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German Pages 371 [372] Year 2020
Michael Farrenkopf, Stefan Siemer (Hrsg.) Perspektiven des Bergbauerbes im Museum
Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum
Band 235
Michael Farrenkopf, Stefan Siemer (Hrsg.)
Perspektiven des Bergbauerbes im Museum
Vernetzung, Digitalisierung, Forschung
Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 235 = Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Nr. 37 gefördert von der RAG-Stiftung, Essen
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen stets das generische Maskulinum verwendet. Soweit aus dem Kontext nichts Anderes hervorgeht, sind jedoch immer alle Geschlechter gemeint. Redaktion: Michael Farrenkopf, Stefan Siemer Die elektronische Ausgabe dieser Publikation erscheint seit September 2022 open access.
ISBN 978-3-11-068299-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068309-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068317-2 ISSN 1616-9212 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziellKeine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/ Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsge-nehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. Library of Congress Control Number: 2020937326 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Grubenlampe in der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum; Copyright: Helena Grebe, Deutsches Bergbau-Museum Bochum Satz/Datenkonvertierung: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Stefan Siemer Einleitung 1
Historische und systematische Perspektiven Michael Farrenkopf Das materielle Kulturerbe des Steinkohlenbergbaus – Strategien aus der Sicht des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 13 Stefan Siemer Landschaft und materielles Gedächtnis: Überlegungen zur Musealisierung des Steinkohlenbergbaus im 20. Jahrhundert 35 Michael Ganzelewski Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum: Entwicklung und Perspektiven 51 Claus Werner Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation und Objektnamenthesaurus zur Bergbautechnik am Deutschen Bergbau-Museum Bochum 69
Sammlungen Thomas Schürmann Sammeln in Bergbaumuseen und Schaubergwerken 85 Olge Dommer, Dagmar Kift Bergbau sammeln im LWL-Industriemuseum 95 Jan Färber Das Museum des Sächsischen Steinkohlenbergbaus und seine Sammlungen 113
VI Inhalt Christian Israël, Thomas Schürmann Das Bergbaumuseum Ibbenbüren 133 Manfred Reis, Wolfgang Imbsweiler, Martin Gernhardt Vereinssammlungen: Fallbeispiele 151
Konservierung und Restaurierung Kornelius Götz „Vor der Hacke ist es duster!“ Zur Konservierung und Restaurierung von Bergbau-Objekten 173 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe: Herausforderungen des Materials Kunststoff in Museen 191
Vernetzung und Digitalisierung Frank von Hagel Vernetzt im Netz. Wohin mit den „eigenen“ Objektdaten? 213 Büsch, Wiebke, Stefan Przigoda www.bergbau-sammlungen.de – Stand und Perspektiven des Sammlungs- und Informationsportals für das materielle Kulturerbe des deutschen Steinkohlenbergbaus 221
Forschungsperspektiven Jochen Hennig Infrastrukturen als Voraussetzung forschender Sammlungspraxis: Zum Konzept eines Objektlabors für die Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin 247 Stefan Schulz Ein Bluttransfusionsgerät aus Kunstbernstein und das Netzwerk Bergbau 263
Inhalt
VII
Hans Peter Hahn Materielle Objekte als Zeugen der Geschichte? Zum Status von „Überresten“ als Quelle historischer Rekonstruktion 275 Achim Saupe Kumpel, Kaue, Keilhaue: Historische Authentizität, Geschichtsmarketing und Erinnerungskultur 293 Andreas Ludwig Erinnerungslandschaften. Über die Musealisierung von Individualitäten, Dingausstattungen und Infrastrukturen 315
Anhang Bibliographie 335 Abbildungsnachweise 351 Abkürzungen 355 Die Autorinnen und Autoren 359
Stefan Siemer
Einleitung Wenn man heute nach den materiellen Hinterlassenschaften des Steinkohlenbergbaus fragt, so wird man fast zwangsläufig an Sammlungen und Museen verwiesen. Einrichtungen wie das Deutsche Bergbau-Museum Bochum (DBM) oder das Deutsche Museum in München haben über nunmehr fast ein Jahrhundert hinweg aus der Perspektive der Technikgeschichte vor allem Arbeitsgeräte und Maschinen dieser Branche überliefert. Doch die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstandene branchenbezogene Sammlungs- und Erinnerungslandschaft ist bislang kaum in ihren Umrissen näher erfasst und kartiert. Zugleich lässt sich feststellen, dass bei vielen dieser Sammlungen mit Blick auf die Erfassung, Dokumentation und Digitalisierung von Objekten erhebliche Rückstände zu verzeichnen sind. Zugleich gilt, dass die historische Bergbauforschung sich bislang meist mit archivalischen Überlieferungen beschäftigt, hingegen Objekte als Forschungs- und Erkenntnisgegenstand nur eine marginale Rolle spielen. Die in ihnen liegenden Potentiale für ein erweitertes Verständnis der Montangeschichte scheinen bislang kaum ausgelotet.1 Dies gilt gerade auch im Hinblick auf eine Engführung von Objektüberlieferung und Sammlungsgeschichte, worüber sich nicht allein die Provenienzen der Objekte erschließen lassen, sondern zugleich auch spezifische Bedeutungszuweisungen im Prozess der Musealisierung.2 Die in diesem Band gesammelten Beiträge nehmen diese Problematik auf und offerieren dem an der Geschichte des (Steinkohlen-)Bergbaus Interessierten ein breites Spektrum an Themen, das von der Geschichte von Sammlungen und Museen über Probleme der Inventarisierung und Digitalisierung, der Materialität und des Erhalts von Bergbauobjekten bis hin zu Bedeutung von Bergbauobjekten im Kontext historischer Forschung reicht. Sie verstehen sich dabei nicht zuletzt als eine Reflexion darüber, was überhaupt unter Objekten des Bergbaus zu verstehen ist und was sie im weiteren Sinne dazu qualifiziert, Gegenstand musealer Sammlungen zu werden. Grundsätzlich gilt für eine Auseinandersetzung mit Bergbauobjekten ihre Ambivalenz von konkreter Materialität und abstrakten Bedeutungszuweisungen, wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston betont: „Take it for granted that things are simultaneously material and meaning1 Ausnahmen bestätigen die Regel: Vgl. Zaun, Jörg (Hrsg.): Bergakademische Schätze. Die Sammlungen der TU Bergakademie Freiberg, Freiberg 2015. 2 Dies beispielhaft im Projekt „montan.dok 21“ am Montanhistorischen Dokumentationszentrum des DBM und die dortige Verzeichnung von Verwaltungsakten, vgl. www.bergbaumuseum.de/de/forschung/projekte/neue-projekte/montandok-21 (Stand: 20.06.2018). https://doi.org/10.1515/9783110683097-001
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ful. We assume that matter constrains meanings and vice versa.“3 Die sehr unterschiedlichen Beiträge lassen sich in diesem Spannungsfeld verorten. Sie tragen nicht zuletzt der Erkenntnis Rechnung, dass eine neue Bergbaugeschichte neben einer traditionellen Ausrichtung auf die Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte ihr Augenmerk auf die Materialität der geförderten Ressourcen und die in ihrem Umfeld überlieferten Relikte und Artefakte zu legen hat. Insbesondere die Umwelt- und Stoffgeschichte könnten sich hier als anschlussfähig erweisen.4
Objekte als Forschungs- und Erkenntnisgegenstand Zu Beginn seien daher die neueren Ansätze einer historischen Objektforschung, wie sie in den letzten beiden Jahrzehnten die Diskussionen innerhalb der Wissenschafts- und Technikgeschichte dominierten, kurz skizziert. So hat die neuere Wissenschaftsgeschichte früh die Rolle von Objekten innerhalb von Forschungspraktiken untersucht und in diesem Zusammenhang von „epistemischen Dingen“ gesprochen.5 Wissensobjekte dieser Art sind etwa Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen in den Laboren oder auch Anschauungsobjekt für den akademischen Unterricht.6 In diesem Sinne reflektieren auch Bergbauobjekte etwa als Modelle für die Ausbildung bzw. als Prototypen für die Entwicklung technischer Ausrüstung immer auch eine am konkreten Objekt abzulesende Forschungspraxis.7 Auf gleiche Weise erweitert sich damit der Begriff des Bergbauobjekts, wenn es darum geht, über die Objekte Bezüge zu bergbaurelevanten Disziplinen wie Geologie oder Medizin herzustellen. 3 Daston, Lorraine (Hrsg.): Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, 2004, S. 17 f. 4 Vgl. Bluma, Lars: Moderne Bergbaugeschichte, in: Der Anschnitt 69, 2017, S. 138–151, hier: S. 147. 5 Rheinberger, Hans-Jörg: Über den Eigensinn epistemischer Dinge, in: Hahn, Hans-Peter (Hrsg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015, S. 147–162; Hassler, Ute/Meyer, Torsten (Hrsg.): Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich 2014. 6 Gesellschaft für Universitätssammlungen (Hrsg.): Materielle Kultur in universitären und ausseruniversitären Sammlungen (= Junges Forum für Sammlungs- und Objektforschung, 1). Unter: edoc.hu-berlin.de/handle/18452/19236 (Stand: 21.06.2018); Ludwig, David/Weber, Cornelia/Zauzig, Oliver (Hrsg.): Das materielle Modell. Objektgeschichten aus der wissenschaftlichen Praxis, Paderborn 2014; de Chadarevian, Soraya/Hopwood, Nick (Hrsg.): Models. The third dimension of science, Stanford 2004.
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Auch für die Technikgeschichte lässt sich allgemein ein zunehmendes Interesse an der Objektforschung konstatieren.8 So etwa im Rahmen der Science and Technology Studies (STS), die sich im Rahmen eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes mit der Entstehung technischer Innovationen bzw. dem Scheitern technischer Entwicklungen beschäftigen. In diesem Zusammenhang geraten immer wieder auch technische Artefakte und deren Entstehungszusammenhänge in den Blick. So zeigt sich, wie am mittlerweile klassischen Beispiel der frühen Entwicklung des Fahrrades, das Bild eines komplexen Entwicklungsprozesses, in dem soziale Gruppen eine bestimmte Problemlösung favorisieren, die sich am Ende im Konsens aller beteiligten Gruppen als stabil und geschlossen erweist.9 Die im angelsächsischen Raum weit verbreiteten Material Culture Studies knüpfen an diese methodischen Ansätze an, wobei sie zum einen, oft mit Bezug zur Archäologie, auf die Objekte und ihre Materialität als Bedeutungsträger verweisen, zum anderen die Mensch-Ding-Beziehungen, d. h. die Wechselwirkungen und Netzwerkbindungen von Artefakten mit der sozialen und natürlichen Umwelt, in den Mittelpunkt stellen.10 So deutet Robert Friedel die Aussagekraft von Objekten als „material messages“ und verweist in diesem Zusammenhang auf Faktoren, die den Ausschlag zugunsten eines bestimmten Materials geben können, wie etwa Funktion, Verfügbarkeit an Rohstoffen, Wirtschaftlichkeit, Design, Mode und Tradition.11 Diese Ansätze wurden in den letzten Jahren insbesondere unter dem bedeutenden Einfluss der von Bruno Latour entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie weiter fortgeführt. So geht es hier insbesondere um spezifische Materialeigenschaften, um die stoffliche Beschaffenheit von Objekten 7 Beispiele dazu in: Farrenkopf, Michael/Ganzelewski, Michael (Hrsg.): Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung, Katalog zur Sonderausstellung, Bochum 2014, S. 460, 482, 484–485. 8 Vgl. Hashagen, Ulf/Blumtritt, Oskar/Trischler, Helmuth (Hrsg.): Circa 1903. Artefakte in der Gründungszeit des Deutschen Museums, München 2003. Vgl. auch die vom Deutschen Museum München, dem Science Museum London und der Smithsonian Institution Washington herausgegebene Reihe Artefacts. Studies in the History of Science and Technology. Unter: www. deutsches-museum.de/verlag/aus-der-forschung/artefacts/ (Stand: 21.06.2018). 9 Vgl. Pinch, Trevor J./Bijker, Wiebe E.: Die soziale Konstruktion von Fakten und Artefakten oder: wie Wissenschafts- und Techniksoziologie voneinander profitieren können [engl. 1987], in: Bauer, Susanne/Heinemann, Torsten/Lemke, Thomas: Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin 2017. 10 Vgl. Hicks, Dan/Beaudry, Mary C. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010; Samida, Stefanie u. a. (Hrsg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014. 11 Vgl. Friedel, Robert: Some Matters of Substance, in: Lubar, Steven/Kingery, W. David (Hrsg.): History from Things. Essays on Material Culture, Washington/London 1993, S. 41– 50; ders.: A material world. An exhibition at the National Museum of American History, Washington 1988.
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und die Frage, wie Stoffe selber als „Akteure“ unmittelbar Einfluss auf den Umgang mit ihnen nehmen können. So hat beispielsweise Prasad Boradkar die Arbeit der Kupferschmiede im westindischen Pune beschrieben und dabei die besonderen Eigenschaften des Kupfers betont. Neben die Kunstfertigkeit der Handwerker, die „human agency“, tritt zugleich die „material agency“: Mit seiner Formbarkeit und nicht zuletzt seinen antibakteriellen Eigenschaften ist das Kupfer besonders geeignet zur Herstellung von Haushaltwaren und Trinkgefäßen.12 Der in diesen Studien wiederholt verwendete Begriff der „agency“ verweist dabei zugleich auf die Frage nach der Beziehung des Menschen zu den Dingen und den daraus abgeleiteten Dingbedeutungen. So sind Objekte, wie der Archäologe Ian Hodder betont, nicht aus sich heraus verständlich, sondern als Artefakte über das Gebrauchs- und Herstellungswissen immer mit den Menschen als Käufer, Konsumenten und Hersteller vernetzt. Sie sind weder statisch noch sind sie autonom, zeigen sich vielmehr in Bewegung, wobei sie Menschen und Dinge in immer neuen und zeitgebundenen Konstellationen zueinander in Beziehung setzen.13 Doch erweist sich diese „material agency“ immer dann als prekär, wenn es angesichts digitaler Repräsentationen zu einer Auflösung konkreter materieller Eigenschaften kommt. Zwar bleiben etwa aus Sicht der Medientheorie Materialbedeutungen nach wie vor in Kraft, doch haben wir es unter dem Vorzeichen des Digitalen mehr und mehr mit einer von den Objekten selbst abstrahierenden „repräsentationalen Materialmimesis“ zu tun.14 Auch die Frage der Authentizität von Objekten rekurriert hierbei auf eine (problematische) Materialität. Als Konsens kann gelten, dass authentische Objekte jenseits der ihnen eigentümlichen Materialität erst durch ihre diversen kulturell und sozial bedingten Zuschreibungen authentisch werden, sie mithin keine genuine Authentizität als Eigenschaft bzw. im materiellen Sinne besitzen.15 Nicht zuletzt erscheinen Objekte insbesondere im musealen Kontext als Erinnerungsobjekte, die in der Wechselwirkung von Materialität und nicht-materi-
12 Vgl. Boradkar, Prasad: Agency and Counteragency of materials: A story of copper, in: Atzmon, Leslie/Boradkar, Prasad (Hrsg.): Encountering Things. Design and Theory of Things, London 2017, S. 191–201. 13 Vgl. Hodder, Ian: Entangled. An Archaeology of the Relationships between Humans and Things, New York 2012, S. 8 f. 14 Vgl. Rupert-Kruse, Patrick: (Digitale) Repräsentionale Materialität. Mediale Sinnlichkeit zwischen somatischer Imagination und immersiven Interfaces, in: Weltzien, Friedrich/Scholz, Martin (Hrsg.): Die Sprachen des Materials. Narrative, Theorien, Strategien, Berlin 2016, S. 99– 16, hier: S. 104. 15 Vgl. Eser, Thomas u. a. (Hrsg.): Authentisierung im Museum. Ein Werkstatt-Bericht, Mainz 2017.
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eller Erinnerung ihre besondere Bedeutung erlangen.16 Die ihnen zugewiesenen Erinnerungshorizonte sind dabei zum einen medial über ihre Präsentation in Ausstellungen, zum anderen in den Formen sozialer Praktiken des Umgangs mit ihnen präsent. Die in Frage stehenden Objekte sind somit immer rückgebunden an eine Kultur des Ausstellens und Gedenkens, die in unterschiedlichen Netzwerken kommuniziert und durch staatliche und nichtstaatliche Interessen bestimmt ihnen einen ganz eigenen Status zuweist.17 Wie sehr Objekte in diesem Sinne Belegstücke einer gruppenbezogenen Erinnerungskultur sein können, zeigt etwa ein Blick auf kleine Museen in der Trägerschaft von Vereinen. Sie bilden den Rahmen für eine oft berufsbezogene Zusammenstellung von Memorabilia, wobei wiederum die Sammlungen selbst als Treffpunkte für die Beschäftigung mit ihnen bzw. für sammlungsbezogene Formen der Geselligkeit dienen. Als „Wilde Museen“ entziehen sie sich einem professionell-akademischen Standards im Umgang mit Sammlungsobjekten, denn letztere sind hier nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung, sondern allein im lebendigen Prozess des Sammelns nur über Biographien, Lebensstile oder Anekdoten zu begreifen.18
Die Beiträge des Bandes Angesichts dieser vielfältigen Perspektiven stellt sich die Frage nach dem materiellen Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus auf neue Weise.19 Angesprochen sind dabei natürlich vor allem die Museen als Bewahrer eines bergbaubezogenen Erbes. Es war daher die erklärte Absicht der unter dem Titel „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum: Vernetzung, Digitalisierung, Forschung“ im November 2017 durchgeführten Tagung, einen neuen Blick auf die im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok) zusammengefassten Sammlungen des DBM zu werfen und dabei einerseits von der Expertise von 16 Vgl. Holm, Christiane: Erinnerungsdinge, in: Samida, Stefanie u. a. (Hrsg.): Handbuch der materiellen Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014, S. 197–201; Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005. 17 Buchenhorst, Ralph: Ding und Gedenken. Materialität und Authentizität in Erinnerungskulturen, in: Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hrsg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016, S. 153–169. 18 Vgl. Jannelli, Angela: Wilde Museen. Zur Museologie des Amateurmuseums, Bielefeld 2012. Speziell zum Bergbau vgl. Siemer, Stefan: Taubenuhr und Abbauhammer. Erinnerungsobjekte in Bergbausammlungen des Ruhrgebiets, in: Eser, Thomas u. a. (Hrsg.): Authentisierung im Museum. Ein Werkstatt-Bericht, Mainz 2017, S. 33–44. 19 An dieser Stelle sei Dr. Torsten Meyer, dessen Kommentar zur Tagung in diese Zusammenfassung mit eingeflossen ist, herzlich gedankt.
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Partnermuseen und andererseits von neuen Forschungsansätzen zu profitieren. Zugleich bilanzierte die Tagung das inzwischen abgeschlossene Projekt „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung. Aufbau eines Informationszentrums für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus“, das mit Unterstützung der RAG-Stiftung im montan.dok Daten zu deutschen Bergbausammlungen erfasst und neue Standards bei der Dokumentation und Erfassung von Sammlungsobjekten zum Bergbau entwickelt hat.20 Die im vorliegenden Band dokumentierten Beiträge beschäftigen sich im ersten Teil mit dem Bergbauerbe aus historischer und systematischer Perspektive und fokussieren dabei speziell auf die Bedingungen am montan.dok des DBM. So erläutert Michael Farrenkopf zu Beginn die gegenwärtige Sammlungsstrategie des montan.dok in historischer Herleitung. So war das 1930 gegründete Bochumer Museum in den ersten Jahren vornehmlich an der Überlieferung von Bergbautechnik interessiert und öffnete sich jedoch spätestens in den 1970erJahren hin zu einem kulturgeschichtlichen Verständnis des Bergbaus bzw. des Montanwesens. Zudem wurde mit der Gründung des Bergbau-Archivs Bochum im Jahr 1969 als dem ersten überregionalen Branchenarchiv der Bundesrepublik beim DBM der Sammlungsauftrag auf alle heute gängigen Bereiche der Dokumentation bergbaugeschichtlicher Quellen erweitert. Die Gründung des montan.dok war 2001 ein konsequenter Schritt, erstmals ein übergreifendes und integriertes Sammlungsmanagement innerhalb des DBM anzustreben und zu implementieren. In seinem nachfolgenden Beitrag rückt Stefan Siemer aus der Gegenperspektive die Gedächtnislandschaft des deutschen Steinkohlenbergbaus in den Fokus. Er untersucht die zahlreichen aus privater Initiative heraus entstandenen Sammlungen in Deutschland, die im Projekt „montan.dok 21“ zentral erfasst und beschrieben wurden. Bei ihnen handelt es sich zumeist um lokale Gedächtnissammlungen, die zugleich ein fester Bezug zu einer übergeordneten Bergbaulandschaft bzw. zu einem Kohlerevier charakterisiert. Michael Ganzelewski beschreibt hingegen konkret die Bedingungen, unter denen die Sammlungen des DBM heute geführt werden. Hierzu gehört eine Neuorientierung der wissenschaftlichen Objektdokumentation ebenso, wie eine grundsätzliche Gesamtbewertung der Sammlungen im Strategieprozess „DBM 2020“. Damit wird nicht nur eine bestehende Forschungsinfrastruktur erheblich aufgewertet, sondern es werden auch Voraussetzungen geschaffen, Objekte des Bergbaus systematisch zu bewahren, um diese sowohl für eine Erinnerungskultur als auch für Forschungen an und mit Objekten zur Verfügung stellen zu können. Dass diese Neuausrichtung zu einem neuen Umgang mit den Sammlungsobjek20 Vgl. Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (im Erscheinen).
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ten führt, wird im Beitrag von Claus Werner deutlich, der sich mit der Überarbeitung der Sammlungssystematik und des Objektnamenthesaurus am DBM befasst. Beide sollen sowohl die Dokumentation der Musealen Sammlungen des DBM als auch die Erschließung anderer Sammlungen zum Steinkohlenbergbau unterstützen. Der nachfolgende zweite Teil wirft einen Blick auf die Sammlungen der Anderen und einen jeweils unterschiedlichen Umgang mit dem Bergbauerbe. Offenkundig sind hier die grundlegenden Unterschiede zwischen ehrenamtlich von Traditionsvereinen betreuten Sammlungen und jenen von (professionellen) Bergbaumuseen. Dies stellt nicht nur etablierte und erprobte Sammlungsstrategien zur Diskussion, vielmehr deutet sich an, dass die beiden erwähnten Akteure für die Präsentation ihrer Sammlungen unterschiedliche, partiell neue Narrative konzipieren und umsetzen müssen. Museales Sammeln und Präsentieren prägt ein Verständnis als „Gedächtnisspeicher“ des Bergbaues, Sammeln und Präsentieren wird im Zeitalter des Nachbergbaus zwar zum erinnerungskulturellen Akt, zugleich jedoch verliert das (professionelle) Museum seinen Status als Erinnerungsort. Diesen Status reklamieren die ehrenamtlichen Sammlungen, die als Erinnerungsorte eine stetig wachsende Relevanz für die Ausprägung neuer lokaler Identitäten gewinnen. Thomas Schürmann gibt zu Beginn einen Überblick über die Bergbaumuseen und Schaubergwerke im deutschsprachigen Raum, die auf einer von ihm durchgeführten Umfrage von ca. 220 Besuchereinrichtungen basiert. Einen Nahblick auf die Sammlungen des 1979 gegründeten LWL-Industriemuseums im Kontext seiner Bergbau-Standorte Zeche Zollern in Dortmund, Zeche Hannover in Bochum und Zeche Nachtigall in Witten werfen Olge Dommer und Dagmar Kift. Zwar konnte in der Phase der Museumsgründung Originalinventar der Zechen nur in begrenztem Umfang sichergestellt werden, doch führte der Gründungsauftrag, die Kultur des Industriezeitalters darzustellen, dazu, dass im Laufe der Zeit umfangreiche Sammlungen zum Thema entstanden. Inhaltliche Vorgaben sind hier die Anfänge des Ruhrbergbaus (Zeche Nachtigall), die Sozialund Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert (Zeche Zollern) und Migration (Zeche Hannover). Aber nicht nur in Westdeutschland führte das Interesse am Erhalt des Bergbauerbes zur Errichtung von Museen am historischen Standort. Jan Färber porträtiert das Sächsische Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, das als Vorzeigeprojekt zum Erhalt des industriellen Erbes der DDR bereits in den späten 1960er-Jahren projektiert und dann nach einer langen Sanierungsphase 1986 in den denkmalgeschützten übertägigen Gebäuden des früheren Kaiserin-AugustaSchachtes eröffnet wurde. Das in die Jahre gekommene Gebäudeensemble soll bis 2023 umfassend saniert und mit einer neuen Dauerausstellung präsentiert werden.
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Beim Erhalt des Bergbauerbes stehen allerdings nicht allein die öffentlichen Museen in der Verantwortung. Wolfgang Imbsweiler stellt das Saarländische Bergbaumuseum Bexbach vor, das 1934 als Städtisches Museum gegründet zu den ältesten Bergbaumuseen Deutschlands zählt. Als sich 1993 die Stadt aus der Förderung zurückzog, ging es in die Trägerschaft des Vereins „Saarländisches Bergbaumuseum Bexbach e. V.“ über. Auch die von der Fördergemeinschaft für Bergmannstradition e. V. in Kamp-Lintfort eingerichtete Sammlung zur Bergbaugeschichte des linken Niederrheins beruht ausschließlich auf ehrenamtlichem Engagement. Manfred Reis stellt die Arbeit des Vereins vor und gibt einen Ausblick in die Zukunft. Das Gelände des ehemaligen Bergwerks West in KampLintfort wird 2020 Teil der Landesgartenschau, wobei u. a. auch der Verein an der musealen Erschließung des Geländes beteiligt ist. Ins Herz des Ruhrbergbaus führt die Sammlung des Initiativkreises Bergwerk Consolidation e. V. in Gelsenkirchen, die im ehemaligen Maschinenhaus der Zeche Aufstellung gefunden hat. Für Martin Gernhardt besteht die Aufgabe des Vereins neben dem Erhalt der historischen Dampffördermaschine und der Sammlungen insbesondere in der Erschließung des „Aktenberges“ von vielen Hundert Ordnern des Übertagebetriebs sowie historischer Fotografien. Die Reihe der Bergbausammlungen und -Museen beschließt das Bergbaumuseum Ibbenbüren, das Christian Israël und Thomas Schürmann vorstellen. Es wurde in den 1980er-Jahren von Mitarbeitern des dortigen Bergwerks gegründet und verstand sich dabei, auch über seinen Standort in einem ehemaligen Kraftwerksbau auf dem Zechengelände, stets als Firmenmuseum. Mit dem Auslaufen des deutschen Steinkohlenbergbaus 2018 ist dessen Zukunft allerdings in Frage gestellt. Die Konservierung und Restaurierung von Objekten des Bergbaus thematisiert der dritte Teil. Kornelius Götz beschäftigt sich mit dem Erhalt der materiellen Hinterlassenschaften des Bergbaus als wichtigen Zeugnissen vergangener Lebens- und Arbeitswelten. Anhand von konkreten Beispielen der Zeche Zollverein in Essen, der Völklinger Hütte und dem Musée Les Mineurs Wendel zeigt er die Festlegung konkreter Konservierungs- und Restaurierungsziele als unabdingbare Notwendigkeit. Dies nicht zuletzt auch als Ergebnis einer Aushandlung mit den Anwohnern industriekultureller Denkmäler, die in den Prozess der Restaurierung miteinbezogen werden müssen. Einblicke in die Forschung an Bergbauobjekten aus materialkundlicher Sicht gewähren Elena Gómez-Sánchez und Simon Kunz, die sich aus einem laufenden Projekt heraus mit den Risiken und Chancen des Materials Kunststoff in Museen beschäftigen. Auf Grund unterschiedlicher chemischer Strukturen unterscheiden sich die Beständigkeit der verschiedenen Kunststoffe auch gegenüber den unterschiedlichen Parametern wie Luftfeuchte oder Raumtemperatur. Für den längerfristigen Erhalt von Muse-
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umsobjekten mit Kunststoffanteil ist daher eine genaue Analyse der jeweiligen Zusammensetzung notwendig. Den analogen Objekten ein digitales Zuhause zu geben, steht auf der musealen Agenda an vorderer Stelle. Die Digitalisierung weist insofern einen problematischen und diskutablen Charakter auf, als sie nicht nur ein Prozess der Informationsgewinnung ist, sondern auch Inszenierungen neuer Qualität erlaubt: 3-D basiert sowohl auf erkenntnisförderndem re-engineering als auch auf der Komposition virtueller Welten. Auf musealer Ebene wird daher zu klären sein, ob die Technologie ein „oder“- oder „und“-Ansatz ist. Ganz offensichtlich aber bildet die Digitalisierung eine epistemologische Herausforderung für alle beteiligten Akteure. So beschäftigt sich Frank von Hagel im vierten Teil „Vernetzung und Digitalisierung“ mit den Chancen und Möglichkeiten der Bereitstellung von Informationen im Netz. Eine Digitalisierung muss jedoch über eine reine Erfassung von Grunddaten hinausgehen und die Objekte nach Möglichkeit umfassend dokumentieren. Umgekehrt eröffnen sich über die Bereitstellung im Netz Möglichkeiten der Partizipation und der Interaktion mit den Nutzerinnen und Nutzern sowie die Vernetzung mit weltweiten Ressourcen in das eigene Online-Angebot. Am Beispiel des am montan.dok entwickelten Webportals www.bergbau-sammlungen.de diskutieren Wiebke Büsch und Stefan Przigoda die für das Jahr 2018 vorliegenden Nutzerstatistiken und leiten daraus konkrete Szenarien zur Weiterentwicklung ab. Die Webseite stellt sich insgesamt als Work-in-Progress dar und reagiert auf die aus Umfragen und Statistiken abgeleiteten Nutzerinteressen. Der abschließende fünfte Teil des Bandes greift die eingangs skizzierten recht unterschiedlichen Perspektiven der Forschung (nicht nur) an Objekten des Bergbaus auf. Zu Beginn beschreibt Jochen Hennig das Konzept eines Objektlabors für die Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Frage nach der Forschung mit Objekten und über Objekte führt zu der Überlegung nach einer richtigen Gestaltung von entsprechenden Forschungsinfrastrukturen. Als Schnittstelle zwischen Labor und Sammlung hebt der Beitrag zugleich auf den besonderen Status von Universitätssammlungen ab. Die hier bewahrten Objekte sind im Sinne Krzystof Pomians nicht als dem Gebrauch entzogene Semiophoren zu begreifen, sondern werden vielmehr immer noch in Forschung und Lehre genutzt und dort „verbraucht“. Stefan Schulz stellt in seinem Beitrag die grundsätzliche Frage, was ein Objekt eigentlich als Bergbauobjekt qualifiziert. Er verdeutlicht dies am Beispiel eines Bluttransfusionsgerätes aus Kunstbernstein, das in den 1930er-Jahren zunächst Teil medizinischer Forschung war und sich später bei der Notfallversorgung von Bergleuten bewährte. Dass Objekte in diesem Fall nur über bestimmte historisch herzuleitende Kontexte verständlich werden, macht ihren Status als
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historische Quelle jedoch zugleich fragwürdig. Hans Peter Hahn greift in seinem Beitrag den (historischen) Gegensatz von materieller Kultur und textbasiertem Wissen auf und stellt die Frage nach der Bedeutung daraus abgeleiteter Narrative für die historische Forschung. Anders als schriftliche Quellen lassen sich Artefakte nicht zum Sprechen bringen, sondern tragen die Spuren oft sehr unterschiedlicher und antagonistischer Akteure in sich. Er plädiert für eine Offenheit in der Objektbetrachtung sowie für einen multiplen Charakter von Dingen, ihrer Bedeutungen und Nutzungen. Eine dieser den Objekten zugewiesenen Bedeutungsebenen ist diejenige der Authentizität. Darauf verweist der Beitrag von Achim Saupe, der die Strategien der Authentifizierung im Steinkohlenbergbau aus drei verschiedenen Blickrichtungen verdeutlicht. So steht der Kumpel-Mythos des Ruhrgebiets für einen personalen Aspekt von Authentizität, die Waschkaue als reinszenierter Ort einer Begegnung von Über- und Untertagewelt und schließlich die Keilhaue als Ur-Arbeitsgerät des Bergmanns für eine materielle Authentifizierung der Bergbaugeschichte. Die Materialität der Objekte und damit ihre Relevanz als Forschungsgegenstand entsteht damit primär über ihre Wahrnehmung und den intersubjektiven Austausch über sie. Andreas Ludwig verweist abschließend erneut auf den Prozess der Musealisierung des Bergbaus, der in einer Engführung von Erinnerung und materieller Überlieferung zu Entstehung von Erinnerungslandschaften führt. Er schlägt dabei den Bogen von der fotografischen Dokumentation der Lebenswelt im Ruhrgebiet der späten 1970erund frühen 1980er-Jahre hin zu einer „Erinnerungslandschaft DDR“, die in den museal überlieferten Alltagsdingen lesbar wird.
Historische und systematische Perspektiven
Michael Farrenkopf
Das materielle Kulturerbe des Steinkohlenbergbaus – Strategien aus der Sicht des Deutschen BergbauMuseums Bochum Einleitung Gemäß dem geltenden Steinkohlefinanzierungsgesetz hat der subventionierte deutsche Steinkohlenbergbau Ende 2018 endgültig die Steinkohlenförderung eingestellt. Bis dahin wurde seit Ende 2015 Steinkohle in Deutschland nur noch auf den Bergwerken Prosper-Haniel in Bottrop sowie Anthrazit Ibbenbüren an der Grenze zu Niedersachsen gefördert.1 Innerhalb des Ruhrgebiets war das Bergwerk Prosper-Haniel das letzte von einst mehreren 100 Schachtanlagen allein in dieser für den deutschen Steinkohlenbergbau historisch wichtigsten Montanregion (Abb. 1).2 Aus einer primär wirtschaftlichen Sicht markiert die gesetzlich fixierte Beendigung des deutschen Steinkohlenbergbaus ohne Zweifel eine historische Zäsur. Es ging damit eine jahrhundertelange ökonomische Wertschöpfung eines zentralen heimischen Energierohstoffes zu Ende. Es lässt sich aber fragen, wie wirkmächtig diese Zäsur aus einer gesellschaftlichen Perspektive tatsächlich ist.3
1 Vgl. Gawehn, Gunnar: Im tiefen Norden. Die Geschichte des Steinkohlenbergbaus in Ibbenbüren, Münster 2018 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 228; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 33). 2 Vgl. Böse, Christian/Farrenkopf, Michael/Weindl, Andrea: Kohle – Koks – Öl. Die Geschichte des Bergwerks Prosper-Haniel, Münster 2018 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 229; = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 34). 3 Vgl. Farrenkopf, Michael: Das Ende der deutschen Steinkohlenförderung: Eine historische Zäsur?, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 2/2016, S. 9–12. https://doi.org/10.1515/9783110683097-002
14 Michael Farrenkopf
Abb. 1: Das Bergwerk Prosper-Haniel am Tag der feierlichen Beendigung des deutschen Steinkohlenbergbaus, 21. Dezember 2018.
Mit den komplexen, aufeinander bezogenen Vertragswerken rund um das geltende Steinkohlefinanzierungsgesetz sind einerseits die Grundlagen für einen verantwortungsvollen Umgang mit den so genannten Ewigkeitslasten des deutschen Steinkohlenbergbaus etabliert worden. In diesem Zusammenhang ergeben sich nicht nur unternehmerische Kontinuitäten über 2018 hinaus, denn zur Wasserhaltung müssen langfristig Schächte und bergbauliche Infrastrukturen aufrechterhalten werden.4 Andererseits steht der Auslauf der Steinkohlengewinnung am Ende eines in den späten 1950er-Jahren begonnenen langfristigen sozialpolitischen Anpassungsprozesses in der Bundesrepublik. Damit konnte die fortgesetzte Verminderung der Förder- und Belegschaftskapazitäten im Allgemeinen sozialverträglich bewältigt werden.5
4 Vgl. Hagen, Gunter/Hager, Stefan: RAG post – 2022/Die RAG ab dem Jahr 2022, in: Mining Report Glückauf 154, 2018, S. 547–559. 5 Vgl. Farrenkopf, Michael: Wiederaufstieg und Niedergang des Bergbaus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ziegler, Dieter (Hrsg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013 (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), S. 183–302.
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Die Gründung der Ruhrkohle AG Ende der 1960er-Jahre als zentrales und einheitliches Unternehmen ist ein wesentlicher Bestandteil nicht nur für einen ökonomisch und sozialpolitisch geordneten Schrumpfungsprozess gewesen; sie hat auch den notwendigen Strukturwandel des Ruhrgebiets wesentlich mitgestaltet. Bezogen auf den strukturellen Wandel lässt sich konstatieren, dass das kollektive Gedächtnis jüngerer Generationen in den einst förderstärksten deutschen Steinkohlenrevieren Ruhr, Saar und Aachen inzwischen wesentlich mehr von den bergbaulichen Hinterlassenschaften als von der konkret auf die bergmännische Arbeit bezogenen Alltagskultur geprägt ist. Gleiches gilt ohne Zweifel auch für den sächsischen Steinkohlenbergbau, obgleich dessen Degression bis zur endgültigen Einstellung unter den systemischen Bedingungen der DDR sowohl in Relation zur dort anteilig wesentlich bedeutenderen Braunkohle als auch im Hinblick auf ein kommunistisch determiniertes Geschichtsverständnis spezifische Züge trägt. Letztlich hat aber all das, was wir als historisches Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus bezeichnen können, in sehr unterschiedlichen Formen und Ausprägungen bereits längst Gestalt angenommen, seien sie materieller oder immaterieller Natur. Das montanhistorische Erbe ist vor allem von materiellen Hinterlassenschaften der Montanindustrie geprägt. Sie sind überaus disparat und unterliegen auf mannigfachen Wegen einer kulturellen In-Wert-Setzung. Die in Deutschland gemeinhin unter dem Begriff der Industriekultur subsumierten Vorgänge sind nicht zuletzt in ehemaligen Montanregionen besonders prominent.6 Allein im Ruhrgebiet existieren heute zahlreiche Archive, Bibliotheken, Museen, Hochschulen, Institute, Vereinigungen, Verbände und Initiativen, die sich jeweils in unterschiedlicher Betonung sowohl der Bewahrung als auch der Erforschung und Vermittlung von materiellen Zeugnissen des Bergbaus widmen. Dies ist selbst eine inzwischen historisch gewordene Konsequenz des unvermeidlichen Wandels der einst monoindustriell geprägten Region. Das bedeutet aber auch, dass zahlreiche institutionelle wie informelle Modi etabliert sind, die das gesellschaftliche „Gedächtnis“ des deutschen Steinkohlenbergbaus bereits so weit prägen, dass der endgültigen Beendigung der Steinkohlenförderung vielleicht nur im Umfeld der zuletzt noch aktiven Standorte der Charakter einer Zäsur im eigentlichen Sinne zukommt.7
6 Vgl. Berger, Stefan: Industriekultur und Strukturwandel in deutschen Bergbauregionen nach 1945, in: Ziegler, Dieter (Hrsg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013 (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), S. 571–602. 7 Vgl. Farrenkopf, Michael: Übersehene Vielfalt, in: Farrenkopf, Michael u. a.: Die Stadt der Städte. Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche, Essen 2019, S. 165-180.
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Dennoch ist vor allem innerhalb des aktiven deutschen Steinkohlenbergbaus erst in den letzten Jahren nochmal ein besonderes Bewusstsein dafür geweckt worden, das reale Ende des produktiven Steinkohlenbergbaus im Sinne der Sicherung des eigenen historischen Erbes über die bereits etablierten Strukturen hinaus aktiv gestalten zu wollen. Dieses Bewusstsein konnte innerhalb der RAG Aktiengesellschaft erst in den letzten Jahren in stärkerem Maße Platz greifen, weil erst Ende 2010 im Kompromiss mit der EU ein endgültiges sozialverträgliches Auslaufen des deutschen Steinkohlenbergbaus bis Ende 2018 sichergestellt werden konnte. Bis dahin war der Erhalt eines Sockel- oder Referenzbergbaus auch über 2018 hinaus keineswegs gänzlich ausgeschlossen. Seit 2011 ist sowohl der Branche als auch dem heterogenen kulturellen Umfeld eindringlicher in das Bewusstsein getreten, dass ein endgültiges Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus Konsequenzen haben wird, die über rein lokal und regional bedeutsame Einschnitte hinausreichen. So wird beispielsweise mit der Aufgabe der produktiven Gewinnung endgültig der Aufschluss von Steinkohlenflözen beendet sein, die jahrhundertelang auch die unverzichtbare Grundlage für geowissenschaftliche Sammlungen und entsprechende Forschungen gewesen sind. Folgt man mit guten Gründen dem Argument, dass eine historische Auseinandersetzung mit vom Steinkohlenbergbau geprägten Regionen nicht nur deren industrielle Zeiträume abdecken kann, erhalten die in diversen Museen und Hochschulen im Ruhrgebiet verwahrten geowissenschaftlichen Sammlungen einen noch stärker exklusiven Status als sie ihn ohnehin schon besitzen (Abb. 2).8
8 Vgl. Ganzelewski, Michael: Die Bochumer Fährtenfunde. Highlights der Geowissenschaftlichen Sammlung des montan.dok, in: montan.dok-news 2, 2016, Heft 1, S. 6; Ganzelewski, Michael: GeoPark Ruhrgebiet: Geology and Museum, in: Mügge-Bartolovic, Vera/Röhling, H.-G./ Wrede, Volker (Hrsg.): Geotop 2010 – Geosites for the public – Paleontology and Conservation of Geosites. 14. Internationale Jahrestagung der Fachsektion GeoTop in der Deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften and 6th International Symposium on Conservation of Geological Heritage, 29.05.2010–02.06.2010 in Hagen (Westf.), Germany, 2010 (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften, Bd. 66), S. 40–41.
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Abb. 2: Geowissenschaftliche Sammlungen im montan.dok des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, 01. August 2013.
Endgültig verschlossen wird aber vor allem die untertägige Welt als solche sein. Dies gilt in Bezug auf den Ort der sensitiven Erfahrung von spezifischen atmosphärischen Gegebenheiten als auch als Hort materieller authentischer Überlieferung. Das subjektive Empfinden, die rationale Reflexion und nicht zuletzt auch organisatorische und finanzielle Erfordernisse zur Restrukturierung der mit der Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des historischen Erbes des deutschen Steinkohlenbergbaus verbundenen Institutionen geben der Endlichkeit deutscher Steinkohlenproduktion tatsächlich den Charakter eines tiefgreifenden, epochalen Einschnitts.
Historische Gesichtspunkte zur Musealisierung des Themas Bergbau in Deutschland Nach der Betrachtung der Rahmenbedingungen soll die Frage beleuchtet werden, was diese für den Charakter und die aktuellen Strategien von Bergbaumuseen in Deutschland bedeuten. Natürlich gibt es Beispiele für unterschiedliche
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Formen der Musealisierung von Bergbau in Deutschland bereits für das 19. Jahrhundert. Doch erst mit der Gründung des Deutschen Museums in München zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielten diese eine neue Dimension. Das lag nicht zuletzt an der erstmaligen Einrichtung eines musealen Schaubergwerks.9 Eingebunden in die Technikeuphorie des Wilhelminischen Kaiserreichs huldigte man hier den „Meisterwerken der Technik“. Das von Oskar von Miller in München 1903 gegründete Museum wurde so zum Vorbild zahlreicher nationaler Technikmuseen vorerst in Europa, die, abgesehen von England und Frankreich mit noch älteren Vorbildern, mit ähnlichen Einrichtungen bis in die 1930er-Jahre nachzogen und gleichfalls den Bergbau thematisierten. Das wiederum korrespondierte inhaltlich mit der hohen ökonomischen Bedeutung, die gerade der Steinkohlenbergbau auch in diesen Ländern zu jener Zeit besaß.
Abb. 3: Ausstellungshalle Bohrtechnik im Geschichtlichen Bergbau-Museum Bochum, 1932.
Erst 1930 wurde schließlich auch im Ruhrgebiet ein eigenes Bergbaumuseum gegründet. Anfangs orientierte es sich nahezu vollständig an den Konzepten, wie
9 Vgl. Freymann, Klaus: Bergbau auf der Kohleninsel. Zur Entstehung des Anschauungsbergwerks, in: Füßl, Wilhelm/Trischler, Helmuth (Hrsg.): Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen, München 2003, S. 289–322.
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sie für die nationalen Technikmuseen etabliert worden waren.10 Entscheidend war dabei sicher auch, dass sich neben der Stadt Bochum vor allem die Bergbauindustrie als Träger der Institution engagierte. Die erste Phase des Museums, welche die Jahre des Nationalsozialismus in Deutschland umschließt, war von einer aktionistischen Einrichtung als Konsequenz des Gründungsauftrages geprägt.11 Die ersten Hallen, die man ab 1930 einrichtete, behandelten das Grubengeleucht, die Bohrarbeit (Abb. 3) und die Kokereitechnik. Darin spiegelte sich der zeitgenössische Anspruch, die Leistungsfähigkeit des deutschen Bergbaus in den 1930er-Jahren gerade dadurch publikumswirksam zu untermauern, dass man fachsystematisch angelegte Objektreihungen anstrebte. Letztlich ging es darum, möglichst alle wesentlichen Stufen bzw. „Meilensteine“ eines bergtechnischen Spezialgebietes nicht allein sammelnd zu erfassen, sondern auch möglichst vollständig auszustellen. Dabei muss festgehalten werden, dass sich die erfolgreiche Gründung des Bochumer Bergbau-Museums letztlich sowohl der kurzen Phase der ökonomischen Entspannung des Ruhrbergbaus in den Jahren 1927/28 als auch dem Umstand verdankte, dass relativ schnell auch ohne formelle vertragliche Grundlage pragmatische Schritte der Umsetzung vollzogen wurden. Als der Gründungsvertrag nach einjährigen Verhandlungen rückwirkend zum Frühjahr 1930 in Kraft gesetzt wurde, befand sich der Ruhrbergbau bereits in der Wirtschaftskrise mit drastischen Auswirkungen auf die gesamte Branche. Olaf Hartung hat in seiner Dissertation über die Museen des Industrialismus nachgewiesen, dass sich erst parallel zum Rationalisierungsprozess des Steinkohlenbergbaus in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zahlreiche Unternehmensvertreter für die Museumsidee begeistern konnten, da sie an deren unternehmerisches Verständnis als „Modernisierer“ anschlussfähig war.12 Tatsächlich verhinderte der etappenmäßige Einzug der bereits seit den 1860er-Jahren bei der Westfälischen Berggewerkschaftskasse bestehenden Sammlungen in das neue Museum, das vorerst aus den Hallen des vormaligen
10 Vgl. Heise, [Fritz]: Das Geschichtliche Bergbau-Museum der Westfälischen Berggewerkschaftskasse und der Stadt Bochum, in: Heise, [Fritz]/Winkelmann, [Heinrich]: Das Geschichtliche Bergbau-Museum, [Bochum 1931]. 11 Vgl. Farrenkopf, Michael: „Entwicklung der Industrie in geschlossener Darstellung“ – Zur Gründung des Bochumer Bergbau-Museums im Jahr 1930 als späterem Leibniz-Forschungsmuseum, in: Adamski, Jens u. a. (Hrsg.): Forschung, Kultur und Bildung. Wissenschaft im Ruhrgebiet zwischen Hochindustrialisierung und Wissensgesellschaft (= Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Bd. 22), Essen 2021 (im Erscheinen). 12 Vgl. Hartung, Olaf: Museen des Industrialismus. Formen bürgerlicher Geschichtskultur am Beispiel des Bayerischen Verkehrsmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 300 ff.
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Bochumer Schlachthofes bestand, die Umsetzung eines eigentlich notwendigen „Masterplans“.13 Eher um die nach so langer Zeit nunmehr tatsächlich gegebene Realisierungschance zur Gründung des Museums unter den herrschenden Bedingungen in keiner Weise zu gefährden, verlegte man sich darauf, allein erste Teilausstellungen in den einzelnen Hallen einzurichten. In den ersten Jahren wurde das Bergbau-Museum somit nicht deduktiv auf der Grundlage einer zuvor entworfenen Gesamtkonzeption, sondern induktiv aus der gegebenen Raumsituation und nach den bisher gesammelten Objektbeständen entwickelt. Diese allein sachthematische Aufgliederung ist dann trotz des Mitte der 1930er-Jahre in Angriff genommenen Neubaus des bis heute existierenden repräsentativen Museumsgebäudes auch für die Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg prägend geblieben. Zudem hat sie im Hinblick auf die Bewahrung materieller Güter des Steinkohlenbergbaus eine sehr ausgereifte und bis heute geltende typologische Sammlungsstruktur im Bereich der Bergtechnik für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum zur Grundlage gemacht.14 Es waren dann nicht zuletzt kulturpolitische Aufgaben im Rahmen von Demokratisierung und Entnazifizierung, die das Bochumer Museum in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Zusammenhang mit seinem bis heute bestehenden Förderverein – der Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau e. V. (VFKK) – wahrnahm, welche die rein technizistische Gründungskonzeption zumindest ansatzweise modifizierte. So sollte das Bergbau-Museum Mitte der 1950er-Jahre auf keinen Fall nur eine den Bergbaufachmann interessierende technische Schau darstellen, sondern auch der Förderung der bergmännischen Kultur und „echter bergbaulicher Besinnung breiter Bevölkerungsschichten“ dienen (Abb. 4). Das in den 1950er-Jahren besonders wichtige Argument der Traditionspflege geriet allerdings schon kurz darauf aus dem Fokus. Man sah sich gezwungen, eine Haltung zu den Auswirkungen der Bergbaukrise zu entwickeln, wobei eine technizistische Erfolgsgeschichte zunehmend Gefahr lief, auch als Mittel der Verschärfung der Krise wahrgenommen werden zu können.15 13 Vgl. Farrenkopf, Michael/Ganzelewski, Michael: Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung. Katalog zur Sonderausstellung. Deutsches Bergbau-Museum Bochum vom 29. Juni 2014 bis 22. Februar 2015, Bochum 2014 (= Kretschmann, Jürgen/Farrenkopf, Michael [Hrsg.]: Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung, Bd. 2). 14 Vgl. Farrenkopf, Michael: Strategien für die Sammlung eines Materiellen Gedächtnisses des modernen Steinkohlenbergbaus, in: Zaun, Jörg/Vincenz, Kirsten (Hrsg.): Zwischen Kellerdepot und Forschungsolymp. Dokumentation der Diskussionspanels der 7. Sammlungstagung vom 17. bis 19. September 2015 an der TU Bergakademie Freiberg und der TU Dresden, Freiberg/ Dresden 2016, S. 17–21. 15 Vgl. Slotta, Rainer: Wiederaufbau und Nachkriegszeit (1946–1962), in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Wer-
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Abb. 4: Die Heilige Barbara übergibt dem ersten Bergmann das Grubenlicht; Szenenfoto aus der Uraufführung des „St.-Barbara-Spiels der Bergleute“ von Erwin Sylvanus, 1955.
Seit den späten 1960er-Jahren setzte innerhalb des Bergbau-Museum deshalb ein tiefgreifender struktureller Wandel ein, der sich auf mehreren Ebenen als Übergang von einem Bergbaumuseum vorrangig regionaler Bedeutung zu einem Forschungsmuseum mit inzwischen internationalem Wirkungsbereich umschreiben lässt. Seinen äußeren Ausweis fand er in der Umbenennung in Deutsches Bergbau-Museum Bochum (DBM) im Jahr 1976 sowie in der Aufnahme in die Forschungsförderung durch Bund und Länder als Einrichtung der einstigen blauen Liste und heutigen Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz (kurz: Leibniz-Gemeinschaft).16 Getragen wurde diese Neuausrichtung durch eine junge Generation hauptamtlich beschäftigter Wissenschaftler, die nicht länger der vorher allein maßgeblichen Sphäre der Bergingenieure entstammten. Auf diesem Wege wurde die den eines Museums, Bd. 1, Bochum 2005, S. 37–43, hier S. 37 ff.; Farrenkopf, Michael: Wie „schwere Arbeit“ ausstellen? Zur Präsentation von Arbeit im Deutschen Bergbau-Museum Bochum, in: Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1/2008, S. 51–61. 16 Vgl. Slotta, Rainer: Mit neuem Profil – Der Weg zum Forschungsmuseum (1962–1977), in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bd. 1, Bochum 2005, S. 44–49, hier: S. 49.
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Bergtechnik nicht länger als allein fortschrittsgebundene Ingenieurleistung, sondern als sozial determinierte Sphäre gesellschaftlichen Handelns wahrgenommen. Daraus resultierte ein systemisches Verständnis von Technikgenese, das an konzeptionelle Fragen der Historiographie und musealen Umsetzung von Arbeit als gesellschaftlichem Phänomen anschlussfähig wurde. Darüber hinaus war die Neuausrichtung des Museums bereits eng mit dem Strukturwandel des Ruhrreviers und den konkreten Auswirkungen der Bergbaukrise verbunden. So war es beispielsweise eine unmittelbare Folge der Gründung der Ruhr-Universität Bochum im Jahr 1965, dass sich die neu berufenen Professoren im Bereich der Geschichtswissenschaften – zu nennen sind insbesondere Wolfgang Köllmann, Albrecht Timm, Rudolf Vierhaus sowie Hans Mommsen – an das Bergbau-Museum wandten, um ihre Forschungen zumindest in Abstimmung oder sogar Kooperation mit dem Museum durchzuführen. Selbstverständlich spielte dabei aus ihrer Sicht der Rückgriff auf einschlägige Quellenbestände eine besondere Rolle. Vor diesem Hintergrund gelang es dem Museum erstmals, mit Dr. Werner Kroker einen hauptamtlichen Historiker zunächst befristet auf Drittmittelbasis für die Erforschung der Bergbaugeschichte am Museum anzustellen.17 Die Gründung des Bergbau-Archivs Bochum als erstem überregionalen Branchenarchiv der Bundesrepublik, das 1970 seine Arbeit im Bergbau-Museum aufnahm, war in diesem Zusammenhang ein weiterer konsequenter Schritt, bei dem sich die Interessen der Bergbau-Industrie und der Wissenschaft trafen. Immerhin drohte auf dem Höhepunkt der Stilllegungswelle von Ruhrzechen in den 1960er-Jahren ein Großteil des nicht archivgesetzlich geschützten Wirtschaftsschriftgutes als gleichsam „schriftliches Gedächtnis“ der Branche für immer verloren zu gehen. Auch das Bergbau-Archiv Bochum wurde 1970 mit einem hauptamtlichen Mitarbeiter besetzt.18 „Wenn die Arbeit ausgeht, kommt sie ins Museum“ und „Arbeit ist nicht darstellbar“ – so lauten zwei im Kern paradoxe Feststellungen, die seit den 1970er-Jahren den Diskurs über die Musealisierung vorrangig industrieller Arbeitsprozesse und Arbeitsverhältnisse in Deutschland bestimmten. Der erste Satz flankierte mehr oder weniger ironisch den Gründungsboom der sich nun 17 Vgl. Farrenkopf, Michael: Das Bergbau-Archiv beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum – Quellen für eine Technikgeschichte des Bergbaus, in: Rasch, Manfred/Bleidick, Dietmar (Hrsg.): Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Essen 2004, S. 39–54, hier: S. 39–41. 18 Vgl. Farrenkopf, Michael: Bergbau-Archiv und montan.dok. Dokumentation, Service und Forschung zur industriellen Montangeschichte, in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum Bochum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bd. 1, Bochum 2005, S. 173–240, hier S. 178 ff.
