 1962; wiederabgedruckt in Waldron (1984), S. 41 - 7 6 Waldron, J. (Hrsg.), Theories of Rights, Oxford, 1984

Nachtrag: Der Artikel argumentierte auf der Basis der - in einigen Punkten inzwischen geänderten - Rechtslage zur Zeit seiner Entstehung (August 1992).

Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit Peter Koller

I. Facetten des Freiheitsbegriffs Der Begriff der Freiheit ist ein vieldeutiger und hochgradig komplexer Begriff. Wir wenden ihn nicht nur auf eine Vielzahl verschiedenartiger Gegenstände an, sondern verbinden mit ihm in wechselnden Zusammenhängen auch unterschiedliche Bedeutungen. So benutzen wir das Wort ,frei' in manchen Fällen einfach dazu, um die Nichtexistenz bestimmter Sachverhalte oder Eigenschaften zu konstatieren, etwa wenn wir sagen, eine Sache sei fehlerfrei' oder eine Person ,frei von Schuld'. Doch in solchen Fällen kann man auf dieses Wort ohne weiteres verzichten und es durch ein anderes Negationswort, ζ. B. ,ohne', ersetzen. Eine speziellere Bedeutung gewinnt der Freiheitsbegriff erst dann, wenn wir ihn auf Dinge anwenden, die eine Art Eigendynamik an den Tag legen, sei es in Form eines natürlichen oder eines selbstgesteuerten Verhaltens. Solche Dinge nennen wir frei, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie in ihrer Eigendynamik unbehindert sind, ζ. B. wenn wir von einem ,freien Fall' oder von ,freilebenden Tieren' sprechen. Die wichtigsten und interessantesten Verwendungen des Freiheitsbegriffs beziehen sich aber natürlich auf uns selber, auf menschliche Personen. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, den Freiheitsbegriff auf Personen anzuwenden, und wir können dabei auf verschiedene Aspekte ihres Wollens und Handelns abstellen. Je nachdem, ob es uns entweder auf ihre Fähigkeit zu einer autonomen, d. h. nicht durch Naturgesetze determinierten, Willensbildung oder aber auf die tatsächlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns ankommt, kann zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit unterschieden werden. Zu den tatsächlichen Rahmenbedingungen menschlichen Handelns gehören zum einen die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Umwelt und zum anderen die Verhältnisse des sozialen Lebens. Was letztere betrifft, so stehen uns zu deren Beschreibung und Bewertung wiederum mehrere Freiheitskonzepte zur Verfügung, so vor allem die Konzepte der socialen, der bürgerlichen und der poliüschen Freiheit. Den Kernbereich der bürgerlichen Freiheit bilden

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die Grundfreiheiten, die ihrerseits eine ganze Reihe von verschiedenen Freiheiten umfassen, wie die Freiheit der Person, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit und andere mehr. Alle diese Konzepte beziehen sich auf die Handlungsoptionen von Einzelpersonen und lassen sich daher durch den Uberbegriff der individuellen Freiheit zusammenfassen. Im Gegensatz dazu kann der Freiheitsbegriff aber auch auf soziale Gemeinschaften und auf ganze Gesellschaften Anwendung finden, was ζ. B. dann der Fall ist, wenn wir von .freien Ländern', .freien Völkern' oder .freien Gesellschaften' reden. Diese Arbeit hat jenen Teilbereich der individuellen Freiheit zum Gegenstand, den man, in einem weiten Sinne verstanden, als gesellschaftliche Freiheit bezeichnen kann, d.i. die Freiheit von Menschen im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens. Um das weiträumige und vielgestaltige Terrain dieser Freiheit etwas zu gliedern, möchte ich von Anfang an drei Arten der Freiheit unterscheiden, die ich im weiteren Verlauf näher untersuchen und präzisieren werde: nämlich Handlungsfreiheit, soziale Freiheit und bürgerliche Freiheit. Unter Handlungsfreiheit verstehe ich die Menge jener Handlungen, die eine Person unter den gegebenen Bedingungen der natürlichen und der sozialen Umwelt tatsächlich ausführen kann, wenn sie will. Es handelt sich dabei um ein ganz allgemeines und rein deskriptives Konzept, das den Ausgangspunkt für die Explikation der anderen, spezielleren Konzepte bilden soll. Im Unterschied dazu stellt das Konzept der socalen Freiheit auf jenen Bereich des Handelns ab, innerhalb dessen jemand unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht durch soziale Zwänge eingeschränkt ist, nach eigenem Willen zu handeln. Auch dieses Konzept hat im wesentlichen deskriptiven Charakter; es dient dazu, Aussagen über das Ausmaß der Freiheit zu machen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern tatsächlich einräumt, unabhängig davon, worin die richtige Verteilung und der angemessene Umfang der Freiheit bestehen mögen. Demgegenüber ist das Konzept der bürgerlichen Freiheit von Grund auf normativ. Es bezeichnet ein Arrangement sozialer Freiheit, das bestimmten akzeptierten Maßstäben der Verteilung und Begrenzung dieser Freiheit genügt. Diese Maßstäbe sind nicht überall die gleichen und sie können sich im Laufe der Zeit verändern. In der Moderne hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß alle Menschen gleich und frei geboren sind und darum im Rahmen der Gesellschaft Anspruch auf größtmögliche gleiche Freiheit haben. Dieser Auffassung zufolge verlangt bürgerliche Freiheit eine soziale Ordnung, die allen Mitgliedern die weitestgehende Freiheit gewährt, die für alle gleichermaßen möglich ist. In den meisten Fällen, in denen wir den Begriff der Freiheit gewöhnlich verwenden, sind seine deskriptiven und normativen Bedeutungskomponenten freilich nicht säuberlich voneinander getrennt, sondern eng miteinander verschmolzen. In allen diesen Fällen, und das gilt vor allem für seine Verwendung im Kontext des politischen Diskurses, kommt ihm eine doppelte Funktion zu: er dient dazu, um menschliches Handeln und soziale Verhältnisse zu

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beschreiben und zu erklären, und er ist zugleich ein Mittel, um sie zu legitimieren oder zu kritisieren. Aus diesem Grunde hängt unser Verständnis von Freiheit aufs engste mit unseren moralischen und politischen Vorstellungen zusammen. Und dies erklärt, weshalb der Freiheitsbegriff in hohem Maße politisch umstritten ist. Angesichts dieses Umstands wird von manchen Autoren die These vertreten, das Konzept der Freiheit sei - wie auch alle anderen zentralen Begriffe des politischen Diskurses, z. B. .Gleichheit', .Gerechtigkeit', .Gemeinwohl' — vollkommen standpunktabhängig und deshalb ohne feste Bedeutung. 1 Doch diese These ist nicht plausibel. Denn hätten die genannten Begriffe überhaupt keine allgemein geteilte Bedeutung, so wäre es weder verständlich, warum sie in der politischen Diskussion eine so wichtig Rolle spielen, noch, warum sie überhaupt umstritten sind. Ließen sich diese Begriffe völlig beliebig verstehen, so wäre es müßig, über ihre Bedeutung zu streiten, und wir täten besser daran, sie ganz aus unserem Vokabular zu streichen. Zumindest prima facie gibt es also keinen Grund zur Annahme, daß der Freiheitsbegriff trotz seiner normativen Funktion gar keinen festen Bedeutungsgehalt besitzt, der weithin unbestritten ist. Und die geeignetste Methode, diesen Bedeutungsgehalt ausfindig zu machen, ist immer noch die, nach Verwendungen des Begriffs zu suchen, die sich zu unterschiedlichen politischen Überzeugungen relativ neutral verhalten. Ich möchte daher im folgenden zuerst versuchen, die semantische Struktur des Freiheitsbegriffs durch eine Analyse seiner Verwendung in der Alltagssprache und in der politischen Theorie herauszuarbeiten. Ich werde dabei in zwei Schritten vorgehen: im ersten Schritt werde ich mich mit dem Konzept der Handlungsfreiheit befassen (II) und im zweiten den Begriff der sozialen Freiheit erörtern (III). Darauf aufbauend soll die moderne Auffassung bürgerlicher Freiheit, die Forderung größtmöglicher gleicher Freiheit, näher betrachtet werden (IV). Da diese Auffassung sehr allgemeiner und grundsätzlicher Natur ist, werde ich mich ferner mit der Frage beschäftigen, was größtmögliche gleiche Freiheit eigentlich bedeutet und wie sie genauer bestimmt werden kann (V). Im Zuge dieser Überlegungen werde ich ein Kriterium vorschlagen, das helfen soll, den Umfang und die Grenzen der bürgerlichen Freiheit zu bestimmen. Auf der Grundlage dieses Kriteriums werde ich abschließend versuchen, eine rationale Begründung der Grundfreiheiten zu entwickeln (VI). Diese These wird beispielsweise vertreten von Thomas Weldon, The Vocabulary of Politics, Harmondsworth, Middlesex 1953, dt.: Kritik der politischen Sprache, Neuwied 1962; siehe dazu ferner W B. Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1955/56), S. 1 6 7 - 1 9 8 ; William E. Connolly, The Terms of Political Discourse, Oxford 1974, 2.Aufl. 1983, S. 9 ff, 140 ff; John Gray, Political Power, Social Theory, and Essential Contestability, in: David Miller & Larry Siedentop (Eds), The Nature of Political Theory, Oxford 1983, S. 7 5 - 1 0 1 ; Richard E. Flathman, The Philosophy and Politics of Freedom, Chicago - London 1987, S. 15ff.

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II. Das Konzept der Handlungsfreiheit Es gibt es im wesentlichen zwei Möglichkeiten, einer Person Freiheit zu attribuieren: Man kann sagen, die Person sei frei von bestimmten Beschränkungen ihres Handelns, oder aber, sie habe die Freiheit ψ bestimmten Handlungen. Im ersten Fall besteht Freiheit in der Abwesenheit bestimmter Beschränkungen, durch die man sonst gehindert wäre, nach Belieben zu handeln. Im zweiten Fall bedeutet Freiheit die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun, wenn man will.2 Demgemäß kann man zwei Begriffe oder Arten von Freiheit unterscheiden, die gewöhnlich als .negative' und .positive Freiheit' bezeichnet werden: nämlich erstens Freiheit im Sinne der Abwesenheit bestimmter Beschränkungen des Handelns (negative Freiheif) und zweitens Freiheit als die Fähigkeit zu bestimmten Handlungen (positive Freiheit).3 Was ihr logisch-begriffliches Verhältnis betrifft, so sind negative und positive Freiheit — entgegen der Ansicht mancher Autoren — weder voneinander unabhängig, noch schließen sie einander aus. Sie unterscheiden sich vielmehr bloß in ihrer Stärke: Positive Freiheit impliziert negative Freiheit, nicht aber umgekehrt. Denn die Aussage, jemand besitze die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun, falls er will, setzt notwendigerweise voraus, daß er frei von allen Beschränkungen ist, durch die er gehindert wäre, diese Dinge zu tun. Die positive Freiheit zu einem bestimmten Handeln erfordert daher die Abwesenheit aller Beschränkungen, die diesem Handeln entgegenstehen. Dagegen kann daraus, daß eine Person frei von gewissen Beschränkungen ist, nicht geschlossen werden, daß sie die Fähigkeit zu bestimmten Handlungen besitzt, falls sie sie ausführen möchte. So folgt ζ. B. daraus, daß ich von niemandem daran gehindert werde, einen Purzelbaum zu schlagen, falls ich will, noch lange nicht, daß ich auch fähig bin, das zu tun.4 Wir werden später sehen, daß es für die Konzepte der sozialen und der bürgerlichen Freiheit von erheblicher Bedeutung ist, ob man sie eher im negativen oder im positiven Sinne versteht. Das mag der Grund sein, warum gerade Theoretiker mit ausgeprägten politischen Uberzeugungen dazu neigen, einen der Begriffe von vornherein als den richtigen auszuzeichnen und den anderen zu verwerfen. Doch dieses Vorgehen läuft nur darauf hinaus, 2

3

4

Vgl. Weldon, Kritik der politischen Sprache (Anm. 1), S. 90 ff; Joel Feinberg, Social Philosophy, Englewood Cliffs, N.J. 1973, S. 9ff. So vor allem Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, Oxford 1958, revidierte Fassung in: Berlin, Four Essays on Liberty.; Oxford 1969, S. 1 1 8 - 1 7 2 , 121 ff; ähnlich aber bereits Charles A. Beard, Freedom in Political Thought, in: Ruth N. Anshen (Ed.), Freedom, New York 1940, S. 2 8 8 - 3 0 4 ; Ralph Barton Perry, Liberty in a Democratic State, in: ebd., S. 2 6 5 - 2 7 7 ; vgl. auch William T. Blackstone, The Concept of Political Freedom, in: Social Theory and Practice 2 (1973), S. 4 2 1 - 4 3 8 ; Feinberg, Social Philosophy (Anm. 2), S. 12 ff. Vgl. Feinberg, Social Philosophy (Anm. 2), S. 12 f.

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die gewünschten inhaltlichen Ergebnisse durch eine definitorische Vorannahme zu präjudizieren. A priori spricht gar nichts dafür, einem der Begriffe den Vorzug zu geben. Beide Begriffe haben Sinn, und jeder von ihnen kann auf seine Weise dazu dienen, um gewisse Konstellationen menschlichen Handelns zu beschreiben. Gleichgültig, ob wir den Freiheitsbegriff im negativen oder im positiven Sinne verwenden, wir bringen damit in jedem Fall zum Ausdruck, daß bestimmte Personen nicht durch diese oder jene Beschränkungen gehindert sind, gewisse Dinge zu tun, falls sie es wollen. Bei semantischer Betrachtung hat also das Attribut,Freiheit' ebenso wie seine diversen grammatischen Abwandlungen stets die Form eines dreistelligen Relationsprädikats mit den folgenden Komponenten: 1. den Personen, welchen Freiheit zu- oder abgesprochen wird, 2. den Beschränkungen, deren Fehlen oder Existenz wir konstatieren, und 3. den Handlungsmöglichkeiten, die jenen Personen offenstehen oder verwehrt bleiben.5 Was die erste Komponente, die Personen, angeht, so ist es in diesem Zusammenhang weder möglich noch nötig, darüber viel zu sagen. Ich setze einfach voraus, daß es sich um Personen mit den durchschnittlichen Eigenschaften und Fähigkeiten von normalen erwachsenen Menschen handelt. Ich nehme dabei an, daß solche Personen zumindest über ein bescheidenes Ausmaß an rationalem Entscheidungs- und Handlungsvermögen verfügen, d. h. daß sie im allgemeinen in der Lage sind, sich eine Vorstellung von ihren langfristigen Interessen zu machen und sich in ihrem Handeln wenigstens zu einem gewissen Teil von diesen Interessen leiten zu lassen.6 Von dieser Annahme ausgehend wende mich gleich der zweiten Komponente zu, also den Beschränkungen des Handelns. Beschränkungen des Handelns sind, ganz allgemein gesprochen, Umstände, die ein bestimmtes Handeln entweder unmöglich oder aber unwählbar machen. In diesem Punkte schließe ich mich der Analyse von MacCallum an, gegen die ich in anderen Hinsichten erhebliche Vorbehalte habe, die hier aber dahingestellt bleiben können. Vgl. Gerald C. MacCallum, Negative and Positive Freedom, in: The Philosophical Review 76 (1967), S. 312-334, wiederabgedruckt in: David Miller (Ed.), Liberty, Oxford 1991, S. 100-122; ähnlich Feinberg, Sodai Philosophy (Anm. 2), S. 11. Ich setze nicht voraus, daß Personen nur dann Freiheit haben können, wenn sie im Kantischen Sinne autonom sind, also ihr Handeln an selbstauferlegten moralischen Geboten orientieren. Diese Annahme ist m. E. für eine Konzeption gesellschaftlicher Freiheit, die auf dem Boden der Realität bleiben will, viel zu stark. Zur Frage der persönlichen Voraussetzungen von Freiheit siehe vor allem Harry G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: The Journal of Philosophy 68 (1971), S. 5 — 20; S. I. Benn, Freedom, Autonomy and the Concept of a Person, in: Proceedings of the Aristotelian Society 76 (1975/76), S. 109 — 130; Connolly, The Terms of Political Discourse {Kara. 1), S. 146 ff; Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S. 154ff, 369ff; Flathman, The Philosophy and Politics of Freedom (Anm. 1), S. 44 ff, 180ff, 216 ff; Stanley I. Benn, A Theory of Freedom, Cambridge 1988, S. 1 ff, 87 ff, 170ff.

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Ein Handeln ist unmöglich, wenn man gar nichts unternehmen kann, um es in die Tat umzusetzen. Und ein Handeln ist unwählbar, wenn es unter den gegebenen Bedingungen äußerst unvernünftig wäre, Schritte zu seiner Realisierung zu unternehmen. Falls ich bei einem nächtlichen Spaziergang von einer Bande unguter Gesellen niedergeschlagen, gefesselt und dann meines Geldes beraubt werde, so ist es mir ganz und gar unmöglich, ihnen das Geld zu verweigern. Aber angenommen, die Bande schlägt mich nicht gleich zusammen, sondern stellt mich vor die Alternative „Geld oder Leben!". In diesem Fall bleibt mir zwar zwar die Wahl, entweder mein Geld herauszugeben oder aber Widerstand zu leisten und dabei mein Leben zu riskieren; doch sofern ich, wie die meisten Leute, an meinem Leben hänge, wäre es in hohem Maße unvernünftig, es um des bißchen Geldes willen aufs Spiel zu setzen. Da ich bei vernünftiger Erwägung also ,gar keine andere Wahl' habe, als das Geld herauszugeben, ist die gegenteilige Option unwählbar. Eine Drohung, die mir bestimmte Handlungsmöglichkeiten, die ich sonst gehabt hätte, unwählbar macht, stellt daher eine Form des Zwangs dar, die meine Handlungsfreiheit beschränkt.7 Die Beschränkungen, die unser Handeln begrenzen können, haben offenbar vielfaltige Wurzeln, und sie treten in verschiedenen Formen auf. Um eine möglichst umfassende Klassifikation dieser Beschränkungen aufzustellen, ist es zweckmäßig, sie analytisch nach zwei Richtungen hin zu differenzieren: erstens in externe und interne Beschränkungen, je nachdem, ob sie in Umständen der äußeren Umwelt oder aber in den persönlichen Eigenschaften der Individuen gelegen sind; und zweitens in natürliche und sociale Beschränkungen, je nachdem, ob sie von Natur aus bestehen oder gesellschaftlich bedingt sind.8 Da sich diese Differenzierungen überkreuzen, ergeben sich vier Arten von Beschränkungen, die zusammen die Handlungsmöglichkeiten von Personen begrenzen: Für eine Analyse verschiedener Arten der Unmöglichkeit des Handelns siehe D. M. White, Negative Liberty, in: Ethics 80 (1969/70), S. 185-204. Ob und wann eine Drohung, die gewisse Handlungen als unvernünftig erscheinen läßt, einen die Freiheit einschränkenden Zwang verkörpert, ist eine ebenso interessante wie umstrittene Frage; siehe dazu: Robert Nozick, Coercion, in: S. Morgenbesser, P. Suppes, M. White (Eds), Philosoph), Science, and Method, New York 1969, S. 440 - 472; J. R. Pennock & J. W Chapman (Eds), Coercion, Chicago - New York 1972; W. A. Parent, Some Recent Work on the Concept of Liberty, in: American Philosophical Quarterly 11 (1974), S. 1 4 9 - 1 6 7 ; Hillel Steiner, Individual Liberty, in: Proceedings of the Aristotelian Society 75 (1974/75), wiederabgedruckt in: David Miller (Ed.), Liberty, Oxford 1991, S. 123-140; J. P. Day, Threats, Offers, Law, Opinion and Liberty, in: American Philosophical Quarterly 14 (1977), S. 257-272; Felix Oppenheim, Political Concepts, Oxford 1981, S. 53 ff; David Miller, Constraints on Freedom, in: Ethics 94 (1983/84), S. 6 6 - 8 6 ; Joseph Raz, The Morality of Freedom (Anm. 6), S. 148 ff; Alan Wertheimer, Coercion, Princeton, N.J. 1987, S. 179 ff. Ich folge hier im wesentlichen der Analyse von Joel Feinberg, Social Philosophy (Anm. 2), S. 12 f.

