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German Pages 176 [178] Year 2020
Digitalisierung und Demokratie Ethische Perspektiven Herausgegeben von Petra Grimm und Oliver Zöllner
Medienethik | 18 Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Rafael Capurro und Petra Grimm Band 18
Digitalisierung und Demokratie Ethische Perspektiven Herausgegeben von Petra Grimm und Oliver Zöllner
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Hochschule der Medien Stuttgart Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Redaktion: Karla Neef Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12826-1 (Print) ISBN 978-3-515-12827-8 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Petra Grimm, Oliver Zöllner Digitalisierung und Demokratie – Einführung und Übersicht .........................7 I. MEDIEN UND DEMOKRATIE Marlis Prinzing Unwissenheit frisst Journalismus – Journalismus frisst Unwissenheit. Zur Einschätzung der aktuellen Entwicklung von Medien und ihrer Bedeutung für die Demokratie aus Sicht der journalistischen Ethik .............21 Volker Lilienthal Rechtspopulismus als Herausforderung für die Medien. Die Medienkritik der AfD und der journalistische Umgang mit der Partei ........................................................................................................37 Tobias List Meinungspluralismus in sozialen Medien. Zur Beteiligung von Influencern am politischen Diskurs ................................................................53 Oliver Zöllner Klebrige Falschheit – Desinformation als nihilistischer Kitsch der Digitalität..................................................................................................65 II. PRIVATHEIT UND DEMOKRATIE Julia Maria Mönig Privatheit als Luxusgut in der Demokratie? .................................................105 Susanne Kuhnert, Victor Limberger Datenschutz und der Wert der Privatheit – IT-Forensik aus datenschutzrechtlicher und ethischer Perspektive ........................................ 115 Martin Hennig Demokratisierte Überwachung? Transformationen gesellschaftlicher Modelle im Überwachungsfilm der digitalen Gesellschaft ..........................143 Lea Watzinger Metapher „Transparenz“ ..............................................................................161
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Inhaltsverzeichnis
Kurzbiografien ....................................................................................................173
DIGITALISIERUNG UND DEMOKRATIE Einführung und Übersicht Petra Grimm, Oliver Zöllner
Warum erscheint das Thema Digitalisierung und Demokratie so wichtig? Anlass für diesen Band der Medienethik-Schriftenreihe ist die Beobachtung, dass sich mit der Digitalisierung nicht nur die individuelle Lebenswirklichkeit verändert, sondern auch gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt wurden und werden, die sich auf unser demokratisches Gefüge auswirken. Vorsicht ist jedoch dabei geboten, diese Veränderung als eine rein technologische zu interpretieren. Digitalisierung ist mehr, wie noch auszuführen sein wird, als ein technologischer Prozess. Zudem gilt es auch, nicht voreilig kausale Wirkungsvermutungen auszusprechen, etwa in dem Sinne: die Digitalisierung verursacht dies oder jenes. Die Sache ist komplizierter. Wir schlagen deshalb vor, eine Reise der Reflexion zu starten, mit der eine Annäherung an das Thema möglich ist und die – so die Hoffnung – neue Erkenntnisse mit sich bringt. Wie immer ist vorab der Versuch einer Begriffsbestimmung hilfreich. Was kann aus politisch-philosophischer Sicht als „Demokratie“ definiert werden? Demokratie kann als Ideal eines Regierungssystems verstanden werden, in dem Entscheidungsund Handlungsprozesse auszuhandeln sind, und deren Idee auf einem bestimmten Menschenbild und damit einhergehenden Werten fußt. Für eine Demokratie konstitutiv sind „(i) ein stabiles Regierungssystem, das mäßigend auf Konflikte einwirkt, (ii) Freiheit, (iii) Gleichheit und (iv) Autonomie sowie eine über Institutionen vermittelnde Gesetzgebung, die den Bürgen gleiche Einwirkungsmöglichkeiten einräumt“1. Ideengeschichtlich geht die Erzählung der Demokratie auf eine lange Tradition zurück, von der Antike über die Zeit der Aufklärung bis in unsere Gegenwart. Demgegenüber ist die Geschichte der Digitalisierung eine vergleichbar kurze. Zunehmend wird offensichtlich, dass beide Erzählungen sich immer mehr zu einer gemeinsamen Meta-Erzählung verschränken. In dieser akkumulieren sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Narrative: Digitalisierung gefährde, fördere oder verletze gar die Demokratie.
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Richardson 2008, S. 206.
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1 NARRATIVE DER DIGITALISIERUNG – EIN PROLOG Das Narrativ der Demokratiegefährdung besagt, dass eine Schwächung des auf freier Meinungsbildung, Qualitätsjournalismus und Vielfalt basierenden klassischen Mediensystems durch die neuen Gatekeeper der Intermediäre, insbesondere der GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) erfolge. Die verstärkte Meinungsmacht der Intermediäre2 führt, so eine oft geäußerte Befürchtung, zu einer geringeren Meinungspluralität, zumindest bei Menschen, die wenig informiert sind oder zu Radikalisierung neigen.3 Zwar nutzten bereits in analogen Zeiten Menschen meist nur eine Zeitung mit einer politischen Tendenz, jedoch fungierten diese als Gatekeeper auf der Basis von allgemeingültigen Nachrichtenwerten. Menschen bilden sich heute ihre Meinung zunehmend durch von Algorithmen selektierte Inhalte. Damit setzen sich die Nutzerinnen und Nutzer aber dem Risiko aus, auf pseudo- und parajournalistische Inhalte sowie Desinformation zu stoßen. Und diese sind nicht für jede und jeden als solche erkennbar, oftmals auch, weil sie unter der Tarnkappe der Seriosität Desinformation verbreiten. Hinzu kommt der massive Markt- und Werbeverlust der klassischen Medien gegenüber den Intermediären, der zu einer systeminternen Schwächung journalistischer Qualitätsmedien führt. Wenn das für komplexe liberale Demokratien notwendige öffentliche Mediensystem, das Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse entsprechend den publizistischen Grundsätzen wie Wahrhaftigkeit, Sorgfalt und Vielfalt stützt, instabil wird, wird auch die Demokratie selbst geschwächt. Aus ethischer Sicht stellt sich hier u. a. die Frage, was wir tun sollen, um diesem Trend der Instabilität entgegenzuwirken. Sollte die Bedeutung der Medien für die Demokratie wieder mehr ins Bewusstsein kommen? Brauchen wir in der Bildung eine gezielte Förderung von Meinungsbildungskompetenz, die uns dazu verhilft, zum einen Desinformationsstrategien zu entkräften und zum anderen Qualitätsjournalismus zu erkennen und wertzuschätzen? Sollte neben diesen individualethischen Ansätzen auch auf politischer Ebene reflektiert werden, wie die Verantwortung der meinungsbildungsrelevanten Intermediäre stärker regulativ eingefordert werden kann? Und wie kann zukünftig ein öffentlich-rechtliches Mediensystem vor antidemokratischen Angriffen, insbesondere durch Populisten und Rechtsextreme, besser geschützt werden? Das zweite Narrativ der Demokratieförderung erzählt uns eine entgegengesetzte Geschichte. Demnach verspricht die Digitalisierung ein Mehr an Teilhabe (auch sog. marginalisierter und benachteiligter Bevölkerungsgruppen), eine Verbesserung demokratischer Willensbildung durch leichtere Zugänge zur öffentlichen Kommunikation, die Unterstützung demokratischer Bewegungen (wie z. B. bei den Protesten in Hongkong 2019/20 gegen die Einflussnahme der chinesischen Zentralregierung), und nicht zuletzt die – wenn auch schwierige und nur in Ansätzen umsetzbare – Veröffentlichung politischer Missstände in Ländern ohne Pressefreiheit und Demokratie. Dieses Narrativ ist das wohl älteste, denn es begleitete die An2 3
Vgl. Paal 2018. Vgl. Dubois/Blank 2018.
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fangsjahre des „Web 2.0“ und bewirkte im Unterschied zu allen Medienrevolutionen zuvor, dass das Internet als eine positive Medienutopie eingeführt wurde, was weder dem Buch, dem Kino oder dem Fernsehen je gelang, deren Geburt vor allem von kulturkritischen Narrativen begleitet wurde. Die mit der Ökonomisierung des Internets einhergehende Desillusionierung hinsichtlich einer freieren, gerechteren, kurz demokratischeren, Medienkommunikation wird durch das opportunistische Verhalten der Tech-Konzerne gegenüber autokratischen Ländern noch verstärkt. Gleichwohl stellt sich aus ethischer Sicht die Frage, ob es nicht eines neuen Narrativs bedarf, das den utopischen Kern der Digitalisierung wieder befeuert und alternative Modelle entwirft. Ein Motiv hierfür könnte ein zivilgesellschaftlicher Entwurf sein, der sich gegen die ökonomische Zweckbindung kommunikativer Infrastrukturen aufstellt. Könnte es ein Angebot wie Google, Facebook, Instagram, TikTok, WhatsApp etc. auch ohne datenökonomische Zwecke geben und wie sähe dieses aus? Das dritte Narrativ des Demokratieverlusts fokussiert die Dysfunktionen der Digitalisierung: Überwachung sowie Verlust der Autonomie und Privatsphäre, die als konstitutive Komponenten der Demokratie gelten. Dieses Narrativ ist das wirkmächtigste im öffentlichen Diskurs, vermutlich, weil es zum einen die Grundpfeiler persönlicher Lebensentwürfe betrifft und zum anderen an die noch immer präsente politische Geschichte in Deutschland anknüpft. Zudem hat sich das Phänomen der (staatlichen) Überwachung auch in unserem „kulturellen Wissen“4 durch zahlreiche Filme und literarische Werke tief verankert, dazu gehören z. B. populäre Filme wie „Fahrenheit 451“ (1966), „1984“ (1984), „Der Staatsfeind Nr. 1“ (1998), „The Truman Show“ (1998), „Minority Report“ (2002), „Das Leben der Anderen“ (2006), „Eagle Eye“ (2008), „In Time“ (2011). Wenngleich der Begriff der Überwachung in seiner alltagssprachlichen Verwendung zumeist negativ konnotiert ist und dann als extreme Ausprägung staatlicher Kontrolle einer Bevölkerung verstanden wird, ist er in seiner begrifflichen Bedeutung viel weiter zu fassen5 und liegt häufig unterhalb unseres Wahrnehmungsradars: Das betrifft nicht nur alltägliche Praktiken der Überwachung (wie z. B. Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen, Datenerfassung in den Sozialen Medien, vernetztes Spielzeug), sondern auch freiwillige Selbstüberwachungspraktiken (wie z. B. die Nutzung von Fitness-Apps), die nicht selten dann von den Anbietern zur unbotmäßigen Datengenerierung missbraucht werden. Mit den digitalen Überwachungstechnologien hat sich nicht nur das Anwendungsfeld erweitert, auch der Intensitätsgrad hat sich erhöht. In einer vernetzten Umwelt kann somit nicht nur jederzeit und an jedem Ort, sondern auch bei nahezu allen Lebenspraktiken Überwachung potenziell möglich sein. Um zu entscheiden, wo Abwehr und Schutz vor Überwachung unabdingbar ist, bedarf es demokratisch funktionierender Systeme, insbesondere eines von der Politik unabhängigen Rechtssystems, um staatliche und wirtschaftliche Interessen in ihre Schranken zu weisen. Abwehrstrategien rechtlicher (wie z. B. der Datenschutz) und technischer Natur (z. B. Privacy Engineering und Privacy Enhancing Technologies) sind nicht 4 5
Titzmann 2006. Vgl. Kammerer 2016, S. 188–189.
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selbstbegründbar, sondern basieren auf einem ethischen Werteverständnis. Es braucht auch die normative Kraft ethischer Argumente und Begründungen, um sichtbar zu machen, in welchen Fällen Überwachung eine Verletzung der Autonomie und Privatheit bedeutet und sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Auswirkungen haben kann, die die Kernwerte einer liberalen Demokratie betreffen. Für die Vermittlung dieser ethischen Perspektive und auch zur Sensibilisierung bietet sich die narrative Ethik an.6 So können Geschichten von Überwachung wie auch zu den Werten der Autonomie und Privatheit, die an die lebensweltlichen Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger anschließen, Zugänge zu ethischen Konflikten ermöglichen, die durch wissenschaftliche Diskurse nicht erzielbar sind. Insbesondere durch ihre Befähigung, komplexe Sachverhalte (wie z. B. Überwachung) zu konkretisieren, sind sie geeignet, ethische Werte- und Normenfragen der Digitalisierung zu thematisieren und Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, die in eine emotional verankerte ethische Haltung münden können. Wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann, zeigt z. B. das medienethische Projekt der „10 Gebote der Digitalen Ethik“7, die auch zum Thema der Privatheit und Überwachung Geschichten enthalten. Gleichzeitig lassen sich aber auch mittels der narratologischen Methoden Interessen, Perspektiven und Konflikte der jeweiligen Akteure verdeutlichen. Im Zuge der sich weiter entwickelnden Überwachungstechnologien liefert die Narratologie ein probates Instrumentarium, um sich den ethischen Fragen zu stellen. 2 DIGITALISIERUNG – MEHR ALS EINE TECHNOLOGIE Die Narrative der „Digitalisierung“ und „Demokratie“ zusammenzudenken, stellt unzweifelhaft eine große Herausforderung dar. Kompliziert gestaltet sich allein schon der Versuch, den wechselseitigen Zusammenhang dieser beiden Begriffe zu erfassen. Denn die Digitalisierung ist, folgt man dem Makrosoziologen Armin Nassehi, „die dritte, vielleicht sogar endgültige Entdeckung der Gesellschaft“8: nach der „Erfindung des Institutionenarrangements moderner Gesellschaften nach der Französischen Revolution“ (als erste Entdeckung) und „nach der Politisierung von Gesellschaftsgestaltung während der Liberalisierungsschübe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (als zweite Entdeckung).9 Auf eine knappe, reduktionistische Formel gebracht: Die Einführung der Gewaltenteilung nach 1789 und das Aufkommen neuer, weniger autoritaristischer Vorstellungen von der Ausgestaltung der Lebensentwürfe ab ca. 196810 sorgten für die Grundlagen der liberalen, auf das Glück des Individuums abzielende demokra6 7
8 9 10
Vgl. Grimm 2019. Die „10 Gebote der Digitalen Ethik“ sind im Institut für Digitale Ethik in einem Masterprojekt mit Studierenden und juuuport.de entstanden und mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt worden. 2020 erschien eine Sammlung neuer Alltagsgeschichten. Online verfügbar unter: www.hdm-stuttgart.de/digitale-ethik/digitalkompetenz/10_gebote. Nassehi 2019, S. 45. Ebd., S. 326. Vgl. hierzu Kraushaar 1998; Kurlansky 2004; Siegfried 2018.
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tische Gesellschaft westlicher Prägung. Diese beiden „Entdeckungen von Gesellschaft“ waren, folgt man Nassehi, zugleich der Startschuss für die „Digitalisierung“ im Ursinne: für die In-Form-Bringung der Gesellschaft durch Abzählbarkeit, also durch die Ausbildung (und Notwendigkeit) administrativ orientierter empirischstatistischer Sozialforschung (Volkszählungen und Erhebungen aller Art), frühen Formen des „Dataismus“ und der Musterbildung also.11 Statistische Werte wurden zu Steuerungsgrundlagen des modernen Staatswesens; die zahlreichen Statistikämter, ohne die behördliche Planung nicht mehr denkbar war und ist, und die zunehmend in Permanenz stattfindenden Meinungsumfragen und Evaluationen, ohne die der Politikbetrieb und andere Funktionssysteme der Gesellschaft heute längst kaum noch vorstellbar ist, zeugen davon.12 Sie informieren die Gesellschaft über sich selbst, sie sind Beobachtungsinstanzen für die Gesellschaft. Sie ermöglichen Transparenz und indirekt auch Teilhabe, also eine Grundvoraussetzung für Demokratie oder Volksherrschaft, ließe sich tentativ ergänzen. Sie stehen aber genauso für Möglichkeiten der Überwachung von Menschen: klassisch durch den Staat, in späteren, unmittelbar „digitalen“ Kontexten aber nicht zuletzt auch durch Tech-Konzerne und ihre Plattformen und Algorithmen.13 Das Chiffrenjahr „1968“ war in diesem Kontext ein besonderer Verstärker der Digitalisierung, die sich seit den 1940er-Jahren im Zuge der Computerisierung und des Einzugs der Datenverarbeitung abgezeichnet hatte. Viele universitäre Proseminare hatten seinerzeit bereits die Verwandlung der Medientechnik von „einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ diskutiert, wie sie Bertolt Brecht Anfang der 1930er-Jahre mit Blick auf den Rundfunk vorschwebte.14 Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.15
Da war sie bereits, die hier vorgedachte und geradezu basisdemokratische Utopie herrschaftsfreier oder jedenfalls horizontaler Kommunikation, formuliert lange vor dem Einzug der Computertechnik in die Haushalte und ins Alltagsleben. In ihr steckt ein eudämonistisches Glücksversprechen vom glücklichen individuellen Leben und von der erblühenden Gesellschaft. „Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozeß möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden“, formulierte es in diesem Duktus Hans Magnus Enzensberger 1970 in einem Essay.16 Solche Gedanken wurden auch rund 25 Jahre später wieder aufgegriffen, als „das Internet“ als sichtbarstes Zeichen der fortschreitenden Digitalisierung ab Mitte der 1990er-Jahre allmählich eine breitere Marktdurchdringung erfuhr. 11 12 13 14 15 16
Vgl. Michel 1981; Nassehi 2019. Vgl. Rödder 2010. Vgl. hierzu ausführlich Zuboff 2019. Brecht 1967, S. 129. Ebd. Enzensberger 1970, S. 160.
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3 GLÜCKSVERSPRECHEN AUS DEM SILICON VALLEY Historisch gesehen waren zu diesem Zeitpunkt allerdings viele Hippie-Utopien – Träume von der Ausbildung neuer Gemeinschaftlichkeit und von der Überwindung der Grenzen des überkommenen Denkens – längst gescheitert. Parallel zur persönlichen Neuorientierung vieler Althippies in Kalifornien, dieser Urzelle vielfältiger Alternativbewegungen, gingen die utopistischen Visionen ab den frühen 1970erJahren recht nahtlos in die sich ausbildende „kalifornische Ideologie“ der permanenten Optimierung ein.17 Arbeite an deiner Persönlichkeit! Sei sportlicher, gesünder, schlanker, offener, großzügiger! Schaffe eine bessere Version deines Selbst – so tönt bis heute das Credo der Selbstverbesserer. Ein Glaubenssystem, das tief im Erweckungsmythos der puritanischen Gründungsväter der Vereinigten Staaten wurzelt. Wer ein vorbildliches, „sauberes“ Leben führt, lebt gottgefällig und wird dafür entsprechend belohnt – so in etwa lautet die Gleichung. Viele Pioniere des Silicon Valley waren ganz folgerichtig ehemalige Hippies, die ihre alten Ideale vom besseren Leben mehr oder weniger „neoliberal“ (oder vielleicht schlicht „uramerikanisch“) in Geschäftsmodelle ummünzten. Die sich speziell im Hotspot Kalifornien rasant entwickelnde Computertechnologie ließ sehr weitreichende Ansätze für die Quantifizierung aller denkbaren Lebensbereiche zu. Die „Quantified Self“-Bewegung einer intensiven digitalen Selbstvermessung ist hierfür ein beredtes Zeugnis. Rankings, Scorings und Vergleiche sind im Privaten, im Geschäftlichen und nicht zuletzt im Politischen die neuen wesentlichen Maße.18 Das neue Zeitalter (New Age) der einstigen Hippies wurde zum „crossover between countercultural spirituality and tech culture“19. Durchaus erfolgreich, wie wir heute wissen. Der geradezu legendäre Apple-Gründer und Ex-Hippie Steve Jobs hatte stets ein großes Talent, wie ein „Guru“ aufzutreten. Seine öffentlichen PR-Auftritte wurden in der TechCommunity wie Gottesdienste gefeiert. Jobs wurde zum Vorbild vieler Epigonen. Der alte Geist einer progressiven Utopie schwang stets mit, wenn die Produktversprechen der Branche als Verheißungen eines besseren Lebens formuliert wurden. Das Internet sollte sie endlich ermöglichen: die Willensbildung unter Inklusion aller Bürgerinnen und Bürger, die für alle transparente Gestaltung politischadministrativer Prozesse, die liquid democracy – jederzeit einsehbar und nachvollziehbar. Demokratie 2.0. Dank Internet. Endlich. Plötzlich konnte in der Tat jede und jeder zum Sender werden: nach Lust und Laune E-Mails verschicken und empfangen, Inhalte auf einer Website präsentieren, Kanäle mit eigenen Text-, Bild-, Audio- und Videoinhalten bespielen, Blogs und Profile in sozialen Online-Netzwerken pflegen usw. Im Vokabular der alten analogen Medienwelt ausgedrückt: Jeder konnte nun seine eigene Zeitung kreieren, zum eigenen Hörfunk- und Fernsehdirektor werden oder schlicht eine Dauerwerbesendung für die eigene Person oder für Partikularinteressen veranstalten. Brechts alter Traum wurde wahr – so schien es jedenfalls. Wenn da nicht die Sache mit den Besitzverhältnissen gewesen wäre. Aus Garagen-Startups wurden oftmals schnell wachsende globale Großkon17 18 19
Vgl. Lazzarato 2013; Zöllner 2015, S. 11. Vgl. Mau 2017; Selke 2014. Lanier 2013, S. 213.
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zerne, die die Produktionsmittel – die Server, Programme und Auswertungsalgorithmen ihrer Plattformen – unter ihrer Kontrolle behalten. Und die Nutzerinnen und Nutzer gleich mit dazu. Die Öffentlichkeiten, die dank Digitalisierung neu entstanden und entstehen, sind andere, als sie Brecht, Enzensberger et al. vorschwebten. Oft sind sie nur Pseudo-Öffentlichkeiten: eine entprivatisierte „Vertrautheitszone“, die zu „einer Art Überfamilie zusammengezogen“ wird20, in der aber kritisch-rationale Diskurse kaum stattfinden (können), wenn Habermas’ Analysen aus dem Jahr 1965 auf die Social Media der Gegenwart angewendet werden dürfen. Man darf zumindest skeptisch bleiben. 4 DIE „SMART CITY“ ALS MODELL NEUER STAATLICHKEIT? Ein euphorisch-predigerartiger Tonfall ist dennoch bis heute im Silicon Valley zu vernehmen, wenn es um die Produkte und Dienstleistungen geht, die die Digitalisierung vorantreiben. Tesla-Gründer Elon Musk ist für seine teils fantastischen technoiden Prophezeihungen bekannt. Pressemitteilungen und Produktbeschreibungen aus dem Silicon Valley lesen sich nicht selten wie die Verkündigung eines neuen Evangeliums. Oft wird eine globale „Community“ der Nutzerinnen und Nutzer beschworen, die iPhones und Tablets zu einem höheren Zweck verwenden und sich via Facebook oder WhatsApp zum Wohle der Menschheit vernetzen sollen. Facebook-Chef Mark Zuckerberg etwa „wirkt wie ein Oberhirte, wenn er die Vision, die Welt zu vernetzen, mit heilsgeschichtlicher Bedeutung auflädt“21. Stets wird dabei die Demokratie beschworen, die in sozialen Online-Netzwerken vorgeblich besser gedeihe als außerhalb (also in eher langwierigen Prozessen der Mehrheitsfindung in parlamentarischen Ausschüssen, von Mitgliedschaften in Parteien oder Bürgerinitiativen ganz zu schweigen). Längst werden auch Vorschläge diskutiert, Städte nach dem Modell Amazon zu regieren, also nach denjenigen Leitprinzipien, mit denen der Tech-Konzern seine Geschäfte führt: umfassend datenbasiert, hoch effizient und stets kundenorientiert.22 Auch das Foto- und Videonetzwerk Instagram und der Messengerdienst WhatsApp, beide aus dem Hause Facebook, Inc., dienen manchen Visionären als Modell für eine demokratischere Stadt, die ihre Bürgerinnen und Bürger besser, tiefer und „smart“ einbindet23 – bloß letztlich eben als Kundinnen und Nutzer, wie hinzuzufügen ist. Das ökonomistische Kalkül ist bei diesen Konzepten schon tief ins Denken integriert. Die demokratisch legitimierte Staatlichkeit ist in einem solchen gedanklichen Kontext bedeutungslos und machtlos geworden. Mit Menschen, für die „Wahl“ vor allem „Auswahl“ aus einer Angebotspalette bedeutet, aber nur noch nachrangig etwa einen politischen Urnengang oder ein bürgerschaftliches Engagement, ist im weitesten Sinne des Wortes kein Staat mehr zu machen. 20 21 22 23
Habermas 1965, S. 178. Lobe 2019, S. 10. Vgl. Graham et al. 2019. Vgl. Burns 2019; Datta 2019.
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Während „smart cities“ derzeit noch weitgehend Fantasiegebilde sind (jedenfalls in der westlichen Welt), ist der zunehmend bedeutungslose bzw. entmachtete Staat mehr und mehr Realität. Die großen Tech-Konzerne (Alphabet, Amazon, Apple, Facebook, IBM, Microsoft in den USA, Alibaba, Baidu, Tencent in China) sind längst globale Technologie-Imperien oder stehen kurz vor ihrem weltweiten Markteintritt. Die Gemeinschaften, die die Tech-Konzerne ihren Kunden anbieten, haben einen gewissen Allmachtsgestus. Die Verwendung und Ausbeutung von Nutzerdaten wird dort sehr weit gefasst; die zum Einsatz kommenden Algorithmen sind intransparent.24 Dies widerspricht demokratischen Prinzipien von Partizipation und Kontrolle. Ein Verlassen etwa von sozialen Netzwerken ist kaum möglich, will man nicht vieler seiner (Online-)Kontakte verlieren – der Lock-in-Effekt ist sehr stark und hebelt die menschliche Autonomie aus. Adrian Lobe stellt in diesem Kontext mit exemplarischem Blick auf Zuckerbergs Unternehmen eine ganz richtige Frage: „Ist die Demokratie auch eine ‚Community‘ und ist sie mit Facebook kompatibel?“25 Oder andersherum formuliert: Wie ließen sich denn die Social Media in wahrhaft soziale, also der Gesellschaft verpflichtete Medien bzw. Diskursräume verwandeln, mithin auch demokratische Partizipation neu denken?26 Längst gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Algorithmen der sozialen Online-Netzwerke leicht zu manipulieren sind und auch anti-demokratische Botschaften millionenfach automatisiert verbreiten können; hinzu kommen die dort längst alltäglich gewordenen Hassbotschaften, „Fake News“ und Verschwörungserzählungen von Seiten vielfältiger Propagandisten, für die Social Media höchst willkommene Distributionsplattformen sind. Yvonne Hofstetter stellt die utopistische Weltsicht des Silicon Valley und seiner Tech-Evangelisten – das unhinterfragte „Immer mehr, immer weiter“ – mit ihrer Analyse einer zunehmend von Programmcodes der Künstlichen Intelligenz (KI) gesteuerten Meinungsbildung in Abrede und fördert deren innewohnende Dystopie zutage. Zunehmend greife „der Informationskapitalismus den Raum der Freiheit an, der auf der Idee des selbstbestimmten Menschen aufbaut“27. Unter der Übermacht der KI und ihrer Codes, so Hofstetters These, „leidet die Rechtsstaatlichkeit, die nicht nur die Grundrechte und die politischen Partizipationsrechte, sondern auch die Gewaltenteilung garantieren sollte.“28 Werde dem Individuum allerdings seine persönliche Selbstbestimmung abgesprochen, so die Autorin, „besteht kein Grund mehr, die Demokratie und die Wahl zwischen alternativen Parteien weiter aufrechtzuerhalten, es sei denn, als wirkungslose Fiktion“29. Wer braucht überhaupt noch Politikerinnen und Politiker, wenn KI-Programme scheinbar überlegene, „intelligentere“ Lösungen für Probleme vorschla24
25 26 27 28 29
Vgl. Webb 2019. Die diktatorische Volksrepublik China nimmt in diesem Kontext allerdings eine besondere Stellung ein, da sie als ein Beispiel für einen zunehmend machtvoller auftretenden Staat zu sehen ist. Die Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten der Überwachung und Diskurslenkung kommt diesem Regime enorm zupass. Vgl. näher hierzu auch Strittmatter 2018. Lobe 2019, S. 10. Vgl. Zöllner 2018. Hofstetter 2016, S. 376. Ebd. Ebd., S. 376f.
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gen können als Menschen, wie Prediger der unbedingten technischen Innovation ja häufig suggerieren? Nicht nur die menschliche Autonomie mit ihren Entscheidungs- und Handlungsprozessen wäre somit ausgehebelt. Die Idee der repräsentativen Demokratie mit ihren gewählten Volksvertreterinnen und -vertretern stellte das ganz grundsätzlich in Abrede, denn sie erübrigte sich dann. Dies ist fürwahr eine dystopische Sicht auf die Zukunft der demokratischen Herrschaftsform im digitalen Zeitalter, in dem die Angriffe auf die liberale westliche Demokratie keineswegs nur aus der digitalen Sphäre kommen, sondern auch ganz handfest von machtvollen Diktaturen, von Populisten und Autokraten. Aber manchmal bedarf es wohl der Dystopie, um den Blick auf das Bewahrenswerte der Gegenwart zu schärfen und die in der Vergangenheit formulierten Utopien einer besseren Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren. 5 ÜBERSICHT ÜBER DIE BEITRÄGE Das vorliegende Buch hat sich zur Aufgabe gestellt, die Perspektiven der Ethik, Philosophie, der Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie des Rechts zum Thema der Digitalisierung und Demokratie zusammenzuführen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich mit den wesentlichen Konflikthemen der drei vorgestellten Narrative zur Digitalisierung: Medien und Demokratie sowie Privatheit und Überwachung. Der erste Beitrag „Unwissenheit frisst Journalismus – Journalismus frisst Unwissenheit. Zur Einschätzung der aktuellen Entwicklung von Medien und ihrer Bedeutung für die Demokratie aus Sicht der journalistischen Ethik“ von Marlis Prinzing nimmt eine medienethische Einordnung der zentralen Perspektiven zum Verhältnis von Demokratie und Journalismus vor. Auf der Grundlage normativer und philosophischer Ansätze befasst sie sich mit der Frage der Verantwortung sowie der Norm der Medienfreiheit und zeigt auf, welche die Demokratie erodierenden Kräfte derzeit wirken und wie diesen entgegengewirkt werden kann. So unterbreitet sie auch einen Handlungsvorschlag, der zum einen für eine breite Anwaltschaft für Journalismus wirbt als auch die Relevanz von Nachrichtenkompetenz im Bildungssektor verdeutlicht. Volker Lilienthal vertieft mit seinem Beitrag „Rechtspopulismus als Herausforderung für die Medien. Die Medienkritik der AfD und der journalistische Umgang mit der Partei“ die vielschichtige Frage nach der Schutzfunktion des Journalismus für die Demokratie. In einem theoretisch fundierten Parcours macht er deutlich, dass Journalismus für eine freie Gesellschaft wie „ein Lebensmittel“ ist, auf das sie nicht verzichten kann. Dezidiert zeigt er die Strategien des Rechtspopulismus und der AfD auf, wie sie mit ihrer Medienkritik und dem Angriff auf den öffentlichrechtlichen Rundfunk den Qualitätsjournalismus schwächen und desavouieren möchte und in den Sozialen Medien Journalisten einzuschüchtern versucht. Wie Journalismus diesen Strategien am besten begegnen kann und hier auch gefordert ist, eine ethische Praxis der „roten Linien“ anzuwenden, wird ebenso klar dargestellt, wie auch die Fehlleistungen journalistischer Praxis im Umgang mit der AfD.
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Die Antwort auf die Frage, ob Journalismus die Demokratie schützen kann, wird letztendlich mit sowohl ja als auch nein beantwortet und begründet. Meinungsbildung findet heute nicht mehr nur durch journalistische Medien statt. Tobias List lenkt in seinem Beitrag „Meinungspluralismus in sozialen Medien. Zur Beteiligung von Influencern am politischen Diskurs“ unseren Blick auf die Tatsache, dass nicht-publizistische Angebote entgegen klassisch-journalistischer Angebote eine zunehmende Meinungsbildungsrelevanz übernehmen. Er befasst sich mit der Frage, inwieweit sich am politischen Diskurs beteiligende Influencer zur Meinungsvielfalt beitragen und inwieweit die Sorgfalts- und Neutralitätsverpflichtung von Medienakteuren rechtlich auch für Influencer gilt. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Analyse ist die Regulierung von Medienintermediären, die direkte Auswirkungen auf die Medieninhalte der Influencer haben. Für die Beantwortung der Frage, ob Influencer neuen Regulierungen unterliegen sollten, arbeitet er wesentliche Forschungsfragen heraus. Den Schwerpunkt „Medien und Demokratie“ schließt Oliver Zöllner mit seinem Beitrag „Klebrige Falschheit – Desinformation als nihilistischer Kitsch der Digitalität“ ab. Er legt den Schwerpunkt auf „die ins Wanken geratenen Wahrheitskonzepte und die normativen Konsequenzen“ und ordnet diese aus kommunikationssoziologischer und philosophischer Perspektive ein. Seine zentrale These lautet, „dass Desinformation, Lüge und ‚Fake News‘ Ausdruck einer nihilistischen Haltung in der Gesellschaft sind“. Er seziert in sieben Analyseschritten die unterschiedlichen Facetten einer Krise der Wahrheit, wobei er u. a. auf Verschwörungsnarrative, einschlägige rechtspopulistische Medienangebote, die sog. Postmoderne und Konstrukte des Nicht-Wahren eingeht. Ebenso führt er aus, warum aus seiner Sicht Erschütterungen der Erkenntnisvoraussetzungen und ein Nihilismus des „Kitschs“ beobachtbar sind. Schlussendlich bietet er auch Lösungsansätze, wie mit Desinformation und Wahrheitskrisen umzugehen wäre. Ein Baustein hierfür wäre „die Weitererzählung und Fortentwicklung eines an Freiheit orientierten Ethik- und Bildungsansatzes“. In das zweite Themenfeld „Privatheit und Demokratie“ führt Julia Maria Mönig mit ihrem Beitrag „Privatheit als Luxusgut in der Demokratie?“ ein. Aus philosophischer Perspektive und zugleich sehr praxisnah begründet sie, weshalb Privatheit in der Demokratie als schützenswertes Gut zu betrachten ist – und zwar nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Wenngleich bislang im Privatheitsdiskurs noch wenig beachtet, zeigt sie auf, dass Privatheit zunehmend ein Luxusgut für Privilegierte wird, die ausreichend Zugang zu Bildung, Geld und Eigentum haben. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Praxis der Apps von Krankenversicherungen – nur wer es sich leisten kann, kann einen Tarif ohne Datenaufzeichnung nutzen, die anderen müssen sich „tracken“ lassen. An diesen Überlegungen zur Privilegiertheit knüpft sie die Frage der Gerechtigkeit an. Denn wenn Privatheit als schützenswertes Gut der Demokratie gilt, kann es sich nicht gleichzeitig als Luxus erweisen. Im zweiten Teil ihrer Betrachtungen legt sie dar, warum Privatheit Demokratie und Demokratie Privatheit braucht. Ein in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtetes Feld ist das der IT-Forensik. Mit der fortwährenden Entwicklung der Computer- und Mobiltechnologien sowie
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der exorbitanten Datengenerierung in einer vernetzten Umwelt und im Smartphone gewinnt die IT-Forensik in der Strafverfolgung und in der Nutzung von Beweisen bei Gerichtsverfahren immer mehr an Bedeutung. Susanne Kuhnert und Victor Limberger verfolgen in ihrem Beitrag „Datenschutz und der Wert der Privatheit – ITForensik aus datenschutzrechtlicher und ethischer Perspektive“ einen interdisziplinären Ansatz. Aus rechtlicher Sicht werden die Relevanz der IT-Forensik für die Strafandrohung und die rechtlichen Rahmenbedingungen diskutiert sowie ein daraus abzuleitender Gestaltungsbedarf skizziert. Aus Sicht der Digitalen Ethik wird – nach einer Erläuterung von deren Grundlagen und Anwendung auf eine werteorientierte Technikgestaltung – der Frage nachgegangen, welche Leistung die Ethik für den Datenschutz erbringen sollte und wie über die Grenzen des Datenschutzes hinaus der Schutz der Privatheit gesichert werden kann. Für die Praxis einer ethisch ausgerichteten IT-Forensik besonders hilfreich werden Leitlinien zum Datenschutz in der mobilen Forensik vorgestellt, die im BMBF-Projekt SmartIdentifikation entwickelt wurden. Der Beitrag verdeutlicht, inwieweit es Schnittstellen zwischen Ethik und Recht, aber auch Abweichungen gibt, so z. B. beim Transparenzgebot. Von der Privatheitsforschung zur Überwachungsforschung ist es nur ein kleiner Schritt. Martin Hennig analysiert in seinem Beitrag mit dem auf den ersten Blick antipodischen Titel „Demokratisierte Überwachung? Transformationen gesellschaftlicher Modelle im Überwachungsfilm der digitalen Gesellschaft“, inwieweit Filme gesellschaftliche Überwachungsmodelle aufgreifen und sich neue Überwachungsnarrative herausgebildet haben. Sein narratologischer Ansatz erlaubt es, die jeweiligen Motive, Strukturen und Inszenierungsstrategien zu analysieren und darauf aufbauend deren Überwachungsmodelle mit denen einer Disziplin-, Kontrollund Transparenzgesellschaft abzugleichen. Ausgehend von dem Klassiker des Überwachungsfilms „1984“ (1984) bis über neuere Filme, Serienfolgen und Werbespots geht er der Frage nach, ob ein Strukturwandel im Überwachungsdiskurs erkennbar ist und welche Lösungsmodelle offeriert werden. Ein mit dem Digitalisierungsdiskurs eng verknüpfter und politisch aufgeladener Begriff ist der der „Transparenz“. Lea Watzinger konzentriert sich in ihrem Beitrag „Metapher ‚Transparenz‘“ auf diesen Begriff und geht der Frage nach, in welchem Verhältnis dieser zur digitalen Öffentlichkeit steht. Hierfür sucht sie zuerst nach Gründen, warum Transparenz zur Norm arriviert ist und rekonstruiert im weiteren Verlauf dessen ideengeschichtliche Entstehung und Entwicklung. Hierbei bezieht sie sich auf Kants Prinzip der Publizität als öffentliche Vernunft sowie das historische Konzept einer öffentlichen Sphäre. Ihre Kritik an der in der digitalen Gesellschaft zur Norm erhobenen Transparenz mündet darin, dass sie aus demokratietheoretischer Perspektive für ein Gebot der Publizität argumentiert.
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Petra Grimm, Oliver Zöllner
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UNWISSENHEIT FRISST JOURNALISMUS – JOURNALISMUS FRISST UNWISSENHEIT Zur Einschätzung der aktuellen Entwicklung von Medien und ihrer Bedeutung für die Demokratie aus Sicht der journalistischen Ethik Marlis Prinzing
Journalismus ist konstitutiv für demokratische Gesellschaften. Professioneller Informationsjournalismus gibt öffentlichen Debatten und der Meinungsbildung Raum, beobachtet, erklärt, widerspricht. Aber er muss zunehmendem Druck standhalten: Von innen durch handwerkliche Defekte, wie sie sich an den Fälschungen von Spiegel-Reporter Claas Relotius offenbarten – Defekte, die den Goldstandard der Glaubwürdigkeit angreifen. Von außen durch Kräfte, die die Pressefreiheit und damit störungsfreies journalistisches Arbeiten einengen, durch digitale Transformation und vor allem durch Unwissen: Immer mehr Menschen (auch in Lehrerkollegien und Redaktionen) wissen nicht so recht, warum Demokratie und Journalismus wichtig sind, warum allen, die öffentlich kommunizieren, ein ethischer Kompass nützt, und weshalb jeder im eigenen Interesse lernen sollte, Nachrichten zu verstehen und einzuordnen. Das Eine lässt sich nur mit dem Anderen denken: Nur wer weiß, was professioneller, frei, aber verantwortungsbewusst handelnder Journalismus wert ist und leistet – für ihn persönlich und für die Gesellschaft –, wird ihn nutzen. Und umgekehrt. Dieser Beitrag möchte eine Bestandsaufnahme auf normativer und philosophischer Basis vornehmen sowie einen Handlungsvorschlag machen. Er setzt an bei einer medienethischen Einordnung (1.), die entlang von Beispielen aus dem Journalismus vorgenommen wird: Wer steht in der Verantwortung? Auf welcher philosophischen und normativen Grundlage? Worin besteht die spezielle Verantwortung der journalistischen Ethik? Darauf folgt der Blick auf ausgewählte Themen, die für das Verhältnis von Medien und Demokratie konstitutiv sind (2.): erstens auf die Norm der Medienfreiheit am Beispiel Deutschlands, auf die hauptsächlichen Triebkräfte, die sie und damit unsere demokratische Gesellschaft erodieren lassen, und auf das, was uns damit verloren gehen könnte; zweitens auf Medienpädagogik und ihren Medienkompetenz umfassenden Bildungsauftrag; drittens auf „Binnenthemen“ wie Innovation, Qualifikation und Community-Funktion. Fazit bildet ein Vorschlag (3.) für eine breite Anwaltschaft für Journalismus als wichtige Instanz für Diskurs und Aufklärung in einer digital aufgeklärten, medienkompetenten, demokratischen Mediengesellschaft: Unwissenheit frisst Journalismus, Selbstbestimmtheit – und Demokratie. Und umgekehrt.
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1 ETHISCHER KOMPASS UND DIE EBENEN DER VERANTWORTUNG Unser ethischer Kompass lässt sich auf der Grundlage eines breiten philosophischen Fundaments justieren. Das gilt in der Medienethik ebenso wie in anderen Bereichsethiken wie Sozialethik, Umweltethik oder Wirtschaftsethik. Das nachfolgende Tafelbild illustriert dies (vgl. Abb. 1, S. 27). Die Darstellung ist nur holzschnittartig, es könnten durchaus weitere philosophische Ansätze herangezogen werden. Sie zeigt aber Eckpunkte: Wie kann man ethisch verantwortungsbewusst und aus verschiedenen Blickwinkeln heraus abwägen, Grauzonen erkennen und begründet eine Entscheidung treffen? Ethik ist angewandte Moral, die als Handlungsorientierung dient.1 Sie beschreibt nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Grautönen differenziert das Gebotene, also welches Entscheiden und Handeln auf der Grundlage bestimmter normativer ethischer und professioneller Standards angemessen ist. In diesem Gebotsraum gelangt das aristotelische Menschenbild zur Wirkung. Der „Gründungsphilosoph“ der Ethik2 legte dar, dass Menschen politische und soziale Wesen sind, die, wenn sie ihren Begabungen folgen dürfen, in aller Regel das Gute anstreben werden. Übertragen auf Medienethik als dem Raum des für das Medienschaffen Gebotenen heißt dies: Wenn jemand seinen Talenten folgt und als Journalist3 arbeiten möchte, wird er in aller Regel seinen Beruf möglichst gut und gesellschaftlich verantwortungsvoll machen wollen. Weist man ihn also zum Beispiel auf einen Fehler in einem journalistischen Werkstück oder auf eine Fehlentscheidung hin, dann wird er aus Einsicht heraus in einer nächsten, vergleichbaren Situation anders handeln. Dieses Prinzip liegt der Art von Sanktionen zugrunde, die zum Beispiel der Presserat4 vorsieht: Hinweise an eine betreffende Redaktion, Missbilligung und Rügen. Letzteres ist die härteste Sanktion der Beschwerdeausschüsse des Presserates, denn die Redaktion muss sie zeitnah öffentlich machen, also öffentlich dazu stehen, dass sie zumindest aus Sicht des Selbstregulierungsgremiums berufsethisch etwas falsch gemacht hat. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Es gibt die Einschränkung, dass eine Rüge zum Schutz von Betroffenen auch nicht-öffentlich ausgesprochen werden kann. Der Presserat wirkt als eine Institution der Medienethik im Raum des Gebotenen. Doch nicht alle Menschen folgen dem positiven Bild des einsichtigen Bürgers, Journalisten oder Unternehmers. Seit jeher gibt es Menschen, die sich über das Gebotene hinwegsetzen, uneinsichtig sind, „rote Linien“ überschreiten. Ihnen muss man durch das Recht Einhalt gebieten. Der Gebotsraum der Medienethik grenzt 1 2 3 4
Vgl. Filipović 2016 zu angewandter Ethik; Köberer 2015 zu deren wissenschaftssystematischer Verortung. Vgl. Aristoteles 1985. Die Nikomachische Ethik ist eine heute nicht einfach zu verstehende Tugendethik, aber weiterhin ein grundlegender Denkansatz. In diesem Text werden der Lesbarkeit halber teils zwei Geschlechterformen verwendet, teils eine – angesprochen sind alle Geschlechter. Siehe zu Kodex, Beschwerdepraxis sowie zu Anpassungen von Richtlinien auf: www.presserat.de.
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daher direkt an den Verbotsraum an, den das Medienrecht behandelt, und das Strafen in unterschiedlichem Ausmaß vorsieht, wenn z. B. Persönlichkeitsrechte verletzt oder Urheberrechte missachtet werden. Die Medienbranche hat den Presserat selbst eingerichtet und ihm zwei Kernaufgaben zugewiesen. Erstens: Die Pressefreiheit und damit ein störungsfreies Arbeiten von Journalistinnen und Journalisten zu verteidigen. Zweitens: Sorge zu tragen, dass sie nicht über die Stränge schlagen, sondern sich an berufsethischen Normen orientieren und ihre Arbeit an diesem Kompass ausrichten. In einem 16 Richtlinien umfassenden Pressekodex sind die Standards für eine bestimmten Normen folgende journalistische Qualität5 niedergeschrieben. Sie sind auch Grundlage für die Einschätzungen des Presserats. Aber sie sind nicht in Stein gemeißelt. Das ist ebenfalls charakteristisch für ethische Richtlinien. Sie sind proaktiv festgelegt, müssen also angepasst werden, wenn sich in der Realität etwas fundamental verändert oder sich herausstellt, dass es eine Regulierungslücke gibt. Deshalb wurden z. B. nach Fehlleistungen beim Berichten über die Geiselnahme von Gladbeck 1988 die Richtlinien für Täterberichterstattung ergänzt durch die Aufforderung, keine Interviews mit Tätern während eines laufenden Verbrechens zu führen. Und nach den Unsicherheiten beim Berichten über Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in Köln wurde in Richtlinie 12.1 präzisiert, wann zu verantworten ist, die Herkunft von Tätern zu nennen. Die Digitalisierung liefert keinen Anlass, den Pressekodex neu zu schreiben, da die grundlegenden Standards bestehen bleiben. Überlegenswert ist aber, einzelne Punkte zu justieren, z. B. zur Echtzeitberichterstattung, zu Native Advertising als möglicher Grenzüberschreitung zwischen Redaktion und Anzeigenabteilung, zur Datenverwendung in der Recherche oder zum Transparenzgebot, wenn Automatisierungstools eingesetzt werden, also zu kennzeichnen, wenn nicht Personen Börsenkursmeldungen, Wahl- oder Sportergebnisse verfasst haben, sondern Algorithmen. Kodex-Richtlinien sind keine Gesetze oder Befehle, sondern Empfehlungen. Denn im Bereich der ethischen Abwägung ist oft nicht nur eine einzige Position möglich, sondern es stehen sich mehrere einander gegenüber, beispielsweise auch diverse Kodex-Richtlinien. Um etwa zu entscheiden, ob in der Berichterstattung über ein bestimmtes Verbrechen die Herkunft von Verdächtigen genannt werden sollte, kann eine Abwägung zwischen dem Wahrheitsgebot (Richtlinie 1) und dem Gebot, nicht zu diskriminieren (Richtlinie 12.1), hilfreich sein. Im Pressekodex, aber auch in weiteren Kodizes (Werbekodex, PR-Kodex, Netiquette, Redaktionsstatuten etc.) niedergelegte Richtlinien sind nicht „einfach so“ gesetzt. Sie lassen sich auf eine breite (tugend-)ethische Grundlage zurückführen, die uns zudem weitere Entscheidungshilfen anbietet. Immanuel Kant (1724–1804)6 liefert uns zum Beispiel die Perspektive der Pflichtethik, die nach der Qualität der Absicht fragt und die Folgen des Handelns als zweitrangig betrachtet. Hinzu kommt die von ihm im „kategorischen Imperativ“ niedergelegte Aufforderung, so zu handeln, dass dies auch ein allgemeines Gesetz werden könnte, also eine Regel, die verallgemeinerbar ist und deren Anwendung 5 6
Vgl. auch Prinzing 2016. Vgl. Kant 1999; Henning 1999.
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man im Prinzip auch auf sich selbst angewendet akzeptieren würde. Als weiterer Hauptpunkt sei – auch wegen der massiven Transformation der Medien durch digitale Technik – ein Kernsatz Kants für ein aufgeklärtes Denken herangezogen: „Habe Mut, Dich Deines Verstands zu bedienen.“ Kant sah aber bereits einen anderen Wesenszug des Menschen, der genau das verhindern kann: Die Neigung zur Bequemlichkeit. Es ist stets einfacher, die Dinge laufen zu lassen, als sich darüber angestrengt Gedanken zu machen. Dieses Motiv kommt bei vielen digitalen Veränderungen deutlich zum Tragen: Smart Home, Sprachassistenten, Automatisierung, Künstliche Intelligenz-Techniken nehmen uns soviel ab, dass die Verlockung sehr groß wird, sich lieber nicht mit den Schattenseiten solcher Techniken zu befassen, nämlich dem Risiko, seine informationelle Selbstbestimmung, seine Autonomie, seine Privatsphäre aufzugeben und damit Grundrechte, die das Fundament einer Demokratie bilden.7 Demokratie funktioniert nur mit souveränen Bürgerinnen und Bürgern. Entscheidend wird also sein – auch in Kant’scher Tradition –, ob digitale Aufklärung gelingt, ob wir uns also auch in der digitalen Gesellschaft unsere Mündigkeit erhalten. Hierbei sind mehrere in der Pflicht, unter anderem der Journalismus – als Aufklärungsinstanz und zudem in der Rolle des Anwenders. Medienhäuser setzen auch selber neue Techniken ein, die z. B. besondere Sorgfalt im Umgang mit erhobenen Daten und mit der Privatsphäre der Nutzer erfordern: bei der Textautomatisierung ebenso wie beim Tracking von Nutzerverhalten oder im Datenjournalismus bei der Auswertung von Datensätzen. Die 2016 erfolgten Enthüllungen der „Panama Papers“ und der „Paradise Papers“ sind hierfür Beispiele. In diesen Datensätzen steckten sowohl Informationen, mit dem ein öffentlich relevanter Missstand belegt werden konnten, als auch Angaben zum Beispiel über Kontobewegungen von Firmen, die sich nichts Rechtwidriges hatten zuschulden kommen lassen und deren finanzielle Situation daher nicht in die Öffentlichkeit gehörten. Kant beschäftigte sich in seinen philosophischen Arbeiten vor allem mit drei Fragen: Was darf ich hoffen? (in der Religionsphilosophie), Was kann ich wissen? (in seiner Erkenntnistheorie) und in der Ethik mit der Frage: Was soll ich tun? Diametrale Antworten auf diese Frage liefert der britische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873).8 Er war ein Vertreter des Utilitarismus, bei dem die Qualität der Folgen, also die Nützlichkeit eines Handelns stärker gewichtet werden als die Zumutung, die eine Handlung bedeuten kann. Mit dieser Argumentation lässt sich zum Beispiel begründen, das Bild der Leiche des Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi im September 2015 am Strand von Bodrum zu veröffentlichen. Pflichtethisch wäre nicht vertretbar, eine Kinderleiche zu zeigen, da dies kein allgemeines Gesetz werden könnte, man also nie wollte, dass grundsätzlich Bilder von Kinderleichen veröffentlicht werden. Folgenethisch lässt sich begründen, dass durch die Zumutung dieses Bilds zumindest zum damaligen Zeitpunkt positive Reaktionen erwartbar waren, indem mehr Leuten auf diese Weise bewusst wurde, dass hinter vielen Fluchtgeschichten Tragödien einer ganzen Familie steckten, und indem die Hilfsbereitschaft vieler Menschen wuchs. 7 8
Vgl. Grimm/Krah 2015; Prinzing 2019c zu Privatheit; Heesen 2016 zu diversen Kernthemen digitaler Ethik. Vgl. Mill 1974; 2006.
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Max Weber9 (1864–1920) verknüpfte in seiner Gesinnungs- und Verantwortungsethik beide Perspektiven, was Hans Mathias Kepplinger dann von Webers Analyse zur „Politik als Beruf“ übertrug auf „Journalismus als Beruf“10. Wie Journalisten sich ethisch mehrheitlich verhalten, belegte eine Befragung, für die sie am Beispiel von ärztlichen Kunstfehlern zwischen Gesinnung und Verantwortung abwägen mussten: Würden sie darüber berichten und damit ihrem Auftrag nachkommen, relevante Wahrheit zu veröffentlichen – auch wenn bei solchen Berichten negative Folgen zwar nicht beabsichtigt, aber sehr wahrscheinlich sind? Die befragten Journalisten entschieden sich mit überwiegender Mehrheit nicht zweckrational, sondern wertrational, also für ihre Pflicht, die vom Arzt verursachten Missstände öffentlich zu machen, selbst wenn das für diesen oder auch für Patienten (z. B. durch Schließen der Praxis) negative Folgen haben könnte. Den meisten Befragten war zudem bewusst, dass sie in solchen Fällen immer in der Verantwortung sind, ob sie nun berichten oder nicht berichten: Beide Varianten haben Folgen, auch negative. Nicht zu berichten könnte beispielsweise letztlich dazu führen, dass es zu weiteren Kunstfehlern kommt, also die Gesundheit weiterer Patienten beschädigt wird.11 Besonders herausfordernde Situationen entstehen dann, wenn derjenige, über dessen Fehlverhalten berichtet wird, sich für den Freitod entscheidet. Ein jüngeres Beispiel ist die Bloggerin Marie Sophie Hingst. Sie hat sich öffentlich jahrelang als Angehörige einer im Holocaust verfolgten jüdischen Familie ausgegeben und Personaldaten von Opfer-Personen an das Archiv Yad Vashem in Jerusalem geschickt. Im Sommer 2019 machten Journalisten öffentlich, dass die meisten Personen und Geschichten erfunden waren. Wenn das Thema zweifellos öffentlich relevant ist (auch schon mit Blick auf Menschen, die tatsächlich Opfer des Holocaust wurden), und wenn handwerklich professionell vorgegangen wird, wie dies hier der Fall ist, dann ist es nicht der Verantwortung von Journalisten zuzuschreiben, wie eine betroffene Person reagiert, wenn ihr Fehlverhalten öffentlich bekannt wird. Wenn also Maria Sophie Hingst sich entschied, so nicht mehr leben zu wollen, lag das in ihrer eigenen Verantwortung. Anders gesagt: Ein Journalist, der sich ein ethisches Entscheidungsfundament erworben hat, ist in der Lage, vorher zu reflektieren, was seine Berichterstattungsweise auslösen kann und ob er dies in Kauf zu nehmen hat. Und er kann sich auf mögliche Reaktionen vorbereiten. Das hilft. Gerade auch wenn, wie im Fall Hingst, einige Kommentatoren in Printmedien und in den Social Media dem Berichterstatter die Schuld an ihrem Tod gaben. Als viertes Fundament sei die Diskursebene genannt. Sie ist bedeutsam für die demokratiestützende Funktion von Journalismus. Denn bei kommunikativem Handeln im Habermasschen12 Sinn sollen möglichst alle relevanten Akteure zu Wort kommen und eine Stimme erhalten, also gezielt auch jene, die eher Mühe haben, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Gemeinsam und kraft des besseren Arguments sollen so Lösungen für gesellschaftliche Themen entstehen. Die Diskursethik liefert zudem Gründe, soziale Funktionen von Journalismus zu stärken: z. B. das 9 10 11 12
Vgl. Weber 1992. Kepplinger 2011. Vgl. Kepplinger/Knirsch 2002. Vgl. Habermas 1981a, 1981b, 1990 und 1991; vgl. auch Brosda 2010.
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Konzept des Konstruktiven Journalismus, der nicht nur Defizite, sondern auch Lösungswege für Probleme zeigen will. Oder das Konzept des anwaltschaftlichen Journalismus, bei dem Journalisten der Devise „give a voice to the voiceless“ folgend bei speziellen sozialen Themen die Position jener vertreten, die dazu selbst zu schwach sind.13 Kant, Mill, Weber und Habermas liefern ethische Fundamente für vielerlei Bereichsethiken und die sich darin stellenden Fragen. Diese Bereichsethiken sind nicht scharf gegeneinander abgrenzbar: die ethische Ausrichtung von Medienunternehmen zum Beispiel lässt sich sowohl im Bereich der Wirtschaftsethik als auch im Bereich der Medienethik diskutieren. Innerhalb des Bereichs der Medienethik muss noch weiter differenziert werden. Dies ist auch deshalb zwingend, weil Verantwortung nur dann wirkungsvoll ist, wenn sie klar zugewiesen ist.14 Grundsätzlich geht es um vier Perspektiven: Wer ist zuständig? Wofür? Gegenüber wem? Auf der Grundlage welcher Normen und Standards? Übertragen heißt dies: Journalisten sind für die Art, wie sie berichten, verantwortlich gegenüber ihrem Publikum und damit der Öffentlichkeit und zwar auf der Grundlage entsprechender Standards in Berufskodizes, Statuten und Rechtsakten; sie können sich selbst auf verantwortliches Handeln verpflichten oder dazu verpflichtet werden. An dem Punkt besteht ein grundlegender Unterschied zu Intermediären wie z. B. Facebook. Diese Unternehmen sträuben sich weitgehend gegen eine solche Art von Verantwortung, wollen auch deshalb lieber nur Vertriebskanäle und soziale Netzwerke, aber keine Medienunternehmen sein, obgleich sie einen diesen ganz sicher vergleichbar bedeutsamen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Erst allmählich und unter dem Druck von Skandalen wie jenem rund um die Datenweitergabe an „Cambridge Analytica“ ist etwas Bewegung in die Sache gekommen, bislang noch mit ungewissem Ausgang. Die journalistische Berufsethik ist eine von mehreren Ebenen im Feld der Medienethik, an die Verantwortung adressiert und zugewiesen wird. Auf dieser Ebene der Kommunikationsberufe finden sich auch noch die PR-Experten und Werber. Sie richten sich an eigenen Kodizes aus, haben aber Berührungspunkte zu Journalisten. Für Public Relations z. B. liefert eine spezielle Richtlinie als Handlungsempfehlung: „Journalismus und PR verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen und stehen dabei in vielfältigen Wechselwirkungen. [...] Die Unabhängigkeit des Journalismus darf nicht durch Druck, finanzielle oder sonstige Incentives unterlaufen werden.“ Und wenn Journalisten neben journalistischen Aufträgen gleichzeitig PR-Aufträge übernehmen, sei „Transparenz und eine sichtbare Rollentrennung zwingend – gegenüber den Redaktionen bzw. Auftraggebern, genauso wie gegenüber der Öffentlichkeit bzw. den relevanten Teilöffentlichkeiten“.15 Weitere im Bereich der Medienethik relevante Teilebenen mit Verantwortung sind Medienunternehmen, Informatiker, Medienpädagogen und Publikum. Medienunternehmen werden beispielsweise mit der ethischen Frage konfrontiert, wie es zu 13 14 15
Vgl. Prinzing 2018a; 2017. Vgl. Debatin 2016. Deutscher Rat für Public Relations 2013.