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programmatisch gegenüber den „klassischen“ Technikmuseen formierenden „Industriemuseen“ bzw. Museen der „Technik und Arbeit“ in den 1970/80erJahren.19 Er war inhaltlich vor allem auf den grundlegenden Wandel im Zuge der Auflösung bzw. Krise traditioneller Industriegesellschaften bezogen. Je weiter die Tertiärisierung der Ökonomie voranschritt, desto mehr verwandelten sich die einstigen Stätten der Arbeit in entfunktionalisierte Industriebrachen ohne wirtschaftlichen Nutzen. Dieser für die klassischen Industrieländer allgemeingültige Prozess korrespondierte mit der von Großbritannien ausgehenden Entwicklung der Industriearchäologie bzw. Industriedenkmalpflege als wissenschaftlicher Disziplin ebenso wie mit der Umnutzung der als Industriedenkmäler deklarierten Standorte zu so genannten Industriemuseen.20 Alles in allem fand die neue Generation der Museen einen gemeinsamen Nenner in der Abgrenzung zu den Technikmuseen älterer Prägung. Zugrunde lag die Auffassung, dass neben der vermeintlich reinen – gemeint war nicht selten unreflektierten – Präsentation technikhistorischer Prozesse auch soziologisch-historische Entwicklungen, städtebauliche Veränderungen, ökonomischer Wandel, ökologische Probleme und nicht zuletzt psychologische, medizinische und kulturelle Folgen veranschaulicht werden müssten.21 Im Vergleich zu den Technikmuseen älterer Prägung galt die Maxime: Weg von der Huldigung technischer Objekte und hin zur technisch-industriell geprägten Kultur. Hinsichtlich der Sicherung des materiellen Bergbauerbes hatte dies innerhalb der Sphäre der professionellen Museen zur Konsequenz, dass sich die Sammlungsstrategien nun noch stärker als zuvor auf im weitesten Sinne kulturelle Belege erweiterten. Analog zum historischen Paradigmenwechsel zu einer anfänglich stark strukturellen Sozialgeschichte fanden nun verstärkt Objekte Eingang in die musealen Sammlungen, die im weitesten Sinne der Alltagskultur des industrialisierten Montanwesens entstammten. Dies gilt auch für die Sammlungen des heutigen DBM (Abb. 5).22 19 Vgl. Krankenhagen, Gernot: Arbeit ist nicht darstellbar – und nun?, in: Engelskirchen, Lutz/Stiftung Zollverein (Hrsg.): Welche Zukunft haben Museen der Arbeit? Tagung zur Darstellung von Geschichte der Arbeit im Museum, Essen 2002, S. 11–20, hier S. 11; zur Genese und inhaltlichen Reflexion des ironisch gemeinten Satzes vgl. insbesondere die Vorbemerkung zu Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hrsg.): Geschichte der Arbeit im Museum, Recklinghausen 1987 (= Beiträge, Informationen, Kommentare, Bd. 5), S. 3–4. 20 Vgl. Albrecht, Helmuth: Nordrhein-Westfalens Industriekultur im Kontext, in: Land Nordrhein-Westfalen u. a. (Hrsg.): Industriekultur 2020. Positionen und Visionen für NordrheinWestfalen, Essen 2014, S. 31–47. 21 Vgl. Commandeur, Beatrix/Gottfried, Claudia/Schmidt, Martin: Industrie- und Technikmuseen. Historisches Lernen mit Zeugnissen der Industrialisierung, Schwalbach/Taunus 2007, S. 23–31. 22 Vgl. www.bergbaumuseum.de/montandok/museale-sammlungen (Stand: 10.06.2020).
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Abb. 5: Objekte der alltagsgeschichtlichen Sammlung des montan.dok, 01. August 2013.
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass mit fortschreitender Bergbaukrise in den ehemaligen Montanregionen und gerade im Umfeld von Zechenstilllegungen seit den 1980er-Jahren in starkem Maße auch Sammlungen entstanden sind, die häufig von ehemaligen Bergleuten betreut werden. Anders als bei Museen in öffentlicher Trägerschaft handelt es sich hierbei oft um Erinnerungssammlungen, in denen die Objekte nicht als systematische Belegstücke einer übergeordneten Geschichte von Technik und Arbeit dienen, sondern als Erinnerungsstücke in einem unmittelbaren Bezug zu ihren sammelnden Besitzern stehen. Fast allen dieser Sammlungen ist der lokale Bezug zu einem ehemaligen Standort oder einem Bergbaurevier gemeinsam, insgesamt sind sie im Verlauf der letzten Jahrzehnte ein qualitativ wie quantitativ bedeutsamer Teil des materiellen Erbes des Bergbaus in Deutschland geworden, ohne dass dies bislang aus verschiedenen Gründen systematisch fassbar gewesen ist. Dies sicher auch deshalb, weil ihr Charakter als Erinnerungssammlung eine an modernen musealen Standards orientierte Dokumentation aus Sicht der Sammelnden weder zwangsläufig nahelegt noch diese unter Ressourcengesichtspunkten überhaupt ermöglicht.23 23 Vgl. Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan: Bergbau sammeln und ausstellen. Historische Objekte und das Bewahren von Erinnerung, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 1/2018, S. 37–41.
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Das montan.dok als sammlungsbezogene Forschungsinfrastruktur eines LeibnizForschungsmuseums Ende der 1990er-Jahre verfügte das DBM aufgrund der geschildeten Entwicklung also seit langem über montanhistorisch relevante Quellen, die mit genuinem Archivgut – und zwar von Schriftgut bis zu audio-visuellen Medien –, Primär- und Sekundärliteratur sowie schließlich musealen Objektsammlungen sämtliche Sparten des Dokumentationswesens abdeckten. Diese wurden über Jahrzehnte mit Rücksicht auf gegebene Unterschiede in den Verwahrstrukturen und Erschließungsroutinen in getrennten Abteilungen geführt. Die stetige Umwidmung zu einem Forschungsmuseum, vor allem aber die seit etwa Mitte der 1990er-Jahre erkennbaren Möglichkeiten der Verklammerung und Harmonisierung der Erschließungsroutinen aller Dokumentationsbereiche mit Hilfe der modernen EDV beförderten seinerzeit erstmals den Bedarf nach einer Strukturreform des gesamten Sammlungsmanagements und Dokumentationswesens innerhalb des DBM.24 Vorwiegend aufgrund dieses Bedarfs und in Verbindung mit klaren Erwartungen an mittelfristig umzusetzende Synergieeffekte wurde deshalb Anfang 2001 das Montanhistorische Dokumentationszentrum – kurz: montan.dok – als organisatorische Klammer von Bergbau-Archiv Bochum, Bibliothek mit angeschlossener Fotothek sowie den Musealen Sammlungen innerhalb des Deutschen Bergbau-Museums Bochum geschaffen. Die Unterstellung unter eine gemeinsame Leitung, die seither in Personalunion vom Leiter des Bergbau-Archivs Bochum wahrgenommen wird, sollte nicht nur eine höhere Transparenz und Abstimmung in der strategischen Ausrichtung des gesamten Sammlungsmanagements und Dokumentationswesens bewirken. Als wichtigste strategische Maßnahme des montan.dok selbst wurde unmittelbar nach der Gründung eine grundlegende Reform der EDV-gestützten Erschließungs- und Verzeichnungsmuster auf Basis einer zu entwickelnden, zentralen Erschließungsdatenbank formuliert. Im Ansatz vergleichbar etwa mit dem damaligen baden-württembergischen BAM-Portal sollte diese allen drei Dokumentationsbereichen des montan.dok unter Wahrung der jeweils spezifischen Anforderungen an archivische, bibliographische sowie objektbezogene Erschlie24 Vgl. Farrenkopf, Michael: Das Montanhistorische Dokumentationszentrum Bochum – Gedächtnis des deutschen Bergbaus, in: Institut für niederrheinische Kulturgeschichte und Regionalentwicklung (Hrsg.): Rhein-Maas. Geschichte, Sprache und Kultur, Bd. 6, Oberhausen 2015, S. 162–171.
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ßungsmuster gerecht werden. Dieses durchaus ambitionierte Leitprojekt wurde auf Basis des Software-Produkts FAUST der Firma Land Software fristgerecht bis zur Evaluierung des Museums im Jahr 2006 umgesetzt und mit einem Online-Rechercheinstrument unter der URL www.montandok.de verbunden.25 Ausgehend von der Beobachtung, dass gerade montanhistorische Forschungen in der jüngsten Zeit neben Literatur und archivalischen Quellen auch auf Zeugnisse des materiellen Erbes zurückgreifen, erwies sich die Möglichkeit einer online-gestützten integrierten Recherche im Gesamtbestand des montan.dok seither geradezu als Schlüssel für einen effektiven Service im Sinne wissenschaftlicher Dienstleistung. Durch das nur ein Jahr später gesetzlich geregelte Auslaufen des subventionierten deutschen Steinkohlenbergbaus bis Ende 2018 war relativ schnell vorhersehbar, sodass sich das Spektrum der bestandssichernden Aufgaben des montan.dok ganz erheblich intensivieren sollte. Um diesen Prozess proaktiv zu gestalten, wurde bereits 2008 zunächst für das Bergbau-Archiv Bochum ein Zukunftskonzept entwickelt, das unter Berücksichtigung archivischer Bewertungsmodelle eine sachgerechte und lückenlose Sicherung schriftlicher und audio-visueller Überlieferungen des aktiven deutschen Steinkohlenbergbaus gewährleisten sollte. In Kooperation zwischen der RAG Aktiengesellschaft und dem montan.dok konnte eine Konzernarchivierungsrichtlinie erarbeitet werden, die seit Inkrafttreten Ende 2009 das Bergbau-Archiv Bochum als so genanntes historisches „Endarchiv“ der RAG Aktiengesellschaft als Einheitsgesellschaft des deutschen Steinkohlenbergbaus bestimmt. Abgeschlossen wurde der Vorgang durch die Unterzeichnung eines geltenden Übertragungsvertrages zwischen der RAG Aktiengesellschaft und der DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung mbH (DMT-LB) als Trägerin des DBM im Sommer 2010. Zwangsläufig und strategisch beabsichtigt sind auf dieser Grundlage die Zugänge von Archivgut in das Bergbau-Archiv Bochum jüngst auf ein Niveau angestiegen, das in etwa mit der jährlichen Übernahmequote des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen korrespondiert (Abb. 6). Selbst unter Berücksichtigung von Sperrfristen hat sich dadurch das archivalische Quellenspektrum derart erweitert, dass für eine Montangeschichtsforschung insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts unter aktuellen Fragestellungen erheblich optimierte Vorausset-
25 Vgl. Przigoda, Stefan: Quellenerschließung für die Montangeschichte. Ein Werkstattbericht aus dem Montanhistorischen Dokumentationszentrum, in: Burckhardt, Daniel u. a. (Hrsg.): Geschichte im Netz: Praxis, Chancen, Visionen. Beiträge der Tagung 2006 (= Historisches Forum, Bd. 10), Teilband 1. Unter: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/18475 (Stand: 20.02.2019); Przigoda, Stefan: FAUST im Montanhistorischen Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum, in: Museum aktuell, Ausgabe Mai 2008, S. 22–24.
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zungen bestehen.26 Dies setzt allerdings auch weiterhin die Schaffung von personellen Ressourcen für eine Erschließung der gesicherten Quellenbestände als Vorbedingung ihrer Nutzung für Forschungszwecke voraus.
Abb. 6: Übernahme von Akten der RAG Aktiengesellschaft in das Bergbau-Archiv Bochum, 17. Juli 2013.
Im Sinne eines aktiven Ansatzes zur gezielten Sammlung von Archivgut aus dem Bergbau, der über die Sparte des Steinkohlenbergbaus hinausreicht, bringt sich das montan.dok bereits seit 2005 in hohem Maße in das vom Arbeitskreis Archive der Leibniz-Gemeinschaft vorangetriebene Konzept des „Sammelns im Verbund“ ein.27 Auf der Basis einer abgestimmten nationalen Sammlungspolitik sollen dabei gezielt Bestände eingeworben und genau den Einrichtungen zugewiesen werden, die auf ihrem Spezialgebiet über das anerkannt größte Know26 Vgl. Farrenkopf, Michael: Das Montanhistorische Dokumentationszentrum in Bochum: Quellen, Forschung und Service für die Montangeschichte in der „Nachbergbauzeit“, in: Garner, Jennifer/Plewnia, Karsten/Zeiler, Manuel (Hrsg.): 20. Internationaler Bergbau- und Montanhistorik-Workshop, Zeche Zollern/Ruhrgebiet 2017, Clausthal-Zellerfeld 2017, S. 124–133. 27 Vgl. Füßl, Wilhelm: Sammeln im Verbund – eine Strategie für die Zukunft, in: Füßl, Wilhelm/Farrenkopf, Michael/Reimers, Bettina Irina (Red.): Kultur bewahren. Die Archive der Leibniz-Gemeinschaft, hrsg. v. Arbeitskreis Archive der Leibniz-Gemeinschaft, München 2018, S. 16 f.
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how verfügen. Für das als nationales Branchenarchiv gegründete und entsprechend etablierte Bergbau-Archiv Bochum kann dieser Anspruch schon heute reklamiert werden. Parallel zu dem strategischen Vorgehen im Bereich des Archivwesens begann das montan.dok intensiv daran zu arbeiten, auch für die dinglich-materiellen Hinterlassenschaften des deutschen Steinkohlenbergbaus in enger Abstimmung mit der RAG Aktiengesellschaft ein vertraglich fixiertes, strategisch bestimmtes Vorgehen zu etablieren. Das von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz im Juni 2012 verabschiedete Bund-Länder-Eckpunktepapier zu den Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft,28 wonach deren Sammlungen als Basis der außeruniversitären Forschung als Infrastruktur gestärkt und in ihrem Leistungsspektrum noch besser für Forschende aus aller Welt nutzbar gemacht werden sollen, konnte in diesem Zusammenhang nur befördernd wirken. Im Kern ging es dabei darum, die bereits bestehenden umfangreichen, innerhalb der Musealen Sammlungen verwalteten Objektbestände sinnvoll zu arrondieren. Da der moderne deutsche Steinkohlenbergbau durch die Anwendung von Großtechnik charakterisiert ist, waren hierfür unter logistischen und infrastrukturellen Gesichtspunkten innovative Lösungen zu entwickeln, die einer Sammlung und Bewahrung unter modernen musealen Standards verpflichtet sind. Mittelfristig wird sich auf diesem Wege der Umfang der Musealen Sammlungen des DBM gleichfalls binnen kurzer Frist erheblich erweitern und insofern die Grundlagen für eine sammlungsbasierte Forschung an einem Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft signifikant stärken.29
Das Ende des Steinkohlenbergbaus und seine Konsequenzen Bereits im Vorfeld der letzten Evaluierung des DBM im Jahr 2014 hat deshalb eine kritische Betrachtung der bis zu diesem Zeitpunkt verfolgten Sammlungsstrategie stattgefunden, und als Konsequenz wurde eine Neuausrichtung des Sammlungskonzeptes vereinbart. Innerhalb der Musealen Sammlungen wurden die Bereiche mit Alleinstellungsmerkmal im nationalen und teils auch interna28 Online unter: www.bmbf.de/files/Bund-Laender-Eckpunktepapier-ForschungsmuseenLeibniz.pdf (Stand: 13.01.2019). 29 Vgl. Trischler, Helmuth: Das Forschungsmuseum – Ein Essay über die Position und Bedeutung forschungsorientierter Museen in der Wissensgesellschaft, in: Brüggerhoff, Stefan/Farrenkopf, Michael/Geerlings, Wilhelm (Hrsg.): Montan- und Industriegeschichte. Dokumentation und Forschung, Industriearchäologie und Museum, Paderborn u. a. 2006, S. 587–604.
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tionalen Spektrum ermittelt und ihnen eine aktive Rolle für die zukünftige Sammlungstätigkeit im DBM zugewiesen. Dabei handelt es sich im Besonderen um die gesamte Objektebene der Bergtechnik sowie die Ebene der ständischbürgerlichen und sakral-transzendentalen Objekte (Abb. 7). In diesen Segmenten ist folglich eine bergbauspartenübergreifende Erweiterung der Sammlungsinhalte sowie eine Intensivierung des Sammlungsmanagement strategisch festgeschrieben worden.30
Abb. 7: Gemälde als Teil der ständisch-bürgerlichen Ebene in den Musealen Sammlungen des montan.dok, 01. August 2013.
Andere Bereiche – wie etwa die Objekte aus der alltagsgeschichtlichen Sphäre sowie die geowissenschaftlichen Sammlungen – wurden mit Blick auf die Sammlungsstrategien in anderen Museen zu passiven Sammlungsbereichen erklärt. Lediglich der vorhandene Objektbestand in diesen Bereichen soll zukünftig gesichert, dabei aber im Rahmen der Forschungsinfrastrukturaufgaben des montan.dok qualitativ ertüchtigt werden. Besonders bei Objekten aus der alltagsgeschichtlichen Sphäre ist eine hohe Sammlungskonkurrenz im unmittel30 Vgl. www.leibniz-gemeinschaft.de/fileadmin/user_upload/downloads/Evaluierung/Senatsstellungnahmen/DBM_-_Senatsstellungnahme_27-11-2014_mit_Anlagen.pdf, (Stand: 13.01.2019), S. A-13 f.
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baren und weiteren musealen Umfeld – zu nennen sind hier zumal die Industriemuseen sowie das Essener Ruhr Museum – gegeben. Das DBM bzw. das montan.dok strebt seither eine klare Aufgabenteilung mit den Museen des Umfeldes an. Angesichts der geschilderten, historisch gewachsenen und lange zurückreichenden Sammlungstradition im Bereich der Bergtechnik schließt ein bewusst aktives Sammeln in diesem Segment selbstverständlich auch die moderne Bergbautechnik ein. Der krisenbedingte Anpassungsprozess hat nicht nur zu einem sukzessiven Kapazitätsabbau mit der Stilllegung von Bergwerken geführt. Er ist aufgrund eines kontinuierlichen Zwangs zur Rationalisierung eben auch von einem stetigen Fortschritt im Bereich der bergbaulichen Maschinentechnik geprägt gewesen. Sowohl aufgrund der geologischen Voraussetzungen als auch auf Basis der Mechanisierungsschübe waren bzw. sind die technischen Aggregate in der Regel derart komplex dimensioniert, dass sie mehrheitlich als so genannte Großtechnik zu klassifizieren sind.31 Besagter Übergang zur komplexen Großtechnik hat dazu geführt, dass eine typologischen Kriterien verpflichte aktive Sammlung im DBM bereits seit den 1970er-Jahren an ihre Grenzen stieß und nur sehr defizitär weiter verfolgt werden konnte. Während auf Seiten des Museums wegen des immensen Größenzuwachses der potentiellen Objekte keine adäquaten Depotbedingungen vorhanden waren bzw. geschaffen werden konnten, reduzierte sich aufgrund der häufig im Millionenbereich liegenden Anlagenwerte zugleich die Bereitschaft der Bergbauindustrie, diese als Sammlungsobjekte an das Museum abzugeben. Lediglich in engen Grenzen konnten Kompensationen erreicht werden, indem sehr ausgewählte und unter bestimmten Gesichtspunkten als besonders signifikant eingestufte großtechnische Objekte im Anschauungsbergwerk des DBM eingebaut wurden (Abb. 8). Aufgrund sehr hoher Besucherzahlen und anspruchsvollen klimatischen Verhältnissen sind dort allerdings keine Verwahrbedingungen gegeben, die grundsätzlich modernen Standards einer heutigen präventiven Konservierung entsprechen.
31 Vgl. Bleidick, Dietmar: Bergtechnik im 20. Jahrhundert: Mechanisierung in Abbau und Förderung, in: Ziegler, Dieter (Hrsg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013 (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), S. 355– 411.
Das materielle Kulturerbe des Steinkohlenbergbaus
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Abb. 8: Doppelwalzenschrämlader mit Schildausbau im Anschauungsbergwerk des DBM, 2004.
Die kritische Bestandsanalyse im Vorfeld der letzten Evaluierung des DBM kam somit zu dem Ergebnis, das für die moderne Bergtechnik des Steinkohlenbergbaus ein Verlust dieses materiellen Erbes in Größenordnungen drohte, wie sie auch in den „Selection criteria for recent material of science at universities“ für das materielle Erbe der Wissenschaft an Universitäten geschätzt werden – nämlich in einem Umfang von 80 bis 95 Prozent.32 Diese Situation hat sich erst seit 2013 grundsätzlich geändert. Das liegt vor allem daran, dass die Ende 2018 vollzogene Schließung der letzten beiden deutschen Steinkohlenbergwerke eine Vielzahl von wirtschaftlichen und gesellschaftspolitisch relevanten Kräften dazu motiviert, angesichts einer mental aufgeladenen und durch das konkrete
32 Farrenkopf, Michael: Strategien für die Sammlung eines Materiellen Gedächtnisses des modernen Steinkohlenbergbaus, in: Zaun, Jörg/Vincenz, Kirsten (Hrsg.): Zwischen Kellerdepot und Forschungsolymp. Dokumentation der Diskussionspanels der 7. Sammlungstagung vom 17. bis 19. September 2015 an der TU Bergakademie Freiberg und der TU Dresden, Freiberg/ Dresden 2016, S. 17–21.
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Datum vorempfundenen generellen Verlusterfahrung die Sicherung des materiellen Erbes proaktiv zu wenden. So konnten erstmals im Jahr 2014 in einem gemeinsamen Projekt von DBM und RAG Aktiengesellschaft die typologischen, prozessualen und rechtlichen Voraussetzungen für eine aktive Sammlungsstrategie in Bezug auf das moderne bergtechnische Kulturerbe entwickelt werden. Seither findet in Form von beständig qualifizierten und evaluierten Listenwerken eine Zuweisung von relevanten Sammlungsobjekten aus dem Bereich des aktiven Bergbaus statt.33 Auf Basis der in Etappen abgeschlossenen Listenwerke soll zukünftig in Abstimmung mit den Planungen für ein großangelegtes, durch das DBM neu zu errichtendes integriertes Depot- und Forschungsgebäude eine sukzessive Überführung der Sammlungsobjekte ermöglicht werden. Im Rahmen seines Strategieprozesses „DBM 2020“ hat das Museum Ende Juli 2017 die Errichtung eines solchen Gebäudes bei Bund und Land NRW beantragt. Sollte dieser Antrag positiv beschieden werden, wofür günstige Signale bestehen, würde das Gebäude auf dem Gelände des Bochumer Westparks errichtet und voraussichtlich etwa 2023 bezugsfertig sein. Das DBM würde dadurch eine herausragende Forschungsinfrastruktur für eine gezielte wissenschaftliche Bearbeitung und Vermittlung der Technik des deutschen Steinkohlenbergbaus bis zu seinem aktiven Ende bereitstellen. Neben den Objekten selbst sollen zudem auch die technischen Begleitüberlieferungen zu den Objekten übernommen werden. Es ist in gewisser Weise zwangsläufig und konsequent, dass die beschriebenen Aktivitäten und Strategien von dem nationalen Forschungsmuseum für die Thematik des Bergbaus verfolgt werden. Für das DBM gilt, dass im Unterschied zu anderen großen Technikmuseen ein eigentliches Kuratoren-Modell für die sich im Zeitverlauf ausdifferenzierenden und mengenmäßig anwachsenden Sammlungsbestände niemals eingerichtet worden ist. Vor dem Hintergrund der eben geschilderten Aufgaben muss dies innerhalb des DBM geändert werden. Zudem – und das ist entscheidend – reicht die Aufgabe der Bewahrung, Pflege, Beforschung und Vermittlung des materiellen Erbes des Bergbaus selbstverständlich weit darüber hinaus. Um also die Aktivitäten zu den eigenen Sammlungen in einen größeren Kontext stellen zu können, hat das montan.dok wiederum in 2014 das Vorhaben „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung. Aufbau eines Informationszentrums für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus unter Berücksichtigung der Strategie: ‚Sammeln im Verbund‘“ bei der RAG-Stiftung angeregt und 33 Farrenkopf, Michael: Das materielle Technikerbe des modernen Steinkohlenbergbaus. Sammlung, Bewahrung und Vermittlung, in: montan.dok-news 4, 2018, Heft 1, S. 4.
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zunächst eine dreijährige Förderung dafür erhalten.34 Bereits Ende 2017 konnte erreicht werden, das Vorhaben unter dem Titel „montan.dok 21. Überlieferungsbildung, Beratungskompetenz und zentrale Serviceeinrichtung für das deutsche Bergbauerbe“ wiederum mit Unterstützung der RAG-Stiftung in eine zweite Projektphase zu überführen.35 Wie der vorliegende Tagungsband zeigt, ging es den Organisatoren der Konferenz „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum: Vernetzung, Digitalisierung, Forschung“ in einem ersten Schritt darum, eine Art Bilanz des Vorhabens „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung“ – kurz GBGV – zu ziehen. Sehr knapp zusammengefasst hatte GBGV zwei Schwerpunkte: Zum einen ging es darum, die zahlreichen, über ganz Deutschland verstreuten Sammlungen zum materiellen Erbe des Steinkohlenbergbaus überhaupt einmal zu erfassen und besser zu vernetzten. Viele dieser Sammlungen haben einen regionalen Bezug und befinden sich in der Trägerschaft von Vereinen. Das breite Spektrum reicht dabei von Stadt- und Heimatmuseen über technik- und industriegeschichtlich orientierte Häuser bis hin zu regional verankerten Sammlungen im Umfeld ehemaliger Zechenstandorte und Bergbaureviere. Im Zuge dieses gleichsam nationalen Surveys zu den Bergbausammlungen in Deutschland war es das Ziel, eine Sammlungsdatenbank zu erstellen, über die sich Sammlungsbestände untereinander abgleichen und die Sammlungsträger miteinander vernetzen lassen. Darüber hinaus sollte die hier entwickelte Datenbank die Möglichkeit bieten, Objektbestände anschließend im Rahmen eines Internetportals zu präsentieren, öffentlich zugänglich zu machen und mit anderen Online-Ressourcen zu vernetzen. Das Ergebnis besteht in dem Portal www.bergbau-sammlungen.de, das im Rahmen der hier dokumentierten Tagung freigeschaltet worden ist. Zum anderen ging es im Projekt GBGV um einen neuen Blick auf die im montan.dok verwahrten eigenen Objektsammlungen. Ausgewählte und lange vernachlässigte Objektgruppen wie Bohrhämmer und Lokomotiven wurden einer Neudokumentation und Neuinventarisierung unterzogen. Dabei wurden anhand der Sammlungen des DBM Begriffssystematiken aus dem musealen Bereich adaptiert und weiterentwickelt, um so eine einheitliche Erschließung als Basis für eine Vernetzung zu schaffen.
34 Vgl. Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan: Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung: Der Aufbau eines Informationszentrums für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus, in: Kimmel, Dominik/Brüggerhoff, Stefan (Hrsg.): Museen - Orte des Authentischen?, Mainz 2020 (im Erscheinen). 35 Vgl. www.bergbaumuseum.de/de/forschung/projekte/neue-projekte/montandok-21 (Stand: 13.01.2019).
34 Michael Farrenkopf
Schlussbemerkung Der Umgang mit dem materiellen Kulturerbe des Steinkohlenbergbaus über 2018 hinaus ist eine lohnende Aufgabe von Vielen. Der Ausstieg aus der aktiven Steinkohleförderung in Deutschland wird – so die feste Überzeugung – keine größeren und vor allem negativen Auswirkungen auf die historisch gewachsenen Strukturen der Bergbaumuseen in Deutschland haben. Insbesondere im Ruhrgebiet ruhen diese auf Trägerstrukturen, die von der Bergbauindustrie weitgehend entkoppelt und deshalb langfristig angelegt sind. Vielmehr ist es so, dass das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus für einen gewissen Zeitraum sogar Möglichkeiten eröffnet, Projekte durchzuführen, die bislang in den Museen eher als unrealistisch galten. Die mit diesem Tagungsband dokumentierte Konferenz war und ist ein Beleg dafür.
Stefan Siemer
Landschaft und materielles Gedächtnis: Überlegungen zur Musealisierung des Steinkohlenbergbaus im 20. Jahrhundert Angesichts des Auslaufens des deutschen Steinkohlenbergbaus im Jahr 2018 erhält die Bewahrung materieller Zeugnisse, seien es die über und unter Tage eingesetzten Werkzeuge und Maschinen oder Objekte der Alltags- und Lebenswelt von Bergleuten und ihrer Familien, eine besondere Bedeutung. Das Sammeln dieser Zeugnisse erweist sich als Zukunftsaufgabe, die vor allem von Museen als sammelnden, forschenden, bewahrenden und ausstellenden Einrichtungen geleistet wird. Eine damit verbundene Musealisierung reicht dabei weit zurück.1 Erste Ausstellungen feierten zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Bergbau als industriellen Leitsektor und stellten ihn in eine breitgefächerte historische Erzählung, bei der technische Innovationen und wirtschaftliche Leistungen eine Hauptrolle spielten. Im Spektrum von Technikmuseum und historischem Museum angesiedelt entstanden so zahlreiche Sammlungen und Museen, in denen sich ein branchentypisch ausgeprägtes Bewusstsein für Tradition und historische Herleitung spiegelten. Blickt man gleichsam aus der Vogelperspektive auf diese Einrichtungen, so wird eine vielfältige Gedächtnislandschaft zum deutschen Steinkohlebergbau erkennbar, in der zudem über die ehemaligen Zechenstandorte die räumlich-geologische Ordnung der Reviere deutlich wird (Abb. 1).
1 Vgl. Siemer, Stefan: Zwischen Technikschau und Erinnerungssammlung. Die Musealisierung des deutschen Steinkohlenbergbaus im 20. Jahrhundert, in: Farrenkopf, Michael /Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (im Erscheinen). https://doi.org/10.1515/9783110683097-003
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Abb. 1: Standorte von Bergbausammlungen im Ruhrgebiet
Die folgenden Überlegungen gelten daher dem Verhältnis einzelner Museen zu einer übergeordneten Gedächtnislandschaft des deutschen Steinkohlenbergbaus.2 Wie weit prägen die meist lokal orientierten Museen die Vorstellung einer Bergbaulandschaft und wie beeinflusst umgekehrt die Vorstellung einer Bergbaulandschaft oder eines bestimmten Kohlereviers die Konzeption der einzelnen Bergbaumuseen? In einem kurzen Abriss wird zunächst die Entwicklung bergbaubezogener Museen und Ausstellungen im 20. Jahrhundert dargestellt, um darauf folgend die Gegenwart dieser Einrichtungen näher in den Blick zu nehmen. Abschließend geht es darum, die eingangs postulierte Gedächtnislandschaft genauer zu beschreiben und hierbei insbesondere die Rolle der Museen im Kontext eines spezifischen Ortsgedächtnisses zu betrachten. Neben den Sammlungsobjekten selbst geraten hier etwa Bauwerke, Halden und bergbaubezogene Infrastrukturen in den Blick.
Die Musealisierung des Bergbaus Die Geschichte bergbaubezogener Ausstellungen und Museen läuft zum einen parallel mit der Entwicklung des modernen industrialisierten Steinkohlenbergbaus, der vor allem im Medium temporärer Gewerbe- und Industrieausstellun2 Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Ludwig in diesem Band.
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gen den Bergbau in seinen technischen Produkten präsentierte oder sie im Rahmen einer Fortschrittsgeschichte der Technik im neuen Typ des Technikmuseums historisierte.3 Zum anderen ist sie wesentlich geprägt durch die Krise des deutschen Steinkohlenbergbaus und die zahlreichen Schließungen von Zechenstandorten seit den 1960er-Jahren. Unter dem Stichwort der Industriekultur ging man bald daran, Relikte des Industriezeitalters denkmalpflegerisch aufzuarbeiten und in Sammlungen zu präsentieren. Nach dem Verschwinden des Bergbaus aus den Regionen kompensierte das Sammeln und Ausstellen von Bergbaurelikten den Verlust einer als prägend erfahrenen industriellen Arbeits- und Lebenswelt. Wann treten also die ersten Bergbaumuseen und -Sammlungen in Erscheinung? Man könnte ihre Geschichte etwa mit dem Jahr 1893 beginnen lassen, als in Gelsenkirchen, inmitten des aufstrebenden rheinisch-westfälischen Kohlenreviers, die „Erste deutsche Bergmännische Ausstellung“ zum Kohlenbergbau stattfand. Sie ist in der Phase der Hochindustrialisierung um 1900 Ausdruck einer damals mindestens ein halbes Jahrhundert zurückreichenden Ausstellungseuphorie, die sich in den vielerorts stattfindenden Industrie- und Gewerbeausstellungen spiegelte und in den Weltausstellungen europäischer Metropolen ihren Höhepunkt fand. Allen diesen Ausstellungen gemeinsam war der Wunsch, die Fortschritte auf den Gebieten von Industrie und Technik über ein reines Fachpublikum hinaus in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Doch diese an der Gegenwart und der verkaufswirksamen Darstellung bergbaubezogener Produkte orientierten Schauen vermittelten nur am Rande historische Bezüge. Erst im Zusammenhang mit der Gründung technischer Museen am Ende des 19. Jahrhunderts geriet auch eine objektbezogene Fortschritts- und Innovationsgeschichte des Bergbaus in den Blick. Die Gründung des Deutschen Museums in München 1903 und die kriegsbedingt verzögerte Eröffnung im Neubau auf der Museumsinsel 1925 und schließlich, inmitten des Ruhrreviers, die Gründung eines Bergbaumuseums in Bochum 1930, des heutigen Deutschen Bergbau-Museums Bochum, sind Meilensteine auf dem Weg hin zu einer umfassenden Historisierung des Bergbaus. Zwar dominierte hier nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus, gegenwärtige Wissenschaft und Technik zu erläutern die Ausstellung aktueller wissenschaftlich-technischer Errungenschaften, doch führte zugleich das Interesse an der Bewahrung einst moderner Technik über Jahrzehnte hinweg zum Aufbau wertvoller historischer Sammlungen.
3 Vgl. Trischler, Helmuth: Das Technikmuseum im langen 19. Jahrhundert. Genese, Sammlungskultur und Problemlagen der Wissenskommunikation, in: Graf, Bernhard/Möbius, Hanno (Hrsg.): Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 81–92.
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Während in München, dessen Anschauungsbergwerk im Kellergeschoß des Neubaus bald zum Publikumsmagneten wurde, der Gedanke technischer Meisterwerke in den Mittelpunkt der Ausstellungen rückte, konzentrierte man sich in Bochum zumeist auf die Erklärung des modernen industriellen Steinkohlenbergbaus. Für die bald eingerichteten Sammlungsabteilungen und späteren Hauptsachgebiete stellte man unter tätiger Mithilfe der Bergbau(zulieferer)-Industrie historisch orientierte Entwicklungsreihen zusammen, wobei man bspw. für die recht kurze um 1850 einsetzende Geschichte des Bohrhammers 150 Maschinen präsentierte.4 Die unterschiedliche Gewichtung zeigt sich auch in der Konzeption der Anschauungsbergwerke. So zeigte man in München den zeitgenössischen Steinkohlenbergbau im Kontext einer allgemeinen Geschichte des Montanwesens, wobei der Besucher historische Nachbauten nach dem Vorbild von Holzschnitten in Georg Agricolas „De re metallica libri XII“ oder dem historischen Salzbergbau im polnischen Wieliczka erleben konnte. In Bochum präsentierte man im neuerrichteten Anschauungsbergwerk hingegen allein den modernen Steinkohlenbergbau, der damit einen Kontrapunkt zu der historischen Bergbautechnik in den darüber gelegenen Ausstellungshallen bildete. Bis 1960 war hier das Streckennetz auf eine Gesamtlänge von 2500 m ausgebaut worden und zeigte an verschiedenen Stationen einen modernen Hobel- sowie einen vollmechanisierten Walzenstreb.5 Standen diese Ausstellungen im Kern noch ganz in der Tradition der Industrie- und Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts, erweitert allein um eine historische Komponente, führten spätestens in den 1960er-Jahren Impulse aus der Denkmalpflege dazu, die bisherigen Formen von Ausstellung und Vermittlung grundsätzlich zu hinterfragen. So ging es den industrial archaeologists in England bald nicht mehr allein um den Erhalt von Denkmälern der industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern zugleich auch um ein erweitertes Verständnis sozialer und alltagsgeschichtlicher Zusammenhänge, das neben ein rein technisches Verständnis der Werkzeuge und Anlagen trat.6 Ganz entscheidend kam jedoch hinzu, dass nunmehr nicht die Sammlung und Ausstellung historischer Artefakte im Zentrum stand, sondern vielmehr der historische Ort, der als Denkmal in all seinen lokalen und landschaftlichen Bezügen
4 Vgl. Herbst, Fritz/Winkelmann, Heinrich: Das Geschichtliche Bergbau-Museum Bochum, Bochum 1934, S. 26–35, hier: S. 14. 5 Vgl. Müller, Siegfried: Das Anschauungsbergwerk. In: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bochum 2005 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum, 134), S. 512–586. 6 Vgl. Kierdorf, Alexander/Hassler, Uta: Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit der Industriekultur, Tübingen 2000, S. 109–118.
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deutlich wurde. Man kann sagen, dass der Bergbau aus den Museen heraus zu seinen historischen Schauplätzen zurückgeholt wurde. Das gilt insbesondere für die Überlegungen in der DDR, Zechenanlagen aus der Hochzeit der Industrialisierung museal zu nutzen. So plädierte Otfried Wagenbreth, Dozent für Geologie und technische Gesteinskunde an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar, 1969 für den Erhalt technischer Anlagen, da sie anders als die meist von den Historikern ausgewerteten Schriftquellen, auf die Besucher weit lebendiger und anschaulicher wirkten. Vor allem aber hätten technische Kulturdenkmäler die Landschaften und Stadtbilder ebenso geprägt wie etwa Burgen und Schlösser. Für den Steinkohlenbergbau schlug Wagenbreth das Oelsnitzer Revier vor, da hier an zahlreichen Zechenstandorten die technische Entwicklung am besten ablesbar sei und sich zugleich exemplarisch die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigen ließe. Zur Auswahl kam der Karl-Liebknecht-Schacht in Oelsnitz, der 1896 unter dem Namen Kaiserin-Augusta-Schacht in Betrieb gegangen war. Nach der Stilllegung 1971 wurde er fünf Jahre später in die Denkmalliste der DDR aufgenommen und nach umfangreichen Umbau- und Sanierungsarbeiten sowie der Einrichtung einer Dauerausstellung schließlich 1986 als Bergbaumuseum Oelsnitz/ Erzgebirge der Öffentlichkeit übergeben.7 Ein von Wagenbreth ursprünglich verfolgter Plan, das Oelsnitzer Revier im Sinne einer Bergbaulandschaft mit unterschiedlichen Zechenstandorten museal und denkmalpflegerisch zu erschließen, hatte sich hingegen aus Kostengründen nicht realisieren lassen. Auch in der Bundesrepublik hatten Ende der 1960er-Jahre Diskussionen um den Erhalt ehemaliger Industrieanlagen begonnen. Anders als in der DDR waren sie von der Sorge geprägt, dass mit flächendeckenden Stilllegungen von Zechen und deren Abriss auf Dauer wichtige Zeugnisse der Industriegeschichte verloren gehen würden. Waren die ersten Bemühungen um die bald so genannte „Industriekultur“ zunächst noch von einer bunten Koalition von Denkmalpflegern, Bürgerinitiativen und geschichtsinteressierten Bürgern geprägt, so setzte mit der Gründung des Rheinischen und Westfälischen Industriemuseums ab den 1980er-Jahren eine umfassende Musealisierung verschiedener Zechenstandorte im Ruhrgebiet ein.8 In der Folge wurden Bauten saniert und restauriert, Sammlungen angelegt und Ausstellungen konzipiert. So entstanden die für die Geschichte des Steinkohlenbergbaus so wichtigen Standorte des LWL-Industrie-
7 Vgl. den Beitrag von Jan Färber in diesem Band. 8 Vgl. Parent, Thomas: Industriekultur als Herausforderung. Zum Konzept des Westfälischen Industriemuseums, in: Westfälisches Industriemuseum/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.): Schätze der Arbeit. 25 Jahre Westfälisches Industriemuseum, Essen 2004, S. 13–33.
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museums Zeche Zollern in Dortmund, Zeche Hannover in Bochum und Zeche Nachtigall in Witten.9
Bergbaumuseen heute Über die letzten knapp hundert Jahre hinweg kam es zur Gründung unterschiedlicher Sammlungen und Museen zum Steinkohlenbergbau. Die Vielfalt dieser Sammlungen wurde im Projekt „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung“ des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum umfangreich dokumentiert. Die in einer Umfrage von 2014 bis 2017 ermittelten Ergebnisse bilden die Grundlage der folgenden Überlegungen.10 Blickt man von heute aus auf die Bewahrung des materiellen Erbes des Steinkohlenbergbaus, so lassen sich fünf verschiedene Sammlungskontexte benennen. So finden sich auf den Steinkohlenbergbau bezogene Sammlungsbestände in unterschiedlicher Gewichtung erstens in Museen mit volkskundlichem, heimatkundlichem und regionalgeschichtlichem Schwerpunkt, zweitens im Kontext naturwissenschaftlicher und technischer Museen, drittens in historischen Museen, viertens im Rahmen von Anschauungs- und Besucherbergwerken und fünftens in den Beständen historischer Archive. Dabei können die weitaus meisten der erfassten Einrichtungen, nämlich 57 %, mit dem Typus „Heimatmuseum“ einem volkskundlichen, heimatkundlichen oder regionalgeschichtlichen Zusammenhang zugeordnet werden (Abb. 2).
9 Vgl. Telsemeyer, Ingrid (Hrsg.): Zeche Nachtigall. Museumsführer, Essen 2005; Steinborn, Vera/Röver, Hans: Zeche Hannover I/II/V: Ein Rundgang durch das Industriedenkmal und seine Geschichte, Dortmund [1996] 2002; Kift, Dagmar: ‚Musterzeche‘ Zollern II/IV. Museum für Sozial- und Kulturgeschichte des Bergbaus. Museumsführer, Essen 1999. Vgl. auch den Beitrag von Dagmar Kift und Olge Dommer in diesem Band. 10 Vgl. zu den ausführlichen Projektergebnissen und zur Methodik Siemer, Stefan: Die Erfassung der Vielfalt. Museen und Sammlungen zum Steinkohlenbergbau in Deutschland, in: Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (im Erscheinen).
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Abb. 2: Zuordnung von Bergbausammlungen zu bestimmten Museen und Einrichtungen
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Abb. 3: Verteilung der Sammlungen nach Trägern
Fragt man hingegen nach den Trägern dieser Einrichtungen, so stehen die Vereine mit knapp 60 % an erster Stelle. Wenn also vom materiellen Erbe des Steinkohlenbergbaus die Rede ist, so kommt ehrenamtlich betreuten Sammlungen allein schon quantitativ die größte Bedeutung zu. An zweiter Stelle stehen die über öffentliche Mittel finanzierten Einrichtungen gefolgt von gemischten Trägerschaften, die bspw. Stiftungen oder gemeinnützige GmbHs umfassen (Abb. 3). Schaut man auf die Sammlungsschwerpunkte, so sind hier konkrete Aussagen weitaus schwieriger, da kaum eine der in der Umfrage berücksichtigten Einrichtungen genauere Auskunft über Sammlungsgrößen bzw. Sammlungsgruppen geben konnte. Jedoch kann man über die Abfrage allgemeiner und vorher definierter Sammlungsbereiche in dieser Hinsicht zumindest allgemeine Konturen erkennen. So lässt sich festhalten, dass sich die rein technischen Objektgruppen, bspw. „Gezähe und Werkzeuge“, „Ausbautechnik“ oder „Nachrichtenübermittlung“, gegenüber einem eher von Bergbautradition und Erinnerung bestimmten Bereich (bspw. „Bergmännischer Arbeitsalltag“, „Tradition und Andenken“ oder „Repräsentationskleidung“) deutlich abgrenzen und letzterer Bereich über alle Sammlungen hinweg am häufigsten vertreten ist. Daraus lässt sich allgemein schlussfolgern, dass die hier beschriebenen Bergbausammlungen weniger Technikmuseen denn regional verwurzelte Erinnerungssammlungen sind.
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Dem entspricht auch die durch die Umfrage belegte lokale Verankerung vieler Einrichtungen, etwa bei einer bestimmten Zechenanlage, einer Stadt oder einem Bergbaurevier. Rund 90 % aller Sammlungen ordnen sich demnach als regionale Sammlungen ein, während der Rest das Sammlungsspektrum deutschlandweit bzw. international verortet. Dass es vor allem Vereinssammlungen und stadtgeschichtliche Sammlungen sind, die sich als regional verstehen, ist dabei kaum überraschend, entstanden doch viele von ihnen etwa in enger Verbindung mit einer aktiven bzw. ehemaligen Zechenanlage. Aus diesem hier skizzierten Befund lassen sich also drei wichtige Punkte ableiten. Zum einen dominieren bei der Bewahrung des Steinkohlenerbes deutlich die von Vereinen getragenen Sammlungen. Zum anderen stehen hier, was die Sammlungsinhalte angeht, keineswegs allein technische Artefakte im Sinne von Arbeitsgeräten, Maschinen und technischen Einrichtungen im Zentrum, sondern vielmehr Objektgruppen, die sich eher dem Bereich von Bergbautradition und Erinnerung zuordnen lassen. Schließlich verstehen sich die meisten der erfassten Einrichtungen als Lokalmuseen. Wie lässt sich dies erklären? Vor allem in den 1990er-Jahren entstanden, insbesondere angeregt von der Gründung des LWL- und des LVR-Industriemuseums, neue Formen einer bergbauspezifischen Erinnerung, in der sich Lokalgeschichte, Erinnerungsgeschichte und Lebensgeschichte miteinander verknüpften. Es waren hierbei vor allem ehemalige aber auch noch aktive Bergleute, die sich in Vereinen zusammenschlossen, Bergbauobjekte sammelten und sie in neu gegründeten Museen ausstellten. Die hier gezeigten Gegenstände spiegeln dabei zugleich technische Arbeitsabläufe wie auch persönliche Erinnerungen. In dieser Doppelrolle präsentieren sie sich nach außen einer allgemeinen Öffentlichkeit, in der die Erinnerung an den Bergbau oder einen bestimmten Bergbaustandort immer mehr schwindet, und nach innen vor der Gemeinschaft ehemaliger Bergleute, die über die Sammlung einen Ort der Geselligkeit und des Austauschs über ihre Berufserfahrungen finden. Dass der Steinkohlenbergbau hier über die Aktivitäten von Vereinen Gegenstand von Sammlungen und Ausstellungen wurde, hängt überdies mit der bereits erwähnten Stilllegung von Zechenstandorten seit der Kohlenkrise in den späten 1950er-Jahren zusammen. Dabei ging es zunächst weniger darum, wie etwa in den Industriemuseen, historische Gebäude zu retten und Ausstellungsräume herzurichten, als vielmehr, im Rahmen von Knappenund Traditionsvereinen museale Einrichtungen zu schaffen, die über die Präsentation von Maschinen und Werkzeugen und damit verbundener Arbeitspraktiken die Erinnerung an den lokalen Bergbau wachhielten. So wurde etwa das Fördergerüst von Schacht IX des Bergwerks Consolidation in Gelsenkirchen bereits zu Betriebszeiten unter Denkmalschutz gestellt, die Eintragung der dazugehörigen Maschinenhäuser in die Denkmalliste erfolgte
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kurz vor der Stilllegung 1992.11 Das Bauensemble wurde dann, u. a. mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur sowie der Stadt Gelsenkirchen, von 2002 bis 2005 aufwendig saniert. Heute befinden sich die beiden Maschinenhäuser und das Fördergerüst im Besitz der Stiftung. Der 1997 gegründete Initiativkreis Bergwerk Consolidation bezog eines von ihnen und betreut heute neben der Fördermaschine eine umfangreiche Bergbausammlung. Auf der im Aachener Revier gelegenen Schachtanlage Sophia Jacoba in Hückelhoven, die 1997 stillgelegt wurde, fand noch im selben Jahr durch die dort beschäftigten Bergleute die Gründung eines Fördervereins Schacht 3 statt, der in der ehemaligen Maschinenhalle einen Veranstaltungsort fand und in einem nebenan gelegenen ca. 150 m langen Übertage-Stollen eine Schausammlung einrichtete.12 Als die Schachtanlage Hugo in Gelsenkirchen 2000 stillgelegt wurde, engagierte sich kurz darauf ein Kreis um den ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden für den Erhalt des Fördergerüstes und des Maschinenhauses von Schacht II. Das daraus entstandene „kleine museum“ fand mit seinen Sammlungen Platz sowohl in einer Neubauwohnung einer Zechensiedlung als auch im Maschinenhaus selbst, das zudem ausreichend Raum für Veranstaltungen bot.13 Bei der in Dorsten gelegenen ehemaligen Zeche Leopold war hingegen die Rettung der historischen Dampfmaschine samt Maschinenhaus Ausgangspunkt einer privaten Initiative. Kurz vor der Stilllegung 2001 setzte sich ein Verein für Erhalt und Restaurierung ein, der dann mit Mitteln der NRW-Stiftung realisiert wurde.14 Nicht zuletzt konnte im saarländischen Velsen ein vom Verbundbergwerk Warndt/Luisenthal genutztes Ausbildungsbergwerk noch im Jahr der Stilllegung 2006 von einem Verein übernommen und für einen Besucher- und Schaubetrieb hergerichtet werden.15 Doch die hier genannten Einrichtungen lassen sich nicht allein aus einem lokalen Kontext heraus verstehen. Denn im Laufe der Zeit ist mit diesen Erinnerungssammlungen eine Gedächtnislandschaft zum Steinkohlenbergbau entstanden, in der das materielle Gedächtnis sich auf einen überregionalen Kontext beziehen lässt. Allgemein gefragt: Wie sieht dieses Verhältnis von lokaler Erinnerung und ihrer Projektion in einen landschaftlich definierten Zusammenhang aus?
11 12 13 14 15
Vgl. den Beitrag von Martin Gernhardt in diesem Band. Vgl. unter: www.schacht-3.de/startseite (Stand: 12.04.2018). Vgl. unter: www.zeche-hugo.com/index2.html (Stand: 12.04.2018). Vgl. unter: bergbau-dorsten.de/ (Stand: 12.04.2018). Vgl. unter: www.erlebnisbergwerkvelsen.de/ (Stand: 19.04.2018).
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Gedächtnislandschaften Eine von industriellen und verkehrstechnischen Infrastrukturen geprägte Gebrauchslandschaft wie das Ruhrgebiet bietet für denjenigen, der sie durchfährt oder hier arbeitet zunächst keinen besonderen Reiz. Was aus einem Agglomerat von verschiedensten geographischen Bezügen wie Straßen, ehemaligen Zechenanlagen, Parks und Wohngebieten eine Landschaft macht, hängt wesentlich von historischen Herleitungen und persönlich geprägten Erinnerungen ab und deckt sich, oft lokal bezogen, keineswegs mit den offiziellen Grenzen des historisch gewachsenen Industriegebiets.16 Denn was etwa unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg unter der Bezeichnung Siedlungsverband Ruhrkohlebezirk zusammengefasst wurde und in seiner Nachfolgereinrichtung, dem Regionalverband Ruhr, bis heute fortexistiert, war zunächst nichts weiter als eine Maßnahme, um die massiven Folgen der Industrialisierung für Mensch und Umwelt stadtplanerisch zu begleiten. Erst später bildete der hier abgesteckte Rahmen eine Bezugsgröße für eine Wahrnehmung als Gedächtnislandschaft. Gedächtniseinrichtungen wie Sammlungen und Museen spielten dabei eine bedeutsame Rolle. Das hier versammelte materielle Erbe des Steinkohlenbergbaus trug so, wie zu zeigen sein wird, zur Formierung einer auf den Bergbau bezogenen Gedächtnislandschaft mit bei. Wie neben anderem auch die persönliche Herkunft den Blick auf eine Landschaft prägt, findet sich etwa in den „Country Visiting: A Memoir“ betitelten fragmentarischen Erinnerungen des britischen Historikers Raphael Samuel.17 Für ihn als Vertreter der gebildeten Mittelschicht und einem vom Engagement für die Arbeiterbewegung geprägten Milieu aufgewachsen, war Landschaft ein Ort allenfalls physischer Erholung und des Wanderns durch die Berge, jenseits einer durch Landwirtschaft und Gärten geprägten Kulturlandschaft. „In short“, so resümiert Raphael, „we had no historical sense of the countryside, no feel for natural history. Our reverence for nature was quite abstract.“18 Dass Landschaft sich über persönlich erinnerte Bezüge hinaus erst über historische Reflexion konstitutiert, darauf weist u. a. Simon Schama hin. Denn was wir unter einer schönen, idyllischen oder gar wilden Landschaft begreifen, hängt von historisch 16 Ein aktuelles Beispiel für das Einschreiben von Erinnerung in eine „Landschaft“ ist das Portal Zeit-Räume Ruhr unter: www.zeit-raeume.ruhr/. Vgl. dazu auch die Literaturkarte Ruhr unter: www.literaturkarte.ruhr/index.php (Stand: 12.04.2018). Wie auch die Industriestadt als Landschaft mit unterschiedlichen persönlichen und historischen Bezügen begriffen werden kann vgl. Piorr, Ralf/Schmidt, Thomas: Herne 50/80 Fotografie, Herne 2017. 17 Vgl. Samuel, Raphael: Country Visiting: A Memoir, in: Island Stories. Unravelling Britain. Theatres of Memory, Bd. 2, London 1998, S. 132–152. 18 Ebd. S. 141.
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gewachsenen Mythen und Bildern ab, die wir in unsere Vorstellungen mit aufnehmen: „At the very least, it seems right to acknowledge that it is our shaping perception that makes the difference between raw matter and landscape.“19 Demgegenüber steht ein naturalistisch geprägter Landschaftsbegriff, wie ihn etwa Hansjörg Küster vertritt, der insbesondere die über lange Zeiträume (nacheiszeitlich) entstandene anthropozäne Kulturlandschaft ins Zentrum rückt.20 Seit den 1970er-Jahren hat die Denkmalpflege sich mit Landschaft unter den Begriffen „Land-Denkmal“ und „Denkmallandschaft“ als eigenständige Objektkategorie beschäftigt.21 Die Schwierigkeiten liegen hierbei vor allem darin, ein klar abgrenzbares Baudenkmal mit einer umgebenden Landschaft in Bezug zu setzen. In diesem Sinne ist eine vom Menschen geprägte Kulturlandschaft immer auch ein Konstrukt.22 Überlegungen dieser Art finden in letzten Jahren ihren Widerhall in der historischen und gegenwärtigen Beschäftigung mit dem Bergbauerbe bzw. der Industrielandschaft.23 So regt der dem naturalistischen Konzept von Landschaft verpflichtete Begriff „Industrienatur“ dazu an, sich mit dem spezifischen Einfluss der Industrie auf die Landschaft des Ruhrgebiets zu beschäftigen und dies durchaus auch im positiven Sinne, wenn es etwa um die Gestaltung von Bergehalden als Landschaftsbauwerken und der Entstehung einer industriespezifischen Pflanzenwelt durch den Import exotischer Flora und Fauna mittels Rohstoff- und Warenströmen geht (Abb. 4).24
19 Schama, Simon: Landscape and Memory, London 1995, S. 10. 20 Küster, Hansjörg: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 1996. 21 Vgl. Walgern, Heinrich: Landschaft als Gegenstand der Denkmalpflege, in: Pufke, Andrea (Hrsg.): Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 46, Petersberg 2018, S. 11–33, hier: S. 12. 22 Ebd. S. 16. 23 Vgl. Golombek, Jana/Meyer, Torsten: Das (post-)industrielle Erbe des Anthropozän Überlegungen zu einer Weitung des Blickfelds, in: Der Anschnitt 68, H. 6, 2016, S. 198–215; Parak, Gisela: „Industrielandschaft“ und „Bergbaulandschaft“ in der Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Beispiele aus Sachsen und aus dem Ruhrgebiet, in: Der Anschnitt 70, H. 3–4, 2018, S. 102–118. 24 Vgl. Stottrop, Ulrike (Hrsg.): Unten und oben. Die Naturkultur des Ruhrgebiets. Katalog zur Ausstellung des Ruhrlandmuseums vom 14. Mai bis 15. Oktober 2000, Essen 2000.