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(1) Externe natürliche Beschränkungen·, das sind die Grenzen, die dem menschlichen Handeln durch die Naturgesetze und durch naturgegebene Tatsachen auferlegt werden, etwa durch die Gesetze der Physik und durch die Gegebenheiten der natürlichen Umwelt. (2) Interne natürliche Beschränkungen·, die Handlungsgrenzen, die aus den angeborenen Anlagen der Menschen resultieren, wozu — zumindest zu einem gewissen Teil — die physischen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten von Personen gehören. (3) Externe sociale Beschränkungen·, das sind solche Zwänge und Handlungsbarrieren, die von der gesellschaftlichen Umwelt, d. h. vom Handeln anderer Menschen, ausgehen; dazu gehören insbesondere die Ausübung manifester Gewalt, die Anwendung von Zwang und zwangsbewehrte soziale Normen. (4) Interne sociale Beschränkungen: sie liegen vor, wenn jemand deswegen gehindert ist, bestimmte Dinge zu tun, weil ihm die erforderlichen socialen Handlungsressourcen fehlen; das sind jene handlungsbefähigenden Mittel, die zwar sozial bedingt sind, aber dennoch zur persönlichen Ausstattung der Individuen gehören, wie etwa deren Bildung und berufliche Qualifikation, aber auch die materiellen Güter, an denen ihnen die Gesellschaft ein alleiniges Verfugungsrecht einräumt. Davon ausgehend kann man nun das Konzept der Handlungsfreiheit wie folgt definieren: Eine Person hat Handlungsfreiheit, wenn und insoweit sie durch keinerlei Beschränkungen gehindert ist, etwas zu tun, was sie tun möchte, oder anders gesagt: insoweit sie tatsächlich in der Lage ist, nach ihrem eigenen Willen zu handeln. Handlungsfreiheit ist demnach nichts anderes als die Fähigheit, zu tun, was man will. 9 Wir haben es hier also mit einer positiven Freiheit im strikten Sinne zu tun.

Ganz in diesem Sinne hat Hobbes Freiheit verstanden, als er sagte, ein freier Mann sei der, der „nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen" (Thomas Hobbes, Leviathan, engl. Erstausg. 1651, dt. Ausg. hrsg. von Iring Fetscher, 1. Aufl. Neuwied 1966, Nachdruck Frankfurt/Main 1984, S. 163). So auch John Stuart Mill, On Liberty, engl. Erstausg. 1859, dt.: Über die Freiheit, hrsg. von Manfred Schlenke, Stuttgart 1974, S. 132; Bertrand Russell, Freedom and Government, in: R. N. Anshen (Ed.), Freedom, New York 1940, S. 251; E. F. Carritt, Liberty and Equality, in: Law Quarterly Review 56 (1967), wiederabgedruckt in: Anthony Quinten (Ed.), Political Philosoph), London 1967, S. 133. — Gegen dieses Freiheitskonzept hat Hayek den Einwand erhoben, es sei nutzlos und gefahrlich, weil die Freiheit in einer sozialen Ordnung stets gewisse Grenzen habe und niemals darin bestehe, daß man tun kann, was man will (vgl. Friedrich August Hayek, The Constitution of Liberty, London 1960, dt.: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 22 ff). Doch dieser Einwand beruht auf einem Mißverständnis, weil er das kritisierte Konzept mit einer normativen Konzeption der sozialen Freiheit verwechselt. Das ist es aber natürlich nicht. Es ist eine rein deskriptive Explikation von Handlungsfreiheit, und als solche vollkommen korrekt.

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Das Konzept der Handlungsfreiheit ist für manche Zwecke sicher von Nutzen, aber es ist ziemlich offensichtlich, daß wir den Freiheitsbegriff nur selten in diesem weiten Sinne verwenden. Wenn ich ζ. B. sage, es stehe mir frei, ohne technische Mittel einige Zentimeter, nicht aber, ein paar Meter hoch zu hüpfen, weil meine Beschaffenheit und die physikalischen Gegebenheiten auf der Erde das unmöglich machen, so ist das zwar sicher nicht falsch, aber es klingt doch etwas seltsam und ungewöhnlich. In den meisten Fällen, in denen wir Personen Freiheit zu- oder absprechen, haben wir andere Dinge im Auge als die Naturgesetze und Naturtatsachen, die ihrem Handeln Grenzen setzen. In der Regel setzen wir die Beschränkungen des menschlichen Handelns, die sich aus solchen Gesetzen und Tatsachen ergeben, einfach stillschweigend als gegeben voraus und schenken ihnen keine weitere Beachtung. Ahnliches gilt für jene Beschränkungen, die der natürlichen Beschaffenheit der Menschen, also vor allem ihren physischen, psychischen und intellektuellen Eigenschaften, entspringen. Daß wir von diesen Beschränkungen in der Regel ebenfalls absehen, geht schon daraus hervor, daß man ohne Selbstwiderspruch sagen kann, jemand habe die Freiheit, dies oder jenes zu tun, auch wenn zweifelhaft ist, ob er auch wirklich dazu fähig ist. So kann ich ohne weiteres von mir sagen, daß ich die Freiheit habe, den Großglockner zu besteigen, obwohl meine derzeitige physische Konstitution ein solches Unternehmen nicht als ratsam erscheinen läßt. Kann man diese Freiheit aber auch einer Person zusprechen, die von Natur aus niemals dazu in der Lage sein kann, ζ. B. weil sie gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt ist? Ich glaube nicht. Von einer solchen Person zu behaupten, ihr stehe es frei, einen Berg wie den Großglockner zu besteigen, macht einfach keinen Sinn. Dies läßt den Schluß zu, daß wir in vielen Fällen, in denen wir den Freiheitsbegriff auf Personen anwenden, zwar von deren natürlichen Eigenschaften abstrahieren, dabei aber unterstellen, daß diese Personen zumindest in einem gewissen Umfang über die gewöhnlichen physischen und intellektuellen Fähigkeiten verfügen, die für den Gebrauch der Freiheit nötig sind. Die bisherigen Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß wir dann, wenn wir den der Freiheitsbegriff zur Beschreibung oder Bewertung menschlichen Handelns verwenden, von den natürlichen Beschränkungen dieses Handelns weitgehend absehen und nur den sozialen Beschränkungen Beachtung schenken, die es begrenzen. 10 Damit ist der Weg bereitet, um das Konzept sozialer Freiheit näher zu betrachten.

10

Ähnlich Robert A. Dahl & Charles E. Lindblom, Politics, Economics and Welfare, 1. Aufl. 1953, 2. Aufl. New York 1963, S. 32 ff; Steiner, Individual Liberty (Anm. 7); Miller, Constraints on Freedom (Anm. 7).

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III. Das Konzept der sozialen Freiheit Soziale Freiheit ist die Freiheit von Menschen innerhalb der Gesellschaft. Was darunter genau verstanden werden soll, ist freilich heftig umstritten, weil davon unsere Vorstellung der bürgerlichen Freiheit abhängt, die im Rahmen des politischen Diskurses eine entscheidende Rolle spielt. Die Vertreter einer liberalistischen Gesellschaftstheorie fassen soziale Freiheit meist in einem negativen Sinne auf, bei dem es nur auf gewisse externe soziale Beschränkungen des Handelns ankommt. Dagegen ziehen die Anhänger linker Positionen vor allem die faktischen Handlungsmöglichkeiten der Individuen in Betracht, was einen positiven Freiheitsbegriff nahelegt, fur den auch die internen sozialen Handlungsressourcen von Personen von Interesse sind. Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheiten ist aber zumindest soviel klar, daß von sozialer Freiheit jedenfalls nur dann die Rede sein kann, wenn und soweit man nicht durch äußere soziale Beschränkungen gehindert ist, nach eigenen Willen zu handeln. Daß die Abwesenheit von externen socialen Beschränkungen eine notwendige Voraussetzung sozialer Freiheit ist, steht damit außer Frage. Umstritten ist aber, ob sie auch eine hinreichende Bedingung ist. Der Streit geht dabei hauptsächlich darum, ob und inwieweit man auch entsprechende sociale Handlungsressourcen haben muß, um soziale Freiheit zu besitzen. Doch sehen wir uns die erwähnten Auffassungen etwas genauer an. Ein vollkommen negatives Konzept sozialer Freiheit, wie es der Auffassung des klassischen Liberalismus entspricht, könnte so gefaßt werden: Personen haben soziale Freiheit, wenn und soweit sie nicht durch externe soziale Beschränkungen gehindert sind, nach eigenem Willen zu handeln, gleichgültig, ob sie dazu auch wirklich in der Lage sind oder nicht.11 Dieses Konzept setzt soziale Freiheit mit dem Fehlen äußerer sozialer Beschränkungen gleich und läßt die internen, d. h. in den Personen gelegenen, Bedingungen individuellen Handelns vollkommen außer Betracht. Alle diese Bedingungen, zu denen vor allem auch die notwendigen sozialen Handlungsressourcen gehören, werden der persönlichen Sphäre zugerechnet, von der angenommen wird, daß sie mit der sozialen Freiheit der Menschen in keinerlei Zusammenhang steht. Demgegenüber stellt ein positives Konzept sozialer Freiheit gerade auf die internen Handlungsbedingungen ab, und zwar vor allem auf die sozial bedingten. Ein solches Konzept ließe sich etwa so definieren: Personen genießen soziale Freiheit, sofern und insoweit sie nicht durch externe soziale BeschränIn diesem Sinne ζ. Β. I. Berlin, Two Concepts of Liberty (Anm. 3); F. A. Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Anm. 9), S. 15 ff; Fritz Machlup, Liberalism and the Choice of Freedoms, in: E. Streißler et al. (Eds), Roads to Freedom, London 1969, S. 1 1 7 - 1 4 6 , 132 ff; Nozick, Coercion (Anm. 7); Steiner, Individual Liberty (Anm. 7); Flathman, The Philosophy and Politics of Freedom (Anm. 1), S. 52 ff.

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kungen gehindert sind und überdies die sozialen Handlungsressourcen besitzen, um nach ihrem eigenen Willen zu handeln. In diesem Sinne verstanden, besteht soziale Freiheit in der Fähigkeit einer Person, nach Maßgabe ihrer natürlichen Eigenschaften entsprechend ihrem eigenen Willen zu handeln. 12 Da jede dieser Deutungen mit einer umfassenderen politischen Auffassung zusammenhängt, sind für ihre Annehmbarkeit sicher nicht allein semantische Gesichtspunkte, sondern hauptsächlich substanzielle normative Gründe maßgeblich. Da andererseits aber jede politische Auffassung bis zu einem gewissen Grade an den allgemeinen Sprachgebrauch anknüpft und von ihm zehrt, ist es doch nicht ganz unerheblich, ob ihre zentralen Begriffe dem üblichen Verständnis entsprechen oder nicht. Und ich behaupte, daß beide genannten Deutungen sozialer Freiheit — abgesehen von anderen Schwierigkeiten, von denen später die Rede sein wird — mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch in Widerspruch geraten. Entsprechend der negativen Deutung genießt man soziale Freiheit, insoweit man nicht durch äußere soziale Beschränkungen gehindert ist, zu tun, was man will, selbst wenn man über keine sozialen Handlungsressourcen verfügt, um mit dieser Freiheit irgendetwas anfangen zu können. Gegen diese Deutung erhebt sich der Einwand, daß es einfach keinen Sinn ergibt, zu sagen, jemand habe die Freiheit, nach seinem Willen zu handeln, wenn ihm hierzu alle nötigen Mittel vollständig fehlen und wenn es für ihn auch keine Aussichten gibt, jemals in den Besitz solcher Mittel zu kommen. Von einem Obdachlosen zu sagen, es stehe ihm frei, ein Haus am Starnberger See zu kaufen, wäre ebenso zynisch wie absurd. Einer Person soziale Freiheit zuzuschreiben, macht deshalb nur dann einen Sinn, wenn man annehmen kann, daß sie zumindest in einem gewissen Ausmaß über die erforderlichen Mittel verfügt, die sie befähigen, von der negativen Freiheit Gebrauch zu machen. Ich meine daher, daß ein vollkommen negatives Konzept sozialer Freiheit schon mit dem allgemeinen Sprachgebrauch unvereinbar ist. 13 Gegen die positive Deutung ist dagegen einzuwenden, daß sie den Freiheitsbegriff eigentlich überflüssig macht, weil sie soziale Freiheit mit der Fähigkeit gleichsetzt, nach eigenem Willen zu handeln. Denn dies macht es unmöglich, zwischen der Freiheit und der Fähigkeit, von ihr Gebrauch ψ machen, zu unterscheiden, wie wir das häufig tun, vor allem im Kontext politischer Rede. So scheint es ζ. B. vollkommen sinnvoll zu sagen, jedem Deutschen stehe es ab einem gewissen Alter frei, sich um ein politisches Mandat zu 12 13

So 2. B. Lawrence Crocker, Positive Liberty The Hague 1980, S. 66 ff. In eine ähnliche Richtung argumentieren z. B.: G. A. Cohen, Capitalism, Freedom and the Proletariat, in: Alan Ryan (Ed.), The Idea of Freedom, Oxford 1979; wiederabgedruckt in: David Miller (Ed.), Libert); Oxford 1991, S. 163-182; John Gray, On Negative and Positive Liberty, in: Political Studies 28 (1980), S. 507-526; Quentin Skinner, The Idea of Negative Liberty, in: R. Rorty et al. (Eds), Philosoph in History, Cambridge 1984, S. 193-221.

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bewerben, falls er das will, auch wenn sicher nicht jeder die gleichen Chancen hat, eine solche Bewerbung in Gang zu setzen. Freiheit ist daher nicht identisch mit der Fähigkeit, sie zu gebrauchen. Infolgedessen führt auch die positive Deutung zu keinem Konzept, das sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch in Einklang bringen läßt. 14 Ich behaupte nicht, daß diese Einwände ausreichen, um die beiden genannten Deutungen zu entkräften.15 Aber sie legen es nahe, sie für problematisch zu halten und nach einer anderen, plausibleren Deutung sozialer Freiheit zu suchen. Ich möchte eine Deutung vorschlagen, die sich aus den bisherigen Überlegungen von selber ergibt und gleichsam einen Mittelweg zwischen einer vollkommen negativen und einer strikt positiven Deutung darstellt. Ich nenne sie die ,konditionale Deutung' der sozialen Freiheit. Nach der konditionalen Deutung läßt sich das Konzept sozialer Freiheit wie folgt definieren: Eine Person hat soziale Freiheit, insoweit sie (1) nicht durch externe sociale Beschränkungen gehindert ist, bestimmte Dinge nach eigenem Willen zu tun oder zu unterlassen, vorausgesetzt, daß sie (2) neben den üblichen Eigenschaften von Menschen zumindest in einem gewissen Umfang auch über die nötigen socialen Handlungsressourcen verfügt, die es ihr möglich machen, wenigstens einige jener Dinge in Angriff zu nehmen. Diese Deutung ist zwar im wesentlichen negativ, weil sie soziale Freiheit in erster Linie durch die Abwesenheit externer sozialer Beschränkungen definiert. Von einer rein negativen Deutung hebt sie sich aber durch das zweite Element ab, das in eine positive Richtung weist: das ist die einschränkende Klausel, daß jemand, um soziale Freiheit zu genießen, wenigstens in einem gewissen Ausmaß auch über die sozialen Handlungsressourcen verfügen muß, die für den Gebrauch der Freiheit erforderlich sind. 16 Diese Klausel ist 14

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Ähnlich Ralf Dahrendorf, Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, zuerst 1959, abgedruckt in: Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, München 1972, S. 258 ff; Blackstone, The Concept of Political Freedom (Anm. 3), S. 124 ff. Die Auseinandersetzung um negative und positive Freiheit hat noch eine andere Dimension, die ich hier außer Betracht lasse. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit Freiheit, richtig verstanden, die Unabhängigkeit von gemeinschaftlichen Bindungen oder im Gegenteil die Teilhabe an der gemeinsamen Gestaltung des sozialen Lebens verlangt. Siehe dazu Berlin, Two Concepts of Liberty (Anm. 3), S. 122 ff; Gray, On Negative and Positive Liberty (Anm. 13); Charles Taylor, What's Wrong with Negative Liberty?, in: Alan Ryan (Ed.), The Idea of Freedom, Oxford 1979, wiederabgedruckt in: David Miller (Ed.), Liberty, Oxford 1991, S. 1 4 1 - 1 6 2 ; Quentin Skinner, The Paradoxes of Political Liberty, ebd., S. 1 8 3 - 2 0 5 . Die konditionale Deutung hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem von Ralf Dahrendorf vorgeschlagenen Freiheitsbegriff, den er als den „problematischen" bezeichnet und von einem „assertorischen", im wesentlichen positiven Freiheitsbegriff abhebt. Hat man nach dem assertorischen Begriff Freiheit nur dann und dort, „wenn und wo die Chance der Selbstverwirklichung auch wahrgenommen wird und im tatsächlichen Verhalten der Menschen Gestalt annimmt", so besteht Freiheit im problematischen Sinn dann und insoweit, wenn und soweit die Gesellschaft „den Menschen aller Beschränkungen, die nicht schon aus seiner Natur hervorgehen, enthebt; sie ist also eine aus angebbaren Bedingungen hervorwachsende

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sicherlich sehr vage und unbestimmt. Aber da es im vorliegenden Zusammenhang nur darum geht, ein Konzept sozialer Freiheit zu formulieren, das dem allgemeinen Verständnis so gut wie möglich entspricht, stellt seine Unbestimmtheit nicht nur keinen Mangel, sondern einen Vorzug dar. Im übrigen ist die Klausel keineswegs inhaltsleer. Für ihre nähere Präzisierung sind aber gewisse normative Annahmen erforderlich, die im Konzept sozialer Freiheit noch nicht enthalten sind. Ich werde später, im Zuge der Erörterung des Konzepts der bürgerlichen Freiheit, wieder auf die Klausel zu sprechen kommen und dann versuchen, ihr einen etwas präziseren Sinn zu geben. Ich habe den Freiheitsbegriff bisher nur im Hinblick auf die Beschränkungen analysiert, die unser Handeln behindern können. Um die Explikation sozialer Freiheit zu vervollständigen, ist es nun notwendig, die dritte Komponente von Freiheit in Betracht zu ziehen: also die Handlungsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen oder verwehrt sind. Davon hängt der Umfang der Freiheit ab. Der Begriff der Handlung bzw. des Handelns ist dabei, wie schon bisher, in einem ganz allgemeinen und weiten Sinne zu verstehen. Er soll jedes intentionale Verhalten von Menschen bezeichnen, also aktive Handlungen ebenso wie Unterlassungen, und er schließt nicht nur elementare Handlungen ein, sondern auch die Verfolgung komplexer und über lange Zeit andauernder Handlungsprojekte. Der Begriff der Freiheit kann in zweifacher Weise auf Personen angewendet werden: entweder in der Weise, daß wir sagen, jemand habe die Freiheit, diese oder jene Dinge zu tun, oder aber, indem wir sagen, eine Person besitze ein größeres oder geringeres Maß an Freiheit, nach eigenem Willen zu handeln. Während wir uns im ersten Fall auf bestimmte einzelne Handlungsweisen beziehen, ist im zweiten Fall von der Gesamtheit oder einem Teilbereich der Handlungsmöglichkeiten die Rede, die den Umfang der Freiheit einer Person ausmachen. Gemäß der ersten Verwendung ist Freiheit ein qualitativer Begriff; denn jemand ist entweder frei, etwas zu tun, oder er ist es nicht. Dagegen ist Freiheit im zweiten Fall ein komparativer Begriff, weil die Freiheit, die jemand insgesamt besitzt, einen größeren oder kleineren Umfang haben kann. Die Freiheit, bestimmte einzelne Handlungen auszuführen, ist hier nicht mehr weiter von Interesse. Worauf es für die weitere Analyse sozialer Freiheit ankommt, ist der Umfang der Freiheit}1 Zunächst ist soviel klar: der Gesamtumfang der Freiheit, die man besitzt, hängt mit der Anzahl der einzelnen Handlungsmöglichkeiten zusammen, die zu tun man die Freiheit hat. Davon ausgehend könnte man sagen, daß jemand insgesamt um so größere Freiheit hat, je größer die Menge der einzel-

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Chance der menschlichen Existenz". Dahrendorf, Reflexionen über Freiheit und Gleichheit (Anm. 14), S. 260. Siehe dazu vor allem Felix Oppenheim, Dimensions of Freedom, New York 1961, S. 179 ff; ders., Political Concepts (Anm. 7), S. 69 ff.