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verantworten ist, Redaktionen in zunehmend prekäre Arbeitsverhältnisse zu zwingen mit Bedingungen (Zeitdruck, Personalmangel etc.), unter denen es immer schwerer wird, Qualitätsarbeit zu liefern. Informatiker sind ethisch in der Pflicht, weil sie z. B. Algorithmen16 für automatisierte Texterstellung entwickeln. Damit sie beim Coding den Algorithmen ethische Standards und generell Qualitätsstandards professioneller Nachrichtenselektion einschreiben können, müssen sie sich entsprechendes Wissen aneignen und sich dem Austausch mit Journalisten öffnen. Zur Verantwortung von Medienpädagogen gehört, durch Erziehung und Bildung Selbstbestimmtheit zu stärken und zu vermitteln, wie man sich in einer demokratischen Gesellschaft verlässlich informieren kann. Die Menschen im Publikum sind als Rezipienten in der Verantwortung, aber zudem als Produzenten, wenn sie eigene Beiträge als Online-Kommentare oder über Social Media veröffentlichen. Eine hierauf erweiterte Publikumsethik17 verlangt von ihnen, sich an bestimmten Standards auszurichten, die vorbeugen, dass sie durch ihre Veröffentlichungen anderen schaden. Die medienethische Argumentation für die Ausgestaltung der an die beschriebenen Ebenen adressierte Verantwortung erfolgt auf sechs Stufen:18 Meta-ethisch geht es um die Diskussion der Prinzipien der Medienethik (hier u. a. zum Menschenbild), gesellschaftspolitisch auch um den historischen Kontext (hier: Demokratie und Public Service), medienpolitisch um den Rahmen des Medienschaffens, hinzu kommen Argumente aus Organisations-, Professions- und Bürgersicht.
Abb. 1: Verortung für einen ethischen Kompass
16 17 18
Vgl. auch Altmeppen 2015. Vgl. auch Funiok 1996; Rath 2016. Vgl. Loretan 1994.
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2 MEDIEN UND DEMOKRATIE 2.1 Kommunikations- und Medienfreiheit Jede Gesellschaft, jedes politische System braucht Medien. Sie können darin Lautsprecher der herrschenden Eliten sein, also berichten, was die Mächtigen für berichtenswert halten. Und sie können Widersprecher sein, also das berichten, was sie selbst für berichtenswert halten, und dies auch dann, wenn es den Mächtigen nicht passt. Es gibt Systeme mit Medien, aber ohne Demokratie. Aber keine Demokratie kann ohne journalistische Medien bestehen und funktionieren. Sie sind tragende Säulen – v. a. als Informationsübermittler, Erklärer, Beobachter und Widersprecher. Die Verantwortung, die sie für einen gesunden gesellschaftlichen Diskurs tragen, kommt jener gleich, die Ärzte für die Volksgesundheit haben. Zentrale Norm ist die Kommunikations- und Medienfreiheit. Heute ist weltweit anerkannt, dass die Medien unabhängig und frei sein sollten. In Deutschland garantiert dies das Grundgesetz in Artikel 5. Diese Freiheit umfasst die ökonomische Seite, also die Medienfreiheit als Gewerbefreiheit, sowie die publizistische, also die Freiheit, öffentlich frei seine Meinung zu äußern. Daraus leitet sich auch ab, dass Medien in demokratischen Gesellschaften ein Wirtschafts- und ein Kulturgut sind. Als Wirtschaftsgut folgen sie den Kriterien der Wertschöpfung am Markt und der Verknüpfung von Angebot und Nachfrage: Es kann hunderte von Segler-, Modeoder Basketball-Magazinen geben, wenn sich dies rechnet. Und wenn es sich nicht mehr auszahlt und das Interesse daran einbricht, auch nur noch zehn oder keine. Für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar sind jene Medien, die den Charakter eines Kulturguts haben. Sie können sich rechnen, müssen dies aber nicht, sondern sie sind meritorische Güter, ähnlich wie Bildung und Gesundheitsfürsorge, und müssen in einem gewissen Umfang für alle erreichbar sein. Kundig wählen zu können und zu wissen, was eine Gesellschaft umtreibt, sowie aktiv teilhaben können, erfordert einen garantierten Zugang zu den nötigen Informationen und zur Meinungsbildung – unabhängig davon, ob und wie viele Menschen diesen Zugang auch tatsächlich wahrnehmen; das wiederum liegt in deren Verantwortung. Professioneller Informationsjournalismus kann (und sollte) diese Informationsleistung erbringen – und zwar freiwillig. Öffentlich-rechtlichen Medien hingegen ist sie auferlegt und bildet den Kern des Leistungsauftrags. Ihre Verpflichtung auf einen „Public Service“ entspricht im Wortsinn einer öffentlichen Dienstleistung für die Gesellschaft. Der Rundfunkbeitrag sichert ab, dass dieser Auftrag finanziell relativ unabhängig erfüllt werden kann. Dieser Beitrag hat im Grund die Funktion eines verpflichtenden Solidarbeitrags, den wir für die Demokratie leisten. Das Public Service-Prinzip markiert eine für eine Demokratie bedeutsame Gemeinwohlverpflichtung. Sie ist damit quasi zunächst unabhängig von der Analyse, ob die konkreten Medienunternehmen (in Deutschland: ARD, ZDF, Deutschlandfunk/Deutschlandradio), die sich diesem Prinzip verpflichten, es auch zufriedenstellend erfüllen. In Europa arbeiten Journalistinnen und Journalisten zwar noch relativ unabhängig und störungsfrei. Doch auch hier ist Pressefreiheit ein angreifbares Recht – und bröckelt wie nie durch Gesetzesinitiativen, neue Medienbesitzverhältnisse und
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Themen wie Flüchtlingsbewegung, Terrorismus, digitale Überwachung und Populismus.19 2019 verschlechterte sich die Lage weiter: Polen, Ungarn und etliche Balkanländer werden als Länder mit „erkennbaren Problemen“ eingestuft – Länder im Übrigen, in denen die Erosion der Pressefreiheit maßgeblich über Angriffe auf die Public Service-Anbieter erfolgte. Bulgarien ist in der „Rangliste der Pressefreiheit 2019“ der Nichtregierungsorganisation (NGO) Reporter ohne Grenzen auf Platz 111 von 180 Plätzen und damit das EU-Land mit dem schlechtesten Ergebnis.20 Populistische Regierungen und Gruppierungen tragen maßgeblich zu einem zunehmend pressefeindlichen Klima bei. Auch in Deutschland nehmen Attacken auf Journalisten zu, wie beispielsweise die Demonstrationen in Chemnitz im Sommer 2018 zeigten. Im Sommer 2019 folgte eine weitere Eskalationsstufe: MonitorRedaktionsleiter Georg Restle erhielt eine Morddrohung, die eine Verbindung herstellte zum mutmaßlich rechtsextremistisch motivierten Mord am früheren Kasseler Regierungspräsidenten Wilhelm Lübke; er erstattete Strafanzeige.21 Aufgeweckte Seismografen in internationalen Organisationen und die Standards, die Europarat und Europäische Union ihren Mitgliedern für ihre Medienlandschaften abringen, bilden aber wichtige Gegengewichte. Dazu gehört auch Reporter ohne Grenzen. Die NGO hat am Vorabend der Europawahlen im Mai 2019 ein Konzept vorgelegt, wie sich Journalismus besser schützen lasse, und schlägt u. a. nationale Ombudspersonen vor.22 Die Qualität der Rahmenbedingungen von journalistischem Arbeiten hängt eng zusammen mit der Wertschätzung gegenüber der Demokratie. Die skandinavischen Länder belegen im Pressefreiheits-Ranking die vorderen Plätze: Norwegen, Finnland, Schweden eins bis drei, Dänemark Platz 5. In diesen Ländern lobten die Gutachter für Journalisten wichtige Rahmenbedingungen wie verbesserte Quellenschutzgesetze, vereinfachter Zugang zu Behördeninformationen und eine gut ausgebaute Infrastruktur für die Breitbandnutzung; in diesen Ländern vertraut die Bevölkerung mehr als anderswo Medien und speziell dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie Politikern, Organisationen und anderen Behörden. Eine Studie zu Gründen für die abnehmende Demokratiequalität in EU- und OECD-Ländern fand heraus, dass dies zu einem sehr großen Teil wegen Bedrängungen im Mediensektor geschieht, also weil Informationszugang, Medienfreiheit und Medienpluralismus erodieren.23 Zum Vertrauensgut Journalismus gehört auch, sachgerecht Debatten anzustoßen. Solche medialen Debatten lassen sich nicht ersetzen durch einen regen Austausch über soziale Medien, so wenig wie professionelle Recherchen, die viele Techniken und Kenntnisse voraussetzen bis hin zum Informantenschutz. Ohne solche journalistischen Recherchen hätten wir nie vom VW-Abgasskandal erfahren, Ex-Audi-Chef Rupert Stadler käme nie vor Gericht. Wir wüssten nicht, wie Behörden versagten, die den Attentäter auf den Weihnachtsmarkt in Berlin im Visier hat19 20 21 22 23
Vgl. Prinzing 2016; vgl. auch Freedom House 2018. Vgl. Reporter ohne Grenzen 2019b; 2019c. Vgl. Huber 2019. Vgl. Reporter ohne Grenzen 2019a. Vgl. Bertelsmann 2018.
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ten, und was getan werden muss, damit das künftig nicht passiert. Wir hätten keine Ahnung, dass die weltbekannte Schau zeitgenössischer Kunst, die „documenta“, um ein Haar bankrott gewesen wäre, weil künstlerischer Leiter und Kontrolleurin ihren Aufgaben nicht gewachsen waren. Das sind nur die drei Geschichten, die 2019 von der Stiftung Freiheit der Presse mit dem Wächterpreis ausgezeichnet wurden;24 man könnte noch mehr aufzählen. Es geht nicht nur um Missstände, sondern auch um Wissen, was gerade unsere Gesellschaft umtreibt. Professionelle Medienberichterstattung informiert uns, ob uns beispielsweise Gesichtserkennungskameras auf öffentlichen Plätzen überwachen oder wie wir massenhafte, gesteuerte Desinformation besser erkennen und uns vor ihr schützen können; sie liefert Anstöße, uns dazu eine Meinung zu bilden, ist ein Platz für den Diskurs und eine Instanz, die auch komplizierte Inhalte möglichst verständlich vermittelt.25 Damit diese Vermittlungsleistung das Publikum erreicht, muss dieses aber mit Medien umgehen können und insbesondere nachrichtenkompetent sein. 2.2 Auf Kompetenzkurs? – Die Bedeutung eines medienpädagogischen Kompasses Hochwertiger Journalismus benötigt als Gegenüber ein Publikum, das Nachrichten aufnehmen, einordnen und verarbeiten kann und auf dem Laufenden sein will. Kurzum: Ein Publikum mit hoher Nachrichtenkompetenz. Sie ist eine staatsbürgerliche Schlüsselqualifikation, besonders in einer Demokratie, und sie ist Teil der Medienkompetenz, die unser gesamtes mediales Verhalten erfasst. Geleitet von diesem Verständnis von Nachrichtenkompetenz hat eine Forschungsgruppe an der Universität Dresden26 in einer mehrteiligen Studie unter anderem Dokumente mit politischen Vorgaben zu Medienbildung und zur Ausbildung von Lehrern und Lehrpläne analysiert. Lehramtsstudierende wurden befragt, um herauszufinden, welches Wissen sie tatsächlich haben. Hauptbefund: überall gibt es große Defizite. Medienkompetenz wird aus politischer Perspektive zwar als zentral erkannt und oft thematisiert, aber relativ pauschal; die Nachrichtenkompetenz speziell kommt kaum vor. In den Lehrplänen hingegen wird sie immerhin angesprochen, aber die Bedeutung, die ihr beigemessen wird, unterscheidet sich offenbar stark zwischen den einzelnen Bundesländern: Brandenburg liegt vorne, Baden-Württemberg ist Schlusslicht; eine Erklärung für diese Platzierungen konnten die Forscher nicht liefern. Die Bedeutung von Informationsjournalismus für die Demokratie wird in den Schulbüchern kaum behandelt. Auch die Medienkompetenzprojekte der Landesmedienanstalten (Untersuchungszeitraum 2015/16) geben Nachrichtenkompetenz keine spezielle Rolle. 24 25 26
Vgl. dazu: https://www.anstageslicht.de/waechterpreis/die-waechterpreistraeger-2019-und-ihregeschichten/. Vgl. dazu Prinzing 2019a. Vgl. Hagen/Renatus/Obermüller 2017.
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Die angehenden Lehrkräfte erklärten, sie würden gerne die Nachrichtenkompetenz in der Klasse fördern und Nachrichtenmedien als Lehrmaterial im Unterricht einsetzen; sie finden Informationsjournalismus wichtig. Das erfordert aber offenbar zunächst, die Lehrkräfte systematisch zu qualifizieren. Denn die Studie offenbarte, dass sie selber wenig Nachrichtenkompetenz haben, dass ihnen nicht recht klar ist, wie das deutsche Mediensystem funktioniert und auch nicht, welche Medien Jugendliche genau nutzen und wofür. In den Lehrplänen und Studiendokumenten liegt der Fokus auf gedruckten Medien und allenfalls auf dem Fernsehen. Nur zwei Prozent der Studiendokumente, die Lehramtsstudierende erhalten, behandeln Nachrichtenmedien, am ehesten welche im Fach Deutsch, besonders selten im Fach Ethik. Digitale Medien (Online-Medien und erst recht soziale Medien) sind bestenfalls ein Nebenthema, obwohl sie für die Schülerinnen und Schüler längst das Alltagsmedium sind.27 Die Befunde alarmieren. Die Schulbildung blendet sowohl in der Lehrkräfteausbildung als auch in den Lehrinhalten Wissen über die Mediengesellschaft nahezu aus: Welche öffentliche Aufgabe haben Medien? Wie unterscheiden sich journalistische von nicht-journalistischen Inhalten öffentlicher Kommunikation? Wie erwirbt man Nachrichtenkompetenz und damit einen Schlüssel für die Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft? Hier offenbart sich nicht nur viel Handlungsbedarf – zunächst in der Qualifizierung von Lehrkräften, dann in der Qualifizierung von Schülerinnen und Schülern –, sondern auch eine Verpflichtung: Die Verantwortungskompetenz von Journalismus in einer Gesellschaft ist untrennbar verknüpft mit der Rezeptionskompetenz der Gesellschaft. Nachrichtenkompetenz-Schulung ist zugleich Demokratie-Schulung. Medienpädagogik lässt sich auch als eine „kritische politische Wissenschaft“28 auffassen. Und Pädagogik umfasst stets normative Elemente.29 Nimmt man das Kernerziehungsziel unserer Gesellschaft, Autonomie zu fördern, ernst, dann ist WerteBildung auch bezogen auf Medien obligatorisch. Denn Medien vermitteln Werte an ihr Publikum. Und wie sich dieses damit auseinandersetzt, hängt davon ab, wie wertekompetent und wie medienkompetent es ist, also wiederum davon, wie gut es diese Kompetenzen gelernt hat. Medienkompetenz umfasst in der interaktiven digitalen Mediengesellschaft Diskurs, Informationsrezeption und -produktion. Schulung in Medienkompetenz muss folglich Standards für alle drei Bereiche umfassen und trainieren. Fazit dieser Analyse ist ein Desiderat: ein medienpädagogischer Kompass, eine Art Medienpädagogik-Kodex müsste unter anderem diese Bildungsverantwortung adressieren und z. B. in Form einer Richtlinie für Ausbilderinnen und Ausbilder präzisieren, wie sie konkret handeln sollen (vgl. auch Kap. 1).
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Vgl. JIM-Studie 2018. Dander 2017, S. 130. Vgl. Büsch 2018.
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2.3 „Wechseln Sie das Fach...“ Binnendefekte und das beachtete Publikum „Wechseln Sie das Fach. Journalismus ist ein toter Beruf“, habe ihr ein Redaktionsleiter geraten, bei dem sie ihr Praxissemester gemacht hat, erzählt mir die Studentin. Sie ist beunruhigt, ich bin empört: Offenbar ist manchen altgedienten Journalistinnen oder Journalisten selbst gar nicht klar, was Journalismus ausmacht, und sie können nicht erklären, inwiefern ihr Beruf konstitutiv ist für demokratische Gesellschaften, sondern flüchten sich in Klagen. Das ist so, als wüssten Autobauer nicht, was man mit einem Auto anfängt, und Ärzte nicht, weshalb sie Patienten behandeln. Es gibt keine Alternative: Journalisten und Journalistinnen müssen ihren Beruf, dessen Qualitätskriterien und hohe Verantwortung erklären können – dem eigenen Nachwuchs ebenso wie dem Publikum. Nach dem Desaster, das Claas Relotius und seine teilweise erfundenen Geschichten sowie weitere, in mancher Hinsicht ähnliche Fälle offenbarten, ist dies erst recht wichtig. Es geht nicht ums Ausspielen von Storytelling oder Haltung gegen Faktentreue, sondern um Transparenz und Erklärung: Journalismus muss sich selbst erklären können und seinen Wert dem Publikum nahebringen. Journalistinnen und Journalisten müssen sich damit auch professionsethisch weit detaillierter auskennen als dies bislang zumindest in den Lehrplänen von Journalismusschulen und Journalismusstudiengängen erkennbar30 und in der redaktionellen Praxis üblich ist. Dem Publikum sollte zudem nicht ausnahmsweise, sondern routinemäßig, sobald es relevante Hinweise sind, konkrete Arbeitsweisen transparent gemacht werden: Welche Debatten gab es in der Redaktionskonferenz zur Bebilderung eines Terroranschlags? Wo ist ein Fehler passiert und wie wird ein ähnlicher künftig vermieden? Die Forderung nach mehr Qualifizierung muss Innovationsthemen und Grundlagen in Statistik umfassen: Wenn laut einer Studie ein Großteil der Berichterstattung über Künstliche Intelligenz-Technik auf Pressemitteilungen von Unternehmen basiert,31 dann muss das auch deshalb aufrütteln, weil für ein so sensibles Thema profunde Hintergrundrecherchen besonders wichtig sind. Und Themen wie Automatisierung oder Datenjournalismus sind mit „Mathematics Literacy“ leichter zu durchdringen: Grundwissen z. B. über statische Fehler ist eine Kulturtechnik in einer digitalen Gesellschaft – vergleichbar dem Lesen und Schreiben. Zeit- und Geldressourcen hierfür bereitzustellen wiederum ist eine unternehmensethische Frage, die sich ans Medienmanagement richtet. Daran knüpft eine weitere Haltungsfrage an. Die Hinwendung zum „beachteten Publikum“32 ist kein „nice-to-have“, der Austausch mit dem Publikum muss Teil journalistischer Alltagsarbeit sein. Sie kann auch – ohne damit Aufgaben der Medienpädagogik umfänglich zu übernehmen – eine Kurzschulung in verantwortungsvollem Publizieren sein, um die Diskursqualität in den Kommentarspalten zu stabilisieren. Digitalisierung hat journalistische Rollenbilder verändert, weil ein interakti30 31 32
Vgl. Prinzing 2015. Vgl. Brennan/Nielsen 2019. Dieser Terminus versteht sich auch als Anschluss an die Kritik am „missachteten Leser“, die Glotz/Langenbucher bereits 1969 auf den Punkt brachten.
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ves Publikum nicht mehr auf journalistische Gatekeeper angewiesen ist. Die Transformation in eine digitale Gesellschaft macht die Communityfunktion von Journalismus zu einer zentralen Funktion – mit einem Publikum, das auch Experte sein kann, und mit dem bereits beschriebenen (vgl. Kap. 1) größeren Gewicht auf soziale Funktionen bedienende Journalismuskonzepte wie z. B. „konstruktiver Journalismus“ oder „anwaltschaftlicher Journalismus“. 3 FAZIT: WAS WIR WISSEN... Den Menschen muss bewusst werden, welchen Wert ein professionell vorgehender Informationsjournalismus hat. Die digitale Technik verstärkt die Bedeutung eines Journalismus, der vermittelt, kritisch beobachtet und ein Forum für gesellschaftlichen Diskurs und Aufklärung in einer digital aufgeklärten, medienkompetenten, demokratischen Mediengesellschaft ist: Unwissenheit frisst Journalismus, Selbstbestimmtheit – und Demokratie. Und umgekehrt. Deshalb braucht es eine breite Anwaltschaft für diese Art von Journalismus. Der Presserat könnte diese bündeln, spricht allerdings letztlich nur für gedruckte Medien und journalistische OnlinePlattformen. Diese Bündelungsfunktion könnte auch einem neu aufzubauenden Gremium übertragen werden, das sich speziell auf Themen der digitalen Gesellschaft konzentriert: einem Digitalrat33, der aber nicht zu verwechseln ist mit der gleichnamigen Beratungskommission der Bundesregierung, sondern der ähnlich wie der Presserat als unabhängiges Gremium fungiert und sich zu Grundsatzthemen der Mediengesellschaft positioniert. BIBLIOGRAFIE Altmeppen, Klaus-Dieter (2015): Automaten kennen keine Moral. Metamorphosen des Journalismus und die Folgen für die Verantwortung. Communicatio Socialis (1), S.16–33. Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. Hrsg. von Günther Bien. Philosophische Bibliothek, Bd. 5. Meiner: Hamburg. Bertelsmann Stiftung (2018): Sustainable Governance Indicator. Sinkende Demokratiequalität in EU- und OECD-Ländern. sgi-network.org 2018. Online: https://www.bertelsmann-stiftung.de/ de/themen/aktuelle-meldungen/2018/oktober/die-qualitaet-der-demokratie-nimmt-in-vielenindustriestaaten-ab/ (letzter Zugriff: 30.01.2020). Brennan, Scott/Nielsen, Rasmus Kleis (2019): An Industry-Led Debate How UK Media Cover Artificial Intelligence. Online: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2018-12/ Brennen_UK_Media_Coverage_of_AI_FINAL.pdf (letzter Zugriff: 30.01.2020). Brosda, Carsten (2010): Diskursethik. In: Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hrsg:): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 83–106. Büsch, Andreas (2018): Neue Werte braucht das Land?! Die eigene Werthaltung als Grundlage des Arbeitens reflektieren und einbringen. In: Meister, Dorothee/Knaus, Thomas/Narr, Kristin (Hrsg:): Futurelab Medienpädagogik. Qualität – Standards – Profession (Schriften zur Medienpädagogik, Bd. 54). München: kopaed, S. 85–99.
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Weiter ausführend hierzu: Prinzing 2019b und Prinzing 2020.
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RECHTSPOPULISMUS ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE MEDIEN Die Medienkritik der AfD und der journalistische Umgang mit der Partei Volker Lilienthal
Seit Populisten die politische Debatte in Deutschland bestimmen, seit eine rechtskonservative/-nationale Partei wie die AfD im Bundestag sitzt, sind nicht nur die demokratischen Parteien und die Institutionen der Bundesrepublik herausgefordert. Auch die Medien und der Journalismus müssen seither mit neuen Akteuren und Themen, mit einer radikalisierten Rhetorik und neuen politischen Aktionsformen umzugehen lernen. Das politische und mediale System eint eines: Beide sind hochgradig irritiert vom neuen rechten Radikalismus, von seiner offensichtlichen Akzeptanz bei einem wahlberechtigten Bevölkerungsanteil zwischen 10 und 20 Prozent, von Zivilitätsverlusten in der politischen Auseinandersetzung, von einer skrupellosen Ausweitung des Sagbaren. Beide reagieren darauf, artikulieren sich in kritischer Analyse und auch geharnischtem Protest. Das muss so sein, es kann nicht anders sein, weil es einer demokratischen Öffentlichkeit entspricht. Aber im medialen Echoraum führt es auch dazu, dass der Rumor der Populisten fast schon hegemonial erscheint. Alle Wahlbürger spüren: Die Etablierten sind verunsichert, die liberale rechtsstaatliche Demokratie, wie wir sie kannten, steht zur Disposition – Furcht für die einen, Freude für die anderen. In dieser aufgeregten Stimmung richten sich Erwartungen auch an den Journalismus: Er solle die Demokratie schützen. Darunter kann man sich Verschiedenes vorstellen. Die AfD aus dem Bundestag vertreiben, ihr Stimmergebnis bei der nächsten Wahl unter fünf Prozent treiben? Zurecht haben viele namhafte Journalistinnen und Journalisten dem widersprochen: Das sei nicht ihre Aufgabe, das sei die Aufgabe der politischen Wettbewerber. Die AfD sei nicht politischer Gegner von Journalisten in deren professioneller Rolle, sondern ein Objekt von Berichterstattung, das jedenfalls in der ersten Annäherung immer wieder das Recht auf faire Wiedergabe ihrer Positionen habe. Zum Recht der Journalisten gehört aber auch die eigene unabhängige Urteilsbildung und als deren Resultat scharfe Kritik an Äußerungen und Handlungen von Rechtspopulisten und der sie repräsentierenden Politiker. Verwerfen wir die Frage Kann Journalismus die Demokratie schützen? jedoch nicht vorschnell, versuchen wir uns, ihr zu nähern. In der Frage sind einige Annahmen enthalten. Deren gewichtigste: Die Demokratie bedarf des Schutzes – sowieso immer, aber heute ganz besonders. Zweitens: Der Journalismus könne und solle
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etwas für diesen Schutz tun, mindestens dazu beitragen. Drittens: Die Bedrohung rühre aus dem, was wir „Populismus“ zu nennen uns angewöhnt haben. 1 RECHTSPOPULISMUS: BEWEGUNG UND IDEOLOGIE Wo Annahmen geprüft werden sollen, sollte man mit Begriffsklärungen beginnen. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Journalismus ist das eines Erkenntnisorgans der freien Gesellschaft. Er ermittelt verlässlich und möglichst unvoreingenommen den Stand der Dinge in Gesellschaft und Staat, aber auch in unseren Lebensverhältnissen und in der Welt überhaupt. Das so ermittelte Wissen stellt er uns in medialer Form zu Verfügung – als Angebot zur Rezeption. Wir brauchen dieses Wissen, um uns in der Welt zu orientieren, um zu verstehen, was vorgeht, um uns an Werten zu orientieren, um Wahlentscheidungen zu treffen und vieles mehr. Man könnte sagen, Journalismus ist ein Lebensmittel der Demokratie. Mit der Demokratie ist es aber schon etwas schwieriger, unumstrittene Definitionen zu finden. Deutschlands Staatsform ist die parlamentarische Demokratie. Deren Grundidee ist die Repräsentation des Volkswillens. Gewählte Volksvertreter entscheiden statt der Bevölkerung insgesamt. Funktioniert doch nicht, sagen Kritiker. In Wahrheit herrschen die Reichen und funktionale Eliten, nutzen die Globalisierung für ihr eigenes Wohlergehen, hängen die vielen ab, beuten den Staat aus. Solche Kritik wird von rechts und von links geäußert, und leider sind solche Vorhaltungen nicht grundlos. Nehmen wir nur die Ausbeutung des Staates durch Steuerhinterziehung und, schlimmer noch, Cum-exGeschäfte, bei denen der Fiskus in Milliardenhöhe Dividendensteuern zurückzahlte, die so nie entrichtet worden waren. Unter den Stichworten „Panama Papers“, „Paradise Papers“ und die Enthüllung über „Phantom-Aktien“ hat ein internationales Journalisten-Konsortium unter maßgeblicher Beteiligung der Süddeutschen Zeitung diese Machenschaften in den vergangenen Jahren immer wieder neu ans Tageslicht gebracht – mit der Folge von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, Razzien, ersten Anklagen und dem Versuch des Fiskus, das betrügerisch erlangte Steuergeld wenigstens teilweise zurückzuholen. Das zeigt: Journalismus ist nicht nur kein Verbrechen. Er wirkt sogar kolossal zu unserer aller Nutzen. Und obwohl kein Erfüllungsgehilfe bei der Verbrechensbekämpfung, hilft solcher Journalismus dem Staat, unser aller Geld zurückzuholen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die freie Gesellschaft Journalismus zu ihrer Selbstoptimierung und beständigen funktionalen Korrektur und ethischen Neuausrichtung braucht, dann diesen. Doch zurück zum kritischen Befund über die Demokratie von heute. In Wahrheit lebten wir in einer Postdemokratie, ist eine Deutung der politischen Wissenschaft zu diesen Entwicklungen, wir lebten in einem Durchgangsstadium zu nun doch weniger freiheitlichen Regierungs- und Gesellschaftsformen. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hat schon 2014, durchaus selbstbewusst, von der „illiberalen Demokratie“ gesprochen. Orbán hat bewiesen, dass es tatsächlich auch so geht: Seine autoritäre Fidesz-Partei kommt in zweifelsohne demokratischen Wah-
Rechtspopulismus als Herausforderung für die Medien
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len an die Macht. In dieser Position will sie natürlich den Wohlstand und die Sicherheit der Ungarn wahren. Aber die Freiheit, von der wir bisher annahmen, sie gehöre untrennbar zur Demokratie dazu, sie wird neu definiert und nur selektiv gewährt: Freiheit natürlich für alle Ungarn, primär verstanden als Freiheit von Bevormundung durch europäische Institutionen. Drastische Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten aber dort, wo es um kritische Bildung, Wissenschaft und die Medien geht. Deren Recht, die Regierung zu kritisieren, wird bestritten. Das ist dann illiberal – und später womöglich Schlimmeres: autoritär, diktatorisch. Vor dem Hintergrund des ungarischen Wegs sei klargestellt, was hier unter „Demokratie“ verstanden wird: eine Staats- und Gesellschaftsform, zu der nicht reduzierbare Grundrechte aller Menschen, Repräsentation des Wählerwillens, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität gehören. Vielfach könnten wir nun wieder den Begriff Liberalität auffächern, ein paar Stichworte sollen hier genügen: Der Schutz von Minderheiten gehört dazu, der Respekt vor Lebensentwürfen, die nicht die der Mehrheit sind, das Engagement für Europa und Menschenrechte und natürlich die Pressefreiheit. Gegen diesen Wertekanon stellt sich der Populismus. Das ist nicht nur ein Schlagwort und ein Sammelbegriff in der politischen Debatte. Das Phänomen wurde auch politikwissenschaftlich und soziologisch inzwischen recht gut untersucht (vgl. grundlegend Koppetsch 2019). Unter dem Rubrum „Populismus“ werden politische Stimmungen und Bewegungen verstanden, die eine große Unzufriedenheit mit dem Status quo eint, die an ein einheitliches „Volk“ mit vorrangigen Rechten gegenüber anderen glauben, vorrangig vor allem gegenüber Menschen, die als fremd und als Eindringlinge wahrgenommen werden, die ihren politischen Willen nicht hinreichend repräsentiert fühlen, die sich materiell zurückgesetzt wähnen, emotional missachtet, mindestens übersehen und die behaupten, es gebe keine Demokratie, sondern es sei statt des Volkes eine illegitime Elite an der Macht. Diese Elite handele gegen die Interessen des Volkes und gehöre abgesetzt. Beim Blick auf Phänomene wie AfD und Pegida lässt sich festhalten, dass die sogenannte Flüchtlingskrise – schon das Wort ist ein negativ konnotierter Frame, der prägend wirkt auf unser aller Wahrnehmung – nur ein Auslöser für eine Unzufriedenheit war, die sich seit langem angesammelt hatte. Das Gefühl sozialer Deklassierung, Abstiegsängste bis in die Mittelschicht hinein, eine wahrgenommene Entwertung traditioneller Arbeit und Lebensweisen – dies und anderes sind die Motive des Unmuts. Der Populismus ist eine Bewegung, die aber natürlich nicht vorankäme, wenn es nicht politische Kräfte gäbe, Organisatoren der sozialen Unzufriedenheit, die dergleichen schüren und in Wahlentscheidungen auch bündeln und somit zu einer echten politischen Kraft, nun auch in den Parlamenten, machen. Populismus gibt es von rechts, aber auch von links, ja sogar in der politischen Mitte, wo er sogar besonders ausgeprägt sein kann, wie eine Inhaltsanalyse des TV-Duells und des TVFünfkampfs der kleineren Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 erbracht hat. In dieser Untersuchung von Thorsten Faas u. a. war ausgerechnet die AfD-Politikerin Alice Weidel mit recht geringen Populismuswerten aufgefallen (Faas et al. 2017: 21).
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Wenn im Folgenden versucht wird, das Verhältnis Populismus und Medien auszuleuchten, ist vorrangig der Rechtspopulismus gemeint. Denn erstens ist er in Deutschland eine politische Macht geworden – die AfD ist die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag –, zweitens ist das Verhältnis dieser Partei zu Journalismus und Medien besonders angespannt. 2 GEMEINPLATZ DER MEDIENKRITIK: MAINSTREAM-MEDIEN SIND GLEICHGESCHALTET Ein Gemeinplatz in der Medienkritik der AfD und von Rechtsextremen ist, dass in Deutschland angeblich keine Meinungsfreiheit herrsche und dass die MainstreamMedien das Volk manipulierten. Die behauptete Einschränkung der Meinungsfreiheit, die sozusagen nur für das liberale Milieu gelte, ist schon sachlich falsch, wie man an den vielen rechtspopulistischen Organen wie „Compact“ oder „Junge Freiheit“ mit teils stattlicher Auflage (vgl. Fuchs/Middelhoff 2019), aber auch an der massenhaft wahrgenommenen Möglichkeit sieht, auf Social Media z. B. die Entfernung von Angela Merkel aus dem Kanzleramt, gar ihre Inhaftierung oder Schlimmeres zu fordern. Focus Online zitierte aus einer Chatgruppe der Jungen Alternative Baden-Württemberg: „Man sollte diese ganzen Volksverräter öffentlich hinrichten lassen. Das ganze Kabinett Merkel IV.“1 Eine virulente Gewaltbereitschaft artikuliert sich hier: „Glaubst du wirklich, dass wir in diesem System jemals nur mit legalen Mitteln eine Besserung der Zustände erreichen?“ Ganz klar: Hier franst der Rechtspopulismus nach noch weiter rechts aus, hin zum Rechtsextremismus. Der Ruf nach (mehr) Meinungsfreiheit, den die AfD beständig erhebt, soll zum einen „die Sagbarkeitsräume für rassistische und antisemitische Deutungsmuster ausweiten“ (Virchow 2017: 234). Zum anderen liegt in der Medienkritik aber auch die Forderung verborgen, journalistische Freiheit einzuschränken mit der Begründung, die Medien verletzten – völkisch definierte – deutsche Interessen, so Virchow. Tatsächlich wird diese grundgesetzwidrige Forderung erhoben. In einem AfD-Chat aus Sachsen-Anhalt fand sich diese Ankündigung: „Mit der Machtübernahme muss ein Gremium alle Journalisten überprüfen und sieben. Chefs sofort entlassen, volksfeindliche Medien verbieten.“ (Zit. nach Röpke/Heidelberger 2018: 117) Berühmt-berüchtigt ist auch dieser (inzwischen gelöschte) Tweet der AfDGliederung Hochtaunus, der unheilvolle geschichtliche Erinnerungen wachrief: „Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt.“ (Zit. nach Gäbler 2018: 68) Das las sich, wie bei Tatjana Festerling abgekupfert. Die Pegida-Aktivistin hatte im Januar 2016 auf einer Legida-Kundgebung in Leipzig gesagt: „Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln 1
Focus Online (2018): „Ganzes Kabinett Merkel hinrichten“: AfD-Jugend wegen Extremismus vor dem Aus? 25.11.2018. Online: https://www.focus.de/politik/deutschland/junge-alternativewill-ueber-zukunft-beraten-ganzes-kabinett-merkel-hinrichten-afd-jugend-wegen-extremismus-vor-dem-aus_id_9971810.html (letzter Zugriff: 14.02.2020).
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greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“ (Zit. nach Röpke/Heidelberger 2018: 114) Alexander Gauland, AfD-Bundessprecher und Fraktionsvorsitzender im Bundestag, formulierte später nur wenig gemäßigter: „Diejenigen, die die Politik Merkels mittragen, das sind auch Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien. Die möchte ich aus der Verantwortung vertreiben. Das kann man eine friedliche Revolution nennen.“ (Zit. nach Gäbler 2018: 68) Das Verhältnis der AfD zu etablierten Medien ist paradox. Einerseits werden diese ständig scharf angegangen, und zu Trumps Verdikt „enemy of the people“ ist es da nicht weit. Andererseits zeigt man unverhohlene Freude, wenn die Medien über AfD-Politiker und ihre Einlassungen berichten. Sendet das ZDF ein „Sommerinterview“ mit dem AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen, verschickt dieser (bzw. sein PR-Team) vorab einen „TV-Tipp“ via Twitter. Die Sprache ist bemüht-betulich: „Schalten Sie gerne zahlreich ein!“2 Ein Drittes kommt hinzu: Die AfD hat ihre eigene Medienstrategie, und die ist ziemlich ausgebufft. In den sozialen Medien, auf Twitter und Facebook, ist sie besonders stark. Man könnte sagen, die AfD ist die eigentliche Internet-Partei, mehr als es die „Piraten“ je waren. Die Partei hat in Berlin einen „Newsroom“ aufgebaut, den ein AfD-Sprecher auch schon mal „War Room“ nannte. Aus dieser PR-Zentrale heraus soll über das Netz ein eigenes Fernsehprogramm gefahren werden, 40 Fraktionsmitarbeiter sollen allein für PR zuständig sein. Alice Weidel, Ko-Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bundestag, erklärte: „Unser ambitioniertes Fernziel ist, dass die Deutschen irgendwann AfD und nicht ARD schauen.“ (Zit. nach Gäbler 2018: 31) Das kann man für größenwahnsinnig halten – und ebenso für den Plan einer Umerziehung des deutschen Volkes. Unter Ausnutzung aller technischen Mittel praktiziert die AfD hier, was Neuberger (2014: 15) „Disintermediation“ nannte: die Umgehung von journalistischen Medien, via Internet wird der direkte Weg zu den Wählern beschritten. Auf dem klassischen Weg des früher üblichen Informationsaustausches zwischen Parteien und Medien herrscht manchmal schon Verweigerung vor: Ein Redakteur des Lahrer Anzeigers im Schwarzwald beklagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass seine Zeitung zu Parteiveranstaltungen, die an sich öffentlich seien, gar nicht mehr eingeladen werde. Es würden ihr auch nicht die sonst üblichen Terminankündigungen geschickt. Ähnlich die Erfahrung von Stef Manzini, seit 20 Jahren freie Mitarbeiterin des Südkuriers in Überlingen am Bodensee: Anfragen an die AfD, vor allem wenn sie kritisch klingen, würden gar nicht oder verspätet durch untergeordnete Funktionäre beantwortet und fielen oft nichtssagend aus.3 2
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Tweet von Jörg Meuthen, 03.08.2019. Online https://twitter.com/Joerg_Meuthen/status/ 1157677036451848192 (letzter Zugriff: 14.02.2020). Als die ZDF-Redaktion „Berlin direkt“ eine Meuthen-Äußerung aus diesem Interview anschließend als Tweet verbreitete, glaubte Meuthen hinterherschieben zu müssen: „Zur verbindlichen Klarstellung: Dieser Tweet stammt NICHT von mir!!!“, 04.08.2019. Online https://twitter.com/Joerg_Meuthen/status/ 1158040169519468546 (letzter Zugriff: 14.02.2020). Vgl. Aussagen in der Sendung „Mediasres“ des Deutschlandfunks vom 03.12.2018. Online:
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Wenn Journalisten sich also interessiert zeigen, wenn sie nachfragen, Auskunft erbitten, dann blockt die AfD häufig ab. Medienkritik und Informationsblockade – das gehört bei dieser Partei merkwürdigerweise zusammen. Da werden Journalisten von Parteitagen ausgeschlossen, bei der Akkreditierung wird also gesiebt. Es ist auch vorgekommen, dass bestimmten Journalisten auf Pressekonferenzen der Partei das Fragerecht entzogen wurde (vgl. Gäbler 2018: 29). Außerdem gibt es neuere Hinweise aus der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), wonach die AfD gegen missliebige Journalisten vermehrt auch juristisch vorgeht (vgl. Gostomzyk/Moßbrucker 2019: 60). 3 IM VISIER DER AFD: ARD UND ZDF ALS SOGENANNTER STAATSRUNDFUNK Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird von Rechtspopulisten immer wieder unter Feuer genommen, und dies in einer Art dreifachem Zangengriff: Das Programm von ARD und ZDF gilt ihnen erstens als Propaganda für das sogenannte Merkel-Regime. Der Rundfunkbeitrag wird zweitens fortwährend als staatlich verordnete Zwangsgebühr attackiert, es gibt viele politisch motivierte Zahlungsverweigerer. Und es werden drittens auf Kundgebungen von Pegida, aber auch bei AfD-Veranstaltungen Berichterstatter, die erkennbar von öffentlich-rechtlichen Sendern kommen, verlacht, ausgebuht, beleidigt, bedroht und auch geschlagen. Zur rechtspopulistischen Medienkritik gehört, die Ausgewogenheit der Berichterstattung anzuzweifeln. Bei ARD und ZDF wird versichert, keine „Strichlisten“ zu führen – also nicht buchhalterisch zu verzeichnen, welche Partei wie oft in den Nachrichtensendungen vorgekommen ist. Das hat die AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft für sie gemacht. Im Juli veröffentlichte sie eine scheinwissenschaftlich aufgemachte Untersuchung, eine Art Inhaltsanalyse von 279 Tagesschau-Sendungen seit der Bundestagswahl 2017.4 Was glaubt die AfD herausgefunden zu haben? In den 279 Sendungen seien die Grünen mit 154 Statements überproportional häufig zu Wort gekommen. Dass die kleinste Oppositionsfraktion so viel Echo bekam, glaubt man mit einer GrünenNeigung bei den Journalisten erklären zu können. Die Linke sei mit 102 Statements berücksichtigt worden, die FDP mit 90. Die AfD hingegen, obwohl stärkste Oppositionsfraktion, sei mit nur 88 Beiträgen „Schlusslicht“.5
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https://www.deutschlandfunk.de/lokaljournalismus-und-afd-noch-lange-kein-normales.2907. de.html?dram:article_id=434882 (letzter Zugriff: 14.02.2020). Wer die mit welcher fachlichen Kompetenz erstellt hat, ist unklar – wir von der Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg waren es nicht. Darauf hinzuweisen besteht Anlass, beruft sich die AfD-Studie doch an zwei Stellen auf Forschung bzw. eine Ringvorlesung an der Universität Hamburg. Pressemitteilung zur Tagesschau-Untersuchung: AfD kompakt (2018): AfD-Studie zeigt: Tagesschau benachteiligt AfD, 19.07.2018. Online: https://afdkompakt.de/2018/07/19/studiezeigt-tagesschau-benachteiligt-afd/ (letzter Zugriff: 14.02.2020). Dort findet sich auch ein Link zum Volltext der 28-seitigen Studie.
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Ein krasser Fall von Benachteiligung? Methodisch ist hieran die Fixierung auf „Statements“ und „Redebeiträge“ problematisch – als sei es Pflicht des öffentlichrechtlichen Rundfunks, Politiker wenn, dann immer im Original-Ton zu Wort kommen zu lassen. Völlig ausgeblendet bleibt auch, dass die Mengenverteilung Ergebnis journalistischer Gewichtung sein könnte – also eine Auswahl nach Nachrichtenwerten und natürlich auch einer Beurteilung des Sachgehalts von AfD-Äußerungen. Nachrichtengebung auch in der Tagesschau ist keine Sache eines Proporzes, der exakt ein Wahlergebnis abbilden müsste. Das wäre eine Überstrapazierung der sogenannten Ausgewogenheit. Richtig bleibt natürlich, dass über die AfD mit ihren Äußerungen im Bundestag, aber auch mit dem (oft ungebührlichen) Agieren dort berichtet werden muss. Alles andere wäre Unterschlagung. Aber die Partei hat eben auch kein Anrecht, dass unkritisch über sie berichtet wird. Distanz zu wahren, auch und gerade das gehört zur Rundfunkfreiheit. Besonders gerne reibt sich die AfD an prominenten Protagonisten des öffentlich-rechtlichen Nachrichtenfernsehens, an exponierten Journalistinnen und Journalisten wie Anja Reschke und Georg Restle. „Diese fixe Idee der neutralen Berichterstattung halte ich für absurd“, wurde Reschke im November 2018 zitiert, verbunden mit dem Kommentar: „Journalistin gibt zu, ihren ÖR-Auftrag zu ignorieren.“ Die AfD-Politikerin Alice Weidel empörte sich: „Reschkes Verständnis von Gerechtigkeit und neutraler Berichterstattung erschöpft sich in linksgefärbtem Meinungsjournalismus zur besten Sendezeit.“6 Kann das stimmen? Hat sich die versierte politische Journalistin Reschke, beim NDR inzwischen zur Programmbereichsleiterin Kultur und Dokumentation avanciert, tatsächlich so geäußert? Bedauerlicherweise ja. In einem langen Gespräch mit „Planet Interview“ bemerkte der Interviewer Jakob Buhre an einer Stelle: „Nun erwarten ja viele Zuschauer eine neutrale Berichterstattung.“ Daraufhin Reschke: „Ich glaube, das ist eine falsche Erwartungshaltung. Diese fixe Idee der neutralen Berichterstattung halte ich für absurd.“ Jeder Journalist gehe „mit seinem persönlichen Paket, seinen Erfahrungen, seinen Einstellungen an einen Bericht“ heran.7 So wahr das ist, gehört es doch zur Professionalität von Journalisten, den eigenen Bias, die politischen Sympathien und Antipathien im Zaum zu halten und sich immer wieder zu größtmöglicher Unvoreingenommenheit zu ermahnen. Davon spricht Reschke nicht – ihre Äußerung war höchst unvorsichtig und lieferte der AfD Futter für eine scharfe Replik. 4 NEUTRALITÄT AUCH JENSEITS ROTER LINIEN? Aber was wäre denn neutral? Die frühere AfD-Vorsitzende Frauke Petry postulierte einst, ein Parteitagsbericht wäre dann „neutral“, wenn er die Form eines Protokolls 6 7
Alice Weidel auf Facebook, 17.11.2018. Online: https://www.facebook.com/aliceweidel/ posts/2243293499015206/ (letzter Zugriff: 14.02.2020). Interview Jakob Buhre mit Anja Reschke: Planet Interview (2018): Die fixe Idee der neutralen Berichterstattung halte ich für absurd. 15.11.2018. Online: http://www.planet-interview.de/interviews/anja-reschke/50581/ (letzter Zugriff: 14.02.2020).
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hätte (zit. nach Gäbler 2018: 54). Es ist leicht, sich über eine solche Äußerung zu mokieren, zeugt sie doch von Unkenntnis journalistischer Formgesetze wie der „umgekehrten Pyramide“, die das Wichtigste und Interessanteste in einem Artikel breit nach vorn stellt. Doch stellen wir uns für einen Moment vor, die Medien kämen diesem Begehren nach. Vielleicht wäre dieses Verfahren ungleich kritischer und seinem Effekt nach stärker kontra AfD, wenn wirklich nur stur über den Verlauf langatmiger Debatten berichtet würde. Langeweile als Abschreckungseffekt – nur so ein Gedanke. Doch es kann keine Neutralität geben, wo rote Linien überschritten werden. Diese roten Linien werden ethisch durch unser Grundgesetz definiert. Wo dem Rassismus das Wort geredet wird, liegt ein Verstoß gegen Art. 1, die Achtung der Menschenwürde, vor. Zum Konsens einer Zivilisation gehört auch, dass Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf. Schmähkritik am politischen Gegner scheidet aus – wo sie dennoch vorkommt, verdient sie eine deutlich kritische Markierung. Unter liberalen Journalistinnen und Journalisten ist das Konsens. Die frühere WDR-Chefredakteurin und „Monitor“-Chefin Sonia Mikich sagte in einem FAZInterview: „Es gibt keine Ausgewogenheit in Sachen Menschenrechte, Frauenverachtung oder Klimawandel. Es gibt rote Linien, die man nicht übertreten darf.“ (Zit. nach Gäbler 2018: 67) Der prominente ORF-Journalist Armin Wolf, der österreichische Politiker in seinen Interviews hart angeht und ebenso hart von den kritisierten Politikern sowie manchen Zuschauern angegangen wird, sagte auf den Medientagen München 2018: „Es gibt tatsächlich Äußerungen, die im ganz unmittelbaren Wortsinn unsäglich sind: Rassismus ist keine Meinung. ‚Heil Hitler‘ ist kein Argument. Darüber muss nicht diskutiert werden. Im Gegenteil. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Positionen kann rasch zur ,false balance‘ werden, zur irreführenden Ausgewogenheit, die diskursiv legitimiert, was verfassungsfeindlich ist.“8 Gäbler (2018: 74), der das Spannungsverhältnis, man kann auch sagen: Zusammenspiel9 von Medien und AfD besonders intensiv untersucht hat, fasst die Diskussion zusammen und markiert rote Linien: „Es gibt keine Ausgewogenheit, wenn der Grundsatz infrage gestellt wird, dass alle Menschen gleich wertvoll und gleichberechtigt sind und ihre Würde unteilbar ist. Gerade in Deutschland gehört es darüber hinaus zur Substanz demokratischen Bewusstseins, die eigene Geschichte nicht zu leugnen, sondern dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus eine Ethik des ,Nie wieder!‘ entgegenzusetzen.“ Das alles ist mehr als nur Theorie, sondern ein Gebot der praktischen Ethik. Dieses Geschichtsbewusstsein sollte täglichen redaktionellen Abwägungsentscheidungen zugrunde liegen. Ganz im Sinne von Wulf Schmiese, dem Redaktionsleiter des heute journal im ZDF: „Wenn der demokratische Boden eindeutig verlassen 8 9
Armin Wolf hat seinen Münchner Vortrag auf seinem Blog veröffentlicht: Armin Wolf (2018): „Demokratischer Diskurs ist kein safe space“, 27.10.2018. Online: https://www.arminwolf. at/2018/10/27/demokratischer-diskurs-ist-kein-safe-space/ (letzter Zugriff: 14.02.2020). Inzwischen sind auch die Austauschverhältnisse von Journalisten und Rechtsextremisten (von denen die AfD in Teilen noch zu unterscheiden ist) wissenschaftlich untersucht, vgl. Baugut/ Neumann 2019.
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wird, haben wir keine Scheu, das zu markieren.“ (Zit. nach Gäbler 2018: 98). Noch etwas deutlicher wird Georg Restle, der Redaktionsleiter von Monitor beim WDR: „Die Orientierung an unseren Grundrechten und die Erinnerung an unsere jüngere Geschichte wären schon mal eine gute Basis. Und ein entschiedenes Bekenntnis zum Humanismus, der Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer Herkunft beurteilt. Ganz grundsätzlich glaube ich, dass Journalisten überhaupt wieder über einen werteorientierten Journalismus nachdenken sollten – statt permanent nur abbilden zu wollen, ‚was ist‘. Wir müssen eben nicht jeden Mist abbilden, nur weil er aus dem Mund eines Bundestagsabgeordneten oder eines Parteivorsitzenden kommt.“10 5 DAS HINGEHALTENE STÖCKCHEN: AUSWEGE AUS DEM AUTOMATISMUS Nur auf den ersten Blick sind Schmiese und Restle einer Meinung. Wo der ZDFRedakteur etwas öffentlich thematisieren will, plädiert sein Kollege vom WDR für Zurückhaltung, für Nicht-Thematisierung, jedenfalls von „Mist“. Um die Frage, was von der AfD mitteilenswert ist und was nicht, was nur Wiederholung von Altbekanntem ist, was die pure Artikulation von Hass auf den politischen Gegner ist, drehen sich redaktionelle Diskussionen seit nun einigen Jahren. Der journalistische Kompass muss dabei immer wieder neu justiert werden. Die AfD jedenfalls kennt ihre Richtung: Im Sinne von Virchow (2017) dehnt sie die Räume des Sagbaren immer weiter aus, sie provoziert und verstößt gegen den demokratisch-zivilen Common Sense – nicht nur, weil ihre Repräsentanten politisch so denken, sondern weil es darum geht, mediale Wahrnehmungsschwellen zu überspringen. Je ungeheuerlicher eine Äußerung, desto eher wird sie medial aufgegriffen werden. Medien werden so zu unfreiwilligen Verstärkern einer gefährlichen Politik. Aber müssen sie denn unweigerlich? Von Gäbler (2017) stammt die sogenannte Stöckchen-Theorie. Seine Warnung, seine Empfehlung: Journalisten sollten nicht über jedes Stöckchen springen, das ihnen die rechte Partei hinhält. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn sich AfD-Politiker radikalisieren und ihre öffentlichen Tabubrüche so krass ausfallen, dass man darüber den Mantel des Schweigens schlechterdings nicht breiten kann. Beispiel ist Verena Hartmann, eine aus Sachsen stammende Bundestagsabgeordnete der AfD, die Anfang August 2019 die Tötung eines Achtjährigen am Frankfurter Hauptbahnhof (mutmaßlicher Täter war ein Eritreer) direkt der Bundeskanzlerin anlastete: „Frau Merkel, was wollen Sie uns noch antun? Sie werden nie wissen, was es bedeutet[,] Mutter zu sein, weder für ein Kind, noch für dieses Land! Aber ich verfluche den Tag Ihrer Geburt!“11
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Georg Restle, Interviewäußerung in: journalist 08/2018, S. 23. Der „journalist“, ein vom Deutschen Journalisten-Verband herausgegebenes Magazin, hatte schon die Titelgeschichte seiner Ausgabe 11/2017 der selbstkritischen Frage gewidmet: „Haben wir die AfD groß gemacht?“ [Sic!, „groß gemacht“ hätte zusammengeschrieben werden müssen.] Hartmann hat den Tweet inzwischen gelöscht und versuchte auf Facebook, sich zu rechtferti-
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Dieser Tweet mit seiner menschenverachtenden Konnotation eines Todeswunsches (,Hättest du doch nie gelebt‘) würde eine strafrechtliche Würdigung verdienen – die Bundeskanzlerin, die sich bekanntlich viel gefallen lassen muss, wird davon absehen. Journalistinnen und Journalisten aber mussten hier einsteigen. Der unvermeidliche Effekt für die AfD-Abgeordnete aber war ein Übermaß an Aufmerksamkeit. Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen. Und es taucht in der journalistischen Praxis immer wieder auf. Aber Journalistinnen und Journalisten haben ja Alternativen, als nur eilfertig zu reportieren, was Politiker von sich geben. Sie können kritisch nachfragen, sie können prüfen, ob eine Partei wie die AfD überhaupt Konzepte zur Lösung drängender politischer Fragen hat, sie können recherchieren, ob die Integration Geflüchteter wirklich derart misslingt, wie von der AfD behauptet. Ein Kritikpunkt von Haller (2017) war es, dass in den Jahren 2015ff. ein erheblicher Teil der Berichterstattung von einer unreflektierten „Willkommenskultur“ geprägt gewesen sei und dass viele Journalisten die tiefere, nachfassende und nachfragende Recherche bei diesem Thema vernachlässigt hätten. Also etwa die Frage, ob Deutschland, seine Institutionen und Behörden, das Bildungswesen und die Wirtschaft mit der neuen Herausforderung, so viele Geflüchtete zu versorgen und längerfristig zu integrieren, überhaupt fertigwürden.12 Dem kann man sich anschließen. Ein Positivbeispiel wie die 13-teilige Reihe der Süddeutschen Zeitung „Schaffen wir das?“ aus dem Jahre 2018 stellt ein für andere Redaktionen nachahmenswertes und von allen Medien kontinuierlich zu wiederholendes Muster dar.13 Greck (2018) konnte die Tendenz zu einer lösungsorientierten Berichterstattung bis in die Regionalpresse hinein nachweisen. Doch gibt es keinen Anlass anzunehmen, gerade die Regionalpresse sei in Sachen Populismus-Berichterstattung besonders ambitioniert. Zwar gibt es löbliche Ausnahmen, doch verhalten sich manche Redaktionen in der Provinz schlicht ignorant gegenüber den beunruhigenden Veränderungen der politischen Landschaft. Gäbler hat eine Drei-Monats-Analyse der AfD-Berichterstattung von Oberhessischer Presse und Nürnberger Nachrichten vorgelegt. Demnach ist AfD-Berichterstattung agenturgetrieben, dpa oder RND müssen genügen. Selbst Ereignisse im eigenen Verbreitungsgebiet werden häufig nicht mit eigenen Berichterstattern besetzt, es fehlen Berichterstattung und Analyse der Tätigkeit bzw. Untätigkeit von gewählten AfD-Vertretern in der eigenen Region (vgl. Gäbler 2018: 75–90). Bei der Oberhessischen Presse, die in Marburg redigiert wird, immerhin also einer Universitätsstadt, hatte Gäbler nach der Lektüre gar den Eindruck, dass es die AfD in
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gen. Online: https://www.facebook.com/pg/MdB.Verena.Hartmann.AfD/posts/ (Eintrag vom 05.08.2019, 2.00 Uhr). Hartmann ist inzwischen aus Partei und Fraktion der AfD ausgetreten. Haller hat seiner ersten Studie zum Thema (2017) inzwischen eine zweite folgen lassen (Haller 2019). In der Wissenschaft ist die Berichterstattung zur sogenannten Flüchtlingskrise und auch ihre Rezeption und Wirkung im Publikum inzwischen breit untersucht. Vgl. Greck 2018, Maurer et al. 2018, Merten/Dohle 2019. Bernhard (2018) setzte sich mit der Wirkung der Berichterstattung über die populistische Bewegung PEGIDA auseinander. Die ganze Serie kann online nachgelesen werden: https://www.sueddeutsche.de/thema/SZ-Serie_Integration (letzter Zugriff: 14.02.2020).