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Abb. 4: Blick von der Halde Hoheward bei Herten in Richtung Westen, 2011
Neben dieser Neudeutung der Industrielandschaft als Naturraum finden sich ebenfalls raumübergreifende Kunstinstallationen wie im Falle der Haldenkunst oder temporäre Aktionen wie das 2010 durchgeführte Projekt Schachtzeichen, in dem ruhrgebietsweit ehemalige Zechenstandorte durch gelbe und nachts beleuchtete Fesselballone gekennzeichnet waren (Abb. 5).25 Auch die vom Regionalverband Ruhr ins Leben gerufene „Route Industriekultur“, die wichtige Denkmäler der Industriekultur miteinander verknüpft, kann in diesem Sinne als raumübergreifendes Konzept zur Wahrnehmung einer historisch gewachsenen Industrielandschaft verstanden werden.26
25 Vgl. Bandelow, Volker u. a. (Hrsg.): SchachtZeichen. Geschichte, Menschen, Ballone, Essen 2011. 26 Vgl. unter: www.route-industriekultur.ruhr/ (Stand: 16.04.2018). Vgl. zur historischen Herleitung Berger, Stefan: Industriekultur und Strukturwandel in deutschen Bergbauregionen nach 1945, in: Ziegler, Dieter (Hrsg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013 (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), S. 571–602.
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Abb. 5: Schachtzeichen neben dem Fördergerüst von Schacht 2 der Zeche Hugo in Gelsenkirchen, 2010
Nimmt man von hier aus das materielle Erbe des Steinkohlenbergbaus als landschaftsprägenden Faktor näher in den Blick, so sind es neben den erwähnten Halden vor allem die Reste von Übertageanlagen und bergbaubezogener Infrastrukturen, die hier in Frage kommen. Ein Fotoband zur Folgelandschaft des Saarbergbaus bringt diese Sichtweise unter Berufung auf „Fördertürme, Bergehalden und Absinkweiher“ prägnant zum Ausdruck.27 Auch im bereits 1932 im Auftrag der Agricola-Gesellschaft von Conrad Matschoß und Werner Lindner herausgegebenen Buch „Technische Kulturdenkmale“ erscheinen die vom Verfall bedrohten Denkmale immer auch in ihrem jeweiligen landschaftlichen Bezug, wie beispielsweise Stollenmundlöcher und Malakowtürme südlich der Ruhr.28 Weitere Beispiele für solche alten überwiegend frühneuzeitlich geprägten Bergbaulandschaften lassen sich gegenwärtig etwa im Harz und in der sächsischen Montanregion, aber auch in der „Initiative Saarländische Bergbaustraße“ finden.29 27 Vgl. Slotta, Delf/Reinhardt, Thomas: Gruben und Bergbaulandschaften im Saarland. Letzte Seilfahrt Fotografien von Fördertürmen, Bergehalden und Absinkweihern, Dillingen/Saar 2012. 28 Vgl. Matschoss, Conrad/Lindner, Werner (Hrsg.): Technische Kulturdenkmale, München [1932] 1984. 29 Vgl. unter: www.saarland.de/bergbaustrasse.htm (Stand: 16.04.2018).
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Einen weiteren landschaftlichen Bezug kann man darüber hinaus in Begriffen wie „Bergrevier“ oder „Bergbaubezirk“ nachweisen, in denen verwaltungstechnische mit geologischen Aspekten des Bergbaus verknüpft sind. So ist in geologischen Fachveröffentlichungen zum Ruhrbergbau meist vom „Steinkohlenbezirk“ oder vom „Steinkohlebecken“ die Rede, wobei die Ausbildung der Industrielandschaft suggestiv auf die untertägig vorhandene Ressource Steinkohle verweist.30 Noch deutlicher wird dieser ressourcenbezogene Landschaftsbegriff in den geologischen Modellen, die von etwa 1900 an im Rahmen des Unterrichts für Bergschüler an der Westfälischen Berggewerkschaftskasse in Bochum (WBK) angefertigt wurden. So findet sich ein frühes geologisches Modell des „Rheinisch-Westfälischen Kohlereviers“ auf der Industrie- und Gewerbe-Ausstellung für Rheinland, Westfalen und benachbarte Bezirke 1902 in Düsseldorf.31 Weitere Modelle wurden für den Unterricht an der WBK in den 1950er-Jahren angefertigt, darunter „Das Steinkohlengebirge im Raume Bochum, Gelsenkirchen, Harpen und Witten“ und „Der Geologische Bau des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlengebietes“, das auf Entwürfen des leitenden Geologen der WBK, Paul Kukuk, beruht (Abb. 6).32 Doch was neben diesen materiellen Relikten eine bergbaubezogene Landschaft ebenso prägt, sind die mit dem Bergbau verbundenen Erinnerungen und historischen Überlieferungen.33 Die Orte, wo diese Verbindung bzw. dieser Rückbezug der Landschaft auf ein materielles Gedächtnis vor allem stattfindet, sind die Museen. Sie bewahren Erinnerungsobjekte als materielle Belegstücke für Arbeitserfahrungen und lebensgeschichtliche Erzählungen. Zugleich aber haben sie damit über ihre lokale Verwurzelung hinaus Teil an einer regional bezogenen Bergbaulandschaft, hängt doch deren Wahrnehmung ebenso am Erhalt landschaftlich markanter Halden, von Stollenmundlöchern und Pingen wie an Objekten mit lebensgeschichtlichen und arbeitsbiographischen Bezügen. Zugleich zeigen sich in der Landschaft Spuren eines Bergbaus, der zeitlich weit über den 30 Vgl. Literaturhinweise bei Moitra, Stefan: Das Wissensrevier. 150 Jahre Bergbauforschung und Ausbildung bei der Westfälischen Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Forschung. Die Geschichte einer Institution, Bochum 2014, S. 92. Vgl. zum Konzept der Industrielandschaft Siemer, Stefan: Industrie als Identitätsfaktor: Das Industriemuseum Heimaterde in Gelsenkirchen und sein Schaubergwerk (1929–1945), in: Der Anschnitt 69, H. 3– 4, 2017, S. 152–165. 31 Kroker, Evelyn: Der Ruhrbergbau auf der Düsseldorfer Industrie- und Gewerbeausstellung von 1902. Eine „Erfolgsgeschichte“, in: Der Anschnitt 35, 1983, S. 146–165. 32 Vgl. Farrenkopf, Michael/Ganzelewski, Michael (Hrsg.): Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung, Katalog zur Sonderausstellung, Bochum 2014, S. 482–486. 33 Vgl. Orange, Hilary (Hrsg.): Reanimating industrial spaces. Conducting memory work in post-industrial societies, Walnut Creek 2015.
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üblichen Sammlungshorizont der hier vorgestellten Museen hinausreicht und statt des mechanisierten Bergbaus des späten 20. Jahrhunderts die vor- und frühindustriellen Zusammenhänge vergegenwärtigt. Noch weiter zurück gehen die Bergbauarchäologen, die etwa die Alpen als eine uralte Kulturlandschaft beschreiben und als einen Raum, der sich über Suche nach Rohstoffen als „Rohstoffraum“ konstituiert.34
Abb. 6: Der Geologische Bau des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlengebirges, 1952
Museen nehmen auf diese naturräumlichen Gegebenheiten Bezug. So besitzt das im Muttental bei Witten gelegene Zechenhaus Herberholz eine umfangreiche Sammlung zur modernen Bergbautechnik und betreut daneben auch einen Bergbaurundweg, der auf 9 km Länge die Anfänge des Steinkohlenbergbaus in der Region südlich der Ruhr an verschiedenen Stationen veranschaulicht.35 Im nördlich von Ibbenbüren gelegenen Recke hat der Bergbauhistorische Verein Buchholzer Forst mit einem historischen Rundweg die Orte des bis weit ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Bergbaus zugänglich gemacht. Auch das einzig noch erhaltene Stollenmundloch des Ibbenbürener Reviers von 1752 wird
34 Stöllner, Thomas/Thomas, Peter (Hrsg.): Bergbauf Bergab. Eine Zeitreise durch 10.000 Jahre Bergbau in den Ostalpen, Begleitbuch zur Ausstellung im Deutschen Bergbau-Museum Bochum vom 31. Oktober 2015 bis 24. April 2016, Bochum 2015, S. 29. 35 Vgl. Koetter, Gerhard: Geologie und Geschichte des Wittener Bergbauwanderwegs, Witten 2001.
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durch den Verein betreut.36 Seit 2009 ist in der Nähe des ehemaligen Katharinaschachts, in dessen Betriebsgebäude der Förderverein für Bergbaugeschichte Stockheim/Neuhaus e. V. ein kleines Museum eingerichtet hat, ein Bergbau-Erlebnispfad zur Geschichte des regionalen Bergbaus zugänglich.37 Das heutige Museum für Industriekultur in Osnabrück auf dem Gelände des ehemaligen Haseschachtes macht neben den industriekulturellen Zeugen des Steinkohlenbergbaus am Piesberg zugleich auch die landschaftlichen Bezüge und Transformationen als „Industrie-Kulturlandschaft“ kenntlich. Die Erinnerung an den bereits 1899 aufgegebenen Bergbau verbindet sich dabei mit der Darstellung der landschaftlichen Spuren, zutage tretenden Kohleflözen, der lokalen Pflanzen- und Tierwelt und nicht zuletzt mit der heutigen Nutzung des Ortes als Sandsteinbruch.38 Es scheint, als habe das Verschwinden des Steinkohlenbergbaus eine Landschaft eigener Prägung entstehen lassen. Aus den durch den Bergbau dominierten Industrielandschaften etwa des Ruhr- und Saarreviers sind Erinnerungslandschaften entstanden, in denen der Bergbau über seine materiellen Relikte und die mit ihnen verbundenen Erinnerungen und Erzählungen weiterhin präsent ist. Den Museen als Trägern dieses materiellen Gedächtnisses kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie sammeln nicht nur Objekte, sondern stellen sie in einen erklärenden und oft landschaftsbezogenen Zusammenhang. Umgekehrt entsteht eine Bergbaulandschaft nicht allein über die in ihr manifesten Spuren ehemaligen Bergbaus, sondern zugleich über Praktiken des Erinnerns und Erzählens im Angesicht materieller Überlieferungen in den Museen.
36 Vgl. zu dieser Bergbaulandschaft Römhild, Georg: Der Buchholzer Forst bei Recke. Kristallisationsort früher Waldgeschichte, Siedlungsentstehung und Bergbauentwicklung, in: Alois Mayr (Hrsg.): Bielefeld und Nordost-Westfalen. Entwicklung, Strukturen und Planung im unteren Weserbergland, Münster 1995, S. 81–101. 37 Vgl. unter: www.fv-bergbau.de/ (Stand: 19.04.2018). 38 Vgl. Spilker, Rolf: Die Industrie-Kulturlandschaft Piesberg. Ein Führer, Osnabrück 1997.
Michael Ganzelewski
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum: Entwicklung und Perspektiven Nachdem der preußische Steinkohlenbergbau im Rahmen einer Reform vom Direktionsprinzip zum Inspektionsprinzip überführt worden war und die privaten Bergbau-Unternehmer nun marktwirtschaftlich-kapitalistisch orientiert handeln konnten, wurde 1864 die Westfälische Berggewerkschaftskasse (WBK) in Bochum als Dienstleister für die Unternehmen gegründet. Deren zentrale Aufgaben waren die Ausbildung der Bergleute, insbesondere der Steiger und später der Ingenieure sowie die Forschung, Prüfung und Messung angepasst an die Bedürfnisse des Bergbaus.1 Bereits in der Gründungszeit der WBK war die Anlage bzw. die Erweiterung von Sammlungen in der Satzung festgeschrieben. Mit dem Übergang der Bergschulen in Essen und Bochum vom preußischen Staat an die WBK wurde auch die Übernahme der Sammlungen der Märkischen- und Essen-WerdenschenBerggewerkschaftskassen vertraglich geregelt. Die Sammlungen wurden als Vermögen in den Anlagenbestand der WBK aufgenommen. Dabei handelte es sich um die in den beiden Bergschulen vorhandenen Sammlungen von Geräten und Mineralien für Unterrichtszwecke. Schon Ende 1868 wurde der Versuch unternommen, im gewerkschaftlichen Gebäude an der Alleestraße in Bochum eine permanente Ausstellung mit bergbaulichen Utensilien zu betreiben.2 Während viele Bergbauzulieferer bereitwillig ihre Produkte zur Verfügung stellten, wurde dem Angebot vom „bergbautreibenden Publikum“, den Bergleuten, nur wenig Interesse entgegengebracht. Der damals junge Bergschuldirektor Hugo Schultz (1838–1904) beschränkte sich in den nächsten Jahren darauf, die Sammlung für Lehrzwecke stetig zu erweitern (Abb. 1). Lediglich durch Beschickung von Welt- oder Industrieausstellungen und anderen oftmals überregional bedeutenden Präsentationen der WBK wur1 Kretschmann, Jürgen/Farrenkopf, Michael (Hrsg.): Das Wissensrevier. 150 Jahre Westfälische Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung, Bd. 2: Farrenkopf, Michael/ Ganzelewski, Michael: Katalog zur Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 19. Juni 2014 bis 22. Februar 2015, Bochum 2014 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, 198). 2 Schunder, Friedrich: Lehre und Forschung im Dienste des Ruhrbergbaus Westfälische Berggewerkschaftskasse 1864–1964, Bochum 1964, S. 235. https://doi.org/10.1515/9783110683097-004
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den Objekte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als Nebeneffekt erhielt die WBK zum Ende dieser Ausstellungen häufig zahlreiche Modelle und Geräte von den Zulieferern und ausstellenden Zechen zum Verbleib.
Abb. 1: „Hugo Friedrich Schultz“, Ernst Sigmund von Sallwürk, Öl auf Hartfaserplatte, 1943
Ein Erweiterungsneubau des alten Schulgebäudes an der Alleestraße machte 1893 den zweiten Versuch eines Museums möglich. Die geowissenschaftlichen und technischen Inhalte blieben wohl weitgehend Bergschülern und Besuchern der WBK, nicht aber der breiten Öffentlichkeit zugänglich.3 Zudem sonderte man zu dieser Zeit auch veraltetes Material aus und ergänzte nach dem aktuellen technischen Stand. An eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung und an eine breitere Öffentlichkeit gerichtete Präsentation dachte man zu dieser Zeit noch nicht. Dies änderte sich erst nach der gegen Ende des Jahres 1906 vielbeachteten Eröffnung des Deutschen Museums in München. Dort lag das Anliegen der Abteilung Bergwesen darin, die Geschichte des Bergbaus durch die Objekte und deren Präsentationen lebendig werden zu lassen. Die WBK erhob wenig später die technischen Sammlungen der Bergschule Bochum zur Abteilung „Bergmännisches Museum“. Eine veränderte Wahrnehmung der eigenen Sammlung äußerte sich nun auch darin, dass ein Bergschullehrer damit begann, das 3 Vgl. Schunder, Friedrich: Lehre (s. Anmerkung 2), S. 235–237.
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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im Lichthof des im Jahre 1899 an der Herner Straße eröffneten neuen Gebäudes untergebrachte „Bergmännische Museum“ systematisch nach der damals gebräuchlichen Einteilung der Bergbaukunde neu zu ordnen (Abb. 2 und 3).4 Wenngleich es wegen des rasanten technischen Fortschritts zu dieser Zeit nicht gelang, die Sammlung für die Öffentlichkeit zu katalogisieren, suchte man für vermeintlich veraltetes Material nun eine externe Unterbringungsmöglichkeit. Dazu trat die WBK 1912 in Verhandlungen mit der Stadt Bochum um eine Unterbringung in dem zum Heimatmuseum umgestalteten Herrensitz Haus Rechen ein. Man erkannte aber, dass der dort vorhandene Platz nicht ausreichte und verwarf die Pläne. Das Gebäude des Herrensitzes wurde 1944 bei Bombenangriffen zerstört. Nach der Beseitigung der Reste entstanden hier später das neue Schauspielhaus und das heutige Finanzamt Süd.5 Nachdem die Diskussion um ein echtes Bergbaumuseum im Ruhrgebiet auch die politische Ebene erreicht hatte und die WBK für die Öffentlichkeit die Möglichkeit für die Besichtigung eines breit gefächerten technischen Sammlungsspektrums an einem Nachmittag in der Woche beschlossen hatte, fand man immer mehr Gefallen an dem Gedanken an ein echtes, öffentliches Museum. Dies nahm allerdings erst zum Ende der wirtschaftlich schwierigen 1920er-Jahren konkrete Formen an, als die Stadt Bochum und die WBK die Pläne auf dem Gelände des ehemaligen städtischen Schlachthofes, dem heutigen Standort des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, umsetzten.6 Der mit dem Aufbau der Sammlungen beauftragte erste Direktor, Heinrich Winkelmann, füllte umtriebig die zur Verfügung stehenden Räume mit technischen Objekten. So konnten 1930 die ersten Ausstellungshallen eines neuen Museums eröffnet werden. Später erweiterte Winkelmann seinen Wirkungskreis in die ferneren klassischen Erzreviere im Harz und im Erzgebirge und reicherte die Sammlungen weiter an.
4 Westfälische Berggewerkschaftskasse Bochum (Hrsg.): Führer durch die Sammlungen der Westfälischen Berggewerkschaftskasse zu Bochum, Bochum 1920, S. 1–5. 5 Hanke, Hans H.: Der Untergang des Hauses Rechen, o. J. Unter: https://m.bochum.de/ C125708500379A31/vwContentByKey/W27CWBXH572BOLDDE (Stand: 15.01.2019). 6 Vgl. Schunder, Friedrich: Lehre (s. Anmerkung 2), S. 238–239.
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Abb. 2: Gebäude der Westfälischen Berggewerkschaftskasse an der Herner Straße in Bochum, 1950er-Jahre
Abb. 3: Blick in das Bergmännische Museum der WBK, um 1920
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Die zahl- und umfangreichen Betätigungsfelder der WBK für den Steinkohlenbergbau können hier nur durch wenige Beispiele angeschnitten werden (Abb. 4). Daher wird auf den Katalog zu der 2014 im DBM präsentierten Sonderausstellung anlässlich des 150-Jährigen Bestehens der Westfälischen Berggewerkschaftskasse/DMT- Gesellschaft für Lehre und Bildung verwiesen.7 Bei der Einrichtung des Museums wurde versucht, die zu dieser Zeit übliche bergtechnische Systematik zu verfolgen, wie sie an der Bergschule ja auch gelehrt wurde. In einigen Fällen musste man sich bei der Anordnung und Reihung der Inhalte aber den Gebäudegegebenheiten anpassen.8 Die Ausstattungen zu den verschiedenen bergtechnischen Bereichen hatte man bei der WBK über Jahrzehnte verwahrt. Mit diesen umfangreichen Objektsammlungen, die jetzt auch schon als „historisch“ zu bezeichnen waren, ließen sich die Ausstellungshallen des neuen Museums durch Winkelmann gut einrichten (Abb. 5 und 6). Durchaus mit dem Blick zum Deutschen Museum nach München verfolgte man nun in Bochum die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Bergtechniken.9 Gleichwohl fanden die Hersteller auch die Möglichkeit, sich und ihre Produkte einzubringen.
Abb. 4: Bergschüler mit Schlauchgeräten bei einer Übung an der Bergschule Bochum, A. Bischoff, um 1910 7 Vgl. Kretschmann, Jürgen/Farrenkopf, Michael (Hrsg.): Das Wissensrevier (s. Anmerkung 1). 8 Winkelmann, Heinrich: Die Sammlungen des geschichtlichen Bergbau-Museums, in: Herbst, Friedrich/Winkelmann, Heinrich: Das Geschichtliche Bergbau-Museum, Bochum 1934, S. 5. 9 Heise, Fritz: Das Geschichtliche Bergbau-Museum der Westfälischen Berggewerkschaftskasse und der Stadt Bochum, in: Heise, Fritz/Winkelmann, Heinrich: Das Geschichtliche BergbauMuseum, Bochum 1931, S. 1–4.
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Abb. 5: Die Sammlung „Atmungsgeräte zum Atmen in unatembaren Gasen“ der WBK vor der Eingliederung in das Bergbau-Museum zu Beginn der 1930er-Jahre
Abb. 6: Die Abteilung Atmungsgeräte für Atmen in unatembaren Gasen in der Halle V des Geschichtlichen Bergbau-Museums, ca. 1934
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Ab 1891 widmete man sich bei der WBK auch verstärkt der geologischen Erforschung der Steinkohlenlagerstätte an der Ruhr. Bis dahin erfolgten geologische Untersuchungen im Wesentlichen durch den preußischen Staat bzw. durch die Preußische Geologische Landesanstalt in Berlin.10 Die eigene Forschung der WBK sollte sich aber verstärkt nach den Bedürfnissen des Steinkohlenbergbaus ausrichten. Ein prominentes Beispiel für diese Forschungen ist die so genannte Flözgleichstellung über das gesamte Ruhrrevier. Besondere Bedeutung erhielt der Vergleich der Steinkohlenflöze und der sie umgebenden Gesteinsschichten verbunden mit deren eindeutigen Identifikation mit Hilfe von Leitfossilien bei der Erschließung der Lippe-Mulde im nördlichen Bereich der Lagerstätte für die „Nordwanderung des Steinkohlenbergbaus“.11 Fortan wurden die geologische Sammlung durch das Aufsammeln von über und unter Tage Funden sowie bei Bohrungen und anderen Aufschlüssen bis in die 1970er-Jahre hinein angereichert.12 Inzwischen sind die geowissenschaftlichen Sammlungen zusammen mit dem ab 1919 öffentlich zugänglichen Geologischen Museum in das DBM überführt worden (Abb. 7 und 8).
Abb. 7: Blick in die Hauptsammlung das Geologische Museum des Ruhrbergbaus, 1960er- Jahre 10 Vgl. Kretschmann, Jürgen/Farrenkopf, Michael (Hrsg.): Das Wissensrevier (s. Anmerkung 1), S. 447–493. 11 Kukuk, Paul: Die Ausbildung der Gasflammkohle in der Lippemulde, in: Glückauf, 1920, S. 509–532, 545–551, 565–572 12 Ganzelewski, Michael/Kirnbauer, Thomas/Müller, Siegfried/Slotta, Rainer: Karbon-KreideDiskordanz im Geologischen Garten Bochum und Deutsches Bergbau-Museum (Exkursion A am 25. März 2008), in: Kirnbauer, Thomas/Rosendahl, Wilfried/Wrede, Volker: Geologische Exkursionen in den Nationalen GeoPark Ruhrgebiet, Essen 2008, S. 114–124.
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Abb. 8: Teile der geologischen Sammlung der WBK an der Bergschule in Essen, 1950/60erJahre
Im Laufe der Zeit wurden die technischen Objekte in den Sammlungen nicht nur mehr, sondern auch größer, wohingegen eine echte Depotlogik nie existierte. Wegen der großen historischen Bedeutung bemühte man sich z. B. auch aktiv um die verbliebenen Teile der frühesten zur Förderung von Salzsole in Westdeutschland eingesetzten Dampfmaschine Watt’scher Bauart von der ehemaligen Saline Königsborn in Unna (Abb. 9). Mit der Rationalisierung, Mechanisierung und Automatisierung im Steinkohlenbergbau entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer leistungsfähigere Maschinen. Die damit verbundene Zunahme in den Dimensionen bei der Maschinentechnik musste zwangsläufig zum begrenzenden Faktor für weiteres Sammeln und Ausstellen werden. Insofern verwundert es nicht, dass die Bergbaugroßtechnik, die in der Maschinenhalle des DBM in einer depotartigen Situation gesammelt wurde, weitgehend nur die Zeit bis in die 1970er Jahre abdeckt (Abb. 10).
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Abb. 9: Dampfzylinder der ab 1799 auf der Saline Königsborn fördernden Dampfmaschine in der Sonderausstellung „Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“ 2018 auf der Kokerei Zollverein in Essen
Abb. 10: Die Maschinenhalle im Deutschen Bergbau-Museum Bochum 2016 vor der Räumung zur Neueinrichtung
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Mit der Gründung des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan. dok) im Jahre 2000 und den damit verbundenen strukturellen Anpassungen wurde die systematische Entwicklung einer „Forschungsinfrastruktur“ am DBM eingeleitet.13 Unter der Berücksichtigung der Gliederung in die Bereiche Bergbau-Archiv, Bibliothek/Fotothek und Museale Sammlungen wurden nicht nur Zuständigkeiten neu geregelt, sondern unter Einsatz des Datenbankprogramms FAUST auch ein alle drei Bereiche umfassendes Werkzeug zur Dokumentation und Recherche geschaffen. Ein Teil der Inhalte ist über das Portal www.montandok.de online recherchierbar. Wenngleich das montan.dok in der Folgezeit seinen musealen Auftrag als sammelnde, bewahrende und forschende Einrichtung des DBM fortsetzte, ohne sich im Sinne eines formulierten Auftrags auf bestimmte Bergbausparten fokussieren zu müssen, war vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen veränderten Rahmenbedingungen im Hinblick auf einen deutschen Steinkohlenausstieg spätestens ab 2007 eine zukünftige Entwicklung zu erahnen. Bei der Vorbereitung der Sonderausstellung „Glück auf! Ruhrgebiet Der Steinkohlenbergbau nach 1945“, die unter großem Engagement der RAG Aktiengesellschaft und der RAG-Stiftung zur Eröffnung des Sonderausstellungsgebäudes des DBM 2009 bis 2010 präsentiert werden konnte, wurden Sammlungslücken erstmals spürbar.14 Zwar war durch die Einrichtung des sogenannten 3. Strebs im Anschauungsbergwerk mit einem Walzenschrämlader ein moderner Steinkohlenbergbau publikumswirksam realisiert. In den systematischen Sammlungen fand sich der moderne Bergbau jedoch nur in geringen Teilen wieder. Insbesondere die Maschinenentwicklung seit den 1970/80er-Jahren ist nur sehr lückenhaft repräsentiert, der aktuellste Stand der Technik ist praktisch gar nicht vertreten. 2013 konnte das montan.dok im Rahmen des Strategieprozesses DBM 2020 erstmals eine von Bergbausparten und zeitlichen Einordnungen unabhängige Analyse der Musealen Sammlungen des DBM erarbeiten, eine Grobstruktur bestimmen, die Alleinstellungsmerkmale benennen und diese den zu dieser Zeit aktiv betriebenen Sammlungsbereichen gegenüberstellen. Eine inhaltliche Grobgliederung der Musealen Sammlungen weist nach der Analyse drei Ebenen auf, die sich entsprechend weiter aufgliedern:
13 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Farrenkopf in diesem Band. 14 Farrenkopf, Michael/Ganzelewski, Michael; Przigoda, Stefan; Schnepel, Inga; Slotta, Rainer (Hrsg.): Glück auf! Ruhrgebiet Der Steinkohlenbergbau nach 1945. Katalog der Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 6. Dezember 2009 bis 2. Mai 2010, Bochum 2009 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 169 = Schriften des Bergbau-Archivs, Nr. 21)
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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(Berg)technische Ebene – Engere Praxis (z. B. Gewinnungsgeräte und -maschinen, Vortriebsmaschinen, Ausbauformen) – Erweiterte Praxis (z. B. Geleucht, Atemschutz und Rettungsgeräte, Wasserhaltung) – Praxis der Aufbereitung und Veredelung (z. B. mechanische und chemische Aufbereitung, thermische und chemische Veredelung) Gesellschaftlich-kulturelle Ebene – Alltagsgeschichtliche Sphäre (z. B. berufsspezifische Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Laienkunst/Devotionalien) – Ständisch-bürgerliche Sphäre (z. B. Uniformen und Attribute, Bronzebüsten, Porträtgemälde, Prunk- und Ehrenpokale, Porzellan- und Glaskunst) – sakral-transzendentale Sphäre (z. B. Objekte zur Heiligen Barbara, Sargschilde) Lagerstätten- Rohstoff-Ebene (Georessourcen) – Mineralogische Sammlung (z. B. Erzmineralien, Metallbarren, Halbprodukte, Energierohstoffe, Salze, Steine und Erden) – Geologisch-paläontologische Sammlung (z. B. Gesteine u. Fossilien des Oberkarbons, Gesteine u. Fossilien des Deckgebirges)
Für einige Bereiche der Musealen Sammlungen kann das DBM eine deutliche Alleinstellung für sich annehmen. Wenig erstaunlich ist, dass die Alleinstellung gerade in den Bereichen festgestellt wurde, die aktuell oder bis vor Kurzem auch aktiv gesammelt und/oder durch Dokumentation bearbeitet werden konnten. Dieses sind Teile der Sammlung der erweiterten bergtechnischen Praxis (z. B. Geleucht und Atemschutz), der ständisch-bürgerlichen und der sakral-transzendentalen Sphäre (z. B. Prunk- und Ehrenpokale, Porträtgemälde, Glas- und Porzellanobjekte, Objekte zur Heiligen Barbara). Wenngleich auch für die engere bergtechnische Praxis, die Praxis der Aufbereitung und Veredelung sowie für alle Bereiche der Lagerstätten und Rohstoffebene eine Alleinstellung angenommen werden kann, war diese bisher nicht durch einen zeitgemäßen Dokumentationsstand nach außen sichtbar und ist dies heute auch erst in Teilen. Wesentlich geringer im Vergleich zu inhaltlich anders ausgerichteten Museumssammlungen (z. B. Ruhr Museum, LWL-Industriemuseum, Vereins- und Heimatmuseen) ist die Alleinstellung der in den Sammlungen von montan.dok vorhandenen alltagsgeschichtlichen Sphäre einzuschätzen bzw. nur bedingt gegeben.
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Aus den analytischen Betrachtungen im Jahre 2013 musste sich für das weltweit größte Fachmuseum des Bergbaus auch zwangsläufig der Anspruch ergeben, Sammlungsdesiderate zu beheben. Mit dem operativen Beginn des Projektes „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung. Aufbau eines Informationszentrums für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus unter Berücksichtigung der Strategie ‚Sammeln im Verbund‘ am Deutschen Bergbau-Museum Bochum“ im November 2014 ließ sich dank der Förderung durch die RAG-Stiftung erstmals ein ganzheitlicher Ansatz für den Sammlungsschwerpunkt „Steinkohlenbergbau“ verfolgen. Ausgewählte Bestände der eigenen Musealen Sammlungen können nun umfassend und kontrolliert dokumentiert werden. Die deutschlandweite Aufnahme von Sammlungen zum Steinkohlenbergbau liefert darüber hinaus zunächst einen Überblick über die an anderen Stellen vorhandenen Zeugnisse der Sparte und macht Sammlungspotenziale erkennbar, legt aber auch Überlieferungsdefizite durch eine übergeordnete Perspektive offen. Die deutschlandweite Befragung der museal organisierten Bergbausammlungen durch Stefan Siemer zielte auch auf die jeweils repräsentierten Sammlungsthemen ab (Tab. 1). Tab. 1: Darstellung der Anzahl der vertretenen Sammlungsthemen bei den im Projekt befragten Steinkohlen-Bergbausammlungen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Objektgruppe
Zahl der Nennungen
Geleucht Gezähe und Werkzeuge Fotografien, Film und Tondokumente Bergmännischer Arbeitsalltag Sonstiges Schriftgut Mineralien und Fossilien Karten, Pläne, Risse Tradition und Andenken Arbeitskleidung Repräsentationskleidung Gewinnungsmaschinen Rettungswesen Modelle Kunstobjekte Nachrichtenübermittlung Bohrtechnik Fahrung, Förderung und Transport Vermessungswesen Spreng- und Schießarbeit Kunsthandwerk Ausbautechnik
82 81 76 76 73 73 71 71 74 69 65 61 58 57 57 56 55 50 42 41 41
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Fortsetzung Tabelle 1
22 23 24 25 26 27
Objektgruppe
Zahl der Nennungen
Elektrik Grubenbewetterung Abteufen und Schachtausbau Wasserhaltung Auffahren der Strecke Lagerstättenerkundung
39 38 33 25 24 14
Daraus ergibt sich zwar zunächst nur ein erster Überblick, der einerseits eine Gesamteinschätzung erlaubt. Die detaillierte Auswertung sollte andererseits auch einen Handlungsansatz für notwendige Sicherungen liefern, wenn man ein möglichst breites Spektrum des Steinkohlenbergbaus durch Sammeln und Bewahren im Sinne des Projekttitels erhalten will (Tab. 2). Tab. 2: Ausschnitt aus der Auswertung der Befragung der Steinkohlen-Bergbausammlungen Position 1 14 25 26 27
Relevanz 1 Geleucht Kunstobjekte Wasserhaltung Auffahren der Strecke Lagerstättenerkundung
Anzahl
%
1
2
3
4
5
82 57 25 24 14
90,1 62,6 27,5 26,4 15,4
11 23 13 10 8
12 11 6 5 1
25 16 3 4 4
13 2 1 4 1
20 4 1 1 0
Scheinbar existieren in Bergbausammlungen Sammlungsbereiche, die als Sammlungsgebiet attraktiver sind, als andere. An erster Stelle steht das Grubengeleucht, das zu sammeln im heutigen Sprachgebrauch wohl als „sexy“ angesehen werden muss. Hier hat sich sogar wie in keinem anderen Bereich eine weit über die Reviergrenzen hinausreichende, internationale Sammlerszene gebildet. Eine detaillierte Deutung soll hier nicht vorgenommen werden. Die Ursachen sind sicher vielschichtig. Grubenlampen und bergmännisches Gezähe, die in gewisser Weise zu den „persönlichen“ Utensilien der Bergleute gehörten, sind nahezu in allen Sammlungen vertreten und bei einer überschaubaren Größe der meisten Einzelobjekte gut zu handhaben. Objekte zu den Themen „Auffahren der Strecke“, „Wasserhaltung“ und „Lagerstättenerkundung“ stehen scheinbar auf der „roten Liste“, da sie kaum in den Sammlungen vertreten sind. Eine Konsequenz muss daher sein, perspektivisch auch die weniger „attraktiv“ erscheinenden Themenbereiche in das Blickfeld zu rücken, um ggf. auch sammlungsübergreifende Überlieferungslücken schließen zu können, zumindest soweit dies im gegebenen Rahmen möglich ist. Hierdurch kann auch einem
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weitgehenden Verlust von Zeugnissen bestimmter Techniken oder Technikschritte in der Objektüberlieferung entgegengewirkt werden. Verfolgt man dabei den oben genannten typologischen Ansatz für die meisten Sammlungsbereiche, müssen bisherige operative und räumliche Möglichkeiten deutlich erweitert werden. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Streckenvortriebsmaschine in der Dauerausstellung des DBM. Der Dosco Roadway Cutter Loader der Paurat GmbH aus dem Jahr 1963 ist mit rund 7 m Länge, einer Breite von rund 3 m und einer Höhe von weit über 2 m (je nach Stellung des Schneidkopfes) sowie einem Gewicht von ca. 17 t sicher als ein großes Sammlungsobjekt zu betrachten (Abb. 11). Moderne Bergbaumaschinen aus dem Steinkohlenbergbau sind komplexe Einheiten und erreichen ein Vielfaches der genannten Abmessungen und Gewichte. Eine Teilschnittmaschine (TSM) des Typs AM 105, wie sie bis zuletzt in den Bergwerken der RAG Aktiengesellschaft eingesetzt war, wiegt ca. 123 t, ist knapp 15 m lang und über 7 m breit. Ähnliches gilt auch für Maschinen anderer bergtechnischer Funktionen. Sie sind im Gebäude des DBM nicht unterzubringen. Durch das Engagement der RAG Aktiengesellschaft und die nun schon viele Jahre andauernde Zusammenarbeit des DBM mit dem Bergbauunternehmen, die u. a. auf die Bewahrung eines „dinglichen Erbes des deutschen Steinkohlenbergbaus“ hinzielt, ergeben sich Möglichkeiten, die „Giganten der Unterwelt“ zu bewahren, ihre auratische Wirkung zu konservieren und sie als Forschungsobjekte vorzuhalten.
Abb. 11: Teilschnittmaschine DOSCO DRCL der Paurat GmbH (1963) in der Maschinenhalle des DBM
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Ein weiteres, oben bereits erwähntes und für die Qualität einer Forschungsinfrastruktur relevantes Desiderat ist eine bisher in weiten Teilen fehlende systematische Dokumentation oder besser ausgedrückt, eine Dokumentation anhand einer kontrollierten Sammlungssystematik. Die Erschließung von Sammlungsobjekten über eine entsprechende Systematik wird heute eigentlich als Standard angesehen. Für umfassende Bergbausammlungen wurde eine entsprechende Systematik aber bisher gar nicht entwickelt. Damit konnte während des GBGVProjektes begonnen werden und sie wird in der Projektfortsetzung weiterverfolgt. Die neue Systematik soll bestehende museale Standardsystematiken (z. B. die Hessische Systematik) ergänzen und damit eine fachliche Vernetzung aktiv fördern.15 Bereits erfolgt ist die systematische Erschließung für größere Anteile in den Objektgruppen: Geleucht, Atemschutz, Gewinnungsmaschinen, Abbauhämmer, Ausbautechnik, Bohrmaschinen, Lokomotiven und Förderwagen.16 In der kunsthistorischen Sammlung ist im Projektrahmen die Dokumentation von Gemälden und Skulpturen vorgesehen. Für andere Objektgruppen der kunstund kulturhistorischen Sammlungen steht dies noch weitgehend aus. Vorarbeiten hierzu existieren durch die umfangreichen Katalogisierungen z. B. von Glas-, Porzellan- und Metallobjekten für Ausstellungsprojekte des DBM in der Vergangenheit. Wenngleich die systematische Dokumentation technischer Objekte der Sammlungen des DBM in der letzten Zeit verstärkt erfolgen konnte und deutlich vierstellige Datensatzzahlen hervorgebracht hat, bleibt festzustellen, dass dies umfassend und effektiv leider bis heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur im Rahmen von Drittmittelprojekten realisierbar war. Inhaltliche Zuständigkeiten im Sinne eines wissenschaftlichen Kuratorenmodells mit einem entsprechenden Unterbau, wie dies z. B. im Deutschen Museum in München geregelt ist, existieren außerhalb einer Projektlogik am DBM bisher nicht.17 Neben den im Rahmen dieses Projektes bearbeiteten Objektgruppen wurden beispielsweise in den Jahren 2009 bis 2011 durch Studentinnen und Studenten der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) ein Großteil der Atemschutzgeräte nach restauratorischen und konservatorischen Kriterien dokumentiert. Anhand dieser Objektgruppe aus der bergbaulichen Atemschutzsammlung lässt sich beispielhaft der Diskurs zur Beziehung von (technischen) Sammlungsobjekten und 15 Vgl. dazu den Beitrag von Claus Werner in diesem Band. 16 Offenbar gehört auch im DBM das bergmännische Geleucht zu den attraktiveren Sammlungsbereichen. Das kann eine Erklärung dafür sein, dass sich bereits vor mehr als 10 Jahren ein Kreis aus ehrenamtlich arbeitenden Personen um die systematische Dokumentation der Sammlung gekümmert hat. 17 Deutsches Museum: Jahresbericht 2017, München 2018, S. 167 und die Liste der wissenschaftlichen Mitarbeiter unter: www.deutsches-museum.de/forschung/wissenschaftl-mitarbeiter/ (Stand: 15.01.2019)
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aktueller Sammlungsforschung führen. Zunächst sind diese Objekte mit modernen, organischen, oft weniger stabilen Materialien Gegenstand der Restaurierungsforschung. Diese kann in gewisser Weise am Anfang wissenschaftlicher Bemühungen stehen, Objekte zu bewahren, um sie einerseits noch lange der Öffentlichkeit zu präsentieren zu können und andererseits für zukünftige Forschungsfragen als Objektbasis zu sichern (Abb. 12 und 13).18
Abb. 12: Durch Alterung verändertes Bauteil eines Atemschutzgerätes (Dräger Bergbaugerät Modell 1924)
Abb. 13: „Gastaucher“, Hanseatische Apparatebau-Gesellschaft, vorm. Ludwig von Bremen, Kiel, 1884 in der Ausstellung des DBM 18 Vgl. dazu den Beitrag von Elena Gómez Sánchez in diesem Band.
Die Musealen Sammlungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum
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Das Ziel muss sein, die Forschungsinfrastruktur des DBM perspektivisch durch die systematische Sammlungsarbeit zu stärken und die Musealen Sammlungen als gesellschaftlich relevanten Teil des mobilen Kulturguts des Bergbaus stärker in Wert zusetzen. Die Rahmenbedingungen hierzu müssen an diese Anforderungen angepasst werden, wozu dieses Projekt einen erheblichen Beitrag über die eigenen Sammlungen hinaus leisten soll.
Claus Werner
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation und Objektnamenthesaurus zur Bergbautechnik am Deutschen Bergbau-Museum Bochum Eine Sammlung zu dokumentieren geht Hand in Hand mit der Dokumentation der zugehörigen Ausdrücke und Bezeichnungen. So ist das Sammeln von materieller Kultur immer auch die Anhäufung eines Wortschatzes. Es kommt somit nicht von ungefähr, dass das lateinische Wort „thesaurus“ für Vorrat oder Schatz(kammer) sowohl für materielle als auch für sprachliche Zusammenstellungen verwendet wird. In der museologischen Sammlungstheorie steht der Thesaurus für das abstrakte Idealschema einer Sammlung und den konkreten Sammlungsbestand, während er im Dokumentationswesen ein geordnetes Vokabular bezeichnet, das auch die Beziehungen der Bezeichnungen zueinander abbildet.1 Auch im Projekt „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung“2 gingen Ding- und Wortsammlung Hand in Hand: Neben der Erfassung der Sammlungen zum deutschen Steinkohlenbergbau und der Nachinventarisierung der entsprechenden Sammlungsbestände am Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM) war auch die Überarbeitung der Sammlungsklassifikation und des Objektnamenthesaurus zur Bergbautechnik eine Aufgabe. Darüber hinaus sollten Sammlungsklassifikation und Objektnamenthesaurus nicht nur die Sammlungsdokumentation am DBM unterstützen, sondern auch anderen Sammlungen als Hilfsmittel dienen können. Der vorliegende Aufsatz soll als knapper Werkstattbericht die Entwicklung und den Aufbau der neuen Sammlungsklassifikation und des neuen Thesaurus vorstellen. Das Folgende ist zum Teil umgesetzt, zum Teil aber auch noch in einer Testphase oder muss erst noch im Detail erarbeitet werden. Besonders beim Objektnamenthesaurus steht die eigentliche Arbeit erst noch an.
1 Vgl. Waidacher, Friedrich: Handbuch der Allgemeinen Museologie. 3. unv. Aufl., Wien u. a. 1999, S. 187; Walz, Markus: Theoretische Grundlagen der Sammlungsdokumentation, in: ders. (Hrsg.): Handbuch Museum, Stuttgart 2016, S. 178–182, hier: S. 178. 2 Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020. https://doi.org/10.1515/9783110683097-005
70 Claus Werner
Kurzer historischer Überblick zum kontrollierten Vokabular am Bochumer Bergbau-Museum Sowohl die Sammlungsklassifikation als auch der Thesaurus stellen keine von Grund auf neuen Instrumente dar, da im unterschiedlichen Maße auf bereits vorhandene Vorarbeiten in der Sammlungsdokumentation am DBM zurückgegriffen werden konnte. Bereits ab 1940 wurde die Sammlung nach einer Klassifikation sortiert, die mit der Neuplanung der Dauerausstellung ab 1937 im Zusammenhang zu stehen scheint. Sie umfasste zunächst 41 Abteilungen, wurde aber nach kurzer Zeit auf 45 erweitert. Inhaltlich spielte die Bergbautechnik eine große Rolle. Dazu kamen Abteilungen mit Bezug zum größeren wirtschaftlichen Rahmen, Aspekte der bergmännischen Lebens- und Arbeitswelt sowie auch andere Bergbauzweige (Salzbergbau). Unter seinem Gründungsdirektor Heinrich Winkelmann war das Museum hauptsächlich um drei Vermittlungsziele bemüht: eine ausführliche und anschauliche technische Entwicklung des Bergbaus von den Anfängen bis heute, die Werbung für den Bergbau als Berufsstand in der breiten Bevölkerung und die Stärkung des Selbstbewusstseins der Bergleute durch die Darstellung einer kollektiven bergmännischen Identität und Tradition. 1976 erfolgte ein umfassender Umbau der Sammlungsgliederung im Rahmen einer Sammlungserfassung mittels EDV. Die Sammlungsabteilungen wurden durch so genannte Hauptsachgebiete ersetzt. Diese Sachgebiete galten nicht nur für die Sammlung, sondern wurden auch beim Verzeichnen der Bücherund Fotobestände verwendet. Insgesamt umfassten sie 88 Gebiete und waren thematisch durch naturwissenschaftliche, technische, wirtschaftliche, juristische, soziale und kulturelle Gesichtspunkte erweitert worden. Neben der Verwendung für die Bibliothek lag dies auch am Umbau zum Forschungsmuseum, wodurch neue Themenfelder wie Arbeits- und Alltagsgeschichte, Sozialgeschichte und Montanarchäologie zu berücksichtigen waren. Schließlich wurde ab 1976 in der Sammlung zum ersten Mal mit einer Schlagwortliste als kontrolliertem Vokabular zum Indexieren gearbeitet neben weiteren Schlüsselkatalogen für Orte, Zeiten und Materialien. Mit der Verwendung der Datenbanksoftware FAUST für den Sammlungsbestand seit 2003 wurde schließlich ein Objektnamenthesaurus angelegt. Er stellte eine erste strukturierte Sammlung ausschließlich von Objektbezeichnungen dar. Er wurde für die gesamte Sammlung (Montanarchäologie, Geologie, Museale Sammlung) verwendet und umfasste zuletzt 2982 Begriffe. Allerdings glich er
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation
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mehr einer einfachen, hierarchischen Systematik, da er durch ad-hoc-Ergänzungen ohne regelmäßige Pflege wuchs und somit auch eine terminologische Kontrolle meist unterblieb.
Die Schatzsuche Nach diesem Überblick über den Bestand am DBM mussten wir uns über unsere Anforderungen an die Sammlungssystematik klarer werden. Ihre Hauptaufgabe sollte darin bestehen, die Sammlungsbestände zur Bergbautechnik zu gliedern und so einen Überblick über den Bestand zu ermöglichen. Allerdings entschieden wir uns bewusst gegen eine Fokussierung auf die Bergbautechnik zu einem bestimmten Rohstoff. Dies hatte maßgeblich zwei Gründe. Zum einem hat die Sammlung des DBM zwar einen Schwerpunkt im Steinkohlenbergbau des Ruhrgebietes, aber auch umfassende Bestände zum Bergbau aus anderen Zeiten, Regionen und von anderen Rohstoffen. Zum anderen wollten wir die Klassifikation bewusst für andere Museen und bergbauliche Sammlungen anwendbar halten, weshalb sie fähig sein musste, viele Aspekte abzudecken, ohne sich allzu sehr auf eine bestimmte Rohstoffsparte zu spezialisieren. Ein weiterer Aspekt war eine möglichst einfache, flache hierarchische Struktur, um sie im Sammlungsalltag leicht handhaben zu können. So wurde die Anzahl der Hierarchieebenen bei einer monohierarchischen Struktur auf drei begrenzt, das heißt jede Klasse darf nur maximal eine Oberklasse haben. Nachdem wir uns über unsere Anforderungen an eine Klassifikation klar geworden waren, verschafften wir uns einen Überblick über bereits vorhandene externe Vokabulare und Systematiken hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus dem Museumsbereich.3 Nach dem Überblick bewerteten wir sie unter bestimmten Kriterien wie: Ist ein bergtechnischer Bereich vorhanden und wie umfangreich? Welchen Gliederungsaspekten folgt die Klassifikation? Ist der Aufbau monohierarchisch? Wie hoch ist die Anzahl der Hierarchieebenen? Was war ihr ursprünglicher Einsatzzweck und wer ihr Ersteller? Wird die Klassifikation wei3 An Klassifikationen wurden gesichtet: Knorr, Heinz A.: Inventarisation und Sammlung in den Heimatmuseen, Halle a. d. Saale 1958; Trachsler, Walter: Systematik kulturhistorischer Sachgüter, Bern u. a. 1981; Lapaire, Claude: Kleines Handbuch der Museumskunde, Bern u. a. 1983; SHIC Working Party. Social History and Industrial Classification, Sheffield 1983; Wagner, Kornelia (Bearb.): Systematik zur Inventarisierung kulturgeschichtlicher Bestände in Museen, 5. Auflage, Kassel 2009; Internationale Patentklassifikation (IPC), an Thesauri die Gemeinsame Normdatei (GND), der Arts and Architecture Thesaurus (AAT) und die Oberbegriffsdatei (OBG).
72 Claus Werner
terhin gepflegt und wenn ja von wem? Wie weit ist sie verbreitet? Existiert sie in einer digitalen Form und wenn ja in welchen Austauschformaten? Unsere Hoffnung lag natürlich darin, ein bereits vorhandenes System zu finden, das wir mit möglichst geringen Anpassungen übernehmen konnten, um so den Arbeitsaufwand gering zu halten. Ferner wollten wir Anschluss an eine bereits vorhandene und verbreitete Klassifikation bzw. eines Vokabulars erhalten. Doch leider gelang uns dies nicht. Bei Klassifikationen fehlte uns entweder eine gewisse Trennschärfe in den Abteilungen, oder es wurde nach Rohstoffsparte getrennt. Bei den Thesauri war meist nur ein geringer Bestand an Bezeichnungen von Bergbauobjekten enthalten. Der nächste Schritt bestand darin, für Sammlungsklassifikation und Objektnamenthesaurus die möglichen Quellen für eine Terminologie zusammenzustellen. Neben den bereits am DBM verwendeten Vokabularien wurde auch auf die bereits recherchierten externen zugegriffen. Wichtigste Quelle bildete aber die Fachliteratur in Form von Handbüchern und Fachlexika, in Spezialbereichen ergänzt durch die umfangreiche Prospektsammlung des DBM. Aufbauend auf diesen Quellen wurde für Sammlungsklassifikation und Objektnamenthesaurus zunächst jeweils eine Grobklassifikation zusammengestellt, der die verschiedenen Bezeichnungen zugeordnet wurden inkl. weiterer Angaben wie Quellenbeleg, Status als Deskriptor oder Nicht-Deskriptor oder Definition. Auch eine formale Anpassung, zum Beispiel die Auflösung von Abkürzungen, erfolgte bereits in diesem Schritt.
Die Sammlungsklassifikation Bergbautechnik Im Ergebnis besteht die Sammlungsklassifikation aus insgesamt 60 Klassen verteilt auf drei Hierarchieebenen inklusive 12 Klassen zum Thema Weiterverarbeitung. Die Logik der Klassifikation folgt grob den Arbeitsbereichen und dem Einsatzzweck in einem bergbaulichen Betrieb. Einige Bereiche ordnen nach der Funktionsweise von Objekten, wenn diese nicht einem eindeutigen Einsatzzweck zugeordnet werden können wie z. B. die Sachgruppen „Gezähe und Handwerkzeuge“ oder „Maschinenteile, Verbindungselemente und sonstiges Zubehör“ sowie „Bohren“ oder „Spreng- und Schießarbeit“, die tendenziell Objekte umfassen können, die sowohl beim Abteufen, dem Vortrieb oder der Gewinnung zum Einsatz gekommen waren. Die Beschränkung auf drei Hierarchieebenen soll nicht nur einen besseren Überblick und eine bessere Handhabung im Verzeichnisalltag ermöglichen. Sie
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation
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erfolgt auch bewusst in Anlehnung an die „Systematik zur Inventarisierung kulturgeschichtlicher Bestände“, herausgegeben vom Hessischen Museumsverband e. V. in der fünften, überarbeiteten Auflage 2009, kurz „Hessische Systematik“. Sie besteht aus den drei hierarchischen Ebenen Bereich, Sachgruppe und Untergruppe, wobei nicht jede Sachgruppe noch weitere Untergruppen aufweist. Sie ist mit Blick auf Anwendbarkeit in (kleineren) Museen mit heterogenem Bestand an kulturgeschichtlichen Objekten entwickelt worden und kann an individuelle Bedürfnisse angepasst werden. Somit ist die am DBM entstandene Sammlungsklassifikation Bergbautechnik eine Spezialisierung und Erweiterung des Bergbau-Bereiches der Hessischen Systematik und kann mit dieser kombiniert werden bzw. diese ergänzen. Gerade kleinere Bergbausammlungen, die häufig nicht nur Bergbautechnik, sondern auch die weitere Kulturgeschichte des Bergbaus sammeln, erhalten so eine Hilfe, ihre Sammlungen sowohl im technischen als auch kulturellen Bereich zu erschließen (Abb. 1).
Abb. 1: Auszug aus der neuen Sammlungsklassifikation Bergbautechnik
74 Claus Werner
Vielen Klassen sind kurze Erläuterungen (scope notes) vorangestellt, die eine Orientierung für die Einordnung von Objekten bieten, z. B. in Form von Begriffsbeschreibungen und Verweiserläuterungen (Abb. 2). Dies geschieht anhand von Definitionen, Hinweisen auf den Anwendungsbereich der Klassen, Verweise auf andere Klassen sowie Gegenstandsbeispielen. Schließlich wird auch auf ähnliche Begriffe in anderen Vokabularien verwiesen.
Abb. 2: Die scope notes zur Klasse „Grubenausbau“ mit Definition und Verwendungshinweise (blau), Verweise auf andere Klassen (rot), Gegenstandsbeispiele (grün) und Verweise auf andere Vokabularien (lila).
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation
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Der Objektnamenthesaurus Weitaus komplexer und aufwendiger waren die Arbeiten zum Objektnamenthesaurus. Auch hier überlegten wir uns zunächst die Anforderungen. So sollte er den Namen von Geräten, die im Bergbau eingesetzt worden waren, sammeln. Wie die Klassifikation sollte auch er unabhängig von Rohstoffen funktionieren. Er sollte der bisherigen Verzeichnispraxis Rechnung tragen, dass nur ein Objektname vergeben wird. Und schließlich sollte er den Anforderungen eines Thesaurus gemäß DIN 1463, Teil 1 folgen. Nachdem unsere Suche nach einem bereits etablierten Vokabular erfolglos blieb, entwickelten wir aus diesen Anforderungen genauere Regeln für den Aufbau eines eigenen Thesaurus. So sollen als Vorzugsbenennungen nur Einzahl-Ausdrücke aufgenommen werden, Plural-Bezeichnungen können als Synonyme ergänzt werden. In der Regel sollen nur Substantive aufgenommen werden. Im Falle von Bezeichnungen, die sich aus mehrere Wörtern zusammensetzen, wird die natürliche Wortfolge als Vorzugsbenennung notiert (Bsp.: Pfälzer Frosch), und die invertierte als Synonym (Frosch, Pfälzer) aufgenommen. Generell sollen möglichst allgemein verständliche, kurze Begriffe aufgenommen werden, um die Begriffe für die Benutzer auch vorhersehbar zu halten. Insbesondere sollen Neuschöpfungen oder Präkombinationen (wie „Seilscheibendampffördermaschine“) gemieden werden, auch als Synonyme. Kurzformen sollen nur enthalten sein, wenn sie allgemein bekannt sind (Beispiel: Pkw). Mehrdeutige Bezeichnungen, so genannte Homonyme oder Polyseme, werden mit Zusätzen in runden Klammern unterschieden. Auf diese Art kann die „Schaufel (Handwerkzeug)“ von der „Schaufel (Bauteil)“ eines Schaufelradbaggers getrennt werden. Zusätzlich enthält der Thesaurus noch Gliederungsbegriffe, die helfen sollen, ihn zu strukturieren. Sie sind keine Objektbezeichnung und auch nicht zur Verzeichnung gedacht. Die Thesaurusstruktur ist polyhierarchisch, d. h. ein Begriff kann mehrere Oberbegriffe haben. Bei den Unterbegriffen jedoch ist er monodimensional, sie sollten somit nur einem gemeinsamen Gesichtspunkt folgen. Potentielle andere Unterbegriffe, die sich nach einem anderen Aspekt unterscheiden, werden als QuasiSynonyme zum Oberbegriff aufgenommen. Um diese Regeln zu illustrieren folgt nun ein genauerer Blick auf den Thesaurus. Auf den obersten Hierarchieebenen gliedert er sich in fünf Bereiche (Abb. 3): – Handwerkzeug und Gezähe – Bergbautechnik – Weiterverarbeitung – weitere Einsatzfelder – Maschinenbau
76 Claus Werner
Abb. 3: Die obersten zwei Ebenen zum Objektnamenthesaurus
Die Bereiche Bergbautechnik und Weiterverarbeitung entsprechen in ihrer Gliederung größtenteils der „Sammlungsklassifikation Bergbautechnik“. Abb. 4 zeigt die Vorzugsbenennung „Haspel“ im Objektnamenthesaurus. Dessen Unterbegriffe sind nach der Art des Seilträgers (Trommel, Treibscheibe oder Parabolscheibe) gegliedert. Allerdings kann der gleiche Haspel, wie beispielsweise der in Abb. 5 auch als Schrapperhaspel, Elektrohaspel oder Seilhaspel bezeichnet werden, also nach Einsatzzweck, Antriebsart oder Zugmittel.