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nen Handlungen ist, die ihm offenstehen. Aber welche Arten von Handlungen sollen dabei in Betracht gezogen werden? Viele Philosophen, darunter Thomas Hobbes und John Stuart Mill, haben Freiheit ganz allgemein definiert als die Möglichkeit, zu tun was man will. 18 Geht man von dieser Definition aus, so liegt es nahe anzunehmen, daß der Umfang der Freiheit sich an der Zahl jener Handlungen bemißt, die jemand tatsächlich ausführen will. Diese Ansicht führt jedoch, wie Isaiah Berlin gezeigt hat, zu absurden und unannehmbaren Konsequenzen: „Wenn das Ausmaß der Freiheit eine Funktion der Befriedigung von Wünschen wäre, dann könnte man die Freiheit ebensogut durch die Eliminierung wie durch die Befriedigung von Wünschen vergrößern; man könnte die Menschen (...) frei machen, indem man sie konditioniert, ihre ursprünglichen Wünsche (...) aufzugeben. Statt den Zwängen, die mich drücken, zu widerstehen oder sie zu beseitigen, kann ich sie ,internalisieren"'. 19 Die Freiheit einer Person kann daher, so argumentiert Berlin vollkommen überzeugend, nicht einfach mit den Möglichkeiten gleichgesetzt werden, ihre aktuellen Wünsche zu realisieren. In Anbetracht dessen stellt er nun die These auf, der Umfang der Freiheit ergebe sich aus der Anzahl von jemandes Möglichkeiten, seine potentiellen Handlungsabsichten zu verwirklichen, d. h. aus der Menge der Dinge, die zu tun ihm möglich wäre, falls er sich dazu entschlösse, gleichgültig, ob er sie wirklich jemals tun will oder nicht. 20 Diese These wirft jedoch ihrerseits erhebliche Schwierigkeiten auf. Sie hat nämlich zur Folge, daß sich der Umfang der Freiheit gar nicht mehr bestimmen läßt, weil ja die Zahl der potentiellen Handlungsabsichten eines Menschen grundsätzlich unendlich ist. Diese Schwierigkeit hat einige Autoren, z. B. J. P. Day und Hillel Steiner, veranlaßt, zu meinen, Freiheit habe gar nichts mit dem Wünschen und Wollen der Menschen zu tun, weshalb die Bezugnahme auf die Absichten der handelnden Personen völlig entbehrlich sei. Freiheit bestehe nicht darin, zu tun, was man will, sondern darin, daß man nicht durch äußere Zwänge gehindert wird, jene Dinge zu tun, die tun manföhig ist, gleichgültig, ob man diese Dinge tun will oder nicht. 21 Dieser Vorschlag fuhrt aber zu dem grotesken Ergebnis, daß man um so mehr Freiheit besitzt, je weniger zu tun man fähig ist. Von mehreren Personen, die den gleichen externen Beschränkungen des Handelns unterliegen, 18 19 20 21

Siehe dazu die Literaturhinweise in Anm. 9. Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. xxxviii. Vgl. Berlin, Four Essays on Liberty (Anm. 19), ebd. Siehe hierzu J. P. Day, On Liberty and the Real Will, in: Philosophy 45 (1970), S. 177-192, insbes. 179 f; ders., Threats, Offers, Law, Opinion and Liberty (Anm. 7); Steiner, Individual Liberty (Anm. 7), S. 35. Ähnlich W. A. Parent, Some Recent Work on the Concept of Liberty (Anm. 7); ders., Freedom as the Non-Restriction of Options, in: Mind 83 (1974), S. 432-438; Don Locke, Three Concepts of Free Action, in: The Aristotelian Society, Suppl. Vol. 49 (1975), S. 9 5 - 1 1 2 ; Michael Taylor, Community, Anarchy and Liberty, Cambridge 1982, S. 140 ff.

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würden diejenigen, die über die größten Fähigkeiten verfügen, also vor allem die Starken und Reichen, die geringste Freiheit besitzen, während umgekehrt die Schwachen und Armen die größte Freiheit hätten. So wäre der Besitzer eines Mercedes durch eine Geschwindigkeitsbeschränkung von, sagen wir, 120 kmh in seiner Freiheit erheblich stärker eingeschränkt als der Fahrer eines Trabi (für den diese Geschwindigkeit ja sowieso unerreichbar ist). Die größte Freiheit hätten dann jene Leute, deren Handlungsvermögen am geringsten ist, etwa Gelähmte, die vollständig an den Rollstuhl gefesselt sind. Das ist absurd.22 Ich glaube, wir müssen einen anderen Weg einschlagen, um den Bereich jener Handlungen zu markieren, an denen sich der Umfang der Freiheit bemißt. Worauf es ankommt, ist nicht in erster Linie die Zahl der Handlungen, die eine Person nach eigenem Willen ausführen kann, sondern vielmehr der Wert, der diesen Handlungen für ihr Wohlergeben und ihre Lebensplanung zukommt. Es ist offensichtlich, daß nicht alle Dinge, die wir tun wollen oder möglicherweise wollen könnten, den gleichen Wert besitzen. So ist es für die meisten Menschen viel wichtiger, öffentlich ihre Meinung äußern zu können als in öffentlichen Warteräumen rauchen zu dürfen. Und im allgemeinen wird man sagen können, daß jemand um so mehr Freiheit hat, über je mehr Handlungsoptionen er verfügt, die einen großen Wert für sein Wohlergehen und seine Lebensgestaltung besitzen. Der Wert von Handlungsmöglichkeiten hängt dabei, so scheint mir, von zwei Faktoren ab: erstens vom Gewicht der allgemein-menschlichen Interessen, die mit ihnen verknüpft sind, und zweitens von der Reichweite der variablen individuellen Ziele, deren Realisierung sie ermöglichen. Allgemein-menschliche Interessen nenne ich jene Strebensziele, die den Menschen weitgehend gemeinsam sind, und zwar deswegen, weil die meisten sie jeweils für sich verfolgen. 23 Sie sind also individuelle, nicht kollektive Interessen. Dazu gehören vor allem die Interessen, die auf die Befriedigung der vitalen Grundbedürfnisse von Menschen gerichtet sind, wie ζ. B. ihres Verlangens nach Nahrung, nach Schutz vor Kälte und Hitze, nach Sicherheit vor fremder Gewalt, nach sexueller Erfüllung, nach sozialer Geborgenheit und Achtung. Auch wenn es zutrifft, daß diese Interessen gesellschaftlich geformt sind und sowohl dem Grade als auch der Richtung nach erheblich variieren, kann doch kaum bestritten werden, daß ihre Befriedigung eine notwendige Bedingung des Wohlergehens, ja in einem gewissen Ausmaß sogar des Uberlebens der Menschen ist. Man kann daher annehmen, daß diese 22

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Für eine andere, m. E. allerdings verfehlte Kritik an der hier zur Debatte stehenden Auffassung siehe Flathman, The Philosophy and Politics of Freedom (Anm. 1), S. 30 ff. Zum Begriff des Interesses siehe Brian Barry, Political Argument, London 1965, S. 176: „Eine Handlung oder eine polidsche Maßnahme ist in jemandes Interesse, wenn sie seine Chance erhöht, zu bekommen, was er will." Davon ausgehend könnte man sagen, eine Handlung oder Maßnahme liege in jemandes grundlegendem Interesse, wenn sie für sein Überleben und Wohlergehen wichtig ist.

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Interessen um so mehr Gewicht haben, je bedeutsamer ihre Befriedigung für das Überleben und Wohlergehen von Menschen ist. Und je gewichtiger die allgemein-menschlichen Interessen sind, die eine Handlung zu befriedigen erlaubt, um so größer ist deren Wert. Neben allgemein-menschlichen Interessen verfolgt jeder Mensch noch viele andere Ziele, die von Person zu Person differieren. Während manche nichts lieber tun, als auf steile Berge zu klettern, ziehen es andere vor, sich auf sicherem Boden der Lektüre schöner Literatur zu widmen. Auch wenn einige dieser Ziele für diejenigen, die sie verfolgen, ebenso wichtig sein mögen wie die Befriedigung ihrer vitalen Bedürfnisse, wird es schwerlich möglich sein, den Wert von Handlungen an solchen subjektiven Präferenzen zu messen, weil diese Präferenzen ja gerade auseinandergehen. Da es jedoch im vernünftigen Interesse jeder Person liegt, einen möglichst großen Spielraum für die Verfolgung ihrer individuellen Ziele zu haben, liegt es nahe, den Wert von Handlungsmöglichkeiten daran zu messen, ob und inwieweit sie es ermöglichen, zwischen verschiedenen Zielen zu wählen und die gewählten Ziele zu verfolgen. Ich möchte dies die Reichweite von Handlungsmöglichkeiten nennen. Die Reichweite einer Handlungsmöglichkeit ist um so größer, je mehr Optionen sie uns eröffnet, zwischen verschiedenen Handlungszielen zu wählen, die für unsere Lebensgestaltung bedeutsam sein könnten. So hat z. B. die Möglichkeit, den Beruf frei zu wählen, eine sehr große Reichweite, weil sie eine Vielzahl verschiedener Optionen bietet, den eigenen Lebensweg selbst zu bestimmen. Es ist es nun möglich, das Konzept der socialen Freiheit etwas genauer zu fassen. Ich schlage die folgende Formulierung vor: Eine Person besitzt soziale Freiheit, wenn und soweit sie nicht durch externe soziale Beschränkungen gehindert ist, nach eigenem Willen zu handeln, sofern sie zumindest in einem gewissen Ausmaß auch über die dafür erforderlichen sozialen Handlungsressourcen verfugt; der Umfang dieser Freiheit hängt dabei davon ab, welche Möglichkeiten sie jener Person bietet, erstens ihre gewichtigen Interessen zu befriedigen und zweitens ihr Leben nach eigenem Belieben zu gestalten.

IV. Das Konzept der bürgerlichen Freiheit Soziale Freiheit verkörpert für viele (wenn auch nicht für alle) Menschen einen eminenten Wert, aus dem sich ihre zentrale Rolle im politischen Denken erklärt. Dieser Wert setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Zum einen hat Freiheit instrumenteilen Wert. Denn insoweit sie es ermöglicht, unsere Ziele und Wünsche zu realisieren, ist sie ein Mittel zum Zweck, dessen Wert davon abhängt, wie viel uns an der Realisierung jener Ziele und Wünsche

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liegt. Zum anderen kommt der Freiheit aber auch ein Eigenwert zu, sofern wir uns als selbstverantwortliche Personen verstehen, die ihrem Leben selber einen Sinn geben, die ihnen angemessene Lebensweise selber bestimmen und ihr Handeln danach ausrichten möchten. Denn unter dieser Bedingung muß uns daran liegen, einen möglichst großen Handlungsspielraum zu besitzen, innerhalb dessen wir zwischen verschiedenen Lebenszielen wählen und die gewählten Ziele verfolgen können, ganz unabhängig davon, für welche Ziele wir uns entscheiden und wieviel Freiheit wir für ihre Verfolgung brauchen. Und insoweit wir Freiheit nicht bloß als ein Mittel zum Zweck, sondern auch als einen Wert in sich betrachten, ist sie ein Gut, das um seiner selbst willen erstrebenswert erscheint und von dem man daher möglichst viel haben möchte. 24 Soziale Freiheit weist damit alle Kennzeichen eines socialen Gutes auf, eines Gutes also, das durch die soziale Ordnung sowohl geschaffen als auch verteilt wird und deswegen der Forderung distributiver Gerechtigkeit unterworfen ist. Kurz: soziale Freiheit ist ein Gut, das einer gerechten Verteilung bedarf. 25 Unter der — heute weithin anerkannten — Annahme, daß alle Menschen von Natur aus gleichwertige Wesen sind, gilt als das Grundprinzip der distributiven Gerechtigkeit das Prinzip der socialen Gleichheit Ihm zufolge haben alle Mitglieder einer Gesellschaft Anspruch auf einen gleichen Anteil an sozialen Gütern, wenn eine ungleiche Verteilung nicht durch allgemein annehmbare Gründe gerechtfertigt erscheint. 26 Doch anders als bei mehreren anderen Gütern, wie etwa sozialen Positionen und wirtschaftlichen Aussichten,

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25

26

Ich folge hier John Rawls, A Theory ofJustice, Cambridge, Mass. 1971, dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1975, S. 229 ff; ders., Die Idee des politischen Uberalismus, Frankfurt/Main 1992, S. 159 ff. Zum Konzept sozialer Güter siehe Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 24), S. 111 ff; Michael Walzer, Spheres of Justice, Oxford 1983, dt.: Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt - New York 1992, S. 30 ff; Peter Koller, Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit, in: H.-J. Koch et al. (Hrsg.), Theorien der Gerechtigkeit, ARSP-Beiheft 56, Stuttgart 1994, S. 7 9 - 1 0 4 . Siehe dazu John Stuart Mill, Utilitarianism, engl. Erstausg. 1871, dt.: Der Utilitarismus, hrsg. von Dieter Birnbacher, Stuttgart 1976, S. 102ff; D.D. Raphael, Equality and Equity, in: Philosophy 21 (1946), wiederabgedruckt in: Raphael, Justice and Liberty, London 1980, S. 1 - 1 7 ; William K. Frankena, The Concept of Social Justice, in: Richard B. Brandt (Ed.), SodaiJustice, Englewood Cliffs, N.J. 1962, S. 1 - 2 9 ; Tony Honoré, Social Justice, in: McGill Law Journal 8 (1962), revidierte Fassung in: Honoré, Making the Law Bind, Oxford 1987, S. 193-214; Hugo A. Bedau, Egalitarianism and the Idea of Equality, in: J. R. Pennock & J. W Chapman (Eds), Equality, New York 1967, S. 1 6 8 - 1 8 0 ; William T. Blackstone, On the Meaning and Justification of the Equality Principle, in: Ethics 77 (1967), S. 239-253; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 24), S. 83; Feinberg, Sodai Philosophy (Anm. 2), S. 99 ff; David Miller, Social Justice, Oxford 1976, S. 24 ff; R. M. Hare, Justice and Equality, in: J. Arthur & W. H. Shaw (Eds), Justice and Economic Distribution, Englewood Cliffs, N.J. 1978, S. 1 1 6 - 1 3 1 ; John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, S. 173 ff; Koller, Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit (Anm. 25), S. 84 f, 91 f.

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scheint es — von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - gute Gründe für eine Ungleichverteilung sozialer Freiheit nicht zu geben.27 Nimmt man all dies zusammen, so ergibt sich die wohlbekannte Forderung, daß alle mündigen Mitglieder einer Gesellschaft einen Anspruch auf die gleiche soziale Freiheit haben, und zwar im weitestgehenden Umfang, in dem sie im Rahmen eines friedlichen und zweckmäßigen sozialen Zusammenlebens für alle möglich ist. Gefordert ist also die eine und ungeteilte Freiheit, d. h. die größtmögliche gleiche Freiheit aller Bürger. Diese Forderung, die sich im Laufe der neuzeitlichen Geschichte nach und nach verbreitet und schließlich durchgesetzt hat, bildet den Kern der heute vorherrschenden Vorstellung gesellschaftlicher Freiheit.28 Ich möchte, einem etwas altmodischen Sprachgebrauch folgend, von bürgerlicher oder politischer Freiheit sprechen.29 Bürgerliche oder politische Freiheit meint also größtmögliche gleiche Freiheit aller Bürger in der Gesellschaft. Anders als die vorher besprochenen Freiheitskonzepte, dient uns die Idee der bürgerlichen Freiheit als ein Maßstab für die Legitimation und Kritik sozialer Ordnungen und hat daher vor allem normative Funktion. Sie verlangt eine soziale Ordnung, die allen Bürgern größtmögliche gleiche Freiheit gewährt, indem sie die Freiheit aller auf den Umfang einschränkt, bei dem die soziale Freiheit jeder Person mit der gleichen Freiheit aller anderen vereinbar ist. Oder in der prägnanten Formulierung Kants: „Recht [d. h. eine gerechte soziale Ordnung, P. K ] ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstim-

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Die Ausnahmen, auf die hier nicht weiter eingehen möchte, betreffen Menschen, die (a) zum Gebrauch der Freiheit nicht fähig sind, wie kleine Kinder und Geistesbehinderte, oder die (b) ihre Freiheit sträflich mißbrauchen, indem sie die Rechte anderer Personen in gravierender Weise verletzen, also schwere Kriminelle. Zur Geschichte und zum Wesen dieser Freiheitsvorstellung siehe z. B. Alexis de Tocqueville, Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789, französ. Erstveröff. 1836, in: Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, hrsg. von Siegfried Landshut, 2. Aufl. Köln 1967; Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main 1961; Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, München 1972; Jürgen Schlumbohm, Freiheitsbeg r i f f und Eman%ipationspro%eß, Göttingen 1973; Werner Becker, Freiheit, die vir meinen, München 1982. Der Ausdruck „politische Freiheit" wird in der Literatur in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht: zum einen in dem hier verwendeten umfassenden Sinn und zum anderen in einem engeren Sinne, wonach er die Freiheit der politischen Betätigung und Mitwirkung bezeichnet. Die erste, umfassendere Verwendung findet sich z. B. bei Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, zuerst 1953, wiederabgedruckt in: H. Kelsen, A. Merkl und A. Verdroß, Die Wiener rechtstheoretische Schute, hrsg. von H. Klecatsky et al., Wien — Salzburg 1968, Bd. 1, S. 631-661; Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, zuerst 1953, in: Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt/Main 1967, S. 7 6 - 1 1 7 ; Nicolas Haines, Freedom and Community, London 1966, S. 141 ff; Blackstone, The Concept of Political Freedom (Anm. 3). In der zweiten, engeren Bedeutung wird der Begriff benutzt z. B. von Benjamin Constant, Uber die Freiheit, hrsg. von Walter Lüthi, Basel 1946; Raymond Aron, Essai sur les libertés, Paris 1965, dt.: Uber die Freiheiten, Frankfurt/Main 1984, S. 88 f.

