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German Pages 254 Year 2019
Martina Schmidhuber, Andreas Frewer, Sabine Klotz, Heiner Bielefeldt (Hg.) Menschenrechte für Personen mit Demenz
Menschenrechte in der Medizin / Human Rights in Healthcare | Band 7
Editorial Themen im Spannungsfeld von Medizin und Menschenrechten umreißen ein Spektrum höchst aktueller und brisanter Fragen: Auf welche Weise kann das Menschenrecht auf Gesundheit für Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge oder »Menschen ohne Papiere« effizient gewährleistet werden? Wie lassen sich Menschenwürde und Menschenrechte am Lebensende, in der Phase palliativer Begleitung sichern? Was bedeutet das Postulat der Autonomie für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen? Die Reihe bietet ein Forum für die Klärung solcher praktischer Fragen und will gleichzeitig Beiträge zur Grundsatzreflexion des Verhältnisses von Menschenrechten und Medizin leisten. Die Reihe wird herausgegeben von Heiner Bielefeldt und Andreas Frewer.
Martina Schmidhuber (PD Dr. phil. fac. theol.) ist Privatdozentin an der Professur für Ethik in der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Andreas Frewer (Prof. Dr. med., M.A.) ist Professor für Ethik in der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und European Master in Bioethics. Sabine Klotz (Dipl.-Pol.) ist Mitarbeiterin im Kraft-Stiftungs-Projekt »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Heiner Bielefeldt (Prof. Dr. phil. Dr. h.c.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Universität Erlangen-Nürnberg.
Martina Schmidhuber, Andreas Frewer, Sabine Klotz, Heiner Bielefeldt (Hg.)
Menschenrechte für Personen mit Demenz Soziale und ethische Perspektiven
Ergebnisse des Forschungsprojekts »Human Rights in Healthcare«. Mit freundlicher Unterstützung der Emerging Fields Initiative (EFI), des Universitätsbundes Erlangen-Nürnberg e. V. und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4495-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4495-5 https://doi.org/10.14361/9783839444955 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Ein gutes Leben mit Demenz? Menschenrechtliche und ethische Herausforderungen
Martina Schmidhuber, Andreas Frewer, Heiner Bielefeldt, Sabine Klotz | 7 Standards in Dementia Care A European Perspective
Knut Engedal | 19 Würde und Rechte von Menschen mit Demenz Umrisse neuer menschenrechtspolitischer Herausforderungen
Heiner Bielefeldt | 35 Zwischen allen Stühlen – oder besonders berechtigt? Demenz und das Recht auf Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention
Katja Stoppenbrink | 61 Die Patientenverfügung bei Menschen mit Demenz und die Rolle des Hausarztes. Eine Pilotstudie aus Süddeutschland
Martina Schmidhuber, Sandra Häupler, Velislava Marinova-Schmidt, Andreas Frewer, Peter L. Kolominsky-Rabas | 101 Forschung an Menschen mit Demenz? Überlegungen zu Vorausverfügungen für die Wissenschaft
Johannes Jablonowski | 115
Partizipation von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen
Franziska Wolff, Hanna Hofstetter Wolfgang Joa, Peter L. Kolominsky-Rabas | 137 »Pathogenic Vulnerability« in der Angehörigenpflege älterer Menschen Diskussionsansätze für eine sorgende Gesellschaft
Helen Güther | 165 Menschen mit Demenz im Spielfilm Eine Übersicht deutscher und internationaler Beispiele
Luise Holzhauser, Anna-Katharina Thum, Andreas Frewer | 187 Von der Patientin zur Bürgerin Demenz aus Citizenship-Perspektive
Mike Laufenberg | 223
Anhang Menschenrechte für Personen mit Demenz in der Praxis
Ein Interview mit Ivanka Perisic | 243
Autorinnen und Autoren mit Adressen | 249
Ein gutes Leben mit Demenz? Menschenrechtliche und ethische Herausforderungen M ARTINA S CHMIDHUBER , A NDREAS F REWER , H EINER B IELEFELDT , S ABINE K LOTZ
Das Thema »Demenz« ist aktuell in aller Munde – und in vielen Köpfen. Aufgrund der prognostizierten Zahlen zum Anstieg von Demenzen1 machen sich viele Menschen Sorgen, dement zu werden und überlegen sich, wie sie damit umgehen sollten, wenn es soweit wäre. Der damalige britische Premierminister David Cameron bezeichnete Demenz beim G8-Gipfel 2013 sogar als »Pest des 21. Jahrhunderts«.2 Demenz scheint für viele »das« Schreckgespenst unserer Gegenwart zu sein.3 In der breiten Öffentlichkeit wird kaum wahrgenommen, dass Menschen mit Demenz Individuen mit (Menschen-)Rechten sind und keine reinen Fürsorge-»Objekte«, dass es Möglichkeiten gibt, diese (Menschen-)Rechte zu stärken und Lebensqualität trotz Demenz zu fördern. Selbst Menschen, die sich mit Krank-
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Laut World Alzheimer Report könnten 2050 mehr als 130 Millionen Menschen weltweit von Demenz betroffen sein. Vgl. Alzheimer’s Disease International (2016).
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Nicht zuletzt wegen Aussagen dieser Art ist es für über die Hälfte der Deutschen
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Eine Studie der MetLife Foundation (2006) zeigte, dass Amerikaner Demenz
»Alzheimer« der »worst case«. Vgl. Drzezga et al. (2014), 1208. mehr fürchten als Herzerkrankungen, Diabetes oder Schlaganfälle. Der erfolgreiche Film »Still Alice« lässt die Oscar-Preisträgerin sogar sagen »Ich hätte lieber Krebs […]«. Vgl. hierzu auch Holzhauser/Frewer (2017), 103.
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heit, Alter und Tod auseinandersetzen, zeichnen oft ein einseitig negatives Bild von Demenz, beispielsweise der 2013 verstorbene Intellektuelle Walter Jens, der sich intensiv mit Fragen der Sterbehilfe beschäftigte und zusammen mit dem streitbaren Theologen Hans Küng 1995 das Buch »Menschenwürdig sterben« veröffentlichte.4 Er sagte der Zeitschrift Stern in diesem Zusammenhang pathetisch: »Nicht mehr schreiben zu können heißt: Nicht mehr atmen zu können. Dann möchte ich tot sein.« 5 Als Jens dann tatsächlich an einer Demenzform erkrankte, schien er aber doch eine Form der Lebensqualität zu haben, auch wenn sich sein Leben grundlegend verändert hatte und er tatsächlich nicht mehr lesen, schreiben und Vorträge halten konnte. Seine Frau erläuterte 2009 ihren Eindruck über das Leben von Walter Jens mit Demenz folgendermaßen: »Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung [sic], die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat. Trotzdem wäre ich im Augenblick nicht fähig, ihm zum Tode zu verhelfen. Diese Patientenverfügung haben wir geschrieben, bevor es soweit war mit der Demenz. […] Er hat seinen Lebenswillen durch die Demenz nicht verloren. Sein Lebenswille bezieht sich nicht mehr auf sein geistiges Wirken. Er hat sich zu einem biologischen Leben in einem Maße verschoben, wie ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte. Genauso sicher, wie wir uns damals waren, dass wir beide so nicht leben wollten, weiß ich heute, dass mein Mann nicht sterben möchte.«6
Es scheint also selbst für jene, die dieses Thema nicht von sich schieben, sondern sich explizit damit beschäftigen, schwer vorherzusehen, ob das Leben mit Demenz ein gutes Leben sein kann. Denn niemand, der den Zustand der Demenz je erlebt hat, weiß, wie er sich in diesem Zustand fühlen wird. Deshalb ist es äußerst schwierig, aus der Außenperspektive Urteile über ein gutes Leben mit Demenz zu fällen.7 Vielmehr scheint es erforder-
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Vgl. Jens/Küng (1995).
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Vgl. Freter/Rautenberg (2013).
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Vgl. Jens (2009).
7
Zum Thema Lebensqualität bei Demenz siehe auch Kruse (2010); zur Schwierigkeit der Antizipation (»Odysseus-Problem«) und Interessenkonflikten siehe u.a. Magnus (2016).
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lich, herauszuarbeiten, wie man bestmögliche Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft für Menschen mit Demenz schaffen kann, wie man ihre Menschenrechte wahren und realisieren kann und welche internationalen best practice-Beispiele man sich zum Vorbild nehmen kann. Im November 2017 haben wir uns – die Herausgeber*innen dieses Bandes als Teil des Emerging Fields-Spitzenforschungsprojektes »Menschenrechte in der Medizin« der Universität Erlangen-Nürnberg – dieser Herausforderung gestellt und eine Reihe von Expert*innen zu diesem Thema zu einer Tagung nach Nürnberg eingeladen. Ein Großteil der vorliegenden Beiträge dieses Bandes basiert auf den Vorträgen der Tagung. Der Einleitungstext soll dazu dienen, zunächst einen Überblick über medizinische Hintergründe zu Demenz und die menschenrechtlichen und ethischen Herausforderungen zu geben, um danach kurz die Themen der einzelnen Beiträge vorzustellen. Demenz ist ein Überbegriff und umfasst verschiedene Krankheitsbilder mit unterschiedlichen Ursachen. Eines der wesentlichen Symptome ist die Abnahme der kognitiven Leistungen, insbesondere der Gedächtnisleistung. Die Alzheimer-Erkrankung ist jene Demenzform, die mit 60–70 Prozent die häufigste ist. Es handelt sich um eine primäre Demenzform. Das bedeutet, dass das Gehirn direkt erkrankt ist und die Erkrankung nicht heilbar ist, sondern stetig fortschreitet. Bis heute gibt es in der Forschung keine eindeutigen Ergebnisse zur Prävention und Heilung von Alzheimer-Demenz. Das Deutsche Ärzteblatt konstatiert in seiner Ausgabe vom Februar 2018: »Kein Forschungszweig stagniert so sehr wie die Suche nach einem Mittel gegen Alzheimer.«8 Alzheimer kann jeden treffen. Unbestritten ist jedoch, dass gesunde Ernährung, Bewegung und auch geistige Aktivität in Kombination hilfreich sein können. Eine Garantie, nicht zu erkranken, gibt es jedoch keine. Der Verlauf der Alzheimer-Erkrankung wird grob in drei Stadien – leicht, mittelgradig, schwer – mit weiteren Unterstadien eingeteilt. In allen Phasen ist es erforderlich, ethisch sensibel mit dem Betroffenen umzugehen, denn jedes Stadium bringt eigene moralische Herausforderungen mit sich. Zu den Symptomen zählen Antriebshemmung, Erregungszustände, Störung der emotionalen Befindlichkeit und des Schlaf-Wach-Rhythmus
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Deutsches Ärzteblatt (2018), A 200.
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sowie Probleme mit dem Geruchssinn. Das Bewusstsein der eigenen Hilfsbedürftigkeit kann bei Betroffenen besonders in den ersten beiden Phasen zu aggressiven Reaktionen führen, die in der Fachsprache »herausforderndes Verhalten« genannt werden. Im Alltag führen die Symptome Vergesslichkeit und Orientierungsverlust relativ schnell zu Beeinträchtigungen. Menschen mit Demenz sind zunehmend auf die Hilfe anderer angewiesen, zum Beispiel beim Einkaufen und Kochen. Das gilt umso mehr, je weiter die Erkrankung fortgeschritten ist. Im mittelschweren bis schweren Stadium nehmen auch die motorischen Fähigkeiten ab; für Ankleiden, Essen und Körperpflege wird Unterstützung benötigt. Im weiteren Verlauf geht autobiographisches Wissen verloren, die engsten Angehörigen werden nicht mehr erkannt und/oder ihre Namen vergessen. Im schweren Stadium werden die Patienten bettlägerig, können nicht mehr sprechen und teils auch nicht mehr schlucken.9 Weitere Demenzformen sind die vaskuläre Demenz (Minderdurchblutung des Gehirns), Lewy-Body-Demenz und die frontotemporale Demenz. Jede Form äußert sich anders. So geht die Lewy-Body-Demenz einher mit Parkinson-Symptomen, also einem Zittern der Hände und Gelenksteifheit. Bei frontotemporaler Demenz ist auffälliges Sozialverhalten ein Symptom: Distanzlosigkeit wie sexualisiertes Verhalten und generelle Persönlichkeitsveränderungen. Aber auch Mischformen verschiedener Demenzen treten auf. Bei sekundären Varianten, wie der Alkoholdemenz, die durch eine Hirnschädigung bei chronischem Alkoholmissbrauch verursacht wird, besteht eine Chance auf Heilung, wenn die Krankheit frühzeitig erkannt und behandelt wird.10 Ein wichtiger Aspekt, um rechtzeitig medikamentös und nicht-medikamentös behandeln zu können, ist die frühe Diagnosestellung. Wenn sich Gedächtnisstörungen über einen Zeitraum von sechs Monaten häufen, besteht der Verdacht auf Demenz, zur Abklärung sollte ärztliche Expertise eingeholt werden. Allerdings neigen Menschen mit Demenz dazu – vor allem in diesem sehr frühen Stadium, wenn sie ihre zunehmenden Schwächen noch wahrnehmen – die Symptome zu kaschieren oder zu überspielen. Angehörige sind häufig überfordert, irritiert oder beschämt, wenn sich Be-
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Vgl. Maier et al. (2011), 33–39.
10 Vgl. ebd., 28.
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troffene ungewöhnlich benehmen; dies führt dazu, dass die Diagnose meist nicht früh gestellt, sondern eher hinausgezögert wird. Die Diagnosemitteilung ist hier eine besonders sensible Angelegenheit. Vor allem falls Betroffene versucht haben, die Diagnose zu verzögern, kann davon ausgegangen werden, dass sie es nicht wissen wollen. Dennoch kann die Diagnose nach dem ersten Schock aufgrund der Bestätigung, tatsächlich die Erkrankung zu haben, vor der man sich vielleicht besonders gefürchtet hat, eine gewisse Entlastung mit sich bringen. Symptome werden richtig eingeordnet und erhalten Krankheitswert. In der Folge darf auch vom Umfeld krankheitsgerechtes Verhalten erwartet werden; es kann eine medikamentöse oder nicht-medikamentöse Intervention erfolgen. Die Angehörigen können sich nun informieren sowie Selbsthilfegruppen kontaktieren und sich beraten lassen. Nach dem Erhalt der Diagnose kann jedoch die Sorge bestehen, sich selbst respektive seine personale Identität »zu verlieren«. Mit Demenz verbindet man gemeinhin das Vergessen und in diesem Zuge auch das »Sich-selbst-Vergessen«. Tatsächlich vergessen Menschen mit Demenz ganz am Ende auch die Namen ihrer nächsten Angehörigen und erkennen sie teilweise nicht mehr. Das ist für Angehörige besonders schmerzhaft. Es zeigt sich zudem, dass Menschen mit Demenz häufig plötzlich sehr gut ihre Kindheit erinnern, viel davon erzählen und in ihrer Jugend zu leben scheinen. Wenn beispielsweise eine 85 Jahre alte Dame mit Demenz im Seniorenheim auf ihre Mutter wartet, macht dies deutlich, dass sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlt. Berücksichtigt man jedoch, dass die Identität einer Person nicht nur aus ihren kognitiven Fähigkeiten und ihrem Erinnerungsvermögen besteht, sondern aus ihrer ganzen Lebensgeschichte und ihrer Leiblichkeit, muss nicht davon ausgegangen werden, dass ein Mensch mit Demenz seine Identität verliert.11 Die Demenz ist ein Teil der Lebensgeschichte der Person12 – es liegt vor allem am Umfeld, wie damit umgegangen wird. Freilich sind nicht nur die Menschen mit Demenz in einer vulnerablen Situation, sondern auch ihre (pflegenden) Angehörigen. Sie
11 Vgl. Schmidhuber (2017a) und (2017b). 12 Vgl. den Schwerpunkt »Philosophie der Demenz« in der Zeitschrift für Praktische Philosophie 5, 1 (2018).
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brauchen Unterstützung, um überhaupt adäquat mit dem zu betreuenden Menschen umgehen zu können.13 Auch in sprachlicher Hinsicht ist Sensibilität geboten. Spricht man in erster Linie von »Demenzpatienten«, »Alzheimer-Fällen« oder gar »den Dementen« o.ä., so werden die Krankheit und Defizite in den Mittelpunkt gerückt. Ist hingegen die Rede von »Menschen mit Demenz« oder »Personen mit Demenz«, geht es um einen Menschen in einem gewissen Zustand.14 Es dürfte damit in aller Kürze bereits deutlich geworden sein, dass Demenz eine Reihe sozialer, menschenrechtlicher und ethischer Fragen aufwirft, die es in den Blick zu nehmen gilt. Einem Teil dieser wichtigen Fragen soll im folgenden Band nachgegangen werden. Knut Arne Engedal berichtet als global erfahrener Experte aus Norwegen über internationale Standards und Herausforderungen für die Zukunft, die Demenz noch bringen wird. Schwerpunkte seines Beitrages sind die Bedeutung einer größeren Sensibilität der Gesellschaft für Menschen mit Demenz, die frühzeitige Diagnostik und ihre Konsequenzen wie auch Strategien zur Umsetzung einer patientengerechten Pflege von Betroffenen. Mit Blick auf die anstehenden Entwicklungen auf europäischer Ebene plädiert er für eine strukturierte Umsetzung nationaler Demenz-Pläne und die enge Kooperation von Fachleuten und Politik, um die notwendigen – ohne Frage auch kostenintensiven – Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Heiner Bielefeldt nimmt in seinem Beitrag menschenrechtspolitische Herausforderungen in den Blick und geht auf die Würde und Rechte von Menschen mit Demenz ein. Zentrale Ausgangspunkte sind für ihn die UNBehindertenrechtskonvention wie auch die philosophische Basis der »Relationalen Autonomie«. Bielefeldt entfaltet die Konsequenzen für ein differenziertes Verständnis von Inklusion mit Blick auf die Vulnerabilität des Menschen und zeigt, wie sich im Umgang mit Demenzkranken und Angehörigen die Humanität einer Gesellschaft bewähren muss. Katja Stoppenbrink erörtert das Recht auf Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention für Menschen mit Demenz. Dabei zeigt sie u.a. detailliert Vor- und Nachteile auf, die es mit sich bringen würde, wenn man
13 Vgl. Schmidhuber/Gräßel (2018). 14 Kitwood (2016).
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Demenz in den Behinderungsbegriff einbeziehen würde. Vertiefend diskutiert die Autorin dabei sozialrechtliche und sozialpolitische Dimensionen des Verständnisses von Selbstbestimmung der Menschen mit Demenz. Martina Schmidhuber, Sandra Häupler, Velislava Marinova-Schmidt, Andreas Frewer und Peter L. Kolominsky-Rabas zeigen in einer Studie aus der Metropolregion Nürnberg, was Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen über Patientenverfügungen wissen und welche Rolle hausärztliche Expertise dabei spielt bzw. spielen sollte. Dabei stellt sich u.a. heraus, dass zwar Wissen über Patientenverfügungen besteht, dieses jedoch durchaus lückenhaft ist. So verweist der Artikel zu Recht auf die wichtige hausärztliche Rolle: Hier könnten ältere Personen über Chancen und Grenzen einer Patientenverfügung aufgeklärt werden sowie bei der Formulierung demenz-spezifischer Passsagen wichtige Hilfen finden. Die Forschung mit oder an Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium ist ein heikles Thema. Johannes Jablonowski beschäftigt sich mit Chancen und Risiken in diesem Kontext. Er beleuchtet das 2016 verabschiedete Gesetz, das unter bestimmten Bedingungen Forschungsstudien auch an Menschen mit Demenz erlaubt. Der Autor beleuchtet Voraussetzungen einer guten klinischen Praxis, Beispiele von Vorausverfügungen wie auch Konsequenzen für die Weiterentwicklung von Wissenschaft. Fragen der Partizipation von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen werden im Beitrag von Franziska Wolff, Hanna Hofstetter, Wolfgang Joa und Peter L. Kolominsky-Rabas nachgegangen. Sie stellen auf Basis einer Übersicht verschiedener sozialer Aktivitätsformen Anforderungen an Partizipation auf mehreren Ebenen dar. Dabei erörtern sie die Beteiligung im Sinne von betätigungs- und gemeinschaftsorientierter Partizipation der Betroffenen wie auch der pflegenden Angehörigen. Das Autorenteam führt Aspekte der menschenrechtlichen Dimension von Teilhabe genauer aus und zeigt die Wichtigkeit nationaler wie auch regionaler »Allianzen für Menschen mit Demenz«. Auch pflegende Angehörigen sind »Betroffene«; mit ihnen und der Frage nach ihrer Anerkennung setzt sich Helen Güther genauer auseinander. Die Situation der Angehörigen verdeutlicht sie anhand einer besonderen Form von Verletzlichkeit (»pathogenic vulnerability«), der Angehörige von Menschen mit Demenz ausgesetzt sind. Die Autorin entwickelt insgesamt eine Übersicht notwendiger sozialer Schritte mit Blick auf eine gelingende Inklusion und das Ziel einer »sorgenden Gesellschaft«.
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Filme thematisieren Demenz in besonderer Weise – das behandelt der Text von Luise Holzhauser, Anna-Katharina Thum und Andreas Frewer. Eine genauere Analyse kultureller Konstruktion im Spielfilm ermöglicht zu verstehen, wie negative Bilder der Krankheit erzeugt oder diese verhindert werden, was zu einem besserem Verständnis von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen beitragen kann. Der Artikel analysiert quantitativ (Spiel-)Filme mit Thema Demenz und erörtert ausgewählte – besonders relevante deutsche wie auch internationale – Beispiele unter den Gesichtspunkten, wie »Demenz« bzw. der Umgang damit im Film dargestellt wird. Mike Laufenberg widmet sich dem Thema »Demenz« aus einer »Citizenship«-Perspektive. Damit stehen Praktiken und Beziehungen im Mittelpunkt, durch die Personen mit Demenzdiagnose dazu berechtigt und befähigt werden, Diskriminierungsfreiheit, Selbstbestimmung und Partizipation zu erfahren. Der Artikel diskutiert anhand des Modells der »demenzfreundlichen Kommune«, welche Potenziale und Grenzen die Einnahme einer Citizenship-Perspektive für Menschen mit Demenz bietet. Ein Interview mit der Gerontopsychologin Ivanka Perisic von der »Demenzhilfe Ansbach« zeigt abschließend Erfahrungen aus der Praxis. Dabei weist sie über Jahrzehnte ehrenamtlich helfende Organisatorin auf bestehende Problemfelder hin, von denen Menschen mit Demenz wie auch Angehörige und Pflegende betroffen sind. Durch ihr besonderes Engagement in vielen Bereichen werden eindrucksvoll mehrere Möglichkeiten aufgezeigt, wie man diesen Herausforderungen begegnen kann. Insgesamt finden auf diese Weise im vorliegenden Band zahlreiche Best Practice-Beispiele und Vorbilder wie ein Leben für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen auch gelingen kann.