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation
Abb. 4: Auszug aus dem Objektnamenthesaurus zur Objektbezeichnung „Haspel“
Abb. 5: Ein Haspel aus dem Anschauungsbergwerk des DBM
77
78 Claus Werner
Abb. 6: Das Legende-Fenster am Beispiel des Deskriptors „Haspel“. Im Kommentarfeld finden sich Definition und Verwendungshinweise, insbesondere der Gliederungsgesichtspunkt für die Unterbegriffe (UB). Unter BF stehen Synonyme und Quasi-Synonyme, die potentielle Unterbegriffe nach anderen Gesichtspunkten sind (in diesem Falle nach Einsatzzweck, Antriebsart oder Zugmittel). Einer der Oberbegriffe (OB) und der Verwandte Begriff (VB) sind als Gliederungsbegriffe markiert, die nicht zum Verzeichnen herangezogen werden sollen.
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Abb. 6 zeigt die semantischen Relationen zum Begriff „Haspel“. Er hat zwei Oberbegriffe: den Oberbegriff „Transportzubehör (Gliederungsbegriff)“, der im bergtechnischen Teil des Thesaurus enthalten ist, und den Begriff „Hebezeug“ im Bereich der „weiteren Einsatzfelder“ (s. blauer Kasten in Abb. 6). Als echtes Synonym bzw. Nicht-Vorzugsbenennung ist die Bezeichnung „Winde“ verzeichnet (erste Bezeichnung im grünen Kasten in Abb. 6). Die Unterbegriffe folgen der Art der Seilführung: „Trommelhaspel“, „Treibscheibenhaspel“ oder „Parabolscheibenhaspel“. Bezeichnungen, die anderen Gesichtspunkten folgen, werden als Quasi-Synonyme behandelt und mit „(QS)“ gekennzeichnet (s. grüner Kasten in Abbildung 6): nach Einsatzzweck („Abteuf-“, „Förder-“, „Schrapper-“ und „Wickel-Haspel“), Antriebsart („Hand-“, „Elektro-“, „Druckluft-“, „Dampf-“ oder „Benzinhaspel“), Seilart („Seil-“ oder „Kettenhaspel“) oder Standort („Blindschlachthaspel“). Der Grund in der Aufnahme von Quasisynonymen liegt in der bisherigen Verzeichnispraxis am DBM, laut der ein Datensatz zu einem Objekt nur einen Objektnamen erhalten darf. Dies hatte für den Thesaurus die Konsequenz, dass die Unterbegriffe einem einheitlichen Gesichtspunkt folgen müssen, um Eindeutigkeit in der Verzeichnung zu erhalten, und nicht einen Haspel mal als Schrapperhaspel, dann als Trommelhaspel und ein anderes Mal als Elektrohaspel zu verzeichnen.4 Andere Objektbezeichnungen, die Unterteilungsgesichtspunkten wie Verwendungsmöglichkeit, Einsatzbereiche, Materialität, Antriebsart, Aufstellungsort usw. folgen, werden als Teilsynonyme zum Oberbegriff betrachtet und somit als Nicht-Deskriptoren erfasst. Dadurch wird die Polydimensionalität der Unterbegriffe, also deren Gliederung nach alternativen Unterteilungsgesichtspunkten, zumindest in der Äquivalenzklasse des Oberbegriffs gesammelt, wenn auch nicht abgebildet. So stehen sie für Suchanfragen zur Verfügung, können aber nicht bei der Objektverzeichnung vergeben werden. Die besondere Kennzeichnung mit angehängtem „(QS)“ ermöglicht es, später gezielt diese Begriffe zu richtigen Unterbegriffen zu machen, falls der Thesaurus auch polydimensional Unterbegriffe nach verschiedenen Gesichtspunkten sortieren soll. Schließlich werden für die Bezeichnungen des Thesaurus ebenfalls Verweise auf die Literatur und auf andere Vokabularien gezogen wie bei der Sammlungsklassifikation (Abb. 7).
4 Auch wenn es Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Aspekten gibt: Haspel für Einschienenhängebahnen oder Flurfördermittel sind i. d. R. Trommelhaspel, ebenso gilt dies für Hobelantrieb oder Antrieb der Schrämmaschinen, wo aber auch Parabolscheibenhaspel vorkommen können. Blindschachthaspel sind meistens Treibscheibenhaspel.
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Abb. 7: Literaturverweise und Mapping zum Thesaurusbegriff „Haspel“
Nach Abschluss des Projektes „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung“ enthält der Objektnamenthesaurus 1483 Bezeichnungen. Davon 714 Vorzugsbenennungen, 328 Synonyme, 335 Quasi-Synonyme und 106 Gliederungsbegriffe. Durch die ebenfalls im Projekt stattgefundene Inventarisation von Altbeständen (verzeichneten wie unverzeichneten) sind mit knappen 4000 Datensätzen ca. 20 % der Objektdatensätze der Musealen Sammlungen in der FAUST-Datenbank einer Klasse der neuen Sammlungsklassifikation zugeordnet und mit einer Objektbezeichnung aus dem neuen Objektnamenthesaurus versehen worden.
Von Abbauhammer bis Zylinderkappe. Sammlungsklassifikation
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Doch die Arbeit kann jetzt erst richtig losgehen. Insbesondere der Thesaurus wird mit der Verwendung im Verzeichnisalltag und regelmäßiger redaktioneller Pflege seine Systematik verbessern: Weitere benötigte Bezeichnungen werden ergänzt und erweitert, unbenutzte Deskriptoren gelöscht, Gliederungsbegriffe durch richtige Objektbezeichnungen ersetzt und Querverweise durch den Thesaurus mittels assoziativer Beziehungen und verwandter Begriffe gezogen. Insbesondere der noch recht hohe Anteil an Gliederungsbegriffen zeigt, dass der Objektnamenthesaurus momentan noch eher dem Status einer Grobsystematik hat. Die Schatzsuche geht also weiter, mit neuer Systematik und dem Objektnamenthesaurus als Karte.
Sammlungen
Thomas Schürmann
Sammeln in Bergbaumuseen und Schaubergwerken Anzahl und Art der Einrichtungen Die Grundlage für den hier gegebenen statistischen Überblick ist eine Umfrage, die ich 2015 im Namen der Volkskundlichen Kommission für Westfalen unter den Bergbaumuseen und Schaubergwerken des deutschsprachigen Raumes unternommen habe.1 Bei der vorbereitenden Recherche kam ich insgesamt auf 222 einschlägige Einrichtungen, also solche, die einem breiteren Publikum an originalen Objekten schwerpunktmäßig die bergmännische Gewinnung von Mineralien zeigen. Von den Einrichtungen befinden sich 188 in der Bundesrepublik, 25 in Österreich, fünf in Südtirol und vier in der Schweiz. Diese Zahlen sind, mit wenigen Zu- und Abgängen, in den letzten zwei Jahren weitgehend konstant geblieben. Zunächst bedarf es aber einer Rechtfertigung, warum ich Museen und Schaubergwerke gemeinsam behandelt habe. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen beiden Arten von Einrichtungen fließend. Auch Besucherbergwerke haben in den angeschlossenen Gebäuden oft Ausstellungsräume, in denen sie eigene Sammlungen zur lokalen Bergbaugeschichte präsentieren; zum Teil verfügen sie sogar über Magazine und Sammlungskonzepte und verstehen sich mitunter als Stätten der Forschung. Damit erfüllen sie großenteils die Aufgaben, die als die Kernaufgaben des Museums gelten: Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln. So gibt denn auch der Name der Einrichtung, wenn im Namen das Wort „Museum“ oder „Bergwerk“ vorkommt, nur einen ersten, freilich sehr unsicheren Anhaltspunkt. Wenn man diese Namen zum Maßstab nimmt, überwiegen die Schaubergwerke an Zahl. So weisen sich 91 Einrichtungen als Museen aus, 125 Einrichtungen firmieren als Besucher-, Schau-, oder Lehrbergwerk, als Besucherstollen oder überhaupt als Bergwerk, Stollen, Grube oder Bergbauwelt. Sechs Häuser sind durch ihren Namen weder als Museum noch als Besucherbergwerk ausgewiesen, doch auch hier deuten ergänzende Informationen darauf hin, dass es sich bei ihnen dem Selbstverständnis und Aufgabenspektrum nach um einschlägige Einrichtungen handelt. 1 Zu Teilen der Ergebnisse vgl. Schürmann, Thomas: Bergbaumuseen und Schaubergwerke. Eine Umfrage im deutschsprachigen Raum, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 60, 2015, S. 275–305, hier: S. 283 ff. https://doi.org/10.1515/9783110683097-006
86 Thomas Schürmann
Bei einer angenommenen Gesamtzahl von 222 einschlägigen Einrichtungen liegt der Rücklauf mit 117 beantworteten Fragebogen bei knapp 53 %. Diese Quote ist zwar deutlich geringer als etwa bei den jährlichen Umfragen des Instituts für Museumsforschung,2 doch dürfte die Erhebung als Arbeitsgrundlage ausreichende Näherungswerte ergeben. Auch die Größenverhältnisse zwischen Museen und Schaubergwerken stimmen weitgehend überein (Abb. 1). Für die Auswertung deutet dies darauf hin, dass die an der Umfrage beteiligten Einrichtungen gemessen an der recherchierten Gesamtzahl einigermaßen gleichmäßig verteilt.
Abb. 1: Für die Umfrage 2014/15 ermittelte und antwortende Einrichtungen
Der sieben Seiten umfassende Fragebogen enthielt Fragen zur Einrichtung (Rechtsform, Träger, haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter, Jahr und Anlass der Gründung), zur Zahl der Besuche, zur Art der Besuchergruppen, zu Öffnungszeiten etc., zum Vorhandensein eines Schau- oder eines Anschauungsbergwerkes, zu Inhalten von Dauer- und Sonderausstellungen, zu Ausstellungsmitteln, Museumspädagogik, Aktionstagen, Forschen und Sammeln sowie abschließende Fragen zu Plänen und Zukunftserwartungen. Einen Hinweis auf Größe und Bedeutung der Museen und Schaubergwerke geben die angegebenen Besuchszahlen. Hier reicht die Spanne von ca. 40 bis zu 1 400 000 jährlichen Besuchen (Tab. 1). Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass durch das Deutsche Bergbau-Museum Bochum und durch das Deutsche Museum in München – dorthin habe ich wegen des großen Anschauungsbergwerkes einen Fragebogen geschickt – der Durchschnittswert deutlich nach oben gedrückt wird. Mit diesen beiden Häusern liegt die durchschnittliche Besuchszahl bei gut 32 000; ohne sie läge er bei gut 16 000. In ihrer Größenord2 Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Institut für Museumsforschung, Heft 70: Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2015, Berlin 2016. Unter: www.smb.museum/fileadmin/website/Institute/Institut_fuer_Museumsforschung/Publikationen/Materialien/mat70.pdf (Stand: 03.11.2017).
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87
nung sind die Besuchszahlen mit den Werten vergleichbar, die das Institut für Museumsforschung für die Gesamtheit der deutschen Museen ermittelt hat; hier lässt sich für das Jahr 2013 ein Durchschnitt von 23 321 errechnen.3 Dieser Wert ist 2015, dem bisher jüngsten Jahr, für das Besuchszahlen veröffentlicht wurden, mit durchschnittlich 23 200 nahezu gleichgeblieben.4 Tab. 1: Angegebene Besuchszahlen der Museen und Schaubergwerken Besuchszahl
Bergwerk
Museum
bis 1 000 bis 5 000 bis 10 000 bis 20 000 bis 50 000 bis 100 000 über 100 000 keine Angabe Antworten gesamt
10 14 16 7 8 3 2 7 67
13 12 6 8 4 1 2 46
andere Namen 3 1
4
gesamt 23 29 23 15 12 4 4 7 117
Auch in der Verteilung nach Größenklassen lassen sich die Bergbaumuseen und Schaubergwerke mit den übrigen Museen vergleichen. So gehörten nach den Erhebungen des Instituts für Museumsforschung 55,2 % der Museen zur Gruppe der „kleinen und kleinsten Museen“ mit bis zu 5000 Besuchen jährlich;5 in unserer Umfrage lassen sich 52 Einrichtungen bzw. 47 % unter diese Gruppe fassen. Wenn man die befragten Einrichtungen in Bergbaumuseen und Schaubergwerke gliedert, zeigt sich allerdings, dass die Museen mit durchschnittlich 49 045 deutlich besucherstärker sind als die Schaubergwerke (21 053). Vielfältig sind die Rechtsformen, in denen die Häuser verfasst sind. Gut die Hälfte der Träger der befragten Einrichtungen sind eingetragene Vereine; hier gibt es zwischen Museen und Bergwerken keine merklichen Unterschiede. Bei den Vereinen sind oft Städte und Gemeinden als wichtigste Förderer genannt. 25 Häuser sind direkt als Einrichtungen der Städte und Gemeinden angegeben. Zu ihnen können wohl auch einige Einrichtungen, die als Stiftung öffentlichen 3 110 425 002 Besuche in 4735 Museen, die für das Jahr 2013 Angaben zu den Besuchszahlen gemacht haben; vgl. Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Institut für Museumsforschung, Heft 68: Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2013, Berlin 2014. Unter: www.museumsbund.de/fileadmin/geschaefts/presse_u_kurzmitteilungen/2014/SMB_IfM_Materialien_Heft_68.pdf (Stand: 19.03.2015), S. 7. 4 111 984 066 Besuche in 4932 Museen, die für das Jahr 2015 Angaben zu den Besuchszahlen gemacht haben: Statistische Gesamterhebung (s. Anmerkung 2), S. 7. 5 Statistische Gesamterhebung (s. Anmerkung 2), S. 25.
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Rechts, als Stiftung bürgerlichen oder privaten Rechts oder auch als GmbH verfasst sind, gerechnet werden. Ein Blick auf die Zahlen der Mitarbeiter zeigt, dass die Bergbaumuseen und Schaubergwerke personell meist kleine und überwiegend ehrenamtlich betriebene Einrichtungen sind. Gut die Hälfte, 58 von 111 Einrichtungen, die Angaben zu ihrer Mitarbeiterzahl gemacht haben, beschäftigt bezahlte Mitarbeiter; der Durchschnitt liegt hier bei 2,8. Mitgezählt sind allerdings auch Beschäftigte in Teilzeitverhältnissen. Die Zahl der hauptamtlichen Kräfte liegt zwischen einem und 50. Besondere Ausnahmen bilden hier freilich die beiden größten Häuser, das Deutsche Museum in München (500 Hauptamtliche) und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum (130 Hauptamtliche). Wenn man sie einrechnet, liegt die Durchschnittszahl der bezahlten Kräfte bei 8,4. Merkliche Unterschiede zwischen den Beschäftigtenzahlen der Museen und der Besucherbergwerke lassen sich nicht ausmachen. Dies gilt auch für die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter. 91 der 111 Häuser, die Angaben zu den Mitarbeiterzahlen machen, also gut vier Fünftel, beschäftigen Ehrenamtliche. Ihre Zahl reicht von einem bis hundert. Im Schnitt arbeiten elf Ehrenamtliche pro Haus mit. Ihre Zahl wäre mit zehn wiederum etwas reduziert, wenn man das Deutsche Museum mit seinen hundert Ehrenamtlichen aus der Statistik nähme. Wie die Übersicht zeigt (Abb. 2), bleibt die Zahl einschlägiger Museen und Schaubergwerke bis in die 1960er-Jahre vergleichsweise gering. Erste, ganz oder vornehmlich dem Bergbau gewidmete Museen entstehen im 19. Jahrhundert in den alten Bergbaurevieren im Erzgebirge (Freiberg, 1861) und im Harz (Zellerfeld, 1892). Einen besonderen Fall bildet auch das Deutsche Bergbau-Museum Bochum, das nicht nur der Unterhaltung der Besucher, sondern auch zur wirklichkeitsnahen Ausbildung dienen sollte und dessen Gründung im Jahr 1930 die Bedeutung des Steinkohlebergbaus für die Wirtschaft des gesamten Reiches unterstrich.6
6 Zum Anschauungsbergwerk vgl. Müller, Siegfried: Das Anschauungsbergwerk, in: Slotta, Rainer (Hrsg.): 75 Jahre Deutsches Bergbau-Museum (1930 bis 2005). Vom Wachsen und Werden eines Museums, Bochum 2005 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum, 134), S. 512–586.
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Abb. 2: Eröffnungsjahre der Bergbaumuseen und Schaubergwerke
Schaubergwerke, die heute im Vergleich zu den Museen die Mehrzahl bilden, sind bis nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls Ausnahmen. Deutlich größer wird die Zahl der Neueröffnungen erst um 1970. Dies deutet sich sowohl für Westdeutschland als auch für das Gebiet der DDR bzw. der östlichen Bundesländer und das deutschsprachige Ausland an. Dabei lässt die Verteilung der Eröffnungsjahre keine signifikanten Unterschiede zwischen Museen und Schaubergwerken erkennen: Häuser mit beiden Arten von Namen wurden vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren eröffnet. Damit fällt die Eröffnung der meisten einschlägigen Einrichtungen in die Zeit des so genannten Museumsbooms im späten 20. Jahrhundert. Bei den Bergbaumuseen und den für den Besucherverkehr zugänglich gemachten Stollenanlagen kommt allerdings noch ein weiteres Motiv hinzu. Hier ist die Gründung nicht allein mit einer allgemeinen Neigung zur Musealisierung des Alltagslebens zu erklären, sondern den Gründern ging es zweifelsohne auch darum, einen in Mitteleuropa weitgehend eingestellten Zweig der Urproduktion zu vermitteln und ihm ein Denkmal zu setzen. Fast alle an der Umfrage beteiligten Häuser nannten die Bodenschätze, deren Gewinnung sie zeigen (Abb. 3). Dabei sind meist nur ein oder zwei Mineralien genannt, in einzelnen Fällen aber auch eine ganze Reihe verschiedener Bodenschätze, dies vor allem in den größeren Museen. Das Spektrum der angegebenen Mineralien spiegelt eine große Vielfalt der in Mitteleuropa zutage geförderten Bodenschätze wider. Am weitaus häufigsten wurden mit 169 Anga-
90 Thomas Schürmann
ben Metalle und Metallerze aufgeführt. Der meistgenannte Bodenschatz ist Eisenerz (32 Angaben), häufig genannt werden auch Silber (30) sowie Kupfer (20) und Blei (17), die für die Gewinnung des Silbers von zentraler Bedeutung waren. In der Häufigkeit an zweiter Stelle stehen die Rohstoffe für Energie (Abb. 4): Steinkohle ist achtzehnmal, Braunkohle zehnmal genannt, Erdgas und Erdöl jeweils zweimal. In einem Falle ist auch Torf angeben. Fünf antwortende Häuser zeigen den Abbau von Uran, das freilich nicht als klassische Energiequelle, sondern vor allem als Rohstoff für Nuklearwaffen gefördert wurde. Aus heutiger Sicht fällt auf, dass die Steinkohle, die die Wahrnehmung des Bergbaus seit dem 20. Jahrhundert beherrscht, vor allem im Vergleich zu den Metallerzen seltener genannt ist. Hier spiegelt sich der Umstand wider, dass der Abbau von Eisenund Kupfer-, Silber- und Bleierzen über mehrere Jahrhunderte hinweg den Bergbau in verschiedenen mitteleuropäischen Regionen durch zahlreiche kleinere und größere Betriebe geprägt und dabei vielerlei kleinräumige Spuren hinterlassen hat. Dabei war der Erzabbau nicht nur in einer größeren Zahl von Revieren präsent als der Steinkohlenbergbau; seine originalen Standorte sind auch leichter zu zeigen: Viele in den Berg getriebene Stollen lassen sich zu ebener Erde betreten. Steinkohle wurde dagegen seit dem frühen 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße im Tiefbau gefördert; hier ist die Besichtigung der untertägigen Anlagen in aller Regel nicht möglich.
Abb. 3: In der Umfrage genannte Mineralien (n = 265)
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91
Abb. 4: In der Umfrage genannte Energierohstoffe (n = 38)
Forschen und Sammeln Vier Fragen zu Wissenschaftlern, Veröffentlichungen, Magazinen und Sammlungskonzepten zielten auf die musealen Kernaufgaben des Forschens und des Sammelns und damit indirekt auch auf den Museumscharakter der befragten Häuser. Die Frage nach den Wissenschaftlern war weit gefasst und wurde von einem knappen Drittel der befragten Einrichtungen bejaht, erwartungsgemäß eher von Museen als von Besucherbergwerken (Tab. 2). Bejahende Antworten sind bei drei Bergwerken um den Zusatz „ehrenamtlich“, „begleitend“, „unterstützend“ ergänzt. Ein Bergwerk verneint mit der Anmerkung: „nur Hobbyleute“, und der verneinenden Angabe aus einem anderen Bergwerk ist hinzugefügt: „jedoch gibt es immer wieder spezielle Untersuchungen von Fachleuten“. Tab. 2: Angaben zu Wissenschaftlern
bejahend verneinend keine Angaben gesamt
Bergwerk
Museum
andere Namen
gesamt
17 46 4 67
19 27
1 3
46
4
37 76 4 117
Größer ist mit knapp der Hälfte aller antwortenden Einrichtungen die Zahl der Häuser, die Veröffentlichungen herausgeben (Tab. 3), denn die Frage schloss Publikationen nichtwissenschaftlichen Charakters nicht aus. Nach dem wissen-
92 Thomas Schürmann
schaftlichen Anspruch der Veröffentlichungen wurde nicht gefragt, zumal dieser zuvor genauer hätte definiert werden müssen. Grundsätzlich bejahten auch hier eher die Museen als die Bergwerke. Die positiven Antworten aus einigen Besucherbergwerken deuten die Spannweite der Veröffentlichungen an. So heißt es etwa: „macht ein Volkskundler“, „in Tageszeitung, 1–2x im Jahr“, „2 Bücher“, „als Kapitel + Aufsätze in historischen Publikationen des Geschichtsvereins“, „keine eigenständigen Werke, aber Beiträge in Fachbüchern“. Tab. 3: Angaben zu Veröffentlichungen
bejahend verneinend keine Angaben gesamt
Bergwerk
Museum
andere Namen
gesamt
27 36 4 67
27 19
3 1
46
4
57 56 4 117
Für rund 40 % der antwortenden Einrichtungen bestehen Sammlungskonzepte (Tab. 4). Die Konzepte umschreiben in der Regel die Sammlungsziele, oft auch die eigenen Ansprüche an den Umgang mit den Objekten. Nach Art und Umfang der Konzepte wurde in unserer Erhebung nicht gefragt, weil dies eine Reihe weiterer, vertiefender Fragen erfordert hätte. Daher bleibt es offen, ob hinter einer bejahenden Aussage ein detaillierter, ggf. mit dem Träger der Einrichtung abgesprochener Plan oder eine bloße Absichtserklärung steht und wie verbindlich das Konzept ist. Sammlungskonzepte haben sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem Standard für Museen entwickelt. Sie werden häufig von Trägern der Museen gefordert und auch in Zertifizierungsverfahren wie der niedersächsischen Museumsregistrierung erfragt, sind aber in der Praxis längst keine Selbstverständlichkeit.7 Tab. 4: Angaben zu Sammlungskonzepten
bejahend verneinend nicht eindeutig keine Angaben gesamt
Bergwerk
Museum
andere Namen
gesamt
13 48 1 5 67
33 11 1 1 46
1 3
47 62 2 6 117
4
7 Überblick bei Waldemer, Georg: Sammeln von der Rettung zur Sammlungsstrategie, in: Schimek, Michael (Hrsg.): Mittendrin. Das Museum in der Gesellschaft. Festschrift für Uwe Meiners, Cloppenburg 2018 (= Schriften und Kataloge des Museumsdorfs Cloppenburg, 35), S. 219– 228, mit weiteren Hinweisen.
Sammeln in Bergbaumuseen und Schaubergwerken
93
Tab. 5: Angaben zu Magazinen
bejahend verneinend nicht eindeutig keine Angaben gesamt
Bergwerk
Museum
andere Namen
gesamt
21 39 1 6 67
36 10
3 1
46
4
60 50 1 6 117
Gut die Hälfte aller antwortenden Einrichtungen unterhält Magazine für nicht gezeigte Teile der Sammlungen (Tab. 5). Anders als Sammlungskonzepte werden Magazine von den Museumsträgern in der Regel nicht gefordert. Sie sind lediglich eine Begleiterscheinung anwachsender Objektbestände, die in den Ausstellungsräumen nicht mehr untergebracht werden können; daher zielt die Frage nach den Magazinen indirekt auch auf die Sammlungstätigkeit überhaupt. Anforderungen vor allem seitens der Museologie gibt es hier nur an die Beschaffenheit bestehender Depots. Von den befragten Bergbaumuseen bekennt sich eine deutliche Mehrheit zu Sammlungskonzepten und Magazinen, von den Schaubergwerken bestätigt etwa ein Fünftel ein Sammlungskonzept, und ein knappes Drittel unterhält Magazine. Bemerkenswert ist dabei eigentlich nicht, dass Sammlungskonzepte und Magazine bei den Schaubergwerken weniger verbreitet sind als bei den Museen, sondern dass überhaupt ein erheblicher Teil der Einrichtungen, die sich lediglich Besucherbergwerk nennen, Konzepte für seine Sammlungen erstellt hat. Die Sammlungskonzepte und Magazine machen deutlich, dass die Besucherbergwerke oft vor die gleichen Aufgaben gestellt sind wie Häuser mit betontem Museumsanspruch: Sie müssen ihre wachsenden Objektbestände unterbringen und sich Gedanken über die Struktur ihrer Sammlungen machen. Die Übergänge zwischen beiden Arten von Besuchereinrichtungen erweisen sich auch hier als fließend. Nicht zuletzt angesichts dieses Befundes erscheint es sinnvoll, dass Bergbaumuseen, Schaubergwerke und andere einschlägige Besuchereinrichtungen enger zusammenarbeiten und sich durch regelmäßigen Erfahrungsaustausch unterstützen.
Olge Dommer, Dagmar Kift
Bergbau sammeln im LWL-Industriemuseum Das LWL-Industriemuseum Das LWL-Industriemuseum, Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ist ein dezentrales Museum mit acht Industriedenkmalen: den Zechen Zollern in Dortmund, Hannover in Bochum, Nachtigall in Witten, der Henrichshütte in Hattingen, dem Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop, dem TextilWerk in Bocholt, dem Ziegeleimuseum in Lage und der Glashütte Gernheim in Petershagen. Die Zentrale des Museums mit Direktion, Verwaltung und den Referaten Kommunikation/Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Wissenschaft und Vermittlung, Sammlung, Technik und Restaurierung befindet sich in Dortmund. Als erstes und größtes Museum seiner Art in Deutschland ist das LWL-Industriemuseum zentraler Bestandteil des nationalen industriekulturellen Erbes. Der Gründungs- und damit auch der erste Sammlungsimpuls für das Museum kam aus der Denkmalpflege: Als 1969 der Abriss der Maschinenhalle der 1966 stillgelegten Zeche Zollern II/IV drohte, gründete sich eine Bürgerinitiative aus Kunsthistorikern, Architekten und Künstlern, darunter den Fotografen Bernd und Hilla Becher, und überzeugte den Landeskonservator, die Halle unter Denkmalschutz zu stellen (Abb. 1). An ihrer Ausgestaltung war der JugendstilArchitekt Bruno Möhring (1863–1929) maßgeblich beteiligt gewesen, sie enthält eine der ersten elektrischen Hauptschacht-Fördermaschinen. Dass in Nordrhein-Westfalen die Hinterlassenschaften der Industriegeschichte grundsätzlich denkmalwürdig sind, setzte sich dann in den 1970er-Jahren als Auffassung sowohl in den beiden Landschaftsverbänden als auch beim Land durch: 1973 und 1974 richteten LWL und LVR Referate für Technische Denkmalpflege ein, die Inventare mit denkmalschutzwürdigen Industriebauten erarbeiteten. 1980 hielt das neue Denkmalschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen fest, dass „handwerkliche und industrielle Produktionsstätten“ genauso denkmalwürdig seien wie Schlösser und Kirchen (§ 2, Abs. 3). Ein Jahr davor, 1979, hatte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe das Westfälische Industriemuseum, wie es damals hieß, gegründet; 1984 folgte der Landschaftsverband Rheinland (LVR) mit dem Rheinischen Industriemuseum (heute LVR-Industriemuseum) nach. Zusammen dokumentieren die beiden Industriemuseen an authentischen Orten der Montan- und Textilindustrie, der Glas-, Ziegel-, Papier- und Schneidwarenindustrie sowie der Binnenschifffahrt die Industriegeschichte des Landes Nordhttps://doi.org/10.1515/9783110683097-007
96 Olge Dommer, Dagmar Kift
rhein-Westfalen. Diese Geschichte hat das Land in den letzten 200 Jahren maßgeblich geprägt. Die Industriemuseen bilden die industrielle Entwicklung in Nordrhein-Westfalen anhand jeweils für die einzelnen Regionen typischer Industrien und damit insgesamt exemplarisch ab.
Abb. 1: Museum Zeche Zollern in Dortmund-Bövinghausen: Blick auf den Zechenplatz mit Maschinenhalle, Schachthalle und den translozierten Fördergerüsten sowie Fahrzeugen des Werksverkehrs
Gründungs- und Sammlungsauftrag Der Gründungsauftrag des LWL-Industriemuseums schrieb vor, die Denkmale zu erschließen, die materiellen Zeugnisse des Industriezeitalters in Westfalen zu bewahren und sie museal zu vermitteln. Er enthielt damit bereits einen ersten Sammlungsauftrag, denn um die Denkmale erschließen und vermitteln zu können, waren sie teilweise wieder einzurichten und mussten Funktionszusammenhänge wiederhergestellt werden, die durch Teilabrisse verloren gegangen waren. Das Originalinventar der drei Zechen des Industriemuseums war – außer in der einen oder anderen Maschinenhalle – nicht mehr vorhanden. Hier boten die Zechenschließungen der 1980er- und 1990er-Jahre die Chance, Originalinventar sicherzustellen. Durch die Translozierung beispielsweise der Fördergerüste, die heute auf Zollern stehen, ließen sich Funktionszusammenhänge wieder deutlich
Bergbau sammeln im LWL-Industriemuseum
97
machen, die für das Verständnis einer Zeche zentral sind und mit dieser Sammlungstätigkeit weiteres industrielles Kulturgut retten. Denkmale zu erschließen war allerdings nur ein Teil des Gründungsauftrags. Er schrieb außerdem vor, „die Kultur des Industriezeitalters und ihre Entwicklung in Westfalen […] beispielhaft dar[zu]stellen und [zu] erforschen. Dabei sollen die Lebensverhältnisse der Menschen (Arbeiten, Wohnen, Freizeit) im Mittelpunkt stehen.“1 Mit dieser Schwerpunktsetzung hatten sich die Gründer thematisch und methodisch an dem in den 1970er- und 1980er-Jahren erfolgten Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft, dem sozialgeschichtlichen „Turn“, orientiert. Dieser Paradigmenwechsel lag auch anderen Museumsgründungen der Zeit zugrunde, beispielsweise dem Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim, dem Hamburger Museum der Arbeit oder dem Centrum Industriekultur, heute Museum Industriekultur in Nürnberg. Dessen Initiator und Gründer Hermann Glaser konkretisierte zudem den sozialgeschichtlichen Ansatz in Richtung Industriekultur: Industriekultur habe alle Phänomene und Entwicklungen des Industriezeitalters in den Blick zu nehmen, dabei einen besonderen Fokus auf die Alltagsgeschichte zu legen und einen Perspektivenwechsel in Richtung einer Geschichte „von unten“ zu vollziehen.2
Die Sammlungen des LWL-Industriemuseums Industriekultur zu sammeln, war ein gleichermaßen innovativer wie umfassender Auftrag. Heute enthalten unsere Sammlungen rund 250 000 bewegliche Exponate und reichen von historischen Schriftdokumenten und Postkarten über Hausrat und Möbel bis hin zu Kunstwerken und technischen Großexponaten wie Maschinen, Fahrzeugen und Schiffen. Viele dieser Objekte präsentieren wir in unseren Dauer- und Wechselausstellungen, viele lagern jedoch auch in unseren Magazinen.3 Unsere Sammlungsbestände sind in drei Sammlungsbereiche
1 Zitiert aus der Vorlage der Verwaltung an den Landschaftsausschuss des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe für die Sitzung vom 21. September 1979, in: Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (Hrsg.): Das Westfälische Industriemuseum, o. O, o. J. [Münster 1984], S. 5 (= Texte aus dem Landeshaus 8). 2 Glaser, Hermann: „Was heißt und zu welchem Ende präsentiert man Industriekultur?“, in: Museumskunde 49, 1984, S. 94–106. 3 Dommer, Olge/Steinborn, Vera: „…ebenso Maschinen, Möbel und die kleinen Dinge des täglichen Lebens“. Sammlungen und Sammlungsgeschichte des Westfälischen Industriemuseums, in: Westfälisches Industriemuseum (Hrsg.): Schätze der Arbeit. 25 Jahre Westfälisches Industriemuseum, Essen 2004, S. 46–55.
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eingeordnet: die Branchensammlungen, die Sammlung Alltagskultur und die Sammlung Kunst/Industriebilder. Die Branchensammlungen decken die sechs im Museum vertretenen Industriezweige Steinkohlenbergbau, Eisenhüttenwesen und Stahlindustrie, Textilindustrie, Glasindustrie, Ziegelherstellung und Binnenschifffahrt ab. Viele ihrer Objekte kennzeichnet, dass sie aus den zahlreichen Betriebsstilllegungen stammen, die im Strukturwandel der 1980er- und 1990er- Jahre erfolgten. Heute belegen sie technische Entwicklungen, sich wandelnde Berufsausbildungen, Fortschritte in den Arbeits- und Arbeitsschutzbedingungen, Männer-, Frauen- und Kinderarbeit, Unternehmenspolitik, Arbeiter-, Angestellten- und Unternehmerkultur, Produkte und ihre Designgeschichte, Transport- und Verkehrswesen, Strukturwandel und anderes mehr. Der Umfang der einzelnen Branchenbestände variiert. Die Bergbausammlung umfasst etwa 25 000 Objekte und reicht von Bergbaumaschinen, Grubenwagen, Kauenkörben, Werkzeugen, Kommunikationsanlagen, Grubenlampen, Messgeräten und Schildern über Arbeitsschutzkleidung, Grubenpläne, Betriebs- und Ausbildungsunterlagen bis hin zu Berufsund Privatdokumenten, Musikinstrumenten und Bastelarbeiten aus der betrieblichen Freizeitbetreuung. Sie gibt vielfältige Einblicke insbesondere in die Geschichte des Ruhrbergbaus im 20. Jahrhundert sowie in das Berufs- und Alltagsleben der Bergleute und ihrer Familien. In enger Beziehung zu den Branchensammlungen stehen zahlreiche Objekte des Sammlungsbereiches Alltagskultur, da ehemalige Betriebsangehörige dem Museum nicht nur Zeugnisse ihres Berufslebens, sondern ebenso ihres Privatlebens überließen. Objekte wie Möbel und Haushaltsgeräte, Spielzeug und Bekleidung, Fahr- und Krafträder oder Ladeneinrichtungen dokumentieren die Themen Familie, Wohnverhältnisse, Konsumverhalten, Freizeit, Mobilität, Migration, städtische Infrastruktur und anderes mehr. Der Sammlungsbereich Kunst/Industriebilder umfasst Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Gebrauchsgrafik (wie zum Beispiel Postkarten oder Plakate) und Fotografien nicht nur von professionellen Künstlern/Künstlerinnen und Grafikern/ Grafikerinnen, sondern auch von Laien. Diese Bestände haben ebenfalls einen engen Bezug zu unseren Branchen und geben vielfältige Einblicke in die Geschichte der Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert bis heute (Abb. 2). Die Darstellungen reichen von der pathetischen Inszenierung des industriellen Fortschrittsglaubens über die atmosphärisch dichten Schilderungen der industriell geprägten Orte bis hin zu realistischen Darstellungen von komplexen Arbeitsprozessen und harten Arbeitsbedingungen. Als einmalige Zeitdokumente der Interpretation und Rezeption des Industriezeitalters erforschen und dokumentieren wir sie nicht nur unter kunsthistorischen, sondern auch unter sozialgeschichtlichen und kulturpolitischen Gesichtspunkten.
Bergbau sammeln im LWL-Industriemuseum
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Abb. 2: Das Gemälde „Zeche Carolinenglück Bochum“, das der Künstler Richard Gessner 1928 malte, verbildlicht eindrücklich die urbane Dichte des Ruhrgebiets mit Zeche, rauchenden Schloten, Siedlungshäusern und Nutzgärten.
Das gilt auch für den Forschungs- und Sammlungsschwerpunkt Laienkunst, der die Revierkultur „von unten“ dokumentiert. Im Mittelpunkt stehen Werke von Laien und semiprofessionellen Künstlern und Künstlerinnen. Die Kultur des Ruhrbergbaus wurde vor allem in den 1920er- und den 1950er-Jahren durch sozial- und kulturpolitische Initiativen der Montanindustrie angestoßen, die dabei manch künstlerisches Talent unter den Beschäftigten zu Tage förderten. Ihre Werke bilden einen Sammlungsbestand von besonderer Qualität: Industriekultur von unten mit dem Blick von innen. Er ist ein spannendes und notwendiges Pendant zur professionellen Industriebildersammlung (Abb. 3).
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Abb. 3: Mit Gemälden wie „Alte Kippstelle“ von 1963 nahm der Dortmunder Bergmann Franz Brandes (1921–1989) an regionalen wie internationalen Ausstellungen zur Laienkunst im Ruhrgebiet teil.
Ausstellungen und Projekte gaben immer wieder Anstöße, die Sammlungsbestände neu zu sichten oder zu erweitern. Das war insbesondere der Fall mit dem EU-Projekt „Work with Sounds“, dass das LWL-Industriemuseum mit fünf europäischen Partner-Museen zwischen 2013 und 2015 durchführte: dem schwedischen und dem finnischen Museum der Arbeit, dem technischen Museum von Slowenien, dem Krakauer Technikmuseum, dem Brüsseler Museum für Industrie und Arbeit. Ziel war, auch „sounds“ als Teil des industriekulturellen Erbes zu erhalten und für neue Nutzungen zu entwickeln. Dokumentiert wurden dabei sowohl die typischen „sounds“ der regionalen Arbeitswelten als auch die Gemeinsamkeiten der europäischen Industriegeschichte. Die eigenen Sammlungsbestände wurden dabei ebenfalls „zum Klingen“ gebracht und die Geräusche sind bereits online vernetzt: zum einen mit der Datenbank des Projektes, zum andern über die Europeana.4 Das Projekt wird seit diesem Jahr unter dem Titel „Sounds of Changes“ fortgesetzt. In seinem Mittelpunkt steht die rasante klangliche Veränderung unserer Umwelt: Welche Klänge entstehen, prägen oder dominieren unsere Soundscapes, wenn das Rattern der Fördermaschinen, das Dröhnen der Stahlwerke und die weitschallende Werksglocke verschwinden? Wie klingt die Digitalisierung, welche Geräusche macht eigentlich eine Solaranlage und wie schlägt sich Protest gegen oder für Veränderungen akustisch nie4 Siehe unter: http://www.workwithsounds.eu/ (Stand: 05.03.2018).
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der. Das sind einige der Fragen, mit denen sich das Referat Wissenschaft und Vermittlung des LWL-Industriemuseums in den nächsten zwei Jahren beschäftigen wird und die sicherlich ebenfalls einen neuen Blick auf die Sammlung zur Folge haben werden.
Orte und Dinge: Bergbauobjekte im Kontext Die Kontextualisierung von Branchengeschichte im Rahmen von Industriekultur und der Auftrag, die Denkmale nicht nur unter architektur- und technikgeschichtlichen, sondern auch unter sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekten zu erschließen, bedeutete thematisch, Aspekte wie Arbeit und Alltag der Bergleute und ihrer Frauen ebenfalls zu berücksichtigen und mit entsprechenden Exponaten sichtbar zu machen. So findet sich beispielsweise in der Dauerausstellung zur Kaue auf Zollern eine Ausstellungseinheit zum Waschen der Bergarbeiterkleidung mit Waschmaschine, Wäschepresse, Waschbrett und ähnlichen Objekten, die das Wäschewaschen der Bergarbeiterfrauen als unbezahlte Reproduktionsarbeit für die Zeche deutlich macht. Methodisch hatte der sozial- und kulturhistorische Fokus unter anderem zur Folge, die Erfahrungen und Biografien ehemaliger Beschäftigter einzubeziehen und mit lebensgeschichtlichen Objekten zu vermitteln. So haben wir bei der Einrichtung der Lampenstube von Zollern eng mit dem ehemaligen Lampenmeister zusammengearbeitet und mit seiner Hilfe die Ausstellungseinheit „Arbeitsplatz Lampenstube“ umsetzen können (Abb. 4). Hier befinden sich zwar überwiegend „klassische“ Bergbauexponate wie Gruben- und andere Lampen oder Filterselbstretter. Ausgestellt werden jedoch keine Objektsammlungen, wie das im wenige Kilometer entfernten Deutschen Bergbau-Museum Bochum der Fall war, das damals vor allem seine Sammlungsbestände nach Objektgruppen präsentierte. Zu sehen sind auf Zollern Objekte, die Arbeit und Alltag in einer Lampenstube aus dem 20. Jahrhundert veranschaulichen: die Lampentypen, die zwischen 1905 und 1966 im Einsatz waren, Einrichtungsgegenstände aus Lampenstuben, mittels derer der Arbeitsalltag der Mitarbeiter erläutert werden kann sowie das Leasing-System Grubenlampen. Sie werden ergänzt durch Kunstwerke und kunstgewerbliche Objekte mit Lampenmotiven, die die Bedeutung der Grubenlampe im Bergbau hervorheben und als das Attribut zeigen, das den Bergmann als Bergmann kenntlich macht. Viele dieser Werke stammen von ehemaligen Bergleuten.
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Abb. 4: Der ehemalige Lampenmeister von Zollern Josef Hirschl 1998 im Gespräch mit der wissenschaftlichen Referentin
Objekte, die über ihre Vorbesitzer einen biografischen Bezug zum Bergbau und seiner Kultur haben, finden sich auf Zollern auch in der Ausstellungseinheit „Keine Herrenjahre. Arbeit und Freizeit im Revier“. Dazu gehört unter anderem der Nachlass von Karl Stege, einem ehemaligen Ausbildungssteiger, der neben Dokumenten zur Geschichte der bergmännischen Ausbildung auch Objekte enthielt, die die Freizeitaktivitäten von Stege und seinen Lehrlingen dokumentierten und die uns einen bis dahin wenig bzw. nur noch wenigen älteren Menschen bekannten Bereich der Bergbaukultur erschließen ließen. Über die Programmhefte, Fotografien und Erinnerungsgaben aus seinem Nachlass sind wir auf eine jährliche Ausstellungs- und Konzertreihe gestoßen, die die Gelsenkirchener Bergwerks AG, zu der auch die Zeche Zollern II/IV gehörte, in den 1950er-Jahren in Dortmund veranstaltet hatte (Abb. 5). Sie verwiesen auf eine die damalige betriebliche Sozialpolitik ergänzende betriebliche und überbetriebliche Kulturpolitik, mittels derer die nach 1945 wieder sehr heterogenen Belegschaften stabilisiert werden sollten und an der alle Bergbau-Netzwerke der Region mitwirkten: einzelne Zechen, ganze Zechengesellschaften, das Deutsche Bergbau-Museum und sein Förderverein, die Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau, in der auch die Bergbehörden und Kommunen vertreten waren.5 Diese
5 Vgl. Kift, Dagmar: Kumpel Anton, St. Barbara und die Beatles. „Helden“ und andere Leitbilder im Ruhrrevier nach 1945. Katalog zur Ausstellung des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover vom 16. Juli bis 10. Oktober 2010, Essen 2010.
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Erkenntnisse halfen dann, einen Bestand an Gemälden, Grafiken, Erinnerungsgaben und kunstgewerblichen Objekten zu kontextualisieren und bildeten gleichzeitig den Ausgangspunkt für den Aufbau einer Laienkunst-Sammlung.
Abb. 5: Erinnerungsplakette an „Bergleute singen für Bergleute“ von 1957 aus dem Nachlass von Karl Stege, einem ehemaligen Ausbildungssteiger der Dortmunder Zeche Minister Stein
Die Kultur des Industriezeitalters und ihre Entwicklung beispielhaft und unter sozial- und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten darstellen und erforschen, hieß mit Blick auf das Museums- und Sammlungskonzept der Aufbauphase, für die drei Zechen des Museums aus ihrer jeweiligen Laufzeit sowie ihrer DenkmalSpezifika ein eigenes Narrativ zu entwickeln und für die Umsetzung die entsprechenden Sammlungsbestände aufzubauen. Die Zeche Zollern nahm 1905 die Förderung auf, wurde 1966 endgültig stillgelegt und ist als „Musterzeche“ in die Geschichte eingegangen; ein Großteil ihrer Tagesanlagen blieb erhalten. Für das Museumskonzept bedeutete das, mit dem Denkmalbestand den Prototyp einer Zeche aus dem frühen 20. Jahrhundert zu erklären. Dazu wurden konsequenterweise die im Zweiten Weltkrieg und nach der Stilllegung abgerissenen Fördergerüste durch zwei typgleiche Fördergerüste der Zechen Unser Fritz (Herne) und Wilhelmine Victoria (Gelsenkirchen) ersetzt. Gleichzeitig griffen wir das Motiv der Musterzeche auf und stellten die Dauerausstellung unter die Leitfrage, welche ‚Muster‘ der Bergbaugeschichte des 20. Jahrhunderts sich auf Zollern widerspiegelten. Diese Leitfrage ermöglichte zum einen eine Kontextualisierung der Dokumentation konkreter Räume (neben der Lampenstube waren das die Markenstube und die Kaue, später auch die Schachthalle), zum anderen das Aufgreifen von Themen, die für die Geschichte
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des Ruhrbergbaus im 20. Jahrhundert spezifisch waren, wie beispielsweise die Entwicklung der Unfallverhütung oder die Systematisierung der Ausbildung.6 Die Zeche Nachtigall verweist mit ihrem Schacht „Hercules“ von 1839 auf die Wiege des Ruhrbergbaus im Muttental und ihrem Ringofen auf das Thema frühe Umnutzung von Industrieanlagen. Mittlerweile ist mit dem Ruhrsandstein auch der dritte Rohstoff, der auf der Anlage gewonnen wurde, Thema für die Dauerausstellung (Abb. 6). Zur Eröffnung 2003 wurde die Betriebsgeschichte vorgestellt, begleitet am einen Ende durch die Darstellung der Verkehrswege im 18. und 19. Jahrhundert (mit nachgebauter Ruhr-Aak) und am anderen Ende durch die Rekonstruktion einer für die Region nach 1945 typischen Kleinzeche (mit Haspel, Verladerampe, Lastwagen und auch hier Lebensgeschichten).7
Abb. 6: Der Grabstein des Wittener Bergmanns Heinrich Herberg von 1876 wird Teil der Ruhrsandstein-Ausstellung der Zeche Nachtigall.
Die Zeche Hannover mit ihrem Malakowturm aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und der ältesten am Standort erhalten gebliebenen Dampffördermaschine des Reviers von 1893 steht als Denkmal für den Bergbau in der Hochindustrialisie-
6 Kift, Dagmar: „Musterzeche“ Zollern II/IV. Museum für Sozial- und Kulturgeschichte des Ruhrbergbaus. Museumsführer, Essen 1999. 7 Telsemeyer, Ingrid (Hrsg.): Zeche Nachtigall. Museumsführer, Essen 2005.
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rung.8 Thematisiert werden sollte zunächst die durch den Bergbau forcierte Urbanisierung; gesammelt wurden daher viele Objekte aus dem Bereich städtische Infrastruktur. Mittlerweile soll auf Hannover ein Museum und Forum für Migration und kulturelle Vielfalt entstehen und hat sich der Sammlungsschwerpunkt auf Objekte mit Migrationsbezug verschoben. Migrationsobjekte werden, genau wie viele Bergbauobjekte, häufig erst durch einen biografischen Bezug zu solchen: Ein Spaghetti-Topf ist zunächst ein Alltagsobjekt; brachte ihn ein in Italien angeworbener Arbeitsmigrant mit, hat auch der Topf einen Migrationshintergrund und ist gleichzeitig ein Bergbauexponat, wenn sein Vorbesitzer im Bergbau gearbeitet hat (Abb. 7). Der Topf lässt sich also, wenn man über seine Materialität hinausgeht, mehreren Kategorien zuordnen und wird damit für mehrere Themen anschlussfähig. Umgekehrt kann er als Bergbauexponat die Geschichte des Bergbaus um neue Themen und Perspektiven erweitern. Dass diese Geschichte mit der Eröffnung der Bergbaustandorte des LWL-Industriemuseums nicht zu Ende erzählt sein wird, hat der Gründungsauftrag ebenfalls festgelegt: Das Museum soll nicht nur Geschichte bewahren, sondern mit Geschichte zum „Verständnis unserer heutigen wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Umwelt“ beitragen.9 Eine wichtige Rolle dabei spielen Sonderausstellungen und andere Projekte, die immer wieder Anlässe bieten, nicht nur einzelne Themen vertiefend zu erforschen, sondern auch, die Sammlungsbestände zu erweitern oder zu kontextualisieren.
Abb. 7: Diesen Spaghettikochtopf brachte 1962 der Arbeitsmigrant Santino Masotano aus seiner süditalienischen Heimat mit ins Ruhrgebiet.
Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung „Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“ von 2005. 60 Jahre nach Kriegsende hat das Museum hier die Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen etwas genauer in den Blick genommen und ihren Beitrag zu Wiederaufbau und Wirtschaftswun8 Steinborn, Vera/Röver, Hans: Zeche Hannover I/II/V: Ein Rundgang durch das Industriedenkmal und seine Geschichte, Dortmund [1996] 2002. 9 Gründungsbeschluss vom 19.06.1979, zitiert in der Beschlussvorlage zur 47. Sitzung des Landschaftsausschusses am 21.09.1979, S. 2, LWL-Archivamt.
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der in NRW dokumentiert. Die Ausstellung verknüpfte Migrations-, Industrieund Nachkriegsgeschichte und lieferte gleichzeitig einen Beitrag zur damals heftig geführten Debatte um den „Aufbau Ost“. Anhand von sechs Industrien und 40 Lebensgeschichten, davon sieben aus dem Bergbau, erzählte die Schau, woher die Flüchtlinge und Vertriebenen kamen, wie sie in den Westen gelangten und dort aufgenommen wurden, anschließend den schwierigen Neuanfang bewältigten sowie schließlich als Unternehmer neue Industriezweige ansiedelten oder als Arbeitnehmer fehlende Arbeitskräfte ersetzten, letzteres insbesondere in der Textilindustrie und im Bergbau.10 Die Forschungsarbeit dazu hat einzelne Objektgruppen aus der Sammlung kontextualisiert, Bergbauobjekte mit Migrationshintergrund identifiziert und den Sammlungsbestand Bergbau um weitere, insbesondere biografische Objekte erweitert. Fünf unserer sieben Zeitzeugen hatten sich in eine Berglehre anwerben lassen; sie wurden in Lehrlingsheimen oder Pestalozzidörfern untergebracht und betreut. Vorträge, Bastelgruppen, Sportangebote, Wanderungen, Tanz- und Musikunterricht boten ihnen zahlreiche Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und viele Mitwirkungsgelegenheiten. In manchen Pestlozzidörfern erstellten die Jugendlichen sogar eigene Zeitschriften. Drei der ehemaligen Berglehrlinge verließen den Bergbau wieder: Zwei wechselten zu Post und Bundeswehr, einer in den Stahlbau, was ihn bis nach Afrika führte. Zwei der Jugendlichen machten eine Karriere im Bergbau, der eine über die Gewerkschaftsschiene bis zum Arbeitsdirektor, der andere über die Bergschule zum Steiger und Lehrer an der Bergfachschule. Im Bergbau geblieben sind auch die beiden Zeitzeugen, die sich als Neubergleute hatten anwerben lassen. Sie waren bei der Anwerbung schon erwachsen und ihnen bot der Bergbau ein sicheres Auskommen für die Familie, dem einen eine Wohnung und die Möglichkeit, seinen künstlerischen Interessen in einer Malgruppe mit Lehrer nachzugehen und auszustellen, dem anderen ein eigenes Haus in einer Neubausiedlung für Angehörige der gleichen Volksgruppe inklusive einer Heimatstube (Abb. 8).
10 Die Ergebnisse des Projekts sind sowohl im klassischen Ausstellungskatalog festgehalten vgl. dazu Kift, Dagmar (Hrsg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder. Katalog zur Ausstellung des LWL-Industriemuseums vom 18. September 2005 bis 26. März 2006, Essen 2005, als auch im Internetportal unter: http://www.lwl.org/aufbauwest/LWL/Kultur/Aufbau_West/home/index.html (Stand: 05.03.2018).