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mung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist."30 Doch so selbstverständlich uns die Idee der größtmöglichen gleichen Freiheit geworden ist, sie ist alles andere als klar. Zwei Fragen erheben sich: Erstens, was heißt denn eigentlich gleiche Freiheit, wann liegt sie vor? Und zweitens, was ist unter größtmöglicher Freiheit zu verstehen, woran soll sich ihr Umfang bemessen? Ich möchte mich mit diesen Fragen der Reihe nach beschäftigen. Offensichtlich und unbestritten ist zunächst, daß gleiche Freiheit nicht in einem völlig regellosen Zustand menschlichen Zusammenlebens bestehen kann, in dem jeder tun und lassen kann, was er will. Denn in einem solchen Zustand, der dem Hobbesianischen Naturzustand entspricht, hätte man zwar unbeschränkte Freiheit, nach Belieben zu tun, wozu man imstande ist, aber dies schlösse keine Einschränkung der eigenen Freiheit durch andere aus. Ohne Regeln, die das Handeln der Einzelnen begrenzen, bliebe es jedem freigestellt, gegen andere jeden beliebigen Zwang zu gebrauchen, und niemand hätte auch nur die geringste Sicherheit vor fremder Gewalt. Uneingeschränkte Freiheit führt daher, -wie Karl Popper sagte, in ein Paradox: sie hat „das Gegenteil der Freiheit zur Folge; denn ohne Schutz und Einschränkungen durch das Gesetz muß die Freiheit zu einer Tyrannei der Starken über die Schwachen fuhren".31 Wenn jede Person einen geschützten Bereich sozialer Freiheit haben soll, dann muß es sociale Regeln geben, die die Freiheit aller beschränken. Und wenn diese Freiheit für alle die gleiche sein soll, dann muß die Freiheitsbeschränkung durch allgemeine und unpersönliche Regeln erfolgen, die für alle Bürger gleiche Geltung besitzen und durch entsprechende Zwangsmittel erzwungen werden. Denn nur, wenn für alle Bürger dieselben Regeln gelten, die ihnen den Gebrauch von Gewalt und Zwang verbieten, ist jede Person den gleichen externen sozialen Beschränkungen unterworfen und hat daher überall dort, wo sie fehlen, gleiche (negative) Freiheit, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten.32 Bis hierher besteht weitgehende Einigkeit, doch nun scheiden sich die Geister. Umstritten ist vor allem, ob und inwieweit es auch auf die socialen Handlungsressourcen der Personen ankommt, um ihnen gleiche Freiheit zusprechen zu können. Und wieder geht es dabei darum, ob die Forderung gleicher Freiheit eher im negativen oder aber im positiven Sinne verstanden werden 30

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Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Erstveröff. 1793, in: Kant, Werke in %völf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfart/Main 1968, S. 125-172, 144 (A 234). Karl Popper, The Open Society and its Enemies, London 1945, dt.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde, 1. Aufl. 1957, 7. Aufl. Tübingen 1992, Bd. 2, S. 54. Vgl. Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Anm. 9), S. 161 ff; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 24), S. 265 ff.

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soll. Auf der einen Seite vertreten die Exponenten negativer Freiheit, die gewöhnlich einen altbackenen Liberalismus verteidigen, die Ansicht, gleiche Freiheit liege vor, wenn alle Bürger denselben Verhaltensregeln unterliegen, gleichgültig, wie diese Regeln die sozialen Handlungsressourcen verteilen. Ob und in welchem Umfang die Individuen solche Ressourcen besitzen, sei für ihre Freiheit ohne Belang. Auf der anderen Seite meinen die Befürworter eines strikt positiven Freiheitskonzepts, und dazu gehören vor allem radikale Sozialisten, von gleicher Freiheit könne erst dann die Rede sein, wenn alle Beteiligten über die gleichen sozialen Ressourcen verfügen, um ihre jeweiligen Ziele realisieren zu können. Beide Ansichten sind gravierenden Einwänden ausgesetzt, weshalb ich keine für annehmbar halte. Wird Freiheit im negativen Sinne aufgefaßt, so verlangt gleiche Freiheit nicht mehr, als daß die soziale Ordnung die Freiheit aller Bürger vermittels allgemeiner Zwangsregeln gleichermaßen einschränkt. Nach dieser Auffassung wäre gleiche Freiheit mit jeder beliebigen Verteilung der sozialen Handlungsressourcen vereinbar, selbst wenn diese Ressourcen so ungleich verteilt sein sollten, daß einige wenige Personen imstande sind, sich jeden Wunsch zu erfüllen, während alle anderen nicht einmal die Mittel haben, um ihre elementaren Lebensbedürfnisse zu decken. In so einem Fall von gleicher Freiheit zu sprechen, ist jedoch einfach grotesk. Denn eine Freiheit, zu der einem alle Mittel fehlen, ist ohne jeden Wert. Und sofern die Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs so verteilt sind, daß sich die einen alles herausnehmen können, während sich die anderen alles gefallen lassen müssen, kann von gleicher Freiheit keine Rede sein. Wenn es hier eine Freiheit gibt, dann ist es die Freiheit der Füchse im Hühnerhof.33 Geht man hingegen von einem positiven Freiheitskonzept aus, so verlangt gleiche Freiheit zum einen eine gleiche Einschränkung der Freiheit durch allgemeine Zwangsgesetze sowie ferner auch eine Gleichverteilung der socalen Ressourcen, um jeder Person gleiche Möglichkeiten zu bieten, ihr Leben entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen zu gestalten. Um dies zu erreichen, müßte die Gesellschaft freilich nicht nur die Verteilung aller sozialen Güter vollständig kontrollieren, sondern diese Güter auch ohne Rücksicht auf die Beiträge und die Fähigkeiten der Individuen im großen und ganzen gleich verteilen. Eine solche soziale Ordnung hätte jedoch zwei gravierende Defekte: erstens müßte sie, um die geforderte Gleichverteilung der Ressourcen sicherzustellen, das Handeln der Bürger so stark begrenzen, daß diesen nur mehr wenig Freiheit bliebe, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten, und zweitens würde die Nivellierung der Lebensaussichten aller Bür33

Siehe dazu ferner die kritischen Bedenken gegen die negative Freiheit bei Cohen, Capitalism, Freedom and the Proletariat (Anm. 13); Charles Taylor, What's Wrong with Negative Liberty (Anm. 15); Skinner, The Idea of Negative Liberty (Anm. 13).

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ger ungeachtet ihrer Leistungen eine effiziente Gestaltung der sozialen Zusammenarbeit unmöglich machen. 34 Soll die Idee gleicher Freiheit einen annehmbaren Sinn ergeben, so muß sie also einerseits mehr fordern als die Einschränkung der Freiheit aller durch allgemeine Zwangsregeln, andererseits aber weniger als eine vollkommene Angleichung der individuellen Lebenslagen durch die Gleichverteilung der sozialen Ressourcen. Ausgehend von der konditionalen Deutung sozialer Freiheit, die ich früher (unter III) verteidigt habe, möchte ich behaupten, daß die Mitglieder einer Gesellschaft dann gleiche Freiheit haben, wenn sie erstens denselben allgemeinen Verhaltensregeln unterworfen sind und zweitens den ihnen gebührenden Anteil an den sozialen Handlungsressourcen besitzen, ζ. B. an Ausbildung, Kenntnissen, Vermögen und Einkommen; und das ist genau dann der Fall, wenn eine gerechte Verteilung dieser Ressourcen besteht. Gleiche Freiheit erfordert demnach eine soziale Ordnung, die nicht nur die Freiheit aller Bürger durch allgemeine Gesetze beschränkt, sondern auch für eine gerechte Verteilung jener sozialen Güter sorgt, die ein selbstbestimmtes Leben erst möglich machen. 35 Was gerechte Verteilung heißt, darüber gibt es freilich keine Einigkeit. Es ist hier nicht der Platz, die Problematik der sozialen Verteilungsgerechtigkeit im einzelnen zu erörtern. Ich weise nur auf einige allgemeine Dinge hin, über die trotz aller sonstigen Meinungsverschiedenheiten weitgehende Ubereinstimmung besteht. Nach dem heute weithin akzeptierten Grundprinzip der distributiven Gerechtigkeit, dem Prinzip sozialer Gleichheit, haben alle Gesellschaftsmitglieder Anspruch auf einen gleichen Anteil an sozialen Gütern, sofern Ungleichheiten nicht durch allgemein annehmbare Gründe gerechtfertigt sind. Im Unterschied zur negativen Freiheit gibt es jedoch mehrere gute 34

Insoweit stimme ich der liberalen Kritik am positiven Freiheitsbegriff zu; siehe dazu Berlin, Two Concepts of Liberty (Anm. 3), S. 131 ff; Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Anm. 9), S. 12 ff; ähnlich Aron, Uber die Freiheiten (Anm. 29), S. 46 ff; Machlup, Liberalism and the Choice of Freedoms (Anm. 11), S. 124 ff; Feinberg, Sodai Philosophy (Anm. 2), S. 12 ff. Diese Kritik trifft das Konzept positiver Freiheit allerdings nur dann, wenn es zur Interpretadon der Forderung größtmöglicher gleicher Freiheit verwendet wird. Das bedeutet nicht, daß es keine vernünftige Möglichkeit gibt, soziale Freiheit positiv zu deuten. Doch wenn man das tut, dann muß der Grundsatz gleicher Freiheit aufgegeben und durch einen anderen Grundsatz ersetzt werden, z. B. durch einen, der die Maximierung der positiven Freiheit aller postuliert. Eine solche Konzeption positiver Freiheit wird vertreten von Crocker, Positive Liberty (Anm. 12), S. 66 ff.

35

So vor allem auch Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, l.dt. Ausg. 1932, 2. neu bearb. dt. Ausg. Bonn - Bad Godesberg 1962. Myrdal zufolge hat die Tradition des Wirtschaftsliberalismus von Anfang an mit der - meist stillschweigenden - Unterstellung operiert, daß die Marktökonomie von einer gerechten Anfangsverteilung der Güter ausgeht und eine gerechte Güterverteilung generiert. Siehe dazu ferner Raphael, Justice and Liberty, London 1980, S. 33 ff; Fred Hirsch, Sodai Limits to Growth, Cambridge, Mass. 1976, dt.: Die socialen Grenzen des Wachstums, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 216 ff.

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Gründe, die eine Ungleichverteilung der sozialen Ressourcen bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen vermögen, nämlich vor allem die folgenden: die Berücksichtigung ungleicher Leistungen, Beiträge und Verdienste, insoweit dies notwendig scheint, um geeignete Leistungsanreize für eine effiziente soziale Zusammenarbeit bereitzustellen; ferner die Befriedigung dringlicher Bedürfnisse von Personen, sofern sie offensichtlich sind; und die Wahrung wohlerworbener Rechte, insoweit dies für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung oder für eine effiziente Wirtschaftsordnung im Interesse aller erforderlich ist. 36 Freilich ist damit über das Ausmaß der sozialen Ungleichheiten, die sich rechtfertigen lassen, noch gar nichts gesagt. Aber es geht daraus immerhin soviel hervor, daß die Gerechtigkeit nicht notwendig eine gleiche, sondern eine solche Verteilung sozialer Ressourcen verlangt, die aus unparteiischer Sicht bei gleicher Berücksichtigung der Interessen jeder Person dem wohlerwogenen Interesse aller Beteiligten entspricht. Und da eben darin die gleichwertige Behandlung von Personen besteht, kann man sagen, daß gleiche Freiheit zwar nicht notwendigerweise eine gleiche, aber doch eine gerechte Verteilung sozialer Ressourcen zur Voraussetzung hat. Nimmt man alles zusammen, so kann nun gleiche Freiheit wie folgt charakterisiert werden: Die Bürger einer Gesellschaft besitzen gleiche Freiheit, wenn sie in ihrem Handeln durch allgemeine und unpersönliche Verhaltensregeln gleichermaßen eingeschränkt sind, sofern sie außerdem über einen gerechten Anteil an den sozialen Handlungsressourcen verfugen.

V. Umfang und Grenzen bürgerlicher Freiheit Es ist offensichtlich, daß die gleiche Freiheit aller Bürger allein noch nicht deren größtmögliche Freiheit garantiert, weil der Umfang der gleichen Freiheit größer oder kleiner sein kann. Damit erhebt sich die Frage, auf welchen Umfang das Handeln der Menschen begrenzt werden muß, um jeder Person die weitestgehende Freiheit zu gewähren, die mit der gleichen Freiheit aller anderen vereinbar ist. Kants Ansicht war, wie sein oben zitiertes Rechtsprinzip belegt, die soziale Ordnung müsse die Freiheit der Bürger gerade soweit einschränken, daß deren jeweilige Freiheiten zusammenstimmen', d. h. zu keinen Widersprüchen führen. Es ist zwar alles andere als klar, wie das genau zu verstehen ist, aber eine einigermaßen plausible Interpretation, die sehr gut mit Kants

36

Siehe dazu die näheren Ausführungen bei Koller, Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit (Anm. 25); und ders., Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Hans-Peter Müller u. Bernd Wegener (Hrsg.), Sociale Ungleichheit und sociale Gerechtigkeit, Opladen 1995, S. 53 — 79.

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Eigentumslehre zusammenpaßt 37 , scheint mir die folgende zu sein: Die Freiheiten von Personen stimmen zusammen, wenn sie diesen Personen keine Handlungen erlauben, die einander ausschließen, d. h. nicht gleichzeitig realisiert werden können. Ich nenne dies das Kriterium der Nichtausschließung. Es sei an einem einfachen Beispiel illustriert. Hätten alle Personen die Freiheit, Dinge der äußeren Umwelt, ζ. B. Land, nach Belieben in Besitz zu nehmen und zu gebrauchen, so wären ihnen Handlungen erlaubt, die einander ausschließen, weil es unmöglich ist, daß verschiedene Personen gleichzeitig ein und dieselbe Sache benutzen können. Aus diesem Grunde hält es Kant für notwendig, Eigentumsrechte an den Dingen der äußeren Umwelt zu schaffen, durch die bestimmten Personen die alleinige und ausschließliche Befugnis eingeräumt wird, über solche Dinge nach Belieben zu verfügen. Befindet sich jedes Ding im Eigentum einer Person, die als einzige darüber verfügen darf, so steht es verschiedenen Personen nicht mehr frei, Handlungen auszuführen, die einander ausschließen. Damit ist ein Zustand erreicht, der dem Kriterium der Nichtausschließung genügt. Dieses Kriterium hat sicher einiges für sich, aber es reicht allein zur Begrenzung der Freiheit nicht aus. Es ist nämlich nicht geeignet, die zahlreichen negativen Effekte zu erfassen, die viele Handlungen für andere Personen haben, ohne aber mit deren Handlungsabsichten in einem Ausschließungsverhältnis zu stehen. So würde die Freiheit jeder Person, ihre Umgebung nach Belieben durch exzessives Rauchen zu belästigen, ohne weiteres dem Kriterium der Nichtausschließung genügen, da mein Rauchen ja niemanden daran hindert, selber von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. Dennoch wäre es sicher nicht wünschenswert, wenn jeder unbeschränkte Freiheit hätte, überall ohne Rücksicht auf andere zu rauchen, weshalb gewisse Einschränkungen dieser Freiheit erforderlich erscheinen. Infolgedessen ist das Kriterium der Nichtausschließung für sich allein zu schwach, um die Grenzen größtmöglicher gleicher Freiheit angemessen zu bestimmen. Sein entscheidender Mangel liegt meines Erachtens darin, daß es ein vollkommen formales Kriterium ist, mit dem es möglich sein soll, das größtmögliche Ausmaß der Freiheit auf rein mechanische Weise zu bestimmen, ohne eine Bewertung der Folgen von Handlungen im lichte menschlicher Interessen und Zwecke vornehmen zu müssen. Doch so schön es wäre, ein solches Kriterium zu haben, es kann nicht funktionieren. Denn da nahezu alles menschliche Handeln indirekte Auswirkungen auf andere Personen hat, läßt sich der angemessene Umfang sozialer Freiheit ohne eine Bewertung und Abwägung der Folgen ihres Gebrauchs nicht bestimmen. 38 37

38

Siehe dazu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erstausg. 1797, in: Kant, Werke in ·ηνόξ Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt/Main 1968, S. 353 ff. Vgl. Peter Koller, Zur Kritik der Kantischen Konzeption von Freiheit und Gerechtigkeit, in: W. L. Gombocz et al. (Hrsg.), Traditionen und Perspektiven der analytischen Philosophie, Wien 1989, S. 54-69.

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Ein Kriterium, das dieser Anforderung Rechnung trägt, hat John Stuart Mill mit seinem Prinzip der Freiheit angeboten. Dieses Prinzip besagt, „daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten". 39 Daraus ergibt sich das folgende Kriterium größtmöglicher Freiheit, welches man als das Kriterium der Nichtschädigung bezeichnen kann: Eine Beschränkung der Freiheit ist nur dann und insoweit zulässig, wenn sie erforderlich ist, um Handlungen zu unterbinden, die eine Schädigung anderer Personen zur Folge haben. Die Implikationen dieses Kriteriums hängen freilich davon ab, was unter einer ,Schädigung anderer Personen' zu verstehen ist. Wäre damit jede Art von negativen Folgen gemeint, so wäre das Kriterium der NichtSchädigung viel zu stark. Denn da fast jedes Handeln unerwünschte Auswirkungen auf andere haben kann, würde es sehr weitgehende Beschränkungen der Freiheit rechtfertigen. Würde man alles verbieten, was anderen nicht gefällt, so bliebe nicht mehr viel Freiheit übrig. Es macht daher wenig Sinn, das Kriterium in diesem starken Sinn zu verstehen. Liegt hingegen eine .Schädigung' erst vor, wenn die negativen Auswirkungen ein erhebliches Ausmaß erreichen, so stellt sich die Frage, wann eine Schädigung erheblich genug ist, um eine Einschränkung der Freiheit zu rechtfertigen. 40 Doch darauf gibt das Kriterium der NichtSchädigung keine Antwort. So verstanden, ist es zu schwach, um ein brauchbares Maß für den Umfang größtmöglicher Freiheit zu liefern. Das Kriterium bringt also nur soviel zum Ausdruck, daß die gleiche Freiheit aller jedenfalls dann nicht eingeschränkt werden darf, wenn ihr Gebrauch entweder gar keine oder zumindest keine erhebliche Schädigung anderer zur Folge hat. 41 Ich möchte ein anderes Kriterium vorschlagen, dem die folgende Überlegung zugrundeliegt: Da die meisten Handlungen, die die Menschen ausführen wollen, nicht nur die handelnden Personen selbst, sondern auch andere berühren, zieht die Gewährleistung jeder Freiheit stets sowohl erwünschte als auch unerwünschte Folgen nach sich. Soweit die Folgen des allgemeinen Ge39 40

41

Mill, Über die Freiheit (Anm. 9), S. 16. Vgl. Robert Paul Wolff, The Poverty of Liberalism, Boston 1980, dt.: Das Elend des Liberalismus, Frankfurt/Main 1969, S. 28 ff. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß natürlich auch Rawls irgendein Kriterium braucht, um den Umfang der einzelnen Grundfreiheiten im Rahmen des „umfangreichsten" bzw. eines „vollkommen adäquaten" Systems gleicher Grundfreiten, wie sein erster Grundsatz dies fordert, zu bestimmen; siehe dazu etwa die Ausführungen bei Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus (Anm. 24), S. 203 ff. Aber da es mir bisher nicht gelungen ist, dieses Kriterium in Rawls' ebenso komplizierten wie kryptischen Darlegungen ausfindig zu machen, möchte ich mich hier nicht weiter darauf einlassen. Siehe dazu aber die eingehende Kritik von Onora O'Neill, The Most Extensive Liberty, in: Proceedings of the Aristotelian Society 80 (1979/80), S. 4 5 - 5 9 .