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Marburg und dem umliegenden Landkreis Marburg-Biedenkopf gar nicht gäbe (vgl. Gäbler 2018: 88). Ausblendung also – das ist bestenfalls Vogel-Strauß-Politik, aber kein Journalismus auf der Höhe der Zeit. Das ist besonders bedauerlich, weil der Lokal-/Regionaljournalismus für die journalistische Beantwortung von Rechtspopulismus möglicherweise relevanter ist als der ganze Hauptstadt-Journalismus der tonangebenden Blätter der Republik. Denn aus den Regionalzeitungen beziehen Millionen Deutsche ihre hauptsächlichen politischen Informationen. Doch könnte es in manchen dieser Redaktionen eine Scheu geben, Rechtstendenzen allzu deutlich beim Namen zu nennen, weil das als Publikumsbeschimpfung, als Verdächtigung und Herabsetzung der eigenen Leserschaft empfunden werden könnte. Der nächste Schritt zum Appeasement-Journalismus ist dann nicht weit (vgl. u. a. Kraske 2018, Seeßlen 2018). Mit der AfD einen Kuschelkurs zu versuchen, das wurde und wird immer wieder den politischen Talkshows von ARD und ZDF vorgeworfen, gelegentlich geht der Vorwurf aber auch an noble Adressen der Qualitätspresse. Kritisiert wurde beispielsweise der stern für seinen Titel 25/2018, der einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem Mordfall und Merkels Flüchtlingspolitik herstellte: „Das zerrissene Land“.14 Desgleichen DER SPIEGEL für ein von AfD-Blau unterlegtes Titelbild, auf dem ein Führungs-Quartett der Partei bei einem raketengleichen Aufstieg zu sehen war: „Und morgen das ganze Land? Warum die AfD so erfolgreich ist“.15 Für besondere Empörung sorgte DIE ZEIT, als sie in Ausgabe 29/2018 ein Pro und Contra zur privaten Seenotrettung druckte: „Oder soll man es lassen?“16 Insbesondere die Schlagzeile mit der rhetorischen Frage war umstritten. Für sie entschuldigte sich die Chefredaktion später und erklärte sich im Blog der Wochenzeitung.17 Womit sich alle Medien, regionale wie bundesweite, auseinandersetzen müssen, ist ein Problem, ein Begriff, der fest zur rechtspopulistischen Vorstellungswelt gehört: das „betreute Denken“, mit dem etablierte Medien einfache Bürgerinnen und Bürger angeblich zu manipulieren versuchen.18 Dunja Hayali beispielsweise schlug das entgegen, als sie sich nach dem 26. August 2018 nach Chemnitz19 traute 14 15 16 17 18 19
Das stern-Titelbild online: https://www.facebook.com/stern/photos/das-zerrissene-land-dermordfall-susanna-f-und-das-ende-von-merkels-fl%C3%BCchtlingsp/10155991494759652/, 13.06.2018 (letzter Zugriff: 14.02.2020). Das Spiegel-Titelbild online: https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2018-37.html (letzter Zugriff: 14.02.2020). Lobenstein, Caterina/Lau, Mariam: Oder soll man es lassen? DIE ZEIT Nr. 29/2018, 12.07.2018. Online: https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra/ komplettansicht (letzter Zugriff: 14.02.2020). Rückert, Sabine/Ulrich, Bernd: Zum Pro & Contra über private Seenotrettung in der ZEIT, 12.07.2018. Online: https://blog.zeit.de/fragen/2018/07/12/zum-pro-und-contra-zur-seenotrettung/ (letzter Zugriff: 14.02.2020). Eine Google-Suche zu diesem Begriff liefert 22.000 Fundstellen (13.08.2019). Die Vorfälle von Chemnitz („Hetzjagd“) sind besonders gut von der ZEIT in einem am 13.09.2018 erschienenen Dossier aufgearbeitet worden: Geis, Matthias et.al: „Die Deutungsschlacht“. Online: https://www.zeit.de/2018/38/rechtsextremismus-chemnitz-verfassungsschutzangela-merkel (letzter Zugriff: 14.02.2020).
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und dort gezielt das Gespräch mit Bürgern suchte. Wie üblich wurde die exponierte ZDF-Journalistin beschimpft, bekam aber von einer Chemnitzerin, die freimütig ihren Namen nannte, auch ein bedenkenswertes Bonmot mit auf den Weg: Wenn man den Fernseher einschalte und immer mit derselben Tendenz informiert werde, dann sei das „betreutes Denken“ und das wolle man nicht mehr haben. Es geht also um das Gefühl von Entmündigung. Eine Aversion wurde bei der Chemnitzerin spürbar, aber eine mit einem durchaus rationalen Kern. Für den Journalismus kann die Konsequenz daraus nicht bedeuten, weniger oder anderes zu berichten und in seiner Kritik an Rechtstendenzen zurückzustecken. Wohl aber muss unter Journalistinnen und Journalisten und in den Redaktionen dringend und kontinuierlich diskutiert werden, wie man den Eindruck „betreuten Denkens“ vermeidet, wenn es auch nur eine Spur von Erfolgsaussicht bei dem Versuch geben soll, rechts und medienfeindlich gesonnene Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen (Lilienthal 2018). 6 GEWALT GEGEN JOURNALISTEN – EINSCHÜCHTERUNG IST DAS ZIEL Die Berichterstattung von rechten Demonstrationen ist für Journalisten in Deutschland gefährlich. Das ist leider der Normalfall geworden. Schon anhand ihrer Ausrüstung sind sie als Vertreter der „Systemmedien“ erkennbar und werden häufig angefeindet. Oft bleibt es nicht dabei, dass ihnen der Stinkefinger gezeigt wird. Im Jahr 2018 kam es zu 26 gewaltsamen Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten, hat das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) gezählt – und die Fälle auch verifiziert. Ein Höhepunkt war 2015 mit 43 Übergriffen verzeichnet worden (ECPMF o.J.: 3). Das Problem gewalttätiger Übergriffe auf Journalisten ist inzwischen so groß und so chronisch, dass sich z. B. der Fernsehrat des ZDF damit befassen musste. Chefredakteur Peter Frey berichtete dem Aufsichtsgremium, es sei ein „Widerspruch in sich“, dass sich „ein Bürgerfernsehen vor Bürgern schützen (lassen)“ müsse.20 Mit dem Segen seines Fernsehrats hat das ZDF inzwischen mehrere Maßnahmen gegen die Bedrohungen ergriffen: - Extreme Pöbler, die Journalistinnen wie Dunja Hayali oder Claudia Neumann beleidigen und bedrohen, werden inzwischen vom Sender angezeigt; man geht gerichtlich gegen sie vor. - Bei der Berichterstattung von rechten Kundgebungen wird vorher eine Einschätzung der Gefahrenlage vorgenommen. Nötigenfalls werden die Drehteams von Sicherheitsleuten begleitet. Die örtlich zuständige Polizei wird vorher über diese Schutzmaßnahme unterrichtet. - Schließlich ist jeder ZDF-Mitarbeiter, der vor Ort in eine brenzlige Situation gerät, berechtigt, die Berichterstattung (also die Ausführung seines grundrechtlich geschützten Auftrags!) zur Eigensicherung abzubrechen und wo 20
Frey 2018.
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möglich deeskalierend auf Provokateure und Angreifer einzuwirken. Hierzu bietet der Sender auch besondere Schulungen an. ZDF-Chefredakteur Frey bilanziert: „Wir dürfen den öffentlichen Raum nicht den Populisten und Rechtsradikalen mit ihren Drohungen überlassen. Im Verfassungsfundament ist die Säule der Pressefreiheit fest eingemauert. Wenn sie zu wackeln beginnt, wackelt die ganze Demokratie.“21 Körperliche Gewalt gegen Journalisten mag noch die Ausnahme sein, Bedrohungen sind es nicht. Die Sozialen Medien sind voll von Beschimpfungen und auch Drohungen, die bis hin zur Morddrohung gehen. Eine solche erreichte den schon erwähnten WDR-Journalisten Georg Restle im Juli 2019, nachdem er sich in einem Tagesthemen-Kommentar am 11. Juli besonders kritisch mit der AfD auseinandergesetzt und ihr ein Abdriften in den Rechtsextremismus vorgeworfen hatte.22 Gleich am nächsten Tag schrieb der AfD-Abgeordnete Martin Renner einen geharnischten Brief an WDR-Intendant Tom Buhrow und verlangte eine „Richtigstellung und öffentliche Entschuldigung“ sowie „disziplinarische Konsequenzen“ gegen Restle.23 Die so angefachte Empörung gegen Restle, massenhaft beobachtbar in den Sozialen Netzwerken, schaukelte sich hoch und führte zu der Morddrohung. Diese war offenbar ernst zu nehmen, weswegen der Sender Strafanzeige erstattete. Buhrow erklärte: „Perfide Drohgebärden dieser Art werden uns nicht davon abhalten, unseren Job als Journalisten zu machen. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind ein hohes Gut. Wer das nicht akzeptiert, ist ein Feind der Demokratie.“24 Ob Frey oder Buhrow – die Verantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks scheinen hinter ihren angefeindeten Mitarbeitern zu stehen. Sie veranlassen Schutzmaßnahmen, stellen Strafanzeigen. Was sie aber mit solchen Mitteln nicht verhindern können, ist die Einschüchterung, die vom alltäglichen Hass, der in den Mail-Postfächern und auf den Social-Media-Kanälen der Betroffenen anlandet, ausgeht. Journalistinnen und Journalisten sollen sich fürchten, sie sollen vorsichtiger werden. Ein Georg Restle lässt sich vielleicht nicht mal von einer Morddrohung einschüchtern. Andere aber, die nicht so sehr den Schutz und den Zuspruch großer Öffentlichkeit genießen, werden nicht so stark sein – und menschlich ist es ihnen nicht mal zu verdenken. Persönliche Drohungen richten sich gegen Einzelne, aber ihre Wirkung zielt auf eine gesamte Profession, deren demokratisches Wächteramt insgesamt angegriffen und das Recht dazu bestritten wird.
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Frey 2018. Der Tagesthemen-Kommentar von Georg Restle zur Identitären Bewegung vom 11.07.2019. Online: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-der-tagesthemen-kommentarvon-georg-restle-zur-identitaeren-bewegung-vom--100.html (letzter Zugriff: 08.08.2019). Renner, der Buhrow fälschlich als „Thomas“ anschrieb, machte seinen Brief auf Twitter öffentlich: https://twitter.com/Renner_AfD/status/1149771659911606272 (letzter Zugriff: 14.02.2020). WDR-Pressemitteilung vom 19.07.2019: WDR stellt Strafanzeige wegen Morddrohung. Online: https://presse.wdr.de/plounge/wdr/unternehmen/2019/07/20190719_strafanzeige_restle. html (letzter Zugriff: 14.02.2020).
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7 KANN JOURNALISMUS DIE DEMOKRATIE SCHÜTZEN? Mit diesem pessimistischen Ausblick zurück zur Ausgangsfrage: Kann Journalismus die Demokratie schützen? Dazu dreimal Nein – und dreimal Ja. - Nein, weil inzwischen zu wenige Deutsche kontinuierlich seriöse Medien rezipieren. Es gibt einen Überfluss im Netz, aber die Aufmerksamkeit dafür ist fragmentiert, das politische Lernen der Rezipientinnen und Rezipienten ist nicht nachhaltig. - Nein, weil das Milieu derer, die sich nicht überzeugen lassen wollen und medienskeptisch bis -feindlich eingestellt sind, doch zu groß ist, als dass man Gehör finden könnte. - Nein, weil der Journalismus als sogenannte Vierte Gewalt ja nicht demokratisch legitimiert ist. Mindestens braucht er die Unterstützung der drei legitimierten Staatsgewalten. Wie überhaupt gilt: Die Stabilität einer Demokratie bewährt sich in der Stabilität seiner Institutionen. Und nun dreimal Ja: - Ja, weil kritischer Qualitätsjournalismus, wenn er recherchestark ist und an seinem Thema kontinuierlich dranbleibt, als ein Frühwarnsystem für Bürgerinnen und Bürger und Institutionen wirken kann. - Ja, weil es in Deutschland eine gebildete Mehrheit gibt, die die Orientierungsleistungen des freien Journalismus zu schätzen weiß und damit die eigene politische Meinung bildet. - Ja, weil ein hartnäckig nachfragender Journalismus, der das politische System beobachtet, einen Legitimationsdruck entfaltet, dem sich auch die Sturen und Harthörigen auf Dauer nicht entziehen können. Hoffentlich. BIBLIOGRAFIE Baugut, Philip/Neumann, Katharina (2019): Die Beziehungen zwischen Journalisten und Rechtsextremisten. Wechselseitige Wahrnehmungen, Ziele und Interaktionen. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, H. 2, S. 144–166. Bernhard, Uli (2018): „Lügenpresse, Lügenpolitik, Lügensystem“. Wie die Berichterstattung über die PEGIDA-Bewegung wahrgenommen wird und welche Konsequenzen dies hat. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, H. 2, S. 170–187. ECPMF (o.J.): Feindbild Journalist – Report 2018. Leipzig: European Centre for Press & Media Freedom. Online: https://www.ecpmf.eu/files/feindbild_3_-_rueckblick_2018.pdf (letzter Zugriff: 14.02.2020). Faas, Thorsten/Maier, Jürgen/Maier, Michaela/Richter, Simon (2017): Populismus in Echtzeit. Analyse des TV-Duells und des TV-Fünfkampfs im Vorfeld der Bundestagswahl 2017. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 44/45, S. 17–24. Online: https://www.bpb.de/apuz/258499/populismus-in-echtzeit?p=all (letzter Zugriff: 14.02.2020). Frey, Peter (2018): Die Säule der Pressefreiheit. Journalisten in Deutschland sollten nicht mit Schutzhelmen in den Einsatz ziehen müssen. In: Medienkorrespondenz, 19.10.2018. Online: https://www.medienkorrespondenz.de/leitartikel/artikel/die-saeule-der-pressefreiheit.html (letzter Zugriff: 14.02.2020). Fuchs, Christian/Middelhoff, Paul (2019): Das Netzwerk der Neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern. Hamburg: Rowohlt.
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MEINUNGSPLURALISMUS IN SOZIALEN MEDIEN Zur Beteiligung von Influencern am politischen Diskurs Tobias List
1 ZUM VERHÄLTNIS VON MEDIENANGEBOTEN UND MEDIENINTERMEDIÄREN In der Prä-Internet-Ära beruhte die öffentliche Meinungsbildung meist auf journalistisch-redaktionellen Beiträgen, bei der die Vielzahl an Bürgerinnen und Bürgern als reiner Medien-Rezipient agierte.1 Dabei waren die Möglichkeiten für Einzelpersonen, sich medial an eine breite Öffentlichkeit zu wenden, oftmals beschränkt und Medieninhalte wurden hauptsächlich von Rundfunkveranstaltern über unterschiedliche Massenmedien wie das Fernsehen, Radio oder Tageszeitungen verbreitet. Die Rundfunkveranstalter konnten somit als monopolistische Gatekeeper agieren und ihre journalistisch-redaktionellen Medienangebote stellten die Grundlage für die öffentliche Meinungsbildung dar, da die Rezipienten die Selektion von Inhalten den Anbietern mit der Prämisse überließen, gesellschaftlich relevante Inhalte auszuwählen.2 Mit zunehmender Konvergenz von klassischen Sender- bzw. EmpfängerRollen durch die Digitalisierung ist die Meinungsbildungsrelevanz von reichweitenstarken „Privatpersonen“3 gestiegen4 und die klassischen Massenmedien werden zunehmend als einzelne relevante Medienanbieter abgelöst5. Dennoch sind Influencer in der Medienwirkungsforschung kein neues Phänomen des Internets. Bereits in den 1940er-Jahren stellten Lazarsfeld et al. fest, dass die Meinungsbildung nicht ausschließlich durch Massenmedien, sondern auch von direkter Kommunikation im eigenen sozialen Umfeld beeinflusst wird.6 Mit dem Internet sind jedoch neue Kommunikationskanäle und damit einhergehend neue Dynamiken entstanden, über die eine (digitale) Meinungsführerschaft deutlich größeren Einfluss auf die individuelle Meinungsbildung einzelner Rezipienten nehmen kann. Die direkte Interaktion mit Influencern und die Möglichkeit von Nutzern, Inhalte zu teilen und Feedback zu geben, lässt neue öffentliche Kommunikationsräume schnell entstehen. Duckwitz beschreibt diesen Wandel hin zur Many-to-many-Kommunikation 1 2 3 4 5 6
Vgl. Krückels 2018. Vgl. Gounalakis 2018, S. 44; Schultz/Dankert 2016, S. 16f. Jungnickel (2017: 31) bezeichnet solche Opinion Leaders als „nicht-professionelle Kommunikatoren, die informellen Einfluss ausüben“. Vgl. Dörr 2019, S. 31. Vgl. MedienGewichtungsStudie 2018-II, S. 18–24. Vgl. Taddicken 2016, S. 27.
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als Prinzipsveränderung, die auch dazu geführt hat, dass es Rezipienten zunehmend schwerfällt, zwischen unabhängigem, professionellem Journalismus (Information), persönlicher Meinung und Werbung zu differenzieren.7 Dennoch gelingt es durch das Internet, „von einer sozial selektiven, einseitigen, linearen, zentralen und intransparenten Kommunikation, zu einer partizipativen, interaktiven, netzartigen, dezentralen und transparenten Kommunikation“8 zu gelangen. Die heutigen technischen Mittel und neuen Kommunikationskanäle haben die (politische) Meinungsbildung der Rezipienten im Vergleich zur Prä-Internet-Ära also grundlegend verändert. Insbesondere bei den 14- bis 29-jährigen Rezipienten ist zu beobachten, dass die Relevanz von Online-Medien und sozialen Netzwerken die klassischen Massenmedien bereits überholt hat und Tageszeitungen sowie das Radio in dieser Zielgruppe für die Meinungsbildung abnehmende Relevanz aufweisen.9 Dabei ist neben den Relevanzverlusten publizistischer Angebote auch eine Kultur des UserGenerated-Contents entstanden, der die Bedeutung von klassischen journalistischredaktionellen Beiträgen der One-to-many-Kommunikation für die Meinungsbildung jener jungen Generation weiter schrumpfen lässt. Das ehemals vorhandene Gatekeeper-Monopol haben die klassischen Medienangebote im Internet längst verloren10 und teilen sich ihre Relevanz zur öffentlichen Meinungsbildung nun mit den Medienintermediären und nicht-publizistischen Angeboten. Dabei nehmen alle drei Akteure eine wichtige Rolle für die Medienvielfalt ein. Für die Diskussion ist zunächst unerlässlich, Medienangebote von Medienintermediären definitorisch zu unterscheiden. Während Medienintermediäre als Vermittler zwischen Information und Nutzer agieren, bieten sie regelmäßig keinen eigenen Inhalt an. Im Gegensatz dazu sind Medienangebote als direkt vermittelte Information zu verstehen, die durch die massenkommunikative Ausrichtung bestimmten medienrechtlichen Regelungen unterliegen, die auf Medienintermediäre aktuell nicht anwendbar sind.11 Mit den sozialen Medien sind Netzwerke entstanden, die einen aktiven Meinungsaustausch fördern und auf den ersten Blick die Freiheit der Individuen zur Meinungsbildung erhöhen, indem sie die Möglichkeit eröffnen, als Individuum zum Mediensender zu werden. Zudem wird die Gelegenheit geboten, zahlreiche Medienangebote in kurzer Zeit zu konsumieren, und somit die objektive Medienvielfalt – so zumindest der erste Anschein – erhöht. Durch die entstandene Partizipationsmöglichkeit und technologische Weiterentwicklung entfällt einerseits aus technischer Perspektive der Flaschenhals des Medienzugangs und wird zugleich die Interaktion gefördert.12 Andererseits lassen sich in sozialen Netzwerken sowohl durch die vom Nutzer zu treffende Selektion als auch die Automatisierung der Beitragsselektion mithilfe von Algorithmen teilweise auch mögliche Effekte (wie z. B. Filterblasen und Echokammern) beobachten, die negativen Einfluss auf die Medienvielfalt nehmen könnten. Zudem werden Social Bots und 7 8 9 10 11 12
Vgl. Duckwitz 2019, S. 3. Neuberger 2016, S. 17. Vgl. Die Medienanstalten 2018, S. 18ff. Vgl. Gounalakis 2018, S. 44; Neuberger 2018, S. 16ff. Vgl. Schulz/Dankert 2016, S. 16f. Vgl. ebd. und Neuberger 2016, S. 17ff.
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sog. „Trolle“ zur Verbreitung von Informationen eingesetzt, die das Potenzial der (Meinungs-)Manipulation bieten. Durch die neuen Möglichkeiten und die zeitgleich entstandenen Manipulationsmöglichkeiten nehmen die Medienintermediäre eine Doppelrolle ein, in der man sie zugleich als vielfaltsfördernd und vielfaltsgefährdend einstufen kann.13 Die eingesetzten Algorithmen wählen dabei die im persönlichen Newsfeed angezeigten Nachrichten selbstständig aus. Hierbei werden die persönlichen Präferenzen des Nutzers durch die Intermediäre berücksichtigt, jedoch ist für Rezipienten oft nicht nachvollziehbar und erst recht nicht erklärbar, wie der eingesetzte Algorithmus bei der Selektion agiert. Im Gegensatz zur früheren Medienordnung gilt hier die Prämisse der sorgfältigen Auswahl der Inhalte nach gesellschaftlicher Relevanz für die Rezipienten nicht mehr. Auch wenn faktisch wenig Indizien vorzufinden sind, dass einzelne Unternehmen eine Manipulation von Meinung bestärken, so lässt sich das Potenzial hierfür bereits durch die mangelnde Transparenz der Selektionskriterien feststellen.14 Die Medienintermediäre – zu denen neben sozialen Netzwerken auch Videoportale, Suchmaschinen und Instant Messenger gehören – nehmen daher zunehmend selbst die Rolle eines Gatekeepers in der Meinungsbildung ein.15 Diese Rolle verlangt von medienpolitischen Akteuren eine Beurteilung zur Notwendigkeit einer Regulierung zur Sicherung der Medienvielfalt. Dabei ist bei einer Regulierung stets die Verhältnismäßigkeit zwischen den widerstreitenden Interessen zu wahren. Konkret stellt Gerecke dabei fest, dass Intermediäre bei der Anzeige von Inhalten nur eingeschränkt werden könnten, wenn eine willkürliche Diskriminierung einzelner Inhalte vorläge.16 Regelmäßig wird daher in Wissenschaft und Politik eine Diskussion angestoßen, wie die Meinungsvielfalt auch bei Medienintermediären sichergestellt und möglicher Manipulation vorgebeugt werden kann. Auch der Rundfunkstaatsvertrag (RStV), der digitale Medien bislang nicht ausreichend berücksichtigt, soll durch eine Novellierung zum Medienstaatsvertrag (MStV)17 ausgebaut werden. Die Begriffsbestimmungen sollen für die digitalisierte Medienwelt neu definiert werden und u. a. auch Medienintermediäre umfassen. Unterschiedliche weitergehende Regulierungsvarianten sehen z. B. die Einführung eines dualen Systems für digitale Medien18 oder eine Transparenz- und Kennzeichnungspflicht für Intermediäre als hilfreiche Regulierungsinstrumente vor.19 Die dritte für die Meinungsbildung relevante Gruppe von Medienangeboten (neben publizistischen Medienangeboten und Medienintermediären) sind sogenannte nicht-publizistische Angebote.20 Die Meinungsrelevanz nicht-publizisti13 14 15 16 17 18 19 20
Vgl. AG Intermediäre der Bund-Länder-Kommission 2018, S. 5. Vgl. Zweig 2017. Vgl. Zimmer 2018, S. 61. Gerecke 2019. Der Medienstaatsvertrag ist von den Ministerpräsident*innen der Länder bereits unterzeichnet worden (Stand: Mai 2020) und wird den Rundfunkstaatsvertrag voraussichtlich ab September 2020 ablösen. Vgl. Schwartmann 2019, S. 4; Keber 2019. Vgl. Grassmuck 2018. Die Relevanz nicht-publizistischer Angebote in sozialen Medien erkennt u. a. auch Gounalakis 2019, S. 48ff.
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scher Angebote entwickelt sich gegenläufig zu den klassischen journalistisch-redaktionellen Angeboten ansteigend21 und umfasst zunehmend auch Influencer, die sich politisch äußern und so Meinungsmacht in einer meist homogenen Zielgruppe ausüben können. Einer breiten Öffentlichkeit wurde dies im Rahmen des Europawahlkampfs 2019 bewusst, als der YouTuber „Rezo“ (Yannick Frickenschmidt) auf seinem Kanal („rezo ja lol ey“) mit seinem einstündigen Video „Die Zerstörung der CDU“ innerhalb kürzester Zeit große Aufmerksamkeit erregte, in dem er sich kritisch mit der Politik der CDU (und auch anderer Parteien) auseinandersetzte.22 Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer forderte anschließend offen eine politische Diskussion zur „Meinungsmache im Internet“23 und stellte damit die Frage, ob eine Neutralitätsverpflichtung für nicht-private Medienakteure (vor allem Influencer) im Internet notwendig sei. Im Folgenden wird diskutiert, ob und wie sich die Beteiligung von Influencern am politischen Diskurs auf die Medienvielfalt auswirkt, wie Neutralitätsverpflichtungen der Medienakteure rechtlich bereits ausgestaltet sind und welche möglichen Regulierungen sich aus der zunehmenden Relevanz von nicht-publizistischen Angeboten am politischen Diskurs ergeben. Dabei wird insbesondere auch die Regulierung von Medienintermediären untersucht, da eine Regulierung von Intermediären zwangsläufig auch Auswirkungen auf die selektionierten Medieninhalte (u. a. auch von Influencern) nach sich ziehen würden. 2 SORGFALTS- UND NEUTRALITÄTSVERPFLICHTUNGEN DER MEDIEN Meinungsvielfalt ist die Grundlage für die freie Meinungsbildung nach Art. 5 Abs. 1 GG. Hierzu reguliert der Gesetzgeber die Medienakteure sowohl in kartellrechtlicher Hinsicht24 als auch inhaltlich über Sorgfalts- und Neutralitätsverpflichtungen dergleichen. Die einzelnen Medienakteure unterliegen dabei im deutschen Medienrecht unterschiedlichen Regelungen. Der Gesetzgeber unterscheidet bei der Neutralitätsverpflichtung insbesondere zwischen Presseerzeugnissen und dem Rundfunk und reguliert somit aktuell hauptsächlich die analogen Massenmedien. Die verfassungsrechtliche Pflicht der Vielfaltssicherung im Internet lässt sich aus dem Rechtsgutachten der Medienanstalten zur Sicherung der Meinungsvielfalt ableiten25 und soll mit der Novellierung des Rundfunkstaatsvertrages (zum MStV) umgesetzt wer-
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Vgl. Gounalakis 2018, S. 44. Vgl. YouTube-Kanal rezo ja lol ey: „Die Zerstörung der CDU“; 16,7 Mio Aufrufe (Stand: Februar 2020). Tagesschau Online 2019. Im privaten Rundrunk gilt nach §26 Abs. 2 RStV eine feste Schranke für den jährlichen Zuschaueranteil von 30 Prozent. Wird diese Grenze überschritten, darf diesem Medienakteur für weitere Programme keine Zulassung erteilt werden, um eine vorherrschende Meinungsmacht zu verhindern (§26 Abs. 3 RStV). Vgl. Dörr 2019, S. 13ff.
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den. Hierhin sollen zukünftig auch Medienintermediäre begrifflich aufgenommen werden und diese neuen Regulierungen unterliegen. Die Pressegesetze der Bundesländer sehen lediglich die Einhaltung von journalistischen Sorgfaltspflichten für Presseerzeugnisse vor und verbieten Schleichwerbung. Die persönliche Kommentierung politischer Vorgänge von Redaktionen ist meist textlich erkennbar, obgleich eine rechtliche Trennungspflicht aus den Pressegesetzen hierzu nicht besteht. Ein Aufruf zum Wahlboykott bestimmter Parteien (wie Rezo dies z. B. im Fall der CDU vorgenommen hatte) ist somit grundsätzlich auch für publizistische Angebote erlaubt.26 Die praktisch umgesetzte parteipolitische Neutralität lässt sich viel eher aus der Selbstverpflichtung der Zeitungen im Deutschen Pressekodex entnehmen,27 wenngleich eine „grundlegende politische Ausrichtung“ auch bei überregionalen Tageszeitungen häufig erkennbar wird. In Ziffer 1, Richtlinie 1.2 des Deutschen Pressekodex wird zur politischen Wahlkampfberichterstattung lediglich darauf hingewiesen, dass auch selbst nicht geteilte politische Auffassungen zu einer wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit berichtet werden müssen.28 Damit lässt sich feststellen, dass die Presse nicht zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist und gleichzeitig keine Pflicht zur Gleichbehandlung von Parteien bei der Wahlwerbung gilt. Somit wäre auch ein Boykottaufruf einer Partei in einem persönlichen Kommentar in einer Zeitung rechtlich denkbar. Die praktisch vorzufindende Überparteilichkeit von Zeitungen ist somit ausschließlich auf die ethische Selbstverpflichtung im Pressekodex (Präambel sowie Ziffer 1.2) zurückzuführen und nicht auf gesetzliche Grundlagen. Deutlich strengere Regulierungen zur neutralen Berichterstattung finden sich im Rundfunkrecht. Diese lassen sich mit der Funktion des Fernsehens als Leitmedium in der Mediengesellschaft begründen, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung definiert.29 Der Gesetzgeber unterscheidet hierbei zwischen Regelungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und private Sender. Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkangebote haben sich nach § 11 Abs. 2 RStV an der „Objektivität und Überparteilichkeit der Berichterstattung, der Meinungsvielfalt sowie [der] Ausgewogenheit ihrer Angebote“ zu orientieren. Impliziert der Rundfunkstaatsvertrag hierbei zwar die grundsätzliche Objektivität, schließt er gleichzeitig jedoch nicht die Neutralitätspflicht für einzelne Sendungen ein, solange eine Ausgewogenheit aller Angebote gewährleistet werden kann.30 Nichtsdestotrotz ließe sich ein Aufruf zum Wahlboykott einzelner politischer Parteien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk offensichtlich mit § 11 Abs. 2 RStV nicht vereinbaren.31 Im Bereich des privaten Rundfunks gilt nach § 25 Abs. 1 RStV eben26 27 28 29 30 31
Vgl. Solmecke 2019. Vgl. Deutscher Presserat 2019, S. 2. Vgl. ebd. Vgl. u. a. BVerfGE 73, 118 (159). Vgl. Solmecke 2019. Das Verbot politischer Werbung nach § 7 Abs. 9 RStV bezieht sich ausdrücklich nicht auf „unentgeltliche Beitäge“ und stellt damit lediglich die Unabhängigkeit der Sender von politischen Parteien sicher. Ausgenommen hiervon ist die zulässige Wahlwerbung im Vorfeld von Bundestagswahlen nach § 42 RStV, die eine „angemessene Sendezeit“ vorschreibt.
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falls, dass die inhaltliche Meinungsvielfalt „im Wesentlichen“ zum Ausdruck zu bringen ist und Minderheitsauffassungen berücksichtigt werden müssen. Eine parteipolitische Neutralitätspflicht im Allgemeinen als solche ist hieraus jedoch nicht ableitbar.32 Nach § 54 RStV gilt die Sorgfaltspflicht auf „Inhalt, Herkunft und Wahrheit“ als journalistischer Grundsatz für alle journalistisch-redaktionellen Telemedien – unabhängig von deren Finanzierung. Die Regulierung von Medienintermediären fokussierte sich in den vergangenen Jahren zunehmend auf datenschutzrechtliche Regelungen (insb. DSGVO), die Bekämpfung von Hate-Speech und Fake-News (Netzwerkdurchsetzungsgesetz) sowie Urheberrechtsverstöße (EU-Richtlinie über das Urheberrecht (EU2019/790)). Im Medienkonzentrationsrecht wurden bislang keine spezifischen Regulierungen eingeführt, sind aber mit der Novellierung des RStV zu erwarten, der erstmals auch eine Legaldefinition für Medienintermediäre vorsehen soll (§ 2 Abs. 2 Nr. 16 EMStV). Hierbei schließt die Rundfunkkommission der Länder in ihrem Entwurf nur diejenigen Intermediäre ein, die qualitative sowie quantitative Kriterien zur Meinungsbildungsrelevanz erfüllen (§ 91 Abs. 2 E-MStV). Insbesondere sollen laut Entwurf Transparenzvorschriften (§ 93 E-MStV) und Vorgaben zur Diskriminierungsfreiheit (§ 94 E-MStV) enthalten sein. Damit nimmt der E-MStV auch die Empfehlungen der Bund-Länder-Konferenz zur Medienkonvergenz auf, die Vorgaben zur Diskriminierungsfreiheit fordert33 und hierdurch die Stärkung der Nutzerautonomie erwirken will. Dies sei insbesondere dann notwendig, wenn ein Intermediär sich hauptsächlich mit Werbeeinnahmen finanziert und eine homogene Zielgruppe anspricht. Hierdurch könne die Gefahr bestehen, dass eine einseitige Anzeige politischer Inhalte hauptsächlich aufgrund eines daraus entstehenden ökonomischen Erfolgs des Intermediärs erfolge.34 Betrachtet man die öffentliche Wahrnehmung zur Regulierung von Influencern, ließe sich glauben, diese seien im Unterschied zu anderen Akteuren von medienrechtlichen Regulierungen kaum betroffen, könnten aufgrund der Reichweite ihrer Kanäle aber durchaus Agenda Setting und Framing betreiben.35 Tatsächlich sind die Regelungen des RStV aber u. U. auch auf Online-Angebote nicht-publizistischer Akteure wie Influencer anwendbar, wenn man diese als „Rundfunksender“ begreift. Juristisch streitbar ist hierbei aktuell die Definition des „Rundfunksenders“, die auch in der Novellierung des RStV neu vorgenommen werden soll.36 So könnten nach dem Entwurf des MStV Sendungen zulassungspflichtig werden, so32 33 34 35
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§ 25 Abs. 2 RStV weist lediglich darauf hin, dass „ein einzelnes Programm die Bildung der öffentlichen Meinung nicht ‚in hohem Maße‘ ungleich“ beeinflussen darf. Vgl. Bericht der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz 2016, S. 37. Vgl. Liesem 2019, S. 687. In der 2019 veröffentlichten Befragung von Statista und YouGoV stimmen in allen befragten Altersklassen (18–24, 25–34, 35–44, 45–54 und 55 und älter) stets mehr als 58 Prozent der Aussage zu, dass „Influencer, einen zu großen Einfluss haben“ (vgl. Statista 2019). Vgl. auch Hasebrink 2016. In ihrer Stellungnahme zum Diskussionsentwurf greifen die Medienanstalten die Diskussion auf, dass auch „Laienjournalismus“ meinungsbildungsrelevant sein könne und ziehen hieraus den Schluss, dass sobald eine Meinungsbildungsrelevanz bestehe, eine Einordnung unter den Rundfunkbegriff vorläge. Vgl. Die Medienanstalten 2019, S. 4.
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fern die nicht näher definierte Schwelle zur „geringen Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung“ übertroffen ist. Regelmäßig lässt sich nach § 54 Nr. 2 E-MStV wohl davon ausgehen, dass diese Schwelle bei durchschnittlich 20.000 gleichzeitigen Nutzern über die vergangenen sechs Monate liege.37 Dabei beantwortet der MStV jedoch nicht die Frage, wie eine „geringe Bedeutung für die Meinungsbildung“ sich definieren ließe. Influencer, die hierüber lägen, müssten per Zulassungsantrag an die zuständige Landesmedienanstalt eine Lizenz beantragen, um auf Medienkanälen weiter „senden“ zu dürfen,38 wobei eine durchschnittliche, gleichzeitige Nutzerzahl wohl regelmäßig nur bei den reichweitenstärksten YouTube-Kanälen übertroffen werden wird. Anzumerken ist, dass die Sinnhaftigkeit einer festen quantitativen Grenze bereits kritisch betrachtet wurde.39 Begreift man YouTube-Videos zudem als „fernsehähnliche Medien“ i.S.d. § 58 Abs. 3 RStV, findet hier ebenfalls das Verbot politischer Werbung nach § 7 Abs. 9 RStV Anwendung. Insoweit wäre auch zu argumentieren, dass Influencer, die eine Lizenz erhalten haben, ebenfalls von den Sorgfaltspflichten nach § 54 RStV betroffen wären. Ein grundsätzliches Gebot parteipolitischer Neutralität für Influencer hingegen ließe sich mit der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG nicht vereinbaren.40 Juristisch zu klären ist, ob und inwieweit Influencer bzw. deren Kanäle als „rundfunkähnliche Medien“ gelten können und dies zur Anwendung des RStV führen kann. 3 DIE BETEILIGUNG VON INFLUENCERN AM POLITISCHEN DISKURS Schon die begriffliche Abstammung eines „Influencers“ von dem englischen Begriff „to influence = beeinflussen“ impliziert eine mögliche Auswirkung einer Äußerung auf das Umfeld. Eine quantitative Grenze der Followerzahl zur Bestimmung einer Multiplikatoreigenschaft, die ausreicht, um als Influencer zu gelten, ist dabei aufgrund von unterschiedlichen genutzten Netzwerken nicht allgemein ziehbar. Dies begründet sich vor allem in der unterschiedlichen Community-Größe in bestimmten Trendthemen, die ein Influencer bedient. Insbesondere bei der Spezialisierung auf Nischenthemen (und -produkte) können bereits vergleichsweise geringe Followerzahlen zum Status eines (Mikro-)Influencers führen, da eine hohe Themenkompetenz und Authentizität für die Werbeindustrie trotz geringer Reichweite interessant sein kann.41 Bei der Betrachtung von Influencern und ihrem Beteiligungsverhältnis an politischen Diskussionen sind in der konkreten Umsetzung grundlegend zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Beteiligung zu berücksichtigen: Einerseits die Vertretung persönlicher Meinungen über soziale Medien, die aufgrund der Popularität und Authentizität dazu geeignet sein kann, andere Meinungen zu beeinflussen, und 37 38 39 40 41
Vgl. Kleinz 2019. Vgl. Frank 2019. Vgl. Kleinz 2019 und Stellungnahme der Medienanstalten 2019, S. 2f. Vgl. Solmecke 2019. Vgl. Verbraucherzentrale NRW e. V. 2019.
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andererseits die ökonomische Umwandlung der eigenen Reichweite im Rahmen von Marketing-Kampagnen, in der statt Produkte politische Inhalte beworben werden (z. B. in Kooperation mit Bundesbehörden42). So lässt sich der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke entnehmen, dass von Bundesministerien und -behörden zwischen 2014 und 2017 knapp 300.000 Euro für Influencer-Kampagnen ausgegeben wurden.43 Solange die Influencer für die Werbung bezahlt werden (oder eine sonstige Gegenleistung erhalten), unterliegen diese rechtlich der Werbekennzeichnungspflicht nach § 58 Abs. 1 S. 1 RStV sowie § 6 Abs. 1 Satz 1 TMG (Foto bzw. Text) bzw. §§ 7 und 8 RStV.44 Bei der Beteiligung von Influencern am politischen Diskurs beobachtet Duckwitz45 aktuell mehrere Tendenzen, die für die Debatte der (möglichen) Notwendigkeit einer Regulierung berücksichtigt werden sollten: - Grundsätzlich ist die Zahl von Influencern, die sich am politischen Diskurs beteiligen, im Verhältnis zu deren Gesamtzahl eher gering. - Trotz der bislang noch geringen Zahl an Influencern, die sich am politischen Diskurs beteiligen, führt alleine die Professionalisierung der politischen Kommunikation im Social Media-Bereich zu einer steigenden Anzahl an Kooperationen von politischen Akteuren mit Influencern.46 - Influencer nutzen politische Inhalte oft zeit- bzw. anlass- und trendbasiert. Dabei meint zeit- bzw. anlassbasiert die Äußerung von politischen Inhalten in Anlehnung an politische Ereignisse, wie. z. B. eine Wahl (Rezo), während Influencer auch häufig trendbasiert (Klimaschutz: „Fridays for Future“) politische Themen aufgreifen und sich in einer gesellschaftlichen Debatte bewusst positionieren. Zunächst lässt sich durch die sozialen Medien eine neue Dynamik im politischen Diskurs wahrnehmen, der politische Akteure zu neuen Kommunikationsformen drängt. Dies zeigt sich in gemeinsamen Kampagnen zu Wahlen, bei denen Influencer auch dazu genutzt werden, um die junge Zielgruppe zu erreichen. Dabei werden insbesondere allgemeine Aufrufe zur Wahlteilnahme (z. B. divimove – Kampagne zur Europawahl 2019) als auch politische Interviews geführt (z. B. LeFloid mit Bundeskanzlerin Angela Merkel). Andererseits stellt die Teilnahme von Influencern politische Parteien in ihrer Kommunikation auch vor neue Herausforderungen, die eine schnelle und umfassende Reaktion erforderlich machen kann. Hieraus begründet sich allerdings keinesfalls eine Regulierungsnotwendigkeit für Influencer. Diese ließe sich alleine mit einer vielfaltsgefährdenden „Meinungsmacht“ vertreten, die insbesondere bei der jüngeren Zielgruppe auftritt und aufgrund fehlender Persönlichkeitsentwicklung stärkere Beeinflussung ermöglichen. Hierbei fehlt es aktuell 42 43 44 45 46
So hat bspw. der YouTuber Felix von der Laden eine gemeinsame Kampagne mit der Bundespolizei durchgeführt, in der er den Beruf bewirbt (Kampagne „Komm zur Polizei“, Online: https://www.youtube.com/watch?SB2DsvqtqM4). Vgl. Bundestagsdrucksache 19/2046 und Bundestagsdrucksache 19/2714. Unter Umständen kann die Kennzeichnungspflicht sogar gelten, wenn Influencer keine Gegenleistung erhalten. Vgl. Duckwitz 2019, S. 4f. Vgl. Borucki et al. 2013, S. 362ff.
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an der wissenschaftlichen Grundlage, die – analog zur Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) im privaten Rundfunk – eine Bewertung für die Meinungsbildungsrelevanz von Influencern zuließe. Insbesondere ist dabei die objektive Messung von Meinungsmacht im Internet problematisch. Zur Vielfaltssicherung im Internet ist daher zunächst auf eine Regulierung der Medienintermediäre abzuzielen, durch welche auch eine indirekte Auswirkung auf nicht-publizistische Angebote zu erwarten ist. So wird durch die Transparenzpflicht nach § 93 E-MStV für Medienintermediäre verpflichtend vorgeschrieben, dass die Aggregations-, Selektions- und Präsentationskriterien, die zur Anzeige bestimmter Inhalte führen, transparent gemacht werden müssen. Dies inkludiert sowohl die Gewichtung der Kriterien als auch die „Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen in verständlicher Sprache“. Zudem müssen die Zugangskriterien eines Inhalts zum Medienintermediär ebenfalls transparent sein. Für soziale Netzwerke soll eine zusätzliche Kennzeichnungspflicht für Telemedien (§ 93 Abs. 4 E-MStV) gelten. Damit wird den Rezipienten ermöglicht, Informationen, Werbung und Meinung einfacher auseinanderzuhalten und die automatisierte Beitragsselektion nachvollziehbar(er). Inwieweit sich hieraus in der Praxis eine Anpassung von persönlichen Newsfeeds ergibt, bleibt abzuwarten. 4 SICHERSTELLUNG DER MEINUNGSVIELFALT DURCH SÄMTLICHE MEDIENAKTEURE Zur Sicherstellung des Meinungspluralismus in sozialen Medien lassen sich unterschiedliche Ansätze verfolgen, die sich auf alle drei Akteure (publizistische Angebote, Intermediäre und nicht-publizistische Angebote) verteilen. Im Bereich klassischer Medienangebote ist die gesetzliche Regulierung längst ausgestaltet und bedarf keiner weitergehenden Änderung. Vielmehr ist durch die Medienkonvergenz ein Spannungsverhältnis entstanden, in dem sich klassischer Journalismus zunehmend mit dem neuen, dynamischen Mediennutzungsverhalten auseinandersetzen muss, um insbesondere in jüngeren Generationen meinungsrelevant zu bleiben. Dabei gilt es vornehmlich, die inhaltliche Qualität trotz der in den sozialen Medien notwendigen inhaltlichen Reduktion sicherzustellen und innovative Angebote in sozialen Medien zu kreieren. Hierzu müssen bereits vorhandene Angebote wie z. B. „funk“ weiter ausgebaut werden und gleichzeitig neue Formate entwickelt werden. Es ist zu erwarten, dass sich die Änderungen durch den MStV insoweit auf die Meinungsbildung in sozialen Medien auswirken, als dass Diskriminierungsfreiheit und Transparenz verbessert werden können. Ob hiernach noch eine Notwendigkeit weiterer Regulierung besteht, um Meinungspluralismus sicherzustellen, ist nach Einführung des MStV evidenzbasiert zu prüfen. Hierzu existieren in der wissenschaftlichen Debatte bereits weitere Vorschläge zur Stärkung der positiven Rundfunkordnung und zur Sicherung der Medienvielfalt im Internet. So existieren Vorschläge zur Übertragung des (analogen) dualen Mediensystems auf nutzerstarke Medienintermediäre anhand eines Zwei-Säulen-Modells, das durch den öffentlich-
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rechtlichen Rundfunk in sozialen Netzwerken implementiert werden soll.47 Dies würde zu einem zweigleisigen Inhaltsangebot führen, dass einerseits weiterhin die algorithmische Sortierung des Medienintermediärs anzeigt, diese jedoch andererseits dazu verpflichtet, auch objektiv geprüfte Inhalte auszuspielen (z. B. öffentlichrechtliche Inhalte). Ein solches System ließe sich technisch jedoch nur mit einer verpflichtenden Schnittstelle umsetzen, über die ein Zugriff durch bspw. öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten möglich wäre, die unabhängige, staatsferne Inhalte einspielen könnten.48 Zur abschließenden Bewertung, ob Influencer (bzw. allgemein „nicht-publizistische Angebote“) neuen Regulierungen unterliegen sollten, fehlt aktuell die wissenschaftliche Grundlage. Daher ist zunächst eine intensive Auseinandersetzung im wissenschaftlichen Diskurs zu führen, um evidenzbasiert über eine Regulierungsnotwendigkeit zu entscheiden. Dabei stehen folgende offene Fragen zur Klärung: 1. Welche Meinungsmacht haben Influencer auf einzelnen Plattformen bzw. in sozialen Netzwerken? 2. Wie kann diese Meinungsmacht von Influencern objektiv messbar gemacht werden? 3. Lässt sich Meinungsvielfalt in sozialen Netzwerken überhaupt an starren Grenzen (wie für den Rundfunk im RStV) messen? 4. Inwiefern müsste eine solche Messbarkeit netzwerkübergreifend vorgenommen werden? 5. Welche Kriterien oder (Follower-)Grenzen müssen Influencer erfüllen, um medienkonzentrationsrechtlichen Regulierungen überhaupt zu unterliegen? 6. Wo verläuft die Grenze zwischen Influencer und Privatperson und ist diese Grenze überhaupt quantifizierbar? Für nicht-publizistische Angebote bzw. Influencer ist auch juristisch zu klären, ob dieser als ein „rundfunkähnliches Medium“ bzw. „Rundfunksender“ gilt und somit die Sorgfaltspflichten aus dem RStV (bzw. MStV) anwendbar sind. Dennoch können auch Influencer selbst, unabhängig von der Anwendbarkeit von medienkonzentrationsrechtlichen Vorschriften, zur Sicherung der Medienvielfalt beitragen. Begreift man die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Influencer als Grundlage deren ökonomischen Erfolges lässt sich hieraus ein Eigeninteresse an klarer Kennzeichnung, Transparenz und Sorgfalt bei laienjournalistischen Recherchearbeiten ableiten, die für die Rezipienten eine einfachere Unterscheidung zwischen Meinung, Werbung und Information ermöglicht. Hierzu ließe sich durch die Implementierung einer freiwilligen Selbstverpflichtung in Anlehnung an den Pressekodex des Deutschen Presserates für journalistische Angebote sicherstellen, dass zumindest rudimentäre journalistische Grundsätze bei der Verbreitung von Inhalten eingehalten und verwendete Quellen angegeben werden.49 Eine mögliche neue Regulierung nicht-publizistischer Akteure sollte nicht vor einer umfassenden Bewertung der 47 48 49
Vgl. Schwartmann 2019, S. 4. Vgl. Keber 2019. Eine solche Quellenarbeit inkl. deren Veröffentlichung nahm Rezo für sein Video „Die Zerstörung der CDU“ vor, wenngleich die Qualität der verwendeten Quellen anschließend für eine Diskussion sorgte.
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KLEBRIGE FALSCHHEIT Desinformation als nihilistischer Kitsch der Digitalität Oliver Zöllner
Die Beiträge des vorliegenden Buches machen es deutlich: Im Kontext einer sich weiter digitalisierenden Gesellschaft, also im Kontext des fortschreitenden Einsatzes von computerbasierten Informationstechnologien in fast allen Lebenslagen, scheint das demokratische, zivilisierte Miteinander etwas aus den Fugen geraten. Hier soll nun keineswegs irgendeine Vergangenheit verklärt oder romantisiert werden: Die historische Erfahrung verweist auf vielerlei Schrecklichkeiten wie etwa Diktaturen, die zudem längst noch nicht überall beseitigt oder aufgearbeitet sind oder derzeit sogar erstarken. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass die so zivilisiert und aufgeklärt geglaubte Welt des industrialisierten Nordens, die im Folgenden im Fokus steht, zunehmend erhebliche Probleme hat, sich in angemessener Weise über sich selbst, ihre Ziele und ihre Fakten zu verständigen. Diese gesellschaftlichen Probleme äußern sich besonders deutlich in den Funktionssystemen Journalismus und Politik. Sie betreffen medialisierte Öffentlichkeiten wie auch die in ihnen stattfindende öffentliche Kommunikation und kulminieren teilweise in Bedrohungen für die demokratische Regierungsform insgesamt. Altbekannte Phänomene wie Desinformation, Propaganda und Verschwörungstheorien bzw. -erzählungen finden zu neuer Prominenz im Mainstream des Medienystems, manchmal mit trendigen Buzzword-Etiketten versehen wie „Fake News“, „Postfaktizität“ oder „alternative Fakten“. Im Kontext der globalisierten Digitalität kehren sie mit aller Macht wieder, indem sie sich dank hochskalierter, massiver Distribution via Social Media mit hoher Geschwindigkeit in quasi jeden Winkel des öffentlichen Diskursraumes vorarbeiten – oftmals schneller als echte Nachrichten.1 So droht nun dieser Beitrag am Umfang seines Objekts zu ersticken, denn so weit verbreitet, alltäglich und „normal“ sind Desinformation, Lüge und falsche Nachrichten geworden, dass einem schummrig werden kann. „Die Zeit ist aus den Fugen, o verfluchte Schicksalstücken“, ließ Shakespeare seine tragische Figur Hamlet um 1600 exklamieren, „daß jemals ich geboren ward, um sie zurechtzurücken!“.2 Letzteres will dieser Beitrag in aller Bescheidenheit zumindest insoweit versuchen, als er die Grundlagen der gegenwärtigen Krise der Wahrheit aus kommunikationssoziologischer und philosophischer Perspektive einordnen möchte. 1 2
Vgl. Lazer et al. 2018; Nocun/Lamberty 2020; Thussu 2019, S. 238–244. Im Original: „The time is out of joint, O cursed spite / That ever I was born to set it right!“ Hamlet, Akt 1, Szene 5, Zeile 188f. Zur Genese und Interpretation des Stücks vgl. statt vieler Klein 1984, S. 14.
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Er wird hierzu etwas weiter ausholen und einige disparate Phänomene und aktuelle Schlagschatten gesellschaftlicher Entwicklungen miteinander verknüpfen. Den Anfang machen Verschwörungstheorien, die oft eine (verzerrte) Grundlage für Themen öffentlicher Kommunikation sind. Die Erzählungen, die so entstehen, sind epistemisch beschädigt, wie nachfolgend argumentiert werden soll. Die beschleunigte Evolution des Mediensystems im Zuge der Digitalisierung hat den Trend zu einer Akzeptanz des Nicht-Wahren allerdings begünstigt, was konzeptionell dargelegt wird. Die eben angeführte Figur des Prinzen Hamlet ist in diesem Kontext durchaus passend, denn im Kern geht es in Shakespeares Drama darum, dass in der Welt die Dinge nicht geschildert werden, „‚wie sie gewesen sind‘, sondern wie sie gewesen sein könnten – und vor allem wie sie sein sollten“3. Hauptthemen sind also die ins Wanken geratenen Wahrheitskonzepte und die normativen Konsequenzen dieses Disruptionsprozesses. „Wahrheit“ sei dabei (höchst unterkomplex) verstanden als die Vorstellung einer auf Faktizität und Erfahrbarkeit begründeten und gemeinschaftlich nach Regeln vereinbarten Weltsicht.4 „Disruption“ kann als der Prozess fortlaufender Störung mit dem Endziel der Zerstörung eines Zustands begriffen werden, aus der Neues entspringt.5 Der Beitrag argumentiert, dass die Aufplusterung des Nicht-Wahren – seine Multiplizierung und Überhöhung in der Digitalität – als systemisches Problem der Gegenwart zu identifizieren ist. Wahrheit wird zunehmend disrumpiert. Es sei vorab die These formuliert, dass Desinformation, Lüge und „Fake News“ Ausdruck einer nihilistischen Haltung in der Gesellschaft sind, einer Liebe zum „Bullshit“, und dass diese Freude am Falschen eine Form des Kitsches ist: der süßlichen, klebrigen Überhöhung der Form, die ihren Inhalt zerstören kann – in unserem Fall: die Wahrheit an sich in Frage stellt und etwas Neues wie eine nicht-wahre „Nachwahrheit“ gebiert. Der Beitrag sucht abschließend nach Lösungsansätzen, wie mit diesen neuen Zuständen medialer ‚Wissensproduktion‘ umzugehen sein könnte. Die folgenden Ausführungen folgen einer essayistischen Herangehensweise; sie ergeben aber hoffentlich nicht bloß ein eklektisches Wimmelbild. „The aim of philosophy, abstractly formulated, is to understand how things in the broadest possible sense of the term hang together in the broadest possible sense of the term.“6 Dies sei nachfolgend versucht. 1 VERSCHWÖRUNGEN ZUR NICHT-WAHRHEIT 1.1 Absagen an die Zumutungen der Moderne Worüber reden wir genau? Erlauben Sie mir, mit einer Anekdote zu beginnen, die das Thema ausleuchten mag. Ich saß des Sommers mit Freunden auf einer Terrasse im Oberfränkischen. Am blauen Himmel zeichneten sich Kondensstreifen nach fast 3 4 5 6
Klein 1984, S. 23. Vgl. einführend Puntel 1976; Glanzberg 2018. Vgl. zu technologischer Disruption Taplin 2017, S. 19ff. Sellars 1963, S. 1.
Klebrige Falschheit
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allen Richtungen ab, denn der Ort liegt unter dem Schnittpunkt von Flugverkehrsstrecken. „Schaut mal: Chemtrails!“, rief ein Freund und zwinkerte ironisch. Alle lachten. Doch gibt man den Begriff „Chemtrail“ in eine Suchmaschine ein, findet man Tausende von Stories, Memes, Videos und Webseiten, die sich mit dieser Verschwörungstheorie befassen. Manche Plattformen behandeln sie auf der Metaebene, um „Chemtrails“ als Unfug zu entlarven, doch viele Quellen stellen sie als real dar: als würden westliche Regierungen tatsächlich Chemikalien von Flugzeugen aus am Himmel versprühen lassen, die dann abregnen und die solchermaßen kontaminierten Bevölkerungen in willfährige Diener düsterer Machenschaften ebenjener Politiker verwandeln7 oder – in anderer Variante – gar vergiften und töten, um eine „Umvolkung“ der Bevölkerung zu ermöglichen, also deren Ersatz gegen eine andere Bevölkerungsgruppe. Die originäre Verschwörungstheorie der „Chemtrails“ – ein Klassiker seit den 1990er-Jahren – wird hier in ihrer Komplexität erweitert um das ergänzende Narrativ der „White Replacement Theory“, einer vorgeblichen Verschwörung von westlichen Regierungen, ihre Kernbevölkerung (und -wählerschaft) auszulöschen.8 Belege hierfür gibt es selbstverständlich keine (und die Vorstellungen widersprechen jeder Logik), aber es ist gerade das Fehlen solcher Belege, das von Verschwörungstheoretikern als ‚Beweis‘ für das Vorhandensein von derartigen ‚Verschwörungen‘ gesehen wird.9 Hier spielen oftmals auch negative Haltungen mancher Rezipienten den Medien gegenüber eine Rolle, die wesentliche ‚wahre‘ Inhalte angeblich unterdrücken,10 weswegen die Verfechter einer solchen Sichtweise ‚die Medien‘ gerne pauschal als „Lügenpresse“ brandmarken.11 Die Durchsetzungskraft derartiger Narrative ist keineswegs auf den Raum (teil-)gesellschaftlicher Diskurse beschränkt, sondern springt mit einer gewissen Enthemmung längst über in das gesellschaftliche Subsystem organisierter Politik (Aktivismus und Parteien) und teils in aggressionsorientierte Handlungsfelder bis hin zu Attentaten und Terrorismus. Es sind durchaus auch Verschwörungstheorien und auf sie aufbauende Desinformation und Propaganda, die manche Anhänger radikalisieren und zu Gewalttaten anstiften bzw. zu deren Legitimierung herangezogen werden.12 Die Liste solcher ‚motivierender‘ Narrative ist lang, findet sich in Büchern, Filmen, Pamphleten, auf Websites und in sozialen Online-Netzwerken.13 Sie umfasst als klassische Verschwörungstheorie bspw. den antisemitischen und rassistischen Kerntext „Die Protokolle der Weisen von Zion“ aus dem frühen 20. Jahrhundert über einen angeblichen Komplott zur Übernahme der Weltherrschaft durch Juden,14 der nicht erst im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 7 8 9 10 11 12 13 14
Näher hierzu Bridle 2018, S. 193ff.; Butter 2018, S. 168. Näher hierzu Ebner 2019, S. 173ff.; Quent 2019; Schwartzburg 2019. Vgl. grundlegend zu Narrativen im Kontext von Populismus Müller 2019. Vgl. Rees/Lamberty 2019, S. 205; Nocun/Lamberty 2020, S. 16ff. Vgl. Fawzi/Obermaier 2019. Vgl. Gadinger 2019; Lilienthal/Neverla 2017. Vgl. Ebner 2019; Mascolo/Richter 2016; Quent 2019, S. 211ff.; Schwartzburg 2019. Vgl. Keeley 1999; Precht 2019 sowie in historischer Perspektive Posetti/Matthews 2018. Vgl. Blume 2019; Butter 2018, S. 164ff., Jaecker 2004, S. 45ff.