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Abb. 8: Bergbau-Biografien in der Ausstellung „Aufbau West“, die 2005 am Museumsstandort Zeche Zollern gezeigt wurde
Eine umfassende kulturelle Betreuung sollte die Integration der neu angeworbenen Bergleute unterstützen. Sie schloss die Schaffung von Räumen und Gelegenheiten ein, die mitgebrachten Traditionen ausleben zu können. Eine dieser Traditionen, die Verehrung der Heiligen Barbara, wurden darüber hinaus in die einheimische Bergbaukultur übernommen und weiterentwickelt: Aus einer katholischen Schutzheiligen wurde so eine überkonfessionelle Schutzpatronin. Fotografien und Fotoalben, Zeugnisse und Urkunden, Zeitschriften und Programmhefte, Musikinstrumente und Noten, Gemälde und Grafiken, Barbara-Statuetten und -Bilder, Bergkittel, Trachtenblusen und afrikanische Masken erzählten in „Aufbau West“ eine Geschichte von Anwerbung und Ausbildung, kultureller Betreuung und Integration, Aufstieg und Ausstieg. Sie vermittelten wichtige Einblicke in die Geschichte des Ruhrbergbaus nach 1945 jenseits von Wirtschaft und Technik. Eine Sammlung, die systemisch unter den Gesichtspunkten Denkmal (Erschließung eines Ortes), Industriekultur (nicht nur branchenbezogene Phänomene des Industrie- und postindustriellen Zeitalters) und einer thematisch wie methodisch fortgeschriebenen Sozial- und Kulturgeschichte (Gender, Migration)
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auf- und ausgebaut wurde, umfasst mehr als die materiellen Hinterlassenschaften des Bergbaus. Viele Objekte haben zudem keinen direkten, sondern einen eher biografischen Bergbaubezug, andere stammen nicht aus dem Bergbau, thematisieren ihn aber. Alle Objekte der Bergbausammlung des LWL-Industriemuseums lassen sich zwar auch in die klassischen typologischen Objektkategorien einordnen: reine Bergbauobjekte zu Bergbau, Kunstwerke zu Kunst/Industriebilder, Alltagsgegenstände zu Alltagskultur. Damit würden sie aber nur einen Teil der Geschichten erzählen, die sie Typologien überschreitend erzählen könnten. In der Summe ermöglicht die Bergbausammlung des LWL-Industriemuseums, die um konkrete Orte herum entstand und systematisch mit Blick auf die Themenfelder Arbeit, Alltag und Kultur sowie auf Querschnittthemen wie Gender und Migration aufgebaut wurde, differenziertere Einblicke in die Geschichte des Steinkohlenbergbaus als das eine typologisch aufgebaute Sammlung zu einer Branche mit eher techniklastigen Objekten leisten könnte. Die Sammlung hat damit ein eigenes Profil, was die Abgrenzung von anderen bzw. reinen Bergbausammlungen genauso ermöglicht wie den Austausch mit ihnen: Wir müssen nicht alle das Gleiche sammeln.
Sammlungsmanagement Nach durchaus schwierigen Anfangsjahren, in denen umfangreiche Sammlungsbestände übernommen wurden, während die Infrastruktur des Museums noch im Aufbau war, haben wir heute ein in den Jahren 2004 bis 2007 grundsaniertes und erweitertes Zentraldepot und können dort den Auftrag des Bewahrens des uns anvertrauten industriellen Kulturgutes nach dem Stand von Wissenschaft und Technik weitgehend erfüllen.11 Die Arbeit des Sammelns, Dokumentierens und Bewahrens erfolgt einerseits auf Grundlage der Denkmalpflegerichtlinien und der vom Internationalen Museumsrat (ICOM) und dem Deutschen Museumsbund (DMB) entwickelten Standards und ethischen Richtlinien für professionell geführte Museen,12 andererseits auf der Grundlage unseres Sammlungskonzeptes, in dem die Kriterien des gesamten Sammlungsmanagements und die Sammlungsregeln verschriftlicht und festgelegt sind. Unser Sammlungskonzept haben wir im Laufe der Jahre 11 Dommer, Olge: Befreit von Muff und Staub. Neues Zentraldepot in Dortmund, in: IndustrieKultur 3, 2007, S. 30. 12 Vgl. Deutscher Museumsbund e. V. gemeinsam mit ICOM Deutschland (Hrsg.): Standards für Museen, Kassel/Berlin 2006; ICOM Schweiz, ICOM Deutschland und ICOM Österreich (Hrsg.): Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, o. O. 2010.
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mehrfach überarbeitet und den jeweils aktuellen Museumskonzepten und Sammlungsthemen angepasst. Die letzte Überarbeitung fand im Januar 2016 statt. Die Sammlungsobjekte werden im Referat Sammlung des LWL-Industriemuseums inventarisiert, dokumentiert und fachgerecht bewahrt. In der Dokumentation setzen wir zur Erfassung seit 2002 das Datenbankprogramm „Adlib Museum“13 ein. Es löste die Karteikarte ab. Inzwischen sind rund 63 000 Datensätze abrufbar. Die Erfassung eines Objektes in Adlib erfolgt nach einem Regelwerk zentral in der Dokumentation, entweder auf der Grundlage einer alten Karteikarte, eines durch die Fachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ausgefüllten Erhebungsbogens und/oder der von eigenen Erhebungen und (wissenschaftlichen) Recherchen. Die ersten Datenerhebungen finden meist in unserem Zentraldepot direkt an den Objekten statt. In den nächsten Jahren stehen unverändert umfangreiche Arbeiten zur Erschließung und wissenschaftlichen Dokumentation unserer Sammlungen an. Den Dokumentationsstau aus den ersten 20 Jahren des Museums gilt es weiter abzubauen. Dabei werden die Bestände kritisch unter die Lupe genommen und gegebenenfalls auch „entsammelt“. Die Deakzession eines Exponates erfolgt anhand eines Kriterienkatalogs ebenfalls nach festgeschriebenen Regeln.
Zukunft und Perspektiven Die Digitalisierung ist bekanntermaßen eine Herausforderung auch für die Museen. Im Bereich Sammlung bedeutet das vor allem, das materielle Kulturerbe möglichst umfassend im Netz zugänglich zu machen. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen und ihr im Rahmen der Möglichkeiten strategisch begegnen. Nach dem wir seit Jahren auf unserer Internetseite erste Einblicke in unsere Objektsammlungen geben, starteten die Referate Sammlung sowie Wissenschaft und Vermittlung im letzten Jahr das Projekt „Sammlung online“ und stellen in den nächsten Jahren die Sammlung schrittweise ins Netz. Dabei orientieren wir uns zunächst am LWL-Museum für Kunst und Kultur. Angestrebt ist auch die Kommunikation mit andern Datenbanken wie etwa der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) oder der Europeana. Die digitalen Angebote sollen die Sammlungsbestände recherchierbar machen, den fachlichen Austausch und Samm-
13 Axiell ALM, Lund (Schweden), bis 2013 Adlib Information Systems, Maarssen (Niederlande) mit der Deutschlandvertretung Axiell ALM Germany GmbH, Potsdam, vormals Adlib Information Systems GmbH.
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lungsabgleich befördern und die Öffentlichkeit dazu anregen, die analogen Originale in den Museen und Ausstellungen anzuschauen und sich vielleicht von ihnen faszinieren zu lassen.
Abb. 9: Diese modische Damenjacke der Kollektion „Glückauf 2006“ fertigte die Textildesignerin Eva Gronbach aus einer getragenen Bergmannsarbeitsjacke. Sie ist ein Beispiel für mögliche Transformationen und Metamorphosen bergbaulicher Objekte.
2018 läuft der Steinkohlenbergbau in Deutschland aus. Welche Konsequenzen hat das für die Sammlungstätigkeit des LWL-Industriemuseums? Die Geschichte des Ruhrbergbaus ist in unserer Sammlung mittlerweile gut dokumentiert in technik- wie in sozial- und kulturgeschichtlicher Hinsicht. Gleichwohl ist „Bergbau sammeln“ mit dem Ende des Steinkohlenbergbaus nicht abgeschlossen: Bereits jetzt erhalten wir biografische Objekte von Kindern und Enkeln ehemaliger Bergleute, die wir in die Sammlung aufnehmen, weil sie den Abschluss der regionalen Bergbaugeschichte genauso dokumentieren wie den Beginn der Erinnerung an sie. Das Thema „Erinnerungskultur Bergbau“ wird nach dem Ende des Bergbaus eher größer als kleiner und ist gleichzeitig Teil des Themenfeldes Strukturwandel, der nun aktuell begleitet werden muss. Dafür tun sich bereits jetzt neue Objektwelten auf wie etwa die alte Grubenjacke im modischen Look (Abb. 9). Geschichte und Identität der Region bzw. des Landes im Strukturwandel bleibt für ein Landesmuseum für Industriekultur aktuell auch als Sammlungsauftrag. Unabhängig davon werden neue Themen und Fragestellungen genauso wie die Fortschreibung der Museumskonzepte unseren Sammlungsrahmen weiterhin verändern, ihn ausweiten oder eingrenzen. So sammeln wir etwa seit ein paar Jahren verstärkt zu Themen wie Migration/Kulturelle Vielfalt, Ökologie oder Globalisierung. Das sind Themen, die auch den Sammlungsbestand
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Bergbau verändern. Das LWL-Industriemuseum wird daher weiterhin aktiv und gezielt Originale sammeln sowie den Austausch und die Vernetzung mit inhaltlich verwandten Museen und Sammlungen fortsetzen, in Zukunft auch digital. Zu diskutieren wäre, ob ein eigenes Bergbau-Portal dafür die beste Form wäre oder der Ausbau einer solchen Plattform in bereits bestehende Einrichtungen, etwa der DDB oder der Europeana. In beiden wäre für die Artefakte des Bergbaus noch viel Luft.
Jan Färber
Das Museum des Sächsischen Steinkohlenbergbaus und seine Sammlungen „Wenn die letzte Zeche Ende 2018 schließt, ist die Steinkohle im Ruhrgebiet endgültig Geschichte. Zurück bleibt ein Vakuum, das wirtschaftlich und kulturell gefüllt werden muss, wenn die Region nicht komplett abgehängt werden will.“1 So leitete die Kulturredakteurin Christiane Hoffmans ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der RAG-Stiftung Werner Müller ein, das am 6. November 2017 auf dem online-Portal der Zeitung „Die Welt“ veröffentlicht wurde. Ein solcher Prozess begann für die Bevölkerung in den sächsischen Steinkohlenrevieren vor mehr als einem halben Jahrhundert. Heute ist man hier in der Situation, sich von der letzten Generation, die den aktiven Steinkohlenbergbau noch miterlebte, verabschieden zu müssen. Auch die architektonischen Zeugnisse, die vom Ringen um den Energieträger Steinkohle zeugen, sind heute überschaubar. Obwohl zum Beispiel gerade die landschaftsprägenden Bauten der industriellen Kohlengewinnung durch den anschließenden Umprofilierungsprozess der Wirtschaft oft weitere Nutzung und damit Erhaltung fanden, bedingt der anhaltende Strukturwandel seit 1990 bis heute stetige Verluste an solchen Zeitzeugen. Das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus spiegelt sich hierzulande im 40. Jahrestag der Einstellung des Steinkohlenabbaus im Zwickauer Revier wider. Die Förderung des letzten mit Steinkohlen beladenen Huntes am 29. September 1978 auf dem dortigen Martin-Hoop-Schacht IV bedeutete zugleich das Ende der Gewinnung energetischer Steinkohle auf dem Territorium der damaligen DDR. Geblieben ist das Erbe des sächsischen Steinkohlenbergbaus in all seinen Ausprägungen und Folgeerscheinungen. Insbesondere das Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, das Museum des sächsischen Steinkohlenbergbaus (Abb. 1), zeugt von der Geschichte um die schwarzen Diamanten Sachsens. In diesem Beitrag wird das Haus, das in den nächsten Jahren einer umfassenden und tiefgreifenden Umstrukturierung und Erneuerung unterzogen wird, mit seinen Sammlungsbereichen kurz vorgestellt.
1 Hoffmans, Christiane: Das Ruhrgebiet muss sich neu erfinden am liebsten gestern. Veröffentlicht am 06.11.2017 unter: www.welt.de/regionales/nrw/article170303083/Das-Ruhrgebietmuss-sich-neu-erfinden-am-liebsten-gestern.html (Stand: 11.05.2018). https://doi.org/10.1515/9783110683097-008
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Abb. 1: Das Museum des sächsischen Steinkohlenbergbaus in Oelsnitz/Erzgebirge im früheren Kaiserin-Augusta-Schacht; der 1923 errichtete Förderturm ist zugleich ein Symbol sächsischer Industriegeschichte.
Zur Geschichte und Musealisierung des sächsischen Steinkohlenbergbaus Zur Montanregion Erzgebirge und darüber hinaus zum sächsischen Montanwesen insgesamt gehört neben dem Erzbergbau ebenso der Bergbau auf Steinkohle. Dieser Bergbauzweig wird gegenüber dem dominierenden Erzbergbau oft nur in dessen Schatten wahrgenommen. Bezogen auf seine Bedeutung im deutschen oder gar europäischen Kontext mag dies nachvollziehbar und angemessen sein, zumindest hinsichtlich seiner Fördermengen: Betrug der sächsische Anteil an der Ausbeute des Deutschen Reiches 1885 lediglich 7 %, so waren es 1913 nur noch knapp 3 %.2 Die Montangeschichte des Erzgebirges und Sachsens kann jedoch nicht ohne den Steinkohlenbergbau betrachtet werden. Insbesondere im Hinblick auf 2 Papst, Hans: Entwicklung und Absatzverhältnisse des sächsischen Steinkohlenbergbaus unter besonderer Berücksichtigung der Gegenwart. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der staatswissenschaftlichen Doktorwürde, Würzburg 1928, S. 28.
Das Museum des Sächsischen Steinkohlenbergbaus und seine Sammlungen
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eine kulturgeschichtliche Betrachtung des erzgebirgischen Montanwesens war der Abbau der schwarzen Diamanten über Jahrhunderte ein wichtiger Bestandteil mit vielfältigen Wechselwirkungen. Bereits für das 14. Jahrhundert war die Nutzung der Steinkohle in den Schmiedeartikeln des Zwickauer Stadtrechts schriftlich belegt: „daz alle smide di niderthalp der mur sitzen mit nichte sullen smiden mit steinkoln“.3 Georgius Agricola schreibt in seinem Werk „Bermannus“ von den brennenden Kohlengruben in Zwickau.4 Die sächsischen Kohlenvorkommen fanden sich in insgesamt acht Lagerstätten, die in drei großen Revieren und sechs kleinen Abbauorten gewonnen wurden (Abb. 2). Die drei bekannten Reviere sind jene von Zwickau, Lugau-Oelsnitz und des Döhlener Beckens bei Dresden (auch als „Freitaler Revier“ bezeichnet). Bei den kleinen Abbauorten handelt es sich um jene von Ebersdorf (Abbau 1559 bis 1865), Flöha und Hainichen-Berthelsdorf bei Chemnitz (Abbau ca. 1600 bis 1880), Olbernhau-Brandau (Abbau ca. 1850 bis 1930) sowie Rehefeld (Abbau 1848 bis 1872) und Schönfeld-Altenberg (Abbau 1761 bis 1926), letztere beide bei Dippoldiswalde.
Abb. 2: Die sächsischen Steinkohlenlagerstätten mit ihrem Entstehungszeitraum
3 Stadtarchiv Zwickau. Zwickauer Stadtrecht III x 1 141b, Blatt 30. Zwickauer Schmiedeartikel. 4 Agricola, Georg: Ausgewählte Werke, Bd. 2, Bermannus oder über den Bergbau: Ein Dialog, übers. u. bearb. von Helmut Wilsdorf in Verbindung mit Hans Prescher und Heinz Techel, Berlin 1955, S. 147.
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Im 19. Jahrhundert kam es in den drei großen Steinkohlenrevieren Zwickau, Döhlener Becken und Lugau-Oelsnitz zu einer massiven industriellen Bergbautätigkeit. Die sächsischen Fabriken hungerten nach Steinkohle als Brennstoff für ihre Dampfmaschinen. Dank der heimischen Vorkommen entwickelte sich Westsachsen mit der Stadt Chemnitz als so genanntes „sächsisches Manchester“ zu einer Pionierregion der Industrialisierung in Deutschland. Mit dem großflächigen Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes ab Ende des 19. Jahrhunderts ging die Bedeutung des sächsischen Steinkohlenbergbaus zurück. Nun stand billigere Kohle aus anderen europäischen Regionen zur Verfügung. Mit der zunehmenden Erkundung der Lagerstätten und damit einhergehenden Vorratsberechnungen zeichnete sich dazu bereits ab den 1930er-Jahren ein Ende des wirtschaftlich zu betreibenden Bergbaues ab. Noch einmal angefacht wurde der Bergbauzweig durch die Rohstoffknappheit in der jungen DDR. Mit der Schließung der Zwickauer Steinkohlenschächte 1978 war die Förderung energetischer Steinkohle in Sachsen jedoch endgültig vorbei. Allerdings wurde noch bis 1989 durch die SDAG Wismut im Döhlener Becken so genannte „Erzkohle“ zur Urangewinnung abgebaut. Insgesamt förderte man aus sächsischen Kohlengruben 420 Mio. Tonnen Steinkohle. Was blieb nun nach Einstellung des Steinkohlenbergbaus übrig? Da waren einerseits tausende Kohlenkumpel auf der Suche nach neuer Arbeit. Andererseits monumentale Bauwerke zur Gewinnung und Verarbeitung der Kohle, nun nutzlos geworden. Auch Traditionen blieben bestehen, die bis heute gelebt werden. Im Rahmen der Aufnahme der „Bergparaden und Bergaufzüge in Sachsen“ in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes bei der Deutschen UNESCO-Kommission im Jahr 2017 wurde die Bedeutung der Grubenbesitzer des sächsischen Steinkohlenbergbaus zur Aufrechterhaltung dieser Tradition schon im 19. Jahrhundert explizit hervorgehoben.5 Was ebenfalls blieb, waren Dokumente, Akten, Risswerke, Aufzeichnungen und Fotografien aus den Kohlenbergwerken, ebenso viele Sachzeugen mit Po-
5 Am 9. Dezember 2016 erfolgte die Aufnahme der „Bergparaden und Bergaufzüge in Sachsen“ in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Der vom zuständigen Expertenkomitee Immaterielles Kulturerbe bei der Deutschen UNESCO-Kommission bewertete und durch die deutsche Kultusministerkonferenz einstimmig angenommene Antrag würdigt die identitätsstiftende, lebendige Bewahrung bergmännischer Tradition in Sachsen sowohl vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung des sächsischen Montanwesens, als auch im Hinblick auf das Engagement der Vereine zum Erhalt des Brauchtums. Der Steinkohlenbergbau als wichtiges Bindeglied in der jahrhundertelangen Bewahrung, Pflege und Weiterentwicklung dieser einzigartigen Tradition während des Niederganges des Erzbergbaues und seiner Transformation im 19. und 20. Jahrhundert bildete bereits bei der Antragstellung einen wesentlichen Baustein.
Das Museum des Sächsischen Steinkohlenbergbaus und seine Sammlungen
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tential für museale Sammlungen. Diese galt es nun zu bewahren und so unterzubringen, dass sie auch folgenden Generationen vom sächsischen Steinkohlenbergbau zeugen können. Nachdem im Jahr 1967 der Ministerrat der DDR den Beschluss über die Einstellung des Steinkohlenbergbaus gefasst hatte, erfolgte 1968 die Festlegung, eine Traditionsstätte dieses Montanzweiges aufzubauen. Nach verschiedenen Abwägungen und einem ersten Ansatz im Treibehaus des Hoffnung-Schachtes in Zwickau 1965 wurden schließlich die übertägigen Anlagen des seit 1869 abgeteuften Kaiserin-Augusta-Schachtes in Oelsnitz dafür ausgewählt. Nach dessen Übernahme durch den Freistaat Sachsen baute man das Bergwerk ab 1921 in den folgenden zwei Jahrzehnten zu einem der modernsten und leistungsfähigsten Bergwerke im deutschen Steinkohlenbergbau aus (Abb. 3). Der markante Förderturm ist bis heute das Wahrzeichen der gesamten Region und ein Symbol sächsischer Industriegeschichte. Am 31. März 1971 wurde im Karl-LiebknechtSchacht, wie das Bergwerk seit 1946 hieß, der letzte Hunt Kohle des Lugau-Oelsnitzer Reviers gefördert. Es folgten Verwahr- und Sanierungsarbeiten, anschließend die Einrichtung des Museums.
Abb. 3: Der Kaiserin-Augusta-Schacht in Oelsnitz/Erzgebirge um 1930, Luftbild auf Postkarte
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Am 1. Juli 1986 wurde das Bergbaumuseum Karl-Liebknecht-Schacht als Traditions- und Erinnerungsstätte des sächsischen Steinkohlenbergbaus eröffnet. Der Übergang erfolgte also vom produzierenden Kohlenwerk unmittelbar zum Museum, womit dem Ort eine einzigartige Authentizität innewohnt. Bereits 1968 waren sich Wissenschaftler, Politiker, Kulturschaffende und Denkmalpfleger, darunter die Vorreiter der technischen Denkmalpflege, Eberhard Wächtler und Otfried Wagenbreth, deshalb einig, dass „die Lugau-Oelsnitzer Anlagen als bergbautechnische u. bergbaugeschichtliche Denkmale Bedeutung im Republikmaßstab besitzen“.6 Für die Wahl des Ortes mögen verschiedene Aspekte von Bedeutung gewesen sein. Einerseits war die Entscheidung auch vor dem Hintergrund sozialistischer Ideologie, in deren Kontext die Museumsgründung ebenfalls zu sehen ist sicher nicht losgelöst von politischen Motiven: Die Entscheidung stand beispielsweise unter dem Einfluss der legendären wie umstrittenen Sonderschicht, die der Hauer Adolf Hennecke hier am 13. Oktober 1948 verfuhr und bei der er die Tagesnorm mit 387 % übererfüllte (Abb. 4). Außerdem mag bei der Standortfrage auch eine Rolle gespielt haben, dass Lugauer Bergarbeiter 1868 auf Grund ihrer miserablen Situation in Briefwechsel mit Karl Marx getreten waren. In der Konsequenz begründete man 1869 auf Grundlage eines von August Bebel erarbeiteten Musterstatutes die „Gewerksgenossenschaft deutscher Berg- und Hüttenarbeiter in Lugau und Umgegend“, die erste gewerkschaftliche Organisation deutscher Bergarbeiter überhaupt.7
6 Neuber, Heino: Rückblicke auf die Entstehungsgeschichte des Bergbaumuseums Oelsnitz/ Erzgebirge, in: Die Turmstütze. Zeitschrift des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge und seines Fördervereins, Doppelausgabe Nr. 27/28, 2011, S. 7-25, hier: S. 8. 7 Scheibner, Helmut: … zu Händen des Herrn Carl Marx. Sächsische Steinkohlenbergarbeiter im Kampf gegen reaktionäre Knappschaften und für eine starke revolutionäre Gewerkschaftsorganisation, Oelsnitz/Erzgebirge 1987, S. 33.
Das Museum des Sächsischen Steinkohlenbergbaus und seine Sammlungen
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Abb. 4: Büste des Hauers Adolf Hennecke, geschaffen um 1960 von dem Bildhauer Dr. Johannes Friedrich Rogge, befindlich im Sammlungsbestand des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge. Hennecke erfüllte während einer Rekordschicht am 13. Oktober 1948 seine Tagesnorm mit 387%, indem er statt 6,3 Kubikmeter Steinkohle 24,4 förderte. Nach der Hochleistungsschicht, die Hennecke selbst als Beispiel verstanden wissen wollte, wurde er schnell zu einem „Helden“ der jungen DDR und bildete einen wertvollen Baustein der staatstragenden Entwicklung des Sozialismus. Hinter der Schicht selbst stand die Problematik, dass es dem Karl-Liebknecht-Schacht, wie der Kaiserin-Augusta-Schacht zu diesem Zeitpunkt bereits bezeichnet wurde, als leistungsfähigster Schachtanlage im Steinkohlenbergbau der sowjetisch besetzten Zone nicht gelang, das von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) aufgestellte Fördersoll zu erfüllen. Da Instruktionen der Bergarbeiter vor dem Hintergrund der angespannten Versorgungslage ihren Zweck kaum erfüllten, wollte die Revierleitung ZwickauOelsnitz ein Signal setzen. Vor allem bei der Jugend verfehlte man die Wirkung nicht.
Andererseits waren Architektur und Erhaltungszustand der Gebäude ebenfalls entscheidend: Der Entwurf des Kernkomplexes mit dem Förderturm stammte vom renommierten Chemnitzer Architekturbüro Zapp & Basarke, welches bereits für andere große sächsische Industrieunternehmen markante Fabrikgebäude entworfen hatte. Neben den architektonisch wertvollen Industriebauten war von entscheidender Bedeutung für den Museumsstandort jedoch auch, dass hier technische Großexponate in situ erhalten waren, u. a. eine elektrische Turmfördermaschine der Zwickauer Maschinenfabrik, eine Dampffördermaschine der Gutehoffnungshütte Sterkrade (Abb. 5), ein Leonard-Umformer der Firma Siemens oder die eindrucksvolle Hängebank mit den Schachtgerüsten zweier För-
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deranlagen, vereint in einem Förderturm. Neben den vor Ort erhaltenen Großexponaten wurde das Museum im Laufe der Jahre durch weitere Großexponate ergänzt. Verschiedene Objekte des sächsischen Steinkohlenbergbaus wurden auf das Museumsgelände transloziert, darunter ein Förderturm und eine Trommelförderanlage aus dem Revier Döhlener Becken, übergeben von der Wismut. Außerdem entstand ein Anschauungsbergwerk mit vorführbaren Abbau- und Fördermaschinen in akribischer Detailtreue und in Kenntnis der notwendigen handwerklichen Techniken durch Bergleute errichtet.
Abb. 5: Dampfmaschine der Gutehoffnungshütte Sterkrade, errichtet 1923 auf dem Vereinigtfeld-Schacht I in Oelsnitz/Erzgebirge, 1933 auf den Kaiserin-Augusta-Schacht als zweite, kleinere Förderanlage umgesetzt und in Betrieb bis 1975. Heute wird diese Maschine im Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge mit Hilfe eines Elektroantriebes vorgeführt.
Die Dauerausstellung des neu entstehenden Museums untergliederte sich in verschiedene thematische Abteilungen, die sich der Bergbaulandschaft, der Bergarbeitergeschichte, der Regionalgeschichte, der Energiegewinnung und bergbautechnischen Aspekten widmeten. Bis heute sind diese Ausstellungsabteilungen nahezu unverändert existent und demzufolge stark überarbeitungsbedürftig. Bereits im Zuge einer Museumserweiterung im Jahr 2009 wurde die Ausstellungsabteilung zur Geologie der Steinkohle komplett erneuert, bereichert um eine begehbare Inszenierung eines Steinkohlenwaldes. Grundlage für diese Nachbildung eines Karbonwaldes waren fossile Funde in den Steinkohlengruben, die heute in der geologischen Sammlung des Bergbaumuseums aufbewahrt werden. In den kommenden Jahren nun steht dem Museum eine völlige Umgestaltung bevor. Dabei werden auch die weiteren Ausstellungsabteilungen komplett überarbeitet und neu aufgeteilt.
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Darüber hinaus findet im Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge eine umfangreiche vermittlungs- und erlebnisorientierte Arbeit statt. Mit unterschiedlichen Angeboten und temporären Projekten werden Aspekte sächsischer Bergbau-, Industrie-, Technik- und Sozialgeschichte im Kontext des Steinkohlenbergbaus aufgegriffen. In den letzten Jahren wurde zudem die Sammlungsarbeit weiter aufgebaut und fortentwickelt. Die Weiterentwicklung und Intensivierung der Aufgaben des Sammelns und Bewahrens sowie des Forschens an den Sammlungsbeständen wird in den folgenden Jahren einen zentralen Arbeitsschwerpunkt bilden, da hier noch größerer Nachholbedarf besteht: Das Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge wurde mit dem Auftrag gegründet, Traditions- und Gedenkstätte für den sächsischen Steinkohlenbergbau zu sein und diesen in seinen unterschiedlichen Facetten in einer Dauerausstellung mit Anschauungsbergwerk am authentischen Ort darzustellen. Dieser politisch angeordnete Aufbau eines solchen Museums könnte nun den Eindruck erwecken, der Montanzweig des Steinkohlenbergbaus sei von Beginn an im Bergbaumuseum bestens musealisiert. Das trifft jedoch nur bedingt zu. Auch, wenn der Übergang vom produzierenden Bergwerk zum Museum ohne Zwischenschritt unmittelbar erfolgte, so lag doch eine Zeitspanne von 15 Jahren zwischen dem letzten geförderten Kohlenhunt und der Museumseröffnung. Bevor Fach- bzw. Museumsleute sowie Wissenschaftler hinzugezogen wurden, waren die Bergleute bereits nach festgelegtem Plan mit der Abwicklung ihres Arbeitsplatzes beschäftigt. Aktenberge wurden unter den Fenstern der Verwaltung des ehemaligen VEB Steinkohlenwerk Oelsnitz (Erzgebirge) aufgetürmt und im benachbarten Kraftwerk verbrannt. Um bestehende Schrottpläne zu erfüllen, verfielen selbst durch das Aufbaukollektiv des Museums gesicherte Objekte, wie eine elektrische Grubenlokomotive von 1934, dem Schneidbrenner. Dazu waren Schrottsammler zugange und verdienten sich mit dem vermeintlichen „Bergwerksschrott“ einige Pfennige dazu. Die Abwicklung des Schachtes führte schließlich soweit, dass er wohl von vielen eher als Souvenirladen denn als künftiges Museum betrachtet wurde, der dazu diente, im eigenen Wohnzimmer oder in der Garage mit dem transportablen Bergwerksinventar eine ganz persönliche Traditionsstätte einzurichten. Freilich sind darüber aber ebenso viele Objekte erhalten geblieben, die ansonsten bei der Abrüstung für immer verloren gegangen wären man denke nur an die Verfüllung der Deutschland-Schächte in Oelsnitz, bei der Archivbestände zum Versatzgut gehörten. Die Gründe hierfür waren vielgestaltig: Einerseits umfasste das Aufbaukollektiv nur wenige Arbeitskräfte, denen oft gegenüber den Entscheidungen der Betriebsleitung die Hände gebunden waren. Andererseits fehlte es zunächst an museumsspezifischem Personal sowie in erster Linie auch an geeigneten Räumlichkeiten für die Unterbringung gesicherter Objekte. Aus
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diesen Gründen lagerte man einen größeren Teil potentieller Museumsdeponate während der Verwahrung und Sanierung des Schachtes aus. Ganz im Sinne des „Volkseigentums“, sicher auch aus Zeitmangel, wurde auf detaillierte Dokumentationen, Regelungen und Verträge verzichtet. Vor dem Hintergrund schließlich, dass der Aufbau einer Sammlung im neuen Museum zunächst hinter der Einrichtung einer Dauerausstellung zurückstand und die Zusammentragung von Objekten eher als Exponate und nicht als Deponate erfolgte, unterblieb zudem die Rückholung vieler ausgelagerter Objekte. Das führte dazu, dass auf Grund ungeklärter Verhältnisse im Laufe der Zeit ausgelagerte Museumsobjekte in andere Sammlungen eingegliedert wurden. Das Hauptaugenmerk musste sich aber auch auf die Erstellung des technischen Denkmals richten; die Ausstellung lag zudem nicht in der Verantwortung des industriellen Bauträgers, sondern beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. Der Prozess der Umprofilierung lenkte das größte Interesse auf die Zukunft, die Vergangenheit bedeutete zunächst überkommene Last. Zudem sammelten in gewissem Umfang auch die Städtischen Museen Zwickau und das Heimat- und Bergbaumuseum im benachbarten Lugau zum lokalen Bergbau. Es zeigte und zeigt sich aber durchaus auch ein weiterer Umstand für die Herausforderung beim Aufbau einer Sammlung zum sächsischen Steinkohlenbergbau: Die Gewinnung und Nutzung von Steinkohle, damit einhergehende Entwicklungen und Ereignisse und davon zeugende Objekte waren für eine museale Sammeltätigkeit in den Revieren Zwickau und Lugau-Oelsnitz lange nicht von vorrangigem Interesse. Das machen die wenigen gegenständlichen Überlieferungen aus dem 19. Jahrhundert, in Zwickau auch aus noch früherer Zeit, deutlich. Beklagt hat man diesen Zustand bereits bei den ersten Versuchen zum Aufbau eines einschlägigen Museums 1965 in Zwickau, zu ändern war es bereits zu dieser Zeit nicht mehr. Grundsätzlich waren all diese Vorgänge der Musealisierung des Steinkohlenbergbaus nicht gerade zuträglich. Somit startete das Bergbaumuseum also zunächst mit einem relativ dünnen Sammlungsbestand, der insbesondere als Grundstock für die Dauerausstellung diente. Erst ab 1985, kurz vor Eröffnung des Museums, begann der allmähliche Aufbau einer umfassenderen Sammlung zum sächsischen Steinkohlenbergbau entsprechend musealer Anforderungen. Dies hing nicht zuletzt mit der nun endlich nachgeholten Einstellung von Fachpersonal zusammen. Der noch vorhandene Fundus im neuen Museum selbst wurde unter Beachtung von Dokumentationsstandards aufgearbeitet, eine spürbare Sammeltätigkeit setzte ein, die leider nach 1990 nicht immer konsequent fortgesetzt werden konnte. Inzwischen ist die Entwicklung der Sammlung zum sächsischen Steinkohlenbergbau eine feste Säule der Museumsarbeit. Im Zuge der anstehenden Generalsanierung entstehen neue Möglichkeiten und Rahmen-
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bedingungen für eine langfristige und qualitätsvolle Bewahrung entsprechend aktueller Standards und Anforderungen. Depoträume werden umgebaut und ertüchtigt, neue Depotflächen geschaffen, um die Sammlungen künftig entsprechend der jeweiligen Anforderungen adäquat unterzubringen.
Allgemeine Bemerkungen zur Sammlungsentstehung Im Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge hat sich die Bildung von insgesamt acht Bestandsgruppen durchgesetzt und bisher bewährt. Das sind die geologische Sammlung, die bergbautechnische Sammlung, die Sammlung bergbaulicher Kultur- und Alltagsgeschichte und die reviergeschichtliche Sammlung. Weiterhin wurde mit dem Schriftgut und mit der Fotothek jeweils eine Bestandsgruppe gebildet. Da in den vergangenen Jahren die Vermittlungsarbeit in hohem Maße ausgebaut wurde, hat sich der Ausbau einer Verbrauchs- und Reservesammlung angeboten. Schließlich wurde dem Museum als einzige museale Einrichtung in unmittelbarer Trägerschaft des Landkreises Erzgebirgskreis auch die bis dahin landkreiseigene Sammlung Erzgebirgische Landschaftskunst übertragen. Die wesentlichen musealen Bestände beziehen sich auf die westsächsischen Steinkohlenreviere um Zwickau und Lugau-Oelsnitz. Das Revier des Döhlener Beckens ist nur wenig vertreten. Dies liegt zunächst darin begründet, dass bereits seit 1906 in Deuben ein Heimatmuseum bestand, das seit 1925 regelmäßig öffentlich zugänglich ab 1945 seinen festen Sitz auf Schloss Burgk in Freital erhielt.8 Dadurch waren Grundlagen für eine, wenn auch zunächst nicht wissenschaftliche, Sammlungstätigkeit gelegt, die vieles Einmalige und Aussagekräftige bewahren half. Die räumliche Entfernung des Reviers Döhlener Becken zum Bergbaumuseum in Oelsnitz hätte zudem eine Einschränkung im Hinblick auf die Entfaltung einer möglichen Sammeltätigkeit bedeutet. Diese lässt sich vor Ort im Hinblick auf die immer auch individuelle Beziehung und Bindung der Menschen in ihren gesellschaftlich-regionalen Vernetzungen leichter herstellen. Dem wird das Freitaler Museum in jedem Fall gerecht und pflegt vor diesem Hintergrund eine fruchtbringende Zusammenarbeit. Allgemein ist in den letzten Jahren eine wesentliche Zunahme von Objektangeboten (Kauf und Schenkungen gleichermaßen) und ein damit verbundener, 8 Sächsische Landesstelle für Museumswesen (Hrsg.): Städtische Sammlungen Freital, Berlin 2003 (= Sächsische Museen, Bd. 15).
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spürbarer Zugang von Objekten zu verzeichnen. War es lange Zeit teilweise sehr mühsam, bestimmte Sachzeugen, Literatur etc. auch aus bekannten Privatbeständen zu erlangen, trennen sich gegenwärtig frühere Bergleute von wichtigen „Lebenserinnerungen“, aber auch Nachfahren von einst gehüteten „Erinnerungsstücken“ aus Nachlässen, da sie die Objekte im Museum dauerhaft aufbewahrt wissen und die junge Generation oftmals kein Interesse daran zeigt.
Geologische Sammlung Das Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge unterhält eine Sammlung zur Geologie der sächsischen Steinkohlenlagerstätten. Diese umfasst mehrere Tausend geologische, mineralogische und paläontologische Deponate, viele davon stammen aus geologischen Lehrsammlungen. Ebenso zählen Bohrkernproben zum Sammlungsbestand, die den Aufbau der Erdschichten der Lagerstätten dokumentieren. Auch die Endbeprobung der Lagerstätte Zwickau zählt zu den wichtigen Objekten der geologischen Sammlung. Die Sammlung ist als weitgehend abgeschlossen zu betrachten. Einerseits sind alle Steinkohlenbergwerke in Sachsen verschlossen, weshalb nur noch Haldenfunde oder Zuwächse aus anderen, insbesondere privaten Sammlungen erfolgen können. Andererseits ist mit der Einstellung der sächsischen Steinkohlenförderung auch die wissenschaftlich-geologische Erforschung der Lagerstätten weitgehend abgeschlossen, aus der ebenfalls potentielle Sammlungsobjekte hervorgegangen sind. Dass jedoch die Sammeltätigkeit für die geologische Sammlung nie ganz abgeschlossen sein wird, zeigt zum Beispiel eine in Planung befindliche Bohrung zur Speisung eines in Oelsnitz/Erzgebirge errichteten Gradierwerkes mit salzhaltigem Grubenwasser. Der entstehende Bohrkern bietet die Möglichkeit, für die geologische Sammlung einen vollständigen oder zumindest teilweisen Schichtenschnitt der karbonischen Ablagerungen und des darüber befindlichen Deckgebirges zu erhalten.
Bergbautechnische Sammlung Zum Erschließen einer Lagerstätte und aller damit verbundener Vorgänge über und unter Tage, zur Gewinnung, Förderung, Aufbereitung, Veredelung, zum Transport und zur Verarbeitung der Rohstoffe bedurfte es technischer Hilfsmittel, die im Laufe der Zeit beständig verbessert und weiterentwickelt wurden. Die
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bergbautechnische Sammlung umfasst mehrere tausend Objekte, die einzelne Bereiche der Bergbautechnik und Bergbauwissenschaft repräsentieren. Hierzu gehören neben Geräten und Maschinen zum Abbau und zur Förderung u. a. auch Objekte zum Grubenbetrieb, zum Grubenrettungswesen, zur Arbeitssicherheit der Bergarbeiter oder zum Markscheidewesen. Ebenfalls umfasst die bergbautechnische Sammlung eine nicht unbedeutende Modellsammlung (Abb. 6).
Abb. 6: Zur Verdeutlichung technischer Anlagen des Bergbaus entstanden für die 1862 gegründete Bergschule in Zwickau eine große Anzahl von maßstäblichen Modellen, die sich vielfach an den Schachtanlagen und technischen Ausrüstungen des sächsischen Steinkohlenbergbaus orientierten. Das um 1913 entstandene Modell des Tiefbau-Schachtes II des Erzgebirgischen Steinkohlen-Aktienvereins, in der Sammlung des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge befindlich, zeigt eine Ausführung der übertägigen Schachtfördertechnik, die in den Jahren der Gründerzeit für die sächsischen Reviere vielfache Anwendung fand: den massiven Malakowturm als kräfteaufnehmende Umhausung eines eisernen Fördergerüstes, seltener eines hölzernen Seilscheibenstuhls. Das detaillierte Modell sollte den Bergschülern den Aufbau und die Funktionsweise präzise nahebringen. Die Tiefbau-Schächte I und II wurden zwischen 1875 und 1880 auf einer Aufsattelung in Muldennähe, unmittelbar an den Zwickauer Innenstadtbereich angrenzend, abgeteuft. Beide standen mit 640 Metern Gesamtteufe im Urgebirge. Die Tagesanlagen des Schachtes II entstanden 1890.
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Durch den unkontrollierten und teilweise illegalen Abgang von Bergbautechnik aus den Bergwerken im Zuge der Einstellung des Steinkohlenbergbaus in Privatbesitz ist jedoch davon auszugehen, dass auch in den kommenden Jahren interessante und sammlungswürdige Objekte bekannt werden, die jedoch wohl überwiegend zu Sammler- und Liebhaberpreisen veräußert werden und nicht zuerst dem Museum als Schenkung angeboten werden. Großobjekte sind dagegen kaum noch zu erwarten, ebenso wenig Arbeitsgeräte der frühen Mechanisierung, die man nach Ablauf ihrer Nutzungsdauer ablegte und dem Rohstoffkreislauf zuführte.
Sammlung bergbauliche Kulturund Alltagsgeschichte Die Objekte der Sammlung bergbauliche Kultur- und Alltagsgeschichte repräsentieren gesellschaftlich-kulturelle Aspekte des sächsischen Steinkohlenbergbaus, ebenso jedoch der Bergbaufolgeindustrien. Den Sammlungsbestand bilden persönliche Gegenstände der berufsspezifischen Ausrüstung (Kleidung, Trinkflaschen, Brotdosen etc.), Werke der Volks- und Laienkunst, Objekte der Traditionspflege wie etwa Uniformen, Säbel, Fahnen (Abb. 7) oder auch Objekte der Erinnerung und Identifikation.
Abb. 7: Da die Paradeuniformen bereits im 19. Jahrhundert in Uniformkammern bei den Werken vorgehalten waren, sind vollständige Stücke eines Trägers besonders aus der Arbeiterschaft selten. Diese Paradeuniform des Steinkohlenbauvereins Gottes Segen, entstanden um 1900, mit ihrem Zubehör (bis hin zu Knopfholz und Kleiderbügel) konnte erst vor wenigen Jahren aus Privatbesitz erworben werden. Der Steinkohlenbauverein Gottes Segen war seit 1895 Besitzer des Kaiserin-Augusta-Schachtes in Oelsnitz, des heutigen Bergbaumuseums.
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In nahezu jeder Bergarbeiterfamilie waren solche Gegenstände zu finden. Noch lebende Bergleute hüten häufig noch heute Gegenstände der Kultur- und Alltagsgeschichte, ebenso nicht selten die unmittelbaren Nachfahren. Aus diesem Grund und da die Sammlung noch erhebliche Lücken aufweist, liegt hier ein weiter zu verfolgender Sammelschwerpunkt.
Reviergeschichtliche Sammlung Mangels eines aktiven Regional- oder Stadtmuseums oder eines anderen Museums, welches sich der Bewahrung und Erschließung von Sachzeugen der Geschichte des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers und seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte vor, während und nach der Bergbauära widmet, unterhält das Bergbaumuseum eine reviergeschichtliche Sammlung. Diese beinhaltet beispielsweise Objekte, welche die Umprofilierung und den Wandel der ursprünglich monoindustriell geprägten Bergbauregion dokumentieren. Zudem umfasst diese Sammlung Objekte zur Geschichte und Entwicklung der Orte des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers (Abb. 8). So finden Objekte der Sächsischen Überland-Bahn Oelsnitz Hohenstein Ernstthal ebenso Eingang in diese Sammlung wie Objekte der Zechenbahnen, Alltagsgegenstände, Verkaufswaren oder Produkte ortsansässiger Unternehmen.
Abb. 8: Ursprünglich als Spendendosen für die „Königs-Geburtstagsspende 1915“ durch den Landesausschuss des Roten Kreuzes in Sachsen angefertigt, spiegeln diese Spendendosen des Oelsnitzer Roten Kreuzes, die sich im Sammlungsbestand des Bergbaumuseums befinden, den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges sehr anschaulich. Während eine Dose überklebt wurde, um Opfer für die deutsche Kriegsflotte zu geben, trägt die andere einen Klebezettel mit der Bitte um Spenden für die Kriegs- und Zivilgefangenen aus dem Jahre 1919.
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Die Erweiterung der reviergeschichtlichen Sammlung wird ein Schwerpunkt der kommenden Jahre für die Sammeltätigkeit des Bergbaumuseums sein. Ein Grund ist unter anderem darin zu sehen, dass die lokale Industriegeschichte mit Unternehmen, deren Ursprünge in der Umprofilierung der lange monoindustriell geprägten Region liegen und die häufig frühere bergbauliche Anlagen nutzen, fortgeschrieben wird.
Schriftgut Die Schriftgut-Sammlung des Museums umfasst Akten, Urkunden, Dokumente, Karten und Grubenrisse zum sächsischen Steinkohlenbergbau und dessen Folgeindustrie. Auch persönliche Dokumente aus dem Arbeitsleben der Bergarbeiter oder Brigadebücher gehören dazu. Ebenso finden sich hier Plakate oder Werbepostkarten; von herausragender Bedeutung ist auch die Sammlung historischer Wertpapiere. Einen zweiten großen Bereich der Schriftgut-Sammlung bildet eine Fachbibliothek zum sächsischen Steinkohlenbergbau (Abb. 9). Neben Büchern, Zeitungen und Zeitschriften zählen auch Gesetzesblätter zum Bestand. Daneben enthält die Bibliothek museologische Fachliteratur, Literatur zur Lokal- und Regionalgeschichte, zur sächsischen Industriegeschichte und Volkskunde.
Abb. 9: Mehrfach versuchte der sächsische Staat das Bergregal auch auf den Steinkohlenbergbau auszudehnen. Dies misslang erstmals vor dem Freiberger Bergschöppenstuhl 1577, immer erneut sprach man die Rechte den Grundbesitzern zu. Erst mit dem Kohlenmandat von 1743 griff das Kurfürstentum grundlegend in diesen Bergbau ein. Ursache war der enorme Verbrauch an Brennmaterial, der durch Holz nicht mehr gedeckt werden konnte. Die Steinkohle sollte dafür Ersatz schaffen. Die 1742 an der Leipziger Universität eingereichte Doktorarbeit „Von denen Rechten derer Stein-Kohlen“ gilt als Grundlage des Mandats und befindet sich heute im Sammlungsbestand des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge.
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Die Sammlung kann als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden, da sämtliche Werksarchive aufgelöst und die Bestände entweder in das Sächsische Staatsarchiv, Bergarchiv Freiberg übergegangen sind oder vernichtet wurden.
Fotothek Das Museum verfügt über eine Fotosammlung mit ca. 20 000 Fotografien. Der Bestand setzt sich aus Einzelzugängen, Mischzugängen, die u. a. Fotografien enthielten, und aus speziellen Konvoluten (z. B. Werkfotos, Fotoalben) zusammen. In Privathaushalten lagern noch verschiedene Einzelfotografien und Konvolute, die Sammlung hier ist noch nicht abgeschlossen. Dennoch kann auch im Hinblick auf weitere überliefernde Stellen wie das Bergarchiv Freiberg oder die Städtischen Museen Zwickau von einer umfangreichen Sammlung gesprochen werden. So befinden sich im Bestand Fotografien aus allen mit dieser Technik dokumentierten Epochen des industriellen Steinkohlenbergbaues. Die ältesten Stücke datieren auf das Jahr 1857. Von besonderer Bedeutung sind zum Beispiel auch die Fotoalben der Gewerkschaft Gottes Segen in Oelsnitz, die in den 1930er- und 1940er-Jahren die Geschichte der zum Konzern vereinigten Einzelwerke, aber auch detailliert die Entwicklung ab ihrer Gründung 1920 nachvollziehen lassen.
Sammlung Erzgebirgische Landschaftskunst Die Sammlung Erzgebirgische Landschaftskunst mit derzeit ca. 2500 Objekten entweder regionaler Künstler oder von Künstlern, die sich in ihrem künstlerischen Schaffen mit dem Erzgebirge auseinandergesetzt haben, wurde im Jahr 2003 durch den damaligen Landkreis Annaberg in Kooperation mit dem Kulturraum Erzgebirge begründet. Durch Kreisreform und Umstrukturierung innerhalb des Kulturraumes musste eine neue Form der Unterbringung und Betreuung der Sammlung gefunden werden. Schließlich wurde sie im Jahr 2013 dem Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge als einzigem Museum des Erzgebirgskreises und damit unter dessen Zugriff zur Bewahrung, Präsentation und Entwicklung übertragen. Künstlerische Nachlässe, Einzelstücke und wertvolle Privatsammlungen, an denen ein öffentliches Interesse besteht, finden in der Sammlung angemessene Voraussetzungen zur Pflege und Bewahrung.
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Insbesondere enthält die Sammlung Werke, in denen Künstler sich mit der Landschaft des Erzgebirges auseinandergesetzt haben (Abb. 10). Dabei geht es nicht allein um ein Abbild der malerisch reizvollen Landschaft. Ebenso spiegeln sich auch kulturgeschichtliche Aspekte wie Bergbau und Industrialisierung, die Arbeit und der Alltag der Menschen, Pflanzen und Mineralien in den künstlerischen Betätigungen wider.
Abb. 10: „Silberschacht“ aus der Mappe „Erzgebirgslandschaft“, angelegt vermutlich Ende der 1920er-Jahre, befindlich im Bestand der Sammlung Erzgebirgische Landschaftskunst. Bei diesem undatierten und aquarellierten Holzschnitt von Alfred Hofmann-Stollberg (1882–1962) handelt es sich wahrscheinlich um eine Darstellung des um 1680 errichteten Huthauses des Schindlerschachtes im erzgebirgischen Schneeberg.
Verbrauchs- und Reservesammlung Im Hinblick auf die kontrollierte Sammlungserweiterung und die begrenzten Ressourcen ist jedes Objekt nur einmal, im Ausnahmefall auch mehrmals in der Museumssammlung vorzuhalten. Mehrfach vorhandene Objekte werden sukzes-
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sive und nach entsprechenden Vorgaben zum Beispiel des Deutschen Museumsbundes entsammelt. Sind diese jedoch von Bedeutung für die eigene Vermittlungsarbeit, bei der insbesondere auch auf die persönliche Begegnung mit dem Objekt Wert gelegt wird, so können sie auch Eingang in die Verbrauchs- und Reservesammlung finden. Ebenso können Objektzugänge direkt in diese Sammlung aufgenommen werden, wenn sie für die Museumssammlung nicht in Frage kommen, für Vermittlungszwecke jedoch von Bedeutung sind.
Erneuerung des Museums Gegenwärtig erfolgt eine völlige Erneuerung des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge. Bis zum Jahr 2023 wird das Haus mitsamt seinem markanten Förderturm umfangreich und denkmalgerecht saniert und durch notwendige Neubauten ergänzt (Abb. 11). In diesem Zuge wird auch die Dauerausstellung komplett erneuert, ebenso entstehen mit neuen Depoträumen bessere Voraussetzungen für die fach- und sachgerechte Unterbringung der Sammlungen. Die Sanierungsund Restaurierungsmaßnahmen sind höchst notwendig, um die Anlagen des technischen Denkmals Kaiserin-Augusta-Schacht zu erhalten, die konservatorischen Anforderungen des im Museum untergebrachten und in Teilen gezeigten Sammlungsgutes zu erfüllen sowie den heutigen und künftigen Erwartungen der Museumsnutzer zu entsprechen. Auch die baulichen Anforderungen an öffentlich genutzte Gebäude müssen erfüllt werden, so ist zum Beispiel der Förderturm derzeit auf Grund fehlender Fluchtwege nicht zugänglich.
Abb. 11: Architekturentwurf der Vorderansicht des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge mit ergänztem Eingangsgebäude, über das zukünftig alle Gebäudeebenen und Ausstellungsabteilungen zu erreichen sind.
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Die Maßnahmen bieten trotz aller im Hinblick auf Substanzerhalt und Denkmalschutz anstehenden Herausforderungen und sicher auch an der einen oder anderen Stelle schmerzhaft einzugehenden Kompromisse im Hinblick auf die Zukunft des Museums und damit seine Sammlungen verschiedene Chancen und setzen Potentiale frei: So wird die bauliche Anlage selbst mit allen Konstruktionen und technischen Einrichtungen für Besucher durch einen speziellen Architekturrundgang besser erfahr- und begreifbar. Neue Ausstellungsräume bieten Möglichkeiten, Einzelaspekte des sächsischen Bergbaumuseums besser, anschaulicher und umfassender darzustellen. Zudem wird der gesamte, circa 1000 Jahre umfassende Zeitraum der Gewinnung und Nutzung sächsischer Steinkohle von der erstmaligen Erwähnung des Rohstoffs und seiner Verwendung bis zur Einstellung des Abbaus auf uranhaltige Kohle dargestellt, wenn auch die Objektüberlieferung Objektlage bis zur einsetzenden Industrialisierung äußerst spärlich ist. Eine Herausforderung im Zuge der Museumserneuerung ist die Teilnahme des Hauses an der 4. Sächsischen Landesausstellung zur Industriekultur des Freistaates Sachsen im Jahr 2020. Das Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge wurde als einer von sechs Schauplätzen zur Hauptausstellung ausgewählt, die die wichtigsten sächsischen Industriezweige repräsentieren. Als „Schauplatz Kohle“ wird das Museum 2020 bereits einen Kernteil der neuen Dauerausstellung eröffnen und damit auch künftig die Geschichte des sächsischen Steinkohlenbergbaus und einen Teil der Sammlungsbestände der Öffentlichkeit zugänglich machen.
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Das Bergbaumuseum Ibbenbüren Das Bergwerk und sein Museum Ibbenbüren, westlich von Osnabrück im Norden Westfalens gelegen, gehört zu den kleineren Bergbaurevieren. Der Abbau von Steinkohle ist hier seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bezeugt.1 Seine Kohlevorkommen verdankt das Gebiet einer geologischen Sonderstellung: Abbaufähige Steinkohle ist hier auf den Schafberg im Norden der Stadt, eine Fläche von etwa 14 × 5 Kilometern, konzentriert. Entstanden ist der Schafberg wohl durch den Druck aneinanderstoßender Erdplatten, die die kohleführenden Schichten der Karbonformation nach oben pressten. Die jüngeren, höhergelegenen Schichten des Berges wurden im Laufe der Jahrmillionen abgetragen. Wohl auf Grund des enormen Drucks, verbunden mit großer Hitzeeinwirkung, stehen die tieferliegenden Flöze durchweg als Anthrazit an (Abb. 1).
Abb. 1: Längsschnitt durch den Karbonhorst im nördlichen Münsterland
1 Gesamtdarstellungen bei Rickelmann, Hubert/Röhrs, Hans: Der Ibbenbürener Steinkohlenbergbau von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1987; Gawehn, Gunnar: Im tiefen Norden. Die Geschichte des Steinkohlenbergbaus in Ibbenbüren, Münster 2018 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, 228; = Schriften des BergbauArchivs, 33). https://doi.org/10.1515/9783110683097-009
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In der Stadt Ibbenbüren und den umliegenden Gemeinden war das Bergwerk lange Zeit der größte Arbeitgeber: Zu Spitzenzeiten, Ende der 1950er-Jahre, beschäftigte es über 7000 Mitarbeiter. Durch die Beschäftigungsmöglichkeit auf der Zeche konnten auch die Begleiterscheinungen des Strukturwandels in anderen Branchen, vor allem der Niedergang der münsterländischen Textilindustrie, auf dem Arbeitsmarkt abgefangen werden. Mit bis zu rund 600 Auszubildenden und einer eigenen Bergberufsschule war das Bergwerk über längere Zeit auch der größte Ausbilder des Landkreises. Verglichen mit dem Ruhrgebiet ist das Ibbenbürener Revier ländlich strukturiert. Äußerlich fällt das Fehlen der für das Ruhrgebiet charakteristischen Zechenkolonien auf. In Ibbenbüren, wo die Zechenbelegschaft vergleichsweise wenig sprunghaft anwuchs und sich weitgehend aus dem Umland rekrutierte, gab es nur nach dem Ersten und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg das Bedürfnis, in vergleichsweise kurzer Zeit viele Menschen mit Wohnungen zu versehen. Ein Merkmal des Ibbenbürener wie anderer kleiner und ländlich strukturierter Bergbaureviere ist der hohe Anteil von Beschäftigten, die im Nebenerwerb Landwirtschaft betrieben. In Ibbenbüren und seinen Nachbargemeinden gab es bis ins ausgehende 20. Jahrhundert einen spürbaren Anteil von Bergleuten, deren Familien einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb führten, und hier handelte es sich nicht um die sprichwörtliche Bergmannskuh, sondern um Betriebe mit Ackerbau und Viehhaltung, die bis ins 20. Jahrhundert meist noch den Haupterwerb der Familien gebildet hatten. Möglicherweise hat die Nebenerwerbslandwirtschaft dazu beigetragen, dass Ibbenbüren im Ruhrgebiet als ein Revier wahrgenommen wurde, in dem die Bergleute in Holzschuhen herumlaufen und mit dem Trecker zur Arbeit fahren.2 Nichtsdestoweniger ist der Großteil der Ibbenbürener stolz auf die lange Bergbautradition und auch darauf, dass Ibbenbüren neben der Zeche ProsperHaniel in Bottrop eines der beiden letzten Bergwerke ist, die bis zum Auslaufen der deutschen Steinkohleförderung zum Jahresende 2018 aktiv sind. Eine Besonderheit des Bergwerks Ibbenbüren ist auch das Bergbaumuseum, das bei laufendem Betrieb als Werksmuseum geführt wird. Der Anstoß, das Bergbaumuseum einzurichten, ging von dem Bergbauhistoriker Hans Röhrs (*1932) aus. Röhrs, damals Abteilungsleiter bei der Preussag AG Kohle, zu der das Bergwerk bis 1998 gehörte, war bereits durch montanhisto-
2 Entsprechende Aussagen wurden in Interviews zu einer Langzeitdokumentation in Ibbenbüren erhoben. Vgl. Schürmann, Thomas: Ibbenbüren. Ein Bergbaurevier im Wandel. Eine Langzeitdokumentation durch die Volkskundliche Kommission für Westfalen, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 60, 2015, S. 324–325.