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DANKSAGUNG Wir möchten allen Autor*innen des vorliegenden Bandes für ihre Beiträge wie auch für die Geduld bei der Redaktionsarbeit sehr herzlich danken. Ebenso sei Kerstin Franzó, M.A. und Anna Sielski, M.A. (beide Ethik in der Medizin) für Einsatz und Unterstützung bei der Formatierung gedankt. Inhaltliche Grundlage dieses Bandes ist die Fachkonferenz »Menschenrechte für Personen mit Demenz« vom 10. bis 11. November in Nürnberg. Wir danken Dr. Siegfried Grillmeyer und dem ganzen Akademieteam im Caritas-Pirckheimer-Haus für die sehr herzliche Aufnahme in Nürnberg. Dort wurde das Themenfeld Demenz aus ethischer und menschenrechtlicher Perspektive betrachtet. Organisiert wurde die Tagung vom Projekt »Human Rights in Healthcare« der FAU-Emerging Fields Initiative (EFI). Dabei möchten wir allen aktiven Kolleginnen und Kollegen im EFI-Projekt für die gute Zusammenarbeit herzlich danken: PD Lutz Bergemann (Ethik in der Medizin, EFI-Fellow), Prof. Yesim Erim (Psychosomatik, UK Erlangen), Dr. med. Sonja Gaag (Doktorandin in der Psychosomatik), Prof. Elmar Gräßel (Med. Psychologie und Med. Soziologie, UK Erlangen), Prof. Christian Jäger (LS für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstrafrecht), Dipl.-Pol. Sabine Klotz (LS Menschenrechte und Menschenrechtspolitik), Prof. Peter Kolominsky-Rabas (Zentrum für Public Health), Prof. Markus Krajewski (LS Öffentliches Recht und Völkerrecht), PD Michael Krennerich (LS Menschenrechte und Menschenrechtspolitik), Dr. Imke Leicht (Masterstudiengang »Human Rights«), Dr. PH Maren Mylius, M.A. (Stipendiatin Ethik in der Medizin), Prof. Christoph Ostgathe (Palliativmedizin, UK Erlangen), Dr. Dipl.-Sozialwirtin Sandra Schaller (Interdisziplinäres Zentrum für Public Health), Dipl.-Psych. Katharina Schieber (Psychosomatik) und PD Caroline Welsh (Germanistik und Komparatistik). Ein besonderer Dank geht an die mitbeteiligten Kolleginnen in den Sekretariaten: Silvia Krönig (LS Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Leitung: Prof. Heiner Bielefeldt), Anja Koberg, M.A. und Frauke Scheller, M.A. (beide Ethik in der Medizin, Leitung: Prof. Andreas Frewer). Ohne die EFI-Förderung der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg wäre die gesamte Kooperation nicht möglich gewesen. Herzlicher Dank geht an Prof. Dr.-Ing. Joachim Hornegger, den Präsidenten der FAU, sowie das gesamte Team des EFI-Office. Dem transcript Verlag – insbesondere Anke Poppen – danken wir für die gute Zusammenarbeit.
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LITERATUR Alzheimer’s Disease International (2016): »World Alzheimer Report 2016. Improving healthcare for people living with dementia. Coverage, quality and costs now and in the future«, Online: https://www.alz.co.uk/re search/WorldAlzheimerReport2016.pdf [07.03.2018]. Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (Hg.) (2018): Vulnerabilität und Autonomie in der Medizin. Menschenrechte – Ethik – Empowerment, Bielefeld: transcript. Drzezga, Alexander/Sabri, Osmana/Fellgiebel, Andreas (2014): »AmyloidBildgebung: Reif für die Routine?«, in: Deutsches Ärzteblatt 26 (2014), 1206–1210. Dufner, Annette (2018): »Demenz und personale Identität«, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 5, 1 (2018), 73–80. Freter, Hans-Jürgen/Rautenberg, Niclas (2013): »Zum Tode von Walter Jens«, Pressemitteilung vom 10.06.2013, Online: https://www.deutschealzheimer.de/ueber-uns/presse/artikelansicht/artikel/zum-tode-von-walt er-jens.html [04.12.2018]. Frewer, Andreas/Bergemann, Lutz/Jäger, Christian (Hg.) (2016): Interessen und Gewissen. Moralische Zielkonflikte in der Medizin, Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 9, Würzburg: Königshausen & Neumann. Holzhauser, Luise/Frewer, Andreas (2017): »Ethics of Dementia in International Movies. A Short Comparison between North America and Europe«, in: Global Health, Ethics and Human Rights 3 (2017), 103–122. Jens, Inge (2009): »Walter Jens hängt am Leben, Interview von Marc Herwig«, unter: NTV Online, am 19.07.2009. Online: https://www.ntv.de/panorama/Walter-Jens-haengt-am-Leben-article417892.html [04.12.2018]. Jens, Walter/Küng, Hans (1995): Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München: Pieper. Kitwood, Tom (2016): Demenz. Ein person-zentrierter Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Bern: Hogrefe. Kruse, Andreas (2010): Lebensqualität bei Demenz, Heidelberg: AKA Verlag. Lenzen-Schulte, Martina (2018): »Antidementiva scheitern reihenweise«, in: Deutsches Ärzteblatt 115, 5 (2018), A 200–201.
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Magnus, Dorothea (2016): »Interessenkonflikte bei Demenzkranken: Das ›Odysseus-Problem‹«, in: Frewer et al. (2016), 247–262. Maier, Wolfgang/Schulz Jörg B./Weggen, Sascha/Wolf, Stefanie (2011): Alzheimer & Demenzen verstehen. Diagnose, Behandlung, Alltag, Betreuung, Stuttgart: Trias. MetLife Foundation (2006): Americans Fear Alzheimer’s More Than Heart Disease, Diabetes or Stroke, New York: MetLife Foundation. Ringkamp, Daniela/Strauß, Sara/Süwolto, Leonie (Hg.) (2017): Demenz und Subjektivität. Ästhetische, literarische und philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M.: Peter Lang. Schmidhuber, Martina (2017a): »Lebensgeschichte und personale Identität bei Demenz«, in: Ringkamp et al. (2017), 25–38. Schmidhuber, Martina (2017b): »Identitätsverlust bei Demenz?«, in: Werren et al. (2017), 125–136. Schmidhuber, Martina/Gräßel, Elmar (2018): »Zur Vulnerabilität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen«, in: Bergemann/Frewer (2018), 147–166. Werren, Melanie/Mathwig, Frank/Meireis, Torsten (2017): Demenz als Hölle im Kopf? Theologische, philosophische und ethische Perspektiven, Bern: TVZ.
Standards in Dementia Care A European Perspective K NUT E NGEDAL
1. I NTRODUCTION According to an overview published by Alzheimer Europe, 19 European countries have during the last ten to fifteen years developed and launched national dementia strategies.1 In 2017 the World Health Organization (WHO) followed-up the European initiatives and declared dementia as one of the world main health and social challenges, and launched a global dementia action plan, including all member states of WHO. 2 The main aim of all European strategies, the global WHO strategy as well as national guidelines are to develop and provide services to improve quality of life for the persons with dementia and the family carers. To reach the goal of a better life for people with dementia and their families the European strategies as well as the strategy made by WHO have some common priorities, such as to raise the general awareness of dementia in the public, to develop dementia friendly societies, to offer health and social services so that all people with symptoms of suspected dementia may have a diagnostic assessment of good quality, and receive a diagnosis timely. Further, that persons with dementia and the family carers should be fol-
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See Alzheimer Europe (2017).
2
See WHO (n.d.) und (2017).
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lowed-up after the diagnostic assessment with information, guidance and support. A person-centred care approach should be offered. Lastly, the strategies may be the basis for developing national guidelines for dementia care.
2. D EMENTIA Dementia is a clinical syndrome defined by WHO as a chronic condition characterized by impaired memory and other cognitive function to a degree that activities of daily living are impaired. In addition, behaviour and social engagement is often changed. Several brain disorders can cause dementia, and as most of these disorders are of progressive nature, dementia will progress over time. Alzheimer’s disease is the most frequent cause of dementia both in younger and older adults. In the majority of persons with dementia, progression of the disorder will lead to a severe decline in overall cognition and subsequently severe impairment in a variety of everyday functions, until total helplessness. The burden of care is heavy, and in many countries, especially in the northern part of Europe people with severe dementia are cared for in various types of residential homes due to the heavy burden on the families. The incidence of dementia increases by age, especially steeply after the age of 75 years. Worldwide it is estimated that 47 million people have dementia today, in Europe it is estimated that the number is 11 million, and in Germany it is 1.6 million.3 The number will raise due to the increase in longevity worldwide and the estimated number of people with dementia in 2025 is 131 million in the world, 19 million in Europe and 3.1 million in Germany. However, some studies indicate that the expected increase will be less steep.4 The reason for this more optimistic prognosis is related to the healthier lifestyle of the people getting old in the next 30 years to come. From various epidemiological studies, risk factors for dementia like hypertension, diabetes and smoking behaviour, or physical and mental inactivity
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Prince et al. (2015).
4
Manton et al. (2005).
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is less common among the future old people compared to old people of today. However, no cure is available for the typical brain disorders causing progressive dementia, and no effective treatment exists that can slow down the progression. Thus, dementia is not only a disaster for the patients and the family carers, but also a heavy economic burden on the society and a challenge for the society to provide good quality of care to the afflicted persons. The global costs associated with dementia care are estimated to be about 800 billion US dollars in 2017 and will increase to above 200 Billion US dollars in 2030.5 After all, good quality of care for all people with dementia will lead to better quality of life. But the question remains how to achieve this overall goal.
3. T O R AISE
THE
G ENERAL AWARENESS
All European dementia strategies as well as WHO have highlighted the importance to raise the general awareness of dementia. Politicians, various stakeholders and the »man and the woman in the street« need to know what dementia is and which consequences dementia has for the afflicted person«, the families of the persons with dementia and the society. In the WHO’s strategy the goal is that within 2025, all countries being members of WHO should have a public dementia campaign and 50% should have a dementia friendly initiative. A further goal of WHO is that at least 50% of all member countries should have launched a national dementia strategy before 2025.6 Another way to raise the general awareness is when well-known people being afflicted tell the public about the disease, like the former president of USA, Ronald Reagan, did in an open letter to the American people in 1994. He told that he has been diagnosed with Alzheimer’s disease, and hoped that people of America would become a clearer understanding of the disease. He further told that he intended to live the remainder of his life by doing the things he had always done. In this letter to the American people
5
Wimo et al. (2017).
6
WHO (2017), 15.
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Ronald Reagan underlined the importance of increasing the awareness for dementia in the American society and how he aimed to continue »living well with dementia« (the slogan of the dementia strategy in England) to maintain quality of life as long as possible. A third way of raising the general awareness is to change the attitudes in the society towards people with dementia. People with dementia have difficulties to learn to operate new high technical devices such as PCs, mobile phones, and to respond to automatic installations, e.g. automatic answering devices. Such difficulties will limit their possibilities to take active part in everyday life outside their own home, and in the most extreme situations they will become prisoner in their own apartments and houses. The initiative »dementia friendly society« is therefore to welcome. A dementia friendly society or community can be defined according to Alzheimer Disease International (ADI) as: a place or culture in which people with dementia and their carers are empowered, supported and included in society, understand their rights and recognize their full potential.7 Several of the European dementia strategy highlight the importance of this initiative, e.g. to make changes in the society so that people with dementia can go shopping, visit a cafe, take a bus by their own. The method to implement such changes is to offer short introduction courses about dementia to all employees working in public service offices, to bus drivers, to employees in shops and so one. Another aspect is to offer education about dementia in all acute hospitals to create dementia friendly hospitals.
4. T IMELY D IAGNOSIS Studies report that only 50% of people with a dementia disorder living in countries with access to good quality healthcare has been assessed and received a diagnosis of dementia.8 The proportion of diagnosed people is higher in high income countries, compared to low income countries and lower among minor–ethnic groups. Further, among those who receive a diagnosis, the diagnostic assessment is often done in a late stage of dementia.
7
Alzheimer’s Disease International (n.d.).
8
See Wergeland et al. (2014).
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We do not know exactly why it is so. One reason is probably related to the stigma of dementia. Another could be related to the lack of effective treatment. Why having a diagnosis if there is no cure or any other remedies that can slow down the progression? Despite such explanations all European dementia strategies and guidelines as well as WHO recommend that a diagnostic assessment should be done timely, meaning at the time when the person with dementia or the family seek advice and help. This implies that in most cases the diagnostic assessment should be carried out when the person presents with symptoms of dementia. A diagnosis is a door-opener to information, guidance and support and to care that can increase quality of life for the person with dementia and his or her family. Screening for dementia is not recommended, but case-finding in special populations should be discussed. Among people above 75 years of age receiving in-home nursing care or are admitted in hospital for acute functional decline, the prevalence of dementia will be above 40%, and case-finding could be beneficial.9 Basically, two strategies on how to organise dementia assessment exist in Europe. In some countries, like France, Denmark and Finland, just to mention some, dementia diagnostic assessment is done in neurological specialist healthcare. In other countries, there is a two levels strategy. The general practitioner (GP) acts as a doorkeeper. He or she does a basic assessment and if they can conclude the persons with symptoms of suspected dementia will receive a diagnosis by the GP. If the GP’s assessment is inconclusive the person is referred to specialist healthcare, either in neurology, geriatric medicine or old age psychiatry. Regardless how the assessment is organised national guidelines should clearly define the effectiveness of various diagnostic tools and which tools to choose in different stages of dementia, such as neuropsychological tests, magnetic resonance imaging (MRI), positron emission tomography (PET) and examination of various proteins in cerebrospinal liquor. This is done in some guidelines, but not all, and there is still a way to go for many countries in developing evidence based national guidelines on how to organize dementia assessment and to recommend evidence based diagnostic tools in various stages of dementia. The recommendation should include an evaluation of the costs associated with the recommended assessment.
9
Wergeland et al. (2014).
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From England we have results from an initiative on how to increase the number of people being assessed for dementia. The intervention that was carried out between 2009 and 2014 consisted of a campaign towards physicians at both primary and specialist care level and by giving the doctors adequate tools and confidence how to diagnose dementia. 10 As a result, the proportion of people estimated to have dementia raised from 40% to 67%. A similar initiative was conducted in Norway, providing the doctors at different care levels with adequate tools to diagnose dementia.11
5. P OST D IAGNOSTIC F OLLOW - UP As the dementia disorders are of progressive nature and no treatment exists that can slow down the progression there is a need for a long-term followup of both the person with dementia, and the family carers. Most European strategies have this measure as a priority. It is for sure a costly measure, and a measure that should be organised in different ways depending on the social and healthcare structure of each country. But, regardless of various structures on how to provide follow-up services it seems that »a single point of contact«, like it is called in the French dementia strategy is the most recommended way to organized post-diagnostic follow-up. In other strategies it is called »a link person«, »a coordinator«, »a case manager«, »a dementia nurse«, and so on. The principle on how to organize postdiagnostic is the same: the person with dementia and the family carer should have contact with one person, or one service office throughout the course of dementia, and this follow-up service should be a low threshold service, where the case-manager or whatever the name is of the service provider, should together with the person with dementia and the family be offered the best palliative care available.
10 Burns et al. (2009) und Mukadam et al. (2014). 11 Engedal et al. (2012) und (2015).
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6. C ARE T HROUGHOUT
THE
C OURSE
OF
D EMENTIA
The European dementia strategies describe care pathways, and to some extent also medical and social support program throughout the course of dementia, from diagnosis to death, but how to implement and pay for the services are rarely described. For example in the national Norwegian guidelines for dementia care it is recommended that every person with a diagnosis of dementia and the family carers should be regularly followed-up every 6th months, or more frequently, when there is an unmet need, from the day of the diagnosis until nursing home placement. This should be done by a municipality dementia care team, or a coordinator and the municipalities should cover the costs.12 This is a challenge as in developing standards for care, ethical principles such as respect for individual autonomy, dignity and justice should be taken care of. Further, people with dementia shall have the same right to high quality social and health services regardless of ethnicity, gender, age, place of residence and income.13 So, the questions arise how to organize and provide high quality care? How should professional caregivers, family carers and volunteers co-operate, and who should pay for the care? In this author’s opinion the challenge on how to organize and implement high quality care in the various stages of dementia is not solved in any country, yet. Several factors could explain this. First, to provide high quality of care, one have to consider the human resources of the family carers and the resources the public social and healthcare can afford to spend. Both kinds of resources are limited. Family carers are often spouses of the same age as the person with dementia, and as most people with dementia are old, the spouse will also be old, perhaps struggling with own health problems and reduced capacity to assist the person with dementia. Other family carers are children, living their own busy life, having a job and caring for their own children. The public social and healthcare systems are in many countries not prepared for, or organized to care for people with dementia, by offering in-home services, day care services or services in residential homes. We are witnessing great difference between north and south Europe, where
12 Helsedirektoratet (2017). 13 Beauchamp/Childress (2009).
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much more services are provided to old people with disabilities in general, and to people with dementia in the north. It is difficult to recommend standards for all European countries, as the social and healthcare systems work differently, often because of different economical possibilities to allocate money to dementia care. Another aspect that is observed in both high and medium income countries is that access to care is not optimal. Services may exist, but people with dementia and family carers do not know about them. A recent European unpublished (personal communication) study suggested that the »case manager«, the one that is appointed as the »single contact« (»one stop«) of the person with dementia and his/her family and the person’s family doctors are maybe the two best doorkeepers to guide people with dementia so that they have access to available services. Living with dementia will be different in various countries, depending on the culture of the country and available services. But, independent of culture and available services the principles of person-centred care are recommended to form the basis of all dementia care. Person-centred care implies that we should not consider dementia only as a biological disorder. We cannot treat any dementia disorders but we can treat people with dementia disorders with respect, empathy and dignity to maintain and even improve their quality of life. Slogans like »living well with dementia« from the UK dementia strategy14 and »forget dementia – remember the person« from the Belgian dementia strategy illustrate the way we should treat people with dementia.
7. U SE
OF
P SYCHOTROPIC D RUGS
In all dementia disorders we will not only observe a decline in cognitive and everyday life functions, but also changes of behaviour, or even symptoms indicating psychiatric illnesses like anxiety, depression, or psychosis and disturbed sleep. Usually, the frequency and intensity of such changes will increase by severity of dementia, except for depression, which is more
14 See Alzheimer Europe (2017).
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common in the early stage of dementia.15 The first line treatment to treat behavioural changes is, in accordance to national guidelines, to use a nonpharmacological approach, which could be to educate professional and family carers in person-centred care, to use music, joyful activities, massage, aroma therapy, multi-sensory intervention, validation therapy, reminiscence and physical exercise. Such recommendations are not always followed, and drugs are prescribed to treat behavioural symptoms. However, evidenced based reviews cannot confirm that antidepressant drugs have any effect on behavioural changes in people with dementia, and only weak evidence exists for its effect on depression in dementia. Further, several metaanalyses have concluded that antipsychotic drugs have only a modest effect on agitation, aggression and psychotic symptoms in dementia, and the effects are of short duration, less than 12 weeks, and at the same time metaanalyses have shown that antipsychotics have many side-effects, and some are severe such as increased risk of stroke and death.16 National guidelines, therefore, are restrictive in recommendations of such drugs to people with dementia. For instance, in Norway the national guidelines say that antipsychotics should only be prescribed to treat psychotic symptoms and severe agitation combined with aggression, and that treatment should be reevaluated after maximum three months. The national guidelines in UK, USA and Germany (as well as others) are as well restrictive, and give similar instructions for use of antipsychotics as the Norwegian guidelines. The main reason for the recommendation of restrictive use is because of the modest short-term effect and the many side-effects of these drugs. In USA there is a »Black Box« warning for its use, and in Germany a »Rote Hand Brief«. Despite such recommendation of many national guidelines, studies show that in some countries more than half of all people with dementia residing in nursing homes are treated with antipsychotic drugs, and persist use is common.17 Some dementia strategies like the Danish and the one from UK have especially focused on measures how to reduce the use of an-
15 Selbaek et al. (2014). 16 Ballard et al. (2009); Wang et al. (2014) und Maust et al. (2015). 17 Richter et al. (2012) und Booker et al. (2016).
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tipsychotics.18 Mandatory training in how to provide person centred care in nursing home and regular medication reviews seem to be powerful initiatives in reducing the use of psychotropic drugs.19
8. P ALLIATIVE
AND
E ND
OF
L IFE C ARE
Dementia disorders shorten life. As no effective treatment to slow down the progression exist, palliative care is the only available treatment approach, and it should start with the disclosure of the diagnosis and end with death, and for the family of the deceased after his or her death. The European association of palliative care has recommended that we should consider palliative care for people with dementia in the following way: In the very mild and mild stage of dementia treatment of people with dementia should focus on prolongation of life by offering any active treatment of all co– morbidities, as it is done for people with normal cognition. In the moderate stage of dementia, the treatment should focus on how to maintain function by offering training, activation and active treatment of co-morbid diseases. In the severe stage of dementia, the focus should be on treatment of pain and other symptoms as well as on psychological, social and spiritual problems leading to discomfort, in order to maximisation of comfort and quality of life.20 End of life care is, the care provided during the last days of a person’s life. It may not differ for people with dementia from the care provided to of other people in their last days of life. However, due to severe cognitive impairment and often severe communication problems people with severe dementia may have difficulties in communicating pain and other needs. Therefore, the medical staff (doctors and nurses) may have difficulties in the judgment when end-of-life treatment should start. The prognosis of concurrent disease, e.g., infection may be difficult to evaluate. Advance care planning can be of help for the medical staff in such situation, but
18 For the Danish strategy and the UK strategy see Sundheds- og Ældreministeriet (2017) and Department of Health (2009). 19 Thompson Coon et al. (2014) und Fog et al. (2017). 20 Van der Steen et al. (2014).
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when to introduce advance care planning? At disclosure of the diagnosis, or later on? In most cases we really do not know. The experience of family carers is that advance care planning is an ongoing process through the course of dementia, where both the person with dementia and the family should take part.
9. C ARE
FOR THE
C ARERS
It is said that no other disorder lead to such heavy burden on family carers as the dementia disorders. Although there is no evidence for such a statement, it is without any doubt demanding to care for a family member with a progressive dementia disorder. Quality of life of the carers are in most cases reduced by the burden of being a carer, and it is found that family carers are at risk for depression and burn-out.21 Therefore, in national guidelines22 there is a focus on how to develop and implement measures which can relief the strain on the family carers. According to research tailored multicomponent interventions toward the carers are recommended, such as educational programs, self-help support groups, offering respite care programs and residential care programs for people with dementia.23 In Norway, we have seen that an educational program over 12 to 15 hours has been successful and is by now offered to family carers in about 80% of all municipalities. Another measure that could improve the quality of care, and be a measure to relief the strain of the family carers is to offer educational programs to professional social and healthcare workers about dementia. Such programs have been a tremendous success in Scandinavia, either as e-learning programs (Sweden and Denmark), or as group-learning programs.24 The programs for family carers consist of lectures and group discussion, where the participants can discuss own problems with other having similar problems under the lead of a professional expert in the field.
21 Ulstein et al. (2007). 22 See Ying et al. (2018). 23 Ebd. (2018). 24 Engedal (2015).
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10. F INAL R EMARKS As the number of people with dementia in Europe will almost double the next decades due to an aging society, measures to meet the needs of people with dementia and their families should be developed and implemented. National dementia strategies and national evidenced based guidelines, based on the strategies, could be useful initiatives to develop and implement good quality services aiming at improving quality of life for people with dementia and their family carers. But, to do so health professionals, stakeholders, health administrators and politicians should work together to find the best solution for their own country with the resources that exists. However, good quality of care is associated with monetary costs.
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Würde und Rechte von Menschen mit Demenz Umrisse neuer menschenrechtspolitischer Herausforderungen H EINER B IELEFELDT
1. ANGST, SCHAM UND STIGMA In einem Fernsehinterview mit Anne Will kündigte Hans Küng vor einigen Jahren an, dass er im Fall einer sich abzeichnenden Demenz Zuflucht zum assistierten Suizid nehmen würde. Er wolle nicht »als Schatten meiner selbst« weiterexistieren: »Wenn die Demenz kommt, beende ich mein Leben.«1 Das Interview fand vor allem deshalb Aufmerksamkeit, weil ein bekannter katholischer Theologieprofessor darin öffentlich mit dem von der katholischen Kirche stets hochgehaltenen Verbot der Selbsttötung brach. Es ist zugleich bezeichnend für die verbreitete Wahrnehmung der Demenz als einer scheinbar nur noch »schattenhaften« Existenz, die man sich selbst und anderen um fast jeden Preis ersparen möchte – und sei es durch Suizid. Als noch Lebender bereits im »Reich der Schatten« zu sein, ist für die meisten Menschen ein schier unerträglicher Gedanke. Schreckensbilder von Untoten drängen sich auf.2 Hinzu kommt die absehbare Belastung für die Ange-
1
Jürgs (2013). Siehe auch Küng (2014).
2
Vgl. Wallisch/Stepanek (2014), 96–121.