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immer wieder erneut bemüht wird, oder den Glauben an eine Inszenierung der „9/11“-Terroranschläge wahlweise durch amerikanische Geheimdienste oder einen vorgeblichen jüdischen Komplott oder beides.15 Eher als ein bloßes Verschwörungsgerücht (und weniger als elaborierte Verschwörungstheorie)16 ist die teils rassistisch, teils politisch motivierte Mär zu werten, Barack Obama sei nicht in den USA geboren und von daher kein rechtmäßiger Präsident gewesen – eine falsche Behauptung (und zugleich die Grundlage für das „Birther Movement“ in den USA), der allerdings nicht zuletzt auch Donald Trump in seinem Wahlkampf 2016 und darüber hinaus in seiner Amtszeit immer wieder Auftrieb gab.17 Systematisch falsche Behauptungen sind also längst an den höchsten Stellen demokratisch legitimierter Macht angekommen. Eine in historischer Perspektive erstaunlich persistente Fehleinschätzung ist der im Netz beobachtbare und stark regressive Glaubensgrundsatz, dass die Welt eine Scheibe sei und gegenläufige Erkenntnisse über die Kugelform der Welt ergo nichts als Lüge („Flat Earth Theory“).18 Diese antiquierte Vorstellung hält sich teilweise als religiös-fundamentalistische Weltsicht, enthält aber auch Elemente einer Verschwörungstheorie, indem sie als Abwehr einer empfundenen Übermacht des rational-technizistisch-wissenschaftlichen Weltbildes interpretiert werden kann, das die Wissensinstitutionen der aufgeklärten Moderne den Menschen vorgeblich aufdrängen wollen. Das Phänomen der radikalen Impfgegner ist hier ebenso einzuordnen, enthält aber – wie andere skeptizistische Dispositionen auch – das Motiv des Versuchs einer Durchsetzung sehr individualistischer Lebensentwürfe, wie ihn die pluralistische „zweite Moderne“19 überhaupt erst möglich macht. Auch als Protest gegen eine vorgebliche Dominanz von ‚Eliten‘20 bzw. gegen Statusverlust- und Deklassierungsängste in der „kosmopolitisierten Moderne“21 sind etliche der angeführten Erzählungen lesbar.22 Andere drücken Ohnmachtsgefühle gegenüber der abstrakt-bürokratisch organisierten modernen Verwaltung aus (‚Deep state‘), verbinden diffuse Ängste vor der Globalisierung mit Rassismus und der klassischen Furcht vor ansteckenden Krankheiten (‚Coronavirus-Verschwörung‘23) oder verzerren durchaus reale ökologische Bedrohungen der Gegenwart ins Absurde (Chemtrails-Narrativ u. a.). Es spiegelt sich in verschwörungstheoretisch motivierten Erzählungen demnach eine Überforderung angesichts der Zumutungen der Gegenwart wider. Systemtheoretisch formuliert ermöglichen solche Narrative eine Reduktion von Komplexität. „Surrounded by evidence of complexity [...] the individual, however outraged, resorts to ever more simplistic narratives in order to regain some control over 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Bridle 2018, S. 204ff.; Jaecker 2004. Zu Typologien vgl. Butter 2018, S. 29ff.; Coady 2006; Hellinger 2019, S. 21ff.; Rees/Lamberty 2019, S. 204ff.; Sunstein/Vermeule 2009. Bridle 2018, S. 206; Hellinger 2019, S. 26f. Vgl. Sample 2019. Zuboff 2019, S. 35–37. Vgl. Müller 2019, S. 9. Beck 2016, S. 66. Vgl. Koppetsch 2019, S. 123ff. Vgl. Brennen et al. 2020; Wong 2020.
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the situation.“24 Als Geschichten landen Narrative dieser Art in vielfach variierter Form immer wieder in den Weiten des Internets (bzw. den algorithmisch basierten Adressierungssystemen von Suchmaschinen25) und in parajournalistischen Publikationen, die sie als „Nachrichten“ anbieten.26 Forschungsergebnisse legen nahe, dass besonders Menschen mit politischen Einstellungen rechts der Mitte anfällig dafür sind, solchen „Pseudo-Journalismus“27 für wahr zu halten.28 Verschwörungstheorien sind eine wesentliche (wenn auch nicht die alleinige) Quelle für das, was wir in einem größeren gesellschaftlichen Diskussionszusammenhang im Zuge der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und des Referendums über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union seit etwa 2016 „Fake News“ nennen. Falsche, gefälschte bzw. auf Falschheit aufbauende Nachrichten, von denen im Zuge dieser beiden Kampagnen etliche zu beobachten waren29, „sind keine Erfindung des Internetzeitalters“30. Aber niemals zuvor war es technisch so einfach, falsche Nachrichten breit (in sehr vielen Publikationsorganen) und tief (in vernetzten Communities verankert) auszusenden. Das folgende illustrative Beispiel ist eine weitgehend erfundene Nachricht, die auf diversen verschwörungstheoretischen Ansätzen der „White Replacement Theory“ aufbaut, also der geschürten Angst vor einem „Bevölkerungsaustausch“ und ganz allgemein vor „Überfremdung“ oder nüchterner gesprochen: vor neuen Migrationsund Populationsmustern, die fremdenfeindlich umgedeutet werden.31 1.2 Breitbart News oder: Wer sind die Brandstifter? Es handelt sich bei unserem Beispiel um eine Story aus Deutschland, verbreitet von der extrem rechtspopulistischen US-Website Breitbart News am 3. Januar 2017. Unter der Schlagzeile „Revealed: 1,000-Man Mob Attack Police, Set Germany’s Oldest Church Alight on New Year’s Eve“ schreibt die Autorin Virginia Hale, eine mehr als tausend Personen umfassende Meute muslimischer Männer habe in der Silvesternacht in Dortmund Deutschlands älteste Kirche mit Feuerwerkskörpern in Brand gesteckt, dabei „Allahu akhbar“ (Gott ist groß) gerufen und Polizisten angegriffen.32 Die Story wurde rasch weltweit verbreitet, vor allem über Social Media, und fand sogar Niederschlag in einigen seriösen Nachrichtenorganen. Das Dortmunder Polizeipräsidium stellte daraufhin in den Folgetagen klar, dass es keinen derartigen Vorfall gab, sondern spricht in einer amtlichen Mitteilung von „ein[em] eher durchschnittliche[n] bis ruhige[n] Verlauf“ der Feiernacht. „Heraus24 25 26 27 28 29 30 31 32
Bridle 2018, S. 205. Vgl. Zweig 2019, S. 249f. Vgl. auch Tilley 2019. Bader et al. 2020. Vgl. Arendt et al. 2019. Vgl. Ball 2017, S. 43ff.; O’Toole 2018. Neef 2019, S. 106. Näher hierzu Bader et al. 2020, S. 49ff. Hale 2017. Zu einer ethischen Einordnung des Artikels vgl. näher Zöllner 2018, S. 98ff.
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ragende oder spektakuläre Silvestersachverhalte wurden bis zum heutigen Tage nicht gemeldet.“ Es sei, so die nüchterne Polizeisprache, im „Rahmen einer Menschenansammlung von rund 1000 Personen am Platz von Leeds“ lediglich „zum Teil zu unsachgemäßem Einsatz von Silvesterfeuerwerk“ gekommen.33 Tatsächlich hat ein außer Kontrolle geratener Feuerwerkskörper ein Baustellen-Schutznetz an der innerstädtischen Reinoldikirche angesengt – mit geringem Sachschaden. Es gab keine muslimische Meute und die besagte Kirche ist beileibe nicht das älteste Gotteshaus Deutschlands. Breitbart News ergänzte die ursprüngliche Geschichte einige Tage später um ein verkürzt wiedergegebenes Statement der Polizei, es sei eine ruhige Nacht gewesen, stand aber ansonsten vehement zu seiner Geschichte. Korrigiert wurde in einem beigefügten Nachsatz nur, dass tatsächlich der Trierer Dom als Deutschlands älteste Kirche gilt.34 Unschwer ist die Breitbart News-Story, die von anderen Plattformen aufgegriffen und von vielen Leserinnen und Lesern durch Liken und Sharen weiter im Netz verbreitet wurde, als in wesentlichen Teilen übertriebene und erfundene Geschichte zu identifizieren, die diverse Narrative verwendet, die sich auch in Verschwörungstheorien finden lassen (das undifferenzierte Postulat einer „islamischen Bedrohung“, kulminierend in einem vorgeblichen Komplott zur Destabilisierung und Zerstörung Deutschlands und Vorbereitungen für einen „Bevölkerungsaustausch“ usw.). Die zitierte Story kommt allerdings formal in einem journalistischen Duktus daher, ist durchaus professionell formuliert und soll durch ihre Platzierung auf einem Internet-„News“-Portal als „Nachricht“ rezipiert werden. Sie ist dennoch unschwer als Fake News zu identifizieren, als Pseudo-Nachricht, als irreführende Desinformation und größtenteils als Lüge.35 Oder einigen wir uns vorläufig auf eine alternative Begrifflichkeit, die auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner aller Definitionsansätze von Fake News zurückgeht: Diese Story ist jenseits der Wahrheit. Oder noch anders formuliert: Die exemplarische Geschichte aus Dortmund enthält nur einen winzig kleinen wahren Kern (es gab feiernde Männer in der Silvesternacht in Dortmund und eine unsachgemäß gezündete Feuerwerksrakete hat ein Baustellen-Schutznetz angesengt), wurde aber im medialen Resonanzraum zu etwas weitaus Größerem aufgeblasen. Auf der inhaltlichen Ebene wird dabei nicht nur ihre Positionierung jenseits der Wahrheit deutlich (die Story ist im Kern unwahr, denn sie wurde von der örtlichen Polizei klar widerlegt), sondern auf der historisch-temporären Ebene auch ihre aggressive Positionierung nach der Wahrheit: Es gebe – so lautet auf Seiten des Publikationsorgans die Grundhaltung hinter der Story – keine einzige Wahrheit mehr, von daher sei in der Gegenwart einer aufgegebenen Verpflichtung zur Objektivität im Prinzip alles möglich und alles egal. Entsprechend blieb Breitbart News im Kern bei der ursprünglichen Version der Story. Die Geschichte von der angeblich von Muslimen angeblich in Brand gesetzten angeblich ältesten Kirche Deutschlands beansprucht also, trotz der faktischen Wi33 34 35
Polizei NRW Dortmund 2017a; erneut verbreitet via Polizei NRW Dortmund 2017b. Vgl. Hale 2017. Zur Frage der Begrifflichkeiten vgl. Ball 2017, S. 3ff.; Jaster/Lanius 2019, S. 26ff.; Neef 2019, S. 107ff.; Schicha 2019, S. 89ff.
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derlegung aller wesentlichen Storyelemente eine „Nachricht“ zu sein. Sie beansprucht möglicherweise überdies, gerade wegen ihrer faktischen Widerlegung eine „Nachricht“ zu sein, denn die faktische Widerlegung erfolgte durch eine Instanz, der Breitbart News und artverwandte Publikationen die Legitimität absprechen, die Wahrheit zu definieren: den staatlichen Organen, hier: der örtlichen Polizeibehörde. In der Ära der „post-truth“ kann man in dieser Denkart alles schreiben und publizieren; die technischen Möglichkeiten hierzu sind in digitaler Form fast jedermann zugänglich und leicht zu bedienen; entsprechend kann jedermann eine eigene Wahrheit und eine eigene Weltsicht erschaffen – und entsprechende Geschichten in die Welt setzen. Auch die Begrifflichkeiten verschwimmen. Fehlinformation, Falschinformation, Gerücht und Propaganda sind nicht dasselbe, führen im Internetzeitalter aber auf eine gemeinsame Frage zurück: Was ist noch eine „Nachricht“, was ist die „Wahrheit“, wer definiert sie? War das Fundament der klassischen Idee der Aufklärung ohnehin schon selten gesichert, ist es in der jüngeren Gegenwart mit der Vermehrung der Menge an verfügbarer Information nochmals in eine Schieflage geraten: „More information produces not more clarity, but more confusion.“36 In einer Art Makroperspektive (unter Inkaufnahme von Unschärfen und gewissen Eklektizismen im sich abzeichnenden Gesamtbild) ist vor diesem Hintergrund zunächst zu fragen: Wie ist es dazu gekommen? 2 BESCHÄDIGTE EPISTEMOLOGIEN Es wird zunehmend schwierig für die Wahrheit, als solche anerkannt zu werden. In pessimistischer Formulierung könnte man von einer „Wahrheitsdämmerung“ sprechen: einer Gegenwart, in der von vielerlei Seite Wahrheit nicht mehr als etwas gilt, dessen Faktizität empirisch überprüft werden kann, also objektivierbar ist, sondern als etwas, das nach eigenem Belieben und nach je spezifischer Weltsicht interpretationsfähig ist und entsprechend in Form gebracht werden kann. Die bisherigen Instanzen der Festlegung von Wahrheit – nicht zuletzt Staat, Wissenschaft, Journalismus – werden in diesem Zuge von interessierter Seite delegitimiert, um die Konstruktion von partikularen ‚Wahrheiten‘ (im Plural) legitimieren und durchsetzen zu können. Mehrere Entwicklungsstränge der jüngeren Vergangenheit dürften hierfür ursächlich sein. Zum einen haben sich westliche Gesellschaften im Prozess der fortschreitenden Modernisierung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend ausdifferenziert. Zu quasi jedem Thema (vom Automobilkult bis zum Veganismus) und soziodemografischem Merkmal (etwa dem Status als Angehöriger einer Minderheit oder Randgruppe) haben sich Communities und Nischen gebildet. Diese sind zugleich tribalistische Diskursräume, die teilweise recht idiosynkratisch verfasst bis hermetisch abgeschottet sind. Kernmerkmal ist ihre polarisierende Grundhaltung.37 Mit radikalen Abtreibungsgegnern oder Tierschützern ist nur äußerst 36 37
Bridle 2018, S. 188. Vgl. Jaster/Lanius 2019, S. 74ff.
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schwierig deliberativ zu räsonieren – von Verschwörungstheoretikern ganz zu schweigen. „Statt vernünftiger Argumentation aller Betroffener sind die Existenz mehrerer Realitäten, Segmentierung, Hate Speech, Ausschlusserfahrungen [...], Populismus und Konfrontation Kennzeichen [...] unserer Zeit.“38 Eine solche Aufsplitterung des gesellschaftlichen Diskursraumes muss nicht einmal im Gegensatz stehen zu dem von Thomas Bauer beklagten Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Man kann dem Autor zustimmen, dass „unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist“39. Dies ist aber eben die Ablehnung von „Vielfalt, Komplexität und Pluralität“ innerhalb von hermetischen Diskursgemeinschaften, die sich oft fundamentalistisch geben. In der Gesellschaft insgesamt leben diese Diskursgemeinschaften auf der Suche nach „Vereindeutigung der Welt“40 nebeneinander. Man muss hier nicht zwangsläufig die fast schon abgedroschene Floskel von der „Postmoderne“41 und ihrer Multiperspektivität bemühen, aber zu konstatieren ist seit den späten 1960er-Jahren die Ausbildung von spezifischen Weltsichten, in denen eigene Sprachregelungen mit teils eigenem Vokabular vorherrschen.42 Die postmoderne Wahrheit „behält sich vor, sich willkürlich außerhalb der Grenzen zu setzen und zu bewegen, die sie der Wahrheit auferlegt“43. Jeder lebt potenziell in (diskursiven) Blasen mit der jeweils eigenen disambigen Wahrheit einer peer group. Ein angemessener Austausch von Fakten und Ansichten mit Außenstehenden ist so nur eingeschränkt möglich. Eine teilweise zu beobachtende ironische Grundhaltung erschwert zusätzlich den Austausch über Wahrheitsbezüge. Indem Menschen mit jeweils geteilten Vorlieben, Weltsichten oder Ideologien sich zusammenschließen und die Botschaften von Nicht-Angehörigen ihrer „Blase“ ausschließen, schaffen sie eigene, gänzlich real wirkende Überzeugungen, die sich im Sinne einer „Echokammer“ oft selbst verstärken. Wir dürfen solche Tendenzen auch im Kontext einer emergenten „Metamoderne“ sehen, also einer gesellschaftlichen Grundhaltung, die sich bereits an der Postmoderne erprobt hat und weiter lernt, mit Verzerrungen und dem Verlust von Eindeutigkeit zu leben.44 Technisch-algorithmisch gewandelt, sind solche eingeschränkten Diskursgemeinschaften auch als so genannte „Filterblasen“ zu verstehen.45 Twitter bspw. dient häufig dem Ausdruck persönlicher und gruppenbezogener Empörung oder Verachtung gegenüber einer Gegenseite, aber eher selten einer Diskussion im Sinne eines Miteinanders; weitere soziale Online-Netzwerke wären hier ebenso zu nennen.46 „Beschädigte Epistemologien“, also verzerrte Grundlagen für die Genese von Wissen über die Welt, unterstützen in bestimmten sozialen und kommunikativen Kontexten die Akzeptanz von Gerüchten und Spekulationen und begünstigen 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Filipović 2019, S. 220. Bauer 2018, S. 30. Ebd. Vgl. Jencks 1996; Waldvogel 2018. Vgl. Hacking 1999. Waldvogel 2018, S. 29. Vgl. Andersen/Björkman 2017, S. 398ff.; van den Akker/Vermeulen 2017. Vgl. Pariser 2011; näher hierzu Bedford-Strohm 2019. Vgl. König/König 2019, S. 94.
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„Verschwörungskaskaden“, in denen komplexe Prozesse der Algorithmisierung eine oft selektive Verbreitung und Aneignung von falschen bzw. unwahren Informationen ermöglichen und verstärken.47 Soziale Online-Netzwerke wie etwa Facebook behandeln lügenhafte und verschwörungstheoretisch orientierte Inhalte aus zweifelhaften Quellen im Prinzip gleichwertig zu geprüften und wahrheitsorientierten Inhalten aus seriösen journalistischen Quellen. Die Betreiber der Social-MediaPlattformen greifen mit ihren Algorithmen also diskursmodifizierend ein.48 Für die Nutzerinnen und Nutzer ist die Quelle oder Ursache für mögliche Wirklichkeitsverzerrungen in vielen Fällen kaum noch erkennbar. Für den Einzelnen ergibt sich aus der vielleicht bloß versehentlichen Rezeption derartiger Inhalte kaum ein Schaden. „Besteht der fälschliche verteilte Inhalt aber aus Verschwörungstheorien, kann die Gesellschaft als Ganzes stark geschädigt werden.“49 Die schiere Verfügbarkeit solcher Informationen über interpersonale und mediale Kanäle, ihre emotionale Aufladung und die mit ihnen einhergehende Gruppenpolarisation (Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen und deren Sichtweisen) wie auch zugleich diskursive Selektionsprozesse (Gruppenverfestigung nach innen) lassen letztlich auch erheblich schadhafte Epistemologien innerhalb der diskursiven Blase rational und akzeptabel wirken.50 Und tatsächlich gab es ja in der jüngeren Geschichte Ereignisse, die als reale Verschwörungen oder Komplotte gelesen werden können, etwa die Verschwörung der Entourage von US-Präsident Nixon gegen die amerikanische Demokratie Anfang der 1970er-Jahre („WatergateSkandal“51) oder die zumindest fadenscheinige und später widerlegte irreführende Behauptung einiger westlicher Staaten um 2003 (allen voran die USA), der Irak besäße ein Arsenal an Massenvernichtungswaffen, was dann ohne Vorliegen von Beweisen als ganz realer Kriegsgrund gegen das Land diente.52 „Und im Lichte der Enthüllungen von Whistleblower Edward Snowden“ über systematisches Abhören zahlreicher Kommunikationskanäle durch westliche Geheimdienste bewahrheiteten sich ab 2013 „Behauptungen, die vorher oft als Verschwörungstheorien abgetan wurden“.53 Eine ganze Reihe von journalistischen Fehlleistungen und Skandalen, in deren Zuge verzerrte, verfälschte oder rundheraus falsche Geschichten enttarnt wurden,54 dürften darüber hinaus ebenfalls dazu beigetragen haben, dass das Vertrauen in gemeinhin der Wahrhaftigkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit verpflichtete Institutionen (Regierung, Behörden, Wissenschaft, Journalismus usw.) erheblich erschüttert wor47 48 49 50 51 52 53 54
Sunstein/Vermeule 2009, S. 211ff. Vgl. Schweiger 2017, S. 86ff. Zweig 2019, S. 235. Sunstein/Vermeule 2009, S. 211ff. Vgl. etwa Bernstein/Woodward 1974. Vgl. hierzu Curtis 2003; Tumber/Palmer 2004, S. 139–159. Rees/Lamberty 2019, S. 205. Zum NSA-/GCHQ-Skandal vgl. näher Greenwald 2014; Snowden 2019, S. 213ff. Eine Einordnung des Falls als institutionelles Versagen bietet Beck 2016, S. 141ff. Vgl. als Fallstudien zum Vorwurf der „Lügenpresse“ in der „Flüchtlingskrise“ Haller 2017; Maurer et al. 2019. Zu verfälschten journalistischen Stories vgl. beispielhaft Garton Ash 2016, S. 204f.; Moreno 2019.
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den ist. Die Krisen- und Kriegsberichterstattung der letzten Jahrzehnte ist hier ebenso prominent zu nennen;55 man erinnere sich exemplarisch an den Golfkrieg von 1990/91, die sog. Balkankriege ab 1991, den Irakkrieg 2003 oder den noch andauernden kriegerischen Konflikt in der Ukraine. Manche Fake News basieren auch auf groben Scherzen, wie etwa die witzig gemeinte Behauptung des TV-Entertainers Jan Böhmermann 2015, Bundeskanzlerin Angela Merkel sei schwanger. Per Suchvervollständigung wurde dieses (un-)möglich scheinende Gerücht von Googles Algorithmus als Treffer dann auch Menschen angezeigt, die nach solch einer (Fehl-)Information gar nicht hatten suchen wollen.56 Alles scheint möglich, nichts ist mehr verlässlich, alles ist eine Lüge, so lautet denn pointiert ein skeptizistischer oder pessimistischer Grundtenor der Weltwahrnehmung – der selbst, falls er pauschal vorgetragen wird, von Verschwörungsmythen nicht weit entfernt ist.57 3 WIRKLICHKEIT(EN), FIKTION UND WAHNSINN Diese neuen Grundlagen von Wahrheitsverständnis – deren Resultat „flexible“ bzw. als flexibel wahrgenommene Wahrheiten sind – sind auch möglich geworden durch die Grundhaltung, dass Realität durch Praktiken geschaffen, also konstruiert wird: durch Praktiken des Beobachtens und des Unterscheidens, des Redens und des Handelns. In einem konstruktivistischen Paradigma „liefern Wahrnehmen und Erkennen keine getreuen Abbildungen der Umwelt; sie sind Konstruktionen, die – bei Benutzung anderer Unterscheidungen – auch anders ausfallen können“58. Daraus resultiert, dass „es keine systemunabhängig objektivierbare ontologische Realität gibt, sondern so viele Wirklichkeiten, wie es Systeme gibt, die zu beobachten in der Lage sind“59. In der Digitalität, so ließe sich daraus folgern, geht es demnach nicht um die ontologische Frage nach der Beschaffenheit der Welt, also wie oder was letztere ist, sondern um die epistemologische Frage, wie die Welt erschlossen und dargestellt werden kann.60 Die auf Basis dieser Haltung resultierenden quasi fiktionalen Konstrukte erlauben es, Kommunikationsprozesse „noch flexibler“ zu handhaben, da sie nicht auf Authentizität prüfbar seien.61 Internetbasierte Plattformen prägen als sog. Intermediäre heute das Informationsangebot in der Gesellschaft mittels ihrer Filter-, Sortier- und Personalisierungslogik.62 Ihnen kommt somit eine starke Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit zu. Sie operieren fallweise (dies ist jeweils sehr genau zu präzisieren) auch in einem Diskursraum jenseits der Wahrheit. Rezipientinnen und Rezipienten haben vor diesem Hintergrund „längst ge55 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. exemplarisch Allen/Seaton 1999; Lewis et al. 2006; Löffelholz et al. 2008; MacArthur 1992. Vgl. Zweig 2019, S. 247f. Vgl. Keeley 1999, S. 117ff. Schmidt 1994, S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. Nassehi 2019, S. 110. Merten 1994, S. 160. Vgl. Stark et al. 2018, S. 107.
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lernt, Fiktionen operativ für reales Handeln einzusetzen“63 und als Produzenten internetbasierter Kommunikate öffentlich zirkulieren zu lassen. Im Laufe der Modernisierung und Ausdifferenzierung der westlichen Industriegesellschaften ist nach dieser Sichtweise also der Rekurs auf die eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit verloren gegangen, so dass das Konzept „Wirklichkeit“ nunmehr als ein recht diffuser Begriff erscheint. Stattdessen kann die Akzeptanz bestimmter Interpretationen der Beschaffenheit der Welt, vulgo Bedeutungen, in einem konstruktivistischen Ansatz diskursiv festgelegt werden.64 „Die Wahrheit einer Behauptung ist also in erster Linie eine mehr oder weniger gut begründete Zuschreibung durch einen Beobachter oder eine Diskursgemeinschaft.“65 Jeder kann somit quasi in einer eigenen Wirklichkeitswelt leben, die sich epistemologisch auf die Form von Erzählungen konzentriert. Letztere werden nicht in linearer Argumentation geschaffen, sondern zirkulär durch ein relationales Miteinander-in-Bezug-Setzen verschiedener Phänomene, die letztlich häufig auf sich selbst verweisen.66 Konstitutiv hierfür ist „die Aufmerksamkeit der anderen, deren Feedback und die daraus resultierende gegenseitige Anerkennung“67. Diese eigentlich ostasiatische Tradition der Welt- und Bedeutungskonstruktion ist als interdependente „Relationalität“ bereits mehrfach für Argumentationsweisen im elektronischen Zeitalter bzw. im Internet hypothetisiert worden.68 Die Konstruktionen dieser Art erscheinen vielen Menschen, zumal den stark „relational“ online vernetzt lebenden, gänzlich rational und real – allein schon, weil sie sie ständig gespiegelt bekommen. Ulrich Beck sieht eine solch fundamentale Veränderung der Weltwahrnehmung, der Konstitution von Welt schlechthin, nicht als bloßen Wandel, wie er vielleicht schlicht einer fortschreitenden Modernisierung geschuldet sein könnte, sondern als Teil einer „Metamorphose“, als radikalere Transformation, die die Gewissheiten der (post-, meta-)modernen Gesellschaft destabilisiere und mit etwas Neuem ersetze, dessen Umrisse sich erst abzeichneten.69 Die Zeit ist aus den Fugen, ließ Shakespeare seinen Hamlet beklagen; die Welt mit ihrer stabil geglaubten Ordnung ist aus den Angeln, legt Beck anhand zahlreicher Beispiele dar, „and it has gone mad“70. Dies scheint durchaus eine treffende Sprachformel zu sein. Bereits Michel Foucault postulierte als Basis für gesellschaftliche Diskurse „die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn“71. Im Spannungsverhältnis dieser beiden Polaritäten bilde sich der „Wille zur Wahrheit“ heraus, der danach strebe, sowohl „das verbotene Wort“ – typischerweise sind das etwa Beleidigungen, Hate Speech oder Propaganda – und das leere Rauschen des Wahnsinns – also Fantasmen und Unfug – aus 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Merten/Westerbarkey 1994, S. 192, dort teilweise kursiv. Vgl. Gertz 2019, S. 92. Scholl/Völker 2019, S. 211. Vgl. Nisbett 2003; Rošker 2018, Abschn. 2.1; Yu 2007, S. 108ff. Stalder 2016, S. 139. Vgl. McLuhan 1964, S. 25ff.; darauf aufbauend Ess 2014. Vgl. Beck 2016, S. 3ff. Ebd., S. xi. Foucault 1991, S. 11f.
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dem Diskurs auszuschließen.72 Doch geht Foucault davon aus, dass der Wille zur Wahrheit in der Moderne paradoxerweise „für uns gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigen Ablauf verdeckt“73 werde, indem das Unsagbare sagbarer und weithin akzeptabler, das Fantastische zunehmend attraktiver erscheine. Der „Wahnsinn“, wie er sich etwa in Form von Verschwörungstheorien und -gerüchten in den medialisierten öffentlichen und teilöffentlichen Diskursraum einschreibt – oder anders ausgedrückt: die Irreführung –, erscheint in dieser Perspektive zunehmend normalisiert. Die alte Ordnung des Diskurses und somit des öffentlichen Redens, seine Orientierung an der Faktizität und am Willen zur Wahrheit, ist also keineswegs mehr a priori gegeben, folgt man Foucault. Der Wille zur Wahrheit wird vielmehr in sozialen Praktiken der Machtausübung konstituiert und abgesichert „durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird“74. Wenn in vielen dieser sozialen Praktiken des Diskurses aber Wahrheit und Faktizität als Orientierungsrahmen verloren gehen, sich also die Unterscheidbarkeit von wahr und falsch und mit ihr der Wille zur Wahrheit verflüchtigt, verlieren Gesellschaften die Grundlage für wesentliche Unterscheidungen, für ihre Unterscheidungsfähigkeit schlechthin, so ließe sich daraus ableiten. Wie der „unverbesserliche Schwätzer“ kann ein jeder „Beliebiges“ sagen, „ohne sich auf irgendein Prinzip der Vernunft oder der Wahrheit zu beziehen“.75 In den Diskussionsforen des Internets oder den sozialen Online-Netzwerken ist dieses Phänomen heute leicht wiederzuerkennen. Bedeutungen werden dort je nach Bedarf und Kontext „erzeugt, stabilisiert und persistiert“76. Der Wille zur Wahrheit ist also auch eine Kompetenz; wird er von Falschheit und/oder Wahn hintergangen oder durchkreuzt, landet eine Gesellschaft in einer Situation der diskursiven Inkompetenz. Die Postmoderne – wenn wir bei dieser phänomenologischen Bezeichnung bleiben wollen – beklagt diese Krise der Legitimität von Wahrheit nicht einmal, sie begrüßt sie vielmehr.77 Denn was nach der Wahrheit kommt, ist die Praxis, Bedeutungen strategisch zu konstruieren. Fiktionen konnten sich in der Digitalität als irreführende Desinformation zunehmend in die öffentliche Kommunikation einschreiben und dort einen prominenten Platz einnehmen. Die Volatilität ebendieser diskursiven Praxen – alles scheint möglich – basiert nicht zuletzt auch auf der Ausweitung der verfügbaren Verbreitungsmittel. Dies ist die Rahmenbedingung, die nach der Postmoderne eine Metamoderne möglich macht und es ermöglicht, in der Gesellschaft mehrere (scheinbar gleichberechtigte) Diskurse gleichzeitig bzw. nebeneinander zu führen ohne Einigung, welche Argumentation wahr ist.
72 73 74 75 76 77
Foucault 1991, S. 16. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 15. Foucault 2018, S. 197. Nassehi 2019, S. 52. Vgl. Gertz 2019, S. 92.
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4 DIE MEDIALISIERUNG DES NICHT-WAHREN Die Mediensysteme in den Industriegesellschaften und mit ihnen das Nutzungsverhalten der Menschen haben sich in den letzten 25 Jahren erheblich gewandelt. War bereits zuvor ab der Einführung des Fernsehens eine erheblich akzelerierte Evolution der Medien zu konstatieren, so hat die zügige Marktdurchdringung digitaler Medientechnologien ab etwa 1995 zu einer enormen Multiplizierung verfügbarer digitaler Plattformen und Angebote wie auch neuer Öffentlichkeiten geführt.78 „Das Internet“ und mit ihm soziale Online-Netzwerke sind längst ubiquitär und führen zu vielen neuen kulturellen Praktiken des Umgangs mit ihnen, die vor der Digitalisierung kaum denkbar waren.79 Vor allem kann nun quasi jedermann mit relativ geringem Aufwand zum öffentlichen Kommunikator werden, die Empfangsgeräte auch zur Produktion von Botschaften nutzen und letztere an disperse Publika verbreiten. Dies dürfte mit einem schon länger sich anbahnenden Autoritäts- und damit teilweise auch einem Glaubwürdigkeitsverlust der klassischen Medienangebote korreliert sein.80 Die Tagesschau etwa und ihr solider und seriöser Habitus standen bei den deutschen Fernsehzuschauern über Jahrzehnte für die Sicherheit, „mit dem aktuellen Geschehen in der Welt verkoppelt“ zu sein.81 Diese Nachrichtensendung bedeutete, grob gesprochen, „nichts weniger als die Wahrheit“82. Im Zuge einer zunehmenden Unterhaltungsorientierung des Fernsehprogramms etwa ab den 1970er-Jahren setzten Nachrichten-Flaggschiffe wie die Tagesschau vereinfachende, visuell orientierte Darstellungsformen ein: „einen naiven Bildrealismus [...], nach dem alles, was fotografisch gezeigt wurde, auch wahr zu sein hatte [...].“83 Diese Komplexitätsreduktion prägte nachfolgend die Wahrnehmung von Realität und von „Nachrichten“. Sachverhalte sollten leichter verständlich werden. Die zunehmende kommerzielle Konkurrenz setzte auf eine unterhaltsame Präsentation von Nachrichten, um „das politisch Widerständige ab[zu]schleifen und leichter konsumierbar [zu] machen“84. Eine einstmals strukturgebende Institution wie die Tagesschau verlor in dieser Konkurrenzsituation viel von ihrer Aura, ebenso ihr Hauptgegenstand, die Nachrichten. In der Gegenwart steht dieses Nachrichtenformat häufig im Fokus einer Kritik, die ihm Floskelhaftigkeit, Formalismus, weitgehende Irrelevanz und Autoritätsverlust attestiert.85 Es lässt sich schließen, dass Nachrichten (als Anker der Realitätsdefinition) für viele Rezipientinnen und Rezipienten zu einem beliebig konsumierbaren Unterhaltungsartikel geworden sind. Solch kritische Positionierungen betreffen auch andere traditionelle Institutionen wie Schulen, Kirchen und Behörden, die im Zuge einer (durchaus modernen) ausgeweiteten Kritisierbarkeit und Rechenschaftspflicht ge78 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. Jäckel 2011, S. 35ff.; Merten 1994; Merten/Westerbarkey 1994, S. 191; Münker 2014. Vgl. hierzu grundlegend Stalder 2016. Vgl. Kelly 2016, S. 279. Hickethier 1998, S. 266. Kegel 1999, S. 42. Hickethier 1998, S. 375 mit Verweis auf weitere Quellen. Ebd., S. 473. Vgl. Staun 2012. Zahlreiche US-amerikanische Beispiele liefert Rushkoff 2018.
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rade angesichts auch tatsächlichen und oftmals skandalisierten Fehlverhaltens nunmehr ebenfalls stärker hinterfragt werden können, als dies in früheren, autoritätsgläubigeren Zeiten denkbar war – in jeweils ganz unterschiedlicher Weise.86 Nicht zu unterschätzen ist in diesem Kontext allerdings die Dialektik, dass eine gänzlich moderne und aufklärerisch orientierte Hinterfragung von Autoritäten in bestimmten Bevölkerungskreisen zu einer antimodernen und verschwörungstheoretisch fundierten Haltung gegenüber quasi allen etablierten Autoritäten führen kann. Drastisch zeigt sich dies etwa an der in vielen Gesellschaften sehr hartnäckig geführten „Lügenmedien“- und „Fake News“-Debatte.87 Parallel haben sich in erstaunlich kurzer Zeit neue Autoritäten etabliert: die großen Technologiekonzerne wie Alphabet/Google, Apple, Amazon, Facebook, Microsoft u. a. mit ihren Angebotsplattformen und Algorithmen. Sie sorgen durchaus disruptiv für teilweise ganz neue Nutzungsgewohnheiten, Produktions- und Rezeptionsmodi von Informationen.88 Als Intermediäre setzen diese Konzerne in erheblichem Maße den institutionellen Rahmen für die öffentliche Kommunikation in der Gesellschaft. In der Logik der Social Media besteht dieser Rahmen mindestens in einer permanenten Vervielfältigung der Kommunikate durch Liken, Sharen und Weiterleiten und damit in einer umfänglichen, sehr weitreichenden Datenproduktion und -analyse, die in den Industriestaaten auch für vielfältige Zwecke der Überwachung, Kontrolle und Verhaltensvorhersage verwendet wird. Shoshana Zuboff spricht mit Blick auf die Technologiekonzerne von einem System des „Überwachungskapitalismus“.89 In Diktaturen wie bspw. China ist ein solches Überwachungssystem, das auch auf klassischer Zensur (Unterdrückung unerwünschter Botschaften), Propaganda (Falschinformation für Zwecke der Agitation und Systemstabilisierung) und Verhaltenslenkung (durch soziale Bonitätssysteme) aufgebaut ist, in der Digitalität noch verschärfter zu beobachten, da staatlicherseits organisiert.90 Weitere autoritär gelenkte Staaten wären in diesem Kontext ebenso zu nennen, etwa Russland mit seinem mehrsprachigen regierungsnahen Sendernetz RT (ehemals Russia Today), das sich „bemüht, Vertreter radikaler Positionen salonfähig zu machen“ und Wahrheiten verspreche, „die ein ‚Mainstream‘ verschweige“, wie die Diktion lautet.91 Dieser Ansatz ist eher subkutan: „Die neue Form der Einflussnahme ist keine klassische Propaganda, sondern erfolgt durch eine gezielte Setzung von Themen, Begriffen, kleinen Informationen, Wiederholungen usw.“92 Ziel ist die diskursive Destabilisierung anderer Länder. Auch haben in vielen Gesellschaften etliche Hass-, Verschwörungs- und Propagandagruppen eine eigene parallele technische Infra-
86 87 88 89 90 91 92
Vgl. im Argumentationszusammenhang einer „flüchtigen Moderne“ Bauman 2003, S. 141ff. Vgl. die Beiträge in Lilienthal/Neverla 2017. Vgl. Gertz 2018, S. 137ff.; Neuberger et al. 2019. Vgl. Zuboff 2019. Ein Bezug zu Foucaults (1994) „panoptischem“ Überwachungsansatz ist in diesem Zusammenhang lohnenswert; vgl. näher hierzu Bauman/Lyon 2013. Vgl. Creemers 2018; Strittmatter 2018, S. 47–91 und 144–197; Webb 2019. Schmidt 2019, S. 5; vgl. auch Thussu 2019, S. 243. Nassehi 2019, S. 124.
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struktur, z. B. mit separaten Social-Media-Plattformen, zur Verbreitung ihrer Botschaften aufgebaut.93 Die etablierten sozialen Online-Netzwerke in ihrer Rolle als Intermediäre ziehen sich meist auf die Position zurück, reine Weiterleiter solcher Kommunikate und damit nicht verantwortlich für die Inhalte zu sein, obwohl sie die Algorithmen, die die Botschaften an Zielgruppen adressieren, teils selbst in entsprechende Richtungen verzerren oder von Drittfirmen verzerren lassen.94 Der Chef von Facebook hat in einer bemerkenswerten Volte Ende 2019 recht robust verlautbaren lassen, „im kommenden US-Präsidentschaftswahlkampf [2020] politische Anzeigen auf seinen Seiten selbst dann zuzulassen, wenn die Parteien und Politiker darin eindeutig Fake News und Lügen verbreiten“95. Die Unwahrheit wird hier in großer Offenheit also zur Geschäftsgrundlage deklariert. Die Mitarbeiter des Tech-Konzerns protestierten umgehend dagegen. Auch digitale Ressourcen der lexikografischen Wissensspeicherung und -katalogisierung wie etwa die kollaborative Online-Enzyklopädie Wikipedia, deren Nutzung im Alltag für viele Menschen längst eine Gewohnheit ist, sind in wohl nicht unerheblichem Maße von falscher und irreführender Information durchsetzt. Zwar schneidet die genannte Plattform in diesem Punkt nicht unbedingt und generell schlechter ab als Quellen in Buchform,96 aber „PR und ideologische Unterwanderung beeinflussen die Qualität der Einträge“97. Dennoch ist Wikipedia längst zu einer maßgeblichen und von vielen Suchalgorithmen bevorzugten Quelle der Definition des Weltwissens geworden. „80 Prozent der deutschen Internetuser ab 14 Jahren nutzen die Online-Enzyklopädie [...]. Vier von fünf Wikipedia-Nutzern halten die Lexikon-Artikel größtenteils für verlässlich.“98 Die Faktizität der dargebotenen Information ist hier konzeptionell flexibel bzw. relativistisch geworden, da eine Bearbeitung – lies: Veränderung – jederzeit und von jedermann möglich ist.99 Für unseren Diskussionszusammenhang ist besonders interessant, wie ein solch umfängliches System der (teilweisen, dann aber durchaus erheblichen) Fiktionskonstruktion, das mit einer potenziellen Produktion von Nicht-Wahrheiten besonders prominent auf digitalen Plattformen zu beobachten ist, für Gesellschaften systemisch dominant werden kann. Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari etwa musste Ende 2018 bei einem öffentlichen Auftritt den vor allem über Social Media verbreiteten hartnäckigen Gerüchten entgegentreten, er sei längst tot und von einem Double ersetzt worden – eine Behauptung, die Nigeria lange in Atem gehalten und politisch destabilisiert hatte.100 Die ukrainischen Präsidentschaftswahlen wurden 2019 sehr deutlich vom Kandidaten Wolodymyr Selenskyj gewon93 94 95 96 97 98 99
Vgl. Soundararajan 2018, S. 281. Vgl. exemplarisch Greenfield 2018. Graff 2019, S. 11. Vgl. Kelly 2016, S. 269ff. Janker/Urban 2019, S. 11. Ebd. Vgl. grundlegend Gunkel 2019, S. 320f. Ein in unserem Zusammenhang instruktives Beispiel sind etwa die Manipulationen des Wikipedia-Artikels just über den durch journalistische Fälschungen bekannt gewordenen Autor Claas Relotius (zum Fall vgl. Moreno 2019), worüber Knellwolf 2019 berichtet. 100 Vgl. BBC News 2018.
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nen, einem Schauspieler, der zuvor in einer satirischen Fernsehserie die komödiantische Rolle just des ukrainischen Präsidenten verkörpert hatte und darüber in seinem Heimatland zum Instagram-Star mit 4,2 Millionen Followern wurde.101 Fakt und Fiktion beginnen sich in diesen Beispielen zu verwischen. Eine gewisse Fantastik auf der inhaltlichen Ebene ist in diesen Geschichten nicht zu übersehen. Mediale Inhalte referenzieren hier nicht mehr die Realität, sondern die Realität speist sich aus medialen Inhalten und fiktionale Strukturen verfestigen sich. Eine neue Art von Technoimagination hat neue Formen der Narrativität hervorgebracht, die das Nicht-Wahre zum Bullshit aufplustern und in Kitsch umformen, der sich im Alltag verfestigt. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung? 5 DIE SYSTEMISCHE AUFPLUSTERUNG DES NICHT-WAHREN Die erheblich akzelerierte technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat die Epistemologie des Menschen verändert. Die Medialisierung und speziell die Digitalisierung brachten neue, nicht lineare Organisationsformen des Wissens mit sich. In diesem Zuge ist eine stärkere Entpersonalisierung der gesellschaftlichen Kommunikation zu beobachten, auch wenn paradoxerweise mehr (technisch vermittelte) „Kontakte“ möglich und stärker „personalisierte“ Angebote auf dem Markt sind. Die Bedeutung des einzelnen Individuums schwindet. Was im Zeitalter des „Dataismus“ stattdessen zunehmend zählt, ist der große Datensatz, das Aggregat.102 Folgt man Vilém Flusser (1996), versucht der Mensch zu seiner Verankerung in der Welt und damit zu seiner Standpunkthaftigkeit mittels „Technobildern“ zurückzufinden. Die Welt dieser Technoimagination ist gewissermaßen nachalphabetisch – das Internet mit seinen Text-Bild-Ton-Kombinationen ist als wesentliches Beispiel für diese neuen Formen der Argumentation und Welterschließung zu nennen.103 Diese neue Welt fasziniert „immer stärker, denn sie trägt eine neue Botschaft“104. Die in ihr generierten Bilder und ihre Codes sind nach Flusser „außerordentlich gefährlich: sie programmieren uns, ohne in ihrem Wesen durchblickt worden zu sein, und bedrohen uns so als undurchsichtige Wände, anstatt uns als sichtbare Brücken mit der Wahrheit zu verbinden.“105 Die technischen Bilder entwürfen vielmehr „Bedeutungen auf trügerischen Oberflächen“106. Die zuvor bereits ausführlich beschriebene und vor allem im Internet häufig verbreitete Desinformation in allen ihren Spielarten begegnet uns demnach als Ausdruck einer Krise der gesellschaftlichen Kommunikation. Indem die Technoimagination nicht mehr klassisch linear organisiert und an Objektivität orientiert ist, erscheint Flusser zufolge Wahrheitssuche in diesem Kontext nicht mehr als „Entdeckungsfahrt“, sondern als 101 Vgl. BBC News 2019. 102 Harari 2017, S. 300ff. 103 Zur These der postalphabetischen, non-linearen, „oralen“ (und auch „relationalen“) Struktur des elektronischen Zeitalters vgl. grundlegend McLuhan 1964; Ess 2014. 104 Flusser 1996, S. 105. 105 Ebd. 106 Flusser 1990, S. 45.
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der Versuch, sich mit den anderen hinsichtlich der Welt intersubjektiv einig zu werden.107 Die Gesellschaft suche nicht mehr nach Wahrheit, um die Welt zu erkennen und zu beherrschen, sondern um gemeinsam mit anderen in ihr leben zu können. Die Folgen einer solchen Umwälzung sind unvorstellbar, [...] vor allem, weil das menschliche Leben in eine radikal neue Stimmung getaucht wird: Wahrheitssuche hört auf, ‚epistemologisch‘ zu sein, und wird wieder zu einer ‚religiösen Suche‘, aber in einem neuen und noch ungeahnten Sinn.108
Die Konstrukte des Nicht-Wahren dienen also als überhöhte Nachrichten-Attrappen der gesellschaftlichen Sinnsuche, der aber das Fundament des tatsächlich Sinnvollen entzogen wurde. Wahrheit wird imaginiert, aber ihr fehlt zunehmend der Rückbezug auf eine zu vereinbarende Objektivität. Harry G. Frankfurt zeichnet mit Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgang mit der Wahrheit das eingängige Bild der Fäkalienproduktion in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Bullen nach: Um seinen Gegner abzulenken und zu beeindrucken, emittiert eines der beiden Tiere Exkremente. Der umgangssprachliche bullshit ist bei Frankfurt das zentrale Bild des Verlustes der gesellschaftlichen Übereinkunft, sich auf die Wahrheit zu beziehen. In (post-, meta-) modernen westlichen Gesellschaften nähmen neue Formen der Nicht-Wahrheit eine herausragende Position ein, die allerdings nicht mit der Lüge gleichzusetzen seien: „[...] the essence of bullshit is not that it is false but that it is phony.“109 Bullshit sei das, was sich vom prinzipiellen Anliegen der Wahrheit entbunden habe.110 Sein Hauptzweck und Ziel sei die Erschaffung eines Eindrucks, der zwar falsch und unwahr sein mag, aber eben den Vortragenden des Bullshit in den Mittelpunkt stelle und somit von der Sache an sich ablenke.111 In einer teleologisch-utilitaristisch orientierten Denktradition steht hier also der Zweck im Mittelpunkt: „Das Ziel bestimmt die Mittel.“112 Die Bezüge zum viel bemühten Konzept des Impression Management113 an der Schnittstelle von Sozialpsychologie, Werbewirtschaft, Public Relations und längst auch dem hochgradig medialisierten und PR-getriebenen Handlungsfeld Politik liegen hier auf der Hand. Frankfurt formuliert kritisch: The realms of advertising and of public relations, and the nowadays closely related realm of politics, are replete with instances of bullshit so unmitigated that they can serve among the most undisputable and classic paradigms of the concept.114
Der bullshitter sei kein Lügner, vielmehr sei ihm die Wahrheit schlicht egal: Sie kümmere ihn nicht: „The main point is to make possible a high level of candor and
107 108 109 110 111 112 113 114
Flusser 1996, S. 213. Ebd. Frankfurt 2005, S. 47. Ebd., S. 30. Zu verwandten Debatten in der Kommunikations- und Medienwissenschaft um Wahrheitsansprüche speziell im Kontext von Fake News und Desinformation vgl. Zimmermann/Kohring 2018 sowie als Replik darauf Scholl/Völker 2019. Frankfurt 2005, S. 14 und 18; ähnlich Frankfurt 2006, S. 4. Waldvogel 2018, S. 29. Vgl. Harlow 2018; Nassehi 2019, S. 283. Frankfurt 2005, S. 22. Vgl. Frankfurt 2006, S. 17.
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an experimental or adventuresome approach to the subjects under discussion.“115 Beispiele aus der Politik, dem globalen Trend zum Populismus und aus dem Feld der oben beschriebenen Nachrichten-Attrappen lassen sich zuhauf finden. Die prominentesten Vertreter dieses Politikstils der Unwahrhaftigkeit in der Gegenwart dürften die Staatslenker Vladimir Putin, Boris Johnson und Donald Trump sein. Am deutlichsten hat wohl Trump – ohnehin bekannt als Meister der „alternativen Fakten“116 – am 23. Oktober 2018 das Bullshit-Konzept endgültig in die politische Praxis überführt. Auf die Frage eines Journalisten, welche Beweise er für seine schwammige und verschwörungstheoretisch fundierte Behauptung habe, dass unter den Flüchtenden aus Mittelamerika, die gerade auf dem Weg in Richtung der USamerikanischen Grenze waren, sich auch zwielichtige Personen „aus dem Nahen Osten“ befänden, antwortete der Präsident bloß ausweichend, aber vehement: „There is no proof of anything, there is no proof of anything, but there could very well be.“117 Es gibt keinen Beweis, aber es könnte einen geben: Ein treffenderes und konziseres Beispiel für den Verlust des Willens zur Wahrheit und für einen Politikstil und ein gesellschaftliches Denkmuster nach der Wahrheit dürfte kaum zu finden sein. Die Brexit-Kampagne mit all ihren fantasiereichen Behauptungen und Ausschmückungen wäre in diesem Kontext zwar auch zu nennen, ist in ihrer Komplexität aber schon eher als Ausdruck einer elaborierten Verschwörungstheorie zu sehen und belegt deutlich das weiter oben geschilderte Eindringen fiktionaler Strukturen in die gänzlich reale Politik mit ebenso realen Konsequenzen.118 Was Beck als eine verrückt gewordene Welt bezeichnet hat,119 ist in Frankfurts Analyse der Wahrheitsfundamente unserer Gegenwart eine auf Bullshit und Lüge aufgebaute Welt, in der solche Unwahrheiten gezielt dazu eingesetzt werden, uns verrückt zu machen: „The world we live in, insofar as our understanding of it is fashioned by the lie, is an imaginary world. [...] So [lies] are intended, in a very real way, to make us crazy.“120 Die beschriebene Welt wird dadurch instabiler und anfälliger für weitere Konstrukte der Nichtwahrheit und Desinformation. Der Mensch verliert seine Verankerung. Es geht zunehmend nicht mehr um die Frage nach dem „Warum“, sondern vor allem um die Frage nach dem „Wozu“, den Effekten. Es lässt sich mit Flusser (1996) und Frankfurt (2005; 2006) also argumentieren, dass es in der Gegenwart einen zu beobachtenden allmählichen Wandel weg vom prinzipiell als erstrebenswert geltenden Rekurs auf Wahrheit gibt (die in gesellschaftlichen Funktionssystemen wie dem seriös recherchierenden Journalismus wie auch in Wissenschaft und Forschung natürlich weiterhin als wesentlicher Maßstab gilt) und sich die dominante Orientierung der Kultur der Gegenwart in Richtung eines unwahrhaftigen bullshitting entwickelt, das als eine effektreiche Simulation jenseits der Wahrheit gesehen werden kann. Sie kann sich fortentwickeln in die 115 116 117 118 119 120
Frankfurt 2005, S. 36f. Vgl. hierzu Hellinger 2019, S. 79f.; Neuberger 2018, S. 45. Donald Trump zitiert nach Hutchinson et al. 2018. Vgl. exemplarisch O’Toole 2018. Vgl. Beck 2016, S. xi und weiter oben. Frankfurt 2006, S. 77f.
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Falschheit, die vollständig auf Unwahrhaftigkeit und Lüge aufbaut. Unschwer ist in der effektreichen Simulation, als die der Bullshit interpretiert werden kann, ein Bezug zum bekannten Modell der Hyperrealität im Sinne Jean Baudrillards erkennbar. Hier geht es konzeptionell um die „Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen, d. h. um eine dissuative Operation“121. Diese Vorstellung, in der die Welt zunehmend durch ihre medialen Repräsentationen wahrgenommen und konstruiert wird und in die sich Fiktionalisierungen einschleichen, bis (teilweise jedenfalls) die Welt als etwas Hyperreales jenseits von Wahrheit und Fiktion entsteht, passt sich kongenial in Frankfurts Überlegungen zur Faktizität und die weiter oben eingeführten Debatten um die fortschreitende Medialisierung und die Konstruktionen von Wirklichkeit ein. Verschwörungstheorien und andere Formen der Desinformation erhalten in dieser Sichtweise im öffentlichen Diskursraum eine eigene Art von Realität. Sie sind zwar auf der rationalen Ebene widerleg- und falsifizierbar, doch der Akt ihrer öffentlichen bzw. medialen Demontage verstärkt nur ihre Ausbreitung und die Standhaftigkeit ihrer Anhänger. Die Verneinung der rationalen Faktizität ist ja gerade der Wesenskern verschwörungstheoretischer, nicht wahrhaftiger Desinformation. Abbildung 1 fasst die drei Frankfurt’schen Sphären unterschiedlicher Realitätsaushandlung westlicher Gesellschaften der Gegenwart überblicksartig zusammen.
Abb. 1: Wahrheit, Bullshit und Falschheit
Jayson Harsin nennt eine solche systemische Dominanz des Unwahren in einem stark von Social Media und anderen Online-Plattformen beeinflussten gesellschaftlichen und politischen Diskursraum ein „regime of posttruth“, also eine Herrschaftsform der Nach-Wahrheit. Sie sei ein Merkmal „postpolitischer“ Gesellschaften, d. h. Ausdruck eines disruptiven Übergangs von traditionell geordneter Politik zu neuen Formen politischen Handelns, für die es offenbar noch keinen besseren Begriff als eben den mit dem Präfix post- gibt.122 Sowohl post-politics als auch posttruth, in ihrer Kombination verstanden als „politischer Apparat“, basierten auf „‘participatory’ social media politics“123. Das Partizipative der sozialen OnlineNetzwerke setzt Harsin in Anführungszeichen, da die Formen der Kollaboration und Partizipation, die in diesen Diskursräumen zu beobachten sind, für ihn letztlich 121 Baudrillard 1978, S. 9. 122 Vgl. Harsin 2015. Zu posttruth/post-truth vgl. mit vielen Beispielen auch Ball 2017. 123 Harsin 2015, S. 331.
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nur Illusionen von Partizipation sind.124 Der Austausch von Argumenten, Texten und Symbolen – den Technobildern – findet in solchen Netzwerken unter sehr restriktiven Nutzungsbedingungen kommerzieller Anbieter statt, gewissermaßen auf deren digitalem Privatgelände. Dennoch dient diese permanente „Relationalität“ des gegenseitigen Beobachtens, Sharens, Likens und Kommentierens der OnlinePartizipanten einem politisch-ökonomischen Zweck. Die Verhaltensspuren, die als große Datensätze in Social Media produziert werden, dienen im System des von Shoshana Zuboff postulierten „Überwachungskapitalismus“ für die Generierung von Profit auf Seiten der Plattformbetreiber sowie für die Durchsetzung von Verhaltensnormen.125 Insofern passt Harsins Beschreibung der postpolitischen Post-truthGesellschaft der umfassenden Kontrolle zu Zuboffs Sichtweise einer postdemokratischen Gesellschaft, in der die permanent angefeuerte Produktion und nachfolgende Auswertung persönlicher Daten als Bausteine einer bestenfalls ökonomisch legitimierten Form von Herrschaft die vorherigen Konzepte von Demokratie, menschlicher Autonomie und Verantwortung ablöst.126 Verschwörungstheorien und andere Formen der Desinformation erscheinen vor diesem Hintergrund als relativ beliebige Vehikel für Anschlusskommunikation, die – neben ihren handfesten persuasiven und politisch-propagandistischen Zielen – schlichtweg der mannigfachen Generierung von Daten für den Zweck ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung dienen. Man könnte sie auch, wie bereits eingeführt, als Nachrichten-Attrappen bezeichnen. Sie geben vor, ähnlich wie journalistisch recherchierte und verifizierte Informationen dem Erkenntnisgewinn zu dienen, sind tatsächlich aber lediglich Widerspiegelungen von Falschheit, die die Wahrheit negieren, indem sie eine alternative Realität simulieren. Die post-truth erscheint als Ausdruck eines Schwellen- bzw. Übergangszustandes der Wahrheit, die, wie oben bereits angemerkt wurde, konzeptionell in Bedrängnis geraten ist und zunehmend zur Falschheit mutiert. Man kann solche nach-wahren Kommunikate auch als aufgeplusterte Falschheit bezeichnen: Diese Falschheit gibt vor, wahr zu sein, indem sie etablierte Formen von wahrheitsorientierten Kommunikaten nachahmen. Damit ähnelt sie dem Kitsch. 6 DIE FALSCHHEIT DES KITSCHES Es ist das Wesen des Kitsches, auf Falschheit zu beruhen und das Reale lediglich zu simulieren. Verschwörungstheorien und Fake News plustern sich zu absoluten, hermetischen Welterklärungsmodellen auf, die keine Falsifizierung ertragen oder dulden. Wir können solche Desinformation mit Hans-Dieter Gelfert unschwer als „ideologischen Kitsch“ identifizieren: „Die Ausblendung von allem, was nicht in die ideologisch zementierte Totalerklärung der Welt passt, entspricht exakt der Verlogenheit, die der Kitsch in allen seinen Spielarten aufweist.“127 Der Kitsch weist 124 125 126 127
Strukturell ähnlich argumentiert Flusser 1990, S. 45ff. Vgl. Zuboff 2019, S. 199ff. Vgl. Harsin 2015, S. 330ff.; Zuboff 2019, S. 351ff. Gelfert 2000, S. 60.