Das Bergbaumuseum Ibbenbüren
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rische Veröffentlichungen hervorgetreten.3 Er erkannte und nutzte die Chance, ausgemusterte Maschinen und Geräte in den freigewordenen Räumen des alten Kraftwerks einlagern zu lassen und auszustellen. Röhrs nutzte hierzu vor allem die 1952 bis 1954 gebaute Turbinenhalle (Abb. 2). Sie war Teil des Ballastkraftwerkes, das von 1954 bis 1985 in Betrieb war. In dem Kraftwerk wurde Ballastkohle, d. h. bei der Kohlenwäsche anfallende Schlämme, verwertet. Das Kraftwerk, ein 1954 in Betrieb genommener Gebäudekomplex auf dem östlichen Teil des Zechengeländes, verlor 1985, kurz bevor das heutige RWE-Kraftwerk seinen Betrieb aufnahm, seine ursprüngliche Funktion. Bis auf das Kesselhaus blieben die Gebäude des alten Kraftwerkes jedoch stehen. Ein Teil der Bauten wird bis heute betrieblich genutzt. Die große Turbinenhalle, die Schaltwarte und einige angrenzende Räume standen jedoch für den Museumsaufbau zur Verfügung. Mit diesen Räumen umfasst das Museum etwa 2000 m2 Ausstellungsfläche und etwa 500 m2 Lagerräume, Archiv, Werkstatt und Büro.
Abb. 2: Die Turbinenhalle des 1985 stillgelegten Ballastkohlenkraftwerkes
Mit dem Einverständnis der Werksleitung begann Röhrs tatkräftig mit dem Aufbau der Museumssammlung und dem Bezug der Halle. Dies geschah unter großem persönlichen Einsatz vieler Beteiligter. So wurde zur Beschaffung geeigneter Exponate z. B. ein unter Tage gesetzter Damm wieder geöffnet, um die dahin3 Röhrs (s. Anmerkung 1); Röhrs, Hans: Erz und Kohle. Bergbau und Eisenhütten zwischen Ems und Weser, Ibbenbüren 1992; Röhrs, Hans: Der Ibbenbürener Bergbau des 20. Jahrhunderts in Bildern, 2. Aufl. Ibbenbüren 1998; Röhrs, Hans: Ibbenbürener Kleinzechen und wilde Pütts, Ibbenbüren 2009.
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ter im bereits abgeworfenen Teil des Grubenbaues verbliebenen Maschinen zu bergen. Neben dem Museumsgründer Hans Röhrs gehören heute rund fünfzehn Personen dem ehrenamtlichen Museumsteam an, die sich um Aufgaben wie Aufbau und Pflege der Sammlung, um Führungen von Besuchergruppen und um die Pressearbeit kümmern. Die Mitarbeiter sind fast durchweg frühere Werksangehörige. Dadurch bringen sie eine große Sachkenntnis mit, doch ist auch das Durchschnittsalter der Museumsmitarbeiter sehr hoch. Mit dem Eröffnungsjahr 1990 fällt das Bergbaumuseum in die Zeit des so genannten Museumsbooms und in eine Ära, in der an zahlreichen Industriestandorten stillgelegte Bergbau- und Hüttenanlagen musealisiert wurden.4 Bergbaumuseen entstehen meist als Gedächtnisorte, wenn die aktive Produktion bereits eingestellt worden ist. Die an den Museumsgründungen beteiligten Bergleute nehmen sich als die letzte Generation derer wahr, die noch authentisch von der Bergmannsarbeit berichten können. Zugleich setzen sie ihrer Arbeit und ihrer Arbeitswelt ein Denkmal und verschaffen ihr einen Erinnerungsort. Zwar besteht in Ibbenbüren der Sonderfall, dass das Bergbaumuseum bereits Jahrzehnte vor dem Ende der Förderung eingerichtet wurde. Auf lange Sicht war jedoch bereits in den 1980er-Jahren abzusehen, dass der Steinkohlenbergbau auch in Ibbenbüren nicht unendlich sein würde. Seit Beginn der 1970er-Jahre gab es immer wieder Zeiten, in denen die Zukunft des Bergwerks mehr oder weniger akut in Frage stand.
Sammlung und Ausstellung Mit der Turbinenhalle und der Schaltwarte als den zentralen Ausstellungsräumen ist auch die Struktur der Präsentation großenteils vorgegeben. In der Turbinenhalle ist von ursprünglich drei Turbinen und Generatoren jeweils einer erhalten. Die Turbine und ein Generator sind für den Einblick geöffnet (Abb. 3). In der Schaltwarte bilden die fest installierten Schaltpulte und Zeigerinstrumente die zentralen Exponate; alle anderen Objekte sind in Vitrinen um sie herum gruppiert (Abb. 4).
4 Zu den Gründungsjahren vgl. Schürmann, Thomas: Bergbaumuseen und Schaubergwerke. Eine Umfrage im deutschsprachigen Raum, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 60, 2015, S. 275–305, hier: S. 283–285.
Das Bergbaumuseum Ibbenbüren
Abb. 3: Geöffnete Turbine
Abb. 4: Die als Ausstellungsraum dienende Schaltwarte des alten Kraftwerkes
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Maschinen und große Exponate wie Lader und Bohrwagen sind ausnahmslos in der Turbinenhalle ausgestellt. Maschinen und Ausrüstungsgegenstände der 1950er- bis 1980er-Jahre bilden denn auch den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung. Außerhalb dieses Zeitrahmens befindet sich lediglich das eindrucksvollste Exponat, ein Dampfhaspel aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Abb. 5). Er ist ein Sachzeuge aus der Zeit, als nach einem katastrophalen Wassereinbruch von 1894 die Schachtanlage gesümpft und die gesamte Kohlenförderung auf ein neues, industrielles Niveau gehoben wurde. Zusammen mit der noch aktiven Dampfmaschine von Schacht 1 – sie wurde 1913 gefertigt und ist seit den 1920er-Jahren am jetzigen Standort in Betrieb – gehört sie zu den frühen technischen Denkmälern des Ibbenbürener Bergbaus. In der Turbinenhalle wurde die Bühne neben dem Dampfhaspel vom Museumsteam für Konzerte hergerichtet und durch einen Treppenaufgang ergänzt (Abb. 6).
Abb. 5: Der Dampfhaspel aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert
Das Bergbaumuseum Ibbenbüren
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Abb. 6: Konzert auf der Haspelbühne im Rahmen des Münsterlandfestivals, Oktober 2017
Klassische, auch im Ibbenbürener Bergbaumuseum ausgestellte Objekte sind Mineralien, Fossilien und Gesteinsproben. Sie stammen nicht nur aus dem Steinkohlenbergbau (Abb. 7), sondern auch aus dem Erzbergbau bei Ibbenbüren, aus dem Bergbau zwischen Ems und Weser, aus dem Abbau von Wealdenkohlen in Barsinghausen, Obernkirchen und dem Osnabrücker Land, und es werden auch Funde aus dem Ruhrbergbau, dem Sauer- und Siegerland, dem Oberharz und anderen Teilen der Welt präsentiert. Ein besonders attraktives Exponat ist die Nachbildung eines vollständig erhaltenen Saurierskelettes aus dem Zechstein bei Ibbenbüren; das Original befindet sich im Naturkundemuseum in Münster (Abb. 8).
Abb. 7: Mineralien aus der Umgebung Ibbenbürens
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Abb. 8: Ein Abdruck des Saurierskeletts aus dem Zechstein bei Ibbenbüren
Ein Schrank zeigt bergmännisches Geleucht, Bergkittel, Häckel etc. (Abb. 9). Einige Modelle zeigen z. B. alte Abbauverfahren im Steinkohlenbergbau (mit Pferdegöpel), die Bergehalden, den Nordschacht oder das Kraftwerk (Abb. 10). Herausgestellt wird nicht zuletzt eine für den Steinkohlenbergbau wesentliche Erfindung: der Kohlenhobel (Einheitshobel), der Anfang der 1940er-Jahre in Ibbenbüren von Konrad Grebe entwickelt wurde. Der Prototyp dieses so genannten Einheitshobels ist in der Ausstellung zu sehen (Abb. 11). Eine eigene Abteilung der Dauerausstellung bilden Öfen. Sie verweisen auf den Umstand, dass der Wärmemarkt bis heute von großer wirtschaftlicher Bedeutung für das Bergwerk ist. Bis Anfang der 1980er-Jahre wurden in Ibbenbüren auch Briketts hergestellt. Für die heute geförderte Anthrazitkohle sind jedoch spezielle Heizkessel nötig, die hohe Verbrennungstemperaturen vertragen.
Das Bergbaumuseum Ibbenbüren
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Abb. 9: Darf in keinem Bergbaumuseum fehlen: Vitrine mit Geleucht und Bergmannskleidung
Abb. 10: Modell des Blocks B des Ibbenbürener Kohlekraftwerks
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Abb. 11: Modell des in Ibbenbüren entwickelten Einheitshobels
Großen Wert legen die Museumsmitarbeiter darauf, Maschinen elektrisch oder mit Hilfe von Druckluft in Bewegung vorzuführen. Hierzu gehört neben dem Dampfhaspel auch ein Kreiselkipper (Abb. 12). An vielen Stellen dürfen Besucher unter Aufsicht der Museumsmitarbeiter selbst Hand anlegen. Die Möglichkeit, Museumsobjekte anzufassen, wird als besonderes Qualitätsmerkmal des Museums angesehen. In gewissen Grenzen gleicht dies auch ein Manko aus, für das die Museumsleute indes nichts können: die fehlende Gelegenheit, ein echtes Untertageerlebnis zu vermitteln. Da die Seilfahrt in Revieren, in denen Kohle im Tiefbau gefördert wurde, nicht möglich ist, wurden seit dem beginnenden 20. Jahrhundert mit oft erheblichem Aufwand Anschauungsbergwerke entwickelt, um die Illusion einer Befahrung zu vermitteln.5
5 Farrenkopf, Michael: Das Anschauungsbergwerk als dioramatische Großinszenierung, in: Gall, Alexander/Trischler, Helmuth (Hrsg.): Szenerien und Illusion. Geschichten, Varianten und Potenziale von Museumsdioramen, Göttingen 2016 (= Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte, NF 32), S. 239–264; Schürmann, Thomas: Das Gegenteil des Freilichtmuseums. Die Vermittlung des Steinkohlenbergbaus in Museen und Schaubergwerken, in: Schimek, Michael (Hrsg.): Mittendrin. Das Museum in der Gesellschaft. Festschrift für Uwe Meiners. Cloppenburg 2018 (= Schriften und Kataloge des Museumsdorfs Cloppenburg, 35), S. 95–104, hier: S. 96–101.
Das Bergbaumuseum Ibbenbüren
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Abb. 12: Kreiselkipper
Eine in der Mitte der Halle aufgebaute kurze Tunnelstrecke mit Fahrdraht-Lokomotive, Pumpen, Wassertrogsperre, Handhaspeln, Wetterlutte, druckluftbetriebenen Lampen, Grubentelefon, Zughub, Nähmaschine für Förderbänder und dem unvermeidlichen Kübel, ein Übungshaus der Grubenwehr mit Rettungsgeräten, Löschvorrichtungen, Dammrohr, Grubenwehrmann im Flammenschutzanzug etc. sowie ein Handstreb in Holzbauweise mit Abbauhammer, Signalpfeife, „Pik-As“ etc. (Abb. 13) sind denn auch die wenigen Ausstellungselemente, bei denen mit Inszenierungen gearbeitet wird. Auch eine Schüttelrutsche ist in einen Holzstrebausbau integriert und kann in Bewegung vorgeführt werden (Abb. 14). Sie gehört zu den Objekten, die es im deutschen Steinkohlenbergbau zu Tausenden gab, die mit der Modernisierung des Bergbaus jedoch in aller Regel vernichtet wurden. Ansonsten setzt die Ausstellung keine Inszenierungen und illusionistischen Elemente ein, sondern baut auf das Zusammenspiel von Objekten und persönlicher Erläuterung bei Führungen. Ergänzt wird die Präsentation der Maschinen und Geräte durch historische Fotografien, Gemälde, Skulpturen und andere Kunstobjekte.
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Abb. 13: Grubenwehr-Übungshaus im Bergbaumuseum
Abb. 14: Inszenierung eines Handstrebs mit Schüttelrutsche
In einem Kinoraum wird ein zwanzigminütiger Film vorgeführt, der den historischen und aktuellen Untertagebetrieb des Bergwerks zeigt. Ein anderer Raum des Museums wird für wechselnde Ausstellungen genutzt, wie 2014 über „Ibben-
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büren im Ersten Weltkrieg“ oder 2015/16 „Der Ibbenbürener Bergbau im Dritten Reich“ (Abb. 15). Im Sommer 2017 wurde über mehrere Wochen eine Gemäldeausstellung des Künstlers Wolfgang Büse in der Turbinenhalle zwischen den Ausstellungsstücken gezeigt.
Abb. 15: Ausstellung „Ibbenbürener Bergbau im Dritten Reich“ im Medienraum des Bergbaumuseums
In den nicht öffentlich zugänglichen Räumen des Museums sind weitere Sammlungsobjekte, Bücher und Zeitschriften, Film- und Fotomaterialien etc. magaziniert. Dazu gehören auch Leihgaben wie eine Sammlung ausgemusterter optischer Messvorrichtungen der Hochschule Osnabrück (Theodolite, Nivelliergeräte, Messlatten, Lasergeräte, Stative inkl. Beschreibungen, Originalverpackungen und Wandtafeln), die die Museumsleute für eine Präsentation im Museum aufbereiten möchten.
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Ein schriftlich fixiertes Sammlungskonzept besteht bisher nicht, allerdings bildet das Bergbaumuseum in dieser Hinsicht keine Ausnahme.6 Nach der Phase des Einrichtens geschah das Sammeln im Ibbenbürener Museum eher auf Zuruf als aktiv; allerdings kaufte das Museum in Einzelfällen auch Objekte wie z. B. ein Bleiglasfenster einer früheren Gastwirtschaft gegenüber dem Zechengelände (Abb. 16). Im Schnitt bekommt das Museum etwa ein- bis zweimal im Jahr private Sammlungen angeboten; meist werden die Objekte angenommen, in Einzelfällen aber auch Gegenstände abgelehnt. Neben der Museumssammlung existiert in Ibbenbüren, wie wohl in jedem Bergbaurevier, eine unbekannte Zahl privater Sammlungen. Neben Steigerhäckeln, Grubenlampen und Mineralien gibt es in Einzelfällen auch Spezialsammlungen, z. B. von Grubentelefonen.
Abb. 16: Bleiglasfenster aus der früheren Gastwirtschaft Maug, die gegenüber dem Bergwerk an der Osnabrücker Straße lag
Das Museum bietet allgemeine Öffnungszeiten im Sommerhalbjahr sowie an zwei Sonntagen außerhalb der Saison Tage der offenen Tür an. Dies wird durch den Pressebeauftragten in den einschlägigen örtlichen Portalen und durch Pla6 Vgl. Schürmann (s. Anmerkung 4), S. 299 f.
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kate in der Region beworben. Über die regulären Öffnungszeiten hinaus können Gruppen ganzjährig Sonderführungen erhalten. Die Gruppen reichen von Kindergärten über Schulklassen, Vereine, Familien, Firmen, Fachbesucher bis zu Seniorengruppen. Insgesamt liegen die Besuchszahlen bei jährlich 3000 bis 4000.
Pläne und Aussichten Die Präsentation der Objekte im Ibbenbürener Bergbaumuseum hat zweifellos einen großen Charme. Es ist eine Ausstellung, die aus den persönlichen Erläuterungen und aus der Vermittlung direkter Bergbauerfahrungen der Museumsmitarbeiter lebt, und an die Exponate lassen sich zahlreiche Erzählungen anknüpfen. Von den persönlichen Erläuterungen ist die Ausstellung allerdings auch abhängig, denn sie ist nach wie vor durch den weitgehenden Verzicht auf Inszenierungen und auf eine Ausstellungsdramaturgie geprägt. Gegenwärtig steht das Bergbaumuseum vor strukturellen Schwierigkeiten, die auch vielen anderen ehrenamtlich geführten Museen bekannt sind. In Ibbenbüren treten sie jedoch besonders konzentriert auf. Hier ist die Frage der Sammlungspflege noch das geringste Problem. So sind für die Gesamtzahl der Objekte einstweilen nur grobe Schätzungen möglich, da die Bestände bisher nicht systematisch erfasst wurden. Von den ehrenamtlichen Mitarbeitern leben mit einer Ausnahme alle im Ruhestand; der jetzige Museumsleiter gehört zu den Jüngsten. Die Zusammenarbeit innerhalb des Museumskreises sowie zwischen Museum und Bergwerk beruht auf rein mündlicher Absprache; ein eigener Trägerverein hat nie bestanden; auch würde die Zahl der Mitarbeiter für eine tragfähige Vereinsgründung nicht reichen. Allerdings wurde inzwischen eine organisatorische Form für das Museum gefunden: Im September 2017 gründeten der Knappenverein Tecklenburger Land e. V., der Musikverein Anthrazit Glückauf Ibbenbüren e. V., Museumsmitarbeiter sowie Vertreter der Stadt und des Bergwerks den übergreifenden Traditionsverein „Bergbautradition Tecklenburger Land e. V.“, um gegenüber Förderern und Institutionen gemeinsam auftreten zu können. Innerhalb dieses Vereins bildet das Bergbaumuseum eine Abteilung.7 Das Museum selbst und seine Bestände hatten ebenfalls nie eine schriftlich fixierte Verfassung. Da das Museum nach dem Verständnis seiner Angehörigen ein Museum des Bergwerkes ist, in dessen Räumen es sich befindet und das es 7 Kossag, Claus: Kräfte der Bergbautradition bündeln. Neuer Dachverein gegründet/Säulen Musikverein, Knappenverein und Bergbaumuseum bleiben autonom, in: Ibbenbürener Volkszeitung v. 21.09.2017.
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duldet und unterstützt, ist das Bergwerk letztlich der Eigentümer des Museumsbestandes. Dieses Verhältnis hat seit der Museumsgründung auf Grund der guten persönlichen Verbindungen am Ort immer getragen. Allerdings werden sich, wenn die Förderung Ende 2018 eingestellt wird, die Strukturen, innerhalb derer das Museum besteht, auflösen. Auch werden die Räume des früheren Kraftwerks, in denen sich das Museum befindet, auf lange Sicht nicht mehr zur Verfügung stehen. Immerhin sind sich alle Beteiligten, von der Stadt Ibbenbüren bis zur Leitung der RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH, einig, dass der Bergbau auch in Zukunft durch ein Museum auf dem Zechengelände vermittelt werden solle. Ein Rahmen, der sich dafür anbietet, ist der Natur- und Geopark TERRA.vita. TERRA.vita ist einer von sechs von der UNESCO anerkannten Geoparks auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland; er umfasst im Osnabrücker und Tecklenburger Land mit Wiehengebirge und nördlichem Teutoburger Wald eine Fläche von rund 1500 km2.8 In den vergangenen Jahren hat sich TERRA.vita bereits bei der Erstellung von vier Bergbauwanderwegen des Knappenvereins und eines eigenen TerraTrails für Radfahrer auf der Schafbergplatte engagiert. Da der Geopark nach einem geeigneten Standort für ein Portal im Tecklenburger Land sucht, denken die Beteiligten auch über eine Kombination mit dem Museum nach. Die Kooperation mit TERRA.vita begünstigt nicht zuletzt eine inhaltliche Erweiterung: Mit der Einbindung des Schafberges in die gemeinsame Vermittlungsarbeit wird die gesamte Montanlandschaft stärker in den Blickpunkt rücken, denn zum Bergbau auf der Schafbergplatte gehören neben dem Steinkohlenbergbau auch die Eisenerzförderung und -verhüttung, der Abbau des Ibbenbürener Sand- und Tonsteins und die benachbarten Kalksteinbrüche. Diese Themen werden zwar bereits jetzt im Bergbaumuseum angesprochen, sind aber noch sehr ausbaufähig. Ein Museumskonzept wird sich jedoch nicht nur in ein Gesamtkonzept für den Geopark, sondern auch in ein Konzept für das Zechengelände eingliedern. Auch im Hinblick auf die Tagesanlagen des Bergwerks Ibbenbüren gibt es vielversprechende Ansätze. Einen organisatorischen Rahmen bildet hier der Lenkungskreis Kohlekonversion, zu dem sich 2014 die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden Bergbaugemeinden Mettingen, Recke, Westerkappeln, Hopsten und Hörstel zusammengeschlossen haben. In Kooperation mit der RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH und der RAG Montan Immobilien GmbH entwickelt der Lenkungskreis Pläne für die Neugestaltung der Tagesanlagen und für die wirtschaftliche Förderung der Region. In einem Masterplanverfahren wurden bereits 8 Vgl. unter www.geopark-terravita.de (Stand: 24.03.2018).
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Vorentwürfe zur städtebaulichen Entwicklung der Bergbauflächen ausgearbeitet. Hier sind sowohl denkmalgeschützte Gebäude als auch die Vermittlung der Bergbautradition in einem Besucherzentrum berücksichtigt. Allein zwölf Gebäude auf dem Zechengelände wurden vom Denkmalamt des LWL als erhaltenswert im Sinne des Denkmalschutzes vorgeschlagen. In welcher Weise hier das Museum einbezogen wird, bedarf noch näherer Abstimmung. Die Chance für einen vielversprechenden Neuanfang besteht freilich für eine begrenzte Zeit.
Vereinssammlungen: Fallbeispiele Die Fördergemeinschaft für Bergmannstradition linker Niederrhein e. V. in Kamp-Lintfort Der 1987 gegründete Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den linksrheinischen Steinkohlenbergbau und dabei besonders an die Zeche Friedrich Heinrich wachzuhalten. Derzeit hat die Fördergemeinschaft ca. 620 Mitglieder. Sie betreibt das Haus des Bergmanns, das Knappenheim, in dem die Vereinsräume sind, sowie den ehemaligen Lehrstollen des Bergwerks West. Das historische Haus des Bergmanns, in einer alten Zechenkolonie gelegen, zeigt die mit Einrichtungsgegenständen rekonstruierte Wohnung einer Bergarbeiterfamilie aus den 1920er- bis 1930er-Jahren und in weiteren Räumen eine Geleuchtund Mineralienausstellung sowie zahlreiche historische Fotos (Abb. 1–3). Im Knappenheim befinden sich weitere Sammlungen, darunter ein umfangreiches Foto- und Dokumentenarchiv zur Geschichte der Bergwerke am linken Niederrhein. Des Weiteren unterstützt der Verein auch Grabungen des Deutschen Bergbau-Museums Bochum im österreichischen Georgenbergstollen (Bad Dürrnberg) und im Arthurstollen (Mitterberg). Zur erwähnen ist zudem die Teilnahme an verschiedenen Projekten der Hochschule Rhein-Waal. Seit Dezember 2013 ist der Verein auch online erreichbar. Die Internetseite „bergbmannstradition.de“ zählt bislang 558 000 Besucher.
https://doi.org/10.1515/9783110683097-010
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Abb. 1: Das inmitten einer Bergarbeitersiedlung gelegene Haus des Bergmanns in Kamp-Lintfort
Abb. 2: Nach historischen Vorlagen eingerichtete Küche im Haus des Bergmanns
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
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Abb. 3: Ausstellung zur Geschichte des Bergbaus am Niederrhein im Haus des Bergmanns
Die bergbauhistorischen Aktivitäten des Vereins sind in verschiedene Arbeitsbereiche unterteilt und werden ehrenamtlich ausgeführt. So gibt es Arbeitsgruppen, die sich mit dem Fotoarchiv, dem Lehrstollen, dem Video- und Filmarchiv, der Lampensammlung samt Lampenstube und Lampenwerkstatt, dem Literaturarchiv und der Mineraliensammlung beschäftigen. Darüber hinaus betreuen Vereinsmitglieder die Homepage, das Café im Knappenheim, die Besucher im Lehrstollen und im Haus des Bergmanns und begleiten (auf Wunsch) die „Letzte Seilfahrt“ (Beerdigung). Unter den Sammlungen des Vereins ist vor allem die ca. 250 Objekte umfassende Sammlung von Grubenlampen bemerkenswert, anhand der sich die historische Entwicklung gut aufzeigen lässt. Auch eine große Mineraliensammlung befindet sich im Besitz des Vereins. Der Bestand des Fotoarchivs liegt bei ca. 850 bis 1000 Fotografien bzw. Glasnegativen. Die einmalige Sammlung dokumentiert dabei nicht allein das Bergwerk, sondern auch die Entwicklung der Bergarbeiterstadt Kamp-Lintfort. Aus der genauen Ortskenntnis und der Vertrautheit mit der lokalen Bergbaugeschichte beschreiben die Mitarbeiter des Archivs jedes einzelne Foto nach Herkunft und Motiven. Die Archivierung erfolgt mit Hilfe einer Excel-Tabelle in den Kategorien „Übertage“, „Gruppenaufnahme“ und „Einzelperson“. Das Filmarchiv besitzt 424 VHS-Filme über den Kohle-, Erz- und
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Salzbergbau, die inzwischen sämtlich digitalisiert wurden. Des Weiteren verfügt der Verein über ca. 120 Regalmeter mit Büchern, Zeitschriften und Archivalien zum Steinkohlenbergbau. In unmittelbarer Nähe zur stillgelegten Pumpenzentrale des Bergwerks befindet sich der ehemalige Lehrstollen oder, wie es korrekt heißt: die Bergtechnische Übungsstätte (Abb. 4 und 5). Der Stollen wurde in den 1970er-Jahren von Auszubildenden der Zeche gebaut und erstreckt sich über eine Länge von 230 m. In einer realistisch nachgestellten Arbeitssituation kann der Besucher heute eine Strebausrüstung mit Kohlehobel, einen Strebförderer und Schildausbau sowie einen Gewinnungsbetrieb mit Einzelstempel-Ausbau besichtigen. Zu den 2500 bis 3000 Besuchern im Jahr zählen insbesondere Schulklassen und Kindergartengruppen aus Kamp-Lintfort. Im Außenbereich befinden sich u. a. ein Förderkorb und ein Streckenausbau mit Grubenlok.
Abb. 4: Der Eingang zum Lehrstollen des ehemaligen Bergwerks West
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
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Abb. 5: Ausstellung mit historischen Fotografien im Lehrstollen
Die Pumpenzentrale selbst, die u. a. auch zur Versorgung des Bergwerks und der Zechensiedlung mit Trinkwasser diente, wird derzeit aufwendig umgebaut. Bis 2020 wird hier ein „Zentrum für Bergbautradition“ entstehen, das als touristischer Anlaufpunkt für die Erschließung der dann stattfindenden Landesgartenschau auf dem ehemaligen Bergwerksgelände dient. Hier soll eine Präsentation zur Bergbau- und Stadtgeschichte mit entsprechenden Exponaten entstehen. Von hier aus können Vereinsmitglieder auch auf dem Gelände Führungen anbieten. Zugleich ist der nahegelegene, ehemalige Schirrhof, in dem bis zuletzt das Ausbildungszentrum des Bergwerks war, zurzeit Gegenstand umfänglicher Planungen seitens der Stadt Kamp-Lintfort: Hier wird ein Familien-, Kultur- und Bildungszentrum mit einer Kindertagesstätte entstehen. Auch können hier die Sammlungen des Vereins untergebracht werden. Auf diese Weise lassen sich am historischen Ort Vergangenheit und Zukunft der Stadt auf ideale Weise miteinander verbinden. Manfred Reis
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Das Saarländische Bergbaumuseum Bexbach mit Untertageanlage Das Saarländische Bergbaumuseum geht auf das Jahr 1934 zurück, als man im ursprünglich als Wasserturm geplanten Hindenburgturm ein städtisches Heimat- und Grubenmuseum eröffnete. Heute erstrecken sich die nach dem Krieg stark erweiterten Ausstellungen auf vier Etagen mit einem zusätzlichen Anschauungsbergwerk im Untergeschoss. 1993 zog sich die Stadt aus der Förderung zurück und es kam zur Gründung des Trägervereins „Saarländisches Bergbaumuseum Bexbach e. V.“ Das Museum ist das einzige Museum des Saarlandes, das die Geschichte des regionalen Bergbaus umfassend darstellt. Es wird ausschließlich ehrenamtlich betrieben. Die ca. 3000 Objekte des Museums stammen überwiegend aus dem saarländischen Bergbau und lassen sich bis in das 19. Jahrhundert zurückdatieren. So finden sich Sammlungen zu den Themen Sicherheit, Geleucht, Ausbautechnik, Förderung und Transport sowie zum Markscheiderwesen. Die Technik des Bergbaus wird in einem Anschauungsbergwerk „Unter Tage“ anschaulich. Auch sind eine Bibliothek und ein kleines Archiv vorhanden. Für den Besucher beginnt der Rundgang in der siebten Etage, wo er von einer Aussichtsplattform den Blick über die vom Bergbau geprägte Landschaft schweifen lassen kann. Die Halde der ehemaligen Grube Frankenholz mit der 8 m hohen Statue der Heiligen Barbara ist hier ebenso zu erkennen wie das STEAG-Steinkohlenkraftwerk Bexbach, das allerdings nicht mehr mit heimischer Steinkohle, sondern mit weitaus preisgünstigerer Importkohle betrieben wird (Abb. 6).
Abb. 6: Blick von der Aussichtsplattform des Saarländischen Bergbaumuseums Bexbach auf das Steinkohlenkraftwerk und die Haldenlandschaft
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
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In der vierten Etage beginnt dann die eigentliche Ausstellung zur Geschichte des saarländischen Bergbaus. In Vitrinen finden sich hier Gesteinsfunde, eine Schubkarre und ein Materialwagen (Abb. 7). Geplant ist eine Ausstellungseinheit, in der die Geschichte des Bergbaus im Saarland während der Nazizeit dargestellt wird. Sie wird von Studenten der Universität des Saarlandes Saarbrücken erarbeitet. Von hier gelangt der Besucher in die dritte Etage, wo das Leben der Bergleute mit ihren Familien thematisiert wird. Man sieht hier den Schnitt durch ein typisches Bergmannshaus in seiner heute kaum noch vorstellbaren Enge mit Küche, Schlafzimmer, einer Wanne zum Baden und Wäschewaschen und natürlich die für Selbstversorger typische Ziege, im Volksmund auch „Bergmannskuh“ genannt (Abb. 8–10). Eine Besonderheit ist auch ein Originalbett aus einem Schlafhaus (Abb. 11). Auf der zweiten Etage befindet sich die sehr umfangreiche Sammlung zum Thema „Sicherheit im Bergbau“, wo Rettungsgeräte, Tauchausrüstungen sowie Geräte zum Staub- und Lärmschutz, zur Gasmessung und zur Wettermessung sowie die persönliche Sicherheitsausrüstung des Bergmanns zu sehen sind (Abb. 12). Dem Besucher soll vermittelt werden, welch hohen Stellenwert die Gesundheit und die Sicherheit des Bergmanns im Steinkohlenbergbau hatte. Diese Maßnahmen waren zudem ein wichtiger Grund für die im internationalen Vergleich sehr hohen Förderkosten im deutschen Bergbau. Die erste Etage ist dagegen der Technik des Bergbaus gewidmet. Zu sehen sind ein Schachtmodell mit Förderkorb und Modelle von verschiedenen Ausbauarten unter Tage. Auch die Entwicklung der Grubenlampen ist hier an Originalen nachvollziehbar. Das Erdgeschoss bietet hingegen die Möglichkeit, Wechselausstellungen zu zeigen. Weiterhin sind hier Fossilien und Mineralien aus dem Bergbau zu sehen. Bexbach besitzt zudem zahlreiche Gemälde mit Industrieund Zechenanlagen, darunter auch einige des Industriemalers Walter Bernstein (1901–1981).
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Abb. 7: Überblick über die Geschichte des saarländischen Bergbaus
Abb. 8: Alltag und Wohnsituation der saarländischen Bergleute im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
Abb. 9: Rekonstruktion einer Wohnküche
Abb. 10: Die für Selbstversorger typische „Bergmannskuh“
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Abb. 11: Etagenbett aus einem Schlafhaus für Bergleute
Abb. 12: Ausstellung zur Sicherheit und Grubenrettungswesen
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Von hier aus hat der Besucher die Möglichkeit, in das Anschauungsbergwerk einzufahren und als Vorbereitung dazu einen Film über die Funktionsweise eines modernen Bergwerks zu sehen. Besonders beliebt bei Schulklassen sind die Einkleidung in einer Kaue und die Ausrüstung als Bergmann in einer Lampenstube. Eine komplett bekleidete Schaufensterpuppe macht dies anschaulich. Von hier aus geht es dann zu einer Förderkorb-Simulation, die dank der Unterstützung durch die RAG-Stiftung eingerichtet werden konnte. In 1200 m „Tiefe“ führt der Weg dann durch einen Streb mit Walzengewinnungsmaschine bis hin zum Streckenvortrieb und einem Streckenausbau mit verschiedenen Arbeitsmaschinen (Abb. 13). Alle diese Maschinen können auch in Funktion vorgeführt werden. Die Mobilität unter Tage veranschaulichen ein Schienenfahrrad, verschiedene Grubenloks und Personenwagen. Kurz vor dem Ausgang sind die im saarländischen Bergbau eingesetzten großen Ausbauschilde und eine moderne Gewinnungsmaschine zu sehen. Auf dem Freigelände sind weitere große Maschinen und Geräte, darunter Ausbauschilde, Lokomotiven, eine Fördermaschine der Grube Frankenholz von 1949 und der letzte saarländische Kettenförderer aus dem Bergwerk Ensdorf von 2012 aufgestellt. Sie zeigen, trotz des beschränkten Raumes, die technische Entwicklung über die vergangenen 50 Jahre hinweg.
Abb. 13: Anschauungsbergwerk im Saarländischen Bergbaumuseum Bexbach
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Um die Anziehungskraft des Museums auf Besucher zu erhöhen, ist in der benachbarten Parkanlage seit kurzem eine „Gulliverwelt“ mit Miniaturversionen von Gebäuden aus aller Welt zu bewundern, darunter Eiffelturm, Weißes Haus, Saarbrücker Schloss, Petersdom und Schloss Neuschwanstein (Abb. 14).
Abb. 14: „Gulliverwelt“ in der benachbarten Parkanlage des Saarländischen Bergbaumuseums Bexbach
Zurzeit wird das Museum modernisiert. Um auch bei den Jüngeren Interesse zu wecken, werden Schüler der Gesamtschule Bexbach zu Museumsführern ausgebildet. In Planung sind Audioführer und QR-Codes an Ausstellungsobjekten, um Informationen mit dem Handy abrufen zu können. Wolfgang Imbsweiler
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Bergbaudinosaurier und Aktenberg. Der Initiativkreis Bergwerk Consolidation e. V. Der Initiativkreis Bergwerk Consolidation e. V. (IBC) bemüht sich seit 1997 um die Erhaltung, Pflege und denkmalgerechte Nutzung von bergbautypischen Anlagen und Gebäuden des ehemaligen Bergwerkes Consolidation in Gelsenkirchen, ferner um die Erforschung der Geschichte dieses Bergwerkes sowie seines lokalen und regionalen Umfeldes. War er zu Beginn so etwas wie eine Bürgerinitiative für den Erhalt denkmalwerter Teile des Bergwerkes, kamen bald Aufgaben wie Verhütung von Vandalismus, Sammlung von Dokumenten, Plänen und Fotos zur Zeche und Gegenständen der bergmännischen Arbeits- und Lebenswelt hinzu. Seit Anfang des Jahrhunderts betreut der IBC schwerpunktmäßig das südliche Maschinenhaus von Consolidation Schacht 9 in Gelsenkirchen-Bismarck und nutzt das Kellergeschoss des nördlichen Maschinenhauses für Büro-, Veranstaltungs- und Archivzwecke (Abb. 15). Der Bestand der unter Denkmalschutz stehenden Gebäude ist gesichert. Besitzerin ist die Industriedenkmalstiftung Nordrhein-Westfalen, die beide Maschinenhäuser an die Stadt Gelsenkirchen vermietet hat, für die wiederum der IBC die Räume ehrenamtlich bespielt.
Abb. 15: Fördergerüst mit Maschinenhäusern von Schacht 9 des 1993 stillgelegten Bergwerks Consolidation in Gelsenkirchen
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Schwerpunkt in der südlichen Maschinenhalle ist die funktionsfähige, jetzt druckluftbetriebene Dampf-Fördermaschine von 1963, eine der jüngsten Maschinen dieser Größenordnung und Bauart (Abb. 16). Seinerzeit hatte sich der IBC besonders für den Erhalt dieses „Dinosauriers“ engagiert, später war er dann maßgeblich an seiner Restaurierung und Wiederinbetriebnahme beteiligt. Regelmäßig einmal monatlich, zusätzlich zu besonderen Anlässen wie dem „Tag des offenen Denkmals“ oder lokalen Veranstaltungen auf dem Gelände von Consolidation, aber auch für angemeldete Gruppen, führt der IBC diese Maschine in Bewegung vor. Momentan besuchen knapp 4000 Besucher jährlich die Halle. Um die Maschine herum gibt es in elf großen Glasvitrinen und mit einigen Einzelobjekten eine Ausstellung zur Bergarbeit, zum bergmännischen Brauchtum und zur Zechengeschichte: Geleucht, erzgebirgische Schnitzereien, Helme, Werkzeuge, Ausrüstungsbestandteile, einfache Modelle vom Untertagebetrieb, Kunstgewerbliches mit Bergbaubezug, Mineralien und zwei Belegschaftsbücher aus den Jahren 1895 und 1904 (Abb. 17–19). Lebensgroße Figuren mit Bergkittel oder mit Arbeitskleidung für die Grube, mit Ausrüstung eines Grubenwehrmannes, Gezähestücke, ein Grubenklo, eine Rettungstrage, Fotos usw. ergänzen die Ausstellung. Im Keller dann weiteres Gezähe, eine Grubenwehrausrüstung, Grubentelefone, eine Ladestation für elektrische Kopflampen und manches mehr. Das meiste davon gehört dem IBC, einiges ist Dauerleihgabe von sammelnden Vereinsmitgliedern oder Freunden (Abb. 20).
Abb. 16: Historische Dampffördermaschine in der südlichen Maschinenhalle von Schacht 9
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
Abb. 17: Sammlung von Traditionsobjekten
Abb. 18: Sammlung mit unter Tage aufgefundenen Fossilien
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Abb. 19: Historische Grubenrisse und Belegschaftsbücher der Schachtanlage Consolidation
Abb. 20: Grubentelefone im Keller des südlichen Maschinenhauses
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Vielleicht der interessanteste Teil der Dokumentensammlung des IBC, auf jeden Fall der schönste, sind zwei originale Holzkisten aus der Markscheiderei mit hunderten handgezeichneten Grubenrissen auf Karton, Größe jeweils etwa DIN A3, vom Grubengebäude, speziell von Abbaubetrieben des Bergwerks Consolidation und der angeschlossenen Zeche Unser Fritz, aus der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Teil in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts (Abb. 21).
Abb. 21: Historischer Grubenriss aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Büchersammlung des IBC umfasst die übliche bergmännische Fach- und Erinnerungsliteratur sowie Zeitschriftenjahrgänge, vor allem „Glückauf“ und „Ruhrkohle“. Über 100 große Ordner enthalten den Sammlernachlass von Vereinsmitgliedern: manchmal banal, oft aus der Presse kopierte Dinge, aber auch Dokumente, Karten, Pläne von Bergwerksanlagen, Bergwerksmaschinen, Grubenrisse, meist in Kopie, die die Sammler seinerzeit auf den Bergwerken den Aktenverwaltern abgeschwatzt haben. Das meiste davon betrifft aber nicht Consolidation, auch nicht die über 13 000 Fotos dieser Sammler aus den letzten dreißig bis vierzig Jahren, sondern andere Bergwerke (Abb. 22). In seinen Kartenschränken verwahrt der IBC neben Grubenrissen etwa 200 Pläne, manchmal in Kopie, von Consolidation: von den Tagesanlagen, von den Dampfmaschinen, von der Hängebank, vom Fördergerüst usw.
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Abb. 22: Diasammlung des Initiativkreises Bergwerk Consolidation e. V.
Die vom IBC gesammelten tausende Fotos liegen meist nur digital vor. Die Sammlung ist durchaus amateurhaft zusammengetragen, ohne Bedenken wegen Bildrechten und ohne viel Wert auf technische Qualität zu legen. Es sind dabei aber auch eine ganze Reihe sonst nirgendwo vorhandene Bilder aus dem Übertage- und Untertagebetrieb. Die interessanteste Gruppe dürften die fast 1000 Fotos sein, die japanische Bergleute während ihres Arbeitseinsatzes auf Consolidation in den Jahren 1958 bis 1962 geschossen haben, nicht nur von der Zeche, sondern auch von der Wohnumgebung, in ihrer Freizeit und im Ruhrgebiet. Die Fotos liegen uns als Dateien allerdings leider nur in manchmal schlechter Qualität vor. Der größte Posten an Dokumenten ist der Berg von ca. 750 Aktenordnern, die der IBC vom Bergwerk übernommen hat (Abb. 23). Sie enthalten hauptsächlich Unterlagen über technische Vorgänge im Übertagebetrieb der Schachtanlage 3/4/9 inklusive Schachtförderung: Bauakten vom kleinen Gully auf dem Zechenplatz bis zum Umbau von Hängebank und Maschinenhäusern, aber auch Wachbücher aus dem Pförtnerhaus, Betriebspläne fürs Bergamt in Kopie und so weiter. Diese Überlieferung ist lückenhaft und immer noch teilweise ungeordnet, mittlerweile aber großenteils wenigstens grob verschlagwortet. Um diese und die anderen Sammlungsbestandteile für Interessenten auffindbar und nutzbar zu machen, braucht der IBC externe Unterstützung.
Vereinssammlungen: Fallbeispiele
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Abb. 23: „Aktenberg“ mit Unterlagen zu technischen Betriebsabläufen des Bergwerks Consolidation
Insgesamt ist die Sammlung des IBC, abgesehen von der Dampfmaschine und dem Berg Zechenakten, wie viele andere auch, im Wesentlichen ein Projekt ehemaliger Bergleute, die ihre Arbeits- und Lebenswelt präsentieren und davon ein wenig bewahren wollen, und das durchaus mit einer gehörigen Portion Berufsstolz verbunden. Das Problem ist allerdings dabei, genügend neue Vereinsmitglieder für eine derartige Aufgabe zu gewinnen. Wir werden sehen. Martin Gernhardt
Konservierung und Restaurierung
Kornelius Götz
„Vor der Hacke ist es duster!“ Zur Konservierung und Restaurierung von Bergbau-Objekten Die Erhaltung der materiellen Hinterlassenschaften des Bergbaus ist eine wichtige Aufgabe, weil diese Objekte Zeugnisse der vergangenen Lebens- und Arbeitswelt sind. Bei Erhaltungsentscheidungen kommt es oft zu großen Debatten, weil weder die genaue Schädigung eines Objektes vorab klar ist, noch die finanziellen Ressourcen. Zudem sorgen je nach Projektgröße eine Vielzahl von Beteiligten für Verwirrung: „Vor der Hacke ist es duster“, weil der Restaurierung das Image anhaftet, ein unkalkulierbares Vorhaben zu sein, besonders bei Großobjekten. Im Folgenden möchte ich Licht in diese Dunkelheit bringen und auf die Besonderheiten eingehen, die bei der Restaurierung von historischen Bergbauobjekten vorkommen. Doch zunächst ein kurzer Ausflug in die Theorie der Geschichtswissenschaft und allgemeine Überlegungen zur Vorgehensweise.
Objekte sind dreidimensionale historische Quellen Objekte enthalten beabsichtigte und unbeabsichtigte Informationen an ihre Mitund Nachwelt. So grundlegend hat es bereits Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert formuliert.1 Sie enthalten Spuren zu ihrer Herstellung, zu ihrem Gebrauch und zu ihrer Überlieferung. Das Ziel jeder Restaurierung besteht darin, aussagekräftige Informationsträger für die Mit- und Nachwelt zu bewahren. Als Beispiel für diese geschichtswissenschaftliche Auffassung dient eine Freilegungsprobe an einem Deckenbalken aus der Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund, dem heutigen LWL-Industriemuseum. Hier wurden an einem Muster die unterschiedlichen Farbschichten freigelegt, mit der die Hallendecke seit ihrer Errichtung angestrichen wurde. Auf dem Holz befindet sich die unterste ockerfarbige Schicht mit Informationen zur Herstellungszeit der Halle. Darauf folgt eine rote Schicht, dann Dunkelgrau beide aus der Gebrauchsphase 1 Droysen, Johann Gustav: Historik, hrsg. von Rudolf Hübner, München Wien 1977, S. 37–38. https://doi.org/10.1515/9783110683097-011
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der Halle. Zuletzt ist eine hellgraue Farbe zu sehen, die nach Betriebsende aufgetragen wurde. Die farbige Freilegungstreppe mit ihrer Analyse der unterschiedlichen Farbgebung ermöglicht also einen unmittelbaren Einblick in die Geschichte der Halle. Dabei ist die Farbgebung eine bewusste Information an die Mit- und Nachwelt. Bei der jeweiligen chemischen Zusammensetzung der Farbe kann man allerdings davon ausgehen, dass hier Farbe eingesetzt wurde, die zeittypisch zur Verfügung stand; damit wird eine unbeabsichtigte Information überliefert (Abb. 1). Das Beispiel zeigt, dass klassisch restauratorische Vorgehensweisen wie Freilegungstreppen ganz unmittelbar der Kritik historischer Quellen dienen können, indem mit dieser Methode ganz im Sinne Droysens Spuren zur Herstellung, des Gebrauchs und der Überlieferung offengelegt werden und die Geschichtswissenschaft damit um konkrete Aussagen bereichert wird: Restauratoren als pragmatische Historiker!
Abb. 1: Freilegungsprobe an einem Deckenbalken aus der Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund
Restaurierungsziele bestimmen Eine unwiderrufliche Tatsache stellt der permanente Ablauf der Zeit dar. Auch Restauratoren sind in ihrem Tun daran gebunden. Alle Objekte unterliegen diesem Grundgesetz, sie altern im Verlauf der Zeit und verändern sich unwiederbringlich. Wie das Beispiel der Deckenbalken zeigt dadurch, dass unterschiedliche Farbschichten übereinander gestrichen wurden. Daraus lässt sich ein allgemeiner Grundsatz ableiten: Wir können bei Objekten immer zwischen der Herstellungsphase, der Gebrauchsphase und ihrer Stilllegung unterscheiden, weil wir bei genauer Betrachtung an und auf allen Objekten immer diese Spuren
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finden können. Danach folgt aber bei Objekten eine sehr wichtige Phase, nämlich die Erhebung des mehr oder weniger schlichten (Alltags-)Objektes zum Museumsobjekt oder zum Industriedenkmal. In dieser Phase der Musealisierung oder Denkmalwerdung wird häufig restauriert mit dem Ergebnis, dass weitere Informationen hinzugefügt werden, was aber in der Regel übersehen wird. Der Grund: Die Akteure sind sich bei ihrer aktuellen Tätigkeit nur selten bewusst, dass auch sie im Sinne Droysens Informationen an Mit- und Nachwelt hinzufügen und damit den Informationsgehalt der historischen Quellen zwangsläufig verändern. Was bedeuten diese Überlegungen nun für die Definition von Restaurierungszielen? Man kann folgende Begriffe als Überschrift für Restaurierungsziele gebrauchen. Wenn wir als Ziel den – Herstellungszustand (gerne als „Originalzustand“ bezeichnet) festlegen, dann bedeutet das, alle späteren Informationen zu tilgen: Der Deckenbalken würde bei diesem Ziel wieder auf die Erstfassung, das Ocker, freigelegt; – Gebrauchszustand festlegen, dann bedeutet das, alle Informationen nach Ende der ursprünglichen Nutzung zu entfernen: Der Deckenbalken wird wieder rot; – Überlieferungszustand festlegen, dann bedeutet das, alles so wie angetroffen zu belassen: Der Deckenbalken wird lediglich gereinigt und abblätternde Farbe wieder gefestigt. Was auch immer wir tun: Wir verändern die historischen Informationen des Objektes. Alle Restaurierungen sind notwendigerweise zeitgebunden. Das heißt, sie spiegeln immer die Zeit wieder, in der sie ausgeführt wurden, weil sie jeweils ihre zeitgenössischen Materialien, Methoden und Vorstellungen einbringen. Aus diesem Dilemma gibt es kein Entrinnen, aber die Erkenntnis, dass auch wir nur ein Teil in der oft langen historischen Reihe des Objektes sind. Außerdem sollten wir uns bewusst sein, dass es ein Gebot der Fairness ist, wenn die eigene aktuelle Restaurierung möglichst viele Handlungsoptionen für die Nachwelt offenlässt, damit späteren Generationen noch eigene Forschungsfragen und Antworten möglich sind. Letztlich bleibt Restaurierung Fiktion, denn niemand kann das unwiderrufliche Verrinnen der Zeit aufhalten: Eine Restaurierung im Jahre 2018 bleibt für immer an diese Zeit gebunden, selbst wenn sie „alte Techniken“ anwendet oder altes Material (womit fallweise schon eine Fälschung erzeugt werden kann). Die Wiederherstellung des Herstellungszustandes als Restaurierungsziel entpuppt sich deshalb bei ehrlicher Betrachtung stets als Rekonstruktion mit den Mitteln der heutigen Zeit! Was per se nicht verwerflich sein muss, wenn die zugrundelie-
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gende Überlegung transparent gemacht und das Ergebnis nicht als historisierende Idylle verkauft wird. Gleiches gilt im Grunde für die Wiederherstellung des Gebrauchszustandes, allerdings können hier immerhin die Arbeitsspuren erhalten werden, für sozialhistorische Museen in der Regel ein absolutes Muss: Mit diesem Ziel restaurierte Maschinen produzieren nicht wirklich, sondern sehen nur so aus. Nur der Überlieferungszustand bedeutet die Erhaltung aller Objektinformationen, das Ergebnis ist die umfassende historische Quelle mit allen Informationen an Mit- und Nachwelt. Als Konsequenz folgen daraus allerdings auch die Konservierung von Stillstandsspuren und Vandalismusfolgen und die Frage, ob das immer so spannend ist? Stahl rostet und will wieder zu Eisenerz werden, alle Oberflächen verschmutzen im Verlauf der Zeit und Farben verändern sich irreversibel. Das ist allgemein bekannt und muss nicht an allen verfügbaren historischen Quellen stets aufs Neue belegt werden! Da Restaurierung trotz aller Vorüberlegungen immer bedeutet, Entscheidungen zu treffen, möchte ich die Theorie mit Beispielen erläutern.
Die Dauerausstellung Musée Les Mineurs auf dem Carreau Wendel in Lothringen Das Musée Les Mineurs Wendel vermittelt das Arbeits- und Alltagsleben der Bergarbeiter; die Technik des Kohlenbergbaus in Lothringen steht hier nicht im Fokus. Hier wurde das Restaurierungsziel „Gebrauchszustand“ als allgemeines Ziel formuliert, weil dadurch die Spuren des täglichen Gebrauchs an den Exponaten konserviert werden, was für das Ausstellungsziel sehr wichtig ist. Das bedeutet erstens, dass die Objekte nach ihrer Konservierung und Restaurierung wieder so aussehen sollen wie am Ende ihrer regulären Nutzungszeit. Zweitens werden sie in der Ausstellung wettergeschützt aufbewahrt; drittens soll die Rekonstruktion von Fehlteilen nur erfolgen, wenn gesicherte Vorlagen existieren oder die Sicherheit der Besucher dies erfordert. Alle Herstellungsspuren, Nutzungspuren, Gebrauchs- und Pflegespuren sollen erhalten werden; eine Ausnahme bilden nur Fehl- und Schadstellen, die eindeutig nach Stilllegung der Objekte entstanden sind und deshalb nicht zum regulären Gebrauchszustand zählen. Ein Beispiel dieser Restaurierung ist eine Bergbaulokomotive. Sie wurde ausschließlich konserviert, also gereinigt. Dabei fiel ein Detail am Fahrersitz besonders auf: Es handelt sich um ein rohes, selbst eingefügtes Brett mit einem
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Ausschnitt auf der einen Seite. Warum dort etwas fehlt, war zunächst unklar. Bei näherer Betrachtung wurde aber festgestellt, dass der Ausschnitt als Zugang zu einem Ablagefach für persönliche Gegenstände des Lokomotivführers diente. Diese sozialhistorische Information wurde natürlich unverändert belassen. Es erfolgte keine Ergänzung der Fehlstelle im Holzbrett, was restauratorisch sehr einfach machbar gewesen wäre (Abb. 2).
Abb. 2: Bergbaulokomotive, Detail am Fahrersitz, Ausschnitt aus dem Brett als Zugang zu einem Ablagefach
Das zweite Beispiel betrifft eine Bohrmaschine: Die Gewindestange in der Führungslade war noch voller Fett und anderer Schmiermittelreste. Gehören solche Fettreste auch noch zu einem gepflegten Gebrauchszustand oder sollen sie so weit wie möglich entfernt werden, weil sie das Erscheinungsbild stören? Im Grunde ging es bei dieser Frage darum, was höher zu bewerten ist: die Vollständigkeit der historischen Quelle oder die Ästhetik? Letztlich fiel die Entscheidung, dass auch die Fett- und Schmierölreste ein wichtiger Bestandteil der historischen Quelle „Bergbaubohrmaschine“ sind und deshalb wurde alles belassen. Aus konservatorischer Sicht eine gute Entscheidung, weil solche Stoffe sehr gute Korrosionsschutzeigenschaften haben und dadurch rostempfindliche,
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blanke Stahloberflächen selbst bei widrigen Lagerumständen über lange Zeit hervorragend geschützt werden (Abb. 3).