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hörigen, die womöglich dazu führt, dass liebevolle und respektvolle Erinnerungen überschattet werden. Neben den befürchteten Verlust der eigenen Biographie tritt die Angst vor der drohenden Zerstörung eines positiven Erinnerungsbildes bei den anderen. Vielleicht mehr als jede andere Krankheit ist die Demenz derzeit massiv angstbesetzt. Angst aber macht das Leben eng. Nach Martha Nussbaum kann sich Angst zu narzisstischer Selbstbezogenheit auswachsen, die die Entwicklung von Empathie und Solidarität blockiert. 3 Dies zeigt sich gerade auch im Blick auf Demenz. Die Angst vor ihr führt vielfach dazu, dass man Menschen meidet, die die Demenz direkt oder indirekt verkörpern, nämlich Betroffene und ihre pflegenden Angehörigen. Der Zukunft, die einem selbst bevorstehen könnte, hier und jetzt schon gleichsam ins Auge zu schauen, fällt schwer. Viele Menschen sind dazu nicht bereit oder in der Lage. Berichten zufolge brechen Beziehungen oft schon unmittelbar mit der Diagnose einer Demenzerkrankung ab,4 d.h. zu einem Zeitpunkt, in dem Gespräche und Geselligkeit – wenigstens partiell oder temporär – durchaus wie gewohnt möglich wären. Die sich aus Angst speisende Tabuisierung des Themas Demenz wird für die Betroffenen so zum persönlichen Stigma. Zur Angst hinzu kommt die Scham. Im Angesicht Dritter mit der eigenen körperlichen oder geistigen Gebrochenheit konfrontiert zu werden, löst typischerweise Schamgefühle aus. Wer sich schämt, neigt zum Rückzug; man möchte sich verkriechen. Nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch ihre Nächsten mögen versucht sein, eine beginnende Demenz zu leugnen, Ausfallerscheinungen zu überspielen und »riskante« Kommunikationssituationen zu vermeiden. Diagnosen werden verheimlicht. Sogar vor sich selbst möchte man etwaige Symptome am liebsten verbergen. 5 Angst und Scham, gesellschaftliche Tabuisierung und persönliche Verdrängung verstärken sich somit in ihren Auswirkungen wechselseitig. In diesem Teufelskreis wird das Leben immer enger.
3
Vgl. Nussbaum (2012), 20–28.
4
Vgl. Dementia Alliance International (2016).
5
So die Berichte von Angehörigen bei der diesem Sammelband zugrundeliegenden Tagung »Menschenrechte für Personen mit Demenz«, die am 10. und 11. November 2017 in Nürnberg stattfand.
W ÜRDE UND R ECHTE
VON
M ENSCHEN
MIT
DEMENZ | 37
Die Mauern aus Angst, Scham und Verdrängung, die die Menschen mit Demenz umgeben, schließen die pflegenden Angehörigen in vielen Fällen mit ein. Auch ihr Leben wird oft eng und einsam. Dies geschieht nicht nur deshalb, weil der Zeitaufwand für die Pflege die Aufrechterhaltung sonstiger Beziehungen naturgemäß erschwert; es ist auch die Folge von Kontaktvermeidung auf allen Seiten, die oft nicht einmal bewusst geschieht. Mit dem Ausdünnen von Kontakten wird die Schwelle für künftige Kommunikation immer höher und erscheint irgendwann vielleicht unüberwindlich. Wie viele Menschen an der Einsamkeit zerbrechen, weiß niemand. Die Depressionsrate unter pflegenden Angehörigen ist jedenfalls hoch; sie liegt Schätzungen zufolge bei bis zu 50 Prozent.6 Die gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Demenz manifestiert sich – auf einer anderen Ebene – außerdem darin, dass sogar ihr Personsein und ihre Menschenwürde manchmal in Frage gestellt werden. Zumeist geschieht dies implizit. Suzanne Cahill, Verfasserin einer Monographie zum Thema »Dementia and human rights«, hat ein solches Verhalten über Jahre hinweg immer wieder beobachtet. Oft, so schreibt sie, sprachen Angehörige in Gegenwart der Betroffenen, als seien diese gar nicht präsent: »It was as if they assumed that the person was sub-human, no longer existed, and because of the dementia could no longer experience humiliation.«7 Cahill beschreibt hier den Irrglauben, die Demenz raube den Betroffenen ihren Status als Subjekt.8 Gelegentlich kommt das Verdikt der »Würdelosigkeit« sogar expressiv verbis zum Ausdruck. In der alltäglichen Semantik der Würde schwingt nicht selten die Vorstellung mit, diese sei abhängig von einem »würdevollen« Verhalten, also von einer individuellen Leistung, die erst einmal erbracht werden müsse. Nicht nur persönliches Fehlverhalten, sondern auch schambesetzte Situationen wie der partielle Ausfall körperlicher oder geistiger Kontrolle gelten dann womöglich als Beleg eines Würdeverlustes. Wo elementare geistige Leistungen auf Dauer wegbrechen, könne – so die manchmal sogar offen formulierte Konsequenz – von eigentlicher Menschenwürde am Ende keine Rede mehr sein. So die Position des Philoso-
6
Vgl. Dementia Alliance International (2016).
7
Cahill (2018), 6.
8
Vgl. ebd., 17.
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phen Guido Löhrer, der die Würde des Menschen von einer empirischen Praxis des gesellschaftlichen »Würdigens« abhängig macht: »Ohne Würdigung […] keine Würde. Wer zu nichts gebraucht wird und sich in nichts als nützlich erweist, hat so die Konsequenz, keine Würde.«9 Die fürchterlichen Implikationen dieses Verdikts für Menschen mit fortgeschrittener Demenz liegen auf der Hand. Vorsichtiger bleibt Arndt Pollmann, wenn er die Würde des Einzelnen von unterschiedlichen persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren her definiert. In seiner »gelingensethischen« Konzeption geht er gleichwohl davon aus, »dass die Bewahrung der Menschenwürde immer zumindest auch von der Kraft der Betroffenen abhängt«.10 Seine Schlussfolgerung: »Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Personen haben die volle Würde […].«11 Die Entsolidarisierung, die hier ausgerechnet im Namen der Würde stattfindet, trifft Menschen mit Demenz mit besonderer Härte.
2. PERSPEKTIVEN DER UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION Menschen mit Demenzdiagnose gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft. Wie Peter Puhlheim und Christine Schaumberger schreiben, sind sie »in zweifacher Hinsicht vom Vergessen bedroht: Sie werden marginalisiert und ›unsichtbar‹, und sie verlieren mehr und mehr ihr Gedächtnis und ihre Erinnerungen«. 12 Ihre Menschenwürde zu achten und ihre Rechte auf persönliche Freiheit und soziale Teilhabe zu stärken, gehört deshalb zu den vordringlichen Aufgaben der Menschenrechtspolitik. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Herausforderung im Menschenrechtsdiskurs bislang kaum angekommen zu sein scheint. Dabei liegt mit der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: BRK = Behindertenrechtskonvention)13 vom Dezember 2006
9
Löhrer (2003), 186.
10 Menke/Pollmann (2017), 143. 11 Ebd., 145. 12 Puhlheim/Schaumberger (2011), 137f. 13 Vgl. dazu Bielefeldt (2009).
W ÜRDE UND R ECHTE
VON
M ENSCHEN
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ein internationales Rechtsinstrument vor, das sich auch für den Umgang mit dem Thema Demenz geradezu aufdrängt, weil es neuartige normative Eckpunkte und hilfreiche Orientierungen bereithält. In Deutschland ist diese Konvention nach der Ratifizierung durch Bundestag und Bundesrat im März 2009 in Kraft getreten und seitdem rechtsverbindlich. Bei der Umsetzung der BRK kommen Menschen mit Demenz bislang aber allenfalls am Rande vor. Die in der Konvention als Leitprinzip etablierte »Inklusion« scheint mit Blick auf Menschen mit Demenzdiagnose und ihre Angehörigen nicht wirklich zu greifen. Bevor ich auf diesen beunruhigenden Befund näher eingehe, gebe ich im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über einige zentrale Prinzipien der BRK. Zu den Leitbegriffen der Konvention gehört die Barrierefreiheit. Unter den Barrieren, die es auszuräumen gilt, versteht sie nicht nur physische Hindernisse, sondern auch kommunikative Hürden sowie gesellschaftliche Ängste und Vorurteile. Staat und Gesellschaft stehen in der Pflicht, solche Hindernisse auszuräumen.14 Noch umfassender ist der Anspruch der Inklusion (»full and effective participation and inclusion in society«)15, der die BRK insgesamt durchzieht. Der Begriff der Inklusion steht für einen grundlegenden Perspektivenwechsel: Statt lediglich innerhalb bestehender gesellschaftlicher Institutionen etwas mehr Raum für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, wie dies in der Linie herkömmlicher Integrationspolitik lag, geht es fortan darum, die Gesellschaft und ihre Subsysteme konsequent so zu konzipieren und zu gestalten, dass von vornherein alle dazu gehören.16 Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr darum betteln müssen, dass man ihnen hier und da Einlass gibt, sondern können unter Verweis auf eine international gültige Menschenrechtskonvention darauf pochen, dass sie Teil der Gesellschaft sind – auch wenn dies faktisch noch lange nicht überall angekommen sein dürfte. Bildhaft formuliert: Statt hier und da Türen zu öffnen, gilt es Wände zu verstellen und Mauern abzutragen. Behinderung soll als Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Ge-
14 Vgl. Art. 8 BRK. 15 Art. 3(f) BRK. 16 Degener (2011).
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sellschaft anerkannt sein, und Menschen mit Behinderung sollen inmitten der Gesellschaft ihren Platz haben.17 Die tragende Grundlage der Menschenrechte insgesamt und somit auch der BRK bildet die Idee der Menschenwürde. Sie ist ihrerseits strikt »inklusiv« zu lesen und umfasst – im Gegensatz zu dem oben skizzierten Leistungsbegriff der Würde mit seinen ausgrenzenden Wirkungen – alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihren persönlichen Fähigkeiten, unabhängig auch von gelegentlichen oder permanenten Ausfällen. Schon die Präambel spricht unmissverständlich von der Würde aller Mitglieder der Menschheitsfamilie, im Wortlaut: der »inherent dignity […] of all members of the human family«.18 Würde ist demnach kein Prädikat, das man sich persönlich durch Leistungen erst »verdienen« müsste, was in manchen Lebenslagen schwierig oder unmöglich sein mag. Vielmehr gebührt sie allen Menschen schlicht aufgrund ihres Menschseins und gilt deshalb in allen Lebenslagen und in allen Lebensphasen gleichermaßen. Dies ist eine wichtige Klarstellung. Drastisch, aber treffend bringt Franz Müntefering die Konsequenzen auf den Punkt, wenn er betont: »Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann. Nichts damit, ob er bis 100 zählen und ob er sich erinnern kann.«19 Nur als strikt inklusiver Begriff ergibt die Menschenwürde Sinn, andernfalls sollte man darauf verzichten, den Begriff in den Mund zu nehmen. Die BRK hat dazu beigetragen, das Thema Behinderung in produktiver Weise zu »politisieren«. Dies hat Auswirkungen auf ganz unterschiedliche Politikfelder: Bildungspolitik, Sozialpolitik, Betreuungsrecht, Wohnungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik, Familienpolitik usw. Behinderung, so die Pointe, ist nicht mehr nur persönliches Schicksal, sondern zugleich eine umfassende gesellschaftliche Herausforderung. Deshalb ge-
17 Zu einigen jüngst um sich greifenden Missverständnissen und utilitaristischen Verkürzungen im Verständnis der Inklusion vgl. Bielefeldt (2017). 18 Die BRK zitiert hier – in leicht modifizierter Weise – den ersten Satz der Allgemeinen Erklärung von Menschenrechte von 1948. Auch in diesem »Mutterdokument« des internationalen Menschenrechtsschutzes steht die inhärente Würde aller Menschen am Anfang der Präambel und fundiert den Anspruch der Menschenrechte im Ganzen. 19 Müntefering (2014).
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hört das Thema in die öffentliche Debatte: in die Medien, ins Parlament und in die Schulen. Dem entspricht eine Blickwendung von einer primär medizinischen Betrachtungsweise, die das »Problem« ausschließlich im betroffenen Individuum verortet, hin zu einer sozialkritischen Adressierung von Vorurteilen, Befangenheiten, Diskriminierungen, Stigmatisierungen, Kommunikationsverweigerungen und anderen mentalen und strukturellen »Barrieren«. Schon die Definition von Behinderung in der Konvention zeigt dies in wünschenswerter Deutlichkeit. Behinderung (»disability«) besteht demnach in der Wechselwirkung zwischen persönlichen Beeinträchtigungen (»impairments«) einerseits und den gesellschaftlichen Reaktionen in Gestalt von diversen Barrieren andererseits. In der Sprache der Konvention: »disability results from the interaction between persons with impairments and attitudinal and environmental barriers that hinders their full and effective participation in society on an equal basis with others«.20
Wie bereits angedeutet, hat die Diskussion um die BRK bislang jedoch erstaunlicherweise kaum Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Demenz gezeigt. So jedenfalls lautet die kritische Einschätzung der 2014 gegründeten »Dementia Alliance International« (DAI). Sie beklagt: »Although 163 Member States and the European Union have ratified the Convention, there is no evidence that persons with dementia are being included in its implementation at national level.«21
Dieser verstörende Befund steht im Zentrum einer öffentlichen Stellungnahme, die DAI anlässlich eines vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK-Ausschuss) in Genf veranstalteten »General Day of Discussion« im April 2016 abgab. Die Alliance fordert den BRK-Ausschuss darin auf, dem Thema Demenz im Rahmen seiner Monitoring-Praxis fortan systematische Aufmerksamkeit zu widmen. Dies
20 Präambel Buchstabe (e) BRK. 21 Dementia Alliance International (2016).
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scheint bis dato wenig geschehen zu sein. So kommt der Begriff der Demenz in den Empfehlungen des BRK-Ausschusses für Deutschland vom April 2015 nirgends vor.22 Auch die seit 2014 amtierende UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat sich auf das Thema, soweit in den verfügbaren Dokumenten erkennbar, bislang anscheinend nicht intensiver eingelassen.23 Wie erklärt sich diese erstaunliche Leerstelle? Suzanne Cahill sieht einen Hauptgrund darin, dass Menschen mit Demenz ihre Anliegen bislang fast nie selbst direkt in der Öffentlichkeit vertreten hätten. Während die Durchbrüche im Umgang mit dem Thema Behinderung vor allem daher rühren, dass die Betroffenen selbst politisch aktiv geworden sind, mit Erfolg die internationale Bühne für sich reklamieren und schließlich auch an der Erarbeitung der BRK direkt mitwirken konnten, existiert ein vergleichbarer Aktivismus, so ihre Einschätzung, im Kontext von Demenz bislang allenfalls in Ansätzen. Weder seien Betroffene oder ihre Angehörigen bei den internationalen Beratungen zur BRK beteiligt gewesen, noch sei das Thema Demenz innerhalb der Behindertenbewegung eindeutig anerkannt und in die Aktivitäten aufgenommen worden. 24 Öffentliche Forderungen zur Besserstellung von Menschen mit Demenz würden nach wie vor typischerweise von Fachorganisationen – also wenn man so will: stellvertretend für die Betroffenen – vorgebracht.25 Alternativen dazu seien selten und vielleicht auch von vornherein nur in Grenzen möglich: »Self-advocacy is only a relatively new and emerging phenomenon in the dementia space […], and self-advocates living with dementia face particular challenges. For
22 Vgl. CRPD/C/DEU/CO/1, vom 13. Mai 2015. 23 Jedenfalls finden sich dazu bis dato keine Dokumente auf der einschlägigen Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Die UN-Sonderberichterstatter operieren nicht auf der Basis einer bestimmten Konvention, sondern erhalten vom UN-Menschenrechtsrat ein eher politisch zu verstehendes Mandat. Die Sonderberichterstattung über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gehört zu den jüngsten Mandaten des Menschenrechtsrats. Die Berichte sind verfügbar unter [email protected]. 24 Vgl. Cahill (2018), 60. 25 Vgl. ebd., 39.
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example the nature of the condition means that only those with a mild to moderate dementia can advocate for themselves […].«26
Cahills Analyse legt die Vermutung nahe, dass es neben Wahrnehmungsdefiziten auch Berührungsängste seitens der Behindertenbewegung gegenüber dem Thema Demenz geben könnte. In diesem Zusammenhang verweist sie auf Artikel 19 der BRK, der unter der Überschrift steht: »living independently and being included in the community«.27 Sie sieht in diesem wichtigen Postulat eine starke Präferenz für das Ziel einer systematischen »deinstitutionalization« also einer weitgehenden Vermeidung bzw. Überwindung spezialisierter Institutionen, die ja oft auf Separation hinauslaufen. Genau diese kritische Stoßrichtung gegen »Sonderinstitutionen«, die insgesamt viele gute Gründe für sich hat, mag indes ungewollt die Ausblendung des Themas Demenz nach sich ziehen. »An unintended consequence here may be that a small minority of people diagnosed with dementia may be forced to remain at home in the community, when, in fact, they themselves might favour long-term residential care.«28
Ob die Deutung, die Cahill hier vorbringt, im Einzelnen stimmt, mag dahingestellt sein. Jedenfalls scheint mir, dass sie zu Recht einen wunden Punkt anspricht. Er liegt darin, dass der Umgang mit Demenz neue Herausforderungen birgt, die sich nicht einfach in den Gleisen der bisherigen Menschenrechtstrukturen bearbeiten lassen. Dafür braucht es entweder ganz neue menschenrechtliche Instrumente oder zumindest eine systematische interpretatorische Öffnung im Verständnis und in der Umsetzungspraxis der BRK. Cahill empfiehlt eindeutig den letzteren Weg. Sie schätzt das Potenzial der BRK außerordentlich hoch ein und spricht sich dafür aus, dem Themenfeld Demenz in diesem Kontext Raum zu schaffen und die BRK damit zugleich für die menschenrechtlichen Anliegen von Personen mit Demenz zu nutzen. Ohne kritische Reflexionen und weiterreichende in-
26 Cahill (2018), 39f. 27 Ebd., 58. 28 Ebd., 61.
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terpretatorische Bemühungen zu den einschlägigen BRK-Verbürgungen dürfte dies freilich kaum gelingen. Dass der Begriff der Demenz im Text der BRK selbst nicht eigens aufgeführt ist, wäre kein Hindernis für eine systematische Befassung. Die der Konvention zugrundeliegende Definition von Behinderung bleibt ausdrücklich offen für ganz unterschiedliche Phänomene. Behinderung, so heißt es in der Präambel, ist »an evolving concept«,29 also eine historisch offene Problemanzeige im Spannungsfeld von medizinisch beschreibbaren persönlichen Beeinträchtigungen (»impairments«) und verschiedenen gesellschaftlichen Barrieren (»attitudinal and environmental barriers«). Dieses offene Konzept von Behinderung lässt sich durchaus auch auf Demenz übertragen. Übrigens mahnte der Deutsche Ethikrat in einer Studie zu »Demenz und Selbstbestimmung« bereits 2012 eine konsequente Anwendung der BRK für Menschen mit Demenzdiagnose an.30 Im Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur Umsetzung der BRK (Neufassung von 2016) findet das Thema Demenz zumindest eine kurze Erwähnung. So postuliert der Aktionsplan: »Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung sind eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Menschen mit Demenz, die Verbesserung der Lebensqualität Betroffener durch Einbindung ins gesellschaftliche Leben und bedürfnisangepasste Hilfen und Betreuungsangebote wichtige Aufgaben.«31
Was wäre mit einer konsequenten Einbeziehung des Themas Demenz in die Umsetzung der BRK für die betroffenen Menschen gewonnen? Auch Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen könnten von der menschenrechtlichen Blickveränderung profitieren, die die BRK für Menschen mit Behinderungen erwirkt hat. Es geht darum, die medizinischen Problemstellungen nicht länger isoliert zu betrachten, sondern mit einer Kritik an gesellschaftlichen Stigmatisierungen und Barrieren zu verbinden, deren Überwindung damit zur politischen Aufgabe würde. Dies erfordert einen ganzheitlichen
29 Präambel Buchstabe (e) BRK. 30 Vgl. Deutscher Ethikrat (2012), 94–96. 31 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), 103.
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Ansatz. »The optimum model«, schreibt Cahill in diesem Sinne, »is one that takes a whole-person biopsychosocial approach, gives power and control back to the individual and their family members, and allows for recognition of the individual’s rights«.32 Demenz würde so ausdrücklich zu einem gesellschaftspolitischen Thema mit menschenrechtlicher Relevanz. 33 Die gesellschaftspolitischen Aufgaben lassen sich nicht auf die Bereitstellung von mehr Ressourcen für professionelle Pflege reduzieren, so wichtig dies zweifellos ist. Demenz ist nicht nur ein Spezialthema innerhalb der Sozialpolitik und Gesundheitspolitik, sondern betrifft alle Felder der Gesellschaft. Barrierefreiheit und Inklusion, die zentralen Eckpunkte der BRK, müssten auch für Menschen mit Demenz systematisch in Angriff genommen werden. Analog zur sukzessiven (keineswegs schon erreichten!) Öffnung der Gesellschaft und ihrer Subsysteme für Menschen mit Behinderungen, sollen auch Menschen mit Demenz in einer ihnen angemessenen Weise inmitten der Gesellschaft Platz finden. Voraussetzung für eine solche Inklusion wäre, die bestehenden Hindernisse und die daraus resultierenden Aufgaben überhaupt erst einmal im Einzelnen zu entdecken. Auch dazu kann die BRK als Leitfaden dienen. Nehmen wir als Beispiel den Schutz der Privatsphäre.34 Wie lässt sich er für Menschen mit Demenz effektiv gewährleisten? Was heißt überhaupt »Privatsphäre« im Stadium fortgeschrittener Demenz, d.h. in einer Situation, in der Menschen selbst bei elementaren Körperfunktionen von »bettnaher« professioneller Unterstützung abhängig sind?35 Wie können Schamgrenzen angemessen berücksichtigt werden? Welcher Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang kultureller bzw. religiöser Differenz oder geschlechtsbezogener Sensibilität zu? Ein anderes Beispiel ist das Recht auf angemessene Unterkunft.36 An ihm lässt sich exemplarisch verdeutlichen, dass die BRK konkrete Umweltanpassungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen verlangt. Dazu zählt u.a. eine Demenz-freundliche Umwelt, in der Menschen mit entsprechenden Beeinträchtigungen sicher leben, respektiert wer-
32 Cahill (2018), 97. 33 Teilweise ist dies natürlich bereits der Fall. Siehe Schmidhuber et al. (2017). 34 Vgl. Art. 22 BRK. 35 Vgl. dazu die eindrucksvollen Schilderungen bei Gawande (2014). 36 Vgl. Art. 19 BRK.
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den und sich wohlfühlen können. Dieses Postulat beschränkt sich keineswegs auf das Wohnumfeld, erweist sich darin aber offensichtlich als besonders wichtig. Der Schutz vor Diskriminierungen erfährt in der BRK eine besondere Akzentsetzung im Interesse einer Überwindung struktureller Diskriminierungen.37 Diese wirksam auszuräumen, ist ein Menschenrechtsanspruch, der auch für Personen mit Demenz unmittelbar einschlägig ist. Dabei dürfen pflegende Angehörige nicht aus dem Blickfeld geraten. Ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen, die neuerdings unter dem Begriff der »relationalen Diskriminierung«38 – oder »discrimination by association« – firmieren, haben bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden. An diesem Beispiel lässt sich ferner zeigen, dass auch das Recht auf Ehe und Familie im Kontext von Demenz neue, gegenüber bisherigen Debatten teilweise veränderte Bedeutung erfährt.39 So wäre sicherzustellen, dass auch Krankenhäusern und Pflegeheimen Raum für die Aufrechterhaltung familiärer und anderer Beziehungen gegeben sein muss, was über die flexible Gestaltung der Öffnungs- und Besuchszeiten weit hinausgeht. Kritische Fragen ergeben sich aus dem Verbot grausamer und unmenschlicher Behandlung.40 Wie kann man Menschen mit Demenz wirksam vor etwaigen Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen der Pflege oder auch vor häuslicher Gewalt schützen? Was muss geschehen, um problematische Praktiken wie Fixierungen oder medikamentöse Ruhigstellungen zu überwinden bzw. auf die absolut notwendigen Ausnahmesituationen zu begrenzen? Unmittelbar einschlägig ist außerdem das Verbot fremdnütziger Forschung an Nicht-Einwilligungsfähigen;41 auch hier liegt die Relevanz für Menschen mit Demenz offen zu Tage. Ein Bereich, der vielleicht erst auf den zweiten Blick in den Fokus rückt, ist die schulische Bildung. 42
37 Vgl. Art. 5 BRK. 38 Der Begriff der »relationalen Diskriminierung« findet sich z.B. in einem Arbeitspapier des UN-Hochkommissariats über die Rechte älterer Menschen. Vgl. Office of the High Commissioner for Human Rights (2012). 39 Vgl. Art. 23 BRK. 40 Vgl. Art. 15 und 16 BRK. 41 Vgl. Art. 15 Abs. 1 BRK. 42 Das Recht auf inklusive Bildung findet sich in Art. 24 BRK.