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brauchs einer Freiheit den betroffenen Personen erwünscht sind, seien sie der Kürze halber als Nutzen, soweit sie unerwünscht sind, als Kosten der Freiheit bezeichnet. Ebenso hat aber auch jede Beschränkung der Freiheit zugleich erwünschte und unerwünschte Folgewirkungen: als erwünscht wird man vor allem die Vermeidung negativer Effekte fremden Handelns betrachten, als unerwünscht aber die Tatsache, daß man durch Zwangsdrohungen gehindert ist, bestimmte Dinge zu tun, die man andernfalls gern getan hätte. Die erwünschten Wirkungen von Freiheitsbeschränkungen sollen wiederum kurz als deren Nutzen, die unerwünschten Auswirkungen als ihre Kosten bezeichnet werden. Um den angemessenen Umfang gleicher Freiheit festzulegen, ist nun zwischen den folgenden Größen abzuwägen: den Nutzen und Kosten verschiedener Grade der Freiheit einerseits und den Nutzen und Kosten der Einschränkung dieser Freiheitsgrade andererseits. Da der Nutzen der Freiheit, bestimmte Dinge zu tun, einen Teil der Kosten der Beschränkung dieser Freiheit bildet, und da umgekehrt auch der Nutzen einer Freiheitsbeschränkung in den Kosten der unbeschränkten Freiheit enthalten ist, können wir die Sache vereinfachen, indem wir die Nutzen der Freiheit wie auch ihrer Beschränkung in deren Kosten aufgehen lassen. Es genügt also, die Kosten verschiedener Grade der Freiheit mit den Kosten ihrer Beschränkung zu vergleichen und sie gegeneinander abzuwägen. Um zu allgemein annehmbaren Ergebnissen zu kommen, ist dabei eine unparteiische Perspektive einzunehmen, unter der die Interessen aller Betroffenen gleiche Berücksichtigung finden. Im allgemeinen kann angenommen werden, daß die Kosten gleicher Freiheit umso größer sind, je größer deren Umfang ist, weil ihr Gebrauch umso mehr negative Effekte auf andere Personen haben wird. Die zusätzlichen Kosten einer Freiheit größeren Umfangs gegenüber den Kosten einer Freiheit geringeren Umfangs seien in Anlehnung an die Sprache der Wirtschaftstheorie die Gren^kosten der größeren Freiheit genannt. So kann man die Vermehrung der Unfallschäden und Schadstoffemissionen, die eine Anhebung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Autostraßen um 10 km/h mit sich bringt, als Grenzkosten der Freiheit betrachten, 10 km/h schneller zu fahren. Da ein zunehmendes Maß an Freiheit immer mehr Handlungen zuläßt, die negative Folgen für andere haben, kann man davon ausgehen, daß mit einem wachsenden Umfang an Freiheit deren Grenzkosten in der Regel stärker ansteigen als ihre Gesamtkosten. So hat, unter sonst gleichartigen Umständen, eine Anhebung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 90 auf 100 km/h gewöhnlich eine größere Vermehrung von Unfallschäden und Schadstoffemissionen zur Folge als eine Steigerung von 50 auf 60. Umgekehrt ist ebenfalls anzunehmen, daß Beschränkungen der Freiheit mit um so höheren Kosten verbunden sind, je weiter sie die Freiheit einschränken. Dies aus zwei Gründen: erstens weil sie die Möglichkeiten des selbstbestimmten Handelns immer weiter einengen, und zweitens weil wachsende Kontrollmaßnahmen erforder-

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lieh sind, um den zunehmenden Beschränkungen Geltung zu verschaffen. Die Grenzkosten einer weitergehenden Beschränkung der Freiheit gegenüber einer geringeren ergeben sich wiederum aus der Differenz zwischen den Kosten beider Beschränkungen. So können die Zeitverluste, die zusätzlichen Überwachungsmaßnahmen und eine allfällige Verminderung des Fahrvergnügens, die mit einer Reduktion der Höchstgeschwindigkeit um 10 km/h verbunden sind, als die Grenzkosten dieser Reduktion betrachtet werden. Und wie schon bei den Kosten der Freiheit gilt auch hier, daß die Grenzkosten jeder weiteren Beschränkung der Freiheit in der Regel rascher steigen als ihre Gesamtkosten. Unter diesen Voraussetzungen scheint es vernünftig, den Umfang der größtmöglichen Freiheit auf jenes Ausmaß zu begrenzen, bei dem Gesamtkosten der Freiheit und ihrer Beschränkung möglichst gering sind, und das ist dort, wo die Grenzkosten der Freiheit die Grenzkosten ihrer Beschränkung zu überschreiten beginnen, wo also beide gleich groß sind. Daraus ergibt sich das folgende Kriterium, das ich das Kriterium der Kostenminimierung nenne: Die Freiheit aller Bürger erreicht dort ihren größtmöglichen Umfang und muß daher dort ihr Ende finden, wo die Grenzkosten einer Freiheit, bestimmte Dinge nach Belieben zu tun, und die Grenzkosten einer weitergehenden Beschränkung dieser Freiheit sich die Waage halten, d. h. gleich hoch sind. 42 Ich möchte die Anwendung dieses Kriteriums an einem einfachen Beispiel kurz illustrieren. Hätte jedermann die unbeschränkte Freiheit, auf städtischen Straßen so schnell zu fahren, wie es ihm beliebt, so entstünden keine Beschränkungskosten, aber die Kosten des allgemeinen Gebrauchs dieser Freiheit wären sehr hoch: es gäbe viele Unfälle, die sich durch eine Reduktion der Geschwindigkeit leicht vermeiden ließen, man könnte sich auf städtischen Straßen niemals sicher fühlen, die Bewohner wären einer starken Lärmbelästigung ausgesetzt und die Verschmutzung der Luft durch Schadstoffemissionen würde beträchtlich steigen. Wäre das Fahren in städtischen Gebieten hingegen in rigider Weise begrenzt, z. B. durch zahlreiche Fahrverbote und durch ein generelles Geschwindigkeitslimit von 10 km/h, so wären zwar die Kosten der verbleibenden Freiheit gering, aber die Kosten der Beschränkung würden ein erhebliches Ausmaß erreichen: die Leute würden in städtischen Gebieten kaum mehr mit dem Auto fahren können, ihre Einbußen an Zeit und Bequemlichkeit wären enorm, in den Hauptverkehrsadern würde es zu ständigen Verkehrsstauungen kommen und die Durchsetzung der rigiden 42

Das Kriterium der Kostenminimierung ist durch verschiedene Überlegungen ähnlicher Art inspiriert, die vor allem im Rahmen der Umweltökonomie angestellt wurden; siehe dazu Lutz Wicke, Umweltökonomie, München 1982, 208 ff, insbes. 232 ff. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Joel Feinberg, The Interest in Liberty on the Scales, in: A. J. Goldman & J. Kim (Eds), Values and Morals, Dordrecht 1978, wiederabgedruckt in: Feinberg, Rights, Justice, and the Bounds of Liberty, Princeton, N.J. 1980, S. 30 - 44.

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Verkehrsbeschränkungen würde einen erheblichen Einsatz an Kontrollmaßnahmen erfordern. Da beide Extremvarianten kaum sinnvoll scheinen, liegt es nahe, eine mittlere Lösung zu suchen, die die unerwünschten Effekte des städtischen Autoverkehrs wie auch seiner Begrenzung soweit wie möglich verringert. Zu diesem Zweck muß auf der einen Seite das Fahren auf städtischen Straßen so weit beschränkt werden, bis die Kosten einer weiteren Beschränkung die negativen Folgen jener Handlungen, die durch die Beschränkung verhindert werden sollen, zu überschreiten beginnen. Auf der anderen Seite wäre es jedoch auch nicht vernünftig, dem Autoverkehr Beschränkungen aufzuerlegen, deren Kosten die unerwünschten Folgen des Verkehrs überwiegen. Schon dieses Beispiel dürfte deutlich machen, daß das Kriterium der Kostenminimierung weder einfach anzuwenden ist, noch immer zu eindeutigen Ergebnissen führt. Seine Anwendung setzt nämlich diverse weitere Annahmen voraus, über die es unterschiedliche Auffassungen geben kann. Erstens sind entsprechende empirische Annahmen über die voraussichtlichen Auswirkungen der jeweils in Betracht stehenden Handlungsweisen wie auch ihrer Einschränkung vonnöten; aber diese Auswirkungen sind oft nicht genau bekannt und umstritten. Zweitens ist es erforderlich, eine Bewertung der erwarteten Auswirkungen der jeweils möglichen Verhaltensregeln vorzunehmen, um die mit ihnen verbundenen Kosten abschätzen zu können; und auch darüber wird es häufig keine Einigkeit geben. Drittens schließlich sind diese Kosten von einem unparteiischen Standpunkt aus miteinander abzuwägen, von dem aus die Interessen aller betroffenen Personen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen; doch das ist nicht leicht und es wird bei allem Bemühen stets nur bis zu einem gewissen Grade gelingen. Angesichts dieser vielfältigen Quellen von Meinungsdivergenzen ist es wenig wahrscheinlich, daß eine rationale Einigung über den rechten Umfang bürgerlicher Freiheit in jedem Falle möglich ist. Wenn über die genannten Annahmen keine Einigkeit besteht, so hilft auch das Kriterium der Kostenminimierung nicht weiter. Doch ich sehe keine Möglichkeit, den Umfang und die Grenzen der bürgerlichen Freiheit anders als durch eine Folgenabwägung zu bestimmen. Wo diese Grenzen im einzelnen zu ziehen sind, kann daher nicht aufgrund abstrakter philosophischer Überlegungen, sondern nur durch eine inhaltliche Diskussion konkreter Fälle entschieden werden. Das Kriterium der Kostenminimierung gibt aber immerhin den Weg der Argumentation an, der beschritten werden sollte, um diese Diskussion einigermaßen rational zu führen. Trotz aller dieser Vorbehalte möchte ich behaupten, daß das Kriterium der Kostenminimierung unter gewissen Bedingungen zu eindeutigen Ergebnissen führt. Das ist dann der Fall, wenn 1. die voraussichtlichen Folgen der verschiedenen möglichen Regelungen ziemlich offensichtlich sind, 2. über die Bewertung dieser Folgen weitgehende Übereinstimmung herrscht, und wenn

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3. die Abwägung zwischen den Kosten der Freiheit und jenen ihrer Beschränkung zeigt, daß eine Seite die andere ganz deutlich überwiegt. Sind alle diese Bedingungen erfüllt, besteht für Meinungsdifferenzen wenig Raum, und das Kriterium läßt dann eine klare Schlußfolgerung darauf zu, daß bestimmte Handlungweisen entweder freigestellt bleiben oder verboten werden sollten. Daß sich auf diese Weise vor allem jene Freiheiten begründen lassen, die wir Grundfreiheiten nennen, werde ich nun zum Abschluß zu zeigen versuchen.

VI. Die Begründung der Grundfreiheiten Grundfreiheiten sind spezielle Freiheiten, von denen angenommen wird, daß sie jeder Person zukommen und deswegen, weil sie für das Wohlergehen und die Lebenschancen der Menschen grundlegende Bedeutung haben, eines besonderen Schutzes bedürfen. Als solche Freiheiten werden gewöhnlich vor allem die folgenden angesehen: die Freiheit der Person (Bewegungsfreiheit und Schutz vor willkürlicher Festnahme), Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs- und Redefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit der politischen Betätigung und in einem gewissen Ausmaß auch die wirtschaftliche Freiheit (also Eigentums- und Vertragsfreiheit).43 Um eine Grundfreiheit zu begründen, ist zu zeigen, daß sie eine grundlegende Freiheit ist, die jede Person haben sollte und außerdem einen besonderen rechtlichen Schutz verdient. Ich möchte zuerst die allgemeine Form der Begründung skizzieren und dann einige Grundfreiheiten besprechen. Die Begründung kann in zwei Teile zerlegt werden. Erstens ist der Nachweis zu führen, daß die betreffende Freiheit eindeutig innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Freiheit liegt, auf die jede Person berechtigten Anspruch hat. Gemäß dem Kriterium der Kostenminimierung ist das dann der Fall, wenn die Grenzkosten jener Freiheit deutlich geringer sind als die Grenzkosten einer weitergehenden Freiheitsbeschränkung. Nun gibt es aber zahllose Freiheiten, die diese Bedingung erfüllen, wie z. B. die Freiheit, sich von Zeit zu Zeit am Kopf zu kratzen, beim Sitzen die Beine übereinanderzuschlagen, und dergleichen mehr. Denn in allen diesen Fällen sind die negativen Folgen davon, daß jeder diese Dinge tun darf, vollkommen harmlos, während es ziemlich schlimm wäre, wenn sie einem verwehrt wären. Da also die Kosten dieser Freiheiten durch die Kosten ihrer Einschränkung bei weitem überwoZur Geschichte und Systematik der Grundfreiheiten siehe: Roscoe Pound, The Development of Constitutional Guarantees of Liberty, New Haven 1957; Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1. Aufl. 1975, 2. Aufl. Opladen 1980, S. 104 ff; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, BadenBaden 1985.

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gen werden, sollte jeder die Freiheiten haben. Aber das allein macht sie noch nicht zu Grundfreiheiten. Diese sind besonders wichtige, eben grundlegende Freiheiten, weil sie entweder der Sicherung gewichtiger menschlicher Interessen dienen oder jeder einzelnen Person einen breiten Spielraum des Handelns eröffnen, innerhalb dessen sie zwischen verschiedenen Zielen wählen und die gewählten Ziele verfolgen kann. Und dies läßt es erforderlich erscheinen, ihnen einen besonderen Schutz angedeihen zu lassen, indem jeder Person ein Recht auf diese Freiheiten eingeräumt wird, das zumindest bis zu einem gewissen Grade Vorrang nicht nur vor entgegenstehenden Interessen der Herrschenden, sondern auch vor Gesichtspunkten der kollektiven Nützlichkeit hat und deshalb der Disposition einfacher Mehrheitsentscheidungen entzogen bleiben sollte. Um eine Grundfreiheit zu begründen, ist daher zweitens zu zeigen, daß sie eine grundlegende Freiheit darstellt, der vor anderen Interessen und Freiheiten Priorität zukommen sollte. Soviel zur allgemeinen Struktur der Begründung. Ich werde nun einige der oben genannten Grundfreiheiten betrachten und untersuchen, ob und inwieweit sie in dieser Weise begründet werden können. Freiheit der Person: Daß das Interesse jedes Menschen, Schutz vor gewaltsamen Angriffen und willkürlichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu haben, eines der gewichtigsten Interessen ist und daß die persönliche Freiheit daher eine grundlegende darstellt, ist evident und bedarf keiner weiteren Begründung. 44 Aus unparteiischer Perspektive ist ebenso offensichtlich, daß der Genuß dieser Freiheit im allgemeinen keine gravierenden negativen Folgen nach sich zieht, während ihre Einschränkung, von gewissen Ausnahmen abgesehen, ganz beträchtliche Kosten, nämlich sowohl individuelle wie auch soziale Nachteile, zur Folge hat. Wenn eine soziale Ordnung auch nur ein Minimum an Freiheit gewährleisten soll, dann muß sie deshalb jeder Person einen ausreichenden Schutz von Leib und Leben und Sicherheit gegen willkürliche Behinderungen der Bewegungsfreiheit bieten. Dazu sind zum einen entsprechende allgemeine Verhaltensregeln erforderlich, die gewaltsame Angriffe gegen andere verbieten. Insoweit es zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung einer staatlichen Autorität bedarf, und dieser Bedarf ist wenigstens in entwickelten Gesellschaften zweifellos gegeben, sind ferner geeignete rechtliche Vorkehrungen dagegen vonnöten, daß diese Autorität ihre Befugnisse mißbraucht, indem sie den Bürgern den Schutz der persönlichen Freiheit versagt oder gar selbst in diese Freiheit eingreift, sei es zum Zwecke der Machterhaltung der Herrschenden oder in Verfolgung vermeintlicher allgemeiner Interessen. Es ist also Vorsorge dafür zu treffen, daß Eingriffe des Staates in die persönliche Freiheit der Menschen auf solche Maßnahmen

44

Siehe dazu Martin Kriele, Habeas Corpus als Urgrundrecht, in: Kriele, Recht — Vernunft — Wirklichkeit, Berlin 1990, S. 71 - 9 5 .

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begrenzt bleiben, die zweckmäßig und notwendig sind, um die Freiheiten und Rechte aller wirksam zu sichern. Glaubens- und Gewissensfreiheit. Daß diese Freiheit grundlegend ist, ist wohl kaum zu bezweifeln. Sie zu haben, liegt sicher im elementaren Interesse jedes Menschen, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil diese Freiheit es jeder Person ermöglicht, ihre Glaubenseinstellung frei zu wählen und sie gegebenenfalls auch zu ändern; und zweitens, weil die meisten Personen, die einem religiösen oder weltanschaulichen Glauben anhängen, besonderen Wert darauf legen, sich zu diesem Glauben öffentlich bekennen und ihn gemeinsam mit anderen praktizieren zu können.45 Sofern sich die Anhänger verschiedener Glaubenshaltungen gegeneinander tolerant verhalten, hat die Glaubensund Gewissensfreiheit aus unparteiischer Sicht auch keine gravierenden negativen Folgen, wogegen ihre Einschränkung ganz erhebliche Verluste verursacht. Solange eine Glaubensgemeinschaft sich nicht das Recht anmaßt, andere Auffassungen gewaltsam zu bekämpfen oder zu verfolgen, dürften sich darum Einschränkungen dieser Freiheit schwerlich rechtfertigen lassen. Wenn irgendwo, dann ist gerade hier ein weitgehendes Maß an individueller Selbstbestimmung möglich, ohne mit der gleichen Freiheit anderer in Konflikt zu geraten. Weil aber religiöse und weltanschauliche Vorstellungen nicht nur für die individuelle Lebensgestaltung, sondern gerade auch für die Legitimation politischer Ordnungen enorme Bedeutung besitzen, sind Glaubensgemeinschaften und politische Mächte immer wieder der Versuchung ausgesetzt, ein Monopol des von ihnen für wahr gehaltenen Glaubens zu errichten und abweichende Uberzeugungen zu unterdrücken. Und dieser Umstand macht es erforderlich, die Glaubens- und Gewissensfreiheit durch entsprechende subjektive Rechte der Individuen besonders zu schützen. Meinungs- und Redefreiheit: Das Bestreben der Menschen, ihre Gedanken und Meinungen frei äußern zu können, ist zum einen Ausdruck ihres Selbstverständnisses als selbständig denkender Personen, zum anderen aber auch ein unentbehrliches Mittel der menschlichen Verständigung, des Wissenserwerbs, der sozialen Konfliktbewältigung und der politischen Meinungsbildung. Die Meinungs- und Redefreiheit liegt daher ohne jeden Zweifel im grundlegenden Interesse jedes Menschen. Wenn die Äußerung von Meinungen im Rahmen der gewöhnlichen Formen menschlicher Rede stattfindet, gilt für die Meinungsfreiheit im wesentlichen das gleiche wie für die Glaubensfreiheit: es gibt wenig Grund, sie weiter einzuschränken, als es erforderlich ist, um andere vor Beleidigungen und Verunglimpfungen zu schützen; da das freie Wort den Mächtigen nicht immer angenehm ist, bedarf es ferner

45

Zur Geschichte und rechtlichen Deutung dieser Freiheit siehe Reinhold Zippelius, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft; Berlin 1994, S. 2 5 6 - 2 7 5 .

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entsprechender rechtlicher Maßnahmen, um die Freiheit der Rede gegen staatliche Bevormundung zu sichern. 46 Die Sache ist etwas komplizierter, wenn es um die öffentliche Verbreitung von Meinungen und Standpunkten im Wege der hierfür geeigneten Medien, etwa durch Massenveranstaltungen oder durch Presse und Rundfunk, geht. Denn erstens setzt diese Art der Meinungskundgabe Mittel voraus, die nicht jedem zur Verfügung stehen, und zweitens kann sie, wenn ihr keine Grenzen gesetzt sind, schädliche Folgen gravierenden Ausmaßes haben, vor allem dann, wenn die Meinungsäußerung zum Zweck der massenwirksamen Propaganda oder der politischen Demagogie verwendet wird. Aus dem ersten Umstand ergibt sich das Erfordernis, die Bildung von Meinungsmonopolen zu unterbinden und den Zugang zu den Medien der öffentlichen Meinungsäußerung offenzuhalten, ζ. B. durch rechtliche Regelungen, die den Gebrauch und die Zirkulation der kleinen, weniger kostspieligen Medien möglichst leicht machen, während sie die größeren, kapitalintensiven Medien zu einem entsprechenden Meinungspluralismus verpflichten. Der zweite Umstand macht es dagegen erforderlich, daß der öffentlichen Meinungsäußerung auch gewisse inhaltliche Schranken gesetzt werden, etwa durch das Verbot, zu Haß und Gewalt gegen andere Menschen aufzurufen. 47 Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit Die Freiheit, sich mit anderen zu versammeln oder zu Vereinen zusammenzuschließen, hat ohne Zweifel ganz erheblichen Wert, weil sie den Menschen nicht nur eine Vielzahl von gemeinschaftlichen Aktivitäten gestattet, die ihren Zweck in sich selber tragen, sondern ihnen auch die Möglichkeit eröffnet, zusammen bestimmte gemeinsame Interessen oder politische Ziele zu verfolgen. Und insoweit diese Freiheit begründet ist, braucht sie gewiß auch besonderen Schutz, um der Unterdrükkung von Koalitionen vorzubeugen, die den Herrschenden oder anderen mächtigen Gruppen unerwünscht sind. Solange die gemeinschaftlichen Aktivitäten nicht mit erheblichen negativen Folgen für andere verbunden sind, gibt es für Einschränkungen der Koalitionsfreiheit, die über die notwendigen Maßnahmen der OrdnungsSicherung hinausgehen, keinen annehmbaren Grund, weil die Kosten solcher Beschränkungen jene der Freiheit in jedem Falle bei weitem überwiegen würden. Aber ähnlich wie bei der Meinungsfreiheit ist die Sache nicht mehr so einfach, wenn wir es mit großen und mächtigen Organisationen zu tun haben, die auf die öffentliche Meinung und die politische Entscheidungsfindung massiven Einfluß ausüben können. Wie46

47

Diese Argumentationslinie steht im großen und ganzen im Einklang mit der Verteidigung der Meinungsfreiheit von J. St. Mill, Über die Freiheit (Anm. 9), S. 24 ff. Siehe dazu Harold J Laski, Liberty in the Modern State, 1. Aufl. 1930, 2. Aufl. New York 1949, S. 72 ff.; Ernst-Wolfgang Bökenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in: Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/Main 1976, S. 336-348; Dieter Grimm, Soziale Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Gewährleistungen der Meinungsfreiheit, in: Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main 1987, S. 232-263.