Abb. 3: Bohrmaschine, Gewindestange in der Führungslade mit Fett und anderen Schmiermittelresten
Soziale Aushandlung von Restaurierung Beide Beispiele zeigen: Am Einzelfall müssen neben dem übergeordneten Restaurierungsziel immer spezielle Entscheidungen getroffen werden. Solche Entscheidungen werden selbstverständlich nie alleine von Restauratoren gefällt, sondern in einem Verhandlungsverfahren, bei dem alle Beteiligten eines Restaurierungsprojekts an einem Tisch versammelt sind und ausgiebig diskutieren können. Dabei sollen alle Gehör finden, Experten und so genannte Laien, also wirklich alle interessierten Kreise (die Stakeholder). Ich nenne dieses Verfahren die soziale Aushandlung von Restaurierung. Es ist sehr wichtig, wenn diese Debatten vor der eigentlichen Restaurierungsmaßnahme geführt werden, um Verdruss und unnötige Doppelarbeit zu vermeiden. Zweitens geht es bei der sozialen Aushandlung darum, eine Akzeptanz vor Ort herzustellen, vor allem für den Zeitraum nach Ende des Projekts. Denn wer soll die Objekte auf Dauer pflegen, wenn die Experten längst wieder verschwunden sind? Im Musée Les Mineurs wurden deshalb alle Restaurierungsfragen in einer Kommission diskutiert.
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Der Hunt: eine wechselvolle Geschichte Als Hunt wird in der Bergmannssprache ein offener, kastenförmiger Förderwagen bezeichnet. Unter Tage war er massenhaft vorhanden. Nach dem Ende des Bergbaus finden sich diese Förderwagen häufig an der Oberfläche, dann allerdings in allen denkbaren Nachnutzungen. Ein Beispiel stammt von der Zeche Zollverein und steht heute am Eingang zum Gelände des Welterbes an der Gelsenkirchener Straße in Essen. Auf der Aufnahme von 2008 ist dieser Hunt mit einem Silberbronzeanstrich und mit einer pflegeleichten Bepflanzung zu sehen. So wurde dieses Bergbauobjekt nachgenutzt, aber gleichzeitig natürlich gegenüber seiner ursprünglichen Funktion vollkommen verändert (Abb. 4). Ich habe den gleichen Hunt im Jahr 2015 erneut fotografiert: Inzwischen präsentiert er sich mit grauer Farbe und wurde mit einem Hinweisschild auf das historische Bergmanns-Restaurant „Das fünf Mädel Haus“ versehen (Abb. 5). Die Bepflanzung ist geblieben. Von der Vorgartenzierde zum Werbeträger also! Es ist nun ein Leichtes, sich über solche Nachnutzungen zu amüsieren, aber: Wo wäre der Hunt ohne Nachnutzung geblieben? Vermutlich in der Schrottpresse. Im Sinne der historischen Quellenkritik bieten diese Objekte zudem reichhaltige Informationen zu ihrer Herstellung, ihrem Gebrauch und jetzt auch zu ihrer Überlieferung im Vorgarten.
Abb. 4: Hunt am Eingang zum Welterbe Zeche Zollverein, Aufnahme 2008
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Abb. 5: Hunt am Eingang zum Welterbe Zeche Zollverein, Aufnahme 2015
Noch eine Hunt-Geschichte: Im Weltkulturerbe Rammelsberg wird in der Dauerausstellung ein Hunt gezeigt; allerdings ist er unsichtbar, weil er verpackt wurde. Christo und Jeanne-Claude realisierten 1988 das Projekt „Package on a hunt“ mit einem der letzten Erzförderwagen des Rammelsberges. Es handelt sich um das einzige Kunstwerk der beiden, welches nicht wieder ausgepackt wurde. So ist dieser gewöhnliche Hunt vom Arbeitsmittel zum Kunstobjekt durch seine Verbindung mit dem weltbekannten Künstlerpaar außerordentlich bedeutend geworden (Abb. 6). Diese Aufwertung ist nicht durch seinen Materialwert erklärbar, sie beruht einzig auf seiner Bedeutungsaufladung durch die Künstler. Ich komme darauf noch zurück.
Abb. 6: Projekt „Package on a hunt“, Christo und Jeanne-Claude 1988
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Schließlich ist ein weiterer Aspekt bei der Restaurierung von Bergbauerbe wichtig. Am Beispiel eines Schutzhelms von der Zeche Zollverein wird das besonders deutlich. Er hing als einfache Hinterlassenschaft der Arbeiter vor Ort, noch voller Kohlenstaub und vor allem klafft an zentraler Stelle ein riesiges Loch, das sofort Phantasien über den Ursprung dieses Schadens provoziert (Abb. 7).
Abb. 7: Schutzhelm von der Zeche Zollverein
Wie soll so ein Objekt restauriert werden? Soll der Helm nur konserviert das heißt so erhalten werden wie er ist? Und was ist dann mit dem Loch? Solche Fragen lassen sich nie eindeutig und für alle Objekte allgemein gültig beantworten. Als wichtige Entscheidungshilfe gilt aber immer die Antwort auf die Frage, ob es als Teil eines Ensembles zu sehen ist und ob damit sein Kontext nachvollziehbar ist oder nicht. Unter Kontext versteht man „vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gegebenheiten, die sich auf die Bedeutung auswirken“ und die „Umstände, materielle wie immaterielle, unter denen ein Objekt geschaffen, erbaut, benutzt, verändert, gefunden, ausgegraben, aufbewahrt, präsentiert wird.“2 Im Klartext: Wenn das Loch eindeutig einem dokumentierten Unfall zuzuordnen, also personalisierbar ist, dann überwiegt seine Dokumenteigenschaft, es wird belassen als Beleg des Unfallgeschehens. Wenn das Loch offensichtlich durch Vandalismus nach Nutzungsende entstanden ist, kann es eher wieder geschlossen werden (s. o.). Häufig ist bei Alltagsgegenständen leider gar kein Kontext 2 Vgl. Erhaltung des kulturellen Erbes Allgemeine Begriffe, Deutsche Fassung EN 15898:2011, Definition 3.1.8.
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greifbar. In solchen Fällen hilft das übergeordnete Restaurierungsziel, um die konkrete Restaurierungsentscheidung daran auszurichten. Deshalb ist es so wichtig, zuerst das Restaurierungsziel vor der eigentlichen Restaurierung zu bestimmen.
Kokerei Zollverein: Erhaltung der Rohrleitungstrasse „m“ Im folgenden Beispiel möchte ich auf ein typisches Großobjekt im Freiland eingehen: Bei der Rohrleitungstrasse „m“ auf dem Gelände der Kokerei Zollverein sind die Rohre als Element der Trasse mit ihrer kompakten Masse von gestaltprägender Bedeutung an der Eingangsstraße zur schwarzen Seite der Kokerei. Deshalb wurde sie aus denkmalpflegerischen Gründen für die Gesamterhaltung ausgewählt. Die Rohrtrasse hat eine Länge von 206 m und einen Querschnitt von 7,5 × 4 m. Typisch für industrielle Rohrleitungstrassen ist eine große Menge unterschiedlich dimensionierter Rohrleitungen, eine historisch chaotisch gewachsene Belegung mit Rohren unterschiedlichster Durchmesser und Materialien, Korrosion an Tragwerk und Auflager, dünnwandige Blechverkleidungen vormals heißer Dampfleitungen, Schadstoffe wie künstliche Mineralfasern und oft auch Asbest (Abb. 8)!
Abb. 8: Rohrleitungstrasse „m“ auf dem Gelände der Kokerei Zollverein
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Im Fall der Rohrtrasse „m“ wurde als Restaurierungsziel Erhaltung des Ist-Zustandes bestimmt. Das bedeutet für die typischen Schäden und ihre Restaurierung: Nicht mehr standsichere Bauteile wurden aus Sicherheitsgründen entfernt, wenn sie nur noch als Fragment vorhanden waren. Asbesthaltige Dichtungen wurden versiegelt, der Schadstoff Asbest aber vor Ort belassen. Verbogene Bleche wurden zurückgeformt oder durch neue ersetzt. Der Korrosionsschutz wurde in den Lücken der vorhandenen Restbeschichtung integriert. Besonders empfindliche Kleinteile wie Elektrokabel wurden unter einem Schutzdachsystem aus Zinkblech dauerhaft gesichert (Abb. 9 und 10).
Abb. 9: Rohrtrasse „m“, asbesthaltige Dichtungen wurden versiegelt
Abb. 10: Rohrtrasse „m“, besonders empfindliche Kleinteile wie Elektrokabel wurden unter einem Schutzdachsystem aus Zinkblech dauerhaft gesichert
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Im Vorfeld der Restaurierung wurde ein Variantenvergleich angestellt: Sollten alle geschädigten Teile entfernt werden? Die Antwort lautete eindeutig nein, denn dies hätte große Bestandsverluste bedeutet, denkmalpflegerisch ein inakzeptables Ziel. Und Neubau? Er wäre teilweise günstiger gewesen als die Restaurierung des vorhandenen Bestandes. Aber der Neubau hätte den Totalverlust des Denkmals bedeutet, was natürlich noch viel weniger akzeptabel war. Deshalb wurde die Erhaltung des Ist-Zustandes beschlossen: Die Kosten pro Meter Trasse betrugen im Jahr 2011 circa 3500 Euro netto. Besonders interessant war bei diesem Projekt die Tatsache, dass gut ein Viertel der Gesamtkosten alleine für die Gerüstkosten anfielen. Theoretisch wäre auch eine Ruinenkonservierung denkbar gewesen, also die Konservierung des Überlieferungszustandes (s. o.): Dieses Ziel kann im Freiland aber nur realisiert werden, wenn über der Anlage ein Schutzdach errichtet wird. Das hätte bedeutet, dass die Erscheinung der Rohrleitungstrasse entscheidend verändert worden wäre.
Schutzkonstruktionen zu Erhaltung wetterexponierter Anlagenteile Das Stichwort „Schutzdach“ ist bereits mehrfach gefallen. Schutzdächer schützen, im Sommer und im Winter! Manchmal müssen sie nicht einmal neu errichtet werden, denn sie sind bei vielen Industriedenkmalen bereits vorhanden, man muss sie nur nutzbar machen. In der Kokerei im Weltkulturerbe Völklinger Hütte ist das besonders eindrücklich zu sehen. Die Stampf- und Stopfmaschine zum Befüllen der einzelnen Koksöfen stand über Jahrzehnte ungeschützt im Freien. Dadurch war ihre Konstruktion aus Stahl und Stahlblech extrem geschädigt, teilweise bis zum Totalverlust. Während ihrer Betriebszeit war diese Maschine fahrbereit auf einem Gleis und konnte so aus eigener Kraft vor die einzelnen Koksöfen verfahren werden. Unter einem Betonturm am Ende des Gleises wurde sie mit Kohle neu befüllt. Dieser Betonturm bot sich also nicht nur als ein Aufstellungsplatz mit eindeutigem Bezug zur Nutzungsgeschichte an, sondern auch als ein natürliches Schutzdach. Das Problem bestand nur darin, die alte Maschine mit gut 60 Tonnen Gesamtgewicht über ca. 100 Meter zu bewegen. Der Aufwand dafür war allerdings erstaunlich gering im Vergleich mit den bei weiterer Freilandlagerung erforderlichen Restaurierungskosten. Heute steht die Maschine wieder an ihrem ursprünglichen Platz und ist vor dem direkten Wettereinfluss geschützt (Abb. 11).
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Abb. 11: Stampf- und Stopfmaschine im Weltkulturerbe Völklinger Hütte, heute unter dem natürlichen Schutzdach des Betonturms
Schutzdächer sind sehr häufig ein einfaches und sehr wirkungsvolles Mittel der präventiven Konservierung. Im einfachsten Fall kann eine Kunststoffplane als Schutzdach dienen: Das Objekt wird damit direkt abgedeckt und die Plane gegen Windverwehung festgezurrt. Die Kosten sind dafür äußerst gering, allerdings kann so eine Maßnahme nur als Notmaßnahme und kurzfristig angewendet werden (Abb. 12). Am anderen Ende der Skala ist das bewegliche Schutzdach im Landschaftspark Duisburg-Nord angesiedelt: Eine transparent gestaltete Welle als abstrakter Bezug zum Objekt am Aufstellungsort (Abb. 13)!
Abb. 12: eine Kunststoffplane als Schutzdach
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Abb. 13: bewegliches Schutzdach im Landschaftspark Duisburg-Nord
Welche Variante auch immer gewählt wird, jedes Schutzdach ist besser als nichts! Vergleicht man die Kosten für ein Schutzdach mit den reinen Konservierungskosten, so ist die Schlussfolgerung eindeutig: Schutzdächer sind auf mittlere und lange Sicht auf jeden Fall kostengünstiger als jede Konservierungsmaßnahme (Abb. 14)! Vorbehalte gegen Schutzdächer sind eher ästhetischer Natur, weil neu errichtete Schutzdächer das Erscheinungsbild mehr oder weniger stark beeinträchtigen.
Abb. 14: Kostenvergleich von Schutzdach und Konservierungskosten am Beispiel einer Dampflokomobile
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Fazit Erstens: Am Beispiel des von Christo verpackten Hunts auf dem Rammelsberg haben wir gesehen, dass seine Bedeutung nicht auf seinem Material- oder Erinnerungswert beruht. Sie beruht auf einer Bedeutungsaufladung durch die Künstler und natürlich einer kunstbeflissenen (Fach-)Öffentlichkeit, die dem verpackten Hunt eine hohe Bedeutung zubilligt.3 Sie ist sozial verformbar, weil sie subjektiv von Menschen gemacht wird. Verformbar ist sie auch in dem Sinne, dass die Bedeutungsaufladung manchmal eine enorme materielle Wertschätzung erzeugen kann, wie ein Blick auf die Ergebnisse von Kunstauktionen der Vergangenheit zeigt. Wenn es allerdings in Krisenzeiten um das nackte Überleben geht, können Kunstwerke auch wieder radikal entwertet werden. Verformbarkeit funktioniert also in beide Richtungen. Nun könnte man annehmen, diese Bedeutungsaufladung funktioniert nur bei Kunstobjekten, weil „Kunst“ eben etwas Besonderes ist! Das ist aber keinesfalls richtig, wie das folgende Beispiel zeigt. Das Fördergerüst des Petersenschachts in Sondershausen (Thüringen) sollte einen neuen Schutzanstrich als Konservierungsmaßnahme erhalten. Die Debatte entzündete sich an der Frage nach der Farbgebung des Schutzanstrichs. Vor der Konservierung war der Anstrich in einem hellen Blau gewesen. Als das Objekt restauratorisch untersucht wurde, stellte sich heraus, dass die ursprüngliche Farbgebung schwarz gewesen war. Bei einer Zielbestimmung „Originalzustand“ (s. o.) hätte also die neue Beschichtung in Schwarz erfolgen müssen, was zunächst auch ernsthaft diskutiert wurde. Die Debatte stieß allerdings auf den entschiedenen Wiederstand in der Bevölkerung, dort war man der Meinung, „unser Fördergerüst war immer blau!“ Im Zuge der weiteren Verhandlungen, der sozialen Aushandlung also, wurde der Vorschlag gemacht, dass Fördergerüst mit einem dunklen Blau zu beschichten: Von nahem sah es nun wieder blau aus, aus der Entfernung aber schwarz! Im Sinne der sozialen Aushandlung eine ausgezeichnete Lösung: Die Gefühle der Betroffenen wurden ernst genommen („unser Fördergerüst“). Diese Identifikation vor Ort erleichtert auf jeden Fall eine dauerhafte Pflege und beugt dem Vandalismus vor. Aus konservatorischer Sicht ist die Entscheidung auch vertretbar, denn jeder Schutzanstrich wird in mehr oder weniger kurzer Zeit wieder eine erneute Überarbeitung benötigen, nichts hält für immer. Dann kann in Zukunft eine neue Entscheidung getroffen werden, wie auch immer sie ausgehandelt werden wird! 3 Zur Bedeutungsaufladung vgl. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1986; Thompson, Michael: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Essen [1979] 2003.
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Zweitens: Die durchdachte Definition von Restaurierungszielen ist entscheidend. Es gibt keinen „objektiv“ erhaltenswerten Zustand. Der Zielzustand selbst ist offen für unterschiedliche Lösungen. Jede Eigenschaft, die ein Objekt nach seiner Restaurierung haben soll, ist verhandelbar. Restaurierungsziele können deshalb äußerst unterschiedlich definiert werden: von der präventiven Konservierung des Ist-Zustandes (z. B. durch ein Schutzdach) über den gepflegten Gebrauchszustand bis zur Rekonstruktion nicht mehr vorhandener Zustände oder des so genannten „Originalzustandes“. Im Extremfall kann sogar diskutiert werden, ob Objekte nicht ein eigenes Recht darauf haben, ohne jegliche Manipulation sich selbst überlassen zu werden; diese Zielbestimmung könnte mit „aufgegeben-Sein“ bezeichnet werden.4 Drittens: Die Ziele müssen unter allen Umständen vor Beginn jeder Maßnahme festgelegt werden. Erst danach können die Maßnahmen geplant und ausgeführt werden, denn sie folgen immer aus dem Restaurierungsziel, nie umgekehrt! Diese Reihenfolge ist wirklich sehr wichtig. Wenn sie eingehalten wird, sind Restaurierungsmaßnahmen oft erstaunlich kostengünstig. Und sie sind nachhaltig, wenn durch die Aushandlung des Restaurierungsziels ein Konsens vor Ort gefunden wurde, der auch die künftigen Pflegemaßnahmen sicherstellt und Vandalismus vorbeugt. Bei der Restaurierung der Hinterlassenschaften des Bergbaus gibt es darüber hinaus folgende Besonderheiten: Fast immer müssen große Mengen und Massen behandelt werden, wodurch schnell entsprechende Kosten entstehen können. Außerdem befinden sich Bergbauobjekte fast immer in einer Freilandlagerung und sind dadurch besonders intensiver Schädigung ausgesetzt. Sie sind immer als reine Nutzobjekte auf Verschleiß konzipiert und nicht für eine dauerhafte Endlagerung im Museum. Und zuletzt: Es gibt häufig ein Akzeptanzproblem nach dem Motto „Ist das kulturelles Erbe oder kann der Schrott weg“? Diesem Argument steht allerdings entgegen, dass die Bedeutung des Objekts, wie wir gesehen haben, tatsächlich sozial verformbar ist. Im Falle des Bergbauerbes ist mit dem Ende des Deutschen Steinkohleberbaus im Jahr 2018 sicher eine Aufwertung verbunden, weil damit zwangsläufig auf Dauer gesehen der Nachschub knapp werden wird: Es entsteht kein neues Bergbauerbe mehr. Die Verknappung einer kulturellen Ressource ist immer günstig, um die Wertschätzung und damit die Erhaltungschance zu erhöhen! Es ist ein Kreislauf. Das kulturelle Erbe wird mit Bedeutung aufgeladen, dann werden die Restaurierungsziele sozial ausgehandelt und danach die Restaurierung ausgeführt, die wiederum eine neue Bedeutung schafft. Das ist das, 4 Vgl. Pétursdóttir, Thora: Small Things Forgotten Now Included, or What Else Do Things Deserve?, in: International Journal of Historical Archaeology 16, 2012, S. 577–603.
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was ich ganz am Anfang Musealisierung oder Denkmalwerdung genannt habe. Danach kann das Spiel nach einigen Jahren von neuem beginnen. Bei wetterexponierten Objekten kann die Zwischenzeit je nach Konservierungs- und Pflegemethode nur fünf bis circa 25 Jahre betragen (Abb. 15).
Abb. 15: von der Zielbestimmung zu den Maßnahmen: der Kreislauf des kulturellen Erbes
Da jede Station und alle Handlungen in diesem Kreislauf vielfach subjektiven Einflüssen ausgesetzt sind, sollen die Maßnahmen möglichst reversibel ausgeführt werden. Denn auch künftigen Generationen soll ein eigener Zugang zum kulturellen Erbe möglich sein. Vor der Hacke ist es Duster? Nicht unbedingt, wie die Beispiele und das dabei angewendete Vorgehen zeigen.5
5 Mehr Informationen auf dem Internetportal „Indumap“: Indumap. Das Handbuch zum Umgang mit Industriedenkmalen. Unter: www.indumap.de (Stand: 16.01.2018).
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Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe: Herausforderungen des Materials Kunststoff in Museen Industriemuseen wie das Deutsche Bergbau-Museum Bochum (DBM) haben wie alle Museen den Auftrag, die Bestände für zukünftige Generationen zu erhalten. Wichtiger Bestandteil hierbei ist der Umgang mit immer neuen Materialien, die von überragender Relevanz für die Gesellschaft sind und die ihren Weg erst im letzten Jahrhundert ins Museum gefunden haben: Kunststoffe. In der Tat: Kunststoff ist nicht aus dem Bergbau wegzudenken. Kunststoff ist ein gesellschaftlich und kulturell relevantes Material, das unser Leben prägt und ebenso die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. Die Empfindlichkeit dieser neuen „Museumsmaterialien“ gegenüber Innenraum-Parametern wie z. B. Luftfeuchte, Temperatur und Lichtverhältnissen beschränkt stark deren Stabilität und somit deren Zukunft im Museum. Auf Grund unterschiedlicher chemischer Strukturen unterscheidet sich die Beständigkeit der verschiedenen Kunststoffe auch gegenüber den unterschiedlichen Parametern, was eine Identifizierung unabdingbar macht, um die Lagerungsbedingungen anzupassen. Obwohl die chemischen Hintergründe der Alterung von Kunststoffen allgemein bekannt sind, blieb vor allem die Langzeitstabilität vieler dieser Materialien lange unerforscht, vor allem im Hinblick auf deren Bewahrung als Bestandteile von Kulturgütern. Die museale Zeitspanne steht hier im Gegensatz zur üblichen Betriebsdauer der Produkte, die in der Regel nur einige Jahre umfasst. Was bedeutet es für Kunststoffe und Gummi, eine Bewahrung von über 100 Jahren anzustreben, einer üblichen Zeitspanne in Museen? Wie verschlechtern sich mit der Zeit die optischen und mechanischen Eigenschaften der Kunststoffe? Gerade dies sind Voraussetzungen, um Objekte in Ausstellungen zu präsentieren. Vom „schwitzenden“, brüchigen bis zum zerbröselnden Kunststoff: Häufig können die hier zugrundeliegenden Prozesse und die damit zusammenhängende Verschlechterung der mechanischen Beständigkeit, und vor allem deren Konsequenzen für den Museumsalltag, nicht durch den aktuellen Forschungsstand vollständig erklärt werden. Dafür gibt es vereinzelt praktikable restauratorische und/oder konservatorische Lösungen. Hier besteht Forschungsbedarf. Die
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Kunststoffforschung in Museen, gerade in Industriemuseen, bietet aber besondere Vorteile, Stabilität und Geschichte dieser gesellschaftsprägenden Materialien zu studieren.
Kunststoffe in (Industrie-)Museen: ein gesellschaftlich relevantes Material Museen haben die Verpflichtung, die Bestände für zukünftige Generationen zu erhalten so auch Industriemuseen wie das DBM. Besonders für Industriemuseen gilt es, repräsentative Objekte aus vergangenen Epochen bis hin zur so genannten „cutting-edge“-Technologie zu sammeln und zu bewahren. Dadurch werden die Mitarbeiter solcher Museen mit immer neuen Materialien konfrontiert, so auch mit Kunststoffen. Kunststoffe sind in Industriemuseen allgegenwärtig: als Schutzlack, in Dokumentationsmedien wie z. B. Filmen, in dreidimensionalen Objekten oder als Bauteil mit besonderer Funktion in großformatigen Objekten. Fälschlicherweise werden von vielen Kunststoffe als ein modernes Material angesehen, das in Sammlungen nicht vorhanden ist. Jedoch existieren Kunststoffe bereits seit über 150 Jahren und sind entweder als Museumsobjekt oder als im Nachhinein eingebrachtes Material (Festigungsmittel, Klebstoffe, Beschichtungen) vorhanden.1 Alle Kunststoffe in den mannigfaltigen Einsatzbereichen müssen erhalten werden, da sonst ein möglicher Hinweis zur Funktion und somit Verständlichkeit oder das optische Erscheinungsbild verloren gehen kann. Die museale Zeitspanne steht hier im Gegensatz zur üblichen Betriebsdauer der Produkte, die in der Regel nur einige Jahre bis Jahrzehnte umfasst. Deren inhärente Instabilität und Empfindlichkeit beschränkt aber stark deren Erhaltung. Zerfallsprozesse setzen den Kunststoffen der Museumsobjekte in extremem Maße zu, bis hin zum vollständigen Zerfall und Verlust. Jährlich lassen sich so zahlreiche betroffene Museumsobjekte weder historisch einordnen noch museal vermitteln und gehen für die Öffentlichkeit verloren. Das rechtzeitige Ergreifen konservatorischer und restauratorischer Maßnahmen ist zur Verhinderung dieses Verlustes unbedingt notwendig. Polymere bestehen aus repetitiven Monomereinheiten. Je nach Art und Anordnung der Monomere, der Chemie der Verknüpfung und des Polymerisationsgrades unterscheiden sich die Polymere voneinander. So besteht bspw. Poly1 Keneghan, Brenda: Plastics? Not in My Collection, in: Conservation Journal 21, 1996. Unter: www.vam.ac.uk/content/journals/conservation-journal/issue-21/plastics-not-in-my-collection/ (Stand: 23.07.2018).
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ethylen aus sich wiederholenden Ethylen-Monomeren, oder Polycarbonat abwechselnd aus einem Carbonat und z. B. einem Bisphenol-A Monomer. Weiterhin ist die Architektur der Molekülkette wichtig. Polymere können als lange Ketten vorliegen, wie im Falle von Thermoplasten. Sind diese Ketten durch chemische Bindungen miteinander vernetzt, spricht man je nach Vernetzungsgrad von Elastomeren (geringer Vernetzungsgrad) oder Duromeren (hoher Vernetzungsgrad), was einen Einfluss auf die thermisch-mechanischen Eigenschaften der jeweiligen Polymere hat und die Basis für deren Unterteilung bildet. Es existiert eine enorme Vielfalt an zugänglichen Strukturen, die wiederum hinter dem breiten Eigenschaftsspektrum von Polymeren stehen. Werden Polymere mit anderen Stoffen (Additiven) wie Weichmachern oder Pigmenten vermischt, so bezeichnet man diese als Kunststoffe. Eine hohe Vielfalt unterschiedlicher Additive verbessert die Eigenschaften der Polymere und deren Verarbeitbarkeit. Aus solchen Kunststoffen werden Gegenstände und Bauteile hergestellt. Kunststoffe haben tief unsere heutige Gesellschaft durchdrungen. Die meisten Kunststoffe sind petrobasiert, was ca. 4 % des geförderten Erdöls entspricht. Daraus werden über 250 Mio. t Polymere jährlich hergestellt.2 Der immer steigende Einfluss – in den 1950er-Jahren wurden lediglich 1,5 Mio. t produziert3 – spiegelt sich auch in deren Einfluss auf alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft wider. Grund für diese Durchdringung der Gesellschaft ist, dass Kunststoffe viele Vorteile in sich vereinen. So haben sie je nach Art und Zusammensetzung ein sehr breites Eigenschafts- und Einsatzspektrum, wie Flexibilität, Transparenz, elektrisches und thermisches Isoliervermögen sowie chemische Beständigkeit, die, gepaart mit einer hohen Gewichtsersparnis, neben dem Schließen einer Lücke im Materialspektrum auch traditionelle Werkstoffe zu ersetzen vermag. Als Beispiel seien hier Flaschen aus Polyethylentherephthalat (PET) an Stelle von Glas, Griffe aus Polyurethan (PU) an Stelle von Holz oder carbonfaserverstärkte Kunststoffe als Ersatz von Metall im Auto- oder Flugzeugbau genannt. Weitere Vorteile von Kunststoffen sind deren geringer Energiebedarf bei der Herstellung und deren niedrige Verarbeitungstemperaturen. Einer der ersten für technische Anwendungen relevanten Kunststoffe war vulkanisierter Kautschuk, der seit den 1830er-Jahren u. a. unter den Namen Ebonit oder Vulkanit (heute schlicht als Gummi bezeichnet) hergestellt wurde.4 Seitdem kamen weitere Kunststoffe hinzu. Einige wenige, wie Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol sowie PET, wer-
2 Vgl. Kaiser, Wolfgang: Kunststoffchemie für Ingenieure Von der Synthese bis zur Anwendung, München/Zürich 2011, S. 3 f. 3 Ebd. S. 3 f. 4 Vgl. Waentig, Friederike: Plastics in Art. A study from the conservation point of view, Petersberg 2008, S. 174 f.
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den als Generalisten in vielen verschiedenen Anwendungen eingesetzt, während die meisten als spezialisierte Kunststoffe für einen bestimmten Anwendungsbereich angepasst sind, so z. B. Polytetrafluorethylen (Teflon), Polyetheretherketon oder Polyimid.5 Eine besondere Stellung nehmen die Polyurethane ein: Diese können allein durch verschiedene Monomerzusammensetzungen ein thermoplastisches (TPU), elastomeres oder duromeres Verhalten aufweisen. Gesteuert wird dies über unterschiedliche Arten von Monomeren, wie Polyesterund Polyetherpolyole und unterschiedliche Isocyanate. Dies zeigt sich nicht nur in unterschiedlichen Eigenschaften, sondern auch in deren Beständigkeit. Mit der Gründung der Zeitschrift Kunststoffe durch Ernst Richard Escales im Jahre 1910 geriet diese Materialgruppe zunehmend in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Zunächst bekannt als Ersatzstoffe, besonders zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, wurden Kunststoffe Anfang der 1950er-Jahre zu einem Symbol des Wirtschaftswunders. Sie ermöglichten Wohlstand und ein besseres Leben für viele Menschen durch deren kostengünstige Produktion.6 Weiter wurden sie auch von Künstlern und Designern entdeckt und gewannen somit an kultureller Bedeutsamkeit. Besonders im Bergbau bedeutete die Einführung von Kunststoffen eine Revolution in Punkto Arbeitssicherheit: von Vulkolangriffen, die dank ihrer Eigenschaften die von Presslufthämmern ausgehenden Vibrationen dämpften bis hin zu Atemschutzgeräten. Das Material Kunststoff erlaubt die Konstruktion von Teilen und Objekten, die nicht zuletzt auf Grund ihrer Geometrien bis zu diesem Zeitpunkt mit klassischen Materialien undenkbar waren.
Risiken des Materials Kunststoff in Museen: Die Empfindlichkeit von Kunststoffen Der museale Anspruch, Objekte „wenn schon nicht für immer, dann wenigstens für ewig“ (Ulla Meinecke) aufzubewahren, birgt mannigfaltige Herausforderungen. Gerade Kunststoffe sind in besonderem Maße anfällig und können schnell binnen weniger Jahre zerfallen. Ein wichtiger Faktor bei Museumsobjekten ist dabei die Zeit, denn dadurch gewinnen langsame chemische Reaktionen an Bedeutung, die während der primären Nutz- bzw. Lebensdauer der Objekte erst einmal keine Rolle spielen. Einige dieser Degradationsprozesse beginnen bereits bei der Produktion. Besonders die äußeren Einflüsse sind ausschlaggebend für
5 Vgl. Kaiser, Wolfgang: Kunststoffchemie für Ingenieure (s. Anmerkung 2), S. 30. 6 Vgl. Braun, Dietrich: Ein Wort wird zum Begriff, in: Kunststoffe 5, 2010, S. 68–73.
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
195
den Erhaltungszustand eines Objektes, aber auch intrinsische Stabilitätsprobleme bestimmter Polymere. In Museen sind das Monitoring und das Kontrollieren der relativen Luftfeuchte (%rF), Temperatur (°C), Lichtart und -menge, Schadstoffen und sogar des Sauerstoffgehalts (besonders kritisch für Kautschuk) daher wichtig. Auf Grund unterschiedlicher chemischer Strukturen unterscheidet sich die Beständigkeit der verschiedenen Kunststoffe gegenüber verschiedenen Faktoren. So leiden einige Kunststoffe verstärkt unter dem Einfluss von Feuchtigkeit, wie Polyesterurethan oder Celluloseacetat, und wiederum andere unter dem Einfluss von Licht, wie Polyetherurethan oder Polystyrol. Andere Polymere scheinen eine höhere Stabilität aufzuweisen, wie PET, das sich zu einem zunehmenden Umweltproblem entwickelt. Im Fall von PET wird klar ersichtlich, dass die Anforderungen, die Museen an das Material Kunststoff stellen anders sind als die von der Gesellschaft an die Kunststoffe gestellten Anforderungen. Während jegliche Reste von Kunststoffen in der Umwelt zu Problemen führen können, wie in der Form des bekannten Mikroplastiks,7 sind kleine Veränderungen in Museumsobjekten bereits Grund zur Sorge und konservatorische Maßnahmen sollten ergriffen werden. Aber auch Polymere mit einer hohen Stabilität können sich verändern, besonders, wenn sie in Form eines Kunststoffes, gemischt mit Weichmachern, Pigmenten, Füllstoffen, Stabilisatoren und anderen Additiven, vorliegen. In diesen Fällen ist nicht zwangsläufig das Polymer selbst der limitierende Faktor, sondern eines der Additive. Dabei können auch Kompatibilitätsprobleme, die sich erst bei langen Zeiträumen äußern, Ursache für eine Degradation sein. Durch die Degradation kann es zu Formverlust oder Farbänderungen und damit zu einer Veränderung der Erfahrbarkeit und Wahrnehmung des Objektes kommen, was somit auch einen Verlust für das kulturelle Erbe darstellt. Um nun die notwendigen Maßnahmen zum Erhalt von Objekten aus Kunststoffen ergreifen zu können, ist eine Materialanalyse als erster Schritt notwendig, um die Lagerungsbedingungen an den jeweiligen Kunststoff anpassen zu können. Die Zerstörungsprozesse fangen bereits bei der Produktion an und lassen sich weder aufhalten noch rückgängig machen; alle möglichen Lösungen sind hier entweder präventive, um zu vermeiden, dass die Schäden sich schnell verbreiten oder erstmalig auftauchen, oder kurative, konservatorische Eingriffe, um die Stabilität des Objektes zu sichern oder um die Verständlichkeit der Ob7 Vgl. Bertling, R./Bertling, J./Hiebel, M.: Microplastics UMSICHT takes position, in: Fraunhofer Institute for Environmental, Safety, and Energy Technology (Hrsg.): UMSICHT position papers, Oberhausen 2015. Unter: www.umsicht.fraunhofer.de/content/dam/umsicht/en/documents/publications/position-paper/2017/position-paper-microplastic.pdf (Stand: 23.07.2018).
196 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
jekte für die Öffentlichkeit zu ermöglichen. Eine Reduktion der Umgebungstemperatur reduziert nach Arrhenius die Geschwindigkeit der Reaktionen, was aber eine nicht unbedenkliche Methode für alle Kunststoffe ist, denn niedrige Temperaturen führen häufig zu Kompatibilitätsproblemen zwischen den unterschiedlichen Kunststoffkomponenten und führen z. B. zu Weichmacher-Austritt. Einige dieser Degradationsprozesse sind autokatalytisch, das heißt, sobald die Reaktion anfängt, wird sie von einem der Produkte katalysiert und setzt sich mit erhöhter Reaktionsrate fort. Häufig sind die freigesetzten Produkte dazu im Stande, andere Materialien anzugreifen. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen zwei Beispiele von Kunststoff-Objekten aus der Musealen Sammlung des DBM/montan.dok mit stark fortgeschrittenen Zerfallsprozessen, die zum Verlust der Objekte für die Öffentlichkeit geführt haben. Abbildung 1 zeigt Bergmannsschuhe aus Polyesterurethan mit den für dieses Material typischen Schadensphänomenen unter anderem Risse und graue bis weiße Einschlüsse. Diese lassen sich auf einen Zerstörungsprozess zurückführen, nämlich die Hydrolyse in Anwesenheit von Luftfeuchte der Estergruppen mit Entstehen von Säure. Da die Hydrolysereaktion von Säure katalysiert wird, handelt es sich hierbei um eine autokatalytische Reaktion.
Abb. 1: Schadensphänomene an einer Polyurethan-Sohle eines im Bergbau eingesetzten Arbeitsschuhs (Zeche Consolidation) aus der Musealen Sammlung des DBM/montan.dok
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
197
Abb. 2: Cellulosenitrat-Grubenlampe aus der Musealen Sammlung des DBM/montan.dok
Ähnlich verläuft die Degradation von einem weiteren üblichen Kunststoff in musealen Einrichtungen: Cellulosenitrat. Abbildung 2 zeigt eine Grubenlampe mit typischen Schäden, Rissbildung und Versprödung, welche dieses Material üblicherweise in Museen zeigt. Im Fall von Cellulosenitratobjekten ist es kritisch, sie in einer Sammlung zusammen mit anderen Objekten zu beherbergen, denn das Nebenprodukt Salpetersäure, welches in der Zerstörungsreaktion entsteht, ist korrosiv. Bei Cellulosenitrat handelt es sich um einen der in der Konservierungsliteratur so genannten „malignant plastics“ (= „bösartige“, „heimtückische Kunststoffe“).
Die Notwendigkeit der Materialidentifizierung in musealen Sammlungen: „Malignant Plastics“ Bestimmte Kunststoffsorten spielen in Sammlungen und deren Konservierungsstrategien eine besondere Rolle. Sie sind nicht nur durch ihre Empfindlichkeit selber besonders gefährdet, sondern setzen auch durch Degradationsprozesse korrosive Nebenprodukte frei, die in nächster Nähe befindliche Objekte angreifen (z. B. andere Kunststoffe oder Metalle). Aus diesem Grund werden gerade frühe Kunststoffe in der Konservierungsforschung auch als „malignant plastics“ bezeichnet.8 Es handelt sich um Cellulosederivate, vulkanisierten Kautschuk 8 Williams, R. Scott: Care of Plastics: Malignant plastics, in: WAAC Newsletter 24(1), 2002, S. 1–11. Unter: http://cool.conservation-us.org/waac/wn/wn24/wn24-1/wn24-102.html (Stand: 12.08.2018).
198 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
und PVC, einige der an den Technikmuseen häufig vorhandenen frühen Kunststoffe. Diese Kunststoffe sind intrinsisch instabil und gasen Salpeter-, Essig-, Schwefel- bzw. Salzsäure aus. Polyesterurethane werden auch häufig dazu gezählt, obwohl die Säure, die von diesem Material ausgast weder so flüchtig noch so reaktiv ist wie die oben genannten. Diese Substanzen sind nicht nur für andere Objekte ein Problem, sondern auch ein Sicherheitsproblem für die Menschen, die diese Objekte ungeschützt (ohne Handschuhe) behandeln. Zu den Cellulosederivaten gehören Cellulosenitrat und Celluloseacetat. Beide Polymere sind dafür bekannt, Säuren durch eine Reaktion mit Wasser abzuspalten. Cellulosenitrat wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts für Filme und in dreidimensionalen Objekten als Elfenbein- oder Horn-Ersatz verwendet und später bis in die 1970er-Jahre als Lacküberzug für Holz-, Glas- und Metalloberflächen eingesetzt. Celluloseacetat löste in vielen Anwendungen Cellulosenitrat, welches wegen seiner hohen Brennbarkeit besonders in der Filmindustrie in Verruf geraten war, ab. Chemisch degradiert Cellulosenitrat durch Hydrolyse der Nitratgruppen als Gegenreaktion zur Herstellungsreaktion (Veresterung von Cellulose mit Salpetersäure). Beide Polymere vergilben und verspröden und spalten unter Einwirkung von Feuchtigkeit Säuren (Salpetersäure im Falle von Cellulosenitrat und Essigsäure für Celluloseacetat) ab. Diese Säuren wiederum können den hydrolytischen Prozess beschleunigen oder chemische Reaktionen an benachbarten Objekten hervorrufen. Essigsäure und Salpetersäure sind leicht flüchtig und können sich in der Vitrine oder dem Depot verteilen und bspw. Korrosionen an Metallen hervorrufen. Frühe Kautschuke wurden bei der Herstellung mit unterschiedlichen Mengen an Schwefel vulkanisiert, je nach gewünschtem Vernetzungsgrad und Eigenschaften. Unter dem Einfluss von Sauerstoff und Feuchtigkeit9 kann der Schwefel als Schwefelsäure abgespalten werden. Die so entstandene Säure kann ähnlich wie vorher erwähnt die Degradation von Objekten starten bzw. beschleunigen. Polyvinylchlorid kann ebenfalls Säure (Salzsäure) abspalten, jedoch stellen migrierende Weichmacher für benachbarte Objekte eine größere Gefahr dar. Diese können in andere Materialien insbesondere in Kunststoffe eindringen um dort eine weichmachende Wirkung hervorzurufen.10
9 Ebd. 10 Shashoua, Yvonne/Schnell, Ulrich/Young, Lisa: Deterioration of Plasticized PVC Components in Apollo Spacesuits, in: van Oosten, Thea/Shashoua, Yvonne/Waentig, Friederike (Hrsg.): Kölner Beiträge zur Restaurierung und Konservierung von Kunst- und Kulturgut 15, München 2002, S. 69–79.
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
199
Auch bei bestimmten Polyurethanen (Polyesterurethane) können Säuren freigesetzt werden. Ein weiteres Risiko ist, dass gerade Polyesterurethane sich durch Kettenbrüche in einigen Fällen verflüssigen können und neben dem kompletten Verlust der Form andere Objekte verkleben bzw. tränken können, mit ähnlichen Effekten wie bei Polyvinylchlorid. Um den Erhalt ganzer Sammlungen zu gewährleisten ist es daher äußerst wichtig, die „malignant plastics“ zu identifizieren, von anderen Objekten zu separieren und für eine ausreichende Lüftung zu sorgen.
Identifizierung von Kunststoffen Wie bereits erwähnt ist zum Schutz der gesamten Sammlungsbestände relevant, die schädigenden Kunststoffe, die „malignant plastics“, von anderen Kunststoffen zu separieren und an gut gelüfteten Orten zu verwahren. Um dies zu ermöglichen, ist eine frühzeitige Identifizierung dieser Kunststoffe notwendig. Als grundsätzliche Sicherheitsmaßnahme für den Umgang mit Kunststoffen sei an dieser Stelle erwähnt, dass zum eigenen wie zum Schutz der Objekte Nitril-Einweghandschuhe getragen und regelmäßig gewechselt werden sollten. Einerseits verhindert dies das Weitertragen von Degradationsprodukten und eine damit einhergehende schnellere Degradation anderer Objekte und andererseits handelt es sich bei den austretenden Produkten um stark korrosive Säuren, welche die Haut angreifen können. Regelmäßiges Händewaschen vor und nach dem Umgang mit Objekten ist obligatorisch.11 Für die Identifizierung von Kunststoffen sind verschiedene Ansätze möglich:
Optische Merkmale musealer Kunststoffe Ein einfaches Hilfsmittel ist die Beschreibung der Kunststoffe selbst: Sind sie opak oder durchsichtig, geschäumt oder massiv? Alle diese Zuschreibungen sind leicht durchführbar und können bei der Identifikation helfen. Hinzu kommen Wegweiser wie das Buch „Erkennen von Kunststoffen“ von Dietrich Braun,12 welches zusätzlich eine Beschreibung historischer Kunststoffe beinhal11 Vgl. Tsang, Jai-sun: Safe Handling of Plastics in a Museum Environment, in: WAAC Newsletter 32(2), 2010, S. 16–22. 12 Vgl. Braun, Dietrich: Erkennen von Kunststoffen Qualitative Kunststoffanalyse mit einfachen Mitteln, München, 2012, besonders S. 79–88.
200 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
tet. Häufig tragen Objekte auf ihrer Rückseite Markennamen, die ebenso eine Identifizierung ermöglichen können.13 Ebenfalls hilfreich ist die Dokumentation der auftretenden Schadensphänomene, unterteilt in verschiedene Kategorien wie Risse, Gebrauchsspuren, Versprödung, Verfärbung (Vergilbung) oder Ausblühungen und andere Auffälligkeiten, die den Zustand eines Objektes beschreiben. Durch die Zuordnung eines bestimmten Schadensphänomens zu einem Kunststoff können weitere Kunststoffe dieser Art über das optische Erscheinungsbild identifiziert werden, um individuelle Maßnahmen für das betroffene Objekt zu ergreifen; dies setzt Erfahrung im Umgang mit gealterten Kunststoffen sowie Zugang zu einschlägiger Literatur (s. Fußnoten) bzw. Schadenskatalogen für die jeweiligen Kunststoffe voraus. Parallel zur Beschreibung der optischen Erscheinung der Objekte, kann mit geringem Aufwand direkt nach den Degradationsprodukten besonders von Cellulosenitraten und -acetaten mittels pH-Indikatorpapieren gesucht werden.14 Auf die Verwendung von pH-Indikatorpapier als Strategie zur präventiven Konservierung von Sammlungen wird später näher eingegangen werden. Tabelle 1 stellt eine Zusammenfassung15 der allgemeinen optischen Merkmale und Schadensphänomene von gefährdenden Kunststoffen dar, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
13 Vgl. National Park Service: Care and Identification of Objects Made from Plastic, in: Conserve O Gram 8(4), 2010, S. 1–6. Unter: www.nps.gov/museum/publications/conserveogram/ 08-04.pdf (Stand: 23.07.2018). 14 Herkömmliche pH-Streifen sind für ein wässriges Medium ausgelegt. Gase können mit Produkten wie A-D Strips des Image Permanence Institute auf pH-Wert untersucht werden. IPI unter: www.imagepermanenceinstitute.org/imaging/ad-strips (Stand: 23. 07.2018); Danchek unter: www.cwaller.de/deutsch.htm?danchek.htm~information (Stand: 23. 07.2018). Beide Produkte sind zwar für die Detektion von Essigsäure entwickelt worden, reagieren aber ebenfalls bei anderen Säuren. 15 Vgl. Waentig, Friederike: Plastics in Art (s. Anmerkung 4); National Park Service: Care and Identification of Objects (s. Anmerkung 13).
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
201
Tab. 1: Allgemeine optische Merkmale und typische Schadensphänomene der so genannten „heimtückischen Kunststoffe“ („malignant plastics“) Beschreibung… Kunststoff
Höhepunkt der Produktion
…des Materials (Beispiel)
…der Schadensphänomene
Cellulosenitrat (CN)
1870 – ca. 1930 (nicht möglich in Objekten vor 1862)
Thermoplast, hart, transparent bis gefärbt, je nach Nitrierungsgrad entzündlich(in alltäglichen Gegenständen als Ersatzmaterial: Imitationen von teuren natürlichen Produkten wie Elfenbein, Schildpatt; Filmmaterial; Schutzbrille)
Mikrorissbildung, Abbröckeln, Korrosion von Metallteilen in der Nähe, flüssige Ablagerungen, Brüchigkeit, Kampfergeruch (falls als Additiv vorhanden)
Celluloseacetat (CA)
1905 – ca. 1920 (nicht möglich in Objekten vor 1869)
Thermoplast, hart, transparent bis farbig (Filmmaterial, Ersatz für CN)
Essiggeruch im fortgeschrittenem Stadium, Brüchigkeit, Abbröckeln, Wölbung (s. Abb. 3)
Polyurethan (PU)
seit 1950 bis heute (nicht möglich in Objekten vor 1937)
Elastische bis harte geschlossen- oder offenzellige Schaumstoffe, können je nach Zusammensetzung (thermoplastische) elastomere oder duromere16 Eigenschaften aufweisen (Schaumstoffe, Schuhsohlen, Griffe)
Je nach Zusammensetzung, Verflüssigung, Versprödung, Abbröckeln, Verhärten von Schaumstoffen, weiße Ausblühungen, klebrige Oberflächen Rissbildung, Vergilben, charakteristische weiße Einschlüsse (weiße aus dem Material kommende Ablagerungen, ca. 1–2 mm Durchmesser, über das Material verteilt, s. Abb. 1)
16 BASF Polyurethanes: Elastolit® D/K/R – Rigid Integral- and RIM- Systems. Unter: www. polyurethanes.basf.de/pu/solutions/en_GB/content/productbrand/elastolit. (Stand: 23. 07.2018)
202 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz Fortsetzung Tabelle 1 Beschreibung… Kunststoff
Höhepunkt der Produktion
…des Materials (Beispiel)
…der Schadensphänomene
Kautschuk
vulkanisiert ab 1839
Elastomere, je nach Vulkanisierungsgrad elastisch bis hart, opak, honigfarben bis dunkelbraun/ schwarz (Reifen)
Verhärtung, Rissbildung, Sprödigkeit
Polyvinylchlorid (PVC)
seit 1930 bis heute (nicht möglich in Objekten vor 1926)
Thermoplast. Je nach Weichmacheranteil weich bis hart (Gummistiefel, Kabelummantelung, Lederimitat, Textilien)
Klebrige Oberflächen, durchsichtige bis weißliche flüssige Ablagerungen (Weichmacheraustritt), Sprödigkeit, Verhärten, Deformieren der Form, Vergilben der dem Licht ausgesetzten Bereiche
Abb. 3: Schadensphänomene an einem degradierten Celluloseacetat-Tonband (Wölbung, Brüchigkeit, Korrosion in der Nähe gelagerter metallischer Teile, Schimmelbefall auf Grund zu hoher relativer Luftfeuchte)
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
203
Einfache Tests Eine einfache Identifizierung ist über kleinere chemische Tests möglich. So kann beispielsweise mit Indikatorpapier die Anwesenheit einer Säure festgestellt werden. Weiter ist es möglich, durch eine Probenentnahme verschiedene chemische Tests wie die Beilsteinprobe zum Nachweis von Halogenen oder eine Brennprobe zur Unterscheidung zwischen Thermoplasten gegenüber Elastomeren und Duromeren durchzuführen. Bei einer Probenentnahme muss einem stets bewusst sein, dass dies einen invasiven Eingriff in das Erscheinungsbild des zu untersuchenden Objektes darstellt, der die Aussage bzw. den Wert zerstören kann. Grundsätzlich gilt bei Probenahmen: so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Probennahmen sollten nicht ohne Kenntnisse der Restaurierung und Konservierung, bevorzugt durch einen ausgebildeten Restaurator oder Konservierungswissenschaftler oder nach Absprache mit diesen, durchgeführt werden; dabei soll u. a. eine Verunreinigung der Probe durch andere Materialien vermieden werden. Die minimalen Proben sollen an kleinen, unauffälligen oder verdeckten Bereichen des Objektes (Rückseite, Unterseite) entnommen werden. Die Benutzung eines geschliffenen Glases hat sich hierfür als geeignet erwiesen.17
Spot Tests Dazu existieren so genannte Spot Tests18, wodurch eine kleine Probe (s. o.) entnommen und mit Chemikalien behandelt wird. Ein Farbumschlag der aufgebrachten Lösung erbringt den Nachweis für ein bestimmtes Polymer. Diese Tests sind teilweise komplex, nicht immer eindeutig, invasiv und setzen die Anschaffung und den Umgang mit Chemikalien voraus. Dies erfordert zusätzliche Maßnahmen und Know-How seitens der die Analyse durchführenden Person, auch vor allem für die Interpretation und die Laborsicherheit. Tabelle 2 stellt einige dieser Spot Tests entsprechend der Empfehlungen des Canadian Conservation Institutes (CCI) und darin zitierter Arbeiten vor.
17 Fenn, Julia/Williams, R. Scott: Caring for plastics and rubbers. Unter: www.canada.ca/en/ conservation-institute/services/care-objects/modern-materials/caring-plastics-rubbers.html (Stand: 23.07. 2018). 18 Ebd.
204 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz Tab. 2: Spot Tests zur Identifizierung einiger heimtückischer Kunststoffe Polymer
Spot Test
Test Ergebnis (positiv für das jeweilige Polymer)
Cellulosenitrat
0,5 % Diphenylamin mit 90 % Schwefelsäure
Blaue Färbung
Celluloseacetat
Nachweis von Acetat anhand von Hydroxylamin und Eisen (III)chlorid
Tiefrote Färbung
Polyvinylchlorid
Beilsteintest zum Halogennachweis
Grüne Flammenfärbung
Analytischer Ansatz Prinzipiell ist die Identifizierung der „malignant plastics“ ausreichend, um den Fortbestand einer Sammlung zu ermöglichen. Hierfür sind einfache infrarotspektroskopische Untersuchungen besonders geeignet. Eine besonders einfache und sichere Möglichkeit, die vorhandenen Kunststoffe zu identifizieren, bietet die ATR-FTIR (Abgeschwächte Totalreflexionseinheit Fourier Transform Infrarotspektroskopie) an. Mittels eines solchen IR Spektrometers können je nach Objektgröße nicht-invasive Untersuchungen durchgeführt werden. Diese Technik erlaubt es in den meisten Fällen, häufig ohne Probenahme und bei geringem zeitlichem Aufwand, die genauere Zusammensetzung von unbekannten Kunststoffen zu untersuchen oder zumindest eine Einordnung der Art des vorhandenen Materials zu erhalten. Weiter können die so erhobenen Daten in einigen Fällen zusätzliche Informationen über Additive und Degradationszustand bereitstellen. Dieser Ansatz setzt eine notwendige apparative Ausstattung und Kenntnisse in der Auswertung spektroskopischer Informationen voraus. Die Technik ist sehr verbreitet und in der Regel an jeder Hochschule mit einer Fakultät oder Abteilung für Chemie vorhanden. Analysekosten für einige hundert Objekte, wie für eine übliche Bestandsaufnahme einer mittelgroßen kulturhistorischen Sammlung, sind aber nicht unerheblich. Es sollte beachtet werden, dass diese Analysen am besten vor Ort mit einem tragbaren Gerät erfolgen sollten, um einen Transport der Objekte zu vermeiden. Ist ein genauerer Aufschluss über die Materialzusammensetzung gewünscht, so können mittels Pyrolyse-Gaschromatographie-Massenspektroskopie (py-GCMS) weitere Informationen zu Polymer und Additiven gewonnen werden. Diese Art von Analyse ist jedoch, um eine erste Einteilung der gefährdeten
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
205
Bestände einer Sammlung zu erhalten, nicht notwendig und benötigt eine Probe im µg-Bereich. Die Auswertung der oben genannten Tests a) bis d) werden durch die Zersetzungsprozesse der Kunststoffe verkompliziert. So erschwert zum Beispiel der Verlust der ursprünglichen Eigenschaften eine mögliche Zuordnung des Kunststoffes, da sie zum Beispiel nicht mehr elastisch, sondern harte und spröde Eigenschaften aufweisen. Weiterhin enthalten FTIR-Datenbanken meist Referenzspektren von frisch hergestellten Kunststoffen. Gealterte Kunststoffe hingegen können sich chemisch stark davon unterscheiden, was eine Identifizierung mittels FTIR erschwert. Allerdings ist eine entsprechende Erfahrung häufig in Museumslaboratorien zu finden. Tabelle 3 stellt die genannten Möglichkeiten zur Identifizierung von Kunststoffen als Überblick zusammen und bietet einen Vergleich der Vor- und Nachteile. Tab. 3: Überblick der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Ansätze zur Kunststoffidentifizierung in Museen Methode
Vorteile
Nachteile
Optische Merkmale
Geringe Kosten, keine Probenahme notwendig
Zeitintensiv, nicht eindeutig
Einfache Tests
Geringe Kosten
Probenahme notwendig, Identifizierung einzelner Kunststoffe nicht immer möglich, Ergebnisse können Rezeptur-abhängig sein
Spot Tests
Möglichkeit der Identifizierung einzelner Kunststoffe
Probenahme notwendig, Umgang mit Gefahrstoffen, subjektive Ergebnisse, schwer zu interpretieren
Analytischer Ansatz
Eindeutige Ergebnisse, Identifizierung einzelner Kunststoffe, mit ATR-FTIR keine Probenahme notwendig (je nach Objektgröße und -geometrie)
Kostenintensiv
206 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
Mögliche Lösungsansätze und ihre Praktikabilität: Präventive Konservierung Die meisten Sammlungen haben jedoch weder die analytischen Möglichkeiten noch die Ressourcen und das Know-How, um einige der Alternativen zu ermöglichen. Aber auch ohne die Möglichkeit, Kunststoffe in der Sammlung eindeutig zu identifizieren, können einfache, ressourcenschonende präventive Maßnahmen einen starken positiven Effekt auf den Erhalt einer Sammlung haben. Idealerweise ist in einem ersten Schritt eine stichprobenartige materialbasierte Bestandsaufnahme zu empfehlen, die Untersuchung eines typischen Querschnitts repräsentativer Objekte, die den Zustand der Kunststoffteile beurteilt sowie eine Materialidentifizierung durchführt. Basierend auf diesen Informationen kann dann in den vorhandenen Räumlichkeiten ein passendes und materialgerechtes Konservierungskonzept entwickelt werden. Dennoch sind im Falle eines akuten Handlungsbedarfs die folgenden Schritte vorab zu empfehlen:
„Heimtückische Kunststoffe“ vom Rest der Sammlung separieren 1.