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Welche Rolle sollte das Thema Demenz im schulischen Curriculum spielen? Unter welchen Bedingungen können sinnvolle Begegnungen von Schülern und Schülerinnen mit Demenzerkrankten in der Schule stattfinden? Wie können sie dazu führen, Vorurteile und Stigmatisierungen aufzubrechen? Respektlose »Witze« über Menschen mit Demenz sollten gesellschaftliche Ächtung erfahren, was entsprechende Sensibilisierung von Kindheit an verlangt. Auch das Recht auf Meinungsfreiheit – Paradebeispiel eines klassischen Menschenrechts – bleibt relevant, wenngleich sich im Kontext von Demenz seine Akzente wiederum erheblich verschieben.43 Ins Zentrum rücken Bemühungen, die Artikulationsmöglichkeit für Menschen mit Demenz zu verbessern bzw. überhaupt erst zu schaffen. Dem entspricht die Bereitschaft, auf Betroffene zuzugehen und ihnen zuzuhören. Dass dies möglich und zugleich sehr anspruchsvoll ist, berichten aus der Perspektive der Krankenhausseelsorge Puhlheim und Schaumberger: »Statt primär auf explizite Wörter ausgerichtet zu bleiben, werden wir auf Sprachformen aufmerksam, die häufig gar nicht als Sprache beachtet werden: Seufzer, Stöhnen, einzelne, wiederholte Laute, Gemurmel, Schreien Wimmern. Wir lernen, diese Ausdrucksweisen als die der Situation und den Erfahrungen angemessene Sprache zu erkennen und wertzuschätzen […].«44
In manchen Fällen wird es darum gehen müssen, den Willen eines Menschen mithilfe von nahen Angehörigen aus Gesten zu erkennen oder im Blick auf die gesamte Biographie zu erschließen.45 Dafür braucht es vor allem Zeit. Damit stellt sich zugleich die Frage nach angemessenen Ressourcen, zum Beispiel nach der konkreten Ausgestaltung von Pflegestufen und einer fairen Bezahlung professioneller Pflegekräfte, die die von ihnen geleisteten Aufgaben angemessen würdigt. Dieses Thema, das in letzter Zeit mehr öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat und systematisch vor allem
43 Vgl. Art. 21 BRK. 44 Puhlheim/Schaumberger (2011), 144. 45 Vgl. Dichter/Schmidhuber (2016), 114–129.
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in den Kontext des Rechts auf Gesundheit gehört,46 deckt aber, wie bereits erwähnt, keineswegs die gesamte Palette gesellschaftlicher Aufgaben ab. Kurz: Was für die BRK generell zutrifft, nämlich dass sie sämtliche Menschenrechte im Interesse von Menschen mit Behinderungen noch einmal neu aufrollt, müsste spezifisch auch für Menschen mit Demenz gelten. Was das genau bedeutet, müssen wir teils überhaupt erst entdecken. Die entsprechenden Debatten liegen größtenteils noch vor uns.47 Klar sein muss bei alledem, dass die BRK geltendes Recht ist. Die in ihr verbürgten Rechte bilden nicht nur eine unverbindliche normative Matrix zur Strukturierung künftiger gesellschaftlicher Diskussionen; sie sind als rechtsverbindliche Standards auf politische und juristische Durchsetzbarkeit hin angelegt.48 In Deutschland haben sich längst auch die Gerichte mit Ansprüchen aus der BRK befasst. Wenn der nationale Rechtsweg nicht zum Erfolg führt, bleibt theoretisch der Weg zur Beschwerde an den BRK-Ausschuss der Vereinten Nationen,49 der allerdings viel Zeit in Anspruch nimmt und deshalb für die meisten Betroffenen (vor allem für Menschen mit Demenz) wenig attraktiv sein dürfte. Unmittelbar nutzen lassen sich hingegen die regelmäßigen Monitoring-Verfahren, zu denen sich die Staaten mit Ratifikation der BRK verpflichten.50 Sie sehen vor, dass zunächst der Staat selbst eine umfassende Evaluierung der Situation anhand der BRK durchführt, die dann als vorläufige Grundlage für einen kritischen Dialog mit dem BRK-Ausschuss dient. Zivilgesellschaftliche Organisationen kön-
46 Vgl. Art. 25 BRK. 47 Die hier kurz im Blick auf Menschen mit Demenz angesprochenen Menschenrechte stehen nur exemplarisch für das Gesamtfeld menschenrechtlicher Normen, das damit keineswegs erschöpfend dargestellt ist. 48 Grundsätzlich zur gerichtlichen Einklagbarkeit der Konventionsrechte vgl. Degener (2016), 23. 49 Voraussetzung dafür ist die Ratifizierung des Zusatzprotokolls (optional protocol) zur BRK. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit der Ratifikation der BRK zugleich auch dieses Zusatzprotokoll ratifiziert und damit den Weg für Individualbeschwerden freigegeben. 50 Vgl. Art. 34 BRK.
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nen in dieses offene Verfahren aktiv einbringen.51 In der Tat haben die Organisationen der Behinderten in Deutschland und anderswo längst gelernt, dieses Verfahren strategisch für ihre Anliegen einzusetzen.52 Dies sollte in Zukunft auch für das Thema Demenz möglich sein. Außerdem verlangt die BRK ein Monitoring auf nationaler Ebene durch eine unabhängige Instanz.53 Schon länger wird in den Vereinten Nationen darüber beraten, ob es eine eigene Konvention für die Rechte älterer Menschen geben soll.54 Seit 2010 beschäftigt sich eine »Open-Ended Working Group on Ageing« mit diesem Projekt – bislang ohne echten Durchbruch.55 Für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen könnte eine solche Konvention neue Chancen eröffnen. Denn auch wenn Demenz und hohes Alter nicht schlicht wechselseitig aufeinander reduziert werden können, korrelieren beide Faktoren jedenfalls stark miteinander. Die vergleichsweise wenigen Stellungnahmen, die es aus dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zum Thema Demenz bislang gegeben hat, stammen denn auch bezeichnender-
51 Dies geschieht vor allem in Gestalt von Alternativberichten, die die periodisch fällige staatliche Selbstevaluation Punkt für Punkt kritisch kommentieren. Erfahrungsgemäß nehmen die UN-Ausschüsse, die für das Monitoring der Menschenrechtskonventionen zuständig sind, solche Alternativberichte ernst und nutzen sie für ihre eigenen Bewertungen. Die von der Zivilgesellschaft angesprochenen kritischen Punkte können so direkt oder indirekt in die Empfehlungen des BRK-Ausschusses mit eingehen und damit das Siegel der Vereinten Nationen erhalten. 52 Die BRK sieht dies genauso vor. Gemäß dem Leitspruch der Bewegung: »nothing about us without us« sollen die Organisationen Betroffener eine aktive Rolle bei der Umsetzung der Konvention übernehmen. Vgl. Art. 33 Abs. 3 BRK. 53 Vgl. Art. 33 Abs. 2 BRK. In Deutschland ist die unabhängige Monitoringstelle im Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) in Berlin verankert (Leitung: Valentin Aichele). Vgl. dazu auch die Website des DIMR mit zahlreichen Informationen und Beiträgen: www.institut-fuer-menschenrechte.de. 54 Vgl. Mahler (2013). 55 Vgl. Eilionóir (2018), 171–173. Dieses Kapitel ist ein Gastbeitrag in dem ansonsten als Monographie gefassten Band von Cahill.
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weise vor allem aus der Feder der Unabhängigen Sachverständigen über die Rechte älterer Menschen,56 deren Mandat erst im Jahre 2013 geschaffen wurde.57 Eine eigene Konvention über die Rechte älterer Menschen würde im Wesentlichen keine völlig neuen Rechte kreieren, sondern – ähnlich wie die BRK – das Panorama der bereits anerkannten Menschenrechte aus der Perspektive der Betroffenen konkretisieren, spezifizieren und ggf. auch modifizieren. Genau darin besteht die Chance einer solchen Konvention. Nicht zuletzt könnte sie klarstellen, dass die Menschenwürde nicht nur für alle Menschen gleich ist, sondern auch in allen Lebensphasen des Menschen gleichermaßen zu respektieren bleibt. Die Würde ist nicht eine Eigenschaft, die mit der Entfaltung der physischen und geistigen Kräfte des Menschen anwächst, irgendwann ihren Höhepunkt erreicht, um dann allmählich wieder abzuflauen und am Ende womöglich ganz zu verblassen. Sie ist mit dem Menschsein des Menschen untrennbar verwoben und in allen biographischen Phasen gleichermaßen präsent. Der Verlust elementarer physischer oder mentaler Fähigkeiten darf daher nicht als Einbuße an Würde missverstanden werden. Schon diese wichtige Klarstellung wäre die Mühen der Erarbeitung einer neuen Konvention für die Rechte älterer Menschen wert.
3. RELATIONALE AUTONOMIE Ein wichtiges Prinzip der BRK ist bislang noch gar nicht zur Sprache gekommen: das Prinzip der Autonomie. Es stellt die vielleicht größte Überraschung der Konvention dar. Nachdem bereits die Präambel die Autonomie des Individuums herausstellt,58 verlangt Artikel 3(a) »respect for the inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make one’s own
56 Der Struktur nach handelt es sich bei dieser Position, trotz der etwas anderen Terminologie, um eine Sonderberichterstatterin des UN-Menschenrechtsrats. Die offizielle Bezeichnung lautet: »Independent Expert on the enjoyment of all human rights by older persons«. 57 Vgl. Office of the High Commissioner for Human Rights (2015). 58 Vgl. Präambel BRK.
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choices, and independence of persons«. Der Begriff der Autonomie nimmt in der neuzeitlichen Ethik, vor allem in der von Immanuel Kant geprägten Ethik, seit jeher einen zentralen Platz ein; er kommt in den Dokumenten des internationalen Menschenrechtsschutzes traditionell aber gar nicht vor. Zwar sind die Menschenrechte wesentlich durch ihre freiheitliche Orientierung definiert.59 Die Zuspitzung dieser freiheitlichen Zielrichtung durch den Begriff der Autonomie ist jedoch ein Novum. Dass dies nun ausgerechnet in einer Konvention geschieht, die die Belange von Menschen mit Behinderungen, darunter auch geistigen Beeinträchtigungen, ins Zentrum stellt, ist bemerkenswert. Dies hat systematische Implikationen. Die BRK sprengt auf diese Weise die klischeehafte Entgegensetzung zwischen Autonomie und Fürsorge auf, die bis heute etliche Debatten in Ethik und Recht prägt. Nach wie vor erlebt man in einschlägigen Diskussionen, dass die Begriffe Autonomie und Fürsorge als Gegensatzpaar verwendet werden. Sie entwickeln sich dann scheinbar nicht miteinander, sondern geradezu gegenläufig – so jedenfalls eine verbreitete Wahrnehmung. Infolgedessen mag sich der Eindruck verfestigen, Autonomie sei ein Privileg der Starken, Gesunden und Selbständigen, die ihr Leben »voll im Griff« haben. Wer hingegen – etwa infolge von Demenz – auf Fürsorge durch andere angewiesen sei, so die naheliegende Konsequenz, müsse dafür mit einem Verlust an Autonomie bezahlen. Der Empfänger oder die Empfängerin der Fürsorge profitiert, so scheint es, entweder dankbar oder leidend, aber in jedem Falle passiv, von den Aktivitäten anderer Menschen.60 Vor allem die »Care-Ethik« definiert sich teils ausdrücklich durch den systematischen Gegensatz zur Autonomie Kantischer Prägung. Während die Autonomie, so eine verbreitete Unterstellung, ein starkes, »souveränes« Individuum voraussetze, nehme die Care-Ethik ihren Ausgangspunkt bei der Verletzlichkeit des Menschen, wodurch Abhängigkeiten von anderen Menschen gegeben seien. Im Unterschied zur Ethik der Autonomie, die auf das isolierte Individuum schaue, fokussiere die Care-Ethik auf zwischenmenschliche Beziehungen, darunter auch Beziehungen asymmetrischer
59 Das zeigt sich nicht zuletzt im Titel vieler Rechte: Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. 60 Vgl. auch die zahlreichen Beispiele aus der Praxis bei Gawande (2014).
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Struktur wie zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen. Exemplarisch zitiert sei der Care-Ethiker Frans Vosman. »Innerhalb der Care-Ethik«, so schreibt er, »fungiert die Verletzbarkeit nahezu als Gegenstück der Autonomie: Es wird betont, dass alle Menschen […] verletzbar sind, und dass die Politik nicht nur auf die Autonomie der Individuen achten, sondern die Realität der Verletzbarkeit anerkennen sollte, denn sie ist nicht zu beseitigen.«61
Die Sorge für Menschen mit Behinderungen – darunter auch Menschen mit Demenz – ist ein paradigmatischer Anwendungsfall für die Care-Ethik, die mit ihren Prinzipien der Achtsamkeit, Hinwendung und Beziehungspflege wichtige Beiträge zum angemessenen Umgang mit menschlicher Verletzlichkeit leistet. Aus dieser Perspektive müsste die BRK freilich geradezu provokant wirken, weil ausgerechnet sie den in der Care-Ethik mit Skepsis betrachteten Begriff der Autonomie positiv aufgreift und sogar zu einem der leitenden Prinzipien der Konvention erhebt. Dieses unverkennbare Insistieren der BRK auf Autonomie ist aber kein Zufall; es erklärt sich aus Erfahrungen vielfacher Bevormundung, die Menschen mit Behinderungen machen mussten. Dagegen fordert die Konvention Respekt vor der persönlichen Autonomie des Menschen und verknüpft sie mit dem Anspruch auf Unterstützung und darüber hinaus mit dem Anspruch auf Inklusion. Diese Zielrichtungen nicht nur gleichermaßen wichtig; sie können, dies ist die Pointe, nur gemeinsam verfolgt werden. Statt in latentem Gegensatz zueinander zu stehen, setzen sie einander wechselseitig voraus und fördern einander. Mit dieser systematischen Verklammerung macht die Konvention deutlich, dass Autonomie stets in gesellschaftlichen Beziehungen erfahren wird, die dann aber ihrerseits so gestaltet sein sollen, dass sie der freien Selbstbestimmung der Betroffenen – nach Maßgabe des jeweils Möglichen – maximalen Raum geben sollen. Damit dies gelingen kann, sind vor allem auch Unterstützungsleistungen im Nahfeld der Betroffenen erforderlich.62 Wenn es beispielsweise um wichtige Entscheidungen – persönliche Lebensent-
61 Vosman (2016), 49. 62 Vgl. Graumann (2011).
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scheidungen, aber auch um politische Mitwirkung – geht, sollen Menschen mit Behinderungen nicht entmündigt oder bevormundet werden, sondern stattdessen angemessene Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung erfahren. In der Sprache der Konvention: Es besteht der klare Vorrang eines »supported decision making« gegenüber den traditionell üblichen Formen eines »substituted decision making« – mit dem Ziel maximaler Förderung der Autonomie.63 Dies sollte selbstverständlich auch für Menschen mit Demenz gelten. Die BRK trägt durch die konsequente Verschränkung mit Inklusion und Unterstützung dazu bei, den Begriff der Autonomie in seiner humanen Bedeutung überhaupt erst wiederzugewinnen. Der Zuspruch der Autonomie ist in manchen neoliberalen Debattenkontexten nämlich zur Zumutung verkommen, auch in schwierigen Lebenslagen doch bitte möglichst allein klarzukommen. Im Namen einer neoliberal verkürzten, ja teilweise sogar pervertierten Autonomie wird das Individuum gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen. Die Autonomie verrutscht auf diese Weise womöglich zu einem Platzhalter für die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Die Skepsis gegenüber dem Autonomiebegriff, wie sie in Abhandlungen zur Care-Ethik immer wieder zu Tage tritt, ist mit Blick auf einen faktisch gängigen Sprachgebrauch also durchaus nachvollziehbar. Umso wichtiger ist es freilich, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, besser gesagt: den Autonomiebegriff in der berechtigten Kritik an neoliberalen Entsolidarisierungsideologien nicht als solchen zu verwerfen. Statt den Begriff Autonomie preiszugeben, kommt es darauf an, ihn als humane Kategorie neu zu entdecken und stark zu machen. Autonomie ist eigentlich immer relationale Autonomie. Nur so kann sie als sinnhaft erfahren werden. Letztlich bedarf jeder Mensch soziale Unterstützung, um selbstbestimmt leben zu können. Besonders deutlich wird dies in Situationen erhöhter Vulnerabilität, etwa bei Behinderung, im Falle schwerer Erkrankung, in hohem Alter oder eben im Falle von Demenz.
63 Dies hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Personen mit Behinderungen in seinen Concluding Observations zum ersten Deutschen Staatenbericht im April 2015 noch einmal eingeschärft. Vgl. CRPD/C/DEU/CO/1, vom 17. April 2015, Abschnitt 26.
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Gerade auch im Umgang mit Demenzerkrankten wäre es mithin angezeigt, den oft unterstellten Gegensatz von Care-Ethik und Ethik der Autonomie zu überwinden. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Gegensatz denn auch als recht vordergründig.64 Eine Care-Ethik ohne Respekt vor der Autonomie des Menschen wäre nicht geschützt davor, in gut gemeinte Bevormundung abzugleiten. Ein sensibles Sich-Einlassen auf den Anderen verlangt die »Perspektive der ersten Person«, die es zu stärken gilt, wie Claire Marin es formuliert: »Dem Kranken zu ermöglichen, sich in der ersten Person auszudrücken, heißt einfach, ihm das Wort dort zu erteilen oder zu überlassen, wo die medizinische Struktur dazu neigt, es in Beschlag zu nehmen.«65 Diese Betonung der »ersten Person« weist eine unverkennbare Nähe zur Ethik der Autonomie auf. Die BRK hat den altehrwürdigen Autonomiebegriff von dem kalten, »metallenen« Klang, den er als Schlagwort in jüngeren Debattenkontexten angenommen hat, befreit und einmal mehr deutlich gemacht, dass es sich, recht verstanden, um einen humanen Beziehungsbegriff handelt. Autonomie ergibt in der Ethik und im Kontext der Menschenrechte Sinn nur als relationale Autonomie. Die Autonomie, die es dabei gerade auch in Situationen erhöhter Vulnerabilität zu unterstützen gilt, ist stets zugleich – in wie auch immer gebrochener, in manchen Fällen vielleicht nur rudimentärer
64 Im Hintergrund steht ein für die Entwicklung der Care-Ethik höchst bedeutsamer Konflikt zwischen Laurence Kohlberg und seiner ehemaligen Mitarbeiterin Carol Gilligan. Diese wirft Kohlberg vor, sich bei seiner Analyse der Entwicklung individueller moralischer Urteilsfähigkeit einseitig an männlichen Probanden zu orientieren und die, wie sie meint, für Frauen bzw. Mädchen charakteristische Fokussierung auf konkrete Beziehungen zu vernachlässigen. Gilligan – und mit ihr viele Vertreterinnen und Vertreter der Care-Ethik – sehen in Kohlberg zugleich einen Repräsentanten einer von Kant inspirierten Ethik des Universalismus und der Autonomie. Genau diese Unterstellung ist indes höchst problematisch. Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung unterscheidet sich mit ihrem kognitivistisch-elitären Grundzug fundamental von der praktischen Philosophie Kants, die ihrerseits die egalitäre und gegen kognitivistische Verengungen gerichteten Impuls Rousseaus aufnimmt und produktiv weiterführt. Vgl. auch Bielefeldt (2003), 14–39. 65 Marin (2016), 151.
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Form – vorauszusetzen. Man kann Autonomie nicht von außen »schaffen«, sondern nur in Wahrnehmung der stets kontingenten Möglichkeiten eines Menschen sensibel fördern.66 Dieser Anspruch muss sich auch mit Blick auf Menschen mit Demenz bewähren. Sie sind nicht lediglich Objekte von Pflege und Versorgung, sondern bleiben Subjekte mit Anspruch auf Respekt. Insofern gilt auch für sie die gesellschaftliche Forderung, ihre Autonomie zu achten.
4. SCHLUSSBEMERKUNGEN Schon aufgrund der demographischen Entwicklung stellt das Thema Demenz eine wachsende Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Dabei geht es keineswegs allein um die Bereitstellung ausreichender Ressourcen für eine angemessene Pflege. Am Umgang mit Demenzerkrankten und ihren Angehörigen wird sich die Humanität der Gesellschaft im Ganzen bewähren müssen. Die Menschenrechte stellen dafür rechtsverbindliche normative Orientierungen bereit. Besondere Bedeutung kommt der BRK zu, deren konkrete Gewährleistungen und tragenden Prinzipien – Barrierefreiheit, Inklusion und relationale Autonomie – auf die Bedarfslagen von Menschen mit Demenz hin noch näher durchgearbeitet und dabei konzeptionell weiter geöffnet werden müssen; dies ist bislang erst in Ansätzen geschehen. Auch eine künftige Konvention für die Rechte älterer Menschen, falls sie denn zustande kommt, könnte dazu beitragen, die Rechtsstellung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu verbessern. Die weitgehend noch ausstehende menschenrechtliche Befassung mit dem Thema Demenz wird auch auf das Menschenrechtsverständnis Auswirkungen haben. Man konnte bereits bei den Diskussionen um die BRK erleben, dass die Anwendung menschenrechtlicher Normen und Prinzipien auf ein neues Themenfeld nicht ohne erhebliche Rückwirkungen auf die Philosophie und Praxis der Menschenrechte blieb. Es entstanden neue menschenrechtliche Begriffe, Metaphern und vor allem Sensibilitäten. Eine menschenrechtliche Beschäftigung mit den Bedürfnissen, Nöten, Wünschen, aber auch kreativen Problembearbeitungen von Menschen mit De-
66 Vgl. Beckmann (2017).
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menz und ihren Angehörigen dürfte nicht zuletzt dazu beitragen, einen Grundzug der Menschenrechte neu zu beleuchten, der in der Regel viel zu wenig Aufmerksamkeit findet, nämlich dass die Menschenrechte insgesamt darauf abzielen, die Qualität menschlicher Beziehungen zu verbessern, gerade auch in Situationen erhöhter Vulnerabilität.67 Indem sie die Würde, Freiheit und Gleichheit aller »Mitglieder der menschlichen Familie« ins Zentrum stellen, tragen sie dazu bei, Mauern der Angst, Scham, Isolierung und Vereinsamung zu überwinden, die in vulnerablen Situationen das Leben ansonsten fürchterlich eng werden lassen.
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67 Vgl. Bielefeldt (1998), 150–174.
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Zwischen allen Stühlen – oder besonders berechtigt? Demenz und das Recht auf Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention1 K ATJA S TOPPENBRINK
»Disability is now seen not just as a health condition, but as a matter of equal opportunities and inclusion. But when it comes to dementia, we are still thinking in terms of disease and tragedy and passivity.«2 »People with dementia have the right to live in the community and to have access to health, social and other support services that enable them to lead full and meaningful lives within society. Societies should enable them to take part in activities, have equitable access to facilities and be involved in communal life.«3
1
Die Verfasserin dankt für die Einladung, die diesem Beitrag zugrundeliegenden Überlegungen im Rahmen eines Workshops auf der Tagung »Menschenrechte für Personen mit Demenz« am 10. und 11. November 2017 in Nürnberg vortragen und den vorliegenden Text nunmehr zu diesem Band beisteuern zu dürfen. Der Dank erstreckt sich auf die hilfreichen Anmerkungen und Anregungen der Diskussionsteilnehmer und -teilnehmerinnen sowie namentlich des Workshopleiters, Professor Heiner Bielefeldt (FAU Erlangen-Nürnberg). Die verbleibenden Defizite, Probleme oder Unklarheiten dieses Beitrags sind allein der Verfasserin zuzurechnen.
2
Shakespeare (o.D.).
3
WHO/Alzheimer’s Disease International (2012), 47.