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dabei stets in die Vergangenheit zurück, recycelt sie in einer (durchaus metamodern zu interpretierenden) erwünschten Weise. Als ästhetisches Phänomen ist er eine „Rache an der Moderne“128. Entsprechend gerne setzen ihn bspw. Diktaturen zu ihrer Selbstlegitimation und Historisierung ein.129 Kitsch gründet auf einer Pose, die – ähnlich wie beim Bullshit – den Produzenten in den Mittelpunkt stellt und Wahrheitsansprüche entredet. Das funktioniert auch im Kontext demokratischer Gesellschaften. Das süßliche Lächeln eines britischen Thronfolgerpaars auf einem geschickt lancierten PR-Foto anlässlich eines Picknicks, das nicht stattgefunden hat,130 kann mit seinem symbolischen überzeitlichen Herrschaftsanspruch für die Monarchie genauso falsch und unwahr sein wie die weiter oben referierte Breitbart-News-Story von der brennenden Kirche in Dortmund, die nicht gebrannt hat. Beide Stories verfolgen unterschiedliche Ziele, haben aber gemeinsam, dass sie sich der Aufklärung entgegenstellen. Sie kreieren an ihrer Leerstelle – der Wahrheit – etwas Neues: eine Aussage über den Zustand der Gesellschaft, in der sie produziert werden. Das inszenierte Foto vom sympathischen britischen Thronfolgerpaar, das der Weltpresse seinen erstgeborenen Sprössling präsentiert, verweist auf das archaische Narrativ der Fruchtbarkeit und per Übertragung auf das Überleben einer eigentlich überkommenen, prämodernen Staatsform, für die die jungen Eltern sich in Positur setzen.131 Verschwörungstheoretisch basierte Fake News wie die fremdenfeindliche Geschichte von der angeblich marodierenden Meute muslimischer Männer in Dortmund gehen auf ebenso archaische Urnarrative der Menschheit zurück: die Angst vor dem fremden Eindringling, der eine potenziell tödliche Bedrohung für die eigene Gruppe darstellt. Kombiniert mit dem historischen und immer wieder recycleten Narrativ der Belagerung von Wien durch die Türken (1683)132 und einer seither eingeredeten „Bedrohung des christlichen Abendlandes“ wachsen sich Konstrukte dieser Art zu komplexen Retro-Narrativen aus.133 Erzählungen dieser Art bleiben haften: Sie werden stetig wiederholt, finden sich noch in den hintersten Ecken des Mediensystems und setzen sich im Gedächtnis der Rezipienten und im Diskurs der Gesellschaft fest, ob verachtet oder beklatscht, ob nun im hunderttausendsten Chemtrail-Video auf YouTube (als implizite Sehnsucht nach einer unverdorbenen Umwelt der präindustriellen Ära), in Form der nicht einmal mehr zählbaren x-ten Reiteration der „White Replacement Theory“ allüberall (Angst vor Einwanderung und Statusverlust), auf Demonstrationen einschlägiger politischer Bewegungen oder in den ubiquitären Online-Kommentarforen.134 Dieser Kitsch ist rückwärtsgewandt, penetrant und klebrig, paradoxerweise aber gerade deswegen genussvoll konsumierbar: 128 Liessmann 2002, S. 73. 129 Vgl. statt vieler Heller 2008 mit Beispielen aus dem deutschen Nationalsozialismus, dem italienischen Faschismus, dem sowjetischen Kommunismus und dem chinesischen Maoismus. 130 Vgl. Zöllner 2019a, S. 108ff. 131 Ebd. 132 Vgl. Zöllner 1990, S. 252ff. 133 Vgl. Gadinger 2019, S. 138; Müller 2019. 134 Vgl. Precht 2019.
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Oliver Zöllner [D]ie klebrige Struktur des Kitsches wird auch im Kitschgenuß selbst – allerdings bejahend – erfahren. Im Klebrigen symbolisiert sich ein Zustand des menschlichen Daseins, den wir genüßliche Seinserfahrung nennen könnten.135
Der Kitsch hat dabei hauptsächlich die Aufgabe, „Stimmungen zu erzeugen“136. Was etablierten Werten entgegensteht, „wird vom Kitsch nicht als etwas Anderes und Fremdes anerkannt, sondern als das schlechthin Negative dämonisiert“137 – und in diesem Zuge die Autoritäten, die solche Werte setzen können, gleich mit. „Deshalb wird im Kitsch so gut wie jeder Wert von seinem dämonisierten Gegenbild begleitet, was seine charakteristische Schwarz-Weiß-Malerei ausmacht.“138 Das gelingt den beschriebenen Nachrichten-Attrappen offenbar ganz besonders gut, in denen die Welt stets besonders einfach, aber auch antagonisierend dargestellt wird: Bedrohungen überall, so scheint es dort. Im gesellschaftlichen Funktionssystem der Medien mag solcher Kitsch zwar eine Art „Abfall“ sein, aus dem „die Informationen zum Teil ausgewischt wurden“ und der so in den kulturellen Kreislauf zurückgespült wird.139 Damit ist er aber auch ein Genussmittel. Denn Kitsch erscheint nach Flusser als „eine Sehnsucht, sich aufzulösen. Und zwar auf bequeme, auf gemütliche Weise. Im Grunde ist daher Kitsch eine Methode, angesichts des Absurden des Menschseins gemütlich zu sterben.“140 Aufgeplusterte Nachwahrheit oder Postfaktizität, die sich in Form von Verschwörungstheorien, Desinformation und Fake News in Form bringt, ist demnach Ausdruck einer Überfütterung und einer Faulheit des Denkens auf Seiten der Rezipientinnen und Rezipienten; sie ist damit auch eine Aussage über den Zustand der Gesellschaft insgesamt, die mit Phänomenen der Auflösung sozialer, diskursiver und epistemischer Strukturen zu kämpfen hat. Solch ideologischer Kitsch, inhaltlich meist Bullshit, verweist auf eine Negation des Lebens. Wir dürfen ihn und seine Klebrigkeit daher abschließend aus dem philosophischen Blickwinkel des Nihilismus näher betrachten, der diese Art der Negation in den Mittelpunkt seiner Argumentationen stellt. 7 NIHILISMUS UND DISRUPTION Bullshit floriert in der Vervielfältigung. Die Evolution der Mediensysteme liefert hierfür die Grundlagen. Die fortschreitende Medialisierung multipliziert den Bullshit. Die Wahrheit wird variabel. Die zu Falschheit aufgeplusterte Nachwahrheit fordert Aufmerksamkeit und erscheint vielen gar als glaubwürdige Information. Kommunikate dieser Art dienen oft politisch-propagandistischen Zwecken, vor allem aber sind sie im World Wide Web und in sozialen Online-Netzwerken Elemente einer umfassenden ökonomischen Ausbeutung von Datensätzen. Die Wahrheit er135 136 137 138 139 140
Giesz 1971, S. 41. Ebd., S. 44. Gelfert 2000, S. 78. Ebd. Flusser 1985, S. 60. Ebd., S. 61.
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scheint allmählich einerlei. Die Gesellschaft gibt sich nur allzu oft mit einem simulierten Ersatz, dem Kitsch, zufrieden. Dies ist vorerst unser Szenario, wenn wir uns mit Verschwörungstheorien und den vielfach auf sie aufbauenden Nachrichten-Attrappen beschäftigen. Die Bedeutungen der Desinformation enden keineswegs im Nichts – schließlich unterliegen Fake News und verwandte Phänomene im teleologisch-utilitaristischen Sinne klaren ökonomischen über darüber hinaus auch politischen Verwertungszusammenhängen. Dennoch führen sie uns auf den ersten Blick an das Ende des linearen Sinns, der klassisch falsifizierbaren Bedeutungen und der Legitimität von Wahrheit heran. Hinter der Produktion, Distribution und Rezeption von Desinformation könnte ein nihilistisches Prinzip stecken. Donald A. Crosby identifiziert in seiner Systematisierung des Nihilismus fünf Typen dieses philosophischen Ansatzes, die Welt zu verstehen: den politischen Nihilismus (der die bestehenden politische, gesellschaftliche und kulturelle Ordnung des Lebens in Abrede stellt und radikal hinfortfegen will); den moralischen Nihilismus (der den Sinn moralischer Verpflichtungen und die Objektivität der dahinterstehenden moralischen Prinzipien verneint); den epistemologischen Nihilismus (der davon ausgeht, dass es keine Wahrheit oder Bedeutungen jenseits individueller Glaubensgrundsätze bzw. außerhalb genau abgrenzbarer Kollektivitäten gibt); den kosmischen Nihilismus (der der Verständlichkeit oder Werten der Natur an sich abschwört); und den existenziellen Nihilismus (der grundsätzlich die Bedeutung des Lebens negiert).141 Allen diesen Spielarten von Nihilismus gemein ist eine Haltung der Verneinung und Leugnung wesentlicher Aspekte menschlichen Lebens oder gesellschaftlicher Organisation. Insbesondere der politische Nihilismus stellt hintergründig durchaus eine erhebliche Motivation für etliche radikale politische Produzenten von Fake News und Desinformation dar – das Portal Breitbart News und sein langjähriger Herausgeber sowie nachmalige Trump-Chefstratege und gegenwärtige Politikberater Steve Bannon wären hierfür ein Beispiel.142 Für unseren Diskussionszusammenhang aber ist zunächst der von Crosby so betitelte epistemologische Nihilismus zu betrachten. Diese Spielart des Nihilismus ist mit der zeichen- und kommunikationstheoretischen Weltsicht des oben bereits eingeführten Konstruktivismus verwandt, derzufolge sich Wirklichkeit und Wahrheit, sofern diese denn überhaupt im Singular zu setzen sind, aus einer Übereinkunft der beteiligten Aktanten ergibt, also einem radikalen Wahrhaftigkeitsrelativismus. Die Bandbreite und die Macht der Vernunft sind hier stark beschnitten, denn Vernunft kann sich in dieser Perspektive eben nur innerhalb partikulärer Glaubens- oder Diskurssysteme entfalten. Die Verifizier- bzw. Falsifizierbarkeit von Argumenten ist somit nicht gegeben, da quasi jeder Aktant innerhalb seines Argumentationszusammenhangs Recht hat. Hieraus folgt aber auch, dass „all such systems are themselves ultimately arbitrary in the sense of being beyond rational criticism or support“143. Diese im wahrsten Wortsinne Willkürlichkeit des Räsonierens, eine Absage an die klassische Epistemologie, ist prominent bereits von Friedrich Nietzsche (zuerst 1887) analysiert worden. Er geht 141 Vgl. Crosby 1988, S. 9–36, hier bes. S. 35. 142 Vgl. Lewis 2018. 143 Crosby 1988, S. 18.
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davon aus, dass der Wille alles sei und alles menschliche Streben durchwehe. Die Welt sei ein Chaos widerstrebender Kräfte und Willen; das Leben manifestiere sich in einem „Hass gegen das Menschliche“, einer „Abscheu [...] vor der Vernunft selbst“144, mit der eine Abkehr vom Willen zur Wahrheit verbunden sei.145 Lieber wolle „der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen …“146 Damit ist in nietzscheanischer Interpretation die Wahrheit lügnerisch, da sie rein strategisch und somit ein destruktiver Verstoß gegen die Wahrhaftigkeit ist – und sich damit gegen das Leben an sich wendet.147 Hinter dem Nihilismus steckt in dieser Lesart also ein sich entblößender Wille zum Nichts (nihil). Dieser wurzelt gewissermaßen „in unserem Willen, im Leben Ordnung zu schaffen und es zu beherrschen“148. Doch indem sich dieser Herrschaftswille in ein teleologisches „Wozu“ umformen lässt, kann der Mensch durch das Fake die Versuchungen des ihm innewohnenden Lebensüberdrusses überwinden. Mit Nietzsche ausgedrückt: „Nur die Gaukelnummer der Umdeutung lässt sie als eine Sehnsucht nach dem Leben erscheinen.“149 Verschwörungstheorien, Fake News und andere Konstrukte ideologischen Kitsches sind im Kontext einer nihilistischen Sichtweise Ausdruck just dessen: paradoxe willentliche Aufführungen von lügnerischer Wahrheit, die das Leben in Frage stellen; die Betonung einer Welt ohne beständige Fakten und Sinn; Ausdruck einer negativen Sehnsucht nach der Beherrschbarkeit des eigentlich Unbeherrschbaren; kurz: ein Herrschaftsmittel.150 Die Produzenten dieser Herrschaftsmittel bedienen sich eines aktiven politischen Nihilismus, indem sie die Werte umwerten und dadurch einen „Willen zur Macht“ zum Ausdruck bringen.151 Mit ihren unwahren Botschaften und Bildern wollen sie den öffentlichen Diskursraum in ihrem Sinne umgestalten. Sie versuchen die Leere zu füllen, die die Bedeutungslosigkeit der Phänomene, das Jagen des „Phantoms der objektiven Wahrheit“, hinterlassen hat.152 Wenn wir die Produzenten von Fake News, Verschwörungstheorien und artverwandten Informations-Attrappen, sofern sie Privatleute (und nicht staatliche Propagandisten) sind, als „Enttäuschte“ begreifen, erscheinen sie uns als Menschen, die die reale ernsthafte Welt, die sie einst angenommen hatten, nunmehr zurückweisen und stattdessen die Bedeutungslosigkeit umarmen, „for in a world with no external authority the disappointed serious person prefers the annihilation of nihilism to the anxiety of freedom.“153 Es mag die Furcht vor den Zumutungen der zweiten, kosmopolitisierten Moderne und allen ihren Veränderungen und eben ihrer Freiheit sein, die die Enttäuschten antreibt, aktiv das Falsche in die Welt zu setzen, mit Konstrukten der 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153
Nietzsche 1988, S. 165. Vgl. ebd., S. 163. Ebd., S. 165, dort teils gesperrt. Vgl. Heinrich 2009, S. 89. Raffnsøe 2007, S. 123. Ebd., S. 125. Vgl. Crosby 1988, S. 19. Vgl. Nietzsche 1988, S. 161. Crosby 1988, S. 21. Gertz 2019, S. 100.
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Falschheit also an der Veränderung der Welt zu arbeiten und damit einen passiven Nihilismus der Trägheit hinter sich zu lassen. Dieses Veränderungsstreben ist ein gleichermaßen aggressives wie regressives: Indem die Verfälscher der Welt mit der Freiheit konfrontiert werden – der eigenen wie auch mit der Freiheit anderer Menschen –, stehen sie einer Verantwortung gegenüber, und diese Verantwortung birgt immer auch Furcht in sich. Diese Facetten menschlicher Existenz negieren die Protagonisten der Falschheit durch ihre Umwertung der Werte und bringen sich damit in einen quasi kindhaften Zustand zurück: einen Zustand vor der Verantwortung, aktualisiert als einen der Verantwortungslosigkeit und Unfreiheit.154 Dieses regressive Muster gilt im Übrigen auch für das ästhetische Fake: „Kindliche Unschuld ist ein Zentralwert des Kitsches.“155 Für eine Gesellschaft, die sich den Werten der Moderne und Aufklärung verpflichtet fühlt, ist diese aktive nihilistische Umwertung in Form einer Regression selbstredend höchst problematisch. Wenn sie sich nicht mehr umfassend darauf verständigen kann, was wahr ist, ist dies ein „Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften“156. Für die Distributoren solcher Desinformation – die Social-Media-Plattformen bzw. Tech-Unternehmen als Intermediäre – sind diese Botschaften nichts als Schmiermittel ihres Geschäftsmodells. Datenproduktion dieser Art führt zu gesteigerter Interaktion zwischen Nutzerinnen und Nutzern, also wiederum zu mehr Daten. Letztere können im Rahmen eines sehr umfassenden Systems des Überwachungskapitalismus verknüpft, ausgewertet und neben anderen Zwecken für gezielte Werbeadressierung und Verhaltensvorhersagen verwendet werden.157 Indem die großen Tech-Konzerne diese Geschäftsmodelle verfolgen, werden sie, politisch betrachtet, zu den Aufsehern und Beherrschern der Online- wie zunehmend auch Offline-Lebensführung sehr breiter Bevölkerungskreise.158 Im Sinne eines aktiven Nihilismus werden sie zugleich zu „masters of radical indifference“159, die sich den Kollektivismus vieler Menschen – ihre Neigung zur „Herdenbildung“160 – zunutze machen. Herdenbildung erscheint Shoshana Zuboff zufolge unter dem Namen „hive collective“ (Bienenstockkollektiv) nachgerade als ein wesentlicher Teil des VorhersageImperativs des Überwachungskapitalismus, den wir in diesem Zuge als politischen Nihilismus identifizieren können: For the sake of its own commercial success, surveillance capitalism aims us toward the hive collective. This privatized instrumentarian social order is a new form of collectivism in which it is the market, not the state, which concentrates both knowledge and freedom within its domain.161
Dieser Herrschaftsansatz ist das Ende jener Reziprozität, die bisher Grundlage des Modells liberaler Demokratie im Kapitalismus war. Der Nationalstaat, wie wir ihn 154 155 156 157 158 159 160 161
Vgl. Gertz 2019, S. 101. Gelfert 2000, S. 68. Butter 2018, S. 233. Vgl. grundlegend Zuboff 2019; Nassehi 2019, S. 122ff. Vgl. exemplarisch zum Alltagseinfluss des Messengerdienstes WhatsApp Bachmann et al. 2019. Zuboff 2019, S. 504ff. Nietzsche 1988, S. 136f.; im Original: „Heerdenbildung“. Zuboff 2019, S. 504.
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bisher kannten und in dessen strukturellem Rahmen die Welt nach wie vor organisiert scheint, tritt allmählich hinter die Macht der privaten Tech-Konzerne, ihrer digitalen Plattformen und der von ihnen ohne demokratische Kontrolle selbst gesetzten Regeln, die die menschliche Autonomie in Frage stellen. User bekommen über ihre news feeds seriöse, journalistisch recherchierte Artikel scheinbar gleichberechtigt angeboten neben ‚bunten‘ Tratsch-und-Klatsch-Geschichten der Boulevardmedien oder gezielt manipulierter Desinformation aus zweifelhafter Quelle, solange nur genügend ‚Freunde‘ diese gelesen, geliked oder kommentiert haben. „Und wer durch gezielte datenförmige Infizierung von Diskursen Themen setzen kann, unterläuft den Machtkreislauf des politischen Systems.“162 Dies hat Auswirkungen auf die Weltsicht von Bürgerinnen und Bürgern, vielleicht sogar auf ihre Wahlentscheidungen.163 Die Interaktionen der User, ihre datafizierten Verhaltensspuren, dienen den bereits geschilderten Verwertungszusammenhängen des Überwachungskapitalismus. An die Stelle organisierter, rechenschaftspflichtiger Politik mit kodifizierten Regeln tritt so eine Art technologische Priesterkaste, die die Produktion, den Nachschub und die Verwertung der Daten auf ihren Plattformen eigenmächtig lenkt: „a privileged priesthood of ‘tuners’ rules the connected hive, cultivating it as a source of continuous raw-material supply.“164 Ohne jeden expliziten Bezug zu Nietzsche zeichnet Zuboff damit dessen theoretische Umrisse des Nihilismus nach, demzufolge eine Kaste „asketischer Priester“ die „Herdenbildung“ der Menschen für Zwecke ihres „Willens zur Macht“ ausnutze.165 Diese Priesterkaste sind in unserem Argumentationszusammenhang die Tech-Konzerne Alphabet/Google, Apple, Facebook usw. mit ihren oft quasi-religiös anmutenden Heilsversprechen und Produktinszenierungen166 wie auch einzelne als Unternehmensführer oder Publizisten tätige „Tech-Evangelisten“167, die den immerwährenden Fortschritt und das nächste technische Update predigen. Deren „Wille zur Macht“ findet sich in den Industriegesellschaften der Gegenwart in einer politisch-ökonomischen Lesart als Narrativ der Innovation bzw. Disruption wieder. Disruption verstehen wir als Prozess fortlaufender Störung mit dem Endziel der Zerstörung eines Zustands, aus dem eine (tatsächliche oder vorgebliche) Innovation resultiert.168 Die Mitglieder der „Herde“ – die Social-Media-User – sind auf die „Priester“ der Disruption angewiesen, denn über deren Plattformen werden sie mit einem kontinuierlichen Strom von desinformativen „Nachrichten“ und Spaß versorgt, die Sozialität versprechen:
162 163 164 165 166 167
Nassehi 2019, S. 136. Im Detail hierzu Stark et al. 2018. Zuboff 2019, S. 505. Nietzsche 1988, S. 136f.; Nietzsche 1994, S. 118. Vgl. Gertz 2018, S. 137ff.; Lanier 2013, S. 124ff.; pointiert auch Lobe 2019. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Publikation Kelly 2016. In seinem charismatischen Auftreten geradezu legendär geworden ist der einstige CEO von Apple, Steve Jobs. 168 Vgl. zu technologischer Disruption Taplin 2017, S. 19ff.
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Facebook is filled with baby photos and cat photos because users are most likely to ‚Like‘ baby photos and cat photos. [...] Facebook promotes fun, and users post what is fun, because on Facebook fun equals increased likelihood of engagement.169
Es geht um die Produktion von Interaktionsdaten. Die Inhalte sind vergleichsweise nachrangig – wichtig ist ihre Zuordenbarkeit zu einem Aggregat von Usern, deren kitschige „Ausschweifung des Gefühls“170 (Babyfotos, Katzenvideos, Verschwörungsfantasien usw.) datenökonomisch ausgebeutet werden kann. Die Babyfotos und Katzenvideos müssen nicht einmal unwahr sein, um „falsch“ zu sein. Sie ermöglichen aber den Verschwörungsfantasien und verwandten Technobildern, auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden, als seien sie ebenso „wahr“. Resultat ist eine Disruption der Wahrheit, der Zug um Zug die Grundlagen entzogen werden. In einer metaphysisch-ethischen Lesart besagt diese Umwertung, dass Wirklichkeit und Werte letztlich nichtige Fiktionen sind.171 Dies ist das Kernnarrativ der bereits angesprochenen Postmoderne bzw. post-truth. Die Welt scheint angesichts dieser Anwürfe aus den Fugen geraten. Abbildung 2 fasst die mehrschichtigen Disruptionen von Desinformation im Kontext des Nihilismus zusammen.
Abb. 2: Desinformation und ihre Disruptionen im Kontext des Nihilismus
Die Persistenz der Narrative der post-truth ist bemerkenswert. In ihnen gedeiht der klebrige Kitsch der Desinformation und Nachwahrheit. Für die Produzenten dieser Informations-Attrappen ist die Frage nach dem „Wozu“ leicht zu beantworten und mit dem propagandistischen Telos ihres Bullshits zu erklären. Sie wollen die ohnehin Überzeugten in der diskursiven Blase ihrer selbstreferentiellen Überzeugungen halten und Zweifler auf ihre Seite ziehen. Für die Intermediäre, also die Tech-Kon169 Gertz 2018, S. 155. 170 Nietzsche 1988, S. 92ff. und 137ff. 171 Vgl. Lotz 1976, S. 269.
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zerne und ihre vielfältigen Distributionsplattformen für Desinformationen, ist der ökonomische Zweck im Sinne ihrer Geschäftsmodelle an erster Stelle ihrer Zielorientierung zu nennen, gefolgt von ihrer eher hintergründig aufscheinenden ideologischen Orientierung an Macht und Disruption.172 Auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer hingegen ist oft nur ein Schulterzucken zu konstatieren, wenn sie auf die Nachwahrheit der Desinformationen und verschwörungstheoretischen Narrative stoßen: „[...] all we seem to be able to say is that ‘Shit happens’“173 – bzw. frei nach Frankfurt (2005) umformuliert: Bullshit happens. Diese Widerspiegelung von Machtlosigkeit ist Ausdruck von passivem Nihilismus. Er kann gesellschaftlich und demokratietheoretisch nicht zufriedenstellend sein und fordert eine Haltung ein, damit die Falschheit von heute nicht das zukünftige Einfallstor für noch systematischere Propaganda wird, die einige Staaten wie auch ideologisch motivierte Organisationen auf der internationalen Bühne derzeit auffallend intensivieren.174 Abschließend ist also zu fragen, wie die Gesellschaft mit der beschriebenen klebrigen Kitschigkeit der Desinformation, die so penetrant, dominant und disruptiv werden konnte, umgehen kann. 8 CONCLUSIO: WAS TUN? Die Menschen im industrialisierten Norden bzw. liberalen Westen leben grosso modo relativ gut. Man kann sagen: Modernisierung, Demokratisierung und Digitalisierung haben das kollektive Lebensglück und nicht zuletzt die Bequemlichkeit alles in allem erhöht. Wir haben uns daran gewöhnt und nehmen diesen Zivilisationsstand – im globalen und historischen Vergleich ist er einzigartig – quasi als gegeben hin. Das Internet mit seiner Multiplizierung von medialen Angeboten trifft auf eine Gesellschaft, „die sich an kommunikative Verflüssigung ebenso gewöhnt hat wie an die ästhetische Selbstdarstellung“175. Dies mag ein Nährboden für den passiven Nihilismus sein, in dem eine Art Herdenmentalität den diskursiven Situationsdefinitionen und Durchsetzungsbestrebungen von Wahrheitsverächtern einerseits und von profitorientierten Intermediären andererseits wenig entgegensetzt. Im Sinne des Nihilismus interpretiert, ist hierbei eine gewisse Narkotisierung nicht von der Hand zu weisen: als ein Zustand der selbstverleugnenden Betäubung. Wenn letztere ein „Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen Schmerz und der Langeweile”176 der glücklichen Bequemlichkeit ist, wird diese Phase der gesellschaftlichen Entwicklung aber wohl nicht lange gutgehen:
172 Vgl. hierzu umfassend Zuboff 2019. 173 Keeley 1999, S. 125. 174 Vgl. zu China Strittmatter 2018; zu Russland Paul/Matthews 2020; zu politischem Extremismus Ebner 2019; zu Haltung im digitalen Zeitalter allgemein einführend Zöllner 2019b. 175 Nassehi 2019, S. 283. 176 Nietzsche 1988, S. 92.
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Perhaps we may be, for a time, blissfully ignorant or happily deceived, and in those ways [...] avoid being especially upset or disturbed. In the end, however, our ignorance and our false beliefs are likely just to make our circumstances worse.177
Das Problem, das es zu lösen gilt, ist also die Beantwortung der Frage, ob wir den Willen zur Wahrheit verloren haben oder die Vorstellung dessen, was Wahrheit ist.178 Der Bullshit hat die Lüge normalisiert. „One of the most salient features of our culture is that there is so much bullshit.“179 Möglicherweise hat unsere Gesellschaft gar eine Freude am Falschen entwickelt, was einer oben beschriebenen kindlichen Absage an das Prinzip Verantwortung gleichkäme. Können wir uns damit abfinden? Mit Nolen Gertz ließe sich vor diesem Hintergrund eine Lanze brechen für einen positiven Nihilismus. Denn wenn Nihilismus auf der Umwertung aller Werte beruht, kann diese Denkrichtung sowohl die Grundlage sein für die Möglichkeit, Werte zu hinterfragen, als auch nachgerade die Basis sein für die Pflicht hierzu: „To question our values is to actively repudiate the taken-for-granted nature of our values [...].“180 Es gilt, die oft so unreflektierte und nicht zuletzt bequeme und vielleicht sogar unterhaltsame Haltung der Akzeptanz der Falschheit gegenüber zu durchbrechen, wie sie uns in der (Netz-)Öffentlichkeit so mannigfach begegnet. Das Schulterzucken angesichts der individuell gefühlten Machtlosigkeit ist deren Kernproblem. Die Herausforderung der Desinformation nach der Wahrheit ist somit, dass sie uns zwingt, uns zu entscheiden: zwischen einem Nihilismus, der uns die Welt bestenfalls skeptisch und im schlimmsten Fall als Falschheit erfahren lässt, und dem Absurdismus einer teils irrational und im Kern bedeutungslos gewordenen, vor allem aber zunehmend schwer zu greifenden Welt.181 Fake News und ihre Verwandten sind ja keineswegs bloß die Antipoden einer demokratischen pluralen Gesellschaft, sondern auch ihr Produkt: [...] it is the manipulation of new technologies by the same interests that have always sought to manipulate information to their own ends. It is the democratisation of propaganda, in that ever more actors can now play the role of propagandist.182
Wir müssen also lernen, auch mit dem Widerspruch dieser Art von Freiheit auszukommen. Wir können diese Freiheit gestalten, müssen aber auf einer normativen Ebene Ziele formulieren: Wollen wir eine problemfreie Welt schaffen (d. h. eine der Vermeidung von problematischen und unerwünschten Interaktionen und Erfahrungen) oder eine reflexionsfreie Welt (mit einer Vermeidung von problematischen und unerwünschten Fragen)?183 Die Problemfreiheit wäre als eine realisierte Utopie zu identifizieren. Sie kann kaum erstrebenswert sein, denn sie würde zu einem Stillstand der gesellschaftlichen Entwicklung führen. Die Freiheit von Reflexion wäre 177 178 179 180 181 182 183
Frankfurt 2006, S. 59f. Vgl. Gertz 2018, S. 17ff. Frankfurt 2005, S. 1. Gertz 2018, S. 23. Nach Keeley 1999, S. 125. Bridle 2018, S. 234. Nach Gertz 2018, S. ix.
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hingegen eine Katastrophe. Sie stünde nicht zuletzt für eine Absage an jede Form von Ethik. Vonnöten ist also ein aktives Aufbegehren. Desinformation, Fake News und Verschwörungstheorien richten sich, nihilistisch gesprochen, gegen das Erblühen des Lebens; eine Auseinandersetzung mit ihrer Falschheit ist hingegen im Sinne eines aktiven Nihilismus eine Bejahung des Lebens. Eine lebendige Gesellschaft muss diese Auseinandersetzung führen, um nicht in ein zweites ‚dunkles Zeitalter‘ zu verfallen, wie es James Bridle skizziert: ein Zeitalter, in dem ein profitables Überangebot an Informationen und die Pluralität von Weltanschauungen keine kohärente, konsensuale Realität mehr erschaffen, sondern „one riven by fundamentalist insistence on simplistic narratives, conspiracy theories, and post-factual politics“ und damit den Wert des Wissens – mehr noch: das Wissen an sich – zerstören.184 Diesem dystopischen Szenario muss sich jede Gesellschaft entgegenstellen, indem sie die Herausforderung des negativen Nihilismus annimmt. Wir werden uns also wohl weiter mit der Falschheit auseinandersetzen müssen, mit der Desinformation, mit dem Kitsch, mit der Disruption – und mit der Absurdität alldessen. Die an Silvester „Allahu akhbar“ rufenden Brandstifter von Dortmund, die Breitbart News so farbenfroh erfunden hat, sind ein Märchen aus dunkler Nacht – immerhin dies lässt sich stimmig belegen. Das von Crosby (1988) so genau analysierte und systematisierte „specter of the absurd“, der moderne Nihilismus, ist gewissermaßen just das Gespenst, das die Shakespeare’sche Figur des Prinzen Hamlet heimsucht und dessen Suche nach der Wahrheit und nach einer Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit der Welt. „Der Geist, den ich gesehen habe, kann ein Teufel sein, und der Teufel ist imstande, in eine erfreuliche Gestalt zu schlüpfen [...]“185, doch Hamlet nimmt den Kampf auf. Einen konstruktiven Ansatz schlägt Michael Butter vor, indem er als Gegengewicht zur Duldung, Akzeptanz und Ausbreitung von Verschwörungstheorien auf Rezipientenseite eine umfassende „Gesellschaftskompetenz“ (social literacy) einfordert, die als langfristige Bildungsaufgabe zudem „Medienkompetenz“ (media literacy) und „Geschichtskompetenz“ (historical literacy) einschließt.186 In ähnlicher Ausrichtung legt Bernhard Debatin Vorschläge für auszubildende „Bürgerkompetenzen“ (einschließlich „demokratischer Kompetenz“) und „technologiereflexive Kompetenzen“ (einschließlich „Medienkompetenz“) dar.187 Dies ist prinzipiell zu begrüßen, doch ist sich auch Butter bewusst, „dass man wirklich überzeugten Verschwörungstheoretikern durch Argumente nicht beikommen kann“ und dass Bildung kein Allheilmittel ist.188 Jansen et al. schlagen an Handlungsempfehlungen für Rezipientinnen und Rezipienten u. a. Plausibilitätschecks, das Verlassen der eigenen Filterblase und das Melden von Desinformationen vor, für Medienunterneh184 Bridle 2018, S. 11. Dies berührt durchaus auch Wissenschaft als eine Definitionsinstanz für Wissen; vgl. Gunkel 2019 mit Blick auf die Medienwissenschaft. 185 Hamlet, Akt 2, Szene 2, Zeile 593ff. Im Original: „The spirit that I have seen / May be a devil, and the devil hath power / T’assume a pleasing shape [...].“ 186 Butter 2018, S. 229. 187 Debatin 2012, S. 86ff. Die Medienkompetenz, die Butter und Debatin vorschlagen, ist auch im übergeordneten Kontext der Digitalen Ethik zu sehen, wie sie Grimm et al. 2019 darlegen. 188 Butter 2018, S. 227.
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men erhöhte Sorgfalt und Sachlichkeit wie auch das bewusste Setzen von Gegennarrativen, für Plattformbetreiber Mechanismen der freiwilligen Selbstkontrolle und Blockierungen bösartigen Contents sowie für Politik und Gesellschaft wiederum weitreichende Bildungsaufgaben zur Förderung der Medienkompetenz und verbesserte Durchsetzungsmöglichkeiten von juristischen Normen.189 Journalistische Richtigstellungen190 können bei der Bekämpfung von Fehl- und Falschinformation positive Auswirkungen haben, stehen aber zugleich vor dem dialektischen Problem, den wahrheitswidrigen Aussagen Dritter einen erneuten publizistischen Resonanzraum zu geben, sie also möglicherweise teilweise noch zu verstärken. Ein Durchbrechen von Echokammern kann sogar argumentative Polarisierungen vertiefen.191 Kompetenzen in der Einschätzung solcher Sachverhalte wie auch im umfassenden Fact-Checking192 sind allerdings in der Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten wie auch im Alltag noch stärker zu berücksichtigen.193 Alles in allem sind also Bildungsansätze in den Blick zu nehmen. Sie dürften gesellschaftlich dringend geboten sein, wie etwa die Ergebnisse der 2019 vorgestellten PISA-Studie zeigen, derzufolge jeder fünfte 15 Jahre alte Schüler in Deutschland nicht richtig lesen kann, die Fähigkeit zum Verständnis von komplexen Sachverhalten bei vielen nur unzureichend ausgeprägt ist und nicht zuletzt auch die Unterscheidungskompetenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion.194 In diesem Zusammenhang ist die Ausbildung von kritischem Denken und mit ihm „die Stärkung ganz grundlegender analytischer Denkfähigkeiten“ von eminenter Bedeutung.195 Doch werden auch diese legitimen Anstrengungen ihre Grenzen finden. Die längst normal erscheinende permanente „Relationalität“ der vernetzten Webnutzer, die möglicherweise bereits einer kulturellen Prägung gleichkommt, macht es enorm schwierig, die Falschheit mit klassisch „linearen“ Argumentationsstrukturen zu widerlegen. Wir stehen also erst am Anfang einer Debatte und eines gesellschaftlichen Lernprozesses, der weit in die Zukunft weist. In philosophischer Perspektive ist zu fragen, ob eine Übertragung der Verantwortung auf staatliche Institutionen der Bildungspflege – also letztlich die Abgabe individueller Verantwortung – nicht wiederum Ausdruck eines persönlichen Nihilismus ist. Nichts ist für das Individuum bequemer, als selbst nichts zu machen. Und selbstverständlich verschwindet die Falschheit durch Bildungsmaßnahmen nicht aus den öffentlichen Diskursen. Das Entfernen von Fake News, Desinformation und Verschwörungstheorien aus sozialen Online-Netzwerken ist enorm komplex und schwierig, denn wer entscheidet, was wie und wann entfernt oder blockiert werden soll, bleibt weitgehend unklar. Oft macht es die Plattformbetreiber am Ende zu quasi amtlichen Instanzen bzw. Erfüllungsgehilfen – was aber deren Geschäfts-
189 190 191 192 193 194 195
Vgl. Jansen et al. 2020. Vgl. Radechovsky et al. 2019. Vgl. Bail et al. 2018. Vgl. Hameleers 2019. Vgl. Löwisch 2020, S. 21ff.; Nocun/Lamberty 2020, S. 268ff. Vgl. Reiss et al. 2019, S. 21ff.; Schmoll 2019. Jaster/Lanius 2019, S. 106.
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modell entgegenläuft und viele neue verfassungsrechtliche Fragen aufwirft.196 Bisher konstatieren Aufsichtbehörden mit Blick auf die Selbstregulierung der Intermediäre vor allem ein „Systemversagen“197. Die Falschheit wird bleiben, so ließe sich realistisch-skeptisch formulieren, denn sie ist längst in die Gewohnheiten der Menschen eingeschrieben, in ihren Medienkonsum, in ihr Klickverhalten, in ihre Datenproduktion, allen bisherigen Aufklärungs- und Bildungsbemühungen zum Trotz. Das Leben in der Digitalität ist letzten Endes nicht nur bequem, sondern mit seiner zu „orgies of clicking“198 mutierten „Auschweifung des Gefühls“, das als „Mittel der Betäubung“ des Schmerzes über die Wahrheitswidrigkeit der „Täuschung“ dient, äußerst unterhaltsam und attraktiv.199 Es ist also die in Falschheit und Kitsch angelegte Herdenmentalität im Nietzsche’schen Sinne, die Existenzform als „Follower“ und als auszubeutendes Datenobjekt, die anstrengungslos ist und auf den ersten Blick kein Nachdenken verlangt. So bleibt am Ende nur der Verweis darauf, dass es die der (ungleich anstrengenderen) Freiheit verpflichtete, offene Gesellschaft im Sinne von Karl R. Popper (zuerst 1945) ist, die sich bisher als die historisch erfolgreichste Organisationsform von Menschen erwiesen hat. Im Einklang mit dieser Erkenntnis wäre als Ziel zu formulieren, dafür zu sorgen, dass die Produzenten und Distributoren von regressiven Verschwörungstheorien und von Falschheit, die Feinde der offenen Gesellschaft also, am Ende nicht erfolgreich sind.200 Von daher gilt es Narrative zu identifizieren, die vom immensen Erfolg der Offenheit und ihrer Zukunftsorientierung erzählen. Zu diesen Narrativen gehört auch die Weitererzählung und Fortentwicklung eines an Freiheit orientierten Ethik- und Bildungsansatzes, wie er in der Ära der Aufklärung begonnen wurde,201 aber unter dem gegenwärtigen Erstarken des politischen Populismus, der Dominanz der Internet-Intermediäre und einer zunehmenden Abkehr von Wahrheitsverpflichtungen gerade eine Krise durchlebt. BIBLIOGRAFIE Allen, Tim/Seaton, Jean (Eds.) (1999): The media of conflict: War reporting and representations of ethnic violence. London/New York: Zed Books. Andersen, Lene Rachel (2018): Will technological development lead to authoritarianism? On the necessity of Bildung. In: Grimm, Petra/Zöllner, Oliver (Hrsg.): Mensch – Maschine. Ethische Sichtweisen auf ein Spannungsverhältnis (Medienethik, Bd. 17). Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 143–156. Andersen, Lene Rachel/Björkman, Tomas (2017): The Nordic secret: A European story of beauty and freedom. Stockholm: Fri Tanke. 196 Vgl. Wieduwilt 2020. 197 Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, zitiert nach Eckert et al. 2020. 198 Gertz 2018, S. 162ff. 199 Nietzsche 1988, S. 137 und 151. 200 Vgl. Popper 2003, S. 112. 201 Vgl. Andersen 2018, S. 154.
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PRIVATHEIT ALS LUXUSGUT IN DER DEMOKRATIE? Julia Maria Mönig
Wenn mein Krankenversicherungbeitrag davon abhängt, wie oft ich ins FitnessStudio gehe, mein Autoversicherungstarif davon, wie ich fahre, und meine Einkäufe preiswerter werden, je mehr ich bei einem Händler einkaufe, so können diese Praktiken als Methoden der Kundenbindung betrachtet werden. Problematisch wird es, wenn ich diese Vorteile durch die Preisgabe meiner Daten erlange und ein Bewegungsprofil meiner Tätigkeiten erstellt wird, welches wiederum dafür verwendet werden kann, mein zukünftiges (Kauf-)Verhalten vorherzusagen. Waren in der Vergangenheit aufwändige Markt-Analysen notwendig, um Werbung zielgruppengenauer zuzuschneiden (Bauman/Lyon 2013), so liefern wir heute die Datenbasis rein freiwillig durch unser Online-(Such-)Verhalten. 1 PRIVILEGIERTHEIT UND PRIVATHEITSSCHUTZ Nicht erst seit Shoshana Zuboffs viel beachtetem Werk The Age of Surveillance Capitalism (2019) ist bekannt, dass Daten kommodifiziert werden und es einen Markt für Informationen über Internetnutzerinnen und -nutzer gibt, wobei den Enduserinnen und -usern teilweise unklar zu sein scheint, wie sich der Wert von Daten berechnen soll (vgl. zu den Methoden OECD 2013). Ob Daten das „neue Öl“ sind (vgl. z. B. Albrecht 2013) oder ich ein Eigentumsrecht an meinen persönlichen Daten habe, ist umstritten (Papier 2012). Bei gleichzeitigem Wunsch nach personalisierten Informationen, z. B. bei der Darstellung von Nachrichten oder Werbung und Rabatten beim Einkauf, möchten viele Menschen Informationen über sich schützen. Dabei kommt es häufig vor, dass der erwünschte Schutz kosten würde. Die scheinbar kostenlosen Angebote sind jedoch auch nicht gratis, sondern erheben im Hintergrund die Daten der Nutzenden. Eine Alternative hierzu kostet häufig direkt oder indirekt. Wenn eine Person beispielsweise aus Datenschutzgründen darauf verzichtet, eine Treuekarte eines Geschäftes zu benutzen, zahlt sie mehr, als wenn sie z. B. Rabatte nutzen könnte (z. B. bei der in Deutschland weitverbreiteten Payback-Karte). Was hat dieser persönliche Aspekt nun mit Demokratie zu tun? Privatheit wird in der Demokratie als schützenswertes Gut betrachtet. Hierbei spielt die elektronische Datenverarbeitung eine große Rolle. Dies wurde beispielsweise vom deutschen Bundesverfassungsgericht bei der Formulierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bereits
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1983 betont (BVerfGE 1983): Es ist ein Unterschied, ob Daten von Menschen oder Maschinen ausgelesen und verarbeitet werden.1 In Zeiten von Onlineshopping, Treuemeilen und Payback-Karten ist meine informationelle Selbstbestimmung heutzutage offensichtlich ein Luxusgut. Es ist vom Geld und vom Zugang zu weiteren Ressourcen wie Bildung abhängig, ob ich es mir leisten kann, meine Daten nicht für Vergünstigungen an Unternehmen weiterzugeben. Kann aus diesen Beispielen deshalb gefolgert werden, dass der Schutz meiner Privatheit zur Luxusangelegenheit geworden ist? Luxus wird dabei verstanden als Zugang zu etwas, das nicht lebensnotwendig ist (der blaue reiter 2015). Auf den ersten Blick macht dies stutzig, wurde doch historisch kritisiert, dass nur den Wenigen der Zugang zur Öffentlichkeit gewährt wurde und die Vielen von der Politik ausgeschlossen und im Privaten verortet blieben. Diese Feststellung überrascht unter Berücksichtigung der Philosophiegeschichte weniger, wenn wir bedenken, dass im Liberalismus Eigentumsschutz gefordert wurde als Sphäre, in die der Staat nicht eingreifen darf. Eigentum war dabei Voraussetzung für die Teilhabe am öffentlichen Leben. Diese Beobachtungen verdeutlichen auch unterschiedliche Bedeutungsdimensionen von Privatheit. Außerdem handelt es sich um verschiedene Akteure, vor deren Eingriff geschützt werde muss bzw. die potenziell auf das Private zugreifen könnten: Unternehmen vs. Staat.2 Betrachten wir jüngere Entwicklungen, so fällt auf, dass weitere Forderungen nach Privatheitsschutz ebenfalls mit „Oberschicht-Problemen“ in Zusammenhang stehen. So wurde 1890 das „right to be let alone“ (Warren/Brandeis) postuliert. Heute wird dieses als Beginn der Thematisierung der informationellen Privatheit angesehen (Weichert 2011). Formuliert wurde es offensichtlich aufgrund der Verbreitung von Fotos der Familie Samuel D. Warrens, der eine Senatorentochter geheiratet hatte, in der Presse (Gajda 2007).3 Im 21. Jahrhundert sind ebenfalls eher reichere Menschen von Privatheitsverletzungen betroffen, weil sie tendenziell mehr Kauftransaktionen tätigen und mehr Reisen unternehmen, bei denen beispielsweise Kreditkarten- und Passagierdaten gespeichert werden. Zugleich zeichnet sich aber ab, dass es mehr und mehr zu einem Luxus wird, seine Privatheit schützen zu können (vgl. IDE 2015). Neben den monetären Mitteln bedarf es aber auch des notwendigen Wissens, um seine Daten schützen. Ein Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und der vorhandenen „privacy literacy“ bzw. dem „privacy knowledge“ kann dabei empirisch nachgewiesen werden (Trepte et al. 2015: 342).4 Hasselbalch und Tranberg betonen ebenfalls den elitären Charakter von Privatheitsschutz, zeichnen in dieser Beziehung jedoch ein Bild, das es im Vergleich mit ökologischen 1 2 3 4
Nun scheint die Automatisierung noch einen Schritt weiter zu sein. Beim sog. „automated decisionmaking“ dient die Technik nicht nur der Unterstützung des Menschen, sondern kann sogar ‚Entscheidungen‘ treffen. Als weitere Akteure und Akteurinnen können andere Menschen genannt werden. In liberaldemokratischen Gesellschaften wird i.d.R. gegen alle drei potenziell privatheitsverletzenden Subjekte der Staat als Garant für den Privatheitsschutz gesehen. Beate Rössler (2001: 13) bezeichnet Warren und Brandeis als VIPs, Serge Gutwirth (2002: 6) betont „their elitist problem“. Als besonders schützenswert erweisen sich hier Minderjährige, die ein Drittel der Internetnutzerinnen und -nutzer ausmachen (Ammicht Quinn 2020).
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Themen ihrer Meinung nach möglich macht, dass selbst wenn zu Beginn dieser Prozesse, an dem die Menschheit gerade stehe, Privatheit für die Elite sei, sich dies im Laufe der Zeit jedoch ändern werde, wenn wir uns darauf besönnen, dass nicht nur Individuen, sondern auch Firmen5 und Regierungen Verantwortung haben: In the beginning, privacy will be for the elite. It will be the highly educated, well-off, wellknown and powerful that will pay for their privacy and data control, because they either need it more urgently or simply because they can – be it tools helping them protect their personal data or services giving them control over that data. (Hasselbalch/Tranberg 2016: 190f.)
Diese These wirft Fragen der Gerechtigkeit auf, denn wenn sich etwas, das eigentlich ein (Grund-)Recht sein sollte, als Luxus erweist,6 drängt sich die Vermutung auf, dass Ungerechtigkeit besteht, eine ungerechte Verteilung von Ressourcen vorliegt. In den „Surveillance Studies“ wird die Verbindung zwischen weniger privilegierten Teilen der Bevölkerung und einem höheren Grad an Überwachung seit Langem diskutiert (Lyon 2015: vi). Heutzutage scheint der Aufschrei gegen Überwachung allerdings lauter zu werden, da Überwachung nun eben auch die „mainstream society“ betrifft und nicht mehr nur die marginalisierten Teile der Gesellschaft. Überwachung scheint einer „Demokratisierung“ zu unterliegen (Franks 2015). Die hier festgestellte Konvergenz zwischen Privatheitsschutz und Luxus bzw. privilegiertem Status (Katell 2015) erinnert auch an Diskussionen um den Digital Divide (Council of Economic Advisers 2015), der messbar ist, wenn z. B. die Beziehung zwischen Internetnutzungsverhalten und Haushaltseinkommen betrachtet wird. Philosophiehistorisch haben die meisten Theoretiker, die über Gerechtigkeit nachgedacht haben, auch über „Privatheit“ reflektiert, wenn auch teilweise avant la lettre. Seit der Neuzeit wurden diese beiden Schlüsselkonzepte politischer Theorie zumeist im Zusammenhang mit Freiheit von staatlichem Einfluss gedacht, so etwa in den Werken von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Mill und Hegel. Dabei gilt für Privatheit, was Isaiah Berlin (1995: 204) auch über die Freiheit sagt: Es ist nicht bloß das „Fehlen jeglicher Einschränkung“, etwa des Zugriffs der Regierungsgewalt auf die private Sphäre, da zunächst Grundbedürfnisse gedeckt sein müssen, um von Privatheit profitieren zu können. Norberto Bobbio (1989: 8f.) argumentiert, dass das Private der Ort von kommutativer, die Öffentlichkeit hingegen der Ort distributiver Gerechtigkeit sei, gibt jedoch zu, dass es Ausnahmen hiervon gäbe. Die beschriebenen Probleme können von unterschiedlichen Perspektiven aus betrachtet werden: Wie die feministische Kritik auch für Gerechtigkeitsfragen feststellt, scheint Privatheit das Privileg weißer, reicher, männlicher Bürger gewesen zu sein. Der Slogan, dass das Persönliche bzw. das Private politisch sei, sollte ermög5
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Im Falle von Google wird dabei mit dem Vokabular der Privatheitsschützerinnen und -schützer operiert: Hatte der damalige Chief Executive Officer (CEO) Eric Schmidt 2009 noch die „Nichts zu verbergen, nichts zu befürchten“-Logik angewendet (Huffpost 2010), betonte CEO Sundar Pichai im Mai 2019, „[...] privacy cannot be a luxury good offered only to people who can afford to buy premium products and services. Privacy must be equally available to everyone in the world“ – und ist dabei davon überzeugt, dass es mit Google-Produkten möglich sei, seine Privatheit zu schützen. Vgl. auch die Ausführungen von Heiner Koch (2014a: 132) über den Zusammenhang zwischen Sicherheit, Gerechtigkeit und Luxus.
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lichen, z. B. gegen häusliche Gewalt vorgehen zu können, beinhaltete aber auch eine Forderung nach Gerechtigkeit und Autonomie, der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können (vgl. z. B. Nagl-Docekal 2008), berührt also eine dezisionale Ebene. In Bezug auf technische Aspekte und informationelle Privatheit kann es allerdings vorkommen, dass eine Person mit mehr Geld und Zugang zu anderen Ressourcen über mehr technische Geräte verfügt. Insofern wäre sie in Zeiten von Ubiquitous Computing und dem Internet der Dinge mehr Privatheitsverletzungen ausgeliefert, da sie ständig Gebrauchsgegenstände benutzt und mit sich führt, die Daten aufzeichnen, speichern, dem Hersteller übermitteln und von diesem dann ausgewertet werden (können). Ein Mensch mit weniger Geld ist hingegen eventuell angewiesen auf Rabattaktionen, z. B. durch Treuekarten eines Geschäftes. Bei diesen wird das Kaufverhalten ausgewertet, und Kundinnen und Kunden tauschen gleichsam ihre Daten gegen Vergünstigungen. Es kann auch vorkommen, dass ein Mensch wegen seines Bezahlverhaltens oder schlicht aufgrund seines Wohnortes durch „Scoring“ für kreditunwürdig gehalten wird und z. B. im Onlineversandhandel nichts bestellen kann (Degeling 2014). Die Frage nach Selbstdatenschutz spielt dabei eine Rolle hinsichtlich potenzieller und tatsächlicher Möglichkeiten, seine eigenen Daten schützen zu können (Karaboga et al. 2014). Auch informierte Entscheidungen treffen zu können, hängt vom Zugang zu Bildung ab. Dabei muss der bessere Schutz der eigenen Privatsphäre nicht teuer sein, wenn etwa im informationellen Bereich auf kostenlose freie Software zurückgegriffen wird, bei der die Offenlegung des Quellcodes als Garant für gesteigerte Privatheit dient, da sichtbar wird, was mit den eingegebenen Daten geschieht und ob und auf welche Informationen und Funktionen zugegriffen werden kann. Der Grund für mehr Privatheit, wenn diese als Kontinuum und nicht als Dichotomie gesehen wird (Benn/Gaus 1983; Schwartz/Solove 2014), ist an dieser Stelle gesteigerte Transparenz. Mehr Geld bedeutet in den meisten Kulturen auch mehr Wohnfläche, was den lokalen Aspekt des Privaten berührt, wobei es kulturelle Unterschiede etwa bezüglich der Proximität gibt. Mehr Geld heißt in manchen Fällen auch erhöhte Entscheidungsfreiheit, beispielsweise hinsichtlich eines klassischen Beispiels der US-amerikanischen Privatheitsdebatte: Familienplanung, Empfängnisverhütung und Zugang zu ebendiesen Mitteln (Cohen 1993). Andere Beispiele für dezisionale Privatheit sind freie Berufswahl und berufliche Mobilität. Eine normative Definition von Privatheit, die die begriffsgeschichtlich zuvor getrennt verstandenen Bestimmungen von „control“ und „access“ verbindet (Nissenbaum 2010: 69ff.), betont die Möglichkeit, Kontrolle über den Zugang zu Privatem auszuüben und tatsächlich ausüben zu können (vgl. z. B. Allen 1999). Es wird davon ausgegangen, dass Autonomie als Wert von Privatheit für das Individuum und für die Gemeinschaft erforderlich ist. Die Aktualität des Themas lässt sich an verschiedenen Beispielen aufzeigen, so kann die Praxis von Krankenversicherungen genannt werden, die sportlichen Aktivitäten ihrer Mitglieder zu registrieren z. B. mithilfe von Smartphoneapps (vgl. z. B. Schwan 2015). Abweichendes Verhalten wird somit sanktioniert (vgl. auch BVerfGE 1983), umgekehrt wird angepasstes Verhalten belohnt, was ein totalitäres
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Element ist, das unserer Demokratie schaden kann, auch wenn es der Volksgesundheit und -wirtschaft in dem Moment zu Gute kommt: Wer das Geld hat, sich nicht tracken zu lassen, kann den Tarif ohne Datenaufzeichnung wählen. Privatheits- und Datenschutz können dabei wortwörtlich teuer sein, da es sich hierbei selbst um ein Geschäft(smodell) handelt.7 2 AUSWIRKUNGEN FÜR DIE DEMOKRATIE In (philosophie-)historischen Begründungen ging es bei der Forderung nach einem geschützten Privatbereich häufig (wie oben bereits angedeutet) um den Schutz von Privatinteressen. In neueren Diskursen geht es um den Schutz von Authentizität und Autonomie, um die Annahme, dass ein Individuum Privatheit benötigt, um selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können und zu einem authentischen Selbst zu gelangen.8 Während betont wird, dass Privatheit nicht nur mit „negativer Freiheit“ verbunden ist, sondern auch mit der „sozialen Dimension“ von Freiheit (Seubert/Helm 2017: 120), wird deutlich, dass Privatheit und Demokratie nicht voneinander zu trennen sind, dass Privatheitsschutz gerade Voraussetzung für Freiheitsrechte ist (vgl. Ammicht Quinn et al. 2014: 282), und Privatheit keinen „Bremsklotz der Demokratie“ (Eichenhofer 2017: 133) darstellt. Diese Kritik bezieht sich auf neoliberale Vorstellungen eines Privatheits- und Eigentumsschutzes, der, wie Shoshana Zuboff (2019: 31) es nennt, zu Vereinzelung und Aufsplitterung der Gesellschaft führt. Privatheit darf deshalb in der Demokratie kein (käuflich erwerbbares) Luxusgut sein und bleiben, weil soziale Privatheit9 (Braun/Trepte 2017) Voraussetzung für kommunikative Praktiken, Mehrheitsbildung, Interessenvertretung und Deliberation ist, die wiederum grundlegend für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung sind. Demokratie leben bedeutet, sich geschützt austauschen zu können, zu Authentizität zu gelangen, eigene, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können und zu diesen befähigt (worden) zu sein. Demokratie bedeutet nicht nur freie, geheime Wahlen zu veranstalten und Mehrheitsentscheidungen unter Berücksichtigung abweichender Standpunkte zu akzeptieren, sondern Demokratie zu leben, was nicht in Vereinzelung möglich ist, sondern nur zwischen Menschen. Hierbei ist Kritik an traditionellen Privatheitskonzeptionen, wie z. B. durch die feministische Bewegung, von Bedeutung, da wir nicht nur garantierten Privatheitsschutz benötigen, um frei und gleich leben zu kön7 8
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So hat die Journalistin und Authorin Julia Angwin (2014) berichtet, dass sie im Jahr 2013 2.200 USD für Privatheitsschutztools und -gadgets ausgegeben hat. Siehe hierzu etwa das vielzitierte Werk Beate Rösslers (2001). So betonen auch Ammicht Quinn et al. (2014), dass Privatheit kein Luxus sei, sondern eine „psychische und politische Notwendigkeit“. Privatheit, so auch Heiner Koch (2014b: 132) im selben Band, sei „kein Luxus, sondern eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Weiterentwicklung“. Die Diskussion um den sozialen Wert von Privatheit wurde 2015 von einem Sammelband neu angeregt (vgl. Rössler/Mokrosinska 2015). Dass Privatheit auch einen Wert für die Gemeinschaft hat, ist jedoch keine neue Erkenntnis (vgl. z. B. Reagan 1995). Für den kollektiven Wert des Privaten etwa bereits bei Hannah Arendt vgl. Mönig 2017, S. 127ff.