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derum gilt es zu beachten, daß nicht alle Gruppen gleiche Möglichkeiten besitzen, sich zu organisieren, und daß kollektives Handeln Formen annehmen kann, die schwere Beeinträchtigungen für andere zur Folge haben. Aus diesen Gründen besteht auch hier Bedarf nach Regelungen, die einerseits die Koalitionsbildung erleichtern und andererseits dem Machtstreben organisierter Gruppen Grenzen setzen. 48 Wirtschaftliche Freiheit: Die Freiheit, möglichst unbehindert Eigentum zu erwerben, darüber nach Belieben zu verfügen und es vermittels freiwilliger Transaktionen an andere weiterzugeben, wird von vielen für eine ganz wichtige Grundfreiheit gehalten. 49 Dies aus zwei Gründen: erstens, weil sie jedem Einzelnen ein weitgehendes Maß an Unabhängigkeit verschafft, und zweitens, weil sie eine unabdingbare Voraussetzung einer Marktwirtschaft ist, welche ihrerseits erst eine effiziente Produktion und Allokation ökonomischer Güter möglich macht. Doch im Unterschied zu anderen Grundfreiheiten war die wirtschaftliche Freiheit stets heftig umstritten. Ein Grund dafür liegt darin, daß sie entsprechend der Lehre des Wirtschaftsliberalismus oft so verstanden wurde, als ob sie ein völlig uneingeschränktes Recht auf Eigentum verlange: Jeder müsse die Freiheit besitzen, Dinge jeder Art — Gebrauchsgüter und Produktionsmittel — in jeder beliebigen Menge in sein Eigentum zu erwerben und darüber ohne Beschränkungen zu verfügen, ohne allerdings einen positiven Anspruch auf irgendein Eigentum zu haben. In einer wachsenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die zu einer zunehmenden Konzentration des Kapitals führt und immer mehr Menschen vom Besitz an Produktionsmitteln ausschließt, ist diese Auffassung wirtschaftlicher Freiheit aber in der Tat nichts anderes als eine Ideologie der besitzenden Klasse. 50 Entgegen der liberaüstischen Auffassung kann wirtschaftliche Freiheit schon deswegen nicht in einer unbeschränkten Freiheit des Eigentumserwerbs und des Vertragsverkehrs bestehen, weil jede wirtschaftliche Betätigung nicht nur gewisse natürliche Fähigkeiten, sondern stets auch den Gebrauch knapper Ressourcen voraussetzt, die zum Teil von der Natur bereitgestellt werden, zum Teil das Ergebnis menschlicher Arbeit sind. In jedem Falle 48

49

50

Vgl. Laski, Liberty in the Modern State (Anm. 47), S. 96 ff.; Karl Loewenstein, Political Power and the Governmental Process, Chicago 1957, dt.: Vetfassungslehre, 2. Aufl. Tübingen 1969, S. 367 ff. Der großartigste Rechtfertigungsversuch wirtschaftlicher Freiheit ist und bleibt der von Adam Smith, Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, engl. Erstausg. 1776, dt.: Der Wohlstand der Nationen, hrsg. von Horst Claus Recktenwald, München 1978. Einige jüngere Versuche sind: Ludwig Mises, Uberalismus, Jena 1927; E A. Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Anm. 9); Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago 1962, dt.: Kapitalismus und Freiheit, Stuttart 1971 . Vgl. Robert M. Maclver, The Meaning of Liberty and its Perversions, in: R. N. Anshen (Ed.), Freedom, New York 1940, S. 2 7 8 - 2 8 7 ; Dieter Grimm, Soziale, wirtschaftliche und politische Voraussetzungen der Vertragsfreiheit, in: Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main 1987, S. 1 6 5 - 1 9 1 .

Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit

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handelt es sich um Güter, deren Allokation gesellschaftlicher Regelung unterworfen ist und die darum selber einer gerechten Verteilung bedürfen, um jeder Person den gebührenden Anteil an den Mitteln wirtschaftlicher Betätigung zu verschaffen. Soweit wirtschaftliche Freiheit begründet ist, setzt sie demnach eine gerechte Verteilung der Ressourcen des ökonomischen Handelns voraus, und diese Voraussetzung hat entsprechende Begrenzungen der Eigentums- und Vertragsfreiheit zur Konsequenz. 51 Zu diesen Begrenzungen kommen noch jene, die sich aus dem Erfordernis der Kostenminimierung ergeben. Denn die wirtschaftliche Freiheit kann, ebenso wie alle anderen Grundfreiheiten, nicht weiter als in dem Umfang bestehen, bei dem ihre Kosten die unerwünschten Folgen ihrer Einschränkung zu übersteigen beginnen. Und da die wirtschaftlichen Aktivitäten oft viel größere negative Effekte hervorrufen als der Gebrauch der anderen Grundfreiheiten, kann dieses Erfordernis erhebliche Einschränkungen des ökonomischen Handelns als gerechtfertigt erscheinen lassen, ζ. B. im Interesse der Gesundheit von Menschen oder zum Zwecke des Umweltschutzes. Nimmt man beide Arten von Begrenzungen zusammen, so ist es nicht einfach, den Umfang wirtschaftlicher Freiheit im einzelnen zu konkretisieren. Dessen ungeachtet kann man aber soviel sagen, daß diese Freiheit jedenfalls insoweit begründet ist, als sie die Verfügung über Güter betrifft, die in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, um für alle zugänglich zu sein, insoweit ihr Gebrauch keine erheblichen negativen Effekte zur Folge hat. Da angenommen werden kann, daß dies bei jenen Dingen, die Menschen zum Lebensunterhalt benötigen, zumindest unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen der Fall ist, folgt daraus ein weitgehend uneingeschränktes Recht jeder Person auf Eigentum an den Gütern des gewöhnlichen Lebensbedarfs. Ein solches Recht läßt sich aber nicht mehr begründen, wenn es um Güter geht, die ihrer Natur nach nur einer kleinen Zahl von Personen zugänglich sind oder deren Gebrauch erhebliche negative Folgen für andere oder die Allgemeinheit zeitigen kann. An solchen Gütern kann es Eigentumsrechte nur insoweit geben, als sie mit den Forderungen der Gerechtigkeit und mit dem allgemeinen Interesse vereinbar sind. Kurz: es besteht eine So^ialbindung des Eigentums.52 Damit möchte ich meine Erörterungen abschließen. Um allfälligen Mißverständnissen entgegenzutreten, will ich nur noch betonen, daß die gerade genannten Grundfreiheiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Neben ihnen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Freiheiten, die ebenfalls mit gutem Grund als Grundfreiheiten gelten, wie ζ. B. die Freiheit der Kunst,

51 52

Siehe dazu L. T. Hobhouse, Liberalism, 1. Aufl. 1911, Neuaufl. London 1964, S. 88 ff. Ähnlich Alan Ryan, Property and Political Theory, Oxford 1984; Jeremy Waldron, The Right to Private Property, Oxford 1988.

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Peter Koller

die Freiheit der Wissenschaft und das Recht auf Privatsphäre. Im übrigen kann es sein, daß gesellschaftliche Entwicklungen es erfordern, neue Grundfreiheiten zu postulieren, von denen wir uns heute noch gar keine Vorstellung machen.

Positionen und Rechte: Drei Lösungen des Liberalen Paradoxons Lucian Kern und Julian Nida-Rümelin

I. Es gibt ein altes Problem der politischen Philosophie: das Spannungsverhältnis zwischen der Entscheidungsfreiheit der Individuen und den Ansprüchen der Gruppe, des Kollektivs oder der Gesellschaft. Die Logik kollektiver Entscheidungen (LkE) radikalisiert dieses Problem zu der These, daß es keine Regel demokratischer Entscheidungsfindung gibt, die auch nur mit einem Minimum an persönlicher Freiheit vereinbar ist (Liberales Paradox). Das Liberale Paradox sei an folgendem Beispiel demonstriert. In der Assistentenversammlung einer Reformuniversität mit etablierter Selbstverwaltung steht die Wahl für eine Position in einem Selbstverwaltungsgremium an. Nur zwei Personen ziehen eine Kandidatur überhaupt in Betracht. Von diesen ist Assistent A als engagierter Verfechter des Selbstverwaltungsgedankens bekannt, der auch in einer Reihe von Gremien mitwirkt, während Assistent Β der Selbstverwaltung ablehnend gegenübersteht. Gehen wir nun davon aus, daß zwischen den folgenden Alternativen zu entscheiden ist: A kandidiert (Alternative a), Β kandidiert (b), keiner kandidiert (o), so lassen sich die nachfolgenden Präferenzen der beiden Assistenten leicht motivieren. (Die Präferenzen sind von links nach rechts zu lesen, so daß jeweils die links stehende Alternative gegenüber der rechts stehenden strikt bevorzugt wird.) A: b, a, o Β: o, b, a Der engagierte Selbstverwalter A ist der Meinung, daß sich nun endlich auch einmal B, der sich immer so vornehm zurückhält, an der Selbstverwaltungsarbeit beteiligen, also kandidieren sollte (b). Ehe aber keiner kandidiert (o), wäre er notfalls bereit, für diese Position zu kandidieren (a). Β hingegen würde es — getreu seiner Auffassung von Selbstverwaltung — am besten finden, wenn keiner kandidiert. Ehe aber A (.diese Betriebsnudel') erneut

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Lucían Kern/Julian Nida-Rümelin

kandidiert und damit in einem weiteren Gremium sitzt, ist Β bereit, ausnahmsweise selbst zu kandidieren. Wir wollen bei der Aggregation dieser Präferenzen zu einer kollektiven Präferenz den Gesichtspunkt der kollektiven Ansprüche ebenso berücksichtigen wie den der individuellen Entscheidungsfreiheit. Das Kollektiv bestehe hier nur aus A und B. Der kollektive Anspruch soll dabei durch die Paretobedingung zum Ausdruck gebracht werden, wonach eine Alternative kollektiv gegenüber einer anderen bevorzugt wird, wenn alle Beteiligten sie individuell bevorzugen, so daß im Fall unseres Beispiels b gegenüber a kollektiv bevorzugt wird. Der Gesichtspunkt der individuellen Entscheidungsfreiheit wird berücksichtigt, wenn wir annehmen, daß die individuelle Entscheidung, zu kandidieren oder nicht zu kandidieren, unverändert in die kollektive Entscheidung eingehen muß. Das würde im Blick auf A bedeuten, daß a gegenüber o kollektiv zu bevorzugen ist, und im Blick auf B, daß o gegenüber b zu bevorzugen ist. Damit ergibt sich insgesamt aber eine kollektive Präferenzrelation, bei der b gegenüber a, a gegenüber o und o gegenüber b bevorzugt wird; d. h., es entsteht eine zyklische' Präferenzfolge, die keine Entscheidung erlaubt, weil innerhalb des ,Zyklus' jede Alternative gegenüber jeder anderen bevorzugt wird: Die gleichzeitige Berücksichtigung kollektiver Ansprüche und individueller Entscheidungsfreiheit führt zu einem kollektiven Ergebnis, das in sich widersprüchlich ist.

II. Eine Situation kollektiver Entscheidung ist — um das Vorstehende formal zu präzisieren — durch das Quadrupel gekennzeichnet. Dabei ist Κ die Menge der Entscheidungsbeteiligten i = 1,2,...,η, so daß # Κ = η, und X ist Menge der Alternativen, die zur Entscheidung anstehen (mit x,y etc. als Elementen von X). Im Sinne Arrows ist eine Alternative ein Sozialzustand (social state), d. h. eine Gesamtbeschreibung der Lage aller Individuen in einer Gesellschaft unter sozialen, ökonomischen, politischen etc. Aspekten, die sich von einer anderen Gesamtbeschreibung in dem Punkt unterscheidet, über den zu entscheiden ist. 1 Alternativen schließen einander also aus. Es ist stets # X > 3. Weiter ist g die Präferenz struktur in K, d. h. eine Funktion, die jeder Person aus Κ ihre individuelle Präferenzrelation zuordnet, so daß g: Κ 3 i R¡ e Pot(X X X); R| = g(i). Für e R„ die individuelle schwache Arrow (1963).

Positionen und Rechte: Drei Lösungen des Liberalen Paradoxons

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Präferenz für χ gegenüber y, schreiben wir demnach: e g(i). Ihr asymmetrischer Teil ist die individuelle strikte Präferenz g(i), ihr symmetrischer Teil die individuelle Indifferenz g(i). Wir nehmen an, daß die individuellen Präferenzreladonen Ordnungseigenschaften haben, also reflexiv, vollständig und transitiv sind. Schließlich ist mit f eine zunächst nicht näher spezifizierte Aggregationsregel (AR) gegeben, d. h. eine Funktion, die jeder Präferenzstruktur g eine kollektive Präferenzrelation zuordnet, so daß f: G 3 g R e Pot ( X X X ) ; R = f(g). Die kollektive strikte Präferenz f(g) bzw. Indifferenz F(g) sind der asymmetrische bzw. symmetrische Teil der kollektiven schwachen Präferenz f(g). Wenn f(g) für beliebige g aus G reflexiv, vollständig und azyklisch ist, dann nennen wir f eine Kollektive Entscheidungsfunktion (KEF). Wenn f(g) für beliebige g aus G reflexiv, vollständig und transitiv ist, dann nennen wir feine Kollektive Wohlfahrtsfunktion (KWF). Wir können nun jeweils Minimalbedingungen kollektiver Ansprüche (Bedingung P) und individueller Entscheidungsfreiheit (Bedingung L) als Bedingungen an die Aggregation formulieren. Bedingung Ρ (Pareto): V g e G: Vx,y e X: [Vi e K: e g(i) e %)]•

Bedingung L (Liberalität): Vi e Κ: 3 x ^ y x,y e Χ, V g e G: [ e g(i) e %)]. Das folgende Theorem formuliert dann die .Unmöglichkeit des paretianischen Liberalen'. 2 Theorem 1: Es gibt keine KEF f, die für beliebige Präferenzstrukturen zugleich die Bedingungen Ρ und L erfüllt. 3 Im genannten Beispiel ergibt sich wegen Bedingung P: e f(g), und wegen Bedingung L: e f(g) und e f(g). Daher ist f(g) nicht azyklisch, die AR f mithin keine KEF. Das Theorem gilt a forteriori für Kollektive Wohlfahrtsfunktionen, da eine zyklische Relation nicht transitiv sein kann.

III. Das Liberale Paradox ist eine ernsthafte Herausforderung für unser vortheoretisches Verständnis demokratischer Entscheidungsfindung. Es verlangt eine 2 3

Sen (1970). Beweis s. Sen (1970).

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Lucían Kern/Julian Nida-Rümelin

Revision der gängigen Konzeptionen individueller und kollektiver Rationalität. Der Gedanke, individuelle Rechte als Einschränkung kollektiver Optimierung (und nicht als zusätzliche Bedingung kollektiver Optimierung) zu begreifen, führt zu einer deontologischen Modifikation des mit der Entscheidungstheorie etablierten teleologischen (oder genauer: konsequentialistischen) Rationalitätsparadigmas.4 Diese weitergehende Problematik soll hier jedoch nicht entwickelt werden. Vielmehr soll gezeigt werden, wie eine Differenzierung der verwendeten Grundbegriffe die Formulierung von Bedingungen erlaubt, die kollektive Optimierung und individuelle Freiheit kompatibel machen. Eine Auflösung des Paradoxes verlangt, mindestens eine der Bedingungen abzuschwächen. In der Literatur gibt es dazu eine Vielzahl von Vorschlägen. 5 Ohne eine Anreicherung der begrifflichen Grundlagen der Analyse sind Abschwächungen dieser beiden Bedingungen jedoch intuitiv nicht plausibel. So ist wiederholt argumentiert worden, das Paradox ergebe sich deshalb, weil es den Beteiligten erlaubt sei, ,einmischende' Präferenzen zu äußern. 6 Im obigen Beispiel etwa zieht A b gegenüber a vor, hat also eine Präferenz dafür, daß ein anderer statt daß er selbst kandidiert, obwohl es nach unserem liberalen Verständnis' allein eine Angelegenheit des anderen ist, ob er kandidieren will oder nicht. Aufgrund der Arrowschen Begrifflichkeit läßt sich aber nicht einmal feststellen, ob .einmischende' Präferenzen vorliegen. Nun sind Differenzierungen dieses .umfassenden', uniformen Alternativenbegriffs durchaus in einer Reihe von Lösungsvorschlägen enthalten.7 Sie sind jedoch uneinheitlich und gelegentlich wenig plausibel. Unser Vorschlag geht dahin, den Begriff des Sozialzustands in individuelle Positionen' aufzuspalten. Jeder Sozialzustand χ aus X enthält eine Reihe von Positionen. Eine Position q ist eine anonyme Beschreibung aller Umstände, die für die Beurteilung der Stellung einer Person in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation relevant ist. Ein anonymer Sozialzustand ζ ε Ζ umfaßt alle gesellschaftlichen Positionen einer Alternative, jedoch ohne festzulegen, welches Individuum welche Position einnimmt. Das gibt erst die Positionszuordnung φ an, eine Funktion, die jedem Individuum seine Position zuordnet, so daß φ: Κ 3 i -* q ε ζ, ζ e Ζ. Somit ist φ(ί) eine individuelle Position. Die individuellen Positionen, die sich durch φ aus ζ ergeben, bilden zusammen einen Sozialzustand χ, so daß χ bei festem anonymen Zustand ζ durch φ eindeutig bestimmt ist: χ = bzw. χ = . φ Ç Κ X UQ¡. Diese ,Positionen-Notation' erlaubt es nun, individuelle Rechte im Zusammenhang kollektiver Entscheidungen zu erfassen. Sei Q¡ die Menge der po4 5 6 7

Vgl. Nida-Rümelin (1991, 1 9 9 3 a , 1993b). Kern (1985). Blau (1975). Ζ. B. bei Gibbard (1974) und Suzumura (1978).