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1. »D EMENZ «
ALS
B EHINDERUNG
Demenzielle Erkrankungen4 sind weltweit auf dem Vormarsch. Dem WeltAlzheimer-Bericht der Organisation Alzheimer Disease International zufolge erkrankt weltweit alle 3,2 Sekunden ein Mensch an Demenz. Leben in der Gegenwart rund 46,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung, so wird nach diesem Bericht für das Jahr 2030 mit einer Zahl von über 74 Millionen gerechnet, für das Jahr 2050 sogar mit über 131 Millionen.5 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ging 2012 von ähnlichen
4
Das Klassifikationssystem des ICD-10, vgl. WHO (2016), enthält in seinem fünften Kapitel »Geistige und Verhaltensstörungen« (mental and behavioural disorders). Darunter fallen auch verschiedene Formen von Demenz, wie Alzheimer (Klassifikationsschlüssel F00*), vaskuläre Demenz (F01) und weitere Formen etwa als Begleiterscheinung anderenorts klassifizierter Krankheiten (F02*). Einleitend wird der Syndromcharakter von Demenz unterstrichen: »Dementia (F00-F03) is a syndrome due to disease of the brain, usually of a chronic or progressive nature, in which there is disturbance of multiple higher cortical functions, including memory, thinking, orientation, comprehension, calculation, learning capacity, language, and judgement. Consciousness is not clouded. The impairments of cognitive function are commonly accompanied, and occasionally preceded, by deterioration in emotional control, social behaviour, or motivation. This syndrome occurs in Alzheimer disease, in cerebrovascular disease, and in other conditions primarily or secondarily affecting the brain.« Siehe ebd. Während das aktuelle amerikanische psychiatrische Klassifikationssystem DSMV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) den Ausdruck »Demenz« gar nicht mehr verwendet, sondern unterschiedliche »neurokognitive Störungen« auflistet, dürfte sich im allgemeinen und medizinischen Sprachgebrauch weltweit der Ausdruck »Demenz« so sehr als umfassender Oberbegriff (umbrella term) verfestigt haben, dass ein Wandel der Alltagssprache im Sinne einer Annahme der differenzierteren und deskriptiv präziseren Klassifikation des DSM-Systems nicht zu erwarten ist. Bleiben wir daher bei der saloppen Redeweise »Demenz«.
5
ADI (2015), 1 (Infographik) und 10–29.
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Zahlen aus.6 Für Deutschland geht das Bundesgesundheitsministerium 7 aktuell von 1,5 bzw. bis zu 1,7 Millionen Menschen mit Demenz aus, für das Jahr 2050 möglicherweise von bis zu 3 Millionen Betroffenen. Demenzerkrankungen stellen angesichts dieser großen aktuellen und noch zu erwartenden Zahlen Betroffener eine große Belastung für die sozialen Sicherungssysteme dar. Eine kurative Lösung ist derzeit nicht in Sicht; eine Prävention bzw. zumindest Verzögerung des Krankheitseintritts erscheint zwar möglich, steht aber zu wenig im Fokus der aktuell öffentlich propagierten und solidarisch geförderten Gesundheitsvorsorgestrategien und ist zudem medizinisch-wissenschaftlich nicht unumstritten. Während es in der öffentlichen Wahrnehmung von Demenz über die letzten Jahrzehnte schon einen großen Fortschritt bedeutete, dass Demenz nicht mehr als bloßes Altersphänomen, als eine nicht zu vermeidende altersbedingte kognitive Einbuße, die zu einem normalen Alterungsprozess »nun einmal dazugehört«, wahrgenommen wurde, sondern als ein eigenes, zwar oft mit dem Alter auftretendes, aber doch kausal unabhängiges Krankheitsbild bzw. als ein ganzes Bündel (»Syndrom«8) unterschiedlicher neurodegenerativer Störungen, die sich beschreibend unter das Stichwort »demenziell« zusammenfassen lassen können, so stellt sich in der Gegenwart eine neue Herausforderung: Nun kommt es darauf an, den öffentlichen Diskurs über Demenz von der einseitigen Ausrichtung auf die Wahrnehmung als »Krankheit« dahingehend zu beeinflussen, dass Demenz nicht mehr nur als medizinisches Problem und Kostenfaktor, sondern auch als gesellschaftliches und soziales Phänomen begriffen wird.9 6
Vgl. WHO/ADI (2012), 4: Für das Jahr 2010 wird die Zahl von 35,6 Millionen Betroffenen genannt; jährlich 7,7 Millionen Neuerkrankungen weltweit ergeben einen neuen Fall etwa alle vier Sekunden.
7
Die hier vom Bundesministerium für Gesundheit (2017) auf der Webseite genannten Zahlen beruhen auf einem Projektbericht vom 31.03.2016. Siehe dazu Bundesgesundheitsministerium (2016); Vgl. aktuell auch die Statistik der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (2018).
8
Siehe die ICD-10-Beschreibung unter Fußnote 3.
9
Dieser Paradigmenwechsel lässt sich auch in der thematischen Ausrichtung der Weltalzheimer-Berichte nachvollziehen: Diese seit 2009 regelmäßig von der Weltalzheimer-Gesellschaft (ADI) veröffentlichten Berichte beschäftigen sich zunächst mit der weltweilten Prävalenz, 2010 mit den ökonomischen Auswir-
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Klarstellend sei sogleich hinzugefügt: Unter »sozial« soll hier, um Konfusion zu vermeiden, das Individuum in seinen sozialen Relationen und Rollen verstanden werden; im Unterschied dazu verstehe ich »Gesellschaft« als eine sozialontologisch als Gruppe bestimmter Individuen fassbare Mehrzahl von Akteuren (zum Beispiel alle Einwohnerinnen und Einwohner oder Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die als Gesamtheit die »deutsche Zivilgesellschaft« ausmachen). Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass eine Abkehr von einem primär medizinischen Verständnis von Demenz nicht pauschal eine Hinwendung zu einem wie auch immer beschaffenen »sozialen Modell« bedeuten darf. Dies wäre nicht aussagekräftig und differenziert genug, denn die erforderlichen Unterscheidungen beginnen bereits bei der Differenz von Makro- und Mikroebene, die ich hier mit der begrifflichen Scheidung von »gesellschaftlich« und »sozial« zu erfassen versuche. Als mögliche »Mesoebene« treten zwischen beide Ebenen noch die staatlichen (und sonstigen) Akteure, deren Aufgabe darin besteht, im Auftrage der Gesamtheit (Makroebene) die Versorgung und Betreuung der von Demenz betroffenen Individuen (Mikroebene), wenn nicht zu gewährleisten, so doch zumindest zu unterstützen. Dass die öffentliche Wahrnehmung von »Demenz« eine wichtige Rolle für den Umgang mit Demenz spielt und es entsprechend auch auf die Art und Weise ankommt, wie – von Professionellen und anderen – darüber gesprochen wird, steht außer Frage.10 Nach dem auch in der öffentlichen Wahrnehmung11 vollzokungen, 2011 mit dem Problem möglichst früher Diagnosestellung; 2012 schließlich mit dem Problem der Stigmatisierung (dazu vertiefend sogleich unter Gliederungspunkt 1). Aktuell liegt der Fokus auf der Umorientierung der Arbeitsteilung zwischen medizinischen Spezialisten wie Neurologen und Psychiatern hin zu möglichst weitgehender Versorgung durch Allgemeinmediziner und besonders ausgebildete Pflegekräfte. Siehe dazu ADI (2016), zusammenfassend etwa 125f. 10 Vgl. aktuell etwa Gerritsen et al. (2018) in ihrem Beitrag über »[E]thical implications of the perception and portrayal of dementia«. 11 Noch immer gibt es im öffentlichen Diskurs einzelne »Renegaten«, die den Krankheitscharakter von Demenz leugnen, so etwa Gronemeyer (2013) und die US-Sozialpädagogin Naomi Feil, siehe Bollwahn (2017). Mir kommt es vorliegend nicht darauf an, gegen diese (minoritären) Auffassungen zu argumentieren. Im Ergebnis (wenngleich nicht im Grundsatz!) liegen die hier vertretenen The-
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genen Paradigmenwechsel von der »normalen Begleiterscheinung des Alterns« zu einer distinkten medizinischen Indikation geht es nun um einen weiteren Paradigmenwechsel: die Einnahme einer »menschenrechtsbasierten« Perspektive auf Demenz (engl. human rights based approach oder kurz »HRBA«12). Meine zentrale These in diesem Beitrag lautet, dass es für eine menschenrechtliche Perspektive auf Menschen mit Demenz angebracht und von Vorteil ist, wenn diese auch unter den Anwendungsbereich des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD; in deutscher Sprache auch eher salopp »UN-Behindertenrechtskonvention« oder kurz »UN-BRK«13) fallen. Diese These hat als normative Vorannahme sowohl in rechtlicher als auch in moralischer Hinsicht, dass eine Menschenrechtsperspektive auf Menschen mit Demenz eingenommen werden sollte, um deren Interessen und Bedürfnisse adäquat zu erfassen bzw. diesen in angemessener Weise gerecht werden zu können. Diese Vorannahme verhält sich nach meinem Dafürhalten neutral zu unterschiedlichen Positionierungen zu den Grundlagen und zum Verhältnis rechtlicher und moralischer Menschenrechte – allerdings nicht zu umfassenden skeptischen Hypothesen. Ich werde an dieser Stelle aber nicht für ein bestimmtes Menschenrechtsverständnis argumentieren, sondern als gesetzt annehmen, dass es sowohl rechtliche als auch moralische Menschenrechte gibt, dass diese gut begründet werden und Gelsen und die Anliegen der Krankheitsleugner gar nicht weit auseinander: Es geht unter anderem darum, Demenz auch als soziales Phänomen wahrzunehmen, gesellschaftliche Partizipation, Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Demenz zu ermöglichen und zu fördern, die Lebensqualität zu verbessern. Den Hinweisen von Feil zum Umgang mit Menschen mit Demenz ist nicht zu widersprechen: »Man muss kreativ sein im Umgang mit ihnen und vor allem Empathie, Energie, Aufmerksamkeit und Liebe mitbringen. Nonverbale Kommunikation ist sehr wichtig, Gruppen sind meist gut. Vielen gefällt Tanzen und Singen. Aber es muss Musik sein, die die Menschen kennen.« Siehe Bollwahn (2017). Vgl. auch die Auseinandersetzung mit Gronemeyer bei Schmidhuber (2016), 205–208 zur Alzheimer-Demenz. 12 Vgl. etwa Shakespeare et al. (2017), 5. 13 Convention on the Rights of Persons with Disabilities, A/RES/61/106, 24.01.2007. In Deutschland am 24.02.2009 in Kraft getreten; BGBl (2008) II 1419–1452 vom 31.12.2008.
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tung beanspruchen können. (Je nach positivrechtlichem konkretem Menschenrecht allerdings keine universale Geltung: Die Europäische Menschenrechtskonvention etwa kann in Südamerika als solche keine Geltung beanspruchen – was nicht ausschließt, dass die Menschenrechte, die sie enthält, auf anderer Rechtsgrundlage und in moralischer Hinsicht doch auch in Südamerika gelten.) Damit ergibt sich erstens eine konkrete, positivrechtliche Menschenrechtsperspektive auf das Phänomen der Demenz – nämlich die Anwendbarkeit der UN-BRK. Zweitens impliziert meine Hauptthese die Annahme, dass »Demenz« bzw. das »Spektrum demenzieller Erkrankungen« oder »demenzieller Phänomene« unter den Begriff der Behinderung nach der UN-BRK fallen muss bzw. fällt. Beide Implikationen meiner Hauptthese sind im öffentlichen Diskurs hierzulande zwar schon seit geraumer Zeit präsent – ich kann alles andere als Originalität für sie beanspruchen – doch fristen sie noch ein Schattendasein. Kaum jemand, der sich nicht bereits intensiv damit befasst hat, wird spontan zustimmen, Demenz sei eine Behinderung. Manche mögen das gar für kontraintuitiv oder für einen Kategorienfehler halten. Demenz (auch hier wieder: das Spektrum demenzieller Erkrankungen) wird vor allem als eine medizinische Indikation, eine Krankheit wahrgenommen, der gegenüber man sich angesichts ihrer (zumindest in der Gegenwart) mangelnden Heilungschancen eine mehr oder minder stoische Haltung zulegen sollte, die man als auswegloses Leid, als »gleichsam natürlichen Bestandteil« des eigenen Alterungsprozesses hinnehmen und ertragen muss, die den langsamen, aber unaufhaltsamen Abschied aus der menschlichen Gemeinschaft beinhaltet. Ich behaupte nicht, dies seien wahrheitsgemäße Repräsentationen der naturwissenschaftlich-medizinischen Auffassungen von Demenz. Ich behaupte lediglich, dass diese Positionen lebensweltlich sehr verbreitet, gar tief verwurzelt sind, und dass sie anderen Sichtweisen auf Demenz im Wege stehen. Vorliegend will ich daher vor allem für einen Perspektivwechsel plädieren – und zwar einen Perspektivwechsel in zweifacher Hinsicht: erstens für die Einnahme einer Menschenrechtsperspektive auf Demenz (das ist das allgemeine Anliegen) und zweitens für die Anwendbarkeit der UN-BRK auf Menschen mit Demenz (das ist die konkrete Ausgestaltung der Menschenrechtsperspektive). Bei der Begriffsbestimmung von »Behinderung«, etwa auch bei den verschiedenen »Modellen« von Behinderung, die in der Literatur einander gegenübergestellt werden (am bekanntesten dürften das althergebrachte
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»medizinische Modell« und seine Varianten, das »soziale Modell« in unterschiedlichen Fassungen, das Wohlbefindensmodell, das Wohlergehensmodell, das Minderheitengruppenmodell (minority group model), das »menschliche Varianz«-Modell (human variation model) und jüngst das »Menschenrechtsmodell« sein14), können im Wesentlichen drei Perspektiven unterschieden werden, die für die Beurteilung der Begriffe und Modelle und von deren Leistungsfähigkeit von Relevanz sind. Dies sind zunächst diejenige nach dem Begriffsumfang, der Extension, die sich aus der jeweiligen intensionalen Bestimmung ergibt; weiterhin die Frage nach den sozialpolitischen oder sozialrechtlichen Implikationen dieser oder jener Bestimmung und schließlich die Sichtweise der betroffenen Individuen. In Frage steht, ob der jeweilige Behinderungsbegriff der lebensweltlichen Realität und Alltagserfahrung der Betroffenen entspricht. Tom Shakespeare, der bekannte britische Soziologe und Behinderungsforscher (Vertreter der disability studies), plädiert aus allen drei Perspektiven für eine Einbeziehung von Demenz in den Behinderungsbegriff.15 Das bietet seines Erachtens einige Vorteile (1), die von den Nachteilen (2) nicht aufzuwiegen sind. 1.1 Vorteile Nicht nur Shakespeare und seine Koautoren Zeilig und Mittler (2017) sehen als Vorteile die Einnahme einer menschenrechtlichen Perspektive auf Menschen mit Demenz, die sich angesichts der geltenden internationalrechtlichen Grundlagen aus der Einordnung als »Menschen mit Behinderung« ergibt (1.1.1). Innerstaatlich erfordert und eröffnet die menschenrechtliche Dimension neue sozialrechtliche Möglichkeiten, d.h. konkrete rechtliche Ansprüche für ein selbstbestimmtes, gutes Leben (1.1.2). In der lebensweltlichen Praxis sollte dies dem normativen Anliegen nach zu (mehr) Selbstbestimmung und Selbständigkeit der von Demenz Betroffenen führen (1.1.3).
14 Einen guten einführenden Überblick verschaffen zum Beispiel Wasserman et al. (2016). 15 Vgl. Shakespeare et al. (2017) sowie Shakespeares (o.D.).
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1.1.1 Menschenrechtliche Dimension: Subsumtion unter die UN-BRK Begriffliche Implikationen: Verstehen wir »Demenz« nicht primär als »Krankheit«, sondern als eine chronische Funktionseinschränkung, die sich zwar nicht mehr beheben lässt, mit der es aber zu leben gilt, so kann sich die Perspektive auf Betroffene von der Betonung medizinisch-therapeutischer Ansätze hin zur ganzheitlichen Versorgung verschieben: Es geht dann weniger um Versuche zur »Behandlung« denn um die Eröffnung von Möglichkeiten für die Betroffenen, trotz oder mit Demenz ein »gutes Leben« führen zu können. In der Benennung spiegelt sich dies zum Beispiel darin wider, dass statt der in medizinischen Kontexten üblichen Redeweise »Demenzerkrankung« und »demenziell Erkrankte« nunmehr – etwa im WHO-Bericht – von »people living with dementia (PLWD)« die Rede ist. In Analogie zum Sprachgebrauch der UN-BRK »Menschen mit Behinderungen« wird hier von »Menschen mit Demenz« gesprochen. Nach dem sozialen Modell der Behinderung wird zwischen »impairment«, der physischen Beeinträchtigung im Vergleich zur speziestypischen Funktionsweise, und »disability« unterschieden. Nicht jede Beeinträchtigung muss sich behindernd auswirken; das soziale Modell ist gerade auch deshalb entwickelt worden, um auf die Umweltfaktoren aufmerksam zu machen. In seiner radikalen, heute wohl nicht mehr vertretenen Lesart gelten die Umweltfaktoren sogar als konstitutiv für Behinderung – ohne dass es auf ein physisches »impairment« als weiteres notwendiges Merkmal ankommt. Mitunter wird behauptet, die UN-BRK habe ein »soziales Modell« verrechtlicht. Doch handelt es sich bei der in Artikel 1 Absatz 2 niedergelegten Bestimmung des personalen Geltungsbereichs der Konvention um eine Kombination eines medizinischen mit einem sozialen Ansatz, es ließe sich von einem erweiterten medizinischen oder sozialen Modell sprechen: »Persons with disabilities include those who have long-term physical, mental, intellectual or sensory impairments which in interaction with various barriers may hinder their full and effective participation in society on an equal basis with others.« 16
Die von mir eingefügte Kursivierung betont medizinische und umweltbezogene Faktoren, die in diese Legaldefinition17 eingegangen sind. 16 Art. 2 Abs. 2 UN-BRK. Hervorhebung K.S.
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Die Stellungnahme der Bundesregierung zum sechsten sog. Altenbericht aus dem Jahr 2010 zeigt die Ambivalenz, die zwischen der Perspektive auf Demenz als Erkrankung und dem Verständnis von Demenz als chronischer Beeinträchtigung, als Zustand, mit dem es im Sinne eines möglichst »guten Lebens« zu leben gilt, deutlich auf: »Wenn die Kommission darauf hinweist, dass Demenz ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild und keine Alterserscheinung ist, sollte ergänzend klargestellt werden, dass die Gefahr einer medizinisch-pflegerischen Engführung zu vermeiden ist. Menschen mit Demenz sind je nach Krankheitsstadium Menschen mit Behinderung, die Anspruch auf Inklusion haben. Das bedeutet, sie bleiben Mitglieder einer gesellschaftlichen Gemeinschaft mit eigenen Ressourcen, Wünschen und Lebensvorstellungen.«18
Die Bundesregierung hob also bereits im Jahr 2010 die Bedeutung gesellschaftlicher Teilhabe und Inklusion wie auch der Zurückweisung einer bloß medizinischen Sichtweise auf Demenz hervor. Dennoch hat es dann noch bis September 2012 gedauert, bis es zur Gründung der »Allianz für Menschen mit Demenz« kam. Auch dies ist noch keine Nationale Demenzstrategie i.e.S., wie sie von der WHO für alle Länder gefordert wird. Die im Zuge der Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geschaffenen 500 »Lokalen Allianzen« wurden zunächst nur als befristetes Modellprogramm gefördert. Doch – das ist zu begrüßen – hat sich die öffentliche Rhetorik den Forderungen des HRBA angepasst:
17 Den in der rechtswissenschaftlichen Debatte darüber geführten Streit, ob es sich hier tatsächlich um eine »Definition« von »Behinderung« handelt, halte ich für unproduktiv. Womöglich verbirgt sich dahinter ein zu »essentialistisches« Verständnis von Definitionen und ihrer Leistungsfähigkeit. Selbstverständlich handelt es sich – wie es der Natur von Definitionen entspricht – um eine zweckorientierte Festlegung, die einem politischen Kompromiss entspringt. Doch der Erfolg der UN-BRK, der es gelungen ist, eine nicht zu ignorierende Grundlage für nationale Rechtsetzung abzugeben, spricht für diese – sich in der internationalen Debatte »pazifizierend« auswirkende – Begriffsbestimmung. 18 Deutscher Bundestag (2010), XIV.
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»Im Vordergrund der Behandlung sollte aber nicht die Krankheit stehen, sondern in erster Linie der Mensch. Dabei nimmt nicht nur die Forschung eine wichtige Rolle ein, sondern auch die Gesellschaft. Sie muss Verantwortung übernehmen, damit Menschen mit Demenz mit ihren Wünschen und Fähigkeiten in soziale Bezüge eingebunden bleiben und in ihrem Lebensumfeld ein gleichberechtigtes Leben führen können.«19
Rechtliche Implikationen: Im Rahmen einer Menschenrechtsperspektive auf Demenz wird besonders betont, dass auch Menschen mit Demenz als Träger subjektiver Rechte zu verstehen sind. Die Neurodegeneration, insbesondere die nachlassenden kognitiven Fähigkeiten, lassen die Eigenschaft, Träger subjektiver Rechte zu sein, nicht eo ipso entfallen. Die UN-BRK sieht in ihrem Artikel 12 Absatz 1 vor, »dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden.« Auch die Rechts- und Handlungsfähigkeit20 von Menschen mit Demenz wird davon erfasst. Der Weg in die Demenz stellt sich bislang faktisch als zunächst schleichender, dann mitunter abrupter Abschied aus dem Status als Rechtssubjekt dar: Es kommt ein Zeitpunkt, zu dem das Betreuungsrecht greift, möglicherweise Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten, sofern die von Demenz betroffene Person solche rechtzeitig verfasst hat. Der Betreuer – das Gesetz nutzt hier nach wie vor die männliche Form als generisch – kann nach deutschem Recht stellvertretend Rechtsakte für den Betreuten vornehmen und soll dabei im Innenverhältnis den Wünschen des Betreuten entsprechen,21 allerdings nur »soweit dies dessen Wohl22 nicht zuwiderläuft« und sich in den Grenzen der Zumutbarkeit für den Betreuer 19 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (o.D.). 20 Vgl. explizit auch den nachfolgenden Art. 12 Abs. 2 UN-BRK, der von den Vertragsstaaten die Anerkennung fordert, »dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen.« 21 Vgl. § 1901 Abs. 3 BGB. 22 Das Wohl wird dabei in einem objektiv-subjektiven Sinne verstanden. § 1902 Abs. 2 S. 2 BGB macht das explizit: »Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.« Hier tut sich nicht nur in theoretischer Hinsicht ein Konfliktfeld auf.