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nen, sondern es um Machtassymetrien zu vermeiden gerade fundamental ist, dass wir diese aufbrechen können und für einen gewissen Zeitpunkt unsere Privatheit aufgeben müssen. Die Assymetrien können dabei zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren bestehen. Beispiele hierfür wären: Das Persönliche als Politisches offenzulegen, um häusliche Gewalt zu vermeiden. Transparenz staatlicher Überwachungsmethoden zu fordern, um sicherzustellen, dass Überwachung zielund zweckgerichtet erfolgt. Der Besitz von Informationen bedeutet Macht. Diejenigen, die die Kontrolle über Daten haben, können Macht über die betroffenen Personen ausüben, die durch diesen Prozess zu Datenobjekten werden (Cohen 2000). Die (A-)Symmetrie der Macht (Lewinski 2012; Rössler 2003) ist eine wichtige Frage in demokratischen Gesellschaften, denn sie ist typisch für autoritäre, diktatorische oder sogar totalitäre Systeme, die Macht über ihre Untertanen in nicht-transparenter Weise ausüben. Um den Machtmissbrauch zu verhindern, wird davon ausgegangen, dass in einer demokratischen Verfassungsordnung zur Begrenzung der Macht auf Seiten des Staates Transparenz und auf Seiten des Individuums Opazität vonnöten ist (z. B. Gutwirth/De Hert 2006).10 [...] Privatheit [ist] nicht ohne Demokratie und Demokratie nicht ohne Privatheit zu schützen [...], weil Demokratie als gesellschaftliche Praxis auf eben jener kommunikativen Infrastruktur aufbaut, für die Privatheit konstitutiv ist. (Seubert/Helm 2017: 120)
Es muss also eine mehrschichtige Voraussetzung aus Befähigung zum Selbstdatenschutz, Kennzeichnung von Datenverwendung sowie die Sicherstellung von Datenschutzprinzipien, wie sie in der Datenschutzgrundverordnung festgeschrieben wurden (Zweckbindung,11 Datenschutz durch Technikgestaltung (= data protection by design), datenschutzfreundlichen Voreinstellungen (data protection by default) etc.) geben. Diese Prinzipien sowie die zeitliche Dimension von Privatheits- und Datenschutz sind dabei fundamental für das Zusammenleben und die Durchsetzung demokratischer Rechte und Pflichten. BIBLIOGRAFIE Albrecht, Jan Philipp (2013): Daten sind das neue Öl – deshalb braucht es einen starken EU-Datenschutz! In: Zeitschrift für Datenschutz, Nr. 2, S. 49–50. Allen, Anita L. (1999): Coercing Privacy. In: William and Mary Law Review, 40, Nr. 3, S. 723–757. Online: http://scholarship.law.wm.edu/wmlr/vol40/iss3/3 (letzter Zugriff: 15.07.2020). Ammicht Quinn Regina/Nagenborg Michael/Rampp, Benjamin/Wolkenstein, Andreas (2014): Ethik und Sicherheitstechnik. Eine Handreichung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.): Sicherheitsethik. Studien zur Inneren Sicherheit, Vol 16. Wiesbaden: Springer VS.
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Privatheit als Luxusgut in der Demokratie?
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Privatheit als Luxusgut in der Demokratie?
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DATENSCHUTZ UND DER WERT DER PRIVATHEIT IT-Forensik aus datenschutzrechtlicher und ethischer Perspektive Susanne Kuhnert, Victor Limberger
1 EINLEITUNG Die Digitalisierung des Alltags und die aus ihr resultierenden Datenmengen machen die digitale und die mobile Forensik in ihrer Bedeutsamkeit zu kaum unterschätzbaren Instrumenten polizeilicher Arbeit. Von der einfachen Datenträgeranalyse1 über den staatlichen Zugriff auf Smart-Home-Geräte bis zur Prognose zukünftiger Verbrechen anhand großer Datenmengen2 bietet die Digitalisierung enorme Ermittlungspotenziale. Zwar können digitale Daten oft leichter verfälscht werden als ihre analogen Pendants, jedoch bietet oft schon die große Quantität der Daten die Möglichkeit, ein genaueres Bild des tatsächlichen Geschehens nachzuzeichnen. Der technische Fortschritt und das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz werden auch die Kriminalität und ihre Bekämpfung beeinflussen. IT-Forensik bietet daher ein taugliches Mittel im Strafverfahren, das aufgrund seiner Eingriffsintensität in die Privatsphäre der Betroffenen weitreichend ist. Die IT-Forensik berührt durch staatlichen Eingriff den Datenschutz sowie die Privatheit und führt zu zahlreichen rechtlichen und ethischen Fragestellungen, denen dieser Beitrag auf den Grund zu gehen versucht. Hierbei soll aufgezeigt werden, welche Konzepte die Digitale Ethik und das Recht bei der Einschätzung und Gestaltung einer wirksamen und gleichzeitig rechtmäßigen sowie ethisch vertretbaren IT-Forensik haben. Dabei ist bewusst ein klar abgrenzbarer Aufbau gewählt worden, der verdeutlicht, welche unterschiedlichen Herangehensweisen in den beiden Disziplinen bestehen, auch wenn die Prämissen ähnlich sind. Dieser Beitrag ist aus dem BMBF-Forschungsprojekt SmartIdentifikation entstanden, in dem die mobile Forensik anhand der Auswertung von Smartphones erforscht wird. Die hier dargestellten Sachverhalte befassen sich daher in der Regel mit der mobilen Forensik, die als Teilgebiet der IT-Forensik angesehen werden kann. Aus rechtlicher Perspektive soll versucht werden, nach einer Erläuterung der IT-Forensik die rechtliche Relevanz dieser Methodik vor allem im Hinblick auf die hinter ihr stehende Strafandrohung aufzuzeigen. Im Anschluss werden die rechtlichen Rahmenbedingungen dargestellt. Dies erfolgt im Hinblick auf den begrenzten Umfang dieses Beitrags durch eine Darstellung des europäischen und nationalen 1 2
Heinson 2014, S. 53ff. Zum Predictive Policing in Deutschland: Rademacher 2017; aus US-amerikanischer Perspektive: Ferguson 2017.
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Susanne Kuhnert, Victor Limberger
Datenschutzrechts lediglich mit einem Blick auf die Rechtsgrundlagen des Bundesdatenschutzgesetzes und des Bundespolizeigesetzes. Die für die Praxis relevanteren Rechtsgrundlagen der Strafprozessordnung sollen an dieser Stelle nicht erläutert werden. Solche des Bundespolizeigesetzes werden zur Erläuterung herangezogen. Bereits die Normen des Bundesdatenschutzgesetzes können einen guten Überblick über das reformierte Datenschutzrecht und das damit einhergehende Schutzniveau bieten, ohne den Umfang dieses Beitrags zu übersteigen. Schließlich wird der weitere rechtliche Gestaltungsbedarf dargestellt und ein Fazit dargelegt. In einem zweiten Teil widmet sich der Artikel dem Datenschutz in der mobilen Forensik aus Sicht der Digitalen Ethik. Hierzu werden zunächst der Begriff der Digitalen Ethik und einige theoretische Grundlagen vorgestellt, bevor konkrete Ergebnisse in Form von ethischen Leitlinien für den Datenschutz im Forschungsprojekt SmartIdentifikation präsentiert werden. In einem Zwischenfazit von Seiten der Ethik wird auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ethik und Recht eingegangen. Die Forderung nach verstärkter interdisziplinärer Zusammenarbeit wird auch im Gesamtfazit nochmals betont, da mithilfe der kontrastierenden Positionen von Recht und Ethik in diesem Artikel gezeigt werden kann, welche Fragestellungen in der ITForensik in ethischer und rechtlicher Hinsicht ungeklärt bleiben. Das Ziel dieses Beitrags soll es sein, unterschiedliche Herangehensweisen von Ethik und Recht beim Schutz der Privatheit und der Förderung des Datenschutzes aufzuzeigen. 2 IT-FORENSIK UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DEN DATENSCHUTZ AUS RECHTLICHER PERSPEKTIVE 2.1 IT-Forensik: Begriffserläuterung Die digitale und die mobile Forensik lassen sich unter dem Begriff der IT-Forensik zusammenfassen. Hierunter versteht man ein Teilgebiet der modernen Forensik in Informationssystemen mit dem Ziel, Beweise zur Nutzung in Gerichtsverfahren zu gewinnen.3 Mit dem Aufkommen von informationstechnischen Systemen stieg auch die Bedeutung dieser Teildisziplin der Forensik. Zum einen entstanden im Zuge dieser Entwicklung völlig neue Straftatbestände4, die sich oft nur über die ITForensik rekonstruieren lassen. Zum anderen führte die weite Verbreitung von Smartphones dazu, dass die mobile Forensik mittels ausgewerteter Daten der Endgeräte gerichtsverwertbare Beweismittel liefern kann.5 Mit dem Internet verbundene Smartphones senden dabei regelmäßig Daten aus, selbst wenn sie nicht genutzt werden. Informationen lassen sich über vom Nutzer installierte Apps, die deren Anbietern personenbezogene Daten übertragen, oder
3 4 5
Zum Begriff der IT-Forensik und der Schwierigkeit einer genauen Definition Heinson 2017, S. 16ff; Geschonneck 2014, S. 12. Dazu zählen z. B. das Abfangen von Daten (§ 202b StGB), die Datenveränderung (§ 303a StGB), die Computersabotage (§ 303b StGB) oder die Datenhehlerei (§ 202d StGB). Warken 2017, S. 289.
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durch die Einwahl in Funkzellen6 extrahieren. Zu den weiteren Verfahren zählen etwa Vorgänge wie die Online-Durchsuchung7 oder die physikalische Extraktion von Daten aus lokalen Datenträgern.8 Wenn das analoge Leben immer weiter in die digitalisierte Welt transferiert wird, hinterlassen die Nutzer von informationstechnischen Systemen eine immer größere Menge an Daten, die Aufschluss über ihr Leben und ihr Verhalten geben. Mit dieser großen Datenmenge arbeiten und auf ihrer Grundlage funktionieren moderne Technologien, seien es Smart-Home-Geräte, Smartphones und Smart Watches9, selbstfahrende PKW oder die Robotik. Insoweit wird auch die Relevanz der aus diesen Technologien stammenden, großen Datenmengen im Strafprozess steigen und die IT-Forensik wird eine noch bedeutendere Rolle einnehmen, als dies bisher schon der Fall ist. Gleichzeitig stellt die enorme Menge an Daten die Technik auch vor die große Herausforderung, die jeweils relevante Information herauszufiltern. Dies zu ermöglichen und dabei einen rechtmäßigen Rahmen zu schaffen und zu erhalten, ist die gemeinsame Aufgabe von Technik und Recht. 2.2 IT-Forensik: Rechtliche Relevanz Aus rechtlicher Sicht ist die IT-Forensik in mehrerlei Hinsicht bedeutsam. Die Unterschiedlichkeit extrahierter Daten beruht nicht zuletzt auch auf der Unterschiedlichkeit ihres Anfallens und dessen Kontexts. So kann es vorkommen, dass je nach Kontext unterschiedliche Rechtsregime anzuwenden sind und ein komplexer juristischer Anwendungsbereich entsteht.10 Es werden Einzelfallbetrachtungen und komplexe Auslegungsvorgänge nötig. Hierbei ist insbesondere durch die jüngste europäische Reform des Datenschutzrechts weitere Komplexität entstanden. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass das Recht auch stets mit dem technischen Fortschritt Schritt halten muss. Insoweit stellt die IT-Forensik zwar ein wichtiges Instrument für Ermittlungsbehörden dar, für das Recht ist sie hingegen auch eine große Herausforderung. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass das übergeordnete Ziel der IT-Forensik, die Ahndung von Straftaten ist. Das Strafen ist in der freiheitlichen Demokratie die ultima ratio, das letzte und schärfste Steuerungsinstrument des Staates, dessen Anwendung sorgsam bedacht werden muss und unter größtem Legitimationsdruck steht.11 Die Strafe und bereits die Strafandrohung aufgrund hinreichender Verdachtsmomente greift weitreichend in zahlreiche Freiheitsgrundrechte der Betroffenen ein.12 Im Rahmen einer Güterabwägung zwischen dem Inte6 7 8 9 10 11 12
Singelnstein 2012, S. 601; Bruns, in: Karlsruher Kommentar StPO 2019, § 100g Rn. 12; Bär, in: BeckOK StPO 2019, § 100g Rn. 39. Skistims/Roßnagel 2012, S. 3ff.; Soiné 2018, S. 497; Heinson 2014, S. 40ff. Tamma/Skulkin/Bommisetty 2018, S. 37ff. Es konnten bereits Straftaten anhand von aus Smart Watches extrahierten Daten aufgeklärt werden. Siehe hierzu z. B. https://www.heise.de/mac-and-i/meldung/Polizei-nutzt-Daten-einer-Apple-Watch-in-einem-Mordfall-4024690.html (letzter Zugriff: 26.05.20). Vgl. Heinson 2014, S. 2. Kindhäuser 2017, S. 382; siehe auch Appel 2019, S. 404ff. Wessels/Beulke 2019, Rn. 9.
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resse der Allgemeinheit an einer konsequenten Ahnung von Straftaten auf der einen Seite und den Rechten der Betroffenen auf der anderen Seite muss eine Entscheidung über die Gewichtung der einzelnen Rechtsgüter stets im Einzelfall geprüft werden. Dass die Rechtsdurchsetzung mittels informationstechnischer Technologien nicht immer in einen verfassungsgemäßen Rahmen passt, zeigen verschiedene Urteile des Bundesverfassungsgerichts der jüngeren Zeit.13 Hierzu zählen etwa die Vorratsdatenspeicherung14 oder die Rasterfahndung15, deren gesetzliche Ausformung jeweils an verfassungsrechtlichen Hürden scheiterte. Umso mehr zeigen diese Beispiele, dass die IT-Forensik als digitale Beweisbeschaffungs- und Ermittlungsmethode erheblichen datenschutz- und verfassungsrechtlichen Bedenken gegenübersteht und sich das Recht in diesem Bereich stets an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit bewegt. 2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen der IT-Forensik im nationalen und europäischen Datenschutzrecht Aus juristischer Perspektive ist die IT-Forensik in funktionaler Betrachtung dem Strafverfahrensrecht zuzuordnen, berührt zwangsläufig aber auch zahlreiche datenschutzrechtliche Fragestellungen. Denn in der Regel werden hierbei personenbezogene Daten16 zum besonderen Zweck der Strafverfolgung verarbeitet.17 Eine solche Verarbeitung stellt einen Eingriff in das Recht der Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 I GG iVm. Art. 1 I GG dar sowie in das Recht auf Achtung des Privatlebens und des Schutzes personenbezogener Daten gemäß Artt. 7, 8 GRCh EU18. Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil festgestellt, dass sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergibt, dass dem Einzelnen die Befugnis zukommt, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung personenbezogener Daten zu bestimmen.19 Mit dieser Entscheidung postulierte das Bundesverfassungsgericht einen Grundsatz, dass durch die Anerkennung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Datenschutz gleichsam zum Grundrechtsschutz wird.20 Neben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich auch der Europäische Gerichtshof als Hüter von Freiheitsrechten durch seine Entscheidungen zum Datenschutz profiliert.21 So erklärte er die Vorratsdatenspeicherung für unvereinbar 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Heinson 2014, S. 3. BVerfGE 115, 320ff. BVerfGE 121, 1ff. Vgl. Legaldefinition in Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Vgl. Legaldefinition in Art. 4 Nr. 2 DSGVO. GRCh EU = Charta der Grundrechte der Europäischen Union. BVerfGE 65, 1 (42). Spiecker 2018, S. 55; Di Fabio, in: Maunz/Dürig 2019, Art. 2 Abs. 1, Rn. 173. Einen Überblick über bedeutende Urteile des EuGH in jüngerer Vergangenheit bietet Schiedermair, in: Simitis/Spiecker/Hornung 2019, S. 173ff.; Eisenbarth/Spiecker 2011, S. 169.
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mit europäischen Grundrechten22, entwickelte das Recht auf Vergessenwerden23 und kippte das Safe-Harbor-Abkommen, das als Rechtsgrundlage für die Übermittlung personenbezogener Daten von der EU in die USA diente24. Bei der Frage nach der Rechtfertigung der Verarbeitung personenbezogener Daten beginnt die Suche nach der juristischen Antwort stets bei einer geeigneten Rechtsgrundlage.25 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 I iVm. Art. 1 I GG ist nicht schrankenlos gewährleistet.26 Die rechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten kann nur auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen. Maßgeblich sind dabei im Rahmen der IT-Forensik die Gesetze des europäischen und des nationalen Datenschutzrechts. Im europäischen Primärrecht hat der Gesetzgeber mit der im Mai 2018 in Kraft getretenen Datenschutzrechtsreform umfassende Regelungen zum Schutz von Individuen im informationstechnischen Zeitalter geschaffen.27 Die Datenschutzreform besteht aus zwei Teilen, einmal der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und zum anderen der JI-Richtlinie. Die DSGVO wirkt als Verordnung der Europäischen Union unmittelbar und verbindlich in allen Mitgliedsstaaten, Art. 288 II AEUV28. Sie bedarf somit keines weiteren, mitgliedsstaatlichen Umsetzungsakts, um vollumfängliche Wirkung zu erlangen. Sie ist gegenüber nationalem Recht vorrangig, soweit sie dem nationalen Gesetzgeber nicht ausdrücklich durch sog. Öffnungsklauseln gesetzgeberischen Spielraum ermöglicht.29 Die JI-Richtlinie ist als Richtlinie gemäß Art. 288 III AEUV hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, ihre konkrete gesetzliche Ausgestaltung ist jedoch den Mitgliedsstaaten überlassen. Sowohl die Öffnungsklauseln der DSGVO, die den Mitgliedsstaaten gesetzgeberischen Spielraum ermöglichen, als auch die JI-Richtlinie hat der bundesdeutsche Gesetzgeber mithilfe zweier Datenschutzanpassungs- und Umsetzungsgesetze in nationales Recht umgesetzt.30
22 23 24 25 26 27
28 29 30
EuGH Rs. C-293/13 u. C-594/12; Vgl. auch Spiecker 2014, S. 1109ff. EuGH C-131/12; Schiedermair 2015, S. 33ff. EuGH C-362/14; Eichenhofer 2016, S. 76ff. Das Safe-Harbour-Abkommen wurde 2016 durch den EU-US-Privacy-Shield ersetzt, dessen Wirksamkeit jedoch vielfach kritisiert wird. Vgl. Molnar-Gabor/Kaffenberger 2017, S. 20. Im Datenschutzrecht gilt grundsätzlich ein Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt (Petri, in: Kühling/Buchner 2018, Art. 6 Rn. 11). Für dogmatisch verfehlt hält diese Einschätzung Roßnagel 2019, S. 1ff. Schmidt, in: ErfK GG, Art. 2 Rn. 55; Di Fabio, in: Maunz/Dürig 2019, Art. 2 Abs. 1, Rn. 179. Hier ist vor allem die Datenschutzgrundverordnung EU 2016/679 zu nennen; weniger Aufmerksamkeit erfahren, aber nicht weniger bedeutsam und in ihren Novellierungen erheblich, ist die Richtlinie zum Schutz personenbezogener Daten im polizeilichen und justiziellen Bereich, RL EU 2016/680. AEUV = Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Zu den Öffnungsklauseln der DSGVO Benecke/Wagner 2016, S. 600ff. BT-Drs. 18/11325 und 19/4674.
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2.3.1 Datenschutz im strafprozessualen Anwendungsbereich – DSGVO vs. JI-Richtlinie Die Bestimmung der komplementären Anwendungsbereiche von DSGVO und JIRichtlinie ist nicht immer eindeutig. Eine erste Abgrenzungsmöglichkeit der jeweiligen Normenkataloge ergibt sich durch einen Blick auf die in Art. 2 DSGVO und Art. 2, 1 I RL (EU) 2016/680 festgelegten Anwendungsbereiche. Gemäß Art. 2 I DSGVO ist diese immer anwendbar, wenn eine ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten oder eine nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten erfolgt, die in einem Datensystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Die Ausnahmen hiervon enthält Art. 2 II DSGVO und normiert dabei in lit. d, dass die Datenschutzgrundverordnung keine Anwendung findet, wenn die Verarbeitung personenbezogener Daten durch zuständige Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit
erfolgt. Art. 2 I, 1 I RL (EU) 2016/680 grenzt den Anwendungsbereich ergänzend ein auf personenbezogene Datenverarbeitungen, die durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit
vorgenommen werden. Der deutsche Gesetzgeber hat bereits in seiner Gesetzesbegründung zur Umsetzung der JI-Richtlinie durch das Datenschutzanpassungs- und Umsetzungsgesetz festgestellt, dass „insbesondere die Polizeibehörden, die Staatsanwaltschaften sowie der Zoll und die Steuerfahndung“ zuständige Stellen im Sinne der JI-Richtlinie sind.31 Nicht hierunter fallen etwa „Verwaltungsbehörden, wie z. B. Waffen-, Hygiene- oder Passbehörden“, selbst wenn die Datenverarbeitung zum Zweck der Gefahrenabwehr erfolgt.32 Ob Datenverarbeitungen zum Zweck der Gefahrenabwehr ausschließlich von der JI-Richtlinie oder der DSGVO umfasst sind, ist derweil nicht eindeutig. Nach wohl überwiegender Meinung unterliegt der Bereich der Gefahrenabwehr dem Rechtsregime der DSGVO, es sei denn, die Gefahrenabwehr weist einen unmittelbaren Straftatenbezug auf.33 Im zweiten Fall wäre die JI-Richtlinie einschlägig. 31 32
33
Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU), BT-Drs. 18/11325, S. 110. Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU), BT-Drs. 18/11325, S. 110; vgl. auch Strohs 2017, S. 2. Hornung/Schindler/Schneider 2018, S. 574; Albrecht/Jotzo 2017, S. 65; Kritisch zu dieser Aufteilung Wolff, in: Kugelmann/Rackow 2014, S. 68ff.
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Dieser Streit soll hier jedoch nicht näher erläutert werden, da die Forensik zwar auch präventive Zwecke34 erfüllen kann, jedoch in erster Linie dazu dient, straftatenbezogene Fälle zu rekonstruieren. In der Lesart der JI-Richtlinie dient sie damit der „Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten“ und fällt in deren Anwendungsbereich. Damit bedarf es einer Umsetzung der JI-RL in das nationale Recht, und an diesem ist auch der Einsatz forensischer Mittel aus der Informationstechnologie zu messen. 2.3.2 Die Rechtsgrundlagen des BDSG Im Bereich der Strafverfolgung enthalten Fachgesetze – nicht zuletzt aufgrund der enormen Grundrechtserheblichkeit der Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen – einschlägige Rechtsgrundlagen und Rahmenvorgaben für den Umgang mit personenbezogenen Daten bei polizeilichen und justiziellen Datenverarbeitungsvorgängen. Hierunter fallen auch Datenverarbeitungsvorgänge im Rahmen der IT-Forensik. Das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) schafft hier Rechtsregelungen, aber auch eine Anzahl von Fachgesetzen. Im Verhältnis des BDSG zu diesen Fachgesetzen sind gemäß § 1 II S. 1 BDSG die Regelungen des BDSG subsidiär. Sie sind erst dann anzuwenden, wenn das Fachrecht keine spezielleren, den Datenschutz betreffenden Normen für den konkreten Einzelfall enthält. Den Vorschriften des Teil 3 BDSG kommt insoweit eine Auffangfunktion zu.35 Die Fachgesetze müssen dabei ihrerseits den Wertungskriterien und Zielen der JI-Richtlinie entsprechen und notfalls angepasst werden. Dieser Vorrang der fachgesetzlichen Regelung gilt im Sinne einer Tatbestandskongruenz nur, soweit eine abweichende Regelung für einen identischen Sachverhalt vorliegt. Nur wenn keine oder keine abschließende Regelung für den Sachverhalt vorliegt, erfüllt das BDSG seine Auffangfunktion.36 Die Rechtsgrundlagen des BDSG sollen im vorliegenden Beitrag dennoch ausführlicher betrachtet werden, da sie einen guten Überblick über die Neuerungen des Datenschutzes im Bereich des Strafverfahrens und damit der IT-Forensik liefern und in ihrer Auffangfunktion stets hinter den Spezialgesetzen aufscheinen. Sie bilden damit also den Mindestrahmen, der jedenfalls einzuhalten ist. Für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen liegt die Rechtsgrundlage in § 3 BDSG. Sie stellt dabei im Sinne des § 1 II BDSG eine Auffangnorm für Datenverarbeitungen in diesem Bereich dar, wenn einschlägige Fachgesetze keine auf den einzelnen Sachverhalt zugeschnittene Rechtsgrundlage enthalten. Nach § 3 Alt. 1 BDSG ist die Verarbeitung zulässig, wenn sie „zur Erfüllung, der in der Zuständigkeit des Verantwortlichen liegenden Aufgabe“ begründet ist. Unter Aufgaben versteht man Zustände, die eine Regelung oder ein Einschrei34 35 36
Heinson 2014, S. 19f. Herbst, in: Esser/Kramer/v. Lewinski 2018, § 45 BDSG Rn. 1; Schantz, in: Schantz/Wolff (2017), Rn. 349. Ernst, in: Paal/Pauly 2017, § 1 Rn. 7; vgl. auch BT-Drs. 18/11325, 79.
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ten erfordern.37 Weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ist die Rechtmäßigkeit der Aufgabenerfüllung, die sich aus der Bindung an Recht und Gesetz ergibt.38 Dies ist bei der IT-Forensik der Fall, da sie in das Aufgabengebiet der Staatsanwaltschaft und der Polizei im Rahmen der allgemeinen Ermittlungsbefugnis gemäß §§ 161, 163 StPO fällt. Dennoch ist § 3 BDSG in der Praxis kaum von Bedeutung, weil, wie bereits beschrieben, die IT-Forensik einen Eingriff von erheblicher Intensität darstellt und deshalb nicht auf § 3 BDSG gestützt werden kann.39 Denn für Eingriffe dieser Intensität ist § 3 BDSG zu unbestimmt und in seinem subsidiären Charakter nicht für Datenverarbeitungen durch öffentliche Stellen im besonders grundrechtssensiblen Bereich des Strafverfahrens geeignet. Eine nähere Konkretisierung, etwa durch Einfügung von Regelbeispielen in die Norm, hat der Gesetzgeber unterlassen.40 Dagegen kommt im BDSG als Rechtsgrundlage in Betracht § 48 I BDSG, der die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten regelt. Die Daten sind solche, die in den Bereich der besonderen Kategorie gemäß §§ 46 Nr. 14, 48 BDSG, Art. 10 JI-Richtlinie fallen. Hierzu zählen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, genetische und biometrische Daten, Gesundheitsdaten sowie Daten zum Sexualleben und zur sexuellen Orientierung, § 46 Nr. 14 BDSG. Die Verarbeitung dieser Daten ist gemäß § 48 I BDSG nur zulässig, wenn sie zur Aufgabenerfüllung unbedingt erforderlich ist.41 Das Merkmal der unbedingten Erforderlichkeit ist sprachlich und auch im Sinne des Normgehalts als Steigerung der „einfachen“ Erforderlichkeit zu verstehen, die Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist, und entspricht damit der Sensibilität der besonderen Kategorien personenbezogener Daten. Die unbedingte Erforderlichkeit ist strenger als die Erforderlichkeit und schränkt die Einschätzungsprärogative der verantwortlichen Stelle ein.42 Der EuGH hat schon das Erforderlichkeitskriterium dahingehend spezifiziert, dass die Datenverarbeitung „auf das absolut Notwendigste“ beschränkt sein muss.43 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Datenverarbeitung nach § 48 BDSG nur zulässig ist, wenn die Aufgabe, die durch die Datenverarbeitung erfüllt werden soll, ohne die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten nicht oder in nicht gleichwertiger Weise erfolgen kann.44 Die Bedeutung der Steigerung zur unbedingten Erforderlichkeit durch den deutschen Gesetzgeber ist im Lichte der Rechtsprechung des EuGH uneindeutig. Denn das absolut Notwendige ist an sich 37 38 39 40 41 42 43 44
Wolff, in: BeckOK 2020, BDSG § 3 Rn. 16. Starnecker, in: Gola/Heckmann 2019, BDSG, § 3 Rn. 22. Petri, in: Kühling/Buchner 2018, § 3 BDSG Rn. 9; Wolff, in: BeckOK 2020, BDSG § 3 Rn. 1; BT-Drs. 18/11325, S. 81; Greve 2017, S. 738. Vgl. Petri, in: Kühling/Buchner 2018, § 3 BDSG Rn. 3. Vgl. auch Art. 10 JI-Richtlinie. Frenzel, in: Paal/Pauly 2017, § 48 BDSG Rn. 3; Braun, in: Gola/Heckmann 2019, § 48 Rn. 10. Als Teil der ständigen Rechtsprechung jüngst etwa EuGH ZD 2017, 324, Rn. 30. Albers, in: BeckOK 2020, § 48 BDSG Rn. 23. Teilweise wird die unbedingte Erforderlichkeit daher auch als Unverzichtbarkeit definiert, Schwichtenberg, in: Kühling/Buchner 2018, § 48 BDSG Rn. 4 mwN.
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nicht mehr steigerbar. Dennoch liegt der Formulierung des § 48 I BDSG die nachvollziehbare Intention zugrunde, dass vor der Datenverarbeitung eine Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit an dem Maßstab der unbedingten Erforderlichkeit erfolgen45 und diese besonders hohen Anforderungen genügen muss. Im Bereich der IT-Forensik könnte eine Datenverarbeitung nach § 48 I BDSG etwa zur Ahndung von Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, den Bestand des Staates und weniger weiterer, ähnlich gewichtiger Rechtsgüter erfolgen. Gemäß § 51 I BDSG kann die Datenverarbeitung auch auf Grundlage einer Einwilligung erfolgen, wenn dies durch eine Rechtsvorschrift zulässig ist und der Verantwortliche der Datenverarbeitung die Einwilligung der betroffenen Person nachweisen kann. Ob eine Einwilligung als legitimierende Rechtsgrundlage im Strafverfahren überhaupt zulässig ist, ist jedoch umstritten. Der Bereich des Strafverfahrens ist maßgeblich durch ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Bürger geprägt, sodass es fraglich ist, ob hier ohne Weiteres von einer Freiwilligkeit der Einwilligung ausgegangen werden darf.46 Denn der Betroffene steht letztlich vor der nur scheinbaren Wahl, ob er der Datenverarbeitung zustimmt oder diese über sich ergehen lässt.47 Dadurch besteht gerade für den Verdächtigen eines Ermittlungsverfahrens regelmäßig eine Mitwirkungs- oder Duldungspflicht oder zumindest eine induzierte Drucksituation. Diese stellt im Wesentlichen die Freiwilligkeit als vom eigenen Willen und Entschluss gesteuertes Element in Frage, wenn tatsächlich keine Wahlmöglichkeiten vorliegen, die unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen. Auch der europäische Gesetzgeber erkennt dieses Dilemma der fehlenden Wahlfreiheit, wie sich aus EG 35 der RL (EU) 2016/680 ergibt, und stellt dazu fest, dass „die Reaktion nicht als freiwillig abgegebene Willensbekundung betrachtet werden kann“. Die Mitgliedsstaaten können gleichwohl Regelungen vorsehen, durch die Betroffene in die Datenverarbeitung zum Zwecke der Richtlinie einwilligen können.48 Von dieser Möglichkeit hat der deutsche Gesetzgeber mit der Rechtsvorschrift des § 51 BDSG Gebrauch gemacht. Alleine auf der Grundlage der Einwilligung dürfen im Anwendungsbereich der JI-Richtlinie keine Datenverarbeitungen vorgenommen werden.49 Vielmehr werden hier die Merkmale einer zulässigen Einwilligung genannt für den Fall, dass eine Datenverarbeitung auf Grundlage der Einwilligung nach einer anderen Rechtsvorschrift erfolgen kann. Die JI-Richtlinie enthält über Erwägungsgrund 35 hinaus keine weiteren Ausführungen, die sich diesem Problem der mangelnden Freiwilligkeit bei der Einwilligung im Strafverfahren stellen. Die Wertungen des § 51 BDSG zeigen jedoch, dass unter engen Grenzen eine (freiwillige) Einwilligung zulässig sein kann, wenn eine andere Rechtsvorschrift dies ausdrücklich erwähnt. Die grundsätzliche Mög45 46 47 48 49
Albers, in: BeckOK 2020, BDSG § 48 Rn. 24; Frenzel, in: Paal/Pauly 2017, § 48 BDSG Rn. 3. Stief 2017, S. 472; zu der Voraussetzung der Freiwilligkeit bei der Einwilligung siehe Ernst, 2017, S. 111ff.. Saliger 2016, S. 133. EG 35 RL (EU) 2016/680. Schwichtenberg, in: Kühling/Buchner 2018, § 51 BDSG Rn. 1.
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lichkeit einer Einwilligung wird zudem von § 51 IV BDSG gestützt, der eine Belehrung des Betroffenen über die Folgen der Einwilligung vorsieht. Hierdurch kann eine Lockerung der Drucksituation erreicht werden, durch die der Betroffene erkennt, dass eine mögliche Verweigerung der Einwilligung sich nicht negativ auf das Ermittlungsverfahren auswirkt.50 Voraussetzung für eine Einwilligung als Rechtfertigungsgrund für die Datenverarbeitung ist somit, dass sie stets nur auf der Basis einer Rechtsvorschrift erfolgen kann, die die Möglichkeit der Einwilligung ausdrücklich vorsieht und die Einwilligung letztlich Teil einer Alternative ist, die für den Betroffenen auch Vorteile mit sich bringt, wie etwa die weniger invasive DNA-Probe anstelle einer Blutprobe.51 Letztlich wird es im Bereich der IT-Forensik aber wohl keine Rechtsvorschrift geben, auf deren Grundlage eine Einwilligung möglich wäre. Dafür geht von der Strafandrohung gegenüber dem Betroffenen ein zu starker staatlicher Druck aus, um noch von einer freien und freiwilligen Entscheidungsmöglichkeit mit zwei gleichen Alternativen und Konsequenzen ausgehen zu können. Inhaltlich gilt es zudem bei der Datenverarbeitung der IT-Forensik zu Zwecken des Strafverfahrens, wie bei allen Datenverarbeitungen, die allgemeinen Grundsätze des Datenschutzrechts zu beachten. Diese sind in Art. 4 JI-Richtlinie normiert und in das unmittelbar geltende Recht in § 47 BDSG für den Bereich des Strafverfahrens umgesetzt. Hierzu gehören die Rechtmäßigkeit, die Verarbeitung nach Treu und Glauben, die Zweckbindung, die Datenminimierung, die Datenrichtigkeit, die Speicherbegrenzung, die Integrität und Vertraulichkeit.52 2.3.3 Die Rechtsgrundlagen des Bundespolizeigesetzes Die dargestellten Rechtsgrundlagen des Bundesdatenschutzgesetzes bieten einen Überblick darüber, wann Datenverarbeitungen im allgemeinen Kontext zulässig sein können. Der Gesetzgeber trifft Aussagen, welches Datenschutzniveau grundsätzlich einzuhalten ist. Gleichwohl haben die Rechtsgrundlagen des Bundesdatenschutzgesetzes für die Praxis wenig Relevanz. Im Bereich der IT-Forensik stehen den Ermittlungsbehörden weitreichende Rechtsgrundlagen in den Spezialgesetzen zur Verfügung, die in der Regel so umfangreich ausgestaltet sind, dass für die meisten Sachverhalte die Auffangfunktion des Bundesdatenschutzgesetzes nicht in Betracht kommt. Stellvertretend für weitere Normen, wie solche der Strafprozessordnung oder der Landespolizeigesetze, werden im Folgenden die wichtigsten Rechtsgrundlagen zur Datenverarbeitung im Bundespolizeigesetz dargestellt. Das Bundespolizeigesetz enthält in den §§ 21-37 BPolG umfangreiche Vorgaben zur Erhe50 51 52
Schwichtenberg, in: Kühling/Buchner 2018, § 51 BDSG Rn. 6. Stemmer/Wolff, BeckOK 2020, § 51 BDSG Rn. 4. Die Datenschutzgrundsätze des Art. 4 JI-RL sind eng an die des Art. 5 DSGVO angelehnt. Den wichtigen Transparenzgrundsatz enthält die JI-RL im Gegensatz zur DSGVO jedoch ebenso wenig wie die Rechenschaftspflicht nach Art. 5 II DSGVO. Vgl. Schwichtenberg, in: Kühling/ Buchner 2018, § 47 Rn. 3. Zur allgemeinen Bedeutung der Datenschutzgrundsätze siehe Roßnagel, in: Simitis/Hornung/Spiecker 2019, Art. 5 DSGVO Rn. 20.
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bung, Nutzung, Weitergabe und Speicherung von personenbezogenen Daten und bietet damit einen Überblick, welche Datenschutzvorgaben im polizeilichen und justiziellen Anwendungsbereich zu beachten sind. Zentrale Normen sind § 21 BPolG, der die Erhebung personenbezogener Daten zum Regelungsgegenstand hat, und § 29 BPolG, in dem die Speicherung, die Veränderung und die Nutzung personenbezogener Daten festgelegt wird. § 21 BPolG enthält die allgemeine Rechtsgrundlage zur Datenerhebung. In den §§ 22ff. BPolG werden Datenerhebungen im Einzelnen spezifiziert. Wie es auch die JI-Richtlinie in Artt. 1 I, 8 I JI-RL vorgibt, soll die Datenerhebung nur zulässig sein, wenn sie der Erfüllung einer Aufgabe der Bundespolizei dient.53 Dieser im gesamten Datenschutzrecht wiederkehrende Grundsatz der Bindung an die Aufgabenerfüllung soll missbräuchliche und nicht erforderliche Datenverarbeitungen verhindern. Bedenken bestehen bei § 21 BPolG hinsichtlich der Bestimmtheit und Klarheit der Norm.54 In seiner Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt das Bundesverfassungsgericht unter anderem heraus, dass hinreichend klare und begrenzende Handlungsmaßstäbe in der Norm angelegt sein müssen.55 Die bloße Einschränkung des § 21 I BPolG auf solche Datenerhebungen, die zur Aufgabenerfüllung der Bundespolizei erforderlich sind, ist äußerst unbestimmt. Zwar enthalten sowohl § 21 II BPolG als auch die folgenden Datenerhebungsnormen umfangreichere Vorgaben und können daher im Zusammenspiel mit Absatz 1 ausgelegt werden. Gleichwohl trügen konkretere Vorgaben bereits innerhalb dieser Generalklausel zum besseren Verständnis der Zulässigkeit von Datenerhebungen im polizeilichen Kontext bei. In der JI-Richtlinie enthält Art. 8 I JI-RL neben der Formulierung der Aufgabengebundenheit einen Verweis auf die konkreten Aufgabenbeschreibungen von Polizei- und Justizbehörden nach Art. 1 I JI-RL. Vergleichbar aufgebaut sollte auch § 21 I BPolG sein, um Bedenken bezüglich der fehlenden Bestimmtheit und Klarheit der Norm zu entkräften. Nach § 21 II BPolG ist die Datenerhebung zu gefahrenabwehrrechtlichen Zwecken nur bei drohenden Straftaten im Sinne des § 12 I BPolG, die von erheblicher Bedeutung sind, zulässig.56 Da die Eingriffsschwelle für präventive Eingriffe in der IT-Forensik äußerst hoch liegt, sind an dieser Stelle vor allem präventive Datenerhebungen vorstellbar, die staatsgefährdende Straftaten verhindern sollen. Im Tätigkeitsbereich der Bundespolizei wären dies etwa erhebliche Straftaten gegen die Sicherheit der Grenze oder gegen Bahnanlagen. Verfassungsrechtlich bedenklich ist hierbei, dass kein konkreter Straftatenkatalog vorliegt, der vorgibt, wann präventive Datenerhebungen zulässig sind.57 Insoweit besteht ein „Beurteilungsspielraum“ der Bundespolizei, in welchen Fällen sie im Vorfeld von Straftaten Datenerhebungsmaßnahmen, hierunter sind auch solche der informationstechnischen Da53 54 55 56 57
Zu den Aufgaben der Bundespolizei siehe §§ 1-14 BPolG; vgl. auch Möllers 2013, S. 6ff. Drewes, in: Drewes/Malmberg/Walter 2015, § 21 Rn. 18; Wehr 2015, § 21 Rn. 5. BVerfGE 120, 378, 407 m.w.N; allgemein zum Bestimmtheits- und Normenklarheitsgebot Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof 2004, § 26 Rn. 85; Sachs 2014, Art. 20 Rn. 126ff. Der Begriff soll sich dabei mit den erheblichen Straftaten aus §§, 63, 64, 66 I Nr. 4 StGB decken, vgl. BR-Drs. 418/94, 52. Wehr 2015, § 21 Rn. 8ff.
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tenträgerauswertung zu verstehen, vornehmen kann. Es ist daher geboten, die Merkmale der „Erheblichkeit“ und der „Erforderlichkeit“ möglichst eng auszulegen. Ähnlich wie § 21 I BPolG, ist auch § 29 I 1 BPolG konstruiert. Die Datenverarbeitung, die nur im Wege der Aufgabenerfüllung erfolgen darf, stellt auch hier den zentralen Rechtmäßigkeitsgrund dar, der von den Vorgaben der weiteren Absätze flankiert wird. Die Norm ist als Generalklausel ausgestaltet und ermächtigt die Bundespolizei, personenbezogene Daten im Rahmen ihres Ermessens zu speichern, zu verändern oder zu nutzen, soweit dies für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist.58 Inhaltlich sind die Begriffe mit denen des Bundesdatenschutzgesetzes gleichzusetzen.59 Die eigenständige Regelung der Speicherung, Veränderung und Nutzung von Daten gegenüber der Erhebung ist auch Ausdruck dessen, dass diese Vorgänge eigenständige Grundrechtseingriffe darstellen.60 Ein exemplarischer Anwendungsfall für die Geltung von Datenschutzgrundsätzen in einem Polizeigesetz und seine gleichzeitige Entkräftung ist § 29 II S. 3 u. 4 BPolG. So darf eine Maßnahme nach § 29 I BPolG nur für den Zweck erfolgen, zu dem man die Daten erhoben hat. Satz 4 enthält wiederum Ausnahmen. Danach ist eine Nutzung zu einem anderen Zweck rechtmäßig, wenn eine Erhebung nach dem BPolG oder einer anderen Rechtsvorschrift zulässig gewesen wäre. Für die IT-Forensik bedeutet dies, dass etwa bei der präventiv-polizeilichen Datenerhebung aus einem Datenträger auch nur solche Daten zu der Abwehr dieser bestimmten Gefahr gespeichert, verarbeitet oder genutzt werden dürfen, die dem Zweck jener Gefahrenabwehr entsprechen. Wenn eine andere Gefahr besteht, die eine Nutzung, Speicherung oder Veränderung der ursprünglichen Daten nötig werden lässt, muss die Zulässigkeit der Datenerhebung zur Abwehr dieser Gefahr neu erörtert werden. Die beispielhafte Darstellung dieser beiden Rechtsgrundlagen des Bundespolizeigesetzes zeigt auf, wie die praktisch relevanten Rechtsgrundlagen im Bereich der IT-Forensik (in präventiver Hinsicht) ausgestaltet sind. Die hier nicht dargestellten Normen der Strafprozessordnung können aufgrund ihrer ausschließlichen Anwendbarkeit im strafrechtlichen Verdachtsmoment invasivere Eingriffe in das zu untersuchende Medium ermöglichen. 2.3.4 Weiterer Gestaltungsbedarf Auch wenn durch die jüngste Datenschutzreform weitreichende Regelungen getroffen worden sind, bleiben einige datenschutzrechtliche Fragestellungen im Bereich der IT-Forensik unklar. So ist es etwa unabdinglich, dass über die große Anzahl der Fachgesetze hinweg ein einheitliches, hohes Datenschutzniveau eingehalten wird. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigt etwa die Anpassung des BKA-Gesetzes, das keine Umsetzung von Art. 10 JI-Richtlinie enthält, wie sie etwa in § 48 I BDSG erfolgt ist. Zwar kann in diesem Fall § 48 I BDSG als Auffangnorm herangezogen 58 59 60
Vgl. Arzt, in: Schenke/Graulich/Ruthig 2019, § 29 BPolG Rn. 9. BR-Drs. 418/94, 61; Arzt, in: Schenke/Graulich/Ruthig 2019, § 29 BPolG Rn. 10 ff. Vgl. BVerfGE 65, 1, 43.
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werden, jedoch erschwert dieses Zusammenspiel die Anwendbarkeit in der Praxis deutlich.61 Auch die Tatsache, dass die JI-Richtlinie keine Regelungen zur Transparenz der Datenverarbeitung in ihrem Anwendungsbereich trifft, ist bedenklich. Es leuchtet nicht ein, warum Transparenz gerade in der Datenverarbeitung durch staatliche Stellen nicht als eigener Grundsatz festgelegt wird. Das Transparenzgebot als Ausprägung des Demokratieprinzips62 sollte auch im Bereich des Strafverfahrens gelten, sofern es nicht den beabsichtigten Erfolg mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gefährdet. Im Sinne einer wirksamen Rechtsschutzmöglichkeit muss in der Praxis der Vorgang der IT-forensischen Untersuchung transparent gemacht werden. Die gesetzliche Normierung und Ergänzung der Grundsätze des § 47 BDSG um das Transparenzgebot im Strafverfahren könnte hierzu einen Beitrag leisten. Der Vormarsch von Big Data-Technologien und Künstlicher Intelligenz birgt, wie in allen Bereichen, auch in der IT-Forensik Risiken und Chancen, sei es auf Seiten der Kriminalität oder auf Seiten staatlicher Ermittlungsbehörden. Zweifellos wird die IT-Forensik hierdurch an Bedeutung gewinnen. Daher obliegt es dem Gesetzgeber, stetig durch eindeutige Rechtsnormen sowie mithilfe von Technikgestaltung durch das Recht63 einen Rechtsrahmen zu kreieren, der das Vertrauen in die Rechtsordnung aufrecht erhält und Freiheitsrechte in ihrer normativen Kraft bewahrt. 3 ZWISCHENFAZIT Die nicht immer eindeutige Abgrenzung des Anwendungsbereichs von DSGVO und JI-Richtlinie am Beispiel der IT-Forensik zeigt exemplarisch, dass die umfassende Reformierung des Datenschutzrechts zu Unklarheiten führt, deren Beantwortung erst im Laufe der Zeit durch die Rechtsprechung erfolgt. Gleiches gilt für das teilweise sehr komplexe Zusammenwirken von BDSG und Fachgesetzen. Dennoch zeigt die weitgehende Harmonisierung des Datenschutzrechts auch im Bereich der Justiz und des Inneren64, dass der europäische Gesetzgeber auch in diesem besonders grundrechtssensiblen Raum einheitliche Regelungen schaffen wollte. Die JI-Richtlinie und ihre Umsetzung im dritten Teil des BDSG geben dem Anwender einige Vorgaben für den Datenschutz im Bereich der Strafverfolgung an die Hand. Zunächst bleibt festzuhalten, dass Rechtsgrundlagen des BDSG gemäß § 1 II BDSG nur dann Anwendung finden, wenn es keine spezialgesetzliche Regelung gibt, die auf den konkreten Sachverhalt anwendbar ist. § 3 BDSG kann aufgrund seiner Subsidiarität und allgemeinen Formulierung nur Eingriffe geringerer 61 62 63 64
Vgl. Albers, in: BeckOK 2020, § 48 BDSG Rn. 12. Bröhmer 2004, S. 3ff.; Nettesheim 2020, Art. 1 Rn. 36; Heinson 2014, S. 406. So kann Künstliche Intelligenz auch im Bereich der IT-Forensik zum Vorteil gereichen, wenn sie so programmiert ist, dass möglichst geringe Mengen an Daten ausgewertet werden müssen oder der Kernbereich privater Lebensgestaltung von vorneherein ausgespart bleibt. Die Regelung des Datenschutzrechts im Bereich der Strafverfolgung durch die EU wird teilweise für kompetenzwidrig erachtet. Vgl. Wolff, in: Schantz/Wolff 2017, Rn. 235.
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Intensität rechtfertigen, sodass er im Bereich der Strafverfolgung zu vernachlässigen ist. Die passenden Rechtsgrundlagen des BDSG sind dabei im Einzelfall zu prüfen. § 48 I BDSG bietet sich als Rechtsgrundlage in Fällen an, in denen besondere Kategorien personenbezogener Daten verarbeitet werden, dürfte in der Praxis aber für die IT-Forensik kaum Relevanz haben. Hier dürften in der Regel Rechtsgrundlagen der Strafprozessordnung greifen. Die Einwilligung in die Datenverarbeitung durch eine öffentliche Stelle im Bereich des Strafverfahrens ist aufgrund unmöglicher, tatsächlicher Freiwilligkeit als konstituierendes Element der Einwilligung nicht als taugliche Rechtsgrundlage zu betrachten. Das Über-/Unterordnungsverhältnis des Staats gegenüber dem Betroffenen ist in der Situation, die mit einer Strafandrohung behaftet ist, zu ausgeprägt, um eine auf tatsächlicher Wahlfreiheit beruhende Entscheidung zu gewährleisten. Die IT-Forensik ist als Ermittlungsmethode auf dem Vormarsch. Der Prozess der Digitalisierung wird ihre Relevanz weiter anheben. Die Aufgabe des Rechts wird es sein, diesen Wandel zu moderieren und zu gestalten, damit die Rechte der Betroffenen gewahrt bleiben und der Wert der Privatheit weiterhin Anerkennung findet. Für die Rechtsanwendung in der Praxis sind zukünftige Aussagen der Rechtsprechung bedeutsam, damit eine einheitliche Anwendungspraxis geschaffen werden kann und Rechtsklarheit geschaffen wird. 4 IT-FORENSIK AUS DER PERSPEKTIVE DER ETHIK IT-Forensik und hier insbesondere die mobile Forensik haben nicht nur einen Einfluss auf die Arbeit der polizeilichen Ermittlungsbehörden und somit einen Einfluss auf Menschen, die dort tätig sind. Ihre Methoden können zudem grundsätzliche Auswirkungen auf (demokratische) Gesellschaften und somit auf alle Personen haben. Die Ethik beschäftigt sich mit dieser Technologie, um mögliche allgemeine Implikationen zu untersuchen und geht der Frage nach, welche ethisch-normativen Vorgaben für diesen Bereich gelten sollen. In diesem Artikel wird versucht die Perspektive einer Digitalen Ethik, wie sie von Spiekermann65 oder Grimm et al.66 vertreten wird, in groben Teilen vorzustellen. Des Weiteren werden Leitlinien zur mobilen Forensik präsentiert, die vom Institut für Digitale Ethik für das Projekt Smart Identifikation formuliert wurden. Im Anschluss wird in einem Zwischenfazit von Seiten der Ethik betont, dass die Zusammenarbeit zwischen Ethik und Recht für die Zukunft als wichtig erachtet wird und dass die mobile Forensik vor allem im Hinblick auf die Menschrechte interdisziplinär analysiert werden sollte.
65 66
Vgl. Spiekermann 2019. Vgl. Grimm/Keber/Zöllner 2019.
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4.1 Theoretische Grundlagen der Digitalen Ethik Die Digitale Ethik versteht sich selbst als eine Werteethik67 und bezieht sich dabei unter anderem auf die Theorie der Eudämonie von Aristoteles68, um ihren Anspruch darzulegen. Der Rückgriff auf das Konzept der Eudämonie bedeutet, dass der Frage nach dem guten Leben nachgegangen wird und Bedingungen gesucht werden, die das Leben in unserer heutigen Gesellschaft braucht, um von einem guten oder gelungenen Leben sprechen zu können.69 Die Bedingungen werden in der Digitalen Ethik vor allem in Form von Werten dargestellt, die sowohl für das gesellschaftliche Zusammenleben als auch für das Leben der einzelnen Individuen wichtig sind. Spiekermann zählt zu den wichtigsten Werten für die Digitalisierung die folgenden: Würde, Respekt, Freundschaft, Sicherheit, Vertrauen, Gesundheit, Freiheit und Wissen.70 Der Rückgriff der Digitalen Ethik auf die aristotelische Ethik lässt bereits darauf schließen, dass, wie erwähnt, das Individuum und seine Frage beziehungsweise Perspektive auf das gute Leben zunächst im Zentrum stehen. In der aristotelischen Philosophie findet durch die Aufteilung der praktischen Philosophie in die Ethik und die politische Philosophie eine Einteilung von bestimmten Fragestellungen statt, wobei die Ethik bei Aristoteles sich mit dem guten Leben und dem Handeln des Individuums befasst.71 Ein weiteres wesentliches Merkmal der aristotelischen Philosophie ist die anthropologische Konzeption vom Menschen als politisches Lebewesen, also als ein Lebewesen, das in Gemeinschaften lebt. Das politische ist demnach mit dem Menschen als solchem gegeben. Es entsteht weder in einem Herstellungsprozeß noch durch Übereinkunft (Vertrag), sondern liegt jedem bewußten Handeln immer schon voraus.72
In der aristotelischen Philosophie geht es in der Ethik um das Individuum, und die Politik ist bei Aristoteles nach Kullmann die logische Fortsetzung der Ethik und hat die Sicherung des Glücks einer Gemeinschaft zur Aufgabe.73 Ethik und politische Philosophie bauen in der aristotelischen Philosophie logisch aufeinander auf. Der neoaristotelische Ethikansatz von Martha Nussbaum hat beispielsweise gleichfalls eine eindeutig politische Dimension.74 Ähnliches könnte auch in Zukunft für die 67 68
69 70 71 72 73 74
Spiekermann betont, dass sie ihre Arbeit zur Digitalen Ethik auf die „materiale Werteethik“ von Max Scheler aufbaue (vgl. Spiekermann 2019, S. 36) und bei der Nikomachischen Ethik von Aristoteles beziehe sie sich vorrangig auf die Tugenden (vgl. ebd.,S. 48). „Dieses Buch heißt ‚Digitale Ethik‘, weil es nicht darum geht, Unternehmen zu erklären, wie sie mit ein paar ethischen Feigenblättern noch mehr Geld mit der Digitalisierung machen können oder wie sie mit dem Abhaken einiger Wertprinzipien der Ethik Genüge tun. Vielmehr will ich zeigen, wie wir auf allen Ebenen der Gesellschaft besser und weiser mit dem Digitalen umgehen sollten. […] Meine Zielfunktion ist ein gutes Leben, die Eudaimonia […].“ (Hervorhebung im Original). Spiekermann 2019, S. 9. Vgl. Grimm/Keber/Zöllner 2019, S. 16. Spiekermann 2019, S. 173–175. Vgl. Wolf 1999, S. 47ff. oder Braun/Heine/Opoloka 2008, S. 52–53. Höffe 1992, S. 16. Vgl. Kullmann 2003. Vgl. Nussbaum 2018 und Nussbaum 2011.
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Digitale Ethik gelten, insbesondere, wenn Normen für die digitale Forensik erstellt werden, weil hier die politische Dimension eine sehr grundsätzliche Rolle spielt. Politische Entscheidungen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Anwendung von Methoden wie die der mobilen Forensik, denn die Politik gibt vor, was rechtmäßig ist. Die Möglichkeiten für ein Individuum, ein ethisches Leben zu führen, wird von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Strukturen beeinflusst. Die Digitale Ethik muss deshalb ebenfalls die politische Ebene oder die politischen Implikationen von ethischen Normen beachten. Für die praktische Politik kann sie auch eine beratende Funktion hinsichtlich der Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung übernehmen, beispielsweise mithilfe von Ethik-Kommissionen wie Wischmeyer und Herzog zeigen.75 Gerade die besondere Perspektive der Digitalen Ethik mit dem Fokus auf das gute Leben vom Standpunkt des Individuums aus mag differenzierte Einsichten bieten, allerdings verweisen Wischmeyer und Herzog ebenso begründet darauf, dass hierbei Vorsicht angeraten ist und die Aufgabe der Beratung durch die Ethik nicht falsch verstanden werden solle, denn in einer Demokratie dürfe sich der Gesetzgeber „von schwierigen Entscheidungen nicht durch Delegation an Ethikgremien entlasten“76, zudem „darf der Expertendiskurs die parlamentarische Debatte nicht ersetzen“77. Die Digitale Ethik kann als eine Form der humanistischen Ethik bezeichnet werden. Eine humanistische Ethik wird von Fromm wie folgt charakterisiert: „In einer humanistischen Ethik gibt sich der Mensch seine Norm selbst und unterwirft sich ihr aus eigenem Willen. Er ist Ursache, Gestalter und Gegenstand der Norm.“78 Die Verantwortung für die Bestimmung von moralischen Normen muss der Mensch hierbei selbst übernehmen. Für die Digitale Ethik bedeutet das, die Auswirkungen und Möglichkeiten der Digitalisierung nicht über das schöpferische Potenzial und das technisch Mögliche zu bewerten, sondern die Wissenschaften und Kenntnisstände über den Menschen als Beurteilungsmaßstäbe heranzuziehen. 4.2 Digitale Ethik in der Anwendung: Werteorientierte Technikentwicklung Die Digitale Ethik beschäftigt sich als angewandte Ethik mit den Auswirkungen der Digitalisierung und analysiert dementsprechend Entwicklungen, die durch den technischen Fortschritt entstanden sind und weiterhin entstehen.79 Die Digitale Ethik weist somit auch eine enge Verwandtschaft zur Technikethik auf. So entwickelte Spiekermann zuerst ein Konzept des Value based IT-Designs bevor sie ihren Entwurf für eine Digitale Ethik veröffentlichte.80 Als eine Form der Werteethik nutzt die Digitale Ethik auch Methoden und Konzepte wie die Value Sensitive De-
75 76 77 78 79 80
Vgl. Wischmeyer/Herzog 2019, S. 696–701. Ebd. S. 697. Ebd. Fromm 2018, S. 21. Vgl. Grimm 2018, S. 61. Vgl. Spiekermann 2016.