Positionen und Rechte: Drei Lösungen des Liberalen Paradoxons

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tentiellen Positionen von i. Im allgemeinen kann dieselbe Position (potentiell, nicht simultan) von unterschiedlichen Personen eingenommen werden: fiQ¡ + 0. (Bei festem ζ ist die Menge X also mit Qj X Q 2 X ... X Q n gleichzusetzen.) Individuelle Rechte lassen sich nun dadurch charakterisieren, daß eine Teilmenge Qf der potentiellen Positionen einer Person i zur Disposition von i gestellt wird. Definition 1: Eine Rechtsverteilung r in Κ ordnet jeder Person i aus Κ Positionen zu, über die i frei entscheiden kann, so daß r: Κ 3 i Qf e Pot(Q¡). Damit hat eine Person i genau dann ein (individuelles) Recht, zwischen den Positionen q und q' zu wählen, wenn q e r(i) und q' e r(i). Eine entsprechende ,Liberalitätsbedingung' kann wie folgt formuliert werden. Bedingung EL (.Elementare Liberalität): Vi e Κ: # r(i) ä 2. Auch wenn eine Ausstattung mit individuellen Rechten im Sinne von EL vorliegt, ist nicht ausgeschlossen, daß es zu Rechtskonflikten kommt. Erst die Vereinbarkeit der zugeordneten individuellen Rechte ermöglicht ihre gesellschaftliche Implementierung, so daß wir wie folgt definieren. Definition 2: Es herrscht eine minimale Rechtsharmonie: sowie φ(ϊ) = q und φ'(ϊ) = q'. Dann gilt Vi e Κ: Vx,y e X: Vg e G: [q,q' e r(i) -» [ e g(i) -» e f(g)]].

IV. Nun löst die Einfuhrung der Positionen-Notation und die darauf aufbauende Formulierung von Entscheidungsrechten nicht schon für sich genommen das Problem des Liberalen Paradoxes. Tatsächlich deckt sie, wie das folgende Theorem zeigt, zunächst sogar ein weiteres Problem auf: das des ^konsistenten Liberalen'.8 Theorem 2: Es gibt keine AR f, die für beliebige Präferenzstrukturen zugleich die Bedingungen EL und IR erfüllt. 8

Gibbard (1974).

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Lucían Kern/Julian Nida-Rümelin

Zum Beweis genügt ein Beispiel: Es sei Κ = {i,j} und es gebe die vier Positionen qi, q 2 , q 3 , q4 mit Qf = {qi,q2} und Qf = {q3,q4}· Weiter sei X = {X! ,X2,X3,X4}. Diese Alternativen enthalten bei festem ζ die folgenden Positionen: X| = , x 2 = , x 3 = , x4 = . Die Präferenzstruktur ist wie folgt gegeben. 1: x3> x2> x4> X1

j: Xl, X2> x4> x 3

Offensichtlich ist wegen EL: qi,q 2 e r(i) und q 3 ,q 4 e rQ. Die Anwendung von IR erzeugt jedoch zyklische' kollektive Präferenzen: e f(g), e f(g), e f(g) und e f(g); f(g) ist also nicht azyklisch. Der Grund dieser Schwierigkeit ist leicht auszumachen, wenn man die obige Präferenzstruktur in der Positionen-Notation ausschreibt: i: , , , j: , , , Es liegt in den besonderen Positionen-Präferenzen der Personen. So zieht i q 2 gegenüber q! vor, wenn q 3 (als Position der anderen Person) vorliegt, jedoch qi gegenüber q 2 , wenn q 4 vorliegt (entsprechendes gilt für j bezüglich q 3 und q4). Der Konflikt zwischen EL und IR kann daher gelöst werden, indem man durch eine entsprechende Einschränkung der Implementierungsbedingungen Präferenzen dieser Art ausschaltet. Das kann mittels Einführung einer ,kategorischen Positionen-Präferenz' bewerkstelligt werden. Definition 3: Eine Person i präferiert kategorisch eine Position q gegenüber q', q'> e é"®> q.q' e Q? : " Vx>y e X : y> e ê® " Φ® = q Λ Φ'® = q', wobei χ = und y = e g11® - e f(g), wobei φ(ϊ) = q, cp'(i) = q', χ = , y = g(i) -» α χ > AZ Hier und im folgenden bezeichnet „ > p " die strikte Präferenz der jeweiligen Person p.

Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung

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(P2) Ordnung der Alternativen durch B: χ >B 2 > By Die beiden Beispiele haben einige Merkmale gemeinsam, die den angegebenen individuellen Präferenzen allein nicht zu entnehmen sind. So ist es eine Besonderheit beider Beispiele, daß Β jeweils die Möglichkeit hat, diejenige Alternative (nämlich die Alternative z) eigenmächtig zu realisieren, die A am wenigsten lieb ist. Β hat daher in beiden Fällen ein gewisses Drohpotential. Β kann sich im Taxi-Beispiel zu Fuß auf den Weg machen, wenn abzusehen ist, daß A ihn nicht heimbringen möchte. Daß Β auf diese Weise den Heimweg antritt, ist aber für A die Alternative, die er am wenigsten gerne realisiert sähe. Wenn A absieht, daß Β im Falle seiner eigenen Weigerung, ihn heimzubringen, auf die angegebene Weise reagiert, so ist dies für A ein Grund, auf die Realisierung der ihm liebsten Alternative (A zahlt das Taxi) zu verzichten und so zu bewirken, daß sich wenigstens die ihm zweitliebste Möglichkeit (A bringt Β heim) realisiert. Freilich wird er dies mit einem gewissen Ärger tun. Denn es wird ihm nicht richtig erscheinen, daß er gewissermaßen dazu genötigt ist, A heimzubringen, obgleich es ihm lieber wäre, Β auf andere Weise zu einer bequemen Heimfahrt zu verhelfen und es ihm zudem so scheinen muß, daß die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen schließlich ihm (A) überlassen sein sollte. Ganz analog muß A im Abwaschbeispiel damit rechnen, daß Β eigenmächtig zum Spülmittel greift, während A untertags weg ist, sofern A seine Pflicht nicht gerade auf die Weise erfüllt, die Β am besten paßt und schon morgens spült. Auch in diesem Fall kann Β also A zur Realisierung der ihm nur zweitliebsten Alternative zwingen, indem er sich aufmacht, das zu verwirklichen, was A in dieser Situation am allerwenigsten realisiert sehen möchte. Diese Beschreibung könnte nun den Eindruck erwecken, als sei es Β in den angegebenen Fällen vorzuwerfen, daß er A auf subtile Weise zu einer Wahl zwingt, die diesem nicht lieb ist. Aber dieses Bild wäre schief. Tatsächlich ist es nämlich so, daß Β keinerlei Drohung aussprechen muß, um A in die Enge zu treiben. A ist ganz ohne B's Zutun genötigt, das zu tun, was Β das Liebste ist. Es genügt ja im Beispiel, daß A die Präferenzen von Β kennt. A weiß dann in beiden Fällen, daß Β die Alternative ζ derjenigen Alternative vorzieht, die A aus freien Stücken wählen würde (der jeweiligen Alternative y). A weiß also, daß B, wenn er, A, sich anschickt, y zu realisieren, ζ herbeiführen wird. Wenn Α Β im Taxi-Beispiel das Taxigeld anbietet, so wird Β sicherlich dankend ablehnen und sich anschicken, die nächste Bushaltestelle aufzusuchen (er wird unter dieser Bedingung beginnen, ζ zu tun). Ganz analog im Abwaschbeispiel: Wenn A sich anschickt, das Haus zu verlassen, ohne vorher die Spülarbeit zu erledigen, so muß er (da ihm B's Präferenzen bekannt sind) damit rechnen, daß er am Abend bei seiner Heimkehr feststellen wird, daß ihm — entgegen seinem Willen — die Arbeit abgenommen worden ist.

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Β sitzt also (so ist die Situation nun einmal und Β kann nichts dafür) in beiden Fällen am längeren Hebel. Er kann verhindern, daß das passiert, was A am liebsten wäre, indem er ζ herbeiführt, falls A nicht von sich aus gerade das tut, was Β sich wünscht. Unter moralischem Gesichtspunkt .vertrackt' wird die Geschichte nun dadurch, daß Β prima facie auch ein gutes Recht hat, die von A am wenigsten präferierte Alternative ζ zu realisieren, falls A sich anschickt dafür zu sorgen, daß y Realität wird. Denn in beiden Fällen gibt es Gründe für die Meinung, daß eigentlich Β ausschlaggebend sein sollte bei der Frage, welche der dann (nach A's Entscheidung gegen x) noch verbliebenen Alternativen Wirklichkeit werden soll. Denn wenn es nur noch um die Wahl geht, ob (im Taxibeispiel) Β das Geld für ein Taxi annimmt oder ob er mit dem Bus fährt, so scheint dies eine Wahl zu sein, bei der Α Β machen lassen sollte, was ihm lieber ist. Ganz analog scheint es so, als wäre es auch im Abwaschbeispiel, wenn A nun schon einmal eine Entscheidung gegen χ herbeigeführt hat (er hat das Haus verlassen, ohne zu spülen), alleine B's Angelegenheit, ob er sich tagsüber durch eigene Arbeit den Dreck vom Halse schafft oder aber ob er abwartet, bis A sein Versprechen einlöst. Um die Merkwürdigkeit von Situationen dieser Struktur deutlich zu sehen, muß man den zeitlichen Verlauf des Entscheidungsprozesses betrachten, der unter den angegebenen Voraussetzungen in Gang kommt, falls die Personen ihre Wünsche äußern. Man kann verschiedene Stufen dieses Prozesses unterscheiden. Auf der ersten Stufe ist A am Zuge. Ihm steht es offen, ob er zusagt (so wie Β es sich wünscht) χ zu realisieren (morgens abzuspülen, bzw. den Chaffeur zu spielen) oder aber, ob er nur y anbietet (das Taxigeld bzw. das abendliche Spülen), die Alternative also, die A am liebsten, Β aber am wenigsten lieb ist. Im zweiten Schritt des Prozesses hat A sich bereits angeschickt eine Entscheidung zu treffen (die er allerdings noch zurücknehmen kann) und nun ist Β am Zuge. Hat A sich angeschickt χ zu realisieren, so ist Β zufrieden und der Entscheidungsprozeß kommt zu einem Ende, wenn A nun definitiv bei dieser Entscheidung bleibt. Hat A dagegen seine Abneigung gegen χ geäußert oder durch sein Verhalten gezeigt, daß er nicht gewillt ist, χ zu realisieren, so wird sich B, wenn er nun am Zuge ist, um eine Realisierung von ζ bemühen. Da bei einer Entscheidung von A gegen χ nur noch die beiden Alternativen offenstehen, welche in den Freiheitsspielraum von Β fallen, hat Β auch ein gutes Recht — so scheint es — sich so zu verhalten. Im dritten Schritt wird also Β eine bedingte Entscheidung treffen, die darin besteht, daß er, falls A sich definitiv gegen χ entscheidet, ζ realisiert. A wird nun, wenn er weiß oder erfährt, was A vorhat, im vierten Schritt schließlich seine ursprüngliche Entscheidung zurücknehmen: Er wird eben dann doch am Morgen spülen bzw. einwilligen, den Freund nach Hause zu fahren. Doch ist es psychologisch plausibel, daß dieser Ausgang die jeweilige Person A verärgern wird. Diese psychologisch plausible emotionale Reaktion hat, so scheint mir, eine rational verteidigbare Basis.

Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung

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III. Freiheitsrechte als Argument im Einigungsprozeß In beiden Beispielen ist es plausibel, daß A versuchen wird Β davon zu überzeugen, daß er den Vorschlag, y zu realisieren, akzeptieren sollte und prima fade hat A in beiden Fällen hierfür ein gutes Argument. Β sollte von seiner Macht, durch Realisierung von z, y zu verhindern, keinen Gebrauch machen, weil A das Recht hat, zwischen χ und y frei zu entscheiden. Durch Realisierung von ζ würde aber Β A daran hindern, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Also sollte Β ζ unterlassen: Β sollte A das Spülen nicht abnehmen bzw. Β sollte das Angebot der spendierten Taxifahrt nicht ausschlagen. Andererseits aber hat Β unter den gegebenen Umständen in beiden Fällen ein prima fade ebenso überzeugendes Gegenargument: Im Abwaschbeispiel wird er für sich das Recht beanspruchen, frei zu entscheiden, ob er die Unordnung bis zum Abend in Kauf nehmen will oder ob er lieber die kleine Mühe des Spülens auf sich nehmen möchte. Im Taxibeispiel wird Β behaupten, daß ihm das Recht, das Geldgeschenk abzulehnen, nicht abgesprochen werden kann. Es ist schließlich seine Sache, ob er sich lieber ohne Auto auf den Weg macht oder von Β Geld annimmt. In beiden Fällen kommt Β zu dem Ergebnis, daß er — entgegen A's Behauptung - ζ realisieren darf. Β behauptet, er habe das Recht, frei zwischen y und ζ zu wählen, er dürfe also in der gegebenen Situation ζ realisieren, wenn A sich entscheidet χ abzulehnen. A und Β kommen zu konfligierenden moralischen Urteilen. Wo steckt ein Fehler in den Argumenten? E s gibt wohl nur die folgenden Möglichkeiten: a) Das beanspruchte Freiheitsrecht besteht für mindestens einen der beiden nicht, b) A hat zwar das beanspruchte Freiheitsrecht bezüglich χ und y, daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß es für Β moralisch unzulässig ist, ζ zu wählen, wenn Α χ unterläßt. c) Β hat zwar das beanspruchte Freiheitsrecht bezüglich y und z, aber daraus ist nicht zu folgern, daß es für Β moralisch zulässig ist, ζ zu wählen, wenn Α χ unterläßt. Bevor ich die Diskussion dieser Beispiele fortsetze, möchte ich einige Merkmale der beiden Situationen festhalten, die im folgenden eine Rolle spielen. Erstens ist natürlich die Struktur der individuellen Präferenzen zu nennen, die durch (PI) und (P2) gegeben sind. Zweitens sei vorläufig angenommen, daß A und Β tatsächlich die Freiheitsrechte haben, die sie beanspruchen, daß also die folgenden beiden Bedingungen auf beide Situationen zutreffen: Die Wahl zwischen χ und y fallt in den Freiheitsspielraum von A. Die Wahl zwischen y und ζ fällt in den Freiheitsspielraum von B. Wesentliches Merkmal beider Situationen ist ferner, daß Β die Macht hat, ζ zu realisieren, falls sich A gegen χ entscheidet. Weiter sei vorausgesetzt, daß die Beteiligten die Präferenzen des jeweils anderen kennen, ihn zurecht für rational halten, ferner auch glauben, daß der jeweils andere die eigenen Präferenzen

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kennt und daß er weiß, daß der andere ihn für rational hält. Wenn keine anderslautenden Vereinbarungen getroffen werden, so werden sich die Beteiligten normalerweise nach ihren individuellen Präferenzen richten. A kann also im ersten Beispiel annehmen: Wird keine Einigung getroffen, die beide als bindend anerkennen, so wird Β die Unordnung im Lauf des Tages beseitigen, wenn er, A, nicht schon morgens spült. Im zweiten Beispiel hat A Grund zu vermuten, daß Β in Abwesenheit einer anderslautenden Einigung, sich zu Fuß auf den Weg machen wird, wenn A ihn nicht mit dem Auto nach Hause bringt. Β weiß von A's epistemischer Situation und kann deshalb seinerseits davon ausgehen, daß A, wenn keine Einigung erreicht wird, letztlich doch im ersten Beispiel morgens spülen wird und im zweiten Beispiel am Ende doch den Chauffeur spielen wird. Ich werde ferner in der weiteren Diskussion der Beispiele annehmen, daß die beiden sich wechselseitig vertrauen, d. h.: Wird eine Einigung auf eine Alternative erreicht, so gehen beide davon aus, daß sich der jeweils andere an die Abmachung halten wird.

IV. Sozialwahltheoretische Analyse der Beispiele Seit Sen [1970] (vgl. Fußnote 3) ist es in der sozialwahltheoretischen Diskussion von Freiheitsrechten üblich anzunehmen: Fällt ein Alternativenpaar in den Freiheitsspielraum einer Person p, so sollte die Gruppenpräferenz diese Alternativen so ordnen wie sie von der individuellen Präferenz der betreffenden Person geordnet werden. Wollten wir den Begriff der Gruppenpräferenz als unproblematisch voraussetzen und zudem annehmen, daß Freiheitsrechte auf die geschilderte Weise formal erfaßbar sind, so ließe sich wie folgt erklären, inwiefern obige Beispiele ein Dilemma darstellen: Die Gruppenpräferenz muß y χ voranstellen, weil dies der individuellen Präferenz jenes Gruppenmitglieds entspricht, die ein Freiheitsrecht bezüglich dieser beiden Alternativen beanspruchen kann. Aus demselben Grund muß die Gruppenpräferenz die Alternative ζ der Alternative y voranstellen. Fordert man ferner das schwache Paretoprinzip als Prinzip minimaler Rationalität, welches besagt, daß eine Alternative a von der Gruppenpräferenz einer Alternative a' vorangestellt werden sollte, wenn alle Gruppenmitglieder a gegenüber a' strikt bevorzugen, so muß die Gruppenpräferenz ferner die Alternative χ der Alternative ζ voranstellen, woraus sich eine zyklische Gruppenpräferenz ergibt (nämlich y > χ > ζ > y). Es gibt also keine azyklische Gruppenpräferenz, welche dem schwachen Paretoprinzip genügt und die Freiheitsrechte von A und Β in der angegebenen Weise berücksichtigt. Aus dieser Analyse kann man die folgende Erkenntnis gewinnen: Entweder gibt es in den beschriebenen Situationen tatsächlich keine moralisch ak-

Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung

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zeptable und minimal rationale Lösung oder das Paretoprinzip ist als Prinzip minimaler Rationalität nicht akzeptabel, oder die beanspruchten Freiheitsrechte bestehen nicht wirklich, oder aber es ist in dem verwendeten begrifflichen Rahmen nich adäquat erfaßt, wie die beanspruchten Freiheitsrechte zu berücksichtigen sind, oder eine Kombination dieser Fälle liegt vor. Welche der Alternativen trifft zu? Es wird vielleicht helfen, sich ganz unabhängig vom begrifflichen Rahmen der Sozialwahltheorie etwas klarer darüber zu werden, welche Rolle Freiheitsrechte in kollektiven Entscheidungen spielen sollten.