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bewegt. »Stellvertretend« bedeutet, dass es im Außenverhältnis, d.h. Dritten wie zum Beispiel Vermietern gegenüber nicht mehr die betreute Person ist, die als rechtlich Handelnde auftritt, sondern der Betreuer. Das Betreuungsrecht steht damit in einem Spannungsverhältnis zu den Anforderungen der UN-BRK. Die Konvention stellt gerade in dieser Hinsicht die nationalen Rechtsordnungen vor große Herausforderungen.23 Shakespeare, Zeilig und Mittler behaupten, ein »relationales Modell von Demenz als Behinderung« habe als »logische Folge« 24 (engl. »corollary«), dass Demenz als »human rights issue« betrachtet werden sollte. Meines Erachtens ist das zwar richtig, aber nur hinreichend, nicht notwendig: Auch die medizinische Sichtweise auf Demenz würde Demenz infolge der sich ergebenden Funktionseinschränkungen als »Beeinträchtigung« (impairment) verstehen. Dass die Menschenrechtslage auch aus dieser konzeptuellen Perspektive das Recht auf größtmögliche Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Individuen impliziert, dürfte nicht zu bestreiten sein. Es sollte also heißen: Das Verständnis von Demenz als Behinderung hat als notwendige begriffliche Folge, dass Menschen mit Demenz gleich welchen begrifflichen Verständnisses unter die Menschen mit Behinderungen betreffenden Menschenrechtstexte zu subsumieren sind. Die Einschränkung auf ein relationales oder soziales Verständnis von Demenz und von Behinderung ist nicht erforderlich; auch ein medizinisches Verständnis wäre hinreichend. Dennoch stellt die beide Modelle verbindende Formel der UN-BRK einen Fortschritt dar, der auch für ein adäquates Verständnis von Demenz förderlich ist: Es geht um »volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft«.25 1.1.2 Sozialrechtliche Möglichkeiten: Rechtliche Ansprüche für ein selbstbestimmtes, gutes Leben Auf innerstaatlicher Ebene sollte die Einnahme einer menschenrechtsorientierten Perspektive grundsätzlich idealiter gar nicht erforderlich sein, weil nationales Recht die normativen »Standards« und internationalrechtlichen »Vorgaben« bereits berücksichtigt und verwirklicht. In der Rechtswirklich-
23 Vgl. die Beiträge in Aichele (2013). 24 Shakespeare et al. (2017), 8. 25 Art. 19 UN-BRK.
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keit dürfte aber in wohl allen Staaten eine – mitunter riesige – Lücke zwischen Anspruch und tatsächlicher Rechtslage sowie gelebter (rechtlicher und sozialer) Praxis klaffen. Somit gewinnen internationale Menschenrechte, wenn sich aus ihnen nicht bereits einzelstaatliche individuelle Rechtsansprüche begründen lassen, zumindest interpretativ als Zieldimension an Relevanz für die Anwendung, zu der auch Auslegung und Konkretisierung gehören, und erforderlichenfalls rechtspolitische Weiterentwicklung nationalen Rechts. Auf der Grundlage der UN-BRK ergeben sich nach Auffassung deutscher Gerichte und vorherrschender Meinung der Rechtswissenschaft26 keine individuellen Ansprüche Betroffener; die deutsche Monitoring-Stelle nach Artikel 33 Absatz 2 der Konvention vertritt eine davon abweichende Position27 und setzt sich dafür ein, bei hinreichender Bestimmtheit der internationalrechtlichen Vorschriften auch eine unmittelbare Anwendbarkeit anzunehmen. Davon unberührt bleibt die unbestritten geforderte menschenrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts. Hier geht es nicht um die »üblichen« Streitfragen im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen wie etwa die angemessene Umsetzung schulischer Inklusion, sondern um die Erweiterung der sozialrechtlichen Perspektive Demenzkranker. Bislang wird als maßgebliche einschlägige Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche demenziell Erkrankter in Deutschland die Pflegeversicherung angesehen.28 Mit deren jüngsten Reformen hat sich die Lage dementer Patienten und das zu ihren Gunsten abrufbare Leistungsspektrum im Rahmen dieser Versicherung zwar deutlich verbessert, doch in dieser Situation könnte die Horizonterweiterung, die sich aus der Einordung Demenzkranker als Menschen mit Behinderungen ergibt, gleichfalls als förderlich für die Beteiligten (in erster Linie: Betroffene, Familienangehörige, Pflegepersonen) erweisen, da sie – 26 Vgl. etwa den Überblick bei Gutmann (2018). 27 Dies geht zum Beispiel aus den gerichtlichen Amicus-Curiae-Stellungnahmen der Monitoring-Stelle hervor. Siehe dazu auf der Homepage des Deutschen Instituts für Menschenrechte unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/ stellungnahmen-vor-gericht/ [22.08.2018]. Vgl. auch das Positionspapier Nr. 6: Monitoring-Stelle zur UN-BRK (2012). 28 So heißt es etwa im überarbeitungsbedürftigen Wikipedia-Artikel »Demenz« ganz lapidar: »In Deutschland können Menschen mit Demenz Unterstützungsleistungen aus der Pflegeversicherung erhalten.« Siehe Wikipedia (2018).
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bereits de lege lata, also nach geltendem Recht – weitere Bereiche des Sozialrechts (namentlich: das neue SGB IX, welche das reformierte Teilhaberecht29 beinhaltet) für demenziell erkrankte Anspruchsteller erschließt. 1.1.3 Lebensweltliche Perspektive: Selbstbestimmung und Selbständigkeit in der Praxis Die Einnahme der international-menschenrechtlichen und innerstaatlichsozialrechtlichen Perspektive sollte nicht den Blick auf die lebensweltlichsoziale Perspektive verstellen, die ich mit der oben eingeführten Unterscheidung von »gesellschaftlich« und »sozial« hervortreten lassen möchte: Demente Personen stehen – faktisch zumindest in der Frühphase der Erkrankung – in der Regel in einem ausgeprägten Netz von Beziehungen zu Familienangehörigen, Freunden, Kolleginnen, Nachbarn usw. Mit zunehmender Hilfsbedürftigkeit geht eine Abhängigkeit von Betreuungspersonen, informellen wie formellen, einher. Doch impliziert die Einnahme einer menschenrechtlichen Perspektive auf der Mikroebene, dass der betroffenen Person ungeachtet der Demenzdiagnose umfassende individuelle Rechte zugeschrieben werden, dass diese ihren Status als autonomes Subjekt nicht – rechtlich oder tatsächlich – verliert, sondern ihr Leben weiterhin in größtmöglicher Selbstbestimmung und Selbständigkeit führen kann – so umfänglich und so lange wie es nur eben möglich ist. Die Umsetzung dieser Ziele, Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei vollumfänglicher Teilhabe am öffentlichen Leben in all seinen Dimensionen, sieht die UN-BRK für alle Menschen mit Behinderungen vor. 30 Wird deutlich, dass auch Menschen mit Demenz unter diesen Oberbegriff zu subsumieren sind, tritt die international-menschenrechtliche »Durchdringung« der Lebenswelt auch von Menschen mit Demenz hervor, ergibt sich der normative Auftrag an die Akteure auf der Makro- und Mesoebene, auch Menschen mit Demenz weiterhin als Träger individueller Rechte anzuerkennen, die normati-
29 Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (kurz: Bundesteilhabegesetz; BTHG), BGBl (2016) I Nr. 66 3224– 3340 vom 29. Dezember 2016. 30 So gehört zu den in Art. 3 UN-BRK niedergelegten Grundsätzen »die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« (vgl. Buchstabe c).
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ven Vorgaben auch im Sozialrecht, in der Pflege und Betreuung und im Alltag der betroffenen Individuen umzusetzen und zu respektieren. Ich komme im weiteren Verlauf dieses Beitrags darauf zurück, welche konkreten Implikationen sich aus einer menschenrechtlichen Perspektive in den verschiedenen lebensweltlichen Bereichen Betroffener rechtlich und tatsächlich ergeben. Doch zunächst bleibe ich bei der begrifflichen Vorfrage und den Vor- und Nachteilen der Subsumtion von »Demenz« unter den Begriff der »Behinderung«, denn es lassen sich durchaus auch einige Einwände gegen diese Position vorbringen. Es handelt sich insbesondere um drei Einwände, die ich in der Folge aber entkräften werde. 1.2
Nachteile bzw. Einwände
Die drei Einwände, die ich wohlgemerkt nicht in der Sache vertreten, aber in systematischer Hinsicht untersuchen möchte, können Stigmatisierungseinwand (1.2.1), Unwirksamkeits- oder Symbolpolitikeinwand (1.2.2) und Devalorisierungseinwand (1.2.3) genannt werden. Sie sind sehr grundsätzlicher, aber nicht kategorisch-begrifflicher, sondern empirischer Natur, d.h., sie lassen sich auch durch das Vorbringen von Gegenbeispielen entkräften. 1.2.1 Stigmatisierungseinwand Dieser Einwand lautet in seiner argumentativen Struktur, dass (Prämisse 1) demenziell Erkrankte durch die Einordung als »Behinderte« eine weitere (doppelte) soziale31 Stigmatisierung als demenziell Erkrankte und Behinderte zu erwarten haben. Stigmatisierung ist ein gravierendes Problem, das vermieden oder zumindest vermindert werden sollte (Prämisse 2). Folglich sollte die Kategorisierung von Demenzerkrankten als »Menschen mit Behinderungen« unterlassen werden (Konklusion). Die erste Prämisse besteht in einer sog. »schiefen Ebene«-Behauptung (engl. »slippery slope«32): Es geht um eine Behauptung einer (empirischen) Folge, deren Eintreten prognostiziert wird, wenn bestimmte (empirische oder auch begriffliche) Bedingungen vorliegen. Um eine solche Argumentation »wasserdicht« zu 31 Vgl. den Fokus auf »soziales Stigma« in der ethischen Fallbesprechung von Robbins/Bernat (2017), 651. 32 Vgl. dazu Düber/Rojek (2015).
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machen, ist eine plausible Darlegung der behaupteten empirischen Zusammenhänge erforderlich – und selbst dann bleibt sie angreifbar, da sie nicht alle vorauszusetzenden Randbedingungen explizit machen kann. Die zweite Prämisse ist normativer Art: Stigmatisierung ist schlecht und soll vermieden werden. Die Zustimmung zu dieser Forderung setze ich voraus und werde nicht weiter dafür argumentieren: Bereits die Vokabel »Stigmatisierung«33 ist komplex; sie verbindet deskriptive und normative Merkmale und impliziert nach weithin geteiltem Sprachgebrauch bereits die Konnotation einer zu verurteilenden Herabsetzung der Adressaten. (Allein unter Bezugnahme auf den ursprünglichen religiösen Wortgebrauch – Jesu Stigmata34 – mag es unter sehr besonderen Umständen »erstrebenswert« erscheinen, ebenfalls ein Stigma aufzuweisen: Man wird es schon auf eine Verehrung als Heilige abgesehen haben müssen, um dies für ein »positives« Merkmal zu halten. Diese etymologisch zwar zu rechtfertigende, ansonsten aber als marginal zu charakterisierende Verwendungsweise von »Stigma« bleibt hier beiseite.) »Stigma« empirisch zu belegen oder gar zu »messen«, erweist sich als schwierig.35 Der Begriff geht in seiner heutigen Verwendungsweise auf die Arbeiten von Goffman36 zurück. Es lassen sich mindestens die folgenden drei Dimensionen von Stigma ausmachen: Die geläufigste Variante ist gewiss Stigmatisierung in der Öffentlichkeit (engl. public stigma). In der psy33 Zum Stigmatisierungsbegriff vgl. Goffman (1963, 10f.): »[Eine Person wird] so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma, besonders dann, wenn seine diskreditierende Wirkung sehr extensive ist; manchmal wird es auch ein Fehler genannt, eine Unzulänglichkeit, ein Handikap. […] Der Terminus Stigma wird also in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht warden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen warden, daß es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf.« 34 Vgl. erstmalig den Apostel Paulus im Galaterbrief (Gal. 6,17). Hier wird das griechische »stigma« schlicht mit »Zeichen« übersetzt. 35 Thesen zum Zusammenhang von Stigma aufgrund von Behinderung sowie der Nutzung technischer Hilfsmittel wie Brain-Computer-Interfaces sollten trotzdem mehr bieten als bloße Behauptungen. Als Negativbeispiel vgl. Aas/Wasserman (2016). 36 Vgl. Goffman (1963).
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chologischen Forschung spielt auch die Selbst-Stigmatisierung eine große Rolle (self-stigma). Auch Goffman hat diesen Aspekt in den Vordergrund gerückt. Weite Teile seines Werks handeln von der Selbstbeschneidung aus Angst vor Zurückweisung (vgl. den Untertitel seines Werks Stigma: »Techniken der Bewältigung beschädigter Identität«); hier geht es um Kompensations- und andere Strategien (adaptation, coping), welche die Betroffenen selbst anwenden, um der antizipierten oder erlebten Stigmatisierung zu entgehen.37 Zudem ist eine institutionell vermittelte Stigmatisierung (institutional stigma) denkbar: So könnte sich beispielsweise die Stigmatisierung von »Demenz«, die gerade erst – in Deutschland etwa durch die jüngsten Pflegeversicherungsreformen sowie zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit dem Thema – ein wenig nachzulassen scheint, wieder verstärken, wenn deutlich wird, dass »Demenz« zugleich »Behinderung« bedeutet. Das Stigma »Behinderung« trifft dann auch die von Demenz Betroffenen. Alternativ zu einer »doppelten« Stigmatisierung aufgrund von »Demenz« und »Behinderung« erscheint auch eine Verlagerung möglich: Statt aufgrund des einen Merkmals könnte es zu einer Stigmatisierung aufgrund des anderen Merkmals kommen. In Shakespeares Worten: »If you’ve got one stigmatized identity already, you aren’t necessarily going to welcome another.«38 1.2.2 Einwand von Unwirksamkeit oder Symbolpolitik Dieser Einwand zielt auf die Implikationen der Rechtsförmigkeit und betrachtet den Nutzen und die Wirkung, die eine menschenrechtsbasierte Perspektive auf Demenz haben können. Dieser Einwand ist sehr grundsätzlich und erfasst je nach Ausgestaltung auch die gesamte UN-BRK bzw. einen Großteil der internationalen Menschenrechtstexte der jüngeren Zeit. Danach wird die Menschenrechtsdimension als bloß symbolisch und im Ergebnis rechtspraktisch überflüssig, da faktisch (nicht: positivrechtlich) unwirksam angesehen. Man kann diese Position sowohl in ein rechtssystema-
37 Der Welt-Alzheimer-Bericht von 2012 befasst sich umfänglich mit der Stigmatisierung von Menschen mit Demenz. Zu »self-stigma« und begrifflichen Bezugnahmen auf Goffman. Siehe ADI (2012), 8. 38 Shakespeare (o.D). Ähnlich auch Shakespeare et al. (2017), 3: »Many will reject what they may perceive as another stigmatising label.«
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tisches oder -dogmatisches als auch in ein (rechts)historisches Argument kleiden. Rechtssystematisch würde man zum Beispiel einen Skeptizismus gegenüber der Anerkennung von sozialen Menschenrechten äußern oder die tatsächliche oder vermeintliche Proliferation, die immer weitere Ausweitung und Ausdifferenzierung von Menschenrechten überhaupt, kritisieren. Der Rückgriff auf die UN-BRK zugunsten von Menschen mit Demenz, so könnte ein entsprechender Einwand lauten, »bringt nichts«, birgt keinen zusätzlichen Mehrwert, da die Menschenrechte bereits ungeachtet der Konvention sowohl moralische als auch positivrechtliche Geltung haben. Dies ist zwar richtig, insofern die Geltung moralischer und rechtlicher Menschenrechte unabhängig von der Konvention behauptet wird; doch rechtsfaktisch-zeithistorisch wird man dem entgegenhalten müssen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten gerade wegen der Existenz der Konvention große Fortschritte in Bezug sowohl auf die tatsächliche als auch die wahrgenommene Menschenrechtslage von Menschen mit Behinderungen gemacht wurden. Die Kritik der Situation ex ante UN-BRK, die von Vertretern der Disability Studies, Menschenrechtsexperten und Vertretern von Interessengruppen von Menschen mit Behinderungen vehement geäußert wurde, betraf in erster Linie die Sichtbarkeit und die faktisch unzureichende Menschenrechtssituation der betroffenen Menschen. Die UN-BRK verhilft den (Menschen-)Rechten von Menschen mit Behinderungen nunmehr zu größerer Sichtbarkeit, Wirksamkeit und – zunächst einmal: einer Konkretisierung der Dimensionen und Domänen, in denen eine andere, verbesserte lebensweltliche Realität für Menschen mit Behinderungen zu schaffen ist. Die verschiedenen menschenrechtlich erfassten Bereiche machen es klarer und deutlicher, was es überhaupt heißt, einen »menschenrechtsbasierten Ansatz« zu verfolgen. 1.2.3 Devalorisierungseinwand Nun könnte aber aus entgegengesetzter Richtung ein Einwand gegen die Ausweitung des Skopus der UN-BRK auf demenziell Erkrankte lauten, damit würde die besondere Wirksamkeit und Aufmerksamkeitssteuerung der Konvention in Bezug auf Menschen mit Behinderungen verwässert oder entwertet. Wenn auf einmal festgestellt wird, dass alle möglichen weiteren Gruppen, die traditionell nicht als »Menschen mit Behinderungen« erfasst wurden, ebenfalls dem Wortlaut oder der Systematik nach unter die Konvention fallen, so könnte – diesem Einwand zufolge – dies dazu führen,
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dass die primär, zuvor oder hauptsächlich von der UN-BRK in den Blick genommenen Menschen mit Behinderungen wieder aus dem Fokus der Aufmerksamkeit herausfallen, in den sie gerade mit Hilfe des Instruments der BRK gerückt werden sollten. Strukturell funktioniert dieses Argument in etwa wie folgt: Wenn ein rechtliches Privileg39 nicht nur wenigen vorbehalten bleibt, sondern der Kreis der möglichen Begünstigten oder – je nach Ausgestaltung – Anspruchsteller ausgeweitet wird, so handelt es sich um einen (sozusagen »rechtsperformativen«) Selbstwiderspruch, denn zum »Privileg« gehört bereits begriffsanalytisch, dass es Besonderheit und Exklusivität Weniger beinhaltet. Eine übermäßige Ausweitung nimmt dem Recht diesen Status und das implizite Versprechen der Bevorzugung. Es ist dann kein »Privileg« im Wortsinne mehr. Aus verhaltensökonomischer und -psychologischer Sicht lässt sich dieses Phänomen im Sinne von loss aversion40 erklären: Wir bewerten Verluste als schwerwiegender als Gewinne. Es geht also um die Bedeutung bzw. »Wertigkeit« der UN-BRK in der öffentlichen Wahrnehmung sowie um die mögliche psychologische Wirkung der Ausweitung des Kreises der »Berechtigten« auf diejenigen, die bislang schon zur Gruppe der Berechtigten gehörten. Dieser letztgenannte Einwand erscheint dennoch nicht sehr plausibel. Unter der großen und vielfältigen Gruppe von Menschen mit Behinderungen haben sehr engagierte Aktivisten über die letzten Jahrzehnte große Aufmerksamkeit und großen Einfluss erreicht. Der Stigmatisierung wird als Gegenbewegung ähnlich wie von anderen diskriminierten Gruppen (LGBTQ* u.a.) ein »Stolz« auf Behinderung entgegengehalten (disability pride). Nicht zuletzt geht die UN-BRK auf Initiativen von Behindertenrechtsaktivisten zurück. Shakespeare, Zeilig und Mittler sprechen daher auch von »paradox«,41 dass sich Menschen mit Demenz nicht auch selbst als Menschen mit Behinderung auffassen:
39 Hier verwende ich »Privileg«, »Recht« und »Anspruch« undifferenziert – nicht im Hohfeldschen Sinne. Siehe Hohfeld (1920), 36 und 38. Es geht mir nur darum, dass ein rechtlich Begünstigter nach eigenem Belieben die für ihn vorteilhafte Rechtsposition geltend machen kann. 40 Die entsprechende Forschung und der Ausdruck gehen zurück auf Kahneman et al. (1991). 41 Shakespeare et al. (2017), 3.
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»We can anticipate that people with dementia will […] vary in their willingness to identify as disabled. But like other groups, they can also use the UN CRPD [UN-BRK] as a tool to advance their rights. Certainly, people with dementia are not seen by the general public, professionals or by other disabled people as part of the disability rights movement, and did not join forces with the powerful coalition of disabled people’s organisations which campaigned for the Convention […].«42
Die UN-BRK als Instrument rechtlicher Innovation 43 auch für Menschen mit Demenz steht im Zentrum der folgenden Überlegungen (Kap. 2).
2. R ECHTLICHE D IMENSIONEN , SOZIALRECHTLICHE UND - POLITISCHE I MPLIKATIONEN DES M ENSCHENRECHTSANSATZES AUF G RUNDLAGE DER UN-BRK Nach der Diskussion möglicher theoretischer Vor- und Nachteile der Beurteilung von »Demenz« als »Behinderung« im ersten Abschnitt sollen nun rechtliche Dimensionen, sozialrechtliche und sozialpolitische Implikationen des Menschenrechtsansatzes in den Blick genommen werden. Eine grundsätzliche Weichenstellung ergibt sich aus der Erfassung aller innerstaatlichen Rechtsbereiche (2.1). Aus der Betonung sozialer Menschenrechte in der UN-BRK folgt eine sozialrechtliche Dimension, die innerstaatlich vor allem durch ihre Mehrdimensionalität geprägt ist (2.2). Nach diesem konkret-kritischen Blick auf das deutsche Sozialrecht sind aber auch vielversprechende sozialpolitische Perspektiven aufzuzeigen (2.3), wenngleich einstweilen das Sozialrecht in seinem Ist-Stand (de lege lata) die Sicht auf diesen grundlegenden Paradigmenwechsel im Umgang mit Demenzerkrankten verstellen mag.
42 Shakespeare et al. (2017), 3. Dies liegt natürlich auch an der kurzen Zeit, die den meisten Betroffenen nach der Diagnose verbleibt. Umso mehr besteht ein Interesse an früherer Diagnose auch im Sinne einer besseren Interessenvertretung von Menschen mit Demenz. Vgl. ebd. (2017), 5f. 43 Vgl. Bielefeldt (32009 [2006]).
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2.1 Erfassung aller Rechtsbereiche Menschenrechte und somit auch die UN-BRK bieten einen Ansatz für die »Konstitutionalisierung« der internationalen Ebene. Die Mitgliedstaaten einer Menschenrechtskonvention müssen ihr nationales Recht an den Anforderungen der Konvention ausrichten und messen lassen. Mit ihrem innovativen Monitoringmechanismus44 verfügt die UN-BRK in besonderem Maße über einen »Hebel«, das nationale Recht an ihre inhaltlichen Vorgaben anpassen zu lassen. Zwar »hinkt« die Analogie zu den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes, an denen sich die gesamte deutsche Rechtsordnung zu orientieren hat, da es im internationalrechtlichen Rahmen der UN-BRK an einem scharfen Schwert wie der Individualverfassungsbeschwerde mangelt. Doch muss einerseits der deutsche Staat seine Pflichten aus der Konvention45 erfüllen, andererseits gibt es durchaus Ansatzpunkte46 für einen Individualrechtschutz auf der Grundlage der UN-BRK im Rahmen der nationalen Rechtsordnung. Wichtig ist, dass es keinen Bereich der Rechtsordnung gibt, der von der menschenrechtlichen Grundlage der UN-BRK ausgeklammert bleibt. Insofern trägt die Analogie zwischen dem Grundgesetz und der Konvention: Alle Rechtsbereiche auf nationaler Ebene werden erfasst. So kann sich beispielsweise im Bereich der schulischen Inklusion der deutsche Staat nicht auf seine föderale Verfassung berufen, um bestimmte Defizite etwa in einzelnen Bundesländern zu rechtfertigen. Im Bereich des Sozialrechts kann der Hinweis auf die kommunale Selbstverwaltung nicht die Anforderungen an die Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger und behinderter Menschen absenken, die sich aus internationalen Verpflichtungen ergeben.
44 Die deutsche Monitoring-Stelle ist im Deutschen Institut für Menschenrechte verortet. Für weitere Informationen siehe https://www.institut-fuer-menschen rechte.de/monitoring-stelle-un-brk/ [22.08.2018]. 45 Die Überwachung der Umsetzung der UN-BRK auf nationaler Ebene gehört gerade zum Aufgabenprofil der Monitoringstelle nach Art. 33 UN-BRK. 46 Vgl. die unter 1.1.2 angesprochene Debatte um die unmittelbare Anwendbarkeit.