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sign-Methode von Friedman et al.81 oder wendet das Konzept des Ethics by Design82 an, das Spiekermann als „Strukturen für Technikethik und Verzicht“83 bezeichnet. Spiekermann beschreibt die „Kunst des Weglassens“ und des Verzichtens hinsichtlich mehrerer Ebenen, unter anderem zählt sie dazu, „alle technischen und organisatorischen Strukturen wegzulassen, die Werte systematisch untergraben können“.84 Ein wichtiger Faktor ist deshalb, dass die Ethik die Technikentwicklung über den gesamten Prozess der Gestaltung hinweg begleiten kann. Weiterhin ist ein zentraler Punkt die Überzeugung, dass es keine wertneutrale Technik geben kann, sondern dass implizit und explizit immer schon Werte in einer Technik eingeschrieben sind.85 Die Bewusst- und Sichtbarmachung von Werten kann zusammen mit der Fokussierung auf ausdrücklich bestimmte sowie gewünschte Werte die Technikgestaltung lenken und – als erhofftes Ergebnis – letztlich aus ethischer Perspektive verbessern. 4.3 Datenschutz durch Technikgestaltung Datenschutz ist gegenwärtig ein zentrales Thema für die Ethik. Floridi verweist auf den Zusammenhang zwischen Datenschutz und der Würde des Menschen. Vor allem das Recht auf Vergessenwerden sei elementar, weil der Mensch ein fehlbares Wesen und nicht perfekt sei.86 Für die Digitale Ethik und in den Konzepten von Grimm et al. und Spiekermann ist Privatheit ein – wenn nicht sogar der – zentrale Wert. Folglich ist Datenschutz ein ebenso bedeutsames Anliegen, da es beim Datenschutz entgegen dem Wortlaut gerade nicht um den Schutz von Daten, sondern um den Schutz von Menschen geht.87 Die Bestimmung der Eudämonie und der Schutz der Würde des Menschen sind eine Seite der Digitalen Ethik, die sich mit den grundsätzlichen Voraussetzungen auseinandersetzt. Von einer ethisch-moralischen Handlung lässt sich weiterhin jedoch nur sprechen, wenn das Handeln aus eigener Motivation erfolgt und selbstbestimmt ist/war. Die menschliche Autonomie sowie selbstbestimmtes Handeln und demgegenüber die Möglichkeiten der Überwachung und der Manipulation, also der Fremdkontrolle, ermöglicht durch den technischen Fortschritt und die Informationsflut, stehen im digitalethischen Diskurs im weiteren Fokus, weshalb sich auch die Frage stellt: Wie können Individuen in Zukunft im Einklang mit digitalen Systemen selbstbestimmt leben und die Verantwortung für ihr Leben und ihre Entscheidungen übernehmen?88 Datenschutz und der darüber 81 82
83 84 85 86 87 88
Vgl. Friedman/Kahn/Borning 2002, S. 1–8. Vgl. van den Hoven 2017, S. 11–32. Vgl. dazu auch die Arbeit des Instituts für Digitale Ethik in den Forschungsprojekten KoFFI (https://www.technik-zum-menschen-bringen.de/projekte/ koffi) und SmartIdentifikation (https://www.sifo.de/files/Projektumriss_SmartIdentifikation. pdf). Spiekermann 2019, S. 195. Ebd., S. 191. Vgl. Simon 2016, S. 357–360. Vgl. Floridi 2016. Keber 2019, S. 51 (Hervorhebung im Original). Vgl. Grimm 2018.
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hinausgehende Schutz von Privatheit dienen für die Digitale Ethik deshalb insgesamt dazu, die Möglichkeiten für ein ethisch gelebtes, gutes Leben und somit für eine zeitgemäße Eudämonie zu schaffen. Moralische Normen werden – im Unterschied zu Rechtsnormen – durch die Gesellschaft sanktioniert und nicht durch eine staatliche Institution.89 Werte und moralische Normen müssen deshalb im öffentlichen Diskurs präsent und bewusst sein, um überhaupt Wirksamkeit zu entfalten. Die Bedeutung des Datenschutzes für das Individuum und dessen Leben sowie den Zusammenhang zwischen Privatheit und den Möglichkeiten für ein ethisches und gutes Leben darzulegen, ist deshalb eine Aufgabe der Digitalen Ethik. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Privatheit und die komplexen Zusammenhänge müssen jedoch bereits in der Technikentwicklung berücksichtigt werden und hier ebenso präsent sein, denn nur so kann die Möglichkeit bestehen, dass Technologien entwickelt werden, die einen gezielten und begründeten Datenschutz (freiwillig) realisieren. Eine Möglichkeit des technischen Datenschutzes ist das Konzept des Privacy by Designs. Dieses wurde von der kanadischen Datenschutzbeauftragten Ann Cavoukian entworfen und ist mittlerweile in angepasster Form durch die DSGVO auch in Europa und Deutschland rechtlich verbindlich. Während das ursprüngliche Programm von Cavoukian holistisch gedacht ist und einen triadischen Ansatz vorschlägt und somit das Hardwaredesign bis hin zu den Marketingmaßnahmen berücksichtigt,90 ist die rechtliche Vorgabe in der DSGVO auf die interpretationsfähige Formulierung von „technischen und organisatorischen Maßnahmen“91 reduziert. Es birgt gewisse Herausforderungen, den komplexen Wert der Privatheit dadurch konkret zu schützen. Hier kann die Digitale Ethik vor allem in der integrierten Forschung die Rolle übernehmen, die Bedeutung von Privatheit in verschiedenen Kontexten und mit verschiedenen Methoden92 zu klären, um auf mögliche Gefahren 89
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Zum Zusammenspiel von Ethik und Recht und wie eine ethische Norm im Sinn der Soziologie charakterisiert werden kann, wird auf eine Aufteilung von Max Weber (1984, S. 61) verwiesen: „Jede tatsächlich – im Sinn der Soziologie – ›geltende‹ Ethik pflegt weitgehend durch die Chance der Mißbilligung ihrer Verletzung, also: konventionell, garantiert zu sein. Andererseits beanspruchen aber nicht (mindestens: nicht notwendig) alle konventionell oder rechtlich garantierten Ordnungen den Charakter ethischer Normen, die rechtlichen – oft rein zweckrational gesatzten – im ganzen noch weit weniger als die konventionellen. Ob eine unter Menschen verbreitete Geltungsvorstellung als dem Bereich der ›Ethik‹ angehörig anzusehen ist oder nicht ([dann] also ›bloße‹ Konvention oder ›bloße‹ Rechtsnorm ist), kann für die empirische Soziologie nicht anders als nach demjenigen Begriff des ›Ethischen‹ entschieden werden, der in dem in Frage stehenden Menschenkreis tatsächlich galt oder gilt. Allgemeines läßt sich darüber deshalb für sie nicht aussagen.“ (Hervorhebungen im Original) Vgl. Cavoukian 2011. Art. 25 DSGVO. Hierbei können verschiedene Methoden zum Einsatz kommen. Eine Möglichkeit wäre der Einsatz einer Narrativen Ethik (vgl. Grimm/Kuhnert 2018). Eine weitere Möglichkeit ist, über Ansätze der experimentellen Philosophie empirische Studien zu nutzen. Beispielsweise wurde im vom BMBF geförderten Verbundprojekt KoFFI eine Studie der Robert Bosch GmbH vom Institut für Digitale Ethik begleitet. Im Ergebnis konnte dadurch auf erhebliche Unterschiede im Verständnis und in der Wertung des Begriffs der maschinellen Autonomie bei den Probanden und auf mögliche Konsequenzen aufmerksam gemacht werden. Vgl. Maurer et al. 2018.
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und Herausforderungen aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit technischen Partnern und mit dem Recht kann anschließend an umfassenden Konzepten gearbeitet werden, damit ein funktionierender Datenschutz und der darüberhinausgehende Schutz von Privatheit für die Zukunft gewährleistet werden kann.93 Dies trifft insbesondere auf den Bereich der IT-Forensik und hier auf die mobile Forensik zu. 4.4 Datenschutz und IT-Forensik – besondere Herausforderungen für die Digitale Ethik Zunächst einmal wäre die genuine Aufgabe oder Kompetenz der Digitalen Ethik zu klären, also die Frage, was die Ethik für den Datenschutz in der IT-Forensik leisten sollte und inwieweit der Schutz von Privatheit über den Datenschutz hinausreichen müsste. Vor allem im Hinblick darauf, dass es, wie in diesem Artikel bereits dargelegt wurde, klare rechtliche Vorgaben und Befugnisse innerhalb der IT-Forensik gibt und dass diese zudem vorrangig das Strafrecht betreffen, erscheint eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Rechtswissenschaften als sehr wünschenswert. Dies führt zu der These, dass es eines engen Austauschs zwischen Ethik und Recht im Bereich der IT-Forensik bedarf, vor allem im Interesse und aus der Perspektive der Ethik. Nur dann kann die Ethik entweder als begründeter Kritiker des Rechts auftreten oder aber eine sinnvolle Ergänzung in den Bereichen anregen oder bieten, wo das Recht Lücken, andere Ansichten oder einen zu großen, beziehungsweise unklaren Auslegungsspielraum aufweist. Dies gilt im Besonderen für den Bereich des Datenschutzes und den Schutz des Wertes der Privatheit, da eine einfache Bestimmung des Wertes der Privatheit ein schwieriges Thema ist, weil Privatheit weder ein absoluter noch abschließend definierter Wert ist.94 Im Zusammenspiel von Ethik und Recht kann jedoch effektiver daran gearbeitet werden, umfassende normative Vorgaben zum Datenschutz und dem Schutz von Privatheit in der IT-Forensik zu erarbeiten. Als weitere These wird hier die Behauptung eingebracht, dass der Erfolg von normativen Vorgaben in der Technikentwicklung stark abhängig von ihrer Verständlichkeit für die Ingenieure oder Designer ist.95 Ethik und Recht können sich hier gemeinsam ergänzen, um an praxistauglichen Formulierun-
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„Es wird klarer, wie wichtig es ist, dass Ingenieur- und Informatikverbände wie IEEE sowie alle an der Ausbildung beteiligten Universitäten in der Informatik dafür sorgen, dass Nachwuchsinformatiker ebenso wie vorhandene Führungskräfte auf ihre ethischen Aufgaben, auf juristische Grundlagen und ein tiefes Werteverständnis besser vorbereitet werden. Dies ist wirklich entscheidend, weil jede einzelne Bedeutungsdimension eines Wertes, alle für ihn bedeutenden Wertqualitäten, eine ganze Reihe von eigenen technischen Schutzmaßnahmen nach sich ziehen. Beispielsweise ist bei der Wahrung von Privatheit auf technischer Ebene nicht nur die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Daten erforderlich, damit Informationen geheim gehalten werden […].“ Spiekermann 2019, S. 181–182. Vgl. Solove 2009, S. 78–101. Zum grundsätzlichen Zusammenhang zwischen dem Verständnis von Designern für das Thema Privatheitsschutz und der erfolgreichen Entwicklung oder Umsetzung von Datenschutzmaßnahmen wird beispielhaft auf die Studie von Hadar et al. 2018 verwiesen.
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gen zu arbeiten, die gleichzeitig keine rechtlichen Grenzen verletzen oder Grauzonen ent- oder bestehen lassen. Natürlich kann die Digitale Ethik grundsätzliche Aussagen treffen und Vorgaben benennen und dies ohne auf die Rechtswissenschaften zurückzugreifen. In Bezug auf die digitale Forensik kann dies auf zwei Ebenen geschehen: auf der Ebene des individuellen Lebens und auf der Ebene der Gesellschaft. Insbesondere auf der Ebene des individuellen Lebens muss allerdings eine grundsätzliche Herausforderung genannt werden, die sich durch die Tatsache ergeben kann, wenn die Frage nach dem guten Leben aus dem aristotelischen Ethikansatz als maßgebliche methodische Vorgehensweise in der Digitalen Ethik herangezogen wird. Ein schwieriger Aspekt ist dabei die Frage nach dem Subjekt, das sich die Frage nach dem guten Leben stellt. Hier wird auch auf die Frage nach der (Allgemein-)Gültigkeit von moralischen Werten und Normen Bezug genommen und der Schwierigkeit des Abwägens von Werten. Welcher Standpunkt bestimmt über die Perspektive in einer angewandten Ethik? Bei einer angewandten Ethik, die sich am Individuum ausrichtet, ergibt sich die Frage, welche Person oder welches Subjekt sich in welcher Situation ethische Fragen stellt und wie sich die unterschiedlichen Perspektiven sinnvoll vereinen und zu einer übergreifenden normativen Aussage zusammenfassen lassen. Soll der Standpunkt der Anwender*innen der Technik, also der Ermittlerinnen und Ermittler, stärker in den Fokus rücken oder die Position der Verdächtigten stärker berücksichtigt werden? Repräsentieren die Ermittler*innen automatisch die Gesellschaft oder sollten nicht auch deren individuellen Bedürfnisse als Personen ausreichend berücksichtigt werden? Kann die Sichtweise einer unbeteiligten dritten Person mit der eines Verdächtigten verglichen oder in Einklang gebracht werden? Und können alle diese Blickwinkel in einer Anschauung vereint werden, die die folgende Frage im Hinblick auf den Datenschutz in der IT-Forensik begründet beantworten kann? „Wie sollte ich leben, sofern ich als Mensch existiere?“96 Hieraus ergibt sich die These, dass die in der Ethik bekannte Spannung sowohl zwischen subjektiver und objektiver Perspektive als auch die Fragen über die Bestimmung von Normen aus dem Konzept der Eudämonie heraus auch in Bezug auf die ITForensik schwer auflösbar sind.97 Demzufolge empfiehlt es sich für die Digitale Ethik, zusätzlich mit weiteren Methoden an einer befriedigenden ethisch-normativen Lösung für den Datenschutz in der IT-Forensik zu arbeiten. Die Anwendung der Digitalen Ethik im Forschungsprojekt SmartIdentifikation, die durch das Institut für Digitale Ethik erfolgt, nutzt deshalb zusätzlich deskriptive Analysen und greift auf empirisch-sozialwissenschaftliche Methoden wie Feldbeobachtung und Befragungen zurück. Hierbei soll nicht naturalistischen Seins-Sollen-Fehlschlüssen Vorschub geleistet werden, jedoch die Grundlagen für das Verständnis der Technologie und der unterschiedlichen individuellen Perspektiven geschaffen werden. Weitere wichtige theoretische Quellen für die Formulierung von normativen Vorgaben für den Datenschutz und den Schutz der Privatheit sind bereits existierende ethische Normen, beispielsweise zur Verwendung Künstlicher 96 97
Wolf 1999, S. 73. Eine Darstellung der allgemeinen Schwierigkeiten hinsichtlich der Bestimmung von Normen aus einer eudämonistischen Ethik findet sich beispielsweise bei Ott 2018.
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Intelligenz, da KI auch bei der digitalen Forensik verstärkt eingesetzt werden wird, weshalb die Leitlinien der High-Level Expert Group on Artificial Intelligence98 eine wesentliche Vorgabe sind. Darüber hinaus sind ebenfalls ethische Normen von Bedeutung, die im Kontext der Forensik im Allgemeinen diskutiert werden99 und ethische Betrachtungen hinsichtlich der Fragen von Gerechtigkeit und Strafverfolgung100 sowie die Sicherheitsethik im Allgemeinen und hier beispielsweise der (sicherheits-)ethische Fragenkatalog von Ammicht Quinn et al. für die Entwicklung von Sicherheitstechnik.101 Eine grundlegende Bedeutung liegt ebenso in der allgemeinen Anregung zum Diskurs und Dialog, denn der Ansatz der Digitalen Ethik ist vom Grundsatz her demokratisch gedacht und ist nicht präskriptiv, er schreibt uns also nicht von vornherein vor, was wir tun sollen. Ethik in diesem Sinne ist vielmehr diskursiv, ist ein Gespräch: Sie lädt uns ein, darüber nachzudenken, was für Menschen wir sein wollen.102
Zu diesem Zweck wurden ethische Leitlinien zum Datenschutz im Projekt Smart Identifikation entwickelt und als Projektmeilenstein den Projektpartnern im Januar 2019 präsentiert. Leitlinien können die Funktion einer Diskussionsgrundlage einnehmen, damit ein sinnvoll begründeter Diskurs über einen umfassenden Datenschutz und einen Schutz des Wertes der Privatheit in der IT-Forensik auch von Seiten der Ethik angestoßen werden kann. Dieser Entwurf beansprucht demzufolge keine Vollständigkeit. Die Betonung liegt vielmehr darauf, dass der inner- und interdisziplinäre Diskurs angeregt werden soll. 4.5 Entwurf für Leitlinien zum Datenschutz in der mobilen Forensik für das BMBF-Projekt SmartIdentifikation 1. Privacy und Privacy by Design bedeuten mehr als Datenschutz. Privacy bedeutet, das Individuum in seiner Autonomie und Würde zu schützen und das Prinzip zu achten, dass Individuen in einem Rechtsstaat auch Rechte zum Selbstschutz gegenüber dem Staat haben und behalten müssen. Der Schutz von Privacy im Projekt SmartIdentifikation muss aus ethischer Perspektive deshalb die beiden Grundsätze im Blick behalten, die mit Privacy verbunden sind: Privacy dient sowohl dem Schutz der Individuen als auch dem Erhalt von Rechtstaatlichkeit. 2. Mobile Forensik ist ein Teilgebiet der Digitalen Forensik und hat sich an den existierenden rechtlichen Vorgaben zum Datenschutz zu orientieren. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik betont im Leitfaden „IT-Forensik“ vom März 2011 die folgenden Punkte: Datenvermeidung, Datensparsamkeit, Systemdatenschutz als Gesamtziel, Anonymisierung, Pseudonymisierung, Zweckbindung und Transparenz. 98 99 100 101 102
Vgl. High-Level Expert Group on Artificial Intelligence 2019. Vgl. bspw. Bowen 2018. Vgl. bspw. Braswell et al. 2017. Vgl. Ammicht Quinn et al. 2014. Grimm et al. 2019, S. 11.
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3. Die Technologien, die in der mobilen Forensik zur Anwendung kommen, sollten so weiterentwickelt werden, dass Zweckdienlichkeit und Präzision handlungsleitend sind. Es wäre zu begrüßen, wenn Werkzeuge entstehen, die, wie minimalinvasive Technologien, möglichst kleine, aber dafür zielgerichtete Eingriffe ermöglichen. Ziel sollte es sein, Datenzugriffe so regulieren und kontrollieren zu können, dass sensible Daten und der sogenannte Kernbereich überhaupt geschützt werden können. 4. Smartphones werden immer Daten unbeteiligter Dritter beinhalten. Durch die mobile Forensik werden diese ebenfalls für die Behörden sichtbar. Es muss geklärt werden, welche Maßnahmen in Zukunft getroffen werden müssen, um die Daten von unbeteiligten Dritten gesondert zu schützen bzw. nicht sichtbar werden zu lassen. 5. Privacy dient ebenso zum Schutz der Personen, die als Ermittler mit der Software arbeiten. Die psychische und emotionale Belastung für Personen, wenn diese Einblicke in die Intimsphäre von fremden Menschen erhalten oder mit seelisch belastenden Inhalten konfrontiert werden, sollte in der technischen Entwicklung berücksichtigt werden. Ziel sollte es sein, Technologien zu fördern, bei denen wenig Daten offenkundig zur Schau gestellt werden und gleichzeitig alle Prozesse transparent sind und im Nachhinein rekonstruiert werden können. Nachvollziehbarkeit sollte zu jedem Zeitpunkt gewährleistet werden. 6. Dokumente, die schwere Straftaten oder menschenverachtende Gewalttaten bezeugen, sollten extrahiert werden können, ohne Daten zu beschädigen, zu verfälschen oder ein in irgendeiner Weise verzerrtes Ergebnis zu liefern. 7. Technologien der mobilen Forensik sollten die Vorgaben des Datenschutzes so erfüllen, dass gerichtsverwertbare Materialen als Ergebnisse gewonnen werden. 8. Anonymisierungsverfahren müssen garantieren, dass es in keiner Weise zu Datenverfälschungen kommen kann, die sich nachteilig auf betroffene Einzelpersonen auswirken könnten, noch dürfen Verzerrungen entstehen, welche die behördliche Ermittlungsarbeit unsachgemäß beeinflussen könnten. 9. Mobile Forensik soll die Eigentumsrechte von Personen achten. Die Technik sollte dementsprechend so weiterentwickelt werden, dass in möglichst kurzer Zeit eine Kopie der Daten erfolgen kann, damit die Smartphones schnellstmöglich wieder unversehrt an ihre Besitzer zurückgegeben werden können. Es wäre zu begrüßen, wenn hier zeitliche Mindeststandards als klare Vorgaben gelten könnten. 10. Im Sinne der Rechtsstaatlichkeit muss die Frage beachtet werden, wie in Zukunft das Individuum wehrhaft bleiben und sich gegen einen Verdacht legitim verteidigen kann. Dies betrifft auch die Frage, wie in Zukunft das Grundrecht der Aussageverweigerung mit der Mobilen Forensik, wenn diese vor Ort eingesetzt wird, zusammenwirken sollte und kann. 11. Eine freiwillige Zusammenarbeit mit den Behörden sollte durch die Technologie gefördert werden. Dies erfordert eine Technologie, die kontrolliert und transparent eingesetzt werden kann, um das entsprechende Vertrauen in die Behörden haben zu können. (Wenn eine Person beispielsweise den Zugriff auf ihre Telefonverbindungen und die WLAN-Daten freiwillig erlaubt, aber ihre Fotos und Bilddaten nicht freigeben möchte, dann müsste eine Technologie dazu in der Lage sein,
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nur diese Daten zu extrahieren oder die entsprechenden nicht freigegebenen Daten direkt unkenntlich zu machen bzw. zu löschen.) 12. Bereits in der Entwicklung von Technologien muss unbedingt der Grundsatz beachtet werden, dass Mobile Forensik dazu dienen muss, belastendes und entlastendes Material gleichermaßen zu ermitteln. Insofern ist es erforderlich, eine Software dementsprechend zu programmieren und zu trainieren. Eine Technologie in der Mobilen Forensik darf keine Urteile im Hinblick auf Schuldfragen fällen. 13. Rechtssicherheit in Bezug auf das Strafrecht und das Datenschutzrecht ist in der Anwendung vor allem auch für die Ermittler zu gewährleisten, damit diese während der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht durch Fahrlässigkeit, Unwissenheit oder durch die falsche Einschätzung eines Sachverhaltes schuldhaft handeln und/ oder haftbar gemacht werden können/müssen.103 4.6 Zur Zusammenarbeit von Ethik und Recht im Hinblick auf die IT-Forensik aus der Perspektive der Digitalen Ethik Der vorliegende Beitrag sollte am Beispiel der IT-Forensik aufzeigen, wie die Ethik und die Rechtswissenschaft auf unterschiedliche Weise Datenschutz und Privatheit gestalten. Es wird deutlich, dass beide Konzepte ähnliche Ziele verfolgen, nämlich den Erhalt des Wertes der Privatheit und des Rechts auf Privatheit. Im Mittelpunkt steht stets das Individuum. Gerade für die Ethik sind dabei grundlegende Kenntnisse des Rechts nützlich, um sich als externe Instanz in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Recht zu beweisen. In dieser Weise kann auch das Recht von den Einflüssen der Ethik – insbesondere im Gebiet der fortschrittlich gedachten, Digitalen Ethik – profitieren. So sind die Argumente und Instrumente des Rechts in der Gesellschaft zwar akzeptierter, da durchsetzungsstärker, jedoch können Einflüsse der Ethik in der Begründung des Rechts stets hilfreich sein. Um hierfür Akzeptanz zu schaffen, dürfen Beteiligungen der Ethik bei der Gestaltung des Rechts jedoch nur beratender Natur sein. Sie bilden die gedankliche und moralische Vorprägung der politischen Gestaltung.104 Die tatsächliche Rechtsgestaltung ist Folge parlamentarischer Prozesse, sodass dieser Kern im Sinne des Demokratieprinzips bestehen bleiben muss. Für die Digitale Ethik als eine humanistische Werteethik ist der universelle Wertekanon der Menschenrechte, der durch die Vereinten Nationen 1948 verabschiedet wurde, ein wichtiger Ankerpunkt. Im Austausch mit der Rechtswissenschaft ist es in Zukunft für die Digitale Ethik von besonderem Interesse zu untersuchen, inwieweit die IT-Forensik in Einklang mit den Menschenrechten steht oder ob es hier zu grundsätzlichen Kollisionen kommt. Und dies betrifft insbesondere das Recht auf und den Wert der Privatheit. Gemeinsam im interdisziplinären Austausch ist die Frage zu klären: Wie kann eine Technologie entwickelt werden, die die wesentlichen Elemente der Menschenrechte achtet und schützt, und wie können 103 Vgl. dazu Heinson 2015, S. 375–400. 104 Vgl. Wischmeyer/Herzog 2019, S. 696ff.
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normative Vorgaben durch die Ethik und das Recht zusammen einen sinnvoll ergänzenden Rahmen erarbeiten und klar verständliche Vorgaben und Orientierungspunkte bieten? Allerdings ist nicht nur der Wert der Privatheit von den zunehmenden Möglichkeiten der IT-Forensik betroffen, auch andere Werte und zivilisatorische, humanistische Errungenschaften können in Bedrängnis geraten. Die aktuelle mediale Berichterstattung lässt erahnen, wie die Veränderungen in den Alltag der Menschen eingreifen, unter anderem wenn diese auf Reisen gehen. Zeit Online gibt in einem Artikel vom 4. Juli 2019105 umfassende Ratschläge, die vor allem die Einreise in die USA betreffen, zu bestimmten Vorkehrungen, die so weit reichen, sich unter Umständen ein zweites Smartphone für die Reise zuzulegen und verweist auf die umfassenden Sicherheitshinweise und Anleitungen der Electronic Frontier Foundation106. Dies macht allerdings auch deutlich, dass nicht nur die Technikgestaltung ethisch und rechtlich begleitet werden sollte, sondern überdies der (politisch gesteuerte) Einsatz der Technologie beachtet werden muss, wenn demokratische Strukturen in Zukunft weiterhin Bestand haben sollen. 5 GESAMTFAZIT In diesem Artikel konnte durch die zwei unterschiedlichen Positionen von Recht und Ethik aufgezeigt werden, dass es trotz einstimmiger Bekenntnis zum Datenschutz einige Aspekte gibt, bei denen es zu Abweichungen kommen kann. Besonders deutlich wurde das in diesem Artikel bei den Themen Transparenz beziehungsweise Transparenzgebot und bei der Freiwilligkeit. Der Diskurs über Datenschutz und Privatheit – auch im Kontext der IT-Forensik – kann nur davon profitieren, wenn unterschiedliche Positionen von Recht und Ethik analysiert und diskutiert werden. Wichtig bleibt demnach in der Debatte die stetige diskursive Begleitung des technischen Fortschritts durch Recht und Ethik. Anmerkung: Dieser Aufsatz ist im Rahmen des bilateralen Forschungsprojektes „Smartphone-basierte Analyse von Migrationstrends zur Identifikation von Schleuserrouten“ (Akronym: SmartIdentifikation) entstanden. Die Arbeit der deutschen Projektpartner wird im Forschungsprojekt im Rahmen der Förderrichtlinie Forschung für die zivile Sicherheit und der Bekanntmachung: „Zivile Sicherheit – Fragen der Migration“ auf deutscher Seite vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (Förderkennzeichen für die Forschungsstelle Datenschutz an der Goethe Universität Frankfurt am Main und für das Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien Stuttgart: 13N14765/13N14766). Die Forschungspartner aus Österreich werden durch das österreichische Förderungsprogramm für Sicherheitsforschung KIRAS vom Bundesministerium für Verkehr, In105 Vgl. Kühl 2019. 106 Vgl. Cope et al. 2017.
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DEMOKRATISIERTE ÜBERWACHUNG? Transformationen gesellschaftlicher Modelle im Überwachungsfilm der digitalen Gesellschaft Martin Hennig
1 EINLEITUNG: FILM, ÜBERWACHUNG UND GESELLSCHAFT Filmbilder und Überwachungsbilder besitzen strukturelle Ähnlichkeiten. So verweist Markus Schroer darauf, dass bereits einer der ersten Kurzfilme überhaupt – LA SORTIE DE L’USINE LUMIÈRE À LYON von 1895 – als Überwachungskonstellation angelegt ist.1 Wie hier eine Filmkamera das Schichtende in der titelgebenden Fabrik akribisch dokumentiert, sind sich Film- und Überwachungsbilder insofern ähnlich, als dass beide Bildformen auf visueller Ebene Wissen über eine filmisch erzeugte ‚Realität‘ produzieren. Im Rahmen dieser Strukturhomologie in epistemologischer Hinsicht weisen Überwachungsfilme2 stets – zumindest potenziell – eine selbstreflexive Dimension in Bezug auf die in ihnen verhandelte Bildlichkeit auf; sie machen Aussagen darüber, inwiefern Überwachungsbilder Rückschlüsse auf die Realität zulassen und damit auch allgemeine Aussagen zum Verhältnis von Film und Realität. Gleichzeitig sind Überwachungsfilme aber auch als Popularisierungsinstanzen von Überwachungsästhetik zu begreifen, in deren Rahmen häufig Schauwerte überwiegen und die nach John S. Turner stets im Modus der Verführung operieren.3 Vor diesem Hintergrund ist es mittlerweile als Konsens der Überwachungsforschung anzusehen, dass sich mit digitalen Überwachungstechnologien ein kultureller Paradigmenwechsel ereignet hat, der jedoch bislang nur eingeschränkt Niederschlag in den filmischen und bildlichen Verhandlungen von Überwachung gefunden hat, insofern nach wie vor konventionelle Bilder der Überwachung die Debatten dominieren. Steve Anderson verweist in dieser Hinsicht etwa auf die nach wie vor dominante Rolle von Visualität in aktuellen Überwachungsdiskursen, obwohl hierfür eigentlich eher abstrakte Datenprozesse maßgeblich seien.4 Tatsächlich lassen sich über die audiovisuellen Medien Film, Dokumentation und Computerspiel hinweg wiederkehrende Inszenierungsstrategien feststellen, die algorithmische
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Vgl. Schroer 2007. Vgl. für einen Forschungsüberblick zum Überwachungsfilm Kammerer 2019. Vgl. Turner 1998. Vgl. Anderson 2017.
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Prozesse und Datenstrukturen visuell verräumlichen und abstrakte Überwachungstechnologien subjektivieren.5 Auch David Lyon, ein zentraler Vordenker der Surveillance Studies, konstatiert, dass konventionelle Metaphern des Überwachungsdiskurses in Richtung Big Brother6 überholt und ungenügend seien, um die Konstellationen digitaler Überwachungskulturen angemessen zu beschreiben.7 Dabei verweist er als Alternative zu althergebrachten Bildern und Metaphern der Überwachung auf aktuelle Narrative wie den Roman THE CIRCLE oder die Serie BLACK MIRROR, fokussiert dabei jedoch auf der Oberflächenebene, indem er sich an den inhaltlichen Schwerpunkten der Beispiele wie „the rise of social surveillance and its merging with state, corporate and workplace surveillance“8 abarbeitet und entsprechende Parallelen zur Realität nachzeichnet.9 Dabei bleibt visuelle Sichtbarkeit nach wie vor ein relevantes Paradigma seiner Ausführungen zu digitalen Überwachungskulturen; gleichzeitig spielt die literarische oder filmische Darstellung von Überwachung in seinem Abriss der fiktionalen Beispiele eine nur untergeordnete Rolle. Hieran anknüpfend stellt sich nun die Frage, inwiefern in neueren filmischen Überwachungsnarrativen wie der Romanverfilmung THE CIRCLE oder BLACK MIRROR abseits von thematischen Aspekten tatsächlich unterschiedliche Gesellschaftsmodelle in der Tiefenstruktur entworfen werden und inwieweit sich dies auch in der visuellen Ordnung der Beispiele widerspiegelt oder ob die Verhandlung digitaler Überwachung in dieser Hinsicht noch den tradierten Paradigmen der Überwachungsdystopie folgt. In diesem Beitrag sollen deshalb drei gesellschaftstheoretische Modelle voneinander unterschieden werden (Disziplinar-, Kontroll- und Transparenzgesellschaft), die Überwachung einen zentralen Stellenwert in ihrem Gesellschaftsentwurf zuweisen, das Verhältnis von Subjekt, Überwachung und Gesellschaft jedoch jeweils unterschiedlich modellieren. Die drei Modelle sind dabei nicht als vollständig trennscharf zu verstehen, sondern gehen vielmehr auseinander hervor und können als analytische Heuristik dienen, um nach diachronen, mentalitätsgeschichtlichen Wandlungsprozessen in der Geschichte filmischer Überwachungsnarrative sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch auf der Ebene des Dargestellten zu fragen. Entsprechend werden im Folgenden filmische Verarbeitungen dieser Modelle in Bezug auf ihre jeweiligen Motive, Strukturen und Inszenierungsstrategien analysiert. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf dem Verhältnis der angesprochenen neueren Überwachungsnarrative zu Klassikern der Filmsparte liegen.
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Vgl. Hennig/Piegsa 2018. Sabrina Huber attestiert etwa auch großen Teilen des deutschsprachigen, literarischen Überwachungsdiskurses außerhalb von stilistischen Formspielen eine starke Konservativität, insofern dieser ausgehend von Orwell nach wie vor die klassischen Erzählmuster der Dystopie reproduziere. Vgl. Huber (im Erscheinen). Vgl. Lyon 2018, S. 151. Ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 147–197.
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2 POLITISCHE MODELLE IM ÜBERWACHUNGSFILM 2.1 Disziplinargesellschaft vs. Überwachungsstaat In „Überwachen und Strafen“ entwickelt Michel Foucault bekanntermaßen das Modell der Disziplinargesellschaft. Ausgehend von Jeremy Benthams architektonischem Entwurf des Panopticons wird ein Gesellschaftstypus entworfen, der auf der Internalisierung von Fremdbeobachtung und der freiwilligen Unterwerfung unter die damit gesetzten Normansprüche beruht. Hierbei ist zentral, dass Kontrolle nicht als Gegenbegriff zur Freiheit verstanden wird, sondern vielmehr überhaupt erst die Voraussetzung bildet, vor deren Hintergrund freie Handlungen ausgeübt werden können: „Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum darin dank einer Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert.“10 Überwachung ist hier also ein Garant für das Funktionieren und die Ökonomie eines Systems, das mit dem rasanten Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert neue gesellschaftliche Steuerungsmöglichkeiten entwickeln musste, die gleichzeitig eine Maximierung der vorhandenen Produktivkräfte gewährleisteten – wohingegen etwa das vorherige System der Martern zur Demonstration der Macht des Königs stets zu hohe Energiemengen für die Bekämpfung des Widerstands aufwenden musste und diese Kräfte selbst nicht nutzbar machen konnte.11 Überwachung ist aus dieser Perspektive eine Strategie zur Effizienzsteigerung von Systemen. Auch wenn Überwachung und Kontrolle damit allgemeine gesellschaftliche Mechanismen bilden, manifestieren sie sich in diesem Entwurf vorrangig in spezifischen öffentlichen oder halböffentlichen Disziplinarinstitutionen und Einschließungsmilieus (Fabriken, Schulen, Spitäler etc.) bzw. werden anhand dieser diskutiert. Die in der Disziplinargesellschaft internalisierten Machtverhältnisse schließen damit keineswegs private Bereiche aus, die der Kontrolle des Individuums unterstehen und die – so ein Konsens der Privatheitsforschung – eine Grundbedingung für dessen Wahrnehmung von Autonomie bilden.12 Die Philosophin Beate Rössler unterscheidet diesbezüglich zwischen drei Dimensionen des Privaten: einer lokalen, einer informationellen und einer dezisionalen. Lokale Privatheit wird als „Privatheit des Hauses, der Wohnung, des Zimmers und […] die Privatheit persönlicher Gegenstände“13 definiert, während informationelle Privatheit die Kontrolle über das Wissen Anderer bezüglich der eigenen Person meint.14 Der Begriff
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Foucault 1994, S. 278f. „[E]s handelt sich um Machtmechanismen, die nicht durch Abschöpfung wirken, sondern im Gegenteil durch Wertschöpfung, indem sie sich in die Produktivität der Apparate, in die Steigerung dieser Produktivität und in die Ausnutzung dieser Produkte vollständig integrieren.“ Ebd., S. 281. Vgl. Rössler 2001, S. 26. Ebd., S. 255. Vgl. ebd., S. 201.
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der dezisionalen Privatheit wiederum konturiert individuelle Handlungs- und Entscheidungsspielräume.15 Die traditionelle Überwachungsdystopie ist nun als Extremform einer panoptischen Institution angelegt, jedoch kein Abbild der Disziplinargesellschaft. In der britischen Romanverfilmung NINETEEN EIGHTY-FOUR von Michael Radford (1984) werden die genannten drei Dimensionen des Privaten sukzessive zum Verschwinden gebracht. Zuerst wird die lokale Privatheit der widerständigen Hauptfigur Winston getilgt, denn sie wird auf Schritt und Tritt beobachtet – auch und gerade in den eigenen vier Wänden. Dem folgend versucht der Staat an die wenigen verbleibenden privaten Informationen zu gelangen, die Winston verbotenerweise in seinem privaten Tagebuch ablegt. Dies alles dient letztlich dazu, die dezisionale Privatheit, also die Entscheidungsfreiheit der Bürger*innen, drastisch einzuschränken. So gelingt es dem Regime letztendlich, auch den Widerstand des Dissidenten Winston zu brechen und ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen: Regierungsbeamte erlangen Kenntnis von seiner panischen Angst vor Ratten, die in einer drastischen Folterszene gegen ihn eingesetzt wird. Dies führt schließlich zur physischen wie mentalen Kapitulation der Hauptfigur. Am Ende des Filmes wurden sämtliche privaten Rückzugsräume Winstons vom Staat okkupiert und ausnahmslos dessen Statuten unterstellt. Winstons physisches Geheimversteck in der Realität als Ausdruck seiner lokalen Privatheit wurde von Regierungstruppen gestürmt und auch sein psychischer Rückzugsort und damit zeichenhaft auch seine dezisionale Privatheit sind am Ende der Folter durch keine Grenze nach Außen mehr geschützt. Dies wird im Film anhand einer Okkupation von Winstons mentalem Rückzugsraum durch den Verhörbeamten angezeigt, der in der Vorstellung Winstons nun auch in den von ihm imaginierten (im Gegensatz zur totalitären Realität der Diegese stehenden), friedlichen Naturraum eindringt, der bislang als Winstons letztes privates Refugium diente. Darüber hinaus beschreibt der Film diejenigen Mechanismen, welche das staatliche Kontrollsystem aufrechterhalten. So operiert das lokale Justizsystem nach dem Konzept des Gedankenverbrechens, demgemäß bereits systemkritische Fantasien und Gedanken sanktioniert werden. Da Gedanken nun natürlich nicht nachweisbar sind, werden alle Bürger*innen unter einen Generalverdacht gestellt, in dessen Rahmen nur die ständige und ubiquitäre Überwachung Normabweichungen aufdecken kann. Dabei referiert die Rede vom bekannten „Großen Bruder“ auf eine intradiegetisch gar nicht existente, sondern wahrscheinlich von der regierenden Partei ersonnene fiktive Figur, die nie jemand persönlich zu Gesicht bekommen hat, welche in der Diegese aber dennoch omnipräsent ist. Ein Bild des „Großen Bruders“ blickt von unzähligen Bildschirmen auf die Bevölkerung, der Slogan „Big Brother is watching you“ konnotiert dabei sowohl eine Schutzfunktion als auch die stets im Hintergrund präsente Möglichkeit der Sanktionierung von Normverstößen, sodass die Bewohner des fiktionalen Staates gezwungen sind, ihr Verhalten von vornherein und an jedem Ort ohne Ausnahme an den Normen des Systems auszurichten. Wer das nicht tut, wie die Hauptfigur Winston, muss drastische Foltermaß15
Vgl. Rössler 2001, S. 144.
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nahmen fürchten, an deren Ende die geistige Umerziehung zum ‚perfekten‘ Bürger steht, für den eine Hinterfragung von Systemstatuten mental von vornherein ausgeschlossen ist. Im Narrativ von NINETEEN EIGHTY-FOUR, das modellbildend für das Sujet der Überwachungsdystopie ist, wird also einerseits eine Extremform des Panopticons entworfen, die auf permanenter Sichtbarkeit basiert und keine privaten Rückzugsräume mehr kennt. Gleichzeitig macht sich das Überwachungssystem gerade nicht unsichtbar, sondern sendet schon allein über das Konterfei des „Großen Bruders“ eine omnipräsente Sanktionsdrohnung, sodass hier tatsächlich nicht von einer vollständig internalisierten Überwachungslogik gesprochen werden kann.16 Gerade weil nun aber das Modell des Überwachungsstaates à la Orwell auf offenen Repressionsmechanismen basiert, konnotiert der Überwachungsapparat auch immer Möglichkeiten zu seiner Zerschlagung. In den entsprechenden Narrativen und den hier entworfenen Gegenmodellen zeigen sich in der Regel zeitgeschichtlich und kulturell signifikante Deutungsmuster der Überwachungssituation. So bringt ein Werbespot der Firma Apple aus dem Jahr 1984 die entsprechenden Leitdifferenzen an einer historischen Schwellensituation der Digitalisierung auf den Punkt.17 Zur Einführung des Macintosh-Computers nimmt Regisseur Ridley Scott inszenatorisch Bezug auf die im selben Jahr situierte Überwachungsdystopie. Dargestellt ist im Werbeclip ein in Grautönen gehaltenes, uniformes Kollektiv, das erst in Reih und Glied marschiert und später gebannt dem Monolog eines „Big Brother“ auf einer großen Videoleinwand folgt. Doch plötzlich durchbricht eine kolorierte Sportlerin die triste Szenerie, stürmt dynamisch auf den Bildschirm zu und zerstört diesen mit einem gezielten Hammerwurf. Der Spot endet mit der Botschaft: „On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like ‚1984‘.“
Abb. 1: Freies Individuum vs. graue Masse im Apple-Werbespot
Das im Spot aufgerufene Modell des Überwachungsstaates besteht dabei aus drei Komponenten: 16
17
In dieser Hinsicht macht Dietmar Kammerer (2008: 126) darauf aufmerksam, dass die Disziplinargesellschaft im Gegensatz zum Orwell’schen Überwachungsstaat dezentral und mit den Mitteln von „Anreiz, Kooperation und Freiwilligkeit“ operiere. Dennoch spielen Sichtbarkeit und die Internalisierung von gesellschaftlichen Normen in NINETEEN EIGHTY-FOUR eine zentrale Rolle, sodass es sinnvoll erscheint, NINETEEN EIGHTY-FOUR in Relation zum panoptischen Modell zu diskutieren. Der Spot ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=2zfqw8nhUwA (letzter Zugriff: 23.03.2020).
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1. Kulturell: Das Überwachungssystem wird durch den expliziten, referenziellen Bezug in der abschließenden Texttafel und im Spot selbst durch simulierte Referenzen (Analogien im filmischen Discours) auf den Film NINETEEN EIGHTY-FOUR bzw. Paradigmen seiner literarischen Vorlage konkretisiert. Dies ruft kulturelles Wissen in Bezug auf den Ursprungstext auf, etwa dass NINETEEN EIGHTYFOUR den stilbildenden Text in Bezug auf Narrative des Überwachungsstaates darstellt, womit das im Spot eigentlich nicht näher konkretisierte System als staatliches erscheint. In dieser Hinsicht ist weiterhin signifikant, dass Film wie Roman in der Beschreibung des Überwachungsstaates auf kommunistische Systeme referieren,18 was im Werbespot wiederum implizit über kollektivistische Symbolik indiziert wird. Das Attribut der individuellen Freiheit wird im Spot implizit mit einem politischen Ost/West-Gegensatz verknüpft, wobei Freiheit im Werberahmen freilich vorrangig Konsumfreiheit bedeutet, was aber in Opposition zur Gleichschaltung im staatlich gesteuerten Kollektiv zum heroischen Akt stilisiert wird. 2. Medial: Die Darstellung der kollektivistischen Vermassung ruft gleichzeitig eine mediale Opposition auf, nämlich zwischen unidirektionalen, passivierenden Massenmedien auf der einen Seite und aktivierenden, interaktiven Individualmedien auf der anderen Seite. Zur Zeit der Veröffentlichung des Spots sind Computer vor allem als industrielle Großrechner im kulturellen Wissen präsent, der beworbene Personal Computer dezentralisiert dieses Machtverhältnis in der Werbefiktion, was sich im Spot durch die Zerstörung der massenmedialen Videoleinwand durch ein einzelnes Individuum repräsentiert. 3. Sozial: Auf sozialer Ebene verheißt der Macintosh damit Selbstermächtigung und vor allem Individualisierung, was schon durch die dominante Farbsemantik des Spots (farbige Sportlerin vs. graue Masse) in den Vordergrund gestellt wird. In Bezug auf die Protagonistin wird dann auch die Blickrichtung der Überwachungssituation invertiert: Während die graue Masse uniform in Richtung Bildschirm starrt, wird die Rebellin von der Filmkamera fixiert, was im Rahmen ihres Triumphs jedoch einen positiv konnotierten Blick darstellt, wobei die individuellherausragende Ästhetik der Figur bereits in Richtung des zentralen Markenimages der Firma Apple deutet. Obwohl die Referenz auf den Überwachungsstaat also das Gesehenwerden eigentlich negativ kodiert, zielt die Ästhetik seiner Zerschlagung auf Sichtbarkeit gegenüber der Masse. Es ist signifikant, dass die hier positiv semantisierten Attribute und Wertedimensionen auch noch in einigen neueren filmischen Verarbeitungen des Motivs des digitalen Überwachungsstaates erhalten geblieben sind. Speziell die sehr prominenten US-amerikanischen Beispiele, die in prinzipiell demokratisch operierenden Systemen angesiedelt sind, machen sich das Motiv vom Staat im Staate zu Nutze, um am Ende ein korrumpiertes (teil-)staatliches System zu zerschlagen und dabei gleichzeitig das Vertrauen in das freiheitlich-westliche Makrosystem und dessen Wertedimensionen zu erhalten. Dies gilt auch auf technischer Ebene: Während Winston als Widerständler in NINETEEN EIGHTY-FOUR auf ein anderes Me18
Dies geschieht etwa über die Darstellung planwirtschaftlichen Agierens bei einer gleichzeitig permanenten ökonomischen Mangelsituation.
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dium (sein Tagebuch) zurückgreifen muss, wird der Überwachungsstaat im Thriller ENEMY OF THE STATE (1998) oder dem pseudo-authentischen Bio-Pic SNOWDEN (2016) mit seinen eigenen digitalen Mitteln in die Schranken gewiesen. Beide Filmtitel stellen ein einzelnes Individuum in den Fokus, das sich jeweils selbst gegenüber einem staatlichen Überwachungssystem ermächtigt und sich dabei die Mittel der digitalen Macht souverän aneignet. Die digitalen Überwachungspraktiken werden am Filmende dann jeweils demokratischen Kontrollmechanismen unterstellt, jedoch an sich weder in ihrer prinzipiellen Anwendbarkeit noch in ihrer Wirksamkeit hinterfragt; Privatheitsverluste werden demgegenüber lediglich als Probleme der unzureichenden Grenzziehung zwischen Staat und Individuen verstanden. Deshalb ist es den Produktionen auch möglich, selbst als Teil einer kulturellen Überwachungsästhetik zu agieren, in deren Rahmen die ästhetischen Paradigmen von Überwachungsbildern auch die Ästhetik der Erzählungen selbst prägen, und die entsprechenden Mechanismen auf der Inhaltsebene zugleich kritisch zu bewerten – denn im Fokus steht hier nicht etwa die Zerschlagung des digitalen Panopticons, sondern die Fiktion von dessen Eingrenzung auf spezifische gesellschaftliche Funktionsbereiche. Die Diskrepanz zwischen einzelnen panoptischen Systemen und der viel umfassenderen Idee der Disziplinargesellschaft wird hier ideologisch wirksam, indem erstere kritisch behandelt werden, die Filme jedoch gleichzeitig als Ausdruck von Ideologemen der Disziplinargesellschaft gelesen werden können.19 2.2 Kontrollgesellschaft Mit der Digitalisierung haben sich etliche Relektüren von und scheinbare Gegenentwürfe zu Foucault ergeben, die jeweils Akzente neu setzten. Dabei wurden Konzepte entworfen wie das Post-Panopticon20, welches nicht länger an spezifische Territorien und fixe Raumarrangements gebunden ist (die bei Foucault, wie erwähnt, noch in Gestalt der diskutierten disziplinarischen Institutionen gegeben waren), oder das Synopticon21, bei dem im Gegensatz zum Panopticon die Vielen die Wenigen beobachten (etwa beim Reality-TV). Allerdings sind diese Tendenzen bei Foucault natürlich durchaus schon angelegt, gerade weil das Panopticon von ihm prinzipiell als allgemeiner gesellschaftlicher Mechanismus entworfen wurde.22 Ein breiteres Gesellschaftskonzept, das bereits in Richtung der beschriebenen Tendenzen weist und sich als direkte Anknüpfung an die Disziplinargesellschaft verstehen lässt, stellt Gilles Deleuzes’ Entwurf der Kontrollgesellschaft dar, die auf einer vollständigen Entgrenzung des diszipli19
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So schreibt Catherine Zimmer (2015: 130) zu ENEMY OF THE STATE: „By establishing both a visual and narrative continuity between the personal and the political, the singular and the total, the house and the globe, all through devices of surveillance and mediation, the film indicates that it is in some ways proper domestic work – and the task of the media consumer – to establish one’s place in the global system.“ Vgl. Lyon 2006. Vgl. Mathiesen 1997. Vgl. Caluyaa 2010.
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narischen Modells basiert. Deleuze konstatiert eine dauerhafte Krise der Einschließungsmileus, die sich in Form von andauernden Reformierungsbestrebungen des Gesundheitssystems, von Bildungsinstitutionen etc. abzeichne.23 Während sich das Individuum dort an vergleichsweise fixe „Gußformen“ anzupassen habe,24 seien die Kontrollen mobil, flexibel und setzten die Individuen in ein Verhältnis „permanenter Metastabilität, zu denen äußerst komische Titelkämpfe, Ausleseverfahren und Unterredungen gehören“, wobei sie sich in prinzipiell offenen Milieus, jedoch in permanenter Rivalität zueinander und damit in unsicheren, niemals abschließend fixierten Verhältnissen befinden würden.25 Während hier scheinbar sehr treffend der Lebensmodus des Prekariats beschrieben wird, besteht die eigentliche Pointe der Kontrollgesellschaft nach Deleuze darin, dass sie unter dem Prinzip der kapitalistischen Streuung alle vormals zwar analog operierenden, aber dennoch unterschiedlichen Einschließungsmilieus unter dieselben ökonomischen Logiken vereint und Individuen auch darüber hinaus im Rahmen ihrer Selbstvermarktung einer andauernden Selbstüberwachung, -kontrolle und -optimierung unterwirft. Inwiefern solch ein System der „Metastabilität“ eine mentalitätsgeschichtlich dominante Stellung eingenommen hat, lässt nun schon ein Blick auf die aktuelle Kinolandschaft vermuten. Nicht umsonst boomt in neuerer Zeit die Sparte des Superheldenfilmes, die wie keine andere von einer systemischen Nutzbarmachung exzeptioneller Kräfte handelt, die auf einer Internalisierung von gesellschaftlichen Normansprüchen durch die Protagonisten beruht. Wäre dieser Prozess durchaus noch mit dem Modell der Disziplinargesellschaft beschreibbar, ist es gerade das zentrale Merkmal der seriellen Produktion von Superheldencomics, Filmen, Videospielen etc., dass man stets aufs Neue Zeuge des prekären Status der Stärksten aller Gesellschaftsmitglieder wird, denen bei Fehlverhalten kontinuierlich der gesellschaftliche Ausschluss droht und die sich mit immer neuen Gesten der Unterwerfung und des Selbstverzichts ihrer Stellung zu versichern haben.26 Nun ist es seit einigen Jahren ein zentrales Thema der Privatheitsforschung, inwiefern gerade die öffentliche Inszenierung privater oder intimer Inhalte auf digitalen Medien und speziell auf Social Media-Seiten der Selbstversicherung des Subjekts – durchaus auch im Sinne der Kontrollgesellschaft – dient. Galt der Widerspruch zwischen dem der Privatheit zugemessenen Wert und den offenherzigen Veröffentlichungspraktiken im Internet lange Zeit als „Privacy Paradox“27, dominieren mittlerweile Ansätze die Forschung, die den digitalen Exhibitionismus als gezielte mediale Strategie (etwa zur Erzeugung von Authentizität)28 sowie als Praktik der Selbstsorge und biografischen Arbeit29 interpretieren. 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Deleuze 1990, S. 347. Vgl. ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 348. Vgl. zum Superheldenfilm ausführlich Hennig 2010. Susan Barnes verwendete den Begriff erstmals in einem Essay aus dem Jahr 2006, um den widersprüchlichen Umgang der US-amerikanischen Gesellschaft mit Privatheit zu beschreiben. Vgl. Barnes 2006. Vgl. Grimm/Krah 2014, S. 20f. Vgl. Dickel 2013.
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Die Serie BLACK MIRROR (GB, seit 2011, Channel 4/ab Staffel 3 Netflix), die in jeder Episode ein anderes im Zusammenhang mit der Digitalisierung stehendes negatives Zukunftsszenario in emphatischer, zugespitzter Form behandelt, entwirft in der Episode NOSEDIVE (2016, Staffel 3, Episode 1) nun ein Gesellschaftsmodell, das analog zur Kontrollgesellschaft das gesamte Gesellschaftssystem denselben marktkonformen Logiken unterwirft, als deren Signifikanten jene sozialen Praktiken der Selbstversicherung und -vermarktung im Internet auftreten. Im Rahmen dieses Modells werden Paradigmen und Strukturen des digitalen Raums in die Realität der dargestellten Welt übertragen und substituieren dort konventionelle Formen des gesellschaftlichen Umgangs: Jede soziale Interaktion wird analog zu gängigen digitalen Scores (wie etwa den Amazon-Produktbewertungen) von den dargestellten Akteuren mit einem bis fünf Sternen bewertet und zu einem personalisierten Score addiert, der die Grundlage für alle weiteren (privaten, öffentlichen, beruflichen, ökonomischen etc.) Aktionen des Individuums bildet.30 Vor diesem Hintergrund publizieren Bürger*innen sämtliche Details ihres Tagesablaufs in retuschierter, optimierter Form, um möglichst hohe Bewertungen zu erzielen. Die Interaktion mit hochbewerteten Personen lässt den Score steigen, Interaktionen mit Abweichlern führen zum sozialen Abstieg. Entlang des hier verhandelten Zeitgeists31 sind folglich alle Figuren gezwungen, durchgehend Selbstbeobachtung, -optimierung und -vermarktung zu betreiben. Die dominanten Pastelltöne der Episode (vgl. Abb. 2 links), die Wohnraumarchitektur und Kleidungscodes der Figuren verweisen dabei sowohl auf spezifische ästhetische Normen des digitalen Raums in Form von Fotofiltern bei Instagram etc. als auch auf mediale Darstellungen der bürgerlichen US-amerikanischen Mittelschicht der 1950er-Jahre, insbesondere auf die konventionell-konservativen, restriktiven Ordnungen amerikanischer Sitcoms und Familienserien in diesem Zeitraum.32 In der eigentlichen Episodenhandlung befindet sich die Hauptfigur Lacie zu Beginn kurz vor dem sozialen Aufstieg in die High Society. Ihr solider Score von 4.2 Punkten steht vor einer rapiden Steigerung, als sie von einer ehemaligen Freundin als Trauzeugin zu einer Hochzeit mit Gästen aus dem 5-Sterne-Bereich eingeladen wird. Doch die Episode schildert eine Abwärtsspirale, die mit einem Streit zwischen Lacie und ihrem niedrig bewerteten Bruder33 beginnt, der zu Zeitverlust führt, was in eine Vielzahl weiterer Komplikationen und unglücklicher Zufälle mündet, die jeweils eine Abwertung von Lacies Score bedingen. Diese soziale Abwärtsspirale korreliert freilich mit einer Selbstfindung der Protagonistin, die immer stärker ihren wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen beginnt und schließlich auf30 31
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Vgl. auch die Diskussionen um die Einführung eines Sozialkredit-Systems in China, aus dem sich eine weitere kulturelle Referenz der in NOSEDIVE entwickelten Dystopie speisen mag. Bublitz (2010: 167) beschreibt die hier verhandelte gesellschaftliche Tendenz als post-disziplinär: „Hier geht es um Arrangements, die Fremd- in Selbstregulierung überführen, post-disziplinäre Formen der feedbackgeleiteten Selbststeuerung ausbilden und die Verantwortung für Anpassungsleistungen an Normalitätsstandards und Optimierungsstrategien dem Einzelnen überlassen.“ Vgl. Kelsch 2019. Ihrer leiblichen Familie und den in der biologischen Abstammung angelegten sozialen Hierarchien kann Lacie folglich trotz aller Selbstinszenierung und -optimierung nicht entkommen.
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grund der damit korrelierten Normverstöße verhaftet wird. Doch dieses Ende erweist sich als Glücksfall: Im (durch seine gläserne Architektur ansatzweise panoptisch gestalteten) staatlichen Gefängnis (vgl. Abb. 2 rechts) wird Lacie von ihrer Scoring-Hardware befreit, wobei die Techniktilgung zu einem Gefühl neuentdeckter Freiheit führt, die sie ad hoc in Form einer Beleidigungskanonade mit einem Mithäftling auslebt.