V. Moralische Forderungen an kollektive Entscheidungen Wenn behauptet wird, daß die Entscheidung zwischen zwei Alternativen in den Freiheitsspielraum einer Person fällt, so will man damit grob gesprochen sagen, daß andere sich bei dieser Wahl nicht über Gebühr einmischen sollten. Sie sollten die Person z.B. nicht hindern, das zu tun, was ihr lieber ist und sie dürfen normalerweise von ihr nicht fordern, daß sie das eine tut und das andere unterläßt. In Gruppenentscheidungen wird man Freiheitsspielräume eines Gruppenmitglieds p dadurch schütten, daß die Gruppe bestimmte Entscheidungen nicht ohne explizite Einwilligung von p herbeiführen darf. Wenn das Alternativenpaar (x, y) in den Freiheitsspielraum von ρ fällt, so wird man eine Einigung der Gruppe auf χ oder auf y wohl nur dann für moralisch akzeptabel halten, wenn die Person ρ ihr Einverständnis mit dieser Entscheidung erklärt. Das allein genügt allerdings noch nicht. Die Gruppe könnte das Einverständnis erzwingen, indem sie androht, eine der Person ρ unliebe Alternative ζ zu realisieren, wenn diese ihr Einverständnis verweigert. Zu fordern ist also zusätzlich, daß die Person ρ zu ihrem Einverständnis nicht genötigt wird. Eine Nötigung kann auch dann vorliegen, wenn die Gruppe keine einschlägige Drohung ausspricht. Es genügt schon, daß die Gruppe die fragliche Person ρ in dem begründeten Glauben läßt, daß eine für sie unangenehme Alternative verwirklicht wird, wenn sie sich weigert, ihr Einverständnis zu erklären. Ich schlage folgende hinreichende Bedingung für den Begriff der Einverständniserklärung mit Nötigung vor. (N) Wenn eine Person ρ in einem Prozeß gemeinsamer Entscheidung ihr Einverständnis mit der Alternative χ bei Vorliegen der folgenden Bedingung (B) erklärt, so handelt es sich um eine Einverständniserklärung mit Nötigung: (B) Die Person ρ muß vernünftigerweise annehmen: Wenn sie ihr Einverständnis mit χ verweigert, so wird eine Alternative ζ realisiert, für die gilt ζ < p x. 6 Anhand einer abgewandelten Version von Sen's bekanntem und zuvor erwähnten Beispiel kann man aber einsehen, daß die Bedingung (B) für das Vorliegen einer Nötigung nicht hinreicht, wenn sogenannte einmischende Präferenzen vorliegen. Man muß in (B) also genau genommen eine entsprechende Bedingung hinzufügen. Ich vernachlässige hier diese Schwierigkeit, weil die dafür erforderliche Klärung des problematischen Begriffs der einmischenden

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Die obigen Überlegungen motivieren nun das folgende Prinzip: (MPI) Wenn das Alternativenpaar (x, y) in den Freiheitsspielraum einer Person ρ fallt und wenn ρ y gegenüber χ bevorzugt, so gilt: (a) die Gruppe darf sich nur dann auf χ einigen, wenn die Person ρ mit dieser Einigung ihr Einverständnis ohne Nötigung erklärt. (b) Die Person ρ ist nicht verpflichtet ihr Einverständnis mit χ zu erklären. 7

In den betrachteten Beispielen besteht die Gruppe aus nur zwei Personen. Wenn man diese Prinzipien akzeptiert und annimmt, daß das Alternativenpaar (x, y) jeweils in den Freiheitsspielraum von A fallt und das Alternativenpaar (y, z) in den FreiheitsSpielraum von der jeweiligen Person Β fallt, so ergeben sich die folgenden konkreten Urteile: (1) A und Β sollten sich nur dann darauf einigen, daß A schon am Morgen spült, wenn sich A ohne Nötigung damit einverstanden erklärt. (2) A ist nicht verpflichtet, sein Einverständnis damit zu erklären, daß er schon morgens spült. (3) A und Β sollten sich nur dann darauf einigen, daß Β darauf verzichtet tagsüber selbst die Abwascharbeit zu erledigen und A erst abends spült, wenn sich Β ohne Nötigung damit einverstanden erklärt. (4) Β ist nicht verpflichtet, sich damit einverstanden zu erklären, daß er den Abwasch stehen läßt bis A am Abend spült. (1 ') A und Β sollten sich nur dann darauf einigen, daß Α Β nach Hause fährt, wenn sich A ohne Nötigung damit einverstanden erklärt. (2') A ist nicht verpflichtet, B's Bitte, ihn heimzufahren, nachzukommen. (3') A und Β sollten sich nur dann darauf einigen, daß Α Β das Taxi bezahlt, wenn Β sich ohne Nötigung damit einverstanden erklärt. (4') Β ist nicht verpflichtet, A's Angebot des Taxigeldes zu akzeptieren.

Nehmen wir an, daß das Alternativenpaar (x, y) in den Freiheitsspielraum einer Person ρ fallen und daß diese Person die Alternative y der Alternative χ vorzieht. Dann kann man sagen, daß diese Person von ihrem diesbezüglichen Freiheitsrecht Gebrauch macht, wenn sie in einem Prozeß gemeinsamer Entscheidung ihre Zustimmung zu der Alternative χ verweigert. Von einem Freiheitsrecht kann man — in diesem Sinne — nur dann Gebrauch machen, wenn überhaupt ein Einigungsprozeß in Gang kommt. Die obigen Beispiele können nun folgende Forderung motivieren: Wenn eine Person in einer gegebenen Interaktionssituation zurecht ein Freiheitsrecht bezüglich eines Alternativenpaars beanspruchen kann, dann sind die beteiligten Personen moralisch dazu aufgerufen, Bedingungen zu schaffen, unter welchen sie von ihrem

Präferenz hier nicht geleistet werden kann. Eine entsprechende Bemerkung gilt für die nachfolgenden Prinzipien (MPI) und (MP2). Der Redewendung „Das Alternativenpaar (x, y) fällt in den Freiheitsspielraum von p" entspricht am ehesten die umgangssprachliche Formulierung „p hat ein Recht auf freie Wahl zwischen χ und y".

Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung

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Freiheitsrecht Gebrauch machen kann. Etwas genauer gesagt motivieren die beiden Beispiele ein Prinzip der folgenden Art: (MP2) Eine Einigung ist moralisch gefordert, wenn unter den zur Entscheidung anstehenden Alternativen ein Paar (x, y) ist, das die folgenden Bedingungen erfüllt: ( B l ) (x, y) fallt in den Freiheitsspielraum eines Gruppenmitglieds ρ (B2) ρ zieht die Alternative χ strikt der Alternative y vor (B3) Falls keine gemeinsame Entscheidung versucht wird, muß ρ vernünftigerweise damit rechnen, daß im Falle seiner eigenen Entscheidung gegen y eine Alternative ζ verwirklicht wird, welche ihm weniger lieb ist als x.

VI. Lösung des theoretischen Problems Die beiden besprochenen Entscheidungssituationen erwecken zunächst den Anschein echter Dilemmata. Es scheint so, als gäbe es in beiden Beispielen überzeugende (von intuitiv berechtigten Freiheitsansprüchen ausgehende) Argumente, die zu widersprüchlichen moralischen Urteilen führen. Die im vergangenen Abschnitt vorgeschlagene Analyse von Freiheitsrechten erlaubt jedoch eine Diagnose des Fehlers der beiden Argumente, die zu diesem Widerspruch fuhren: A hat zwar das von ihm beanspruchte Freiheitsrecht, doch kann er daraus nicht schließen, daß Β ζ unterlassen sollte. Vielmehr sind zweierlei Schlußfolgerungen angebracht: (1) Β sollte sich auf den Versuch einer Einigung einlassen, darf also ζ nicht eigenmächtig und ohne Rücksprache mit A realisieren und Β darf A nicht in dem Glauben lassen, daß er dies tun wird. (2) Kommt ein Prozeß gemeinsamer Entscheidung zustande, so darf Β von seiner Macht, A zu der ihm genehmen Entscheidung zu zwingen, nicht Gebrauch machen (vgl. MPI). Ebenso hat Β das von ihm beanspruchte Freiheitsrecht, doch folgt hieraus aus den eben genannten Gründen gerade nicht, daß er ζ eigenmächtig realisieren darf. Das Freiheitsrecht der jeweiligen Person Β wird in den vorliegenden Beispielen erst dann relevant, wenn ein Prozeß gemeinsamer Entscheidung zustandekommt (vgl. hierzu die Urteile (3) und (4) bzw. (3') und (4') in Abschnitt 5.). Auf diese Weise löst sich der argumentative Konflikt, ohne daß man hierbei der plausiblen These widersprechen müßte, daß beide beteiligten Personen in beiden Beispielen die beanspruchten Freiheitsrechte tatsächlich besitzen. Die Schwierigkeit, die darin bestand, daß prima faríe überzeugende Argumente zu widersprüchlichen Ergebnissen führten, ist damit aufgelöst. Doch gibt es noch eine andere Quelle des intuitiven Eindrucks, daß in den genannten und ähnlichen Fällen echte moralische Dilemmata vorliegen. Man würde eine Situation wohl als moralisches Dilemma bezeichnen, wenn bei moralisch korrektem Verhalten aller Beteiligten dennoch ein Resultat zustandekommt, das unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet zweifelhaft erscheint. Nun sieht es aber zunächst so aus als läge gerade eine solche Situation in den

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Beispielen vor. Wenn A und Β den Dingen ihren Lauf lassen, so wird A notgedrungen darauf verzichten, χ zu realisieren (am Abend zu spülen, bzw. Β das Taxi zu zahlen), weil er erwarten muß, daß Β unter diesen Umständen dafür sorgt, daß sich statt y ζ realisiert. A wird dann in beiden Fällen mit gewissem Recht den Eindruck haben, daß ihm ein Unrecht zugefügt worden ist. Demnach hätte sich aus dem Verhalten der beiden Personen ein Resultat ergeben, das unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet kritikwürdig erscheint. Andererseits aber scheint es zunächst so als habe keiner der beiden moralisch gesehen einen Fehler gemacht. A mußte allein aufgrund der ihm bekannten Präferenzen von Β damit rechnen, daß Β im Falle seiner Entscheidung gegen y ζ realisiert. Β hat zu dieser Situation aktiv nichts beigetragen. Es kann also zunächst so scheinen, als wäre Β nichts vorzuwerfen und auch A, der ja der ,Geschädigte' ist, kommt wohl kaum als Schuldiger in Betracht. Doch das zuvor formulierte Prinzip (MP2) macht deutlich, daß auch in diesem Sinne kein echtes moralisches Dilemma vorliegt. Die Verfehlung der Beteiligten liegt, wenn sie den Dingen ihren Lauf lassen, darin, daß sie keine gemeinsame Entscheidung versuchten.

VII. Ein praktisches Problem Die theoretischen Probleme, die durch die Beispiele gestellt werden, sind damit gelöst: Es gibt keine überzeugenden Argumente mit widersprüchlichem Resultat, es liegen keine Fälle echter moralischer Dilemmata vor. Dennoch sind beide Situationen in einem präzise angebbaren Sinne Beispiele eines praktischen Dilemmas. Das folgende Prinzip, das dem bekannten schwachen Paretoprinzip verwandt ist, kann als Minimalbedingung der Rationalität gemeinsamer Entscheidungen gelten: (MR) Eine Gruppenentscheidung für eine Alternative χ ist nur dann rational, wenn es in der zur Entscheidung anstehenden Alternativenmenge keine Alternative y gibt, die alle Gruppenmitglieder gegenüber χ bevorzugen.

Das praktische Problem für A und Β ist nun das folgende: Machen sie beide von ihrem Freiheitsrecht Gebrauch, so kommt keine Einigung ^ustände, es sei denn das Prinzip (MR) wird verletzt. Wenn A von seinem Freiheitsrecht Gebrauch macht, verweigert er seine Zustimmung zur Auswahl der Alternative x. Wenn Β von seinem Freiheitsrecht Gebrauch macht, verweigert er seine Zustimmung zur Auswahl von y. Die Alternative ζ kann bei Befolgung von (MR) nicht gewählt werden. Es kann also nur dann eine minimal rationale und nach den oben formulierten Kriterien moralisch akzeptable Einigung Zustandekommen, wenn einer der beiden auf die Ausübung seines Freiheitsrechts verzichtet.8 Wenn sich zwei Personen wiederholt in Situationen der angegebenen Struktur befinden, ist es besonders leicht durch Verhandlung eine moralisch akzeptable Konfliktlösung zu finden: Der Verzicht des einen in einem Fall kann durch den Verzicht des anderen in einem späteren

Zur Bedeutung von Freiheitsrechten für die moralische Beurteilung

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VIII. Zusammenfassung (1) Ob in einer kollektiven Entscheidung die Freiheitsrechte der beteiligten Personen in der unter moralischem Gesichtspunkt wünschenswerten Weise berücksichtigt wurden, kann nur entschieden werden, wenn man den Entscheidungspro^eß untersucht, der zur Auswahl einer Alternative führte. Sind als Informationen über eine getroffene Entscheidung nur die relevanten Vorbedingungen (Präferenzen, Freiheitsrechte, eventuell Machtverhältnisse und Annahmen über die epistemische Situation der beteiligten Personen) und die gewählte Alternative bekannt, so ist daraus im Allgemeinen nicht zu ersehen, ob bei der Auswahl der Alternative Freiheitsrechte verletzt wurden. (2) Es gibt Situationen, deren Struktur so geartet ist, daß es unweigerlich zu einer Verletzung von Freiheitsrechten kommt, wenn die Beteiligten ,den Dingen ihren Lauf lassen' und keine Abmachungen treffen. In solchen Situationen ist es moralisch geboten, sich um eine gemeinsame Entscheidung zu bemühen, deren Resultat eine Einigung auf die Realisierung einer der offen-

Fall ausgeglichen werden. Betrachtet man den Fall des wiederholten Auftretens von Situationen der fraglichen Art ζ. B. aufgrund gleichbleibender Lebensverhältnisse, so wird besonders klar, daß die Akteure aufgerufen sind, eine Einigung (ζ. B. in Form einer längerfristigen Abmachung) zu versuchen: Andernfalls würde diejenige Person, die sich in A's Position befindet, regelmäßig benachteiligt. Eine andere sozusagen technische' Lösung (die in der Praxis kaum eine Rolle spielen wird) kann darin bestehen, ein geeignet gewähltes Los entscheiden zu lassen, wer auf die Ausübung seines Freiheitsrechts verzichtet. Es ist klar, daß für die Bestimmung eines fairen Losverfahrens zu überlegen wäre, wem der Verzicht auf die Inanspruchnahme seines Freiheitsrechts ein größeres Opfer bedeutet. Verzichtet A auf den Gebrauch seines Freiheitsrechts, so kommt χ zustande, verzichtet hingegen Β auf den Gebrauch seines Freiheitsrechts, so wird y gewählt. Wenn man idealisierend annimmt, daß der subjektive Wert der Alternativen quantitativ bestimmbar ist, so wären die Differenzen d A und d B im subjektiven Wert der Alternativen χ und y ein theoretisch adäquates Maß des Verzichts (w p (a) bezeichne den subjektiven Wert der Alternative a für die Person p): d A := w A (y) - w A (x) d B : = wB(x) - wB(y) Gerecht erscheine es nun, wenn sich A und Β auf einen Zufallsmechanismus einigten, der beiden einen gleich hohen ,Verzichterwartungswert' beschert. Sei ρ die durch den Zufallsmechanismus festzulegende Wahrscheinlichkeit des Resultats, bei dem A auf die Ausübung seines Freiheitsrechts verzichtet, und sei 1-p die Wahrscheinlichkeit des Resultats, bei dem Β auf die Ausübung seines Freiheitsrechts verzichtet. Dann sollte nach diesen Überlegungen ein Zufallsmechanismus gewählt werden, der die folgende Bedingung erfüllt: ρ · d A + (1 - ρ) 0 = ρ · 0 + (1 - p) d ß d. h. ρ = d B : (d A + d B ) Man beachte, daß die quantitativen subjektiven Werte hier nur zur Bestimmung eines gerechten Losverfahrens dienen. Eine konsequentialistische Lösung, nach welcher moralisch gefordert ist, daß derjenige auf die Ausübung seines Freiheitsrechts verzichtet, dem dieser Verzicht weniger Nachteil bringt, ist dagegen m. E. nicht akzeptabel. Es gibt ζ. B. für A keine moralische Verpflichtung, auf die Ausübung seines Freiheitsrechts zu verzichten, wenn der Nachteil eines solchen Verzichts für Β höher wäre als für ihn selbst.

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stehenden Alternativen ist. Mit einer solchen Einigung verpflichten sich die Beteiligten, ihren Part in der Realisierung der gemeinsam ausgewählten Alternative zu übernehmen. Von ihren Freiheitsrechten können die betroffenen Personen in Situationen der fraglichen Struktur nur dann Gebrauch machen, wenn eine gemeinsame Entscheidung versucht wird. (3) Wenn sich eine Gruppe, um eine gemeinsame Entscheidung bemüht, so sollte sie die bestehenden Freiheitsrechte in der folgenden Weise berücksichtigen: Hat eine Person ein Freiheitsrecht in Bezug auf ein Alternativenpaar, so darf es nur dann zu einer Gruppenentscheidung für die von jener Person weniger gewünschte Alternative aus diesem Paar kommen, wenn sich die Gruppe das Einverständnis der fraglichen Person zu dieser Entscheidung einholt und dabei dieses Einverständnis nicht durch Drohungen erzwingt. — Die unter (2) und (3) erwähnten Aspekte von Freiheitsrechten werden wohl nicht nur in theoretischen Analysen, sondern auch ,im wirklichen Leben' häufig übersehen.

Quellennachweise Die Titel der Auszüge der Arbeiten von Kant, Locke, Mill und Nozick wurden von den Herausgebern gewählt. John Locke, Natürliche Freiheit. Auszüge aus: John Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise [EA 1690], [4—21, 26, 27, 95, 119]. Immanuel Kant, Freiheit und praktische Vernunft Auszug aus: Grundlegung Metaphysik der Sitten [EA 1785], Dritter Abschnitt. John Stuart Mill, Bürgerliche Freiheit Auszüge aus: John Stuart Mill, Über die Freiheit [EA 1859], vollständig überarbeitete Übersetzung von Else Wentscher aus dem Jahre 1928 (Leipzig, Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1991), S. 7 - 2 4 , S. 76-101. © Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH, Leipzig und Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg; 1928, 1991 (für die revidierte Übersetzung von Else Wentscher). Robert Nozick, Natürliche Freiheit, moralische Einschränkungen und der Staat Auszüge aus: Robert Nozick, Anarchie—Staat—Utopia [EA 1974], übers, von Hermann Vetter (München: Moderne Verlags Gesellschaft, o. J. 1976), S. 2 5 - 3 7 und S. 38-45. © Copyright by Basic Books, New York. Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Hermann Vetter © Alle deutschen Rechte bei mvg - Moderne Verlags Gesellschaft Wolfgang Dummer & Co., München. Thomas W. Pogge, Kant's Theory of Justice Aus: Kant-Studien 79 (1988), pp. 407-433. © Thomas W. Pogge. Michael J. Sandel, Morality and the Liberal Ideal Aus: The New Republic (May 7, 1984), pp. 15-17. Reprinted by permission of THE NEW REPUBLIC. © 1987, The New Republic, Inc. Raymond Geuss, Freiheit im Liberalismus und bei Marx Originalbeitrag. Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe Aus: Isaiah Berlin, Freiheit, übers, von Reinhard Kaiser (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1995), S. 197-256. © Oxford University Press 1969. Deutsch von Reinhard Kaiser. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Ronald Dworkin, Liberalism Aus: Ronald Dworkin, A Matter of Principle (Cambridge, Mass., and London, England: Harvard University Press, 1985), pp. 181 -204. © Ronald Dworkin.

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Nach vierzehn Jahren endlich wieder ein neuer Band der

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Vorlesungen der Jahre 1772 — 1796 nach Mitschriften von Hörern. Der zuletzt erschienene Band (1980/1983) der 29-bändigen Akademie-Ausgabe war „Kleinere Vorlesungen und Ergänzungen I". Die Vorlesungen über Anthropologie informieren über die Neuschöpfung und Entwicklung einer pragmatischen Wissenschaft vom Menschen, die Kant neben der kritischen Philosophie, jedoch mit vielfachen Brückenschlägen zur Ästhetik und Geschichtsphilosophie etablierte. Sie bilden ein großartiges Dokument der populären Bildung und Kultur der europäischen Aufklärung.

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Preferences explores the concept and the role of preferences and desires in practical reasoning. The collection starts out with a substantial survey, both philosophical and bibliographical. It then presents thirty-three state-of-theart papers, quite a few of them written by the world's foremost scholars in this field. All the essays are published here for the first time. What, the contributors ask, is the role of preferences, desires, and wishes in rational decisions, what in ethics? And what in between: can preferences ground ethics in rationality? The authors discuss: whether we can decide to desire; whether preferences can be rationally criticized, and how they relate to welfare and its measurement; whether ethics should have the format of a normative preference structure, and what this means for deontic logic; what value we should ascribe to possible preferences, and how this affects the morality of killing and of procreating — including the notoriously thorny question how many people there should be; to what extent moral actions would be rational even if we lacked altruistic preferences; and how, in general, moral obligation relates to subjective preferences, and to a notion of rationality based on them: why be moral? Contributions include: Lennart Aqvist, Hilary Bok, Uwe Bombosch, Richard Brandt, John Broome, Antonella Corradini, Sven Danielsson, David Gauthier, Allan Gibbard, Richard M. Hare, Rainer Hegselmann, Wilfried Hinsch, Ulrich Krause, Anna Kusser, Franz von Kutschera, Anthony Laden, Wolfgang Lenzen, Christoph Lumer, Jeff McMahan, Georg Meggle, Elijah Millgram, Julian Nida-Rümelin, Ulrich Nortmann, Rudolf Schüßler, Sydney Shoemaker, Peter Singer, Thomas Spitzley, Rainer Trapp, David Velleman, David Wiggins, and Marcus Willaschek.

Walter de Gruyter

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Berlin · New York