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2.2 Sozialrechtliche Mehrdimensionalität Ein Hauptmerkmal der Einstufung von »Demenz« als »Behinderung« ist die sozialrechtliche »Mehrdimensionalität«. Gleich mehrere Sozialgesetzbücher sind damit durch das Phänomen »Demenz« berührt und können – grundsätzlich – als Anspruchsgrundlage für Betroffene in Frage kommen. Dies sind insbesondere das SGB XI, die Pflegeversicherung, aber auch das SGB V, die Gesetzliche Krankenversicherung, sowie – häufig unbeachtet – das SGB IX, das nicht erst seit seiner Anfang 2018 in Kraft getretenen Neufassung als rechtliche Grundlage für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen dienen soll. Leistungen zur Teilhabe nach dem SGB IX sind auch für Menschen mit Demenz denkbar. So können Menschen mit Demenz nach deutschem Sozialrecht beispielsweise auf Antrag vom Versorgungsamt einen Schwerbehindertenausweis erhalten. Dies brachte auch nach früherer Rechtslage schon konkrete finanzielle Vorteile, etwa bestimmte Steuererleichterungen, die Befreiung von Gebühren für den öffentlichen Rundfunk, aber auch die Möglichkeit einer kostenlosen Beförderung einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Möglichkeit, mit einer entsprechenden Kennzeichnung des Wagens einen für Menschen mit schweren Behinderungen reservierten Parkplatz zu nutzen. Dafür muss der sog. »Grad der Behinderung« mindestens 50 % betragen – das wird in der Regel bei einer mittleren Demenz erreicht sein. Wichtiger noch mögen finanzielle Unterstützung bei der baulichen Umgestaltung der (eigenen oder gemieteten) Wohnräume sein. Auch nach dem SGB XII (»Sozialhilfe«) sind Leistungen für Menschen mit Behinderungen denkbar, etwa die Eingliederungshilfe oder die Hilfen zur Pflege bei entsprechender finanzieller Notlage. Mittelfristig sollen Sozialhilfe und Teilhaberecht von Menschen mit Behinderungen voneinander abgekoppelt, der Nexus von »Behinderung« und »Sozialfall« oder »Bedürftigkeit« gelöst werden. Ein bereits verhältnismäßig flexibles Rechtsinstrument ist das sog. Persönliche Budget (§ 29 SGB IX in Verbindung mit den einschlägigen, die verschiedenen Träger betreffenden Vorschriften, zum Beispiel § 185 Absatz 8 SGB IX (Integrationsamt) oder § 57 SGB XII), das es den Berechtigten (Menschen mit Behinderung oder Pflegebedürftige) ermöglicht, trägerübergreifend Dienstleistungen ihrer Wahl in Anspruch zu nehmen.47 47 Vgl. dazu die Praxisberichte und das Vademecum bei Monréal (2018).
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Die Vielzahl der unterschiedlichen Akteure und Rechtsgrundlagen stellt aber selbst ein rechtsethisches Problem dar. Die Adressaten und möglichen Anspruchssteller sind oftmals nicht in der Lage, die für ihre jeweilige Situation »maßgeschneiderte« Kombination von Anspruchsgründen zu erfassen und zu nutzen. Die Unübersichtlichkeit ergibt einen Mangel an Rechtsklarheit. Selbst wenn einzelne Leistungen für sich genommen systemgerecht und transparent sein mögen, so ergibt sich aus der Zusammenschau der Gesamtheit möglicher Maßnahmen zugunsten von Menschen mit Demenz das Bild einer sehr zersplitterten Rechtslage, welche die Orientierung über die rechtlichen Unterstützungsansprüche erschwert oder gar verhindert und somit in der Summe und im Ergebnis dem menschenrechtlichen Ansatz zuwiderläuft – nicht etwa deshalb, weil den internationalrechtlichen Texten innerstaatlich keine Beachtung geschenkt würde, sondern weil die innerstaatliche Rechtsordnung zu pointillistisch auf die menschenrechtlichen Vorgaben reagiert und ein Gesamtkonzept vermissen lässt. Dass die rechtlichen Regelungen zur Umsetzung der menschenrechtlichen Grundpositionen zudem z.T. auch unzureichend oder in den tatsächlichen Folgen problematisch sein können, bleibt davon unberührt. Die Unübersichtlichkeit hat die rechtsethisch problematische Folge, dass Ansprüche ungenutzt bleiben, die rechtlichen Regelungen de facto ihre Ziele nicht erreichen. Hilfreich wäre, wenn es eine einzige Anlaufstelle für die verschiedenen Bereiche des Sozialrechts gäbe, an die sich Betroffene wenden könnten (Prinzip des »one-stop shop« oder »guichet unique«). Praktisch steht dem in Deutschland die Selbstverwaltung – und Konkurrenz – der Träger von Gesundheits- und Pflegeversorgung auf der einen, die historisch primär am Interesse beruflicher Wiedereingliederung interessierten Ansprechpartner im Rehabilitations- und Teilhaberecht auf der anderen Seite entgegen. Faktisch übernehmen daher Selbsthilfegruppen wie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. wesentliche, aber eben nicht alle Funktionen einer solchen einheitlichen Anlaufstelle. 2.3 Sozialpolitische Perspektiven Ausgehend von der Einordung von Demenz als »Behinderung« und als Menschenrechtsfrage verfolgen Rushford und Harvey48 die Strategie, im 48 Rushford/Harvey (2016), insbesondere 46f. und 49f.
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Zuge einer »Rekonzeptualisierung« Demenz weniger als eine »Krankheit« denn als ein »soziales Problem« aufzufassen. Dies mag aus der Anerkennung der – derzeit noch immer – mangelnden kurativen Behandlung heraus plausibel sein, birgt aber das Risiko, die Problematik der Diagnose »Demenz« ungebührlich zu »verkleinern«. Eher sollte ein »sowohl als auch«Ansatz verfolgt werden: Patienten mit Demenz sind – im zeitlichen Verlauf zunehmend – vulnerabel, bedürfen vielfältiger Hilfe- und Unterstützungsleistungen und befinden sich dennoch – zumal in frühen Stadien – über lange Zeiträume in mehr oder minder »statischem« Zustand, der demjenigen anderer chronischer Krankheiten ähnelt. Wenn nach einer heute üblichen49 Herangehensweise Behinderung in einem weiten Sinne verstanden wird, so fallen auch »chronische Krankheiten« unter diesen Oberbegriff. Angesichts der großen Bevölkerungsanteile, die nach diesem Verständnis von »Behinderung« betroffen sind, mutet es absurd an, »Behinderung« als »Sonderfall« zu betrachten. Es handelt sich vielmehr in all seinen Nuancen und Variationen um ein soziales Phänomen, das jedes Individuum betrifft – entweder selbst oder in seinen Beziehungen zu anderen. Neben Bemühungen um Prävention geht es bei dieser Betrachtungsweise darum, dass ein Leben mit Behinderung so »normal« wie möglich geführt werden kann, auch Menschen mit Behinderungen ein »gutes Leben«50 zu ermöglichen. Felder argumentiert dafür, dass es – aus begrifflich-analytischen Gründen – zwar kein »Recht auf Inklusion«, aber auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion geben sollte. Dabei handelt es sich um eine transversale sozialpolitische Aufgabe, die alle Bereiche des Sozialrechts erfasst. Die Trennung der Systeme »Gesundheit und Pflege« einerseits, »Rehabilitation, Eingliederung, Absicherung gegen Notlagen« andererseits, steht quer dazu und erweist sich gegenwärtig als Hemmschuh für einen genuin inklusiven Ansatz.51 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat in ihrer vielbeachteten Demenz-Studie von 2015 nicht nur die demographischen und daraus resultierenden finanziellen Herausforderun49 Vgl. den ersten Teilhabebericht der Bundesregierung, siehe BMAS (2013), 46, Tabelle 3.2. Danach lassen sich bei Einbeziehung chronischer Krankheiten bis zu 25 % der Bevölkerung als »Menschen mit Behinderung« ausweisen. 50 Vgl. die Beiträge in Bickenbach et al. (2014). 51 Vgl. Felder (2012), Kapitel 7, 223–271, insbes. 255f.
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gen beleuchtet, sondern den Finger gerade in die Wunde unzureichender sozialpolitischer Vorkehrungen gelegt. Unter der Prämisse, dass »[B]etter policy can make a difference at all stages of dementia«52 werden sowohl »top down« (Sozialrecht i.w.S.) als auch »bottom up« (zum Beispiel individuelles Fallmanagement) Ansätze aufgezeigt, welche die Situation von Menschen mit Demenz und ihren – formellen wie vor allem auch informellen – Betreuungspersonen verbessern können. Im nächsten Abschnitt geht es nun um diese Perspektive »von unten«, die lebensweltlichen Dimensionen und die konkreten Schritte, die für eine bessere Lebensqualität von Menschen mit Demenz sorgen können.
3. L EBENSWELTLICHE D IMENSIONEN UND PRAKTISCHE K ONSEQUENZEN Eine dritte Dimension der Implikationen der Beurteilung von »Demenz« als »Behinderung« ist die Lebenswelt, in der es um die konkrete Ausprägung und Ausübung von Freiheit und Selbstbestimmung durch das betroffene Individuum geht. Aus humanökologischer Sicht ist diese Dimension in einem metaphorischen Sinne die »naheliegendste« und insofern auch die wichtigste: Wenn wir vom Individuum in seinen Beziehungsgeflechten als »Zentrum« ausgehen, so stellt sich die Lebenswelt als räumlicher Bezugsrahmen dar. Subjektive Selbstbestimmungsrechte können in diesem Umfeld konkret verwirklicht werden – oder eben nicht. Nun ist der Übergang von der abstrakten menschenrechtlichen Betrachtungsweise zur konkreten lebensweltlichen mit der Frage der Ausdeutung des hehren Ideals »Selbstbestimmung« im Alltag behinderter, dementer Menschen alles andere als offensichtlich. Die Möglichkeit der betroffenen Menschen, Selbstbestimmung zu realisieren wird z.T. noch immer ganz bestritten. Zunächst sind daher einige Vorbemerkungen zum Verständnis von Selbstbestimmung, (relationaler) Autonomie und »assistierter Freiheit« erforderlich (3.1), bevor die Bedeutung von »community-based living« im Unterschied zum Konzept des bloßen »community-based care« beleuchtet werden kann (3.2). Schließlich wird mit der Problematik der jeweils angemessenen Wohnsituation eine bestimmte, in diesem Zusammenhang ganz zentrale Streitfrage angerissen: 52 OECD (2015), 30.
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diejenige der »Institutionalisierung« von Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen und von Menschen mit Demenz im Besonderen (3.3). 3.1 Selbstbestimmung – (relationale) Autonomie – »assistierte Freiheit« Die menschenrechtlichen Texte – vgl. den bereits angesprochenen Artikel 12 UN-BRK – sprechen eine sehr deutliche Sprache. Man könnte – inspiriert von dem Rechtsphilosophen Ronald Dworkin, der danach fragte, welche Bedeutung denn »Bürgerrechte ernstgenommen« hätten,53 die Frage aufwerfen, wie »Menschenrechte ernstgenommen« in der Lebenswelt der Menschenrechtsträgerinnen und -träger ausbuchstabiert werden müssten. Dass nach dem Ist-Stand Personen mit Demenz nicht adäquat behandelt werden, hat in drastischer Weise die Untersuchung der OECD von 2015 zum Ausdruck gebracht: »Our current model of innovation has failed to deliver the effective treatments that we urgently need. […] Many people living with dementia face an unacceptably poor quality of life, while their family members are also under a major strain, left with health problems and the inability to work. Shortages in skilled professional caregivers force people with dementia to use unregulated, low-quality care, putting them at risk of abuse and neglect. More generally, fragmented, uncoordinated health care and social systems routinely fail people with complex needs, such as those with dementia.«54
Eine mögliche Antwort in Bezug auf Menschen, die von Demenz betroffen und somit in einer Hinsicht immer auch chronisch erkrankte »Patienten« sind, besteht darin, zu fordern, dass der Ansatz der Patientenzentrierung (engl. patient-centred care) ernstgenommen werden muss. In der Versorgungsforschung insbesondere zur Demenz geht der Ansatz von Kitwood 55 terminologisch und sachlich noch darüber hinaus: Kitwood geht es um »person-centred care«, also etwa »Person-zentrierte Pflege und Betreuung
53 Vgl. Dworkin (1977). 54 OECD (2015), 3. 55 Zum Beispiel Kitwood (1997).
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von Menschen mit Demenz«. Nun kommt es aus philosophischer Perspektive zunächst auf die inhaltliche (intensionale) Fassung des Personbegriffs an, um die Grenzen des Begriffsumfangs (Extension) bestimmen zu können. Lassen sich kognitiv (stark) eingeschränkte Menschen überhaupt noch unter den Personbegriff subsumieren? Da der Personbegriff unstrittig und unabhängig von der konkreten inhaltlichen Ausfüllung als »thick moral concept« anzusehen ist, das sowohl deskriptive als auch normative bzw. evaluative Dimensionen aufweist, mag einiges an der Bestimmung dieses Begriffs »hängen«. Der Personbegriff ist »normativ aufgeladen« und insbesondere dann, wenn es darum geht, Menschen das Personsein abzusprechen, weil ihnen beispielsweise bestimmte kognitive Fähigkeiten fehlen, die als notwendig angesehen werden, um von einer »Person« sprechen zu können, wird dies gewiss für Widerspruch sorgen, insofern als die normativ-evaluativen Implikationen einer solchen begrifflichen Weichenstellung entweder nicht geklärt oder aber für nicht akzeptabel eingeschätzt werden. Doch vermag der Verweis auf Kitwood und die Forderung nach »personcentred care« diese delikate Problematik nicht nur aufzuwerfen, sondern zugleich zu entschärfen: Erstens wird im Englischen extensional viel umfassender von »person« gesprochen als dies womöglich in der deutschen Sprache, zumal in der philosophischen Fachterminologie, verbreitet ist: Zwischen »Mensch« und »Person« wird gar nicht erst differenziert: alle Menschen sind auch Personen und haben einen Anspruch auf Behandlung »als Person«. Dies betritt vor allem relationale Aspekte, das Verhältnis zu anderen: Trotz allmählich eintretender kognitiver Defizite können und sollten sich Menschen mit Demenz noch als »Personen« wahrnehmen können (subjektives Erleben) und als solche von anderen behandelt werden (zwischenmenschliche, relationale Anerkennung). Dies bedeutet, dass es auf die »Kleinigkeiten« ankommt: Es gilt, die Beziehungen zwischen Pflegenden, Betreuenden, Familienmitgliedern, Freunden und den in Rede stehenden Menschen mit Demenz so zu gestalten, wie es der menschlich-personalen Lebensform entspricht. So mag etwa der pensionierte Oberstudienrat nach wie vor seine tägliche »FAZ« erhalten wollen, auch wenn die Betreuungspersonen meinen, dies sei »herausgeworfenes Geld«, da der Betreffende ohnehin nicht mehr zur verständigen Zeitungslektüre in der Lage sei. Aber warum sollte die über lange Jahre gepflegte und wertgeschätzte Gewohnheit aufgegeben werden, wenn es dem Betreffenden Routine und Vertrautheit bedeutet, einen wesentlichen Teil seiner vormaligen Persönlichkeit be-
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trifft und sich finanziell einrichten lässt? – Dies mag als triviales Beispiel abgetan werden, doch lässt sich für die Variable »FAZ« je nach kontextueller Verortung auch »Bundesliga-Pay-TV« oder der Name der jeweils präferierten Frauenzeitschrift einsetzen, sprich: das Anliegen und die Konkretionen sind kontextualisiert verallgemeinerbar. Im Hintergrund der hier vertretenen Auffassung, der an einer Integration des Kitwoodschen Ansatzes gelegen ist, steht ein – v.a. in der Lehrbuchliteratur betonter – »Streit« zwischen einem eher »individuellen« Autonomieverständnis, wie es aus medizinethischer und -rechtlicher Perspektive etwa bei der Prüfung der Einwilligungsfähigkeit zu einzelnen medizinischen Interventionen vorausgesetzt wird, und einem »relationalen« Autonomieverständnis, wie es dem Kitwoodschen Ansatz zugrunde liegt. Diese Gegenüberstellung ist nach der hier vertretenen Auffassung »schief«, da auch die relationale Autonomie begrifflich eine »individuelle« Autonomie bedeutet: Es geht um die Bedingungen der Entscheidungsfindung und der Selbstbestimmung durch ein Individuum. Die Einbindung des Individuums in soziale Kontexte wird aber im Unterschied zu einem »bloß individuellen« Verständnis betont. Je nach Ausprägung oder »Stärke« des relationalen Autonomieverständnisses kann sogar davon gesprochen werden, die Individualität (oder – je nach theoretischem Fokus: Subjektivität, Personalität etc.) werde selbst erst durch die Einbettung in soziale Verhältnisse konstituiert. Letztere wird damit zu einer notwendigen (wenngleich nicht hinreichenden) Bedingung für die Entstehung von Individualität (Subjektivität, Personalität …) und damit von Autonomie. Die Debatte um die theoretisch angemessene Auffassung von Autonomie ist sehr verzweigt und kann an dieser Stelle unmöglich geführt werden. Ein Problem der »bloß individuellen« Sichtweise mag darin bestehen, dass nicht hinreichend dem Umstand Rechnung getragen wird, dass Individuen in der Lebenswelt ihre sozialen Beziehungen in ihrer Entscheidungsfindung »mitbedenken« und in vielen Fällen auf soziale Unterstützung angewiesen sind, um ihre Autonomie überhaupt ausüben zu können. Die relationalen Voraussetzungen, die als Bedingungen der Möglichkeit oder auch »enabling conditions« der Autonomie realer Personen verstanden werden können, können bei einer bloß individuellen Sichtweise leichter unter den Tisch fallen als bei einer von vornherein relationalen Perspektive auf die Frage von Autonomie. Zugleich – und diese einer solchen Sichtweise inhärente »Gefahr« soll nicht verschwiegen werden – kann ein solches Verständnis im Ergebnis eine frei-
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heitsbeschneidende, mithin also paradoxe Auswirkung haben: Wenn beispielsweise bei einer Entscheidungsfindung die Meinung des sozialen Umfeldes stärker gewichtet wird als die der betreffenden Person, um deren Selbstbestimmung es geht, wird dies dem Autonomieprinzip im Grundsatz nicht gerecht. Gerade bei Personen mit (zunehmend) eingeschränkter Selbstbestimmungsfähigkeit besteht diese Gefahr nicht nur im Einzelfall, sondern strukturell: Angehörige wünschen sich ihre dementen Eltern gut versorgt und in Sicherheit. Ob die Art und Weise der Betreuung und Unterbringung den Gewohnheiten, Wünschen und Vorlieben, ja dem Selbstverständnis der Betroffenen überhaupt entspricht, bleibt in der Praxis allzu oft unberücksichtigt. Das Prinzip der Patienten- oder Personenzentrierung bildet – nicht nur in der Betreuung von Menschen mit Demenz – trotz der vermeintlichen Ausrichtung auf den Patienten als Mittelpunkt der Betreuung möglicherweise noch keine hinreichende Schranke für die Verhinderung der Missachtung von Personsein, Würde oder Wünschen des von Demenz betroffenen Menschen. Für Menschen mit Behinderungen ist – unabhängig von der Positionierung in der Frage der Relationalität (oder nicht) der Autonomie – die Formel »assistierte Freiheit«56 gefunden worden. Dahinter steht der Gedanke, dass die Freiheit des Individuums zu respektieren ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen mit Behinderung handelt. Ist ein Individuum aus tatsächlichen Gründen in der Freiheitsausübung eingeschränkt, so soll es im Sinne der UN-BRK Unterstützung erfahren, nicht aber den Entzug der Freiheit durch (früher) Entmündigung oder (aktuell) Bestellung eines Betreuers, der eine ersetzende Entscheidungsfindung an der Stelle des betroffenen Individuums vornehmen kann. Doch der bereits erwähnte Artikel 12, der auf eine unterstützte Entscheidungsfindung abzielt, scheint auf Menschen mit Demenz nicht recht zu passen. »Yet dementia also challenges Article 12«57 – nicht nur die von Shakespeare et al. genannten Wissenschaftler »have found the wording and implications of Article 12 and its radical interpretations very hard to elucidate or implement practically«;58 daher wird statt von Unterstützung bei der Entscheidungsfindung für Men56 Vgl. etwa Graumann (2011). 57 Shakespeare et al. (2017), 9. 58 Ebd. mit Hinweisen zum Beispiel auf Dawson (2015) und Freeman et al. (2015). Vgl. in diesem Sinne auch Gutmann (2018) und Stoppenbrink (2018).
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schen mit Demenz eher auf gemeinsame Entscheidungsfindung (joint decision-making) abzustellen sein. Doch geht dies über die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Artikel 12 UN-BRK hinaus: Auch im Alltag und nicht lediglich bei durch Betreuungspersonen vorzunehmenden Rechtsgeschäften geht es um geteilte oder gemeinsame Entscheidungsfindung bei konkreten Fragen der Lebensgestaltung. 3.2 Community-based living (nicht bloß: »care«) In der geriatrischen und auch in der medizinethischen Forschung zu Demenzerkrankungen wird zunehmend die Forderung nach »community-based care« erhoben. Oft wird dies als gemeindenahe Betreuung oder Fürsorge verstanden. Man kann aber auch eine weitere Perspektive einnehmen: So lässt sich community-based living als eine Variante von »Inklusion« verstehen. Artikel 19 UN-BRK unterstreicht diese Sichtweise, indem von den Vertragsstaaten »das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben« gefordert wird. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, »wirksame und geeignete Maßnahmen [zu treffen]«, u.a. damit »Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.«59
Auf die Problematik der Institutionalisierung gehe ich noch unter (3.3) gesondert ein; zunächst ist die grundsätzliche Dimension der Verrechtlichung des »community-based living«-Ansatzes als interpretative Variante von Artikel 19 UN-BRK zu verdeutlichen. Die UN-BRK stellt das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe (auch schwerst) behinderter Menschen heraus. Demenzbetroffene lassen sich begrifflich problemlos darunter subsumieren; es wird damit aber klar, dass gemessen am gesellschaftlichen Ist-Stand große Anstrengungen erforderlich sind, diesen Ansprüchen auch in der Realität zu genügen. »Demenz« wird – analog zu anderen Beeinträchtigungen und Behinderungen – nicht mehr nur als ein Problem der Betroffenen und allenfalls noch ihres nahen 59 Art. 19 (a) UN-BRK.
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Umfelds gedeutet, sondern als Angelegenheit des Stadtviertels, der Kommune, der Gesellschaft insgesamt. Wie kann über die Sicherstellung von »Betreuung« auch für Demenzbetroffene »Leben« ermöglicht werden? Dies bedeutet einen grundlegenden Wechsel der Perspektive: Es geht nicht (mehr ausschließlich oder vor allem) um die Sicherheit, Sauberkeit, Versorgung mit Nahrung und Medikamenten der betroffenen Menschen, sondern um deren weitere Bedürfnisse als Menschen. So ist die Bedeutung von Beziehungen, bereits bestehenden Beziehungsgeflechten etwa zu Nachbarn und Freunden ganz besonders zu betonen. Dies macht deutlich, wie sinnvoll es sein kann, alle Möglichkeiten zu eruieren, eine Betreuung der Betroffenen in ihrer angestammten Umgebung zu ermöglichen – wenngleich die dazu erforderlichen Pflegekräfte angesichts der Mangelsituation faktisch oft nur auf dem internationalen Markt gewonnen werden können und somit eigene moralische Probleme (Ausbeutung, Familienzerstörung, Verlagerung der Mangelsituation vergleichbar mit »brain drain« usw.) aufwerfen. Auch erfüllende Freizeitbeschäftigungen gehören dazu: Jemand, der niemals im Leben Tanzveranstaltungen besucht hat, sollte auch im Pflegeheim nicht dazu gezwungen werden, beim Gemeinschaftstanzvergnügen zugegen sein zu müssen. Die Beurteilung des kontextuell Angemessenen sollte stets aus der Perspektive der betroffenen Person vorgenommen werden.60 Theoretisch lässt sich dies gut im Sinne einer humanökologischen Herangehensweise erklären, die den ganzen Menschen in seiner lebensweltlichen Verortung in den Mittelpunkt stellt. Die Mehrdimensionalität und Relationalität menschlicher Bedürfnisse stellen auch die jüngeren philosophischen Ansätze zu einer pragmatistischen Anthropologie 61 heraus sowie – schon klassisch – der Fähigkeitenansatz, der von den Philosophen Martha Nussbaum und Amartya Sen entwickelt wurde. Bei aller Kritik, die daran vorgebracht werden kann, wird angesichts der von Nussbaum aufgestellten Liste menschlicher Fähigkeiten 62 zumindest deutlich, dass das Mantra des 60 Um Missverständnissen vorzubeugen, sollte aber unterstrichen werden, dass gerade künstlerische Aktivitäten, Tanz und Musik vielversprechende, in der Praxis leider allzu oft vernachlässigte Angebote für Menschen mit Demenz darstellen. Vgl. die Beiträge zum Schwerpunktthema der Zeitschrift »Demenz«. Siehe Camic et al. (2018). 61 Vgl. Quante (2018). 62 Vgl. zum Beispiel Nussbaum (2011), 31–34.