Abb. 2: Das optimierte Individuum und sein letzter Rückzugsraum in NOSEDIVE
Ironischerweise ist es in diesem Fall also die panoptische Einschließung im Gefängnis, welche wieder freie Selbstentfaltung gewährt. Der offene Anpassungsdruck des Staates (symbolisiert im überwachten Gefängnis) nimmt gegenüber der internalisierten gesellschaftlichen Normierung im gesellschaftsweiten sozialen Panopticon eine nur marginale Rolle ein. Denn im Gegensatz zu Foucaults Modell, das Sanktionierung und tatsächliche Überwachung langfristig überflüssig macht, werden Abweichungen in der dargestellten Gesellschaft unmittelbar sozial sanktioniert und ausgeschlossen. Dabei wird ‚Normalität‘ entlang von Konsumästhetik und Strategien der idealisierten Selbstdarstellung ausbuchstabiert, die sich an den Normen des Systems orientiert. Abweichungen kann es deshalb nur noch in gesellschaftlich separierten Räumen wie dem Gefängnis geben, welche das Individuum dem Zwang zur permanenten Selbstkontrolle und dem damit verknüpften Leistungsdruck entheben (vgl. auch die abweichende Farbsemantik wie auch das durch den Kleidungscode aufgerufene Hochzeitsmotiv in Abb. 2 rechts, welches das Gefängnis als eigentliches Ziel der Reise ausweist). NOSEDIVE nimmt also – in vielen Aspekten analog zur Kontrollgesellschaft – eine soziale Rekontextualisierung des Panopticon-Modells vor, das räumlich entgrenzt wird, wobei das Gefängnis demgegenüber als Raum der Gewährung lokaler und dezisionaler Privatheit semantisiert ist. Die ökonomischen Maximen folgende, soziale Normierung substituiert in NOSEDIVE den totalitären Überwachungsstaat, wie er in medialen Verhandlungen der Disziplinargesellschaft tradiert wird (vgl. Abschnitt 2.1). Dadurch geraten allerdings die gesellschaftlichen Akteure ‚hinter‘ dem System aus dem Fokus und der Staat kann wieder eine freiheitsermöglichende Rolle einnehmen, indem er sozial wirksame Grenzen einzieht. Obwohl die Episode also als Kritik an der Kontrollgesellschaft daherkommt, wirkt sie doch gleichermaßen als ihr Ausdruck, insofern die Verantwortung für das dystopische Gesellschaftssystem den Akteuren selbst symbolisch zugeschrieben bzw. auf soziale Internetpraktiken als Referenzpunkte der dargestellten Entwicklungen verwiesen wird. Insofern schwingt hier bereits eine Utopie der rein sozialen, sozusagen basisdemokratischen Lösung der Überwachungsproblematik mit, für die der Staat lediglich die
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passenden Rahmenbedingungen bereitzustellen habe, die im nächsten Abschnitt behandelt wird. 2.3 Transparenzutopien Das Modell der Kontrollgesellschaft findet sich affirmativ umkodiert auch als Transparenzutopie, insofern hier Überwachung selbst demokratisiert und zur positiven Systemkonstituente transformieren soll. Die Idee ist, vertikale Überwachungsstrukturen und darauf basierende Machthierarchien zwischen Politik und Wirtschaft auf der einen und Bürger*innen auf der anderen Seite zu tilgen und gleichzeitig die Ebene horizontaler, quasi-egalitärer Überwachung zu stärken, um Normverletzungen sichtbar zu machen.34 In diese Richtung argumentiert etwa die Romanverfilmung THE CIRCLE (2017). Der Film beginnt als utopischer Gesellschaftsentwurf innerhalb des geschlossenen Systems des titelgebenden Digitalkonzerns, der schnell dystopische Züge für Privatheit als Wert annimmt, jedoch als Transparenzutopie endet, die wiederum eine Lösung für die vorher behandelten Privatheitsproblematiken zu bilden scheint. Die Handlung beginnt mit der Aufnahme der digital native Mae in den „Circle“, der Referenzen auf die Big Five der realen Internetwirtschaft aufweist.35 Im Film wie im zugrundeliegenden Roman von Dave Eggers aus dem Jahr 2013 wird nun eine sukzessive Initiation der Hauptfigur Mae in die Konzernphilosophie geschildert, die auf sich steigernden Leistungsanforderungen an das Subjekt beruht und mit einem Zwang zur Partizipation an Konzernaktivitäten einhergeht: „Dabei zielen die Kampfwörter ‚Community‘ und ‚Partizipation‘ weniger auf die Herstellung von Gemeinschaft ab, als auf die Etablierung von Rivalität und gegenseitiger Beobachtung.“36 Diese Rivalität macht für das Subjekt (analog zur Kontrollgesellschaft) eine dauerhafte Selbstüberwachung, insbesondere im Sinne der Messung von eigenen Leistungen, erforderlich, wobei diese Praktik im Handlungsverlauf zur öffentlichen Selbstzurschaustellung transformiert. So beschließt Mae nach einiger Zeit, selbst ‚transparent‘ zu werden, das heißt ihr Leben beim Circle rund um die Uhr von Kameras filmen zu lassen und mit ihren Followern zu teilen. Diese Entscheidung resultiert aus der Idee, ein unbeobachtetes Leben führe zu gefährlichen Normverstößen (Mae stiehlt ein Kajak und kommt dabei fast ums Leben),37 was zeigt, dass die Hauptfigur die Konzernideologie zu diesem Zeitpunkt bereits komplett verinner34 35
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Dieser Diskursstrang firmiert auch unter dem Label der „Post-Privacy“. Einen prominenten Beitrag zur deutschen Debatte lieferte Christian Heller. Vgl. Heller 2011. Um nur drei zu nennen: Die Konzernzentrale des Circle ähnelt in der dort praktizierten Verschmelzung von Arbeit und Freizeit dem Google Campus, die Softwareangebote ähneln denjenigen des sozialen Netzwerks Facebook und neue Produkte des Circle werden wie bei Apple auf rhetorisch ausgefeilten öffentlichen Keynotes präsentiert. Gellai 2016, S. 297. Ein Verweis auf Überwachung als normative Instanz findet sich natürlich nicht erst bei Foucaults Beschreibung des Panopticons, sondern bereits in der Bibel: „Die Augen des Herrn sind überall, sie erspähen die Bösen und die Guten.“ (Altes Testament, Sprüche 15,3)
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licht hat und Überwachung für sich weiter als Anreiz zur Selbstoptimierung interpretiert.38 Im Roman wird auf dieser Grundlage die kontrollgesellschaftliche Idee der nur scheinbar selbstbestimmten, öffentlichkeitswirksamen und damit sozial überwachten Setzung immer neuer Leistungsanreize parodiert. Während sich der Wille zur Transparenz noch aus einem Unfall herleitet, teilt Mae bald umfänglich Daten aus ihrem gesamten Tagesablauf: At 10:11 p.m., she said goodnight to her watchers – there were only 98,027 at that point, a few thousand of whom reciprocated her good-night wishes – lifted the lens over her head and placed it in its case. She was allowed to turn off the […] cameras in the room, but she found she rarely did. She knew that the footage she might gather, herself, for instance about movements during sleep, could be valuable someday, so she left the cameras on.39
Die Pointe ist gegenüber konventionellen dystopischen Entwürfen von Überwachungsstaaten und -gesellschaften freilich, dass sich Mae durchgängig affirmativ gegenüber der Konzernideologie verhält, sie bleibt im Roman wie im Film ein „Nicht-Charakter“40, der sich allein über sein öffentlich inszeniertes Fremdbild definiert. Wie Bärbel Harju herausarbeitet, referiert Eggers damit im Roman auf die – insbesondere in Bezug auf die USA häufiger konstatierte – Kultur der öffentlichen Bekenntnis und Selbstthematisierung.41 Im Text wird auf dieser Grundlage ein binäres Modell entworfen, bei dem sich Transparenz und Privatheit diametral und unvereinbar gegenüberstehen,42 was sich vor allem darin repräsentiert, dass Mae aufgrund der von ihr propagierten Transparenzideologie sukzessiv sämtliche privaten Kontakte zu Freunden, Familie und ihren ehemaligen wie gegenwärtigen Liebhabern verliert. In dieser Hinsicht nimmt nun die Hollywood-Verfilmung als visuelles Medium gegenüber dem Roman einige signifikante Bedeutungsverschiebungen vor, die eine deutlich ambivalentere Position gegenüber der hier dargestellten digitalen Kultur einnehmen. Zwei davon werden im Folgenden eingehender analysiert: I) Während der Roman mit der Transparentwerdung Maes und ihrer Einwilligung zur sozialen Überwachung die Verblendung seiner Hauptfigur deutlich macht, inszeniert der Film den digitalen Exhibitionismus seiner Protagonistin als sozial (zumindest partiell) funktional. Auf Ebene der Darstellung wird hier eine Art Pseudo-Kommunikation zwischen Mae und ihrem digitalen Publikum inszeniert.
38 39 40 41 42
Wobei Maes Entscheidung zur Transparentwerdung von den Konzernchefs öffentlichkeitswirksam inszeniert und letztlich – wie jeder Verlust von Privatheit im Text – ebenfalls im Sinne des Circle kapitalisiert wird. Eggers 2013, S. 332f. Gellai 2016, S. 304. Vgl. Harju 2018. Diese Argumentation geht u. a. zurück auf Zygmunt Baumans Modell der confessional society, in der Identität durch das öffentliche Teilen intimer Details erzeugt werde. Vgl. Bauman/Donskis 2013. Vgl. Harju 2018, S. 234–237.
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Abb. 3: Digitales Kollektiv in THE CIRCLE
Zuerst werden stets Handlungen Maes gezeigt, auf welche die im Folgenden eingeblendeten textuellen Kommentare der Zuschauenden unmittelbar dialogisch zu reagieren scheinen. Auch sind es im Schwerpunkt kollektive soziale Interaktionen in halböffentlichen Kontexten, die von den Followern begleitet werden, wobei sich die virtuell Zuschauenden lediglich in das vollständig mediatisierte Sozial- und Arbeitssetting (vgl. Abb. 3 links) oder innerhalb einer Bühnenvorführung in das sowieso schon realräumlich vorhandene Publikum eingliedern (vgl. Abb. 3 rechts). Dabei ist es bereits bemerkenswert, das Maes Erfahrungen überhaupt als teilbar dargestellt werden. Weiter wird ganz im Sinne des Transparenzgedankens eine Art Gleichgewichtszustand der Überwachung inszeniert: Genau wie die wenigen Circle-Mitarbeiter*innen die vielen Bürger*innen überwachen, genauso werden sie von diesen ‚rücküberwacht‘. Auf visueller Ebene ist dabei allerdings auffällig, dass im Film bevorzugt die eine Seite inszeniert wird, nicht etwa die potenziell voyeuristische Perspektive einzelner Circle-Mitarbeiter*innen, sondern vielmehr die Perspektive der Masse auf einzelne Figuren und Situationen innerhalb des Circle, was die weniger negativ konnotierte Blickrichtung bildet und wiederum demokratische Werte im Sinne einer Überwachung der Mächtigen aufruft. II) Dass der durch die sehende Masse ausgelöste Anpassungsdruck normierende, negative Effekte haben kann, machen Roman wie Film sehr deutlich. Auf der Ebene der erzählten Geschichte wurde allerdings insbesondere das Ende des Romans im Film drastisch abgewandelt und in seinen Aussagen ins Gegenteil verkehrt. In Buch und Film führt der Massenüberwachungsdruck zwar zum Tod von Maes Exfreund Mercer, allerdings läuft Maes weitere Entwicklung im Film nicht auf eine soziale Isolation wie im Originaltext hinaus. Dort führt die Konzentration auf ein rein digitales Leben zum vollständigen Verlust aller realen sozialen Kontakte der Protagonistin. Dies wird im Film vollständig zurückgenommen, denn Maes Entwicklung führt hier lediglich zur zentralen Einsicht, dass Transparenz nur solange problematisch ist, wie soziale Hierarchien existieren. Folgerichtig macht Mae im Finale auch die Circle-Chefs gegen ihren Willen transparent, wobei sich etliche Normverstöße am Ende der Hierarchiekette offenbaren. Prinzipiell bleibt die Transparenzutopie damit bestehen und unterstreicht die unterstellte Korrelation von Sichtbarkeit und Gerechtigkeit, insofern hier abschließend soziale Hierarchien negiert werden, indem nun alle dargestellten Räume denselben Paradigmen untergeordnet sind. Dieses ‚demokratische‘ Überwachungsmodell versieht nun auch alle vorher getätigten Filmaussagen zur Verbindung von Überwachungstechnologien mit demokratischen Werten – etwa in Bezug auf Möglichkeiten zur Erhöhung der Wahl-
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beteiligung über eine Kopplung der Wahl an Circle-Accounts oder zur Bekämpfung von Menschenrechtsverstößen mittels Überwachung – mit Ambivalenz: Während die Gattung der Dystopie im Normallfall den Umschlag der Utopie in ihr Gegenteil schildert,43 bleibt dieser eindeutige Wechsel hier aus. In diesem Rahmen wird die Grenztilgung in der Kontrollgesellschaft im Film letztlich als potenziell positiv ausgewiesen, sofern die Selbstoptimierung von Individuum und Kollektiv eben nicht wirtschaftlichen Zwecken dient, sondern scheinbar selbstgewählten individuellen wie kollektiven Werten folgt (die natürlich nach wie vor den ökonomischen Maximen und den Selbstoptimierungslogiken der Kontrollgesellschaft unterliegen). 3 NEUE ÜBERWACHUNGSNARRATIVE? Im Vergleich der drei besprochenen Modelle lassen sich unterschiedliche Blickund Bildordnungen festmachen. Während Darstellungen von Überwachungsstaat und Disziplinargesellschaft das Publikum im Rahmen des Paradigmas Sichtbarkeit in der Regel selbst zu Voyeuren machen und an einer zeitgenössischen Überwachungsästhetik partizipieren, inszenieren sie auf Handlungsebene Widerstand und Selbstermächtigung, die auf eine Aneignung der visuellen Apparate sowie der Blick- und Bildhierarchien des Überwachungssystems zielen. Dagegen knüpft die Darstellung der Kontrollgesellschaft in BLACK MIRROR: NOSEDIVE an ‚klassische‘ Verhandlungen von sozialer Überwachung, Voyeurismus und Exhibitionismus44 wie in REAR WINDOW (1954) oder THE TRUMAN SHOW (1998) an und stellt die Ausweglosigkeit des Individuums im Zentrum des sozialen Panopticons in den Mittelpunkt, weswegen die adäquate Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wieder zur Aufgabe des Staates transformiert. Die Transparenzutopie von THE CIRCLE schließlich inszeniert auch auf visueller Ebene eine Art ‚egalitäre‘ Ordnung des Sehens und Gesehen-Werdens. Die hier analysierten visuellen Ordnungen sind dabei durchaus typisch für die jeweiligen Gesellschaftsdarstellungen, was schon ein kurzer Blick auf konventionelle filmische Darstellungsstrategien von Social Media sowie omnipräsenter digitaler Datenräume unterstreicht. Zu THE CIRCLE analoge Visualisierungen der Transparenzgesellschaft, allseitiger Sichtbarkeit und einer durch Social Media vermittelten ubiquitären Publikumsinstanz ziehen sich etwa von der kritischen amerikanischen Gesellschaftsstudie MEN, WOMEN & CHILDREN (2014) (vgl. Abbildung 4 links) bis hin zur deutschen Horrorkoproduktion FRIEND REQUEST (2016) (vgl. Abbildung 4 rechts).
43 44
Vgl. Voßkamp 2016. Dabei lässt sich in Relation zu den Entwicklungen des Mediensystems über die aktuelle Filmund Serienlandschaft hinweg feststellen, dass Überwachungsnarrative gegenwärtig eher das Thema des (digitalen) medialen Exhibitionismus in den Vordergrund stellen und den Voyeurismus des Zielpublikums demgegenüber fraglos voraussetzen. Vgl. hierzu ausführlich Hennig 2019.
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Abb. 4: Darstellungen der Transparenzgesellschaft
Narrative wie BLACK MIRROR oder THE CIRCLE lassen sich damit tatsächlich als Indizien eines Strukturwandels im Überwachungsdiskurs festmachen, denen im filmischen discours – zumindest punktuell – auch eigene Bildordnungen unterlegt sind. Allerdings ist der Hoffnung Lyons einer verstärkten kulturellen Sensibilisierung des Zielpublikums durch diese Beispiele zu widersprechen: Zwar rücken hier die Themen der Überwachungsgesellschaft und -kultur sowie von Selbstüberwachung und -adjustierung auf kollektiver wie individueller Ebene verstärkt in den Fokus, allerdings lassen sich jene in den Beispielen entworfenen Lösungsmodelle doch eher als resignativ einschätzen. Vor dem Hintergrund einer digitalen Gesellschaft wird entweder ein stark komplexitätsreduziertes Bild naiver digitaler (Jugend-)Kulturen gezeichnet, komplett auf den Staat als Rettungsinstanz abgestellt oder die Überwachungssituation gar vollständig als Transparenzutopie affirmiert. Demgegenüber erscheint es sowohl text- als auch kulturanalytisch sinnvoll, alle drei besprochenen Gesellschaftsformen als kultur- und medienhistorisch bedingte, unterschiedliche Akzentuierungen von gesellschaftlichen Überwachungskonstellationen zu verstehen, die „heterogene Praktiken, Apparate, Akteure, Diskurse und Instanzen“45 umfassen und zusammenführen und deren jeweilige Mechanismen dann gerade auch in ihrer wechselseitigen Bedingtheit im Blick zu behalten sind, um das komplexe Überwachungsgefüge der Gegenwart beschreibbar zu machen. BIBLIOGRAFIE Anderson, Steve (2017): Technologies of Vision. The War Between Data and Images. Cambridge/ London: MIT Press. Barnes, Susan (2006): A privacy paradox: Social networking in the United States. In: First Monday, Jg. 11, Nr. 9. Online: https://firstmonday.org/article/view/1394/1312 (letzter Zugriff: 26.03.2020). Bauman, Zygmunt/Donskis, Leonidas (2013): Moral Blindness. The Loss of Sensitivity in Liquid Modernity. Cambridge. Bublitz, Hannelore (2010): Täuschend natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatismen, ihrer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft. In: Dies. et al. (Hrsg.): Automatismen. Paderborn: Fink, S. 153–172. Caluyaa, Gilbert (2010): The post-panoptic society? Reassessing Foucault in surveillance studies. In: Social Identities: Journal for the Study of Race, Nation and Culture, Jg. 16, Nr. 5, S. 621– 633. Deleuze, Gilles (1990): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Unterhandlungen. 1972– 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 346–352. 45
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METAPHER „TRANSPARENZ“ Lea Watzinger
1 DIE UBIQUITÄT VON TRANSPARENZ In diesem Aufsatz soll der Begriff der Transparenz als politischem Schlagwort kritisch analysiert werden. Transparenz scheint zur Ideologie unserer Zeit geworden zu sein, zum Erfordernis, dem zu entsprechen Anspruch einer als modern verstandenen Politik und Gesellschaft, aber auch des Individuums ist. Der Staat, Unternehmen und Organisationen sollen transparent(er) werden, damit einerseits Korruption und andere „Übel der Politik“1 verhindert und bekämpft sowie andererseits die Demokratie gestärkt werde. Seit den 2000ern entstanden zahlreiche Organisationen, Vereine und Plattformen, die Transparenz von Seiten des Staates einfordern.2 Ihnen geht es in der Regel um die Aufdeckung von Skandalen und darum, eine (vermeintlich) bessere Demokratie zu forcieren und die bürgerliche Mitbestimmung zu stärken. Auch Politik und Gesetzgebung selbst rücken zunehmend vom Prinzip der Regelgeheimhaltung ab.3 Aber auch die großen Internetkonzerne und Plattformbetreiber setzen das Thema auf die Agenda, mit ganz anderer normativer Stoßrichtung. Den Konzernen geht es um die Transparenz der gläsernen Konsument*innen: dabei ist gläsern jedoch weniger positiv, eher beängstigend konnotiert.4 Sie etablieren Transparenz als gesellschaftlichen Wert, der nach der Logik zu funktionieren scheint, wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts für sich behalten: So wird Privatsphäre suspekt. Transparenz ist also ein umfassender, mehrdimensionaler Begriff mit zwei grundlegenden, sich gleichzeitig widerstrebenden Bezugspunkten, je nachdem wer oder was transparent sein soll:5 nämlich Transparenz des Staates und Transparenz des Individuums. In diesem Aufsatz soll auf die erste Ausrichtung fokussiert werden, wenn sich Transparenz auf den Staat bezieht, wobei sie sodann als eine Art Nachfolgebegriff von Publizität und Öffentlichkeit verstanden werden kann. Dazu wird der aufklärerische Begriff der Publizität aus dem Gegensatz zur Geheimhaltung entwickelt und sodann eine Linie gezeichnet zum Begriff der Öffentlichkeit und dem der Transparenz. Letzterer erhält besondere Attraktivität in Bezug auf di1 2 3 4 5
Wewer 2014, S. 4. Vgl. z. B. Baumann 2014, S. 398 oder Wewer 2014, S. 4. Vgl. Wegener 2006. Vgl. Weidacher 2019. Vgl. ähnlich auch Weidacher 2019, S. 98.
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gitale Formen der Veröffentlichung und es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis digitale Öffentlichkeiten und Transparenz stehen. 2 WOHER KOMMT DER RUF NACH TRANSPARENZ? Seit dem Bimillenium, seit die Digitalisierung in Form des Web 2.0 immer weiter fortschreitet, lässt sich eine Zunahme von Transparenzforderungen an Staat und Verwaltung, etwa in Form von Initiativen, Organisationen oder auch Whistleblower*innen, beobachten.6 Transparenz wird als „Allheilmittel“7 bezeichnet, als Begriff mit fast schon religiöser Aufladung, als „magisches Konzept [und] unausweichliche Ideologie“8, als Ideal und als Norm.9 Dass Transparenz einen solchen gesellschaftlichen Nimbus erlangt hat, hängt m. E. mit mehreren grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, die eng miteinander verwoben sind: einer Digitalisierung, einer Ökonomisierung und einer umfassenden Demokratisierung.10 Die Forderungen nach Transparenz gehen mit dem Medienwandel und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen einher. Die Veränderungen grundlegender Art auf technologischer, medialer und letztlich gesellschaftlicher Ebene werden oftmals mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen, eine Medien-Revolution, die weit mehr als das Medienverhalten verändert. Die ständige Vernetzung und der beinahe hardwarelose Transfer von Daten beeinflusst unsere Wahrnehmung der Welt, den Zugang zu dieser und damit die Verortung des Menschen in der Gesellschaft. Diese dem medialen Wandel inne liegende Dynamik führt Georg Weidacher aus: Ein wesentlicher Faktor dabei, aber auch im Hinblick auf Transparenzforderungen im politischen Feld, ist das Internet einerseits durch die ihm eigene Medienlogik, andererseits durch die auf Informationskumulierung und deren Verwertung beruhenden Geschäftsmodelle großer Internet-Konzerne. Dieses neue Medium und seine soziale Nutzung haben Kommunikations- und generell Lebensformen geprägt, in die sich eine Transparenzideologie eingeschrieben hat, die im Gegensatz zu den zuvor genannten Transparenzforderungen diskursiv eher implizit bleibt, was sie jedoch nur umso wirkmächtiger macht.11
Die Digitalisierung macht Transparenz zur inhärenten Logik unserer Gesellschaft, sie macht eine vermehrte Transparenz, auch des Staates, machbar, opportun und erwünscht. Eng mit dem digitalen Wandel hängt auch eine Ökonomisierung weiter Lebensbereiche und Teile der Gesellschaft zusammen. Diese beiden Tendenzen zusammen verändern die Art, wie wir kommunizieren, was die digitalen Kommunika6 7 8 9
10 11
Vgl. Baumann 2014, S. 398. Wewer 2014. Alloa 2018, S. 25–29. Wobei bemerkenswert ist, dass aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch Informatik, Kunst und Architektur Diskurse über Transparenz/transparency geführt werden und eine breite Forschung im Rahmen von Critical Transparency Studies entsteht. Vgl. z. B. Alloa/Thomä 2018 für eine geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektive. Vgl. Thies 2018. Weidacher 2019, S. 98.
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tionsstrukturen miteinschließt. So entsteht eine Erwartungshaltung, immer, überall (fast) jede Information zu erhalten und diese teilen und vervielfältigen zu können, das ist die oben beschriebene eigene Medienlogik des Internets. Machtverhältnisse bröckeln und verändern sich, etwa zwischen Staat und Bürger*innen, zwischen Staat und Unternehmen und zwischen Unternehmen und Bürger*innen bzw. Konsument*innen. Unternehmen erlangen eine nie dagewesene Deutungsmacht und prägen mit ihrer ökonomischen Ausrichtung das Verständnis von Transparenz als Wert für Politik, Gesellschaft und Individuum; Transparenz bedeutet dann auch Effizienz.12 Sie wird zur Lebensform, die sich eben nicht mehr nur auf den Staat bezieht, sondern auch auf das Individuum. Durch das Internet ist es einfacher geworden, Transparenz herzustellen und zu fordern. Dokumente sind leichter kopierbar, vervielfältigbar, durchsuchbar, Rechercheergebnisse sind leichter veröffentlichbar. Der oder die Einzelne kann – sofern digital bewandert – teilhaben und in Kommunikation mit anderen treten. Kontrolle im Sinne einer direkten Rückkopplung der Politik mit dem Souverän lässt sich – scheinbar – leichter realisieren. Max-Otto Baumann bezeichnet diese digital ermöglichte Zugänglichkeit und Transparenz als das Versprechen, […] eine bis in die Antike zurückreichende Vision besserer Politik nun mit den Mitteln des Internets endlich praktisch werden zu lassen, [und so] beobachten wir innerhalb der letzten Dekade eine regelrechte Welle von zivilgesellschaftlichem Transparenz-Aktionismus.13
Transparenz ist daher einerseits ein technisch-digital induziertes Phänomen, entspricht andererseits aber auch dem Zeitgeist, dieselbe nicht nur von öffentlichen Institutionen und Verwaltungen zu fordern, sondern auch bspw. von politisch tätigen Individuen; Transparenz wird zur Norm.14 Das Spannungsfeld, in dem Transparenz zu bewerten ist, befindet sich also zwischen Digitalisierung und Demokratisierung: einerseits eine erhöhte technische Machbarkeit und andererseits das Bestreben, den Staat von Bürger*innenseite aus zu kontrollieren. 3 VON DER PUBLIZITÄT ZUR TRANSPARENZ – ENTSTEHUNG UND BEDEUTUNG EINER IDEE Nachdem gezeigt wurde, dass die Popularität des Transparenz-Begriffs gut in unsere Zeit passt, soll der Begriff ideengeschichtlich rekonstruiert werden. Der Begriff der Transparenz hat seine Wurzeln im Begriff der Publizität, welcher sich historisch weiterentwickelt zum Begriff der Öffentlichkeit. Das heutige Sprechen und Fordern von Transparenz ist zwar in seiner Form ein zeitgenössisches Phänomen und doch lassen sich historische und ideengeschichtliche Vorläufer nachvollziehen. Die Denkbewegung ist eine klassisch-liberale, die die Bürger*innen gegenüber dem Staat abwehrfähig machen will und diesem mit Misstrauen begegnet. Liberale 12 13 14
Vgl. August 2018b. Baumann 2014, S. 398. Vgl. Baumann 2014.
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Freiheitsrechte bewahren die Bürger*innen vor staatlichem Zugriff, Zugangsrechte und geregelte Verfahren stellen sicher, dass die Bürger*innen beteiligt werden. In einer liberalen Theorie spielt stets die Einhegung von staatlicher Macht und die Sicherstellung von Freiheit und Gleichheit der Bürger*innen die herausragende Rolle.15 Das liberale Denken entwickelt sich mit der Aufklärung, mit der das vernunftfähige Individuum und die Veröffentlichbarkeit vernünftiger Gedanken ins Zentrum von Philosophie, Politik und Gesellschaft rücken. 3.1 Gegenbegriff: Geheimhaltung Transparenz als Forderung an den Staat ist selbst kein traditioneller philosophischer Begriff. Daher möchte ich ihn als Idee nachzeichnen und dazu bei seinem Gegenteil beginnen: Geheimnis bzw. Geheimhaltung und Geheimpolitik. Dabei stellen Öffentlichkeit und Geheimnis eine traditionsreiche Antithese der politischen Philosophie dar.16 In den absolutistischen Staaten in Europa, die sich als großflächige Nationalstaaten aus den Ständegesellschaften des Mittelalters entwickelten, und bis ins 18. Jahrhundert hinein spielte die Geheimhaltung auf staatlicher Ebene eine zentrale Rolle für Theorie und Praxis des Regierens. Staatliche Informationen, und zwar solche über den Staat wie auch solche des Staates über seine Bürger*innen, blieben selbstverständlich geheim, nicht zugänglich, nicht öffentlich.17 Die Herrschenden und damit das Politische waren unzugänglich und geheim, weswegen es eine Trennung von Volk und Herrschenden gab und dazwischen nicht vermittelt wurde. Remo Bodei sieht die Geheimhaltung als zentrales Element einer Kunst des Regierens: Secrecy is a defining element in the politics of reasons of state, in the art of simulation and dissimulation, and in the use of ‚oblique logic‘ […]. The Arcana imperii are, in fact, paralleled with the Mysteria Ecclesiae.18
Der Erfolg und die Wirkmächtigkeit des Konzepts der politischen Geheimhaltung sind einerseits mit der Übernahme als wesentlicher Aspekt einer politischen Theorie der Klugheit zu erklären, andererseits mit einer religiösen19 Dimension. So wurde die Macht der Herrschenden dadurch legitimiert, dass sie im Geheimen, Arkanen, Heiligen stattfand, zudem existierte noch keine (liberale) Vorstellung von einer Rechfertigungspflicht der Herrschenden gegenüber den Bürger*innen. In der absolutistischen „Blütezeit des Staatsgeheimnisses“20 wurden Staatsgeheimnis und Geheimhaltung zur Staatslehre. Die ideologisch-religiös abgesicherte Dominanz
15 16 17 18 19 20
Zur Einführung in die breite Theorie des Liberalismus und einen kurzen Literaturüberblick vgl. z. B. Kellerwessel 2008, S. 715–723; vgl. auch Rawls 2003. Vgl. Hölscher 1979. Vgl. Wegener 2006, Kapitel II.; Gestrich 1994, S. 34f. Bodei 2011, S. 893. Vgl. zur Erläuterung der etymologischen und kulturellen Zusammenhänge Bok 1982, Kapitel I. Wegener 2006, S. 32.
Metapher „Transparenz“
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der Geheimhaltung machten Staats- und Verwaltungsgeheimnis zur bis heute fortwirkenden Norm.21 Mit der Aufklärung ändert sich das. Forderungen nach einer stärkeren Vermittlung zwischen Politik und Volk werden vorgebracht und damit die Forderung nach Rechtfertigung politischen Handelns gegenüber den Bürger*innen, wie Bodei beschreibt: From politics as a secret art centered on the prince’s cabinet, we move gradually – from English liberalism that places the parliament at the center of politics and the French Enlightenment that exalted the capacity of reason to enlighten the mind and help men and women leave the state of minority – to democracy as public knowledge, as a house of glass, exposed to the scrutiny and control of public opinion.22
Von der Politik als Geheimkunst, die im engen Kreis einiger Vertrauter rund um den Herrscher oder (seltener) die Herrscherin stattfand, kommt es also zu einer Dynamik, die über Aufklärung, Liberalismus und die Französische Revolution zu einer Demokratisierung führt. In dieser müssen die Regierungsgeschäfte zumindest zum Teil der Allgemeinheit zugänglich sein und der Untersuchung und Kontrolle einer kritischen Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung unterliegen. Im Zuge der Aufklärung und einer zunehmenden Erforschung und Begründung der Welt durch Wissenschaft und Vernunft verliert das Geheimnis (langsam) seinen Status als Staatsdoktrin. Ideengeschichtlich können Immanuel Kant und Jeremy Bentham als diejenigen gelten, auf deren Schriften das „Princip der Publicität“ (Kant) bzw. der „publicity“ (Bentham) beruht. 3.2 Öffentliche Vernunft als Probierstein: Publizität Kant begreift Publizität als Vernunftgebrauch. Der Philosoph der Aufklärung überwindet den Absolutismus und stellt die Mündigkeit des Menschen in den Mittelpunkt, die sich im öffentlichen Vernunftgebrauch manifestiert. Aufklärung vollzieht sich laut Kant durch Selbstdenken und Lautdenken. Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.23
Kant regt dazu an, sich nicht auf das zu verlassen, was gemeinhin oder von Autoritäten als wahr bezeichnet wird, sondern auf sich selbst und das eigene Denken. Auf das Politische gewendet formuliert er das Prinzip der Publizität, welches die Grundlage des liberal motivierten Nachdenkens über Öffentlichkeit ist. Seine einschlägigen Äußerungen sind v. a. im Anhang zu seiner 1795 veröffentlichten Schrift „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ zu finden. Hier sucht er nach Gesetzmäßigkeiten für eine Politik, die moralischen Überlegungen Genüge tut, also einer Verbindung von Politik und Moral. Kants Publizitätsdenken und -prinzip stellt eine grundlegende Veränderung in der politischen Theorie und die Grundlage von 21 22 23
Vgl. Wegener 2006, S. 32. Bodei 2011, S. 893. Kant 1786, AA 08, S. 146.
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Aufklärung und modernem Staatsdenken dar: Wenn beide Sphären – die der Politik und die der Moral – der gleichen normativen Orientierung folgen sollen, müssen sie nach Kant dem Prinzip einer Veröffentlichbarkeit, d. h. Publizität, entsprechen. Nach einer solchen Abstraction von allem Empirischen, was der Begriff des Staats- und Völkerrechts enthält (dergleichen das Bösartige der menschlichen Natur ist, welches den Zwang nothwendig macht), kann man folgenden Satz die transscendentale Formel des öffentlichen Rechts nennen: ‚Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.‘24
Politik soll dem Prinzip der Publizität unterliegen, also veröffentlichbar und verallgemeinerbar sein. Das bedeutet, dass solche Verträge nicht mehr im Geheimen, unter Fürsten ausgehandelt und geschlossen werden sollen, damit eine Ausrichtung auf das Interesse der Allgemeinheit erfolgt und nicht auf die (Privat-)Interessen der Fürsten. Sandrine Baume stellt fest: The necessity of publicity as an emerging value coincides with a questioning of and an objection to absolute authority, the strength of which lay in part in State secrets – the arcana imperii.25
Die Notwendigkeit von Publizität geht also einher mit einer Infragestellung der absoluten Autorität und einem Widerstand gegen diese, die ihre Macht zu großem Teil auch aus den arcana imperii, also Geheimhaltung und Herrschaftswissen, bezog. Im Verständnis Kants und der Aufklärung soll Politik nun intellektuell zugänglich sein, also öffentlich nachvollziehbar, da, wie Volker Gerhardt schreibt, nicht dasjenige Recht sein könne, was dem Kriterium der Publizität nicht genügen kann.26 Zentral für das Kant’sche Publizitätsprinzip ist also die theoretische Verallgemeinerbarkeit von rechtlichen (und moralischen) Gesetzen. Publizität ist damit eine „notwendige Bedingung des Rechts“27: kein Recht dürfe der Vernunft widersprechen, sonst sei es nicht Recht. Die Publizität ist das Kriterium für die Vernünftigkeit von Recht, das „Prüfprinzip des Politischen auf Moralität“28. Dieses Denken löst den Staat in Person eines Einzelherrschers ab, der im Geheimen agiert und niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Publizität macht die Herrschenden und den Staat als Ganzes gegenüber seinen Bürger*innen rechenschaftspflichtig. Mit der Aufklärung wird Publizität zur „Waffe in der Auseinandersetzung mit dem Macht- und Geheimhaltungsanspruch des absolutistischen Staates“29. Die Bürger*innen unterstehen damit dem Staat nicht mehr bloß als Untertan*innen, sondern haben die Möglichkeit, vernünftigerweise das staatliche Handeln nachzuvollziehen und sich ein Bild bzw. eine Meinung zu machen. Hier zeigt sich die spätere und bis heute maßgebliche liberale Idee einer Rechtfertigungspflicht staatlichen Handelns gegenüber den Bürger*innen, welche voraussetzt, dass die 24 25 26 27 28 29
Kant 1795, AA 08, S. 381. Baume 2018, S. 214. Vgl. Gerhardt 1999, S. 198. Rzepka 2013, S. 51. Ebd. Wegener 2006, S. 121.
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Bürger*innen als Souverän anerkannt werden. Diese Verknüpfung eines Gebots der Publizität, d. h. Verallgemeinerbarkeit staatlichen Handelns, mit der Rechtfertigung gegenüber den Bürger*innen stellt damit den Kern liberaler Demokratietheorie dar. 3.3 Öffentlichkeit als Sphäre Inziwschen ist der Begriff der Publizität in der Regel abgelöst durch den der Öffentlichkeit, welcher mehrere Bedeutungsebenen in sich vereint: Öffentlichkeit bezeichnetet sowohl einen Zustand, wie Publizität, als auch eine Sphäre, in der man sich austauschen kann, sowie einen Adressat*innenkreis, d. h. ein Publikum. Der Aufstieg des Begriffs der Öffentlichkeit vollzieht sich im 17./18. Jahrhundert, als sich im Deutschen der Sprachgebrauch ändert. Es werden „publicus“ und „öffentlich“ „zu einem semantischen Feld zusammengezogen“, das sich gegen Zensur und Geheimpolitik richtet.30 Es wird von Öffentlichkeit gesprochen, womit sich aber auch ein nicht unerheblicher Bedeutungswandel vollzieht: Ab dem 19. Jahrhundert wird diese Öffentlichkeit zum „Kampfbegriff für die Meinungsfreiheit und betont nun den ungehinderten Zugang zu einem unzensierten Kommunikationsraum“31. Ist das Prinzip der Publizität noch das Prinzip der Veröffentlichbarkeit und das Prüfkriterium die Vernunft, entsteht sodann die Vorstellung einer öffentlichen Sphäre, in der sich das Bürgertum mit Politik und Gesellschaft beschäftigt und darüber austauscht. Jürgen Habermas beschreibt in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ Aufstieg und Fall dieser sozialen Dynamiken. Er geht von einem Ideal des vernünftigen Diskurses aus, in dem alle Teilnehmenden unter Ausklammerung von Machtverhältnissen und Abhängigkeiten dem besseren Argument folgen. Die städtischen Kaffeehäuser und Salons sind die Orte der Zusammenkunft des Bürgertums und für Habermas das Ideal einer bürgerlichen Öffentlichkeit: Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert entstehen dort – historisch erstmalig in dieser Form – in den Städten in England, Frankreich und auch Deutschland Sphären literarischer, bürgerlicher Öffentlichkeit.32 Diese bilden sodann die Grundlage politischen Debattierens und damit die Grundlage einer liberal geprägten Demokratie. Durch den Begriffswandel von der Publizität zur Öffentlichkeit verschiebt sich der Fokus ein Stück weit von einem Kriterium der Vernunft hin zur Vorstellung eines Raumes. Habermas verbindet diese beiden Aspekte im Begriff der Öffentlichkeit, der für die Demokratietheorie seitdem maßgeblich ist.33 Die liberal geprägte Demokratie benötigt öffentlichen Raum zur Meinungsäußerung und kommunikativen Verhandlung verschiedener Positionen und Argumente, mit öffentlich akzeptablen und verständlichen Gründen. Sie ist der „Resonanzboden für Probleme […], die vom politischen System bearbeitet werden müssen“34. Was vernünftig ist, entwickelt sich aus dem öffentlichen Austausch von 30 31 32 33 34
Schultz 2008, S. 926. Ebd. Vgl. Habermas 1990 [1962], S. 90ff. Vgl. hierzu Fleuß 2019. Habermas 1992, S. 435.
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Argumenten; Öffentlichkeit „reproduziert sich […] über kommunikatives Handeln“35. Ziel ist es, alle Themen zur Sprache zu bringen, die in einem vernünftigen Austausch bestehen können. Öffentlichkeit zielt damit auf die rationale Begründung der Prinzipien des Zusammenlebens und auf die Bewährung von Traditionen im Prozess und Raum der vernünftigen Abwägung. Dabei ist kritisch zu bemerken, dass ein solcher idealisierender Blick droht, blind zu sein für andere Dynamiken, etwa die Frage, wer überhaupt Teil dieser öffentlichen Sphäre sein konnte.36 Publizität und Öffentlichkeit liegen eng beieinander und sind doch voneinander zu unterscheiden. Publizität ist dabei noch keine Sphäre, sondern die Form, in der sich Aufklärung vollzieht, ein normatives Kriterium für Politik. Darin besteht ein Unterschied zur Öffentlichkeit, die durchaus als Sphäre zu denken ist, und zwar als Sphäre des vernünftigen Austausches von Argumenten. Hier kommt der Begriff der Transparenz hinzu, der ein Schlaglicht auf Veröffentlichung und Sichtbarkeit durch Digitalisierung wirft. 3.4 Transparenz: Geschichte, Metaphorik und Bedeutung Heute sprechen wir von Transparenz, die es herzustellen gilt. Die Betonung des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, wie er bei Kant und Habermas maßgeblich ist und der sowohl dem Publizitätsprinzip als auch dem Öffentlichkeitsbegriff zu Grunde liegt, scheint im Transparenzbegriff nicht (mehr) zu liegen. Transparenz ist keine „Form des Bewusstseins“37, sondern fokussiert auf Sichtbarkeit, Offenlegung und Kontrolle. Sie dient, bezogen auf den Staat, zur Kontrolle dessen Handelns. Was drückt nun der Transparenzbegriff aus, was mit Publizität oder Öffentlichkeit nicht gesagt werden kann? Transparenz bedeutet zuerst einmal Sichtbarkeit, Lichtdurchlässigkeit. Im etymologischen Wörterbuch werden seine Ursprünge im Deutschen im 18. Jahrhundert verortet, als Lehnwort aus dem Französischen transparent, welches seine Wurzeln im Mittellatein hat: Das Wort setzt sich zusammen aus dem Verb parēre = erscheinen, sichtbar sein und dem Präfix trans-, welches über, durch bedeutet.38 Vom Gebrauch hat der Begriff seine Wurzeln in der Optik; optische Versuche bescherten ihm einen ersten „Popularitätsschub“39: Isaac Newton schreibt in seinem Grundlagenwerk „Opticks“ über die Brechung der Strahlen in einem transparenten Medium oder Körper. Durch seine Versuche mit Lichtstrahlen und Prismen entwickelt er eine einschlägige Theorie zur Beschaffenheit von Licht.40 35 36
37 38 39 40
Habermas 1992, S. 436. Die breite Kritik an liberalen Öffentlichkeitsmodellen im Allgemeinen thematisiert vor allem die Abstraktion des Individuums als einem vernünftigen Einzelnen und die theoretisch-ideologische Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre, die exklusiv wirke. Bezogen auf Habermas’ Theorie bietet etwa Amy Baehr einen Überblick über konstruktive Ergänzungen aus feministischer Perspektive. Vgl. Baehr 2009, außerdem z. B. Meehan 1995; Fraser 1987. Vgl. Gerhardt 2012. Vgl. Kluge 2002, S. 925. Rzepka 2013, S. 33 Vgl. Newton 1704.
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Aus diesem Bereich überträgt sich der Begriff auf soziale Zusammenhänge und lenkt den Fokus weg von der allgemeinen Verständlichkeit und Vernunft hin zur Sichtbarkeit. Als weiterer zentraler Autor der Aufklärung, der das Publizitätsprinzip auf konkrete Institutionen und Verwaltung anwendet,41 setzt sich Jeremy Bentham mit der Sichtbarkeit und Durchsichtigkeit von politischen und administrativen Strukturen auseinander.42 Vom Publizitätsbegriff gibt es über den Begriff der Öffentlichkeit eine Entwicklung hin zu Transparenz. Hiermit werden jedoch andere Aspekte betont. Allen gemeinsam ist die Ablehnung des Geheimnisses auf staatlicher Ebene. Die lange Tradition des Konzepts zeigt, dass die Rechtfertigungspflicht der Politik gegenüber ihren Bürger*innen ein Kernelement liberaler Demokratien ist. Gleichwohl muss eine „Balance zwischen Diskretion und Transparenz, Offenheit und Vertraulichkeit“43 realisiert werden. Armando Menéndez-Viso macht die Dynamik des Transparenzbegriffs deutlich: Transparency promotes democratic control and goes hand in hand with responsibility. It has definitely a good press; for someone or something to be good, it has to be transparent. […] When we claim for more transparent institutions […] we use transparent in a clearly metaphoric way. But, alas, the metaphoric use of transparency is far from being transparent.44
Transparenz ist also ein mehrschichtiger Terminus. Er suggeriert Verantwortung und wird als positiv verstanden, ist also nicht nur beschreibend, sondern auch wertend. Was transparent ist, muss gut sein – wenn wir also transparentere Strukturen oder Institutionen fordern, nutzen wir den Begriff auf metaphorische Art und Weise. Gleichzeitig ist das Wort selbst komplex und uneindeutig. Wichtig ist, sich vor Augen zu führen, dass Transparenz stets medial hergestellt wird und daher in einem metaphorischen, übertragenen Sinn auf gesellschaftliche Fragen und Phänomene angewendet wird.45 Diese sind nicht transparent, sondern werden transparent gemacht; Medien und Transparenz gehören stets zusammen.46 Auch der Transparenzbegriff gerät zunehmend zu einem quasi-sakralen Mantra von Reinheit und Rationalität47 – wie sein Vorläufer Öffentlichkeit mit der Aufklärung. Emmanuel Alloa versteht Transparenz gar als „magisches Konzept“: Transparency has undoubtedly achieved the status of such a magic concept, […]. In other words: it is extremely hard to be against transparency. […] Today […] transparency stands for optimization and futurity.48
Es ist ein breites Konzept, das kaum einen konkreten Gegenbegriff hat und daher in vielen Kontexten weltweit eingesetzt werden kann und dabei normativ und positiv wirkt. Es ist daher schwer, gegen Transparenz zu sein, da Transparenz quasi syno-
41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Wegener 2006, S. 150. Vgl. Bentham 1999 [1843]. Wewer 2014, S. 6. Ménendez-Viso 2009, S. 155f. Ebd., S. 157. Vgl. Kilian 2015, S. 61. Vgl. August 2018a, S. 117–147. Alloa 2018, S. 29.
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nym für Optimierung und Zukunftsorientierung steht und nicht lediglich einen Zustand bezeichnet. 4 FAZIT In diesem Aufsatz wurden die Genese und Bedeutungsdimensionen des Transparenzbegriffes ideen- und sozialgeschichtlich herausgearbeitet. Transparenz wird von vielen Seiten mit dem Ziel besserer oder mehr Bürgerbeteiligung und mehr Kontrolle gegenüber dem Staat und Institutionen gefordert. Doch auch modernen liberalen Demokratien ist Geheimhaltung eingewoben, was einerseits funktionale und andererseits historische Gründe hat. Dabei hat Transparenz ideologischen Charakter gewonnen, der sich auf die gesamte Gesellschaft bezieht und zur Norm geworden ist. Dies lässt sich sowohl mit der zunehmenden Digitalisierung als auch mit einer damit zusammenhängenden Ökonomisierung erklären. Begriffsanalytisch wurde eine Genese vom Publizitätsprinzip zur Transparenznorm rekonstruiert, wobei das Prüfkriterium der öffentlichen Vernunft an Relevanz zu verlieren scheint gegenüber einem Ideal der Sichtbarkeit, die schnell zu einem sogenannten „Information overload“49 führen kann und dann paradoxerweise mehr verfügbar und doch weniger sichtbar ist. Daher sollte aus demokratietheoretischer Perspektive das Prinzip der allgemeinen Vernünftigkeit weiter als zentral gelten – was eher zu einem Begriff der Publizität führt als zu Transparenz. Letztere ist deshalb ambivalent zu bewerten: Sie scheint zum Instrument geworden zu sein; das Richtige und Gute für sich in Anspruch zu nehmen, ist aber kein Wert an sich.50 Um was es eigentlich geht, ist nicht die einfache Sichtbarkeit, sondern vernünftige Argumente und Abwägung. Der Kern der Demokratie liegt nicht im bloßen Sehen, sondern im Austausch und im „öffentlichen Räsonnement“51. „To achieve such a major ambition, the metaphor of transparency was better qualified than the notion of publicity.“52 Wie Baume konstatiert, scheint die Metapher der Transparenz für ein solch großes Projekt, Ideal und ‚Zauberformel‘ einer modernen digitalen demokratischen Gesellschaft zu sein, besser geeignet als das Sprechen von Publizität,53 da sie die positiven Bedeutungsbereiche, was wir uns von einer modernen Gesellschaft erhoffen, in sich vereint. So ermöglicht sie eine vielseitige Anwendbarkeit auf die verschiedensten Bereiche und Bedeutungszusammenhänge. Die Digitalisierung verändert nicht nur das Zusammenleben und das Verständnis von Demokratie, sondern auch die Begriffe. Transparenz beschreibt die Sichtbarmachung von Staatshandeln, eine kritische Öffentlichkeit ersetzt sie jedoch nicht.
49 50 51 52 53
Wewer 2014, S. 7. Vgl. u. a. Ménendez-Viso 2009, S. 161. Habermas 1990: 156. Baume 2018, S. 221. Vgl. ebd.
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KURZBIOGRAFIEN
Prof. Dr. Petra Grimm Prof. Dr. Petra Grimm ist seit 1998 Professorin für Medienforschung und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien (Stuttgart). Sie ist Leiterin des Instituts für Digitale Ethik (IDE) und Ethikbeauftragte (Medienethik) der Hochschule der Medien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind „Digitalisierung der Gesellschaft“, „Ethics by Design und Künstliche Intelligenz“, „Narrative Ethik“ und „Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen“. Ihr Lehrgebiet ist Medienethik und Narrative Medienforschung in Master- und Bachelor-Studiengängen. Sie ist Preisträgerin des Landeslehrpreises Baden-Württemberg und (Mit-)Herausgeberin der Schriftenreihe Medienethik. Sie ist u. a. Mitglied im Forschungsbeirat des Bundeskriminalamts (BKA) und dem Rundfunkrat des SWR. Aktuell forscht sie zu „Ethics by Design in autonomen Fahrzeugen“ (BMBF-Projekt KoFFi), „Digitaler Wandel“ (MWK-Projekt Digitaldialog 21), „Präventive Digitale Sicherheitskommunikation und Zivilcourage“ (BMBF-Projekt PRÄDISIKO), Sicherheitsethik (BMBF-Projekt „SmartIdentifikation“) und „Automatisiertes ELSI-Screening- & Assessment-Tool für MTI-Forschungsvorhaben“ (BMBF-Projekt ELSI-SAT). Aktuelle Publikation: „Digitale Ethik“ (Reclam 2019). Dr. Martin Hennig Dr. Martin Hennig studierte Neuere Deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Psychologie und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2010 ist er Dozent im Fachbereich Medienkulturwissenschaft, 2016 erfolgte die Promotion mit der Arbeit Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels (Marburg: Schüren 2017), die mit dem Dissertationspreis der Universität Passau ausgezeichnet wurde. Ab 2016 arbeitete Martin Hennig als Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“. Aktuell vertritt er den Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Digitale Kulturen“ in Passau. Arbeitsschwerpunkte: Kulturwissenschaftl. Medialitätsforschung, Digitale Kulturen, Game Studies, Medien- und Kultursemiotik, Raum- und Subjekttheorie. Susanne Kuhnert M. A. Susanne Kuhnert hat Philosophie, Interkulturelle Kommunikation und Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin seit Februar 2017 an der Hochschule der Medien in Stuttgart am Institut für Digitale Ethik beschäftigt. Sie arbeitete in
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dieser Zeit in den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekten KoFFI (Kooperative Fahrer-Fahrzeug-Interaktion) und Smart Identifikation (Smartphone-basierte Analyse von Migrationstrends zur Identifikation von Schleuserrouten). Seit Juli 2020 arbeitet sie im Projekt DigitalDialog 21, das durch das MWK Baden-Württemberg gefördert wird. In den Wintersemestern 2018/2019 und 2019/20 hatte sie einen Lehrauftrag am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam im Studiengang Data Engineering (M.A.) für das Seminar „Privatheit im digitalen Zeitalter. Privacy Design aus einer ethischen Perspektive“ (gemeinsam mit Clarissa Henning M. A. und Dr. Julia Mönig). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Themenbereichen der angewandten Technikethik und hier im Speziellen bei den Themen Privatheit und Privacy by Design, Ethics by Design und Digitale Ethik. Prof. Dr. Volker Lilienthal Prof. Dr. Volker Lilienthal ist seit 2009 Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft sowie Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg. Außerdem ist er Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift für Journalismus Message (seit 2015 nur noch digital) und seit 2019 als Sachverständiger gewähltes Mitglied im Verwaltungsrat des Deutschlandradios. Schon seit 2005 wirkt Lilienthal außerdem in der Jury des Otto-Brenner-Preises für kritischen Journalismus mit. Nach dem Studium der Journalistik in Dortmund (Dipl. 1983) und der Promotion in Germanistik 1987 in Siegen wurde er zunächst Medien-Fachjournalist, eine Arbeit, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, vor allem aus Anlass seiner Enthüllung des ARD-Schleichwerbeskandals in der Serie „Marienhof“. Nach einer ersten Anstellung als Redakteur im Handelsblatt-Verlag in Düsseldorf wechselte Lilienthal 1989 in die Zentralredaktion des Evangelischen Pressediensts in Frankfurt a. M., wo er 20 Jahre lang blieb, zuletzt als verantwortlicher Redakteur des Fachdienstes epd medien. Im Jahre 2009 erreichte ihn dann der Ruf der Universität Hamburg auf die neugeschaffene Augstein-Stiftungsprofessur. Victor Limberger Victor Limberger ist seit 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaft von Prof. Dr. Indra Spiecker gen. Döhmann, LL.M. und an der Forschungsstelle Datenschutz der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Frankfurt und Lyon II und strebt zurzeit eine Promotion mit einer Arbeit zu datenschutzrechtlichen Aspekten des Datenaustauschs zwischen Sicherheitsbehörden an. Sein Forschungsinteresse gilt dem Datenschutz in Sicherheits- und Migrationskontexten (BMBF-Projekt „SmartIdentifikation“). Zudem hält er an der Goethe-Universität Lehrveranstaltungen im Verwaltungsrecht.
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Tobias List Tobias List ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Digitale Ethik (IDE) an der Hochschule der Medien (Stuttgart). Im Forschungsprojekt „ELSI-SAT“ befasst er sich mit ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen der Mensch-Technik-Interaktion. Er studierte Medienmanagement (B.A./M.A.) in Stuttgart und Dublin und war u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Clemens Binninger MdB im Deutschen Bundestag tätig. Dr. Julia Maria Mönig Dr. Julia Maria Mönig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Digitale Ethik (IDE) der Hochschule der Medien (Stuttgart) und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der European Network of Research Ethics Committees (EUREC) gUG mit den Arbeitsschwerpunkten Ethik von Informations- und Kommunikationstechnologien, Ethik von KI und Forschungsethik. Von 2016 bis 2020 forschte sie an der Hochschule der Medien im BMBF-Projekt „Kooperative Fahrer-FahrzeugInteraktion“ zu ethischen und sozialen Aspekten hochautomatisierten Fahrens. In ihrem Postdoc-Forschungsprojekt beschäftigte sie sich mit der Frage, ob Privatheit heutzutage ein Luxusgut ist. Sie promovierte zu Hannah Arendts Privatheitsbegriff am DFG-Graduiertenkolleg „Privatheit“ der Universität Passau und studierte Philosophie, Französisch und Erziehungswissenschaften in Wuppertal und Paris. Sie ist Mitglied des „Centre for Ethics and Humanism“ der Freien Universität Brüssel (VUB). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Technikethik, Privatheitsforschung, Exilforschung, Bildungs-/Erziehungsphilosophie, Hannah Arendt, politische Philosophie, Philosophie des 20. Jahrhunderts. Prof. Dr. Marlis Prinzing Dr. Marlis Prinzing ist Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln und Studiengangleiterin. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Ethik, digitaler Transformation und Innovation. Medienethik gehört zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten – auch an der Universität in Fribourg (Schweiz), wo sie das Fach seit über zwölf Jahren vertritt. Sie hat eine Initiative für eine Charta der Öffentlichen Kommunikationswissenschaft (https://oeffentliche-kowi.org/) angestoßen; mittlerweile wurde diese in einem Verein „Öffentliche Medien- und Kommunikationswissenschaft“ (VÖMuK) mit Sitz in Zürich institutionalisiert, dessen Co-Präsidentin sie ist. Sie ist Kolumnistin („Der Tagesspiegel“, „Der Standard“, „Schweizer Journalist“), Moderatorin, Buchautorin und Herausgeberin. Sie war u. a. tätig als Projektleiterin am Europäischen Journalismus-Observatorium der Universität Lugano und Gastprofessorin in Riga (Lettland). Sie promovierte in Stuttgart (ABB-Wissenschaftspreis 2000), nachdem sie in Regensburg und Tübingen Geschichte, Politik und Mathematik studiert hatte.
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Lea Watzinger Lea Watzinger studierte in München, Rennes und Quito und schloss mit Magister in Politischer Wissenschaft und in Philosophie ab. Seit 2014 lehrt sie an der Universität Passau, seit 2018 ist sie dort wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg „Privatheit und Digitalisierung“. Sie forscht zu Transparenz als Herausforderung für Demokratie und Privatheit, Philosophie des Privaten, Medienethik und normativen Fragen der Digitalisierung. Prof. Dr. Oliver Zöllner Prof. Dr. Oliver Zöllner lehrt seit 2006 empirische Medienforschung, Mediensoziologie, internationale Kommunikation, Digitale Ethik und Hörfunkjournalismus an der Hochschule der Medien Stuttgart. Er ist einer der drei Leiter des Instituts für Digitale Ethik (IDE) sowie Vorsitzender des Stuttgarter Hochschulradios HORADS 88,6. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Digitalisierung und Gesellschaft, Public Diplomacy und Nation Branding. Seit 2006 ist Zöllner zudem Honorarprofessor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zöllner studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Geschichte Chinas an den Universitäten Bochum, Wien und Salzburg. Magisterexamen 1993. Tätigkeit als Journalist. Promotion zum Dr. phil. 1996. Anschließend Medienforscher beim Südwestfunk in Baden-Baden (1996–97), Abteilungsleiter für Markt- und Medienforschung bei der Deutschen Welle in Köln/Bonn (1997–2004) und selbständiger Berater und Trainer für internationale Markt- und Medienforschung in Essen (2004–06). Zahlreiche Lehraufträge an Universitäten (1996–2006). Letzte Publikation: „Digitale Ethik“, Reclam-Verlag 2019 (hrsg. mit Petra Grimm und Tobias O. Keber).
Mit der Digitalisierung sind gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt worden, die sich auf unser demokratisches Gefüge auswirken. Hierzu gehören Phänomene, die das Mediensystem selbst betreffen, wie eine Schwächung des Qualitätsjournalismus, eine Erstarkung von Desinformation und populistischen Medien sowie eine zunehmende Meinungsmacht der Intermediäre (wie u. a. Google, Facebook). Als Folge lassen sich Vorgänge beobachten, die unser Demokratieverständnis direkt betreffen: Das sind insbesondere Tendenzen, die zur Destabilisierung demokratischer Meinungs- und
ISBN 978-3-515-12826-1
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7835 1 5 1 28261
Willensbildung führen und damit demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse infrage stellen. Ebenso demokratiegefährdend können Überwachungstechnologien sein, die in unsere Grundwerte der Privatheit und Autonomie eingreifen. Die Autorinnen und Autoren reflektieren aus ethischer, medienwissenschaftlicher, philosophischer und juristischer Sicht, welche Bedeutung die derzeitigen Entwicklungen für unsere Demokratie in einer digitalen Welt haben und welche normativen Anforderungen und Handlungsoptionen bestehen.
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