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»satt-sauber-sicher« auf gar keinen Fall ausreicht, um die Gesamtheit menschlicher Bedürfnisse zu erfassen: Die Person, die von allmählich fortschreitender Demenz betroffen wird, verliert nicht von einem Tag auf den anderen ihr Interesse an Zeitungslektüre, die Freude am Kinobesuch, das Vergnügen an der Vogelbeobachtung, die Vorliebe für klassische Musik oder die Gewohnheit des sonntäglichen Kirchgangs. Ganz wie Nussbaum ausführt, haben Menschen ein Interesse daran, ihre Sinne zu nutzen (»senses, imagination, and thought«), zu spielen (»play«), Gefühle auszudrücken und zu erfahren (»emotions«) und ihre Umgebung zu gestalten (»control over one’s environment«).63 Nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis sind die angesprochenen Ansätze miteinander kompatibel und bieten sich als Theorierahmen an, um die Menschenrechtsperspektive normativ zu unterfüttern: Sie bieten Antworten auf die Fragen (sozusagen »en amont«, d.h. flussaufwärts zur Quelle hin orientiert), warum die UN-BRK bzw. die rechtlichen Menschenrechtstexte in ihrer Gesamtheit eine so umfassende Perspektive auf den Menschen einnehmen, warum sie sich mit so vielen kleinteiligen Fragen befassen und mitunter den Eindruck einer allzu genauen Zutatenliste für die Herstellung einer »menschengerechten Gesellschaft« entstehen lassen. Sie bieten zudem (sozusagen »en aval«, d.h. flussabwärts zur Mündung hin) Hinweise für die Auslegung und Konkretisierung der Menschenrechtstexte, indem sie aufzeigen, worauf es ankommt, wenn es um die Anerkennung von Autonomie, um gesellschaftliche Teilhabe, um selbstbestimmtes Wohnen geht. In lebensweltlich-praktischer Hinsicht ist die Frage des Wohnortes, der Wohnform demenziell erkrankter Menschen ganz zentral. Die menschenrechtliche Perspektive eröffnet neue Sichtweisen auf die Frage der Institutionalisierung. 3.3 Streitfrage Institutionalisierung Im Folgenden abschließenden Abschnitt wird die Streitfrage der Institutionalisierung näher in den Blick genommen. Es lassen sich eine grundsätzliche Dimension und mehrere konkrete Streitfragen unterscheiden, von denen das Problem homogener Wohngruppen hier exemplarisch beleuchtet werden soll. Grundsätzlich stehen »Inklusion« und »Institutionalisierung« in 63 Vgl. Nussbaum (2011), 33f.
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einem Spannungsverhältnis. Unbestritten ist, dass erstere letztere nicht generell in Frage stellen und ausschließen muss. Es kommt aber darauf an, ob das Leben einer dementen (oder von einer multiplen Behinderung betroffenen) Person in einer Einrichtung dem Grundgedanken der Inklusion entgegensteht. Vor die üblicherweise diskutierte Frage »ab wann« ein Demenzpatient nicht mehr im angestammten Zuhause verbleiben kann, sondern besser in eine besonders zur Pflege von dementen Patienten ausgewiesene Einrichtung übersiedelt, schiebt sich bildlich gesprochen unter dem Blickwinkel der Inklusion die Frage des »Ob« – ob eine Einrichtung überhaupt geeignet ist, im Unterschied zu ambulant organisierter Betreuung und Pflege ein »inklusives«, nicht nur gemeindenahes, sondern gemeindebezogenes, in die Gemeinde integriertes bzw. im Wortsinne »inkludiertes« Leben zu ermöglichen. Diese Frage weist zwar strukturelle Ähnlichkeit mit der im Zusammenhang mit end of life-care auftretenden Entscheidungsproblematik zwischen Hospizaufenthalt und ambulanter Palliativversorgung auf. Für beide Varianten besteht Unterversorgung in Deutschland, sodass in der Praxis oft gar keine reale Entscheidungsmöglichkeit besteht. Unter Inklusionsgesichtspunkten und angesichts der in der Regel deutlich längeren Zeiträume, um die es bei der Betreuung von Menschen mit Demenz geht, weist die Frage aber größere Gemeinsamkeit mit der Betreuung von Menschen mit – insbesondere kognitiven – Beeinträchtigungen auf. In dieser Hinsicht (Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen) wird diskutiert, ob betreutes Wohnen (supportive housing) in homogenen Wohngruppen überhaupt als Alternative zu Heimeinrichtungen angesehen werden kann, da die Homogenität dem Inklusionsgedanken womöglich entgegensteht. Die an vielen Orten bereits praktizierte Variante »betreutes Wohnen in Gastfamilien« erscheint demgegenüber mitunter vorzugswürdig.64 Die Debatte um institutionalisiertes Wohnen dementer Personen lässt sich in historischer Perspektive als einen (letzten) Schritt der Entinstitutionalisierungsbewegung verstehen, die u.a. mit dem Werk des bereits genannten Erving Goffman, Asyle, ihren Ausgang genommen hat. Soziale Einrichtungen wie den paradigmatischen Fall der Gefängnisse, aber auch Kinderund Altenheime, analysiert Goffman als »Totale Institutionen«, die einem 64 Vgl. für einen aktuellen Überblick zum Thema »betreutes Wohnen« in Deutschland die Beiträge bei Konrad und Rosemann. Siehe dazu Konrad/Rosemann (2017) zu Gastfamilien; vgl. insbesondere ebd. 220–228.
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selbstbestimmten Leben der Insassen und damit – in bestimmter Hinsicht – auch einem menschenrechtsgemäßen, würdevollen Umgang mit und unter den Insasssen entgegenstehen.65 Menschen mit Behinderungen sind – wie in so vielen Bereichen, die UN-BRK zeugt nicht zuletzt in ihrer Entstehungsgeschichte selbst davon – die »Letzten«, die auf eine gelingende Emanzipation66 und gesellschaftliche Teilhabe hoffen dürfen. Ich will damit nicht behaupten, dass ein würdevolles Leben prinzipiell nicht auch innerhalb einer Institution, einer stationären Einrichtung möglich ist. Die Erkenntnisse über häufige, im Ergebnis nachteilige Hospitalisierung, übermäßige Medikamentengabe, Ruhigstellung, die Anwendung physischen Zwangs und andere Probleme sprechen allerdings eine andere Sprache. Es ist eine dringende inter- und transdisziplinär zu erfüllende Aufgabe, die Rahmenbedingungen und Anforderungen würdigen, weitestgehend selbstbestimmten Lebens in einer Einrichtung zu bestimmen – und deren Einhaltung regelmäßig auch für den Einzelfall zu überprüfen!
4. F AZIT
UND
AUSBLICK
Bereits 2010 schrieb der Sozialrechtler Felix Welti in rechtspolitischer Absicht: »Ein Gesamtkonzept der gleichberechtigten Teilhabe und Inklusion pflegebedürftiger, behinderter und alter Menschen würde der demografischen Entwicklung, den Ansprüchen der Betroffenen und ihrer Familien sowie dem international gesetzten Stand der Behindertenrechtskonvention besser gerecht als ein Betreuungs- und Versorgungskonzept in den bisherigen Bahnen.«67 65 Goffman (1973 [1961]), 11: »Eine totale Institution läßt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.« Vgl. auch ebd. den ersten Essay »Über die Merkmale totaler Institutionen«, 13–123. 66 Durchaus im ursprünglichen römisch-rechtlichen Sinne: e-mancipatio, die Entlassung aus der Unmündigkeit. Dies entspricht – in anderer Terminologie – den Implikationen des Art. 12 UN-BRK. 67 Welti (2010), 45.
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Diese Forderung hat die deutsche Politik noch immer nicht eingelöst, wenngleich sie – etwa mit dem 2018 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetz (BTHG) – bereits neue Wege beschreitet, indem beispielsweise die Eingliederungshilfe, die den (Wieder-)Eintritt in den Arbeitsmarkt zum Beispiel nach einer Rehabilitationsleistung ermöglichen und unterstützen soll, nicht mehr der Logik der Sozialhilfe und deren rigider Vermögensanrechnung einschließlich der Inanspruchnahme von Unterhaltsleistungen Angehöriger folgen, sondern unabhängig davon den betroffenen Individuen helfen soll, am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Auch die hier erhobene Forderung nach der einheitlichen Anlaufstelle (siehe oben) wird beispielsweise für Reha-Anträge bereits durch das BTHG vorgesehen. Allerdings dürfte diese Zielsetzung nur in frühen Demenzstadien auch auf Menschen mit Demenz zugeschnitten sein. Pflege- und Krankenversicherung koexistieren nach wie vor neben dem BTHG; eine bessere Verzahnung der Leistungen unterschiedlicher Träger auch für Menschen mit (chronischen) Behinderungen, für die eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nicht in Frage kommt, ist erforderlich. Aus der Perspektive der Anspruchsberechtigten, der von Demenz und Pflegebedürftigkeit betroffenen Menschen, hat sich angesichts der fortbestehenden Unübersichtlichkeit der Rechtslage wenig geändert. Noch immer lässt sich behaupten: »[D]ementia and disability seem like planets spinning on different axes, their inhabitants aware of each other’s existence but apparently unable to communicate.«68 Dies gilt es zu ändern: Demenz und Behinderung sind nicht Planeten auf unterschiedlichen Laufbahnen. Vielmehr ist Demenz als ein Stern in der Galaxie der Behinderung anzusehen; das Weltall mag bei dieser Betrachtungsweise die Gesamtheit menschlicher Variation darstellen.
68 Shakespeare et al. (2017), 1.
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ZWISCHEN
ALLEN
S TÜHLEN –
ODER BESONDERS BERECHTIGT ?
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Die Patientenverfügung bei Menschen mit Demenz und die Rolle des Hausarztes Eine Pilotstudie aus Süddeutschland 1 M ARTINA S CHMIDHUBER , S ANDRA H ÄUPLER , V ELISLAVA M ARINOVA -S CHMIDT , A NDREAS F REWER , P ETER L. K OLOMINSKY -R ABAS
1. H INTERGRUND Weltweit leben mehr als 46 Millionen Menschen mit Demenz. Laut World Alzheimer Report wird geschätzt, dass es im Jahr 2050 bis zu 131,5 Millionen Menschen sein werden.2 Dies ist eine große Herausforderung in mehrfacher Hinsicht, weil es bisher keine Heilung für manche Demenzen, wie etwa die Alzheimer-Erkrankung gibt und die Erkrankung eine physische, psychische und auch finanzielle Herausforderung für Familien und pflegende Angehörige darstellt.3 Alzheimer’s Disease International, die globale Stimme für Menschen mit Demenz, betont die Bedeutung, Menschen mit Demenz in ihrer Autonomie und ihren Entscheidungen zu unterstützen. Menschen mit Demenz sollten demnach wählen können, welche Form der Betreuung sie sich wünschen, über die Art der Unterstützung, die sie erhalten und vor allem auch entscheiden können, welche Behandlungen sie am Lebensende in Anspruch 1
Dieser Beitrag ist eine modifizierte und ergänzte Übersetzung des 2017 in Eng-
2
Vgl. Alzheimer’s Disease International (2015).
3
Vgl. Alzheimer’s Association (2016b).
lisch erschienen Artikels Schmidhuber et al. (2017).
102 | M ARTINA S CHMIDHUBER ET AL .
oder nicht in Anspruch nehmen möchten.4 Es ist wichtig, dass sich Menschen mit Demenz im frühen Stadium bereits darüber Gedanken machen, welche zukünftigen Szenarien im Laufe der Erkrankung eintreten können, sodass sie dafür im Voraus Entscheidungen treffen können. 5 Diese Art der Vorausplanung, Advance Care Planning (ACP), findet man erstmals in den 1960er-Jahren in den USA, bevor sie sich in den 1990er-Jahren weiter verbreitet hat.6 Inzwischen findet man die Betonung der Notwendigkeit von ACP in vielen nationalen klinischen Leitlinien für Demenz als spezifisches ethisches Thema.7 Integraler Bestandteil von ACP ist die Patientenverfügung. Als zentrales Instrument der Vorausplanung hat sie zum Ziel, die Autonomie von Menschen mit Demenz zu fördern. Im frühen Stadium der Demenz ist es möglich, noch eine Patientenverfügung zu verfassen und in diesem Zuge festzulegen, wie man im schweren Stadium der Demenz bzw. ob man am Lebensende noch behandelt oder eben nicht mehr behandelt werden möchte.8 Patientenverfügungen müssen schriftlich und vom Verfasser/-in unterschrieben sein.9 Im Idealfall unterstützt der/die Hausarzt/-ärztin beim Erstellen einer Verfügung, damit diese auch wirklich so geschrieben ist, dass sie den Kranken dient und rechtswirksam ist. Allerdings wird dies aufgrund mangelnder finanzieller und zeitlicher Ressourcen eher selten gemacht. Es wird empfohlen, die Patientenverfügung alle zwei Jahre zu erneuern, weil sich manche Situationen im Leben geändert haben könnten. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Patientenverfügung sehr konkret in Bezug auf spezifische Situationen formuliert ist, weil sie nur dann für das behandelnde klinische Team hilfreich ist. Unspezifisch formulierte Patientenverfügun4
Vgl. Alzheimer’s Disease International (2013).
5
Ebd.
6
Ebd.
7
Vgl. Knüppel et al. (2013).
8
Vgl. Alzheimer’s Association (2016a).
9
Vgl. z.B. Wiesing et al. (2010). Ferner siehe zur Vorgeschichte international auch u.a. Buchanan/Brock (1990); Olick (2001); Körtner et al. (2007) und Furberg (2012). Zur deutschen Entwicklung u.a. Nationaler Ethikrat (2006); Sahm (2006); Frewer et al. (2009); Eickhoff (2014); Jox et al. (2014); Coors et al. (2015) und May et al. (2016).
D IE P ATIENTENVERFÜGUNG BEI M ENSCHEN MIT DEMENZ | 103
gen stellen das behandelnde Team erst recht vor die Frage, was der/die Patient/-in gewollt hätte und die Patientenverfügung erfüllt nicht ihren Zweck. Spezifische Formulierungen könnten etwa lauten: »Im letzten Stadium der Demenz möchte ich keine PEG-Sonde.« Abgesehen davon, muss stets geklärt werden, ob die vorliegende Patientenverfügung auf die aktuelle Situation überhaupt zutrifft.10 Es gibt also einiges, das man wissen sollte, wenn man im Begriff ist, eine Patientenverfügung zu verfassen. Fehlt die Unterstützung durch den/die Hausarzt/ärztin, kann es für ältere Menschen schwierig sein, möglichst viele Situationen im späteren Verlauf der Erkrankung zu antizipieren und dafür Vorausentscheidungen zu treffen. In diesem Zusammenhang wurde im süddeutschen Raum in einer Pilotstudie untersucht, was Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen über Patientenverfügungen wissen. Dabei werden insbesondere folgende Fragen aufgegriffen: Kennen Sie die Möglichkeiten und Grenzen einer Patientenverfügung? Welche Informationslücken gibt es und was folgt daraus bzw. welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es beim Verfassen einer Patientenverfügung?
2. M ETHODE Die Umfrage wurde im Rahmen des Bayrischen Demenzsurveys (BayDem) geführt. Es handelt sich dabei um eine laufende, bevölkerungsbezogene Studie in Bayern. Die Datensammlung fand zwischen Januar 2014 und Dezember 2015 statt. Studienteilnehmer/-innen waren Menschen mit Demenz im frühen Stadium und ihre pflegenden Angehörigen. Das Studiendesign wurde der Ethikkommission der Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegt und genehmigt. Studienteilnehmer/-innen waren folgende Personen: •
Personen, bei denen Demenz nach ICD-10 (F00-F03) im frühen bis mittleren Stadium diagnostiziert wurde, bei welchen jedoch angenommen wurde, dass sie Fragen zur Patientenverfügung noch verstehen und die zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt wurden.
10 Vgl. Frewer et al. (2009); Schmidhuber (2014); May et al. (2016) und Putz/ Steldinger (2016).
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•
Pflegende Angehörige, die die Hauptaufgabe der Pflege für eine Person mit Demenz zu Hause übernommen haben und über 18 Jahre alt waren.
Die Studienteilnehmer/-innen wurden aus verschiedenen Bereichen rekrutiert: Arztpraxen, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Beratungsstellen. Alle konnten über das Thema und das Ziel der Untersuchung informiert werden und eine schriftliche Zustimmung zur Studie abgeben. Es wurden Face-to-Face-Interviews mit offenen und strukturierten Fragen von geschulten Interviewern mit psychogerontologischem Hintergrund durchgeführt. Der Fragebogen wurde von zwei Wissenschaftlern aus dem Bereich Public Health (SH, PKR) und zwei Wissenschaftlern aus der Medizinethik (MS, AF) erstellt. Zusätzlich wurden die Fragen in einem interdisziplinären Team von Juristen, Ethikern, Politikwissenschaftlern und Ärzten des Emerging Fields-Projekts »Human Rights in Healthcare« der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg diskutiert. Die Umfrage wurde in zwei Teilen durchgeführt. In einem Teil wurde die Person mit Demenz befragt, im anderen der pflegende Angehörige. Folgende fünf Hauptthemen waren Bestandteil der Interviews: •
•
•
Informationsquelle: »Wie haben Sie sich über die Patientenverfügung informiert?« Dieser Teil gibt strukturierte Antworten zur Informationsquelle über Patientenverfügungen vor, zum Beispiel Internet, Arzt etc. Mehrfachnennungen waren möglich. Gründe: »Aus welchen Gründen haben Sie sich/hat sich Ihr Angehöriger für eine Patientenverfügung entschieden?« Im Teil zu den Gründen wurden strukturierte Antworten vorgegeben, zum Beispiel die Möglichkeit zur Selbstbestimmung wahrnehmen, unerwünschte Leiden durch Behandlungsmaßnahmen vermeiden etc. Auch hier waren Mehrfachnennungen möglich. Erstellung der Patientenverfügung: »Wie empfanden Sie den Prozess der Erstellung einer Patientenverfügung?« Hier wurde anhand einer Fünf-Punkte Likert-Skala gefragt, wie verständlich das Verfassen einer Patientenverfügung empfunden wurde. Das Spektrum reichte von »1 = sehr leicht« bis zu »5 = sehr schwierig«.
D IE P ATIENTENVERFÜGUNG BEI M ENSCHEN MIT DEMENZ | 105
•
•
Wissensstand zur Patientenverfügung: In diesem Teil der Befragung wurde den Studienteilnehmer ein Statement zur Patientenverfügung genannt und gefragt, ob dies richtig ist. Antwortmöglichkeiten: »ja«, »nein«, »ich weiß es nicht«. Beispiel-Statement: »Der Arzt muss sich an meine Patientenverfügung halten.« Vorteile von und Bedenken bei Patientenverfügungen: »Was sind aus Ihrer Sicht die größten Vorteile einer Patientenverfügung?« und »Was sind Ihre persönlichen Bedenken bzgl. der Patientenverfügung?« Diese Fragen wurden als offene Fragen gestellt.
Zusätzlich wurden soziodemographische und medizinische Parameter erfasst: Diagnose, Mini-Mental-Status Text (MMST),11 Komorbiditäten (Charlson Index)12 und Belastung des pflegenden Angehörigen (Burden Scale for Family Caregivers – BSFC-s).13 Die Interviews dauerten im Schnitt 20 Minuten. Im Fall, dass die Person mit Demenz die Fragen doch nicht mehr erfassen und beantworten konnte, wurde dies vermerkt. Diese Personen wurden bei der Analyse der Daten exkludiert, weil sie die oben genannten Kriterien wider Erwarten nicht erfüllten. Für die Datenanalyse wurde SPSS 22.0 verwendet.
3. E RGEBNISSE Es haben 53 Personen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen an der Studie teilgenommen. Von den Personen mit Demenz mussten jedoch 32 aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums bzw. Verständnisschwierigkeiten bei den Fragen ausgeschlossen werden. Schließlich konnten 53 Interviews mit den pflegenden Angehörigen und 21 Interviews mit Personen mit Demenz geführt und ausgewertet werden. Die Personen mit Demenz waren im Alter zwischen 45 und 92 mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren (SD=10). Davon lebten 78 % mit ihrem pflegenden Angehörigen zusammen, 7 % alleine und 15 % zusammen mit einer anderen Person. Nach dem Mini-Mental-Status Test (MMSE) wa11 Vgl. Folstein et al. (1975). 12 Vgl. Charlson et al. (1987). 13 Vgl. Gräßel et al. (2014).
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ren 76 % der Menschen mit Demenz im leichten Stadium und 24 % im mittleren Stadium. Bei 50 % der Personen wurde Alzheimer diagnostiziert. Die pflegenden Angehörigen waren im Alter zwischen 31 und 89 mit einem Durchschnittsalter von 64 Jahren (SD=14). Die meisten der pflegenden Angehörigen waren Ehepartner (63 %) oder Kinder (28 %) der Person mit Demenz. Die Hälfte der pflegenden Angehörigen (52 %) war bereits in Rente, jedoch ein Drittel (32 %) war neben der Pflegetätigkeit noch erwerbstätig. Insgesamt waren 30 % der pflegenden Angehörigen leicht bis mittelschwer von der pflegenden Tätigkeit belastet. Tabelle 1: Merkmale der Studienteilnehmer/-innen Personen mit Demenz (n=21)
Pflegende Angehörige (n=53)
72 (SD=9; min=53, max=92) 38
64 (SD=14; min=31; max=89) 63
48 38 14
22 44 34
95 0 5
52 32 16
Soziodemographisches Alter (Mittelwert, SD, min, max) Geschlecht (% weiblich) Bildung (%) Grundschule Realschule Höhere Schule Beruf (%) Rentner Angestellter Anderes Lebenssituation (%) Zusammen mit pflegendem Angehörigen Zusammenlebend mit anderer Person Alleinlebend Beziehung zu MmD (%) Ehepartner Kind Anderes
78 15 7 63 28 9
D IE P ATIENTENVERFÜGUNG BEI M ENSCHEN MIT DEMENZ | 107
Medizinische Parameter MMSE (%) Frühes Stadium Mittleres Stadium Schweres Stadium ICD-Diagnose (%) F00: Alzheimer F02: andere Demenzform F03: unspezifische Demenz
79 21 0 50 10 40
Ko-Morbiditäten (Charlson Index; %) Keine Leichte bis mittlere Schwere Angehörigenbelastung (%) Leicht Mittel Schwer
56 30 14 70 17 13
Insgesamt haben 85 % der Menschen mit Demenz jemals über die Möglichkeit einer Patientenverfügung nachgedacht. Zwei Drittel (6 %) der Menschen mit Demenz haben bereits eine Patientenverfügung verfasst. 74 % davon haben ihre Patientenverfügung vor der Demenzdiagnose geschrieben. Die Pilotstudie zeigt, dass weder von Alter, noch vom Geschlecht oder dem Bildungsgrad abhängt, ob jemand eine Patientenverfügung verfasst hat oder nicht (p>0.05). Allerdings zeigt sich ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Beziehung zum pflegenden Angehörigen und dem Besitz einer Patientenverfügung (p=0.008): Wenn der pflegende Angehörige ein Ehepartner ist, ist die Chance wesentlich höher, dass die Person mit Demenz eine Patientenverfügung besitzt (0.384**), als wenn es sich beim pflegenden Angehörigen um ein Kind handelt.
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3.1 Informationsquelle Die wichtigsten Informationsquellen zur Patientenverfügung – sowohl für die Person mit Demenz als auch für den pflegenden Angehörigen – sind die Familie (pflegende Angehörige: 16 %; MmD: 26 %) und der persönliche Kontakt zu Medizinern verschiedener Fachrichtungen (pflegende Angehörige: 16 %; MmD: 26 %). Auch das Internet ist eine wichtige Quelle für Informationen zur Patientenverfügung (pflegende Angehörige: 16 %, MmD: 13 %). Innerhalb der Gruppe der pflegenden Angehörigen zeigt sich, dass mehr Kinder als Ehepartner das Internet als Informationsquelle nutzen (p