2.
3.
Erstens sollten in Depoträumen Stellen lokalisiert werden, an denen sich viele degradierte Materialien (andere Bauteile, Sammlungsobjekte und Verpackungen) befinden. Die Degradation kann in Form von Korrosionen, Verfärbungen oder Ablagerungen auf der Oberfläche auftreten. In diesen Bereichen sollten Objekte oder Bauteile aus Kunststoff gesucht werden, die einen feststellbaren Essig- oder Schwefelgeruch oder eine klebrige Substanz auf der Oberfläche aufweisen. Objekte mit diesen Merkmalen können für den oben beschriebenen Zustand der Objekte verantwortlich sein. Solcher Art unter Punkt 2. identifizierte Objekte werden zunächst separiert aufbewahrt. Die entfernten Objekte benötigen einen möglichst kühlen und gut belüfteten Raum, separiert von der restlichen Sammlung, welcher die Möglichkeit anbietet, die Objekte freistehend zu verwahren.
Materialanalyse und Konservierung von Industrie-Kulturerbe
207
Identifizierung potenziell gefährdender Materialien Sind alle akut gefährdeten Objekte getrennt worden, sollten in einem zweiten Schritt die potenziell gefährdenden Materialien identifiziert und ebenfalls getrennt verwahrt werden. Dies ist durch den Einsatz der bereits erwähnten Säureindikatoren möglich. Die Art der Anwendung wird in Veröffentlichungen des Image Permanence Institutes ausführlich beschrieben. Dieser Schritt sollte stetig nach sechs bis zwölf Monaten wiederholt werden. Ein regelmäßiges Monitoringsystem ist bei Kunststoffobjekten im Allgemeinen zu empfehlen. Nach einer erfolgreichen Identifikation der „malignant plastics“ können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden, um die Sammlung insgesamt besser zu erhalten. Im Anschluss werden auch die aktuellen Lagerungsbedingungen überprüft und es wird angestrebt, durch praktikable Lösungen die Aufbewahrungsbedingungen der Objekte im Hinblick auf das Material Kunststoff zu verbessern. Stabile klimatische Bedingungen, auch wenn nicht optimal, sind schonender als häufige Wechsel. Dabei sollten vor allem hohe Feuchte und hohe Temperaturen vermieden werden. Die Kontrolle und Regulierung von Temperatur und relativer Feuchte ist nicht trivial. Für die Temperatur gilt prinzipiell, je kälter desto besser. Dies verringert die Reaktionsgeschwindigkeit der chemischen Alterungsprozesse. Jedoch ist der Effekt von tiefen Temperaturen bisher nicht ausreichend beschrieben worden und sollte nur unter besonderer Beobachtung und Dokumentation erfolgen. Niedrigere Temperaturen von 15 °C stellen nach bisherigem Wissensstand keine Gefährdung für Objekte dar. Im Zweifel sollten gerade hohe Temperaturen vermieden werden, was durch Abschatten im Sommer und im Winter durch einen ausreichenden Abstand zu Heizkörpern zu bewerkstelligen ist. Die Regulierung der relativen Feuchte ist ebenfalls von großer Bedeutung, jedoch schwieriger umzusetzen. Generell sollte für eine gute Luftströmung gesorgt werden und kalte Oberflächen an denen Feuchtigkeit aus der Luft kondensieren kann, vermieden werden. Um Schimmelbewuchs vorzubeugen, ist eine relative Feuchte von unter 60 %rF anzustreben. Auch Kunststoffe können Wasser aus der Luft wie ein Schwamm aufnehmen und abgeben. Dabei dehnen sie sich aus bzw. ziehen sich zusammen und sind mechanischen Belastungen ausgesetzt. Daher sollten besonders Schwankungen der relativen Feuchte sowie der Temperatur innerhalb eines Tages vermieden werden; jahreszeitliche Anpassungen der relativen Feuchte sind weniger kritisch. Es ist wichtig, dass das Material ausreichend Zeit hat, sich den Schwankungen anzupassen. Dadurch hat das Material mehr Zeit und kann sich gleichmäßiger ausdehnen oder zusammenziehen.
208 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
Dies kann durch die Verwendung von Puffermaterialien ermöglicht werden. Die Empfehlung, eine niedrige Luftfeuchte anzustreben, hat einen höheren Stellenwert bei Kunststoffen, die hydrolytisch degradieren. Zu beachten ist allerdings, dass trocken gelagerte Kunststoffe spröder sind und mit erhöhter Vorsicht gehandhabt werden sollten. Die Inkompatibilität zwischen den Bedürfnissen unterschiedlicher Materialien bei so genannten Kompositobjekten sollte ebenso beachtet werden. Leder zum Beispiel sollte nicht unter 40 %rF gelagert werden, sodass eine Kombination mit Polyurethanen in ein und demselben Objekt (zum Beispiel in Bergmannsschuhen der 1990er-Jahre mit Hydrolyse-empfindlichen Polyurethanen) nicht immer einfach zu vereinbaren ist. Lichtexposition sollte ebenfalls kontrolliert werden,19 wobei grundsätzlich die Abwesenheit von Licht bei nicht ausgestellten Exponaten zu bevorzugen ist, eine Maßnahme die für Depots generell leicht durchzuführen, aber in Ausstellungsräumen wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen ist. Es sollte unbedingt darauf geachtet werden, direkte Sonneneinstrahlung zu vermeiden und bevorzugt auf LED-Beleuchtung zurückzugreifen.20 Eine Übersicht über geeignete Lichtquellen kann im Internet aufgerufen werden.21 Gewöhnlich werden in Museen Adsorbenzien zum Auffangen und Entfernen von Schadstoffen als präventive Maßnahmen eingesetzt, zum Beispiel von aus „malignant plastics“ ausgasenden korrosiven Substanzen. Damit soll eine Fortsetzung des Zerfallsprozesses und eine Beeinflussung nebeneinander gelagerter Materialien verhindert werden. Nach neuesten Erkenntnissen22 führt der Einsatz dieser Adsorbenzien jedoch gleichzeitig zur Bindung und damit zum Entzug für die im Kunststoff notwendigen Weichmacher, was zu weiteren Versprödungseffekten in den Kunststoffen führen kann. Somit haben diese Adsorbenzien auch einen unerwünschten, negativen Effekt auf das Material und können die Degradation der Materialien durch andere Mechanismen begünstigen. Obwohl in vielen Fällen angebracht, kann eine unkritische Anwendung von Adsorbenzien so wie sie heutzutage häufig stattfindet somit je nach Situation zu einer Verstärkung von Schäden führen. 19 Vgl. DIN CEN/TS 16163: Erhaltung des kulturellen Erbes. Leitlinien und Verfahren für die Auswahl geeigneter Beleuchtung für Innenausstellungen, 2014. 20 Piccablotto, Gabriele u. a.: Study on conservation aspects using LED technology for museum lighting, in: Energy Procedia 78, 2015, S. 1347–1352. 21 Rathgen-Forschungslabor: Zur Bewertung von Lichtquellen nach musealen und konservierungswissenschaftlichen Aspekten, 27.06.2017. Unter: www.smb.museum/fileadmin/website/ Institute/Rathgen-Forschungslabor/Liste_Leuchtmittel.pdf (Stand: 13. 07.2018). 22 Shashoua, Yvonne/Schilling, Michael/Mazurek, Joy: The effectiveness of conservation adsorbents at inhibiting degradation of cellulose acetate, in: Bridgland, J. (Hrsg.): ICOM-CC 17th Triennial Conference Preprints 15.-19. September 2014, Melbourne 2014, S. 1–9.
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Die Anwendung von Adsorbenzien setzt zudem voraus, dass die Anwesenheit und Lokalisierung dieser „malignant plastics“ unter den Sammlungsobjekten bekannt ist, da ein breiter Einsatz von Adsorbenzien weder praktikabel noch kostengünstig ist. Deshalb ist die Lokalisierung der „malignant plastics“ innerhalb einer Sammlung von großer Bedeutung und unausweichlich für eine effektive Erhaltung der Objekte. Darüber hinaus sind mechanische Belastungen zu vermeiden, um die Schwachstellen der Objekte zu schonen, wie in Abbildung 4 für das Beispiel der brüchigen Schuhsohlen aus Polyesterurethan gezeigt.
Abb. 4: Das Bild zeigt die Lagerungssituation der Bergmannschuhe aus dem Bestand des Deutschen Bergbau-Museums Bochum. Der Ständer soll die stark degradierte Polyurethan-Sohle vor mechanischen Belastungen schützen.
Notwendigkeit der konservierungswissenschaftlichen Forschung und Ausblick Der Wunsch, Museumsobjekte zu erhalten, steht konträr zu den üblichen Anforderungen, die sonst an Kunststoffe nach ihrer primären Lebensdauer gestellt werden. Kunststoffe sollen die Umwelt nicht belasten und im Idealfall dem Rohstoffzyklus zurückgeführt werden. „Wie lang wird dieses Kunststoff-Objekt unter den aktuellen Bedingungen halten?“, „wie soll z. B. Polyurethan gelagert werden?“, „wie soll dieses Objekt gereinigt oder ausgestellt werden?“ Zu diesen
210 Elena Gómez Sánchez, Simon Kunz
Fragen gibt es nach dem aktuellen Forschungsstand nur wenige Antworten.23 Es fehlt an realistischen bzw. geprüften präventiven und restauratorischen Maßnahmen. Es gibt derzeit in der Forschungswelt zahlreiche Bestrebungen, Kunststoffmaterialien für die Zukunft zu stabilisieren; auch am Forschungsbereich Materialkunde des DBM wird Forschung in diesem Bereich betrieben. Das Ziel dabei ist, das Verhalten von Kunststoffen unter musealen Bedingungen über lange Zeiträume besser zu verstehen sowie den Einfluss bestimmter Zusatzstoffe auf den Alterungsverlauf und die Beschreibung und Charakterisierung von Schadensphänomenen speziell der besonders bedrohten Kunststoffe der DBM-Sammlung, nämlich Polyesterurethan, Cellulosederivate (Cellulosenitrat, Celluloseacetat, CAB, CAP) und Kautschuk. Im Kontext dieser Ziele durchgeführte materialkundliche Untersuchungen können auch gleichzeitig Einblicke in Herstellungsprozesse sowie in historische, gesellschaftliche oder produktionsbedingte Materialanpassungen und weitere Punkte der Technikgeschichte ermöglichen. Kunststoffe sind instabil und nicht für die Ewigkeit geschaffen worden; einige können sogar die Degradationsprozesse anderer Objekte auslösen oder beschleunigen. Bei totalem Verlust von Objekten verliert man mehr als nur das Objekt, auch ein Teil der Technikgeschichte geht damit verschollen. Im Fall der „malignant plastics“ wird sogar der Erhalt der gesamten Sammlung riskiert. Eine Lokalisierung dieser Materialien in Depots, gefolgt von deren Segregation und der Sorge für genügende Lüftung sind unabdingbare präventive Maßnahmen, die sowohl kostengünstig als auch realisierbar sind.
23 Keneghan, Brenda: Developing a Strategy for Dealing with Plastics in the Collections of the V&A, in: Conservation Journal 61, 2013, S. 1–4.
Vernetzung und Digitalisierung
Frank von Hagel
Vernetzt im Netz. Wohin mit den „eigenen“ Objektdaten? Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln. Das sind die Fundamente unserer Arbeit im Museum und darauf sind unsere Aktivitäten in den Museen ausgerichtet. Museen stellen die Objekte in den Fokus ihrer Arbeit. Objekte sind die Highlights in unseren Ausstellungen, der Kern mehr oder weniger aufgeregter Diskussionen und das beste Medium zur Visualisierung der Vergangenheit und der Geschichten, die Museen mit Hilfe der Objekte erzählen. Denn die Objekte sind Zeitkapseln aus der Vergangenheit. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, die Vergangenheit „greifbar“ und „begreifbar“ zu machen, sie sind aber auch physische Relikte, mit deren Hilfe, durch Anwendung neuer Forschungsmethoden, neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Neben der Bewahrung der physischen Existenz des Objektes gehört somit auch die Bewahrung der extrinsischen Daten bzw. des Wissens über das Objekt, dessen Objektgeschichte, der Bedeutung des Objektes für den/die Menschen und seiner Nutzung zu den zentralen Aufgaben der Museen. Dies geht weit über die Aufgabe des Wiederfindens und des Besitznachweises, zu denen die intrinsischen Objektinformationen in den meisten Fällen ausreichend wären, hinaus. Daraus ergibt sich für ein Museum die Notwendigkeit, nicht nur die Informationen über die Objekte zum Zeitpunkt X einmalig zu erfassen und zu bewahren, sondern auch diese Objektdokumentation mit aktuellen Forschungsergebnissen und neue Erkenntnissen fortzuschreiben sowie kontinuierlich die Möglichkeiten der Bereitstellung der Objektinformationen zu validieren. Der Begriff „Digitalisierung“ umfasst in diesem Text immer auch die Bereitstellung der Informationen über das gesammelte Objekt und beschränkt sich nicht nur auf die Bereitstellung digitaler Objektfotografien, Erstellung eines 3DScans oder digitaler Ton- und Videoaufnahmen. Die Aufgabe, diese Informationen zusammenzutragen, zu verwahren und in geeigneter Form bereitzustellen, kommt der Dokumentation in den Museen zu. Nur dann kann das Objekt seiner „Aufgabe“ als „Zeuge“ und „Vermittler“ dauerhaft gerecht werden und immer wieder seine Geschichte erzählen. Diese Vermittlungsaufgabe realisieren Museen traditionell mit ihren Ausstellungen und Publikationen. Dabei ist aber die Anzahl der „ausstellbaren“ Objekte beschränkt, Änderungen der Präsentation sind nur mit großem Aufwand
https://doi.org/10.1515/9783110683097-013
214 Frank von Hagel
und Kosten realisierbar. Die Möglichkeiten der verschiedenen Kontextualisierungen und die Nutzungsmöglichkeiten der Objekte und der bereitstellbaren Objektinformationen sind eingeschränkt, denn für jede Ausstellung muss über die zu zeigende Perspektive eines Objektes sowie den Umfang der bereitgestellten Objektinformationen entschieden werden. Mit der fortschreitenden Digitalisierung der diversen Arbeitsprozesse im Museum, von der Ausstellungsplanung, Leihverkehr, Restaurierung, Öffentlichkeitsarbeit bis hin zur Besucherforschung, gewinnen die Verwendung digitaler Werkzeuge und die Nutzung digital bereitgestellter Objektinformationen aus der Objektdokumentation immer mehr an Bedeutung. Antworten zu den unterschiedlichsten Fragen werden hierbei von der Objektdokumentation erwartet. Je komplexer die Fragestellungen, desto umfangreicher der Bestand an extrinsischen Daten, die nun im Objektkontext bereitgestellt werden müssen. Fragen, die zuvor nie gestellt wurden und die bislang nicht bzw. nicht in diesem Umfang von der Objektdokumentation beantwortet werden sollten, sollen nun per Knopfdruck beantwortet werden können. Noch recht leicht waren und sind die Fragen „Geben Sie mir mal eben alle Objekte mit einem Gewicht von mehr als 400 kg aus dem Ausstellungsraum A“ oder „Welche Objekte des Sammlers XYZ stehen zurzeit in unserer Dauerausstellung?“ zu beantworten. Schwieriger wird es, wenn die Fragestellungen erweitert werden: „In welchen Ausstellungen wurde welches Objekt des Sammlers XYZ noch gezeigt?“, „Von welchen Objekten haben wir aktuelle Audioguide-Dateien?“ Diese Fragestellungen setzen eine Erweiterung des bisher erfassten Informationsumfanges in der Dokumentation, aber auch eine Zusammenführung vieler bislang unabhängig in den Abteilungen des Museums erzeugte Informationen an einer zentralen Stelle voraus. Mit Hilfe der Objektdokumentation lassen sich Brücken bauen zwischen den unterschiedlichen Anforderungen und Nutzungswünschen der Museumsabteilungen, denn ein zentraler Angelpunkt vieler Fragen ist das Objekt. Es ist folglich notwendig, die Daten je nach Verwendungszweck und Zielgruppe, Interessensschwerpunkt und Nutzungsberechtigung aufzubereiten. Allen gemeinsam ist jedoch, dass es sich bei den Nutzerinnen und Nutzern zunächst um einen internen Kreis handelt. Das macht die Regulierung der rechtlichen Fragen verhältnismäßig einfach (Abb. 1).
Vernetzt im Netz. Wohin mit den „eigenen“ Objektdaten?
215
Abb. 1: Der Bau einer Brücke in Newcastle über den Fluss Tyne, 1928
Aber mit dem nächsten Schritt, der Onlinestellung der Objektinformationen, erlangen rechtliche Fragen zu Bild-, Nutzungs-, und Verwertungsrechten eine neue Dimension. Die Klärung dieser rechtlichen Fragen gehört zunächst zur normalen Publikationsarbeit. Jedoch verändert sich das Mengengerüst massiv. Werden in einer Ausstellungspublikation 100 oder 1000 Objekte abgebildet, so sind es in einer Onlinedatenbank schnell 10 000 oder mehr Objekte, für die die rechtlichen Fragen zu klären sind. Sind solche Informationen nicht in der Objektdokumentation hinterlegt, ist dieses Problem kaum zu lösen. Selbst sofern bereits rechtliche Freigaben für Printpublikationen vorliegen, können diese nicht ohne weiteres auf die Onlinepublikation übertragen werden. Und selbstverständlich können nicht alle Dokumentationsdaten in eine Onlinepräsentation ausgespielt werden. Es sind neben den Bild-, Urheber- und Nutzungsrechten auch die Persönlichkeitsrechte erwähnter und abgebildeter Personen zu klären. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass die sensiblen Daten wie Ankaufspreise oder Standorte etc. geschützt werden.
216 Frank von Hagel
Auf die in diesem Kontext offenen rechtlichen Fragen zur Onlinestellung von Objekt- und Werkabbildungen, die diversen vorhandenen oder fehlenden „Schrankenregelungen“, möchte ich an dieser Stelle gar nicht eingehen und verweise stattdessen auf die entsprechenden Publikationen1 sowie den Deutschen Museumsbund, ICOM und die regionalen deutschen Museumsverbände. Trotz dieser zu berücksichtigenden Herausforderungen bietet die digitale Präsentation und Zugänglichmachung von Objektinformationen in Objektdatenbanken den Museen die einmalige Möglichkeit, sich neue Kreise von Nutzern und Nutzerinnen zu erschließen und diese in engeren Kontakt an die Museen zu binden. Durch die Onlinestellung ist die Präsentation nicht mehr an einen Ort gebunden, sie repräsentiert das Museum weltweit mit dessen wichtigstem Gut, den Objekten und Objektinformationen, und kann von nahezu jedem Menschen auf der Welt, zu jeder Zeit zumindest teilweise virtuell erlebt werden. Dazu stehen den Museen vielfältige Möglichkeiten der Visualisierung von Objektkontexten in ihren Onlinepräsenzen zur Verfügung, z. B. die georeferenzierte Darstellung der Herkunft und Nutzung der Objekte. Damit verfügen Museen über eines der bedeutsamsten Elemente erfolgreicher Internetpräsenzen. Vor 20 Jahren soll Bill Gates das wichtigste Element eines Internetangebotes mit folgender Aussage beschrieben haben: „Content is King!“ Aus dieser Sicht besitzen die Museen einen Schatz, der noch viel zu oft im Verborgenen schlummert. Es lohnt sich diesen Schatz zu heben, denn die entscheidenden Vorteile des „Online-Contents“ bestehen darin, dass dieser Content als Ausgangspunkt für „Partizipation“ und „Interaktion“ mit den Nutzerinnen und Nutzern sowie als Grundlage der „Vernetzung“ mit weltweiten Ressourcen dienen kann. Daraus ergeben sich vollständig neue Wege der „Besucherbindung“, der „Wahrnehmung“ des Museums und der Umsetzung des „Vermittlungsauftrages“, aber auch der „Informationsgewinnung“ und der „Informationsbereitstellung“. Gerade für ein Webangebot wie das Portal www.bergbau-sammlungen.de, dessen Inhalte so stark im Arbeitsleben der Menschen verankert sind und das so zentral für die Region steht, stellt sich aus meiner Sicht die Frage, ob die Kultureinrichtungen diesen Schritt gehen sollten, nicht. Das umfasst auch die in der Tagung aufgetauchte Frage: „Ob das 15. Geleucht online gestellt werden sollte oder nicht.“ (Abb. 2). Selbstverständlich sollte das der Fall sein! Denn im Gegensatz zu Printkatalogen bieten Online-Sammlungen die Option den gesamten Sammlungsbestand zugänglich zu machen. Hierdurch bieten sich vielfältige neue Forschungs- und Nutzungsansätze. 1 Z. B. Handreichung Recht von DigiS-Berlin. Unter: dx.doi.org/10.12752/2.0.002.3 (Stand: 29.06.2018)
Vernetzt im Netz. Wohin mit den „eigenen“ Objektdaten?
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Abb. 2: Beispielabbildung „Geleucht“ auf www.bergbau-sammlungen.de
Dass ein Interesse zum Beispiel am Deutschen Bergbaumuseum besteht, zeigt etwa ein kurzer Blick auf www.flickr.com. Auf dieser social-media Plattform haben User 2 409 Bilder eingestellt; über 12 000 Facebook-User haben die Seite des DBM abonniert. Das Interesse ist folglich vorhanden und auf ihm kann aufgebaut werden. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Funktionen ein Angebot besitzen muss, um das Informationsbedürfnis sowohl des wissenschaftlichen Nutzers wie auch der Öffentlichkeit befriedigen zu können. Hierzu ist es hilfreich sich vor Augen zu führen, dass im Internet jede(r) Teil des Publikums ist. Idealerweise stellt die Webseite eines Museums mehr als nur formale Informationen über Ort und Öffnungszeiten des Museums zur Verfügung. Ein Angebot wie www.bergbau-sammlungen.de bietet tiefergehende Informationen über das Thema Bergbau, es ist so aufbereitet, dass es sowohl von Experten als auch von 10jährigen Schülern und Schülerinnen für die Hausarbeit über den Bergbau in Bochum und der Region genutzt werden kann. Ebenso bietet es Wege und Hilfen, um das Wissen und die Erfahrungen vieler ehrenamtlicher Mitarbeiter in die Erschließungs- und Verzeichnungsarbeit der lokalen Sammlungen einzubringen und so zusätzlich dazu beizutragen, die Bestände der wissenschaftlichen Erforschung des materiellen Erbes des deutschen Steinkohlenbergbaus zugänglich zu machen. Ein Angebot wie www.bergbau-sammlungen.de muss also in der Lage sein, für ein möglichst breites Publikum interessante Informationen zu bieten. Zu beachten sind dabei eine Vielzahl von Aspekten, hier nur einige davon: Verwendung ästhetischer Fotografien, Vermeidung von Abkürzungen in den Texten, Verwendung ganzer Sätze in den Beschreibungen, Schaffung von Eindeutigkeit
218 Frank von Hagel
in den Orts-, Personen- und Schlagwortangaben und Klarheit bei den Angaben zur weiteren Verwendung der Daten. Auch wenn wir in der Regel immer noch zunächst an den Menschen als Nutzer und Nutzerin eines Webangebots denken, es gibt eine weitere Zielgruppe: Auch (Such-)Maschinen sind Ihr Publikum. Wie sollen die menschlichen User von diesem Angebot erfahren? Google ist mit einem Marktanteil von 85,78% bei PCs und 98,39% bei Mobilgeräten auch 2017 die wichtigste Suchmaschine in Deutschland. Der primäre Zugang zu den Seiten erfolgt über die Suche in dieser Suchmaschine. Eine Webseite, die erfolgreich sein und viele Menschen ansprechen will, muss somit maschinenfreundlich und suchmaschinenoptimiert sein und dafür Sorge tragen, dass man möglichst früh auf der entsprechenden Suchergebnisseite auftaucht: Wer schaut schon auf Seite 9? Dazu ist es notwendig, die Suchmaschinen mit „Futter“ zu versorgen, d. h. Beschreibungstexte bereitzustellen. Eine Suchmaschine braucht etwas zum Durchsuchen und reagiert auf Schlagwörter. Die Suchmaschinen können Bezüge unter den Objekten herstellen und Übersichtsseiten erzeugen, wenn Schlagwörter, Personennamen und Ortsnamen eindeutig sind und im Quelltext für Suchmaschinen optimiert, also unsichtbar für den Menschen, auf so viel normiertes Vokabular wie möglich verwiesen wird. So wird zum Beispiel der Begriff „Geleucht“ definiert, indem auf die URL der Gemeinsamen Normdatei (GND)2 und auf den entsprechenden Wikipedia-Artikel3 verwiesen wird. Georeferenzieren ist mit den URLs der diversen Geosysteme möglich. Also nicht nur der Begriff „Bochum“, auch die URLs4 und ein Eintrag in einem Vokabular5 sollten im Quelltext oder in den Daten hinterlegt sein. Zu prüfen ist auch, ob die Objektdaten in einem eigenen Bereich zur weiteren Nutzung durch andere Datenbanken bereitgestellt werden können. Dabei ist das Standardformat LIDO6 zur Beschreibung der Museumsobjektdaten zu verwenden. Ebenfalls ist LIDO nutzbar, um selber Daten aktiv anderen Portalen zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel der Deutschen Digitalen Bibliothek7, der Europeana8 oder museum-digital.9 Zudem sollten die Nutzungsbedingungen für die Datei des Objektdatensatzes (record) und die digitale(n) Repräsentation(en) des Museumsobjektes (resource) geklärt werden. LIDO bietet differenzierte Mög-
2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. unter: d-nb.info/gnd/4138712-0 (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: wikipedia.org/wiki/Geleucht (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: www.geonames.org/2947416/bochum.html (Stand: 29.06.2018). Vgl. The Getty Vocabularies. Unter: vocab.getty.edu/tgn/7004904 (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: lido-schema.org (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: www.deutsche-digitale-bibliothek.de (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: www.europeana.eu (Stand: 29.06.2018). Vgl. unter: www.museum-digital.de (Stand: 29.06.2018).
Vernetzt im Netz. Wohin mit den „eigenen“ Objektdaten?
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lichkeiten, dem Benutzer und der Benutzerin eindeutig mitzuteilen, wozu die Daten verwendet werden können. Die Verwendung von Standards und die Schaffung von Eindeutigkeiten in den Daten verbessert auch das lokale Dokumentationssystem. Denn es hilft Dubletten und Schreibfehler sowie fehlerhafte Zuweisungen zu vermeiden und maschinelle Verfahren zur Auswertung der Daten einzusetzen. Gleichzeitig macht die Nutzung kontrollierter und online verfügbarer Vokabulare es Nutzern jeglicher Art leichter, sich zu vernetzen. Darüber hinaus wird für das Webangebot eine gute Grundlage geschaffen, um das eigene Angebot mit anderen Diensten und Funktionen zu erweitern. Nur wenn über die Geokoordinaten der verwendeten Orte verfügt wird, kann externes Kartenmaterial eingeblendet werden; nur wenn über eindeutige Verweise auf Personen verfügt wird, können externe Informationen und Artikel eingebunden werden und nur wenn eindeutige Verweise auf Sachbegriffe und deren hierarchische Einordnung genutzt werden, ist eine Suche über Hierarchien möglich (Abb. 3).
Abb. 3: Suchergebnis Geleucht auf www. museum-digital de. Oben Hierarchie und Normdatenverweise des Suchbegriffs
Die Bereitstellung des kulturellen Erbes in digitaler Form bietet vielfältige Chancen der Vermittlung. Sie ist eine zeitgemäße Möglichkeit, sowohl Experten als auch Laien mit Informationen zu versehen. Die hierfür notwendigen Schritte haben wegen der Schaffung von Eindeutigkeiten durch Normierung und Bereitstellung von Definitionen zudem eine direkte positive Wirkung auf die Dokumentation der Objekte für die Zwecke des Sammlungsmanagements. Dies gilt noch umso mehr dann, wenn es sich bei den zu bewahrenden Gütern um Gewerke und Traditionen handelt, die in Vergessenheit zu geraten drohen, weil sie nicht mehr aktiv gepflegt und gelebt werden.
220 Frank von Hagel
Aus diesem Blickwinkel bildet www.bergbau-sammlungen.de einen wichtigen Baustein in der Bewahrung des Bergbau-Erbes. Dass auf dieser Plattform so viele große und kleine Einrichtungen zusammenarbeiten, zeigt die Bedeutung des Bergbaus für die Region, und dass nach wie vor Wissen, Erfahrung und lebendige Erinnerung vorhanden sind. Dies gilt es zu dokumentieren, festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. Vielleicht gelingt es auf dem Wege der digitalen Zugänglichmachung auch, neue Impulse, neues Wissen und neue Interessenten für dieses Thema zu gewinnen und somit durch die Beteiligung möglichst Vieler das Bergbau-Erbe vor dem Vergessen zu bewahren.
Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
www.bergbau-sammlungen.de – Stand und Perspektiven des Sammlungs- und Informationsportals für das materielle Kulturerbe des deutschen Steinkohlenbergbaus „Warum muss ein Walzenschrämlader ins Netz?“ „Warum muss ein Walzenschrämlader ins Netz?“– diese und weitere Fragen wurden im Rahmen der Tagung „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum: Vernetzung, Digitalisierung, Forschung“ nicht nur auf dem Podium diskutiert. Anlass und Bezugspunkt hierfür war die im Projekt „Getrenntes Bewahren – Gemeinsame Verantwortung. Aufbau eines Informationszentrums für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus unter Berücksichtigung der Strategie ‚Sammeln im Verbund‘“ („GBGV“) entwickelte Website, die am 16. November 2017 im Kontext der Tagung gelauncht und im Rahmen eines Podiumsgesprächs der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (Abb. 1 und 2). Den Launch begleitete zudem eine Anzeigenkampagne. Es liegt in der Natur des Mediums Internet, dass solch eine Website alles andere als statisch ist. Das gilt auch für die Website www.bergbausammlungen.de, die ständig inhaltlich erweitert und auf Basis der aus Redaktionsarbeit, Nutzerverhalten und statistischen Auswertungen gewonnenen Erkenntnissen weiterentwickelt wird. Angesichts dieser inhärenten Dynamik lag es nahe, hier nicht einfach nur die seinerzeit erfolgte Vorstellung des Webportals wiederzugeben, sondern die Chance zu nutzen, die Entwicklungen und Erfahrungen aus dem ersten Jahr Echtbetrieb vom November 2017 bis zum Dezember 2018 sowie den Stand der Überlegungen zur Weiterentwicklung von www.bergbausammlungen.de im Rahmen des ebenfalls von der RAG-Stiftung geförderten Folgeprojekts „montan.dok 21. Überlieferungsbildung, Beratungskompetenz und zentrale Serviceeinrichtung für das deutsche Bergbauerbe“ („montan.dok 21“) in diese Tagungsdokumentation zu integrieren. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Website im Frühjahr 2019. Zwischenzeitlich wurde der hier beschriebene Relaunch erfolgreich durchgeführt, so dass sich ihr Erscheinungsbild geändert hat.
https://doi.org/10.1515/9783110683097-014
222 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
Abb. 1: Gäste der Podiumsdiskussion am 16. November 2017 zum „Bergbauerbe 2.0 – oder: Warum muss ein Walzenschrämlader ins Netz?“ (v.l.n.r.: Prof. Dr. Dr. Franz Josef Brüggemeier, Bärbel Bergerhoff-Wodopia und Dr. Michael Farrenkopf)
Abb. 2: Anzeigenkampagne für die Tagung „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum: Vernetzung, Digitalisierung, Forschung“
www.bergbau-sammlungen.de
223
Strategische Ziele, Genese, Entwicklung und Struktur des Webportals sind bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden.1 Zum besseren Verständnis sollen einige grundlegende Ausführungen hierzu gleichwohl noch einmal zumindest kurz skizziert werden. Als das Projekt „GBGV“ im Jahr 2014 startete, wurden von Beginn an die Möglichkeiten einer Online-Präsenz in die Überlegungen zur bestmöglichen Präsentation und Verbreitung der Projektergebnisse innerhalb eines vernetzten und sich dynamisch entwickelnden Umfelds digitaler Kulturportale einbezogen. Ausgehend von den strategischen Projektzielen sollte ein Webportal die Plattform sein, um die projektbezogenen Ergebnisse, Daten und Dokumentationen der Fach-Community ebenso leicht zugänglich zu machen, wie einer breiteren Öffentlichkeit. Ziel war es, die Inhalte dadurch innerhalb eines bergbaubezogenen Netzwerks aufzubereiten, weiterzuentwickeln und zu diskutieren. Das galt nicht zuletzt für die im Projekt systematisch erhobenen Informationen zu den bislang weniger bekannten Bergbausammlungen, die eine bessere Sichtbarkeit erlangen sollten. Vor allem aber sollte ein Gesamtüberblick über die Bergbausammlungen in Deutschland erstmals die Wahrnehmung einer „Gemeinsamen Verantwortung“ durch eine abgestimmte Bewahrung, Dokumentation und Zugänglichmachung bei einem weiterhin dezentralen „Getrennten Bewahren“ des materiellen Erbes des deutschen Steinkohlenbergbaus ermöglichen. Mit www.bergbau-sammlungen.de sollte ein integraler Bestandteil und ein Nukleus des angestrebten Informationszentrums für das materielle Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus entstehen. Ausgangspunkt der konzeptionellen Überlegungen war die Analyse der bestehenden Kulturportale und Online-Nachweissysteme in Deutschland und die Frage, wie www.bergbau-sammlungen.de in diese vielfältige und zuweilen schwer überschaubare Landschaft funktional zu verorten und sinnvoll zu integrieren sei. Ein wesentlicher Bezugspunkt war die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), deren Etablierung einen grundlegenden Entwicklungssprung mit sich brachte. Als zentrales Portal für Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht sie den integrierten Zugriff auf Museums-, Archiv- und Bibliotheksbestände und fungiert als nationaler Aggregator
1 Siehe mit weiteren Literaturhinweisen Przigoda, Stefan/Razum, Matthias: Das Portal für das Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus – Ein Beitrag zur digitalen Vernetzung der Bergbausammlungen, in: Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (im Erscheinen). Der dort vorliegende Beitrag ist die erweiterte Fassung des auf der Tagung „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum: Vernetzung, Digitalisierung, Forschung“ gehaltenen Vortrags „Ein Webportal für das materielle Kulturerbe des Steinkohlenbergbaus – Die Entwicklung von www.bergbau-sammlungen.de“
224 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
für die Europeana. Bislang sind hier vorrangig die Bestände von Bibliotheken und Archiven nachgewiesen. Die Museen folgen (noch) mit weitem Abstand. Dieser Umstand verweist zugleich auf den heterogenen und gerade in kleineren, oft auf Vereinsbasis betreuten Sammlungen häufig defizitären Stand der Dokumentation, der sich wiederum in den sammlungsbezogenen Online-Angeboten niederschlägt. Hinzu kommt die bislang wenig einheitliche inhaltliche Dokumentation und Verschlagwortung, die eine systematische übergreifende Suche erschwert. Verbünde wie museum-digital oder digiCULT, die sich vorrangig an kleinere Museen und Sammlungen wenden, stehen neben den Websites vorrangig der großen Häuser, die oft ihre eigenen Wege gehen. So betreibt auch das montan.dok mit www.montandok.de seit 2006 eine eigene Online-Datenbank, die einen integrierten Zugriff auf die Bestände von Musealen Sammlungen, Bergbau-Archiv Bochum sowie Bibliothek und Fotothek bietet.2 Überlegungen zum Aufbau eines deutschlandweiten Portals für museale Sammlungen haben sich bislang nicht konkretisiert. Bislang füllt allein die DDB diese Lücke zumindest ansatzweise aus, wobei der Aufbau eines speziellen Museumsportals als ergänzendes Produkt zwar kein prioritäres, aber doch ein strategisches Ziel für den Ausbau der DDB bis zum Jahr 2020 ist.3 Die Zahl der datenliefernden Institutionen und der Objektnachweise aus dem Museumsbereich in der DDB ist zwischen November 2015 und August 2017 sprunghaft und im Vergleich mit den anderen Sparten überproportional stark angewachsen. Danach hat sich der Anstieg allerdings deutlich verlangsamt. Anfang Februar 2019 machten die Objektnachweise aus Museen gerade einmal 4,3 % aller Nachweise in der DDB aus. Die in den Museen oft jahrzehntelang aufgestauten Dokumentationsrückstände werden wohl nur langsam aufgeholt werden können. Dabei scheint die Strategie der über Internetportale organisierten und sich von unten nach oben aufbauenden Museumsnetzwerke in Kombination mit dem intensivierten Engagement der Wissenschaftsförderung ein perspektivisch erfolgversprechender Ansatz (Tab. 1).
2 Siehe unter: www.montandok.de (Stand: 07.03.2019) sowie exemplarisch die Online-Angebote des Deutschen Historischen Museums Berlin (unter: https://dhm.de/datenbank/dhm (Stand: 07.03.2019)) oder des Deutschen Hygiene Museums Dresden unter: https://www. dhmd.de/sammlung-forschung/sammlung-online/ (Stand: 07.03.2019). 3 Siehe Deutsche Digitale Bibliothek: Strategieplan 2015–2020. Unter: https://pro.deutsche-digitale-bibliothek.de/downloads/public/ddb_strategieplan-2015-2020.pdf (Stand: 07.03.2019), hier: S. 8 f. und 19.
www.bergbau-sammlungen.de
225
Tab. 1: Einrichtungen und Nachweise in der DDB 2015–2019 Datenliefernde Institutionen 12.11.2015
Objektnachweise
02.08.2017 01.02.2019
Archiv
83
133
143
Bibliothek
23
34
36
Denkmalpflege Forschung Mediathek Museum Sonstige Summe
12.11.2015 02.08.2017 01.02.2019 11 023 793 12 924 257 13 978 073 4 872 344
6 766 506
7 111 078
4
5
5
56 562
71 673
73 378
28
49
47
620 979
654 255
654 329
8
14
14
1 276 157
1 288 812
1 289 897
93
159
166
264 449
1 042 980
1 049 162
1 496
1 528
1 528
7
9
8
246
403
419
18 115 780 22 750 011 24 157 445
Aus den hier grob skizzierten Rahmenbedingungen und den strategischen Projektzielen wurden die Konzeption und Funktionalitäten des Webportals abgeleitet, mit denen www.bergbau-sammlungen.de zum zentralen fachbezogenen Einstiegs- und Knotenpunkt für das mobile Erbe des deutschen Steinkohlenbergbaus in einem dezentralen Netz thematisch relevanter Online-Ressourcen entwickelt werden sollte. Für die weitere Ausgestaltung und vor allem für die technische Realisierung konnte das FIZ Karlsruhe – Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur gewonnen werden, ein kompetenter und in mehrfacher Hinsicht auch langfristig strategisch interessanter Partner. In der ersten Ausbaustufe des Webportals standen zwei zentrale Funktionen im Fokus: Zum einen sollte ein erster Überblick über die in Deutschland vorhandenen Sammlungen zum Steinkohlenbergbau gegeben sowie diese durchsuchbar und vor allem vernetzt mit anderen Online-Ressourcen zugänglich gemacht werden. Hierfür sind die Bergbausammlungen mit Grundinformationen zu den Einrichtungen sowie ihren Beständen in Textform und vor allem auch systematisch strukturiert beschrieben worden. Basis hierfür war eine flache Grobsystematik mit 27 Objektgruppen, die im Kontext der Arbeiten an einer bergbaubezogenen Sammlungssystematik und eines Objektnamenthesaurus innerhalb des Projektes „GBGV“ entwickelt worden ist. Sie erlaubt eine einheitlich strukturierte Beschreibung der Sammlungen mit ihren Schwerpunkten, ermöglicht thematische Recherchen und insbesondere auch eine Vernetzung mit anderen Online-Angeboten. Über eine spezielle Rechercheschnittstelle ist aus dem Webportal heraus eine Suche nach einschlägigen Objektnachweisen in der DDB, anderen Museumsportalen sowie natürlich auch in der Online-Datenbank des montan.dok möglich. Wichtig ist der Hinweis, dass sich diese Erfassung zunächst nur auf eine übergeordnete Ebene bezieht. Die Bereitstellung von Informationen zu ein-
226 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
zelnen Objekten war und ist bis auf weiteres nicht vorgesehen, wäre aber in technischer Hinsicht perspektivisch möglich. Zum anderen sollten über die Website Informationen zum und Ergebnisse aus dem Projekt sowie thematisch relevante Neuigkeiten publiziert und so einer interessierten Öffentlichkeit schnell und aktuell verfügbar gemacht werden. Ziel dieser Maßnahmen war unter anderem die im Antrag zu „montan.dok 21“ hinterlegte Sichtbarmachung der im Projekt enthaltenen Bausteine Sammlungs- und Objektforschung sowie der umfassenden Dokumentations- und Erschließungsmaßnahmen. Der zweite Aspekt hat im Prozess und während der Arbeit an und mit der Website immer mehr an Relevanz gewonnen, so dass sowohl in der redaktionellen Arbeit als auch in der inhaltlichen Konzeption der Seite Veränderungsprozesse angestoßen wurden.
Suchen und Finden – Bergbausammlungen und Objekte Der Einstieg in die Recherche nach und in den Bergbausammlungen sowie nach bestimmten Objektgruppen ist bereits auf der Startseite mehrfach platziert. Neben der „Suche“ im Header-Menü und dem „Suche“-Button an prominenter Stelle im Contentbereich – das ist der mittlere Hauptteil einer Website, wo meist der Inhalt platziert wird – dienen hierfür zwei zentral platzierte Bildleisten, die eine zweifache, d. h. eine objekt- und eine sammlungsbezogene, vereinfachte Suche ermöglichen (Abb. 3).
www.bergbau-sammlungen.de
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Abb. 3: Einstiegsseite von www.bergbausammlungen.de (Stand bis März 2020)
Über die Bildleiste „Sammlungen“ kann man eher intuitiv auf die Informationsseiten ausgewählter Einrichtungen gelangen (Abb. 4). Hier informiert ein Text über deren Geschichte und Funktion sowie natürlich über die dort befindliche Bergbausammlung. Weiterhin werden Kontaktdaten, Träger und weiterführende Literaturhinweise genannt sowie – wo vorhanden – auf die Homepage der jeweiligen Einrichtung verlinkt. Zur schnellen Orientierung ist die Lage der Einrichtung in einer Karte markiert. Die Karte ist via Applikation von Google Maps eingebunden und verfügt über die üblichen Funktionen. Sofern die Einrichtung Objekte in einem eigenen oder aber in einem der Verbundsysteme online nachweist, können diese über einen „Objekt-Link“ einfach im Zielsystem recherchiert und angezeigt werden. Auf der rechten Bildschirmseite sind in einer Sidebar, absteigend nach Bedeutung für die jeweilige Einrichtung, die Objektgruppen in dieser Sammlung aufgelistet, wobei für „Bergfremde“ jede Objektgruppe kurz erläutert wird.
228 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
Abb. 4: Informationsseite des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge (Stand bis März 2020)
Von hier aus ist eine direkte Navigation auf die Erläuterungsseite zu der betreffenden Objektgruppe, wie z. B. den Gewinnungsmaschinen, und von dort wiederum dann eine weitere, objektbezogene Recherche möglich (Abb. 5). Auch über die Startseite ist über die Bildleiste „Objektgruppen“ ein direkter Einstieg in die objektbezogene Suche möglich. Zentral ist hierbei die Möglichkeit, objektgruppen-spezifische Suchanfragen an andere Online-Ressourcen, wie z. B. der DDB oder der Online-Datenbank des montan.dok, auszulösen. Die entsprechenden Objektnachweise werden dann in einem neuen Fenster direkt im Zielsystem angezeigt.
www.bergbau-sammlungen.de
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Abb. 5: Seite zur Objektgruppe „Gewinnungsmaschinen“ (Stand bis März 2020)
Neben diesem eher intuitiven Zugang zu den Inhalten des Webportals bietet die „Suche“ verschiedene Möglichkeiten einer sammlungsübergreifenden Recherche über alle auf der Seite aufgenommenen Bergbausammlungen (Abb. 6). Neben einer textbasierten Suche in allen Sammlungsbeschreibungen ermöglicht vorrangig die facettierte Recherche einen systematischen Zugriff auf bestimmte Museumstypen, Objektgruppen oder dem geographischen Sitz der Sammlungen in einem Bundesland oder einer Stadt. Zunächst wird im Contentbereich eine Liste mit allen 91 Bergbausammlungen mit Foto und den ersten Zeilen des Beschreibungstextes angezeigt, über die man gezielt einzelne Unterseiten ansteuern kann. Eine sammlungsübergreifende Recherche ist vorrangig mittels beliebig kombinierbarer Filter bzw. Facetten möglich, die auf der rechten Bildschirmseite in der Sidebar aufgelistet sind. Durch Auswahl der betreffenden Kategorien werden z. B. alle Sammlungen mit einem „Anschauungs- und Besucherbergwerk“ oder aber mit Objekten zum „Abteufen und Schachtausbau“ angezeigt. Diese Filter sind beliebig kombinierbar. So kann man sich z. B. alle elf Bergbausammlungen im Saarland anzeigen lassen und diese Treffermenge dann durch Auswahl einer oder auch mehrerer Objektgruppen weiter verfeinern, etwa auf die vier Sammlungen im Saarland mit Objekten zur Ausbautechnik.
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Abb. 6: Systematische Suche nach Sammlungen (Stand bis März 2020)
Neben dem Textmodus kann auch auf eine kartenbasierte Darstellung mit weiteren geographischen Suchmöglichkeiten umgeschaltet werden. Die genannten Funktionalitäten der Text- und der facettierten Suche stehen auch hier weiterhin zur Verfügung. Von der Trefferanzeige im Kartenbild kann man durch einen Klick auf die Sammlungsseite navigieren. Auf diese Weise erhält man einen Überblick über die geographische Verteilung aller oder auch nur ausgesuchter Einrichtungen (Abb. 7).
Abb. 7: Bergbausammlungen im Saarland mit Objekten zur Ausbautechnik in der Kartenübersicht (Stand bis März 2020)
www.bergbau-sammlungen.de
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Mehr als ein Sammlungsportal – Die Zusatzangebote von www.bergbau-sammlungen.de Neben der Sammlungs- und Objektrecherche in den beteiligten Bergbausammlungen verfolgt die Website auch das Ziel, Informationen und Ergebnisse aus den Forschungs- und Infrastrukturprojekten „GBGV“ und „montan.dok 21“ sowie aus der projektbezogenen Arbeit mit den eigenen Beständen bereitzustellen. Im Wesentlichen geschieht dies bislang über die Menüpunkte „Über uns“, „Aus dem Projekt“ und „Aktuelles“, die über das Navigationsmenü und die Startseite zu erreichen sind. „Über uns“ vereint vornehmlich statische Informationstexte zum Projekt und über die Projektbeteiligten. Unter „Aus dem Projekt“ sind die projektbezogenen Publikationen und Vorträge aufgelistet und werden zum Teil auch zum Download angeboten. Darüber hinaus findet sich hier eine Linkliste mit Verweisen auf Online-Datenbanken und andere einschlägige Online-Ressourcen. Im Bereich „Aktuelles“ finden sich hingegen nach definierten Gesichtspunkten regelmäßig redaktionell aktualisierte Inhalte. Diese sind erst in der letzten Phase der Websitekonzeption hinzugekommen und waren nicht von vornherein intendiert. Dieser Bereich birgt – so zeigte sich im Verlauf der Arbeit mit der Website – möglicherweise auch bedingt durch die spätere Konzeption bei der weiteren Ausgestaltung das größte Optimierungs- und Veränderungspotenzial. Der Menüpunkt „Aktuelles“ und seine Inhalte verdienen daher genauere Betrachtung. In „Aktuelles“ werden in den Unterkategorien „Neuigkeiten“, „Tagungen“ und „Publikationen“ relevante Beiträge zu den Themen Bergbauerbe, Montangeschichte, Sammlungs- sowie Objektforschung oder aktuelle Entwicklungen aus den bergbaulichen Sammlungen und Museen mit dem Schwerpunkt Steinkohlenbergbau platziert. In diese Rubrik fällt auch das „Objekt des Monats“, mit der regelmäßig ein Bergbauobjekt aus den Beständen des montan.dok vorgestellt und in seiner historischen Dimension dargestellt wird. Ziel dieser Rubrik war es von Beginn an, die Ergebnisse der tagtäglichen wissenschaftlichen Dokumentation und Erforschung des materiellen Erbes des Steinkohlenbergbaus für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die Objekte sollen jeweils exemplarisch verschiedene Materialitäten, Branchen und/oder Epochen der Montangeschichte abdecken und gewähren damit einen Einblick in die Vielfalt der verschiedenen Bestände des montan.dok in Bergbau-Archiv Bochum, Bibliothek/ Fotothek und Musealen Sammlungen. Im Laufe der Erschließungsarbeiten im Rahmen von „montan.dok 21“ wurde deutlich, dass sich hier auch immer wieder Themen oder Erkenntnisse herauskristallisierten, die nicht zwingend im „Objekt des Monats“ unterzubringen waren, eine Veröffentlichung aber entweder aus
232 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
wissenschaftlicher oder aber kommunikativer Sicht durchaus Sinn machte und einen Mehrwert für das Projekt und die Website darstellte. So entstand mit dem „Fund des Monats“ eine neue Rubrik, die bislang unter „Neuigkeiten“ zu finden ist, da eine andere Verortung programmiertechnisch nicht möglich war. Beide Rubriken – Objekt und Fund – dienen als Schaufenster in die Arbeit der sammlungsbezogenen Forschungsinfrastruktur des Leibniz-Forschungsmuseums für Georessourcen. Gerade die Bereiche in „Aktuelles“ erfordern eine intensive und regelmäßige redaktionelle Bearbeitung, die in einem Redaktionsteam und in regelmäßigen Redaktionssitzungen umgesetzt wird. Das Redaktionsteam besteht aus Wissenschaftlern, Archivaren und PR-Fachleuten und ist damit ausgesprochen divers besetzt. Zudem sind – wie in einem wissenschaftlichen Projekt beinahe üblich – fast alle Redaktionsmitglieder für die Laufzeit des Projektes befristet angestellt. Ein kleinstes gemeinsames Vielfaches, das auch Ansprüchen an Wissenstransfer genügen muss, ist daher notwendig. Die Arbeit beruht auch aus diesem Grund auf gemeinsam erarbeiteten konzeptionellen Grundlagen, Redaktionsrichtlinien sowie klaren Zuständigkeiten, die dem Team als Basis dienen. Geregelt sind damit unter anderem, welche Auswahlkriterien es für die Veröffentlichung für Beiträge in Objekt, Fund, Neuigkeiten oder Publikationen gibt, welche Beschaffenheit und rechtlichen Rahmenbedingungen das verwendete Bildmaterial erfüllen muss, welche Zielgruppen und damit auch welche Sprache bzw. Tonalität die Texte haben. Festgelegt wird auch, welche Nutzung bzw. Einbindung in mögliche weitere Kommunikationskanäle angedacht sind und in welcher Taktung oder zu welchem Anlass die Texte veröffentlicht werden. In den Redaktionssitzungen wird dann festgelegt, welche Textvorschläge weiterverfolgt werden, welche Veröffentlichungsdaten sich, gerade auch mit Blick auf übergeordnete Kommunikationsstrategien, eignen und bereits bestehende Texte besprochen. Die Diversität des Redaktionsteams mit unterschiedlichen Perspektiven auf Texte und Themen bietet dabei gute Mehrwerte. www.bergbau-sammlungen.de ist damit mehr als die ursprünglich einmal geplante Sammlungsdatenbank und Plattform zur Vernetzung der bergbaulichen Sammlungen. Die Website bündelt die Ergebnisse und Neuigkeiten aus den Projekten „GBGV“ und „montan.dok 21“: Neben rein wissenschaftlichen Fakten und der digitalen Durchsuchbarkeit von materiellem Sammlungsgut gehört zum aktuellen Forschungsprojekt „montan.dok 21“ damit auch verstärkt das Feld der Wissenschaftskommunikation, indem Projektergebnisse und Erkenntnisse aus der täglichen Arbeit in eine größere Öffentlichkeit transferiert werden. Aus diesem Grund wird die redaktionelle Arbeit an und mit der Website www.bergbau-sammlungen.de durch die Stabsstelle Presse & Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bergbau-Museums Bochum begleitet und ist in deren über-
www.bergbau-sammlungen.de
233
geordnete Kommunikationsstrategie für das gesamte Museum eingebunden. Beispielsweise werden die Beiträge aus „Objekt des Monats“ und „Fund des Monats“ über die Social-Media-Kanäle des Museums verbreitet (Abb. 8 und 9). Sie erfahren damit durch eine größere Reichweite und eine breiter aufgestellte Zielgruppe der Museums-Kanäle eine höhere Aufmerksamkeit. Auch die crossmediale Nutzung und Einbindung in den monatlich erscheinenden digitalen Newsletter des Deutschen Bergbau-Museums Bochum oder in die zweimal jährlich in Printform und digital erscheinenden montan.dok-news sorgen für eine gezielte Verbreitung der Angebote.4 Von den so entstehenden Synergieeffekten und der Steigerung von Reichweite und Bekanntheit können sowohl die Website als auch die übergeordnete strategische Kommunikationsarbeit für ein Leibniz-Forschungsmuseum nur profitieren.
Abb. 8: Ein „Fund des Monats“ auf der Facebookseite des Deutschen Bergbau-Museums Bochum
4 Siehe exemplarisch Büsch, Wiebke: Perspektiven des Bergbauerbes im Museum, in: montan.dok-news 3, 2017, H. 2, S. 2 und dies.: Objektforschung im montan.dok, in: montan.dok-news 3. 2017, H. 2, S. 3.
234 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
Abb. 9: Ein „Objekt des Monats“ auf www.bergbau-sammlungen.de (Stand bis März 2020)
Benutzung und Nutzerverhalten Welchen Zuspruch erfuhr www.bergbau-sammlungen.de seit der Freischaltung? Wie entwickelten sich Zugriffszahlen, Verweildauer und Benutzerinteressen, wie sind die Benutzer auf die Website gestoßen? Für die datenschutzkonforme Auswertung der Nutzung wird die Open-Source-Anwendung Matomo (vormals Piwik) eingesetzt, die differenzierte Daten über Zugriffe und Seitenabrufe, Verweildauer und Herkunft der Nutzer und anderes mehr liefert. Verhalten und Erwartungen der Website-Nutzer sind natürlich eine wichtige Orientierung für die vorgesehene Weiterentwicklung von www.bergbau-sammlungen.de. Allerdings kann solch eine vorrangig statistisch-technische Auswertung des Nutzerverhaltens nur einen Teil der für die Fortentwicklung interessanten Fragestellungen beantworten. Im Projekt „montan.dok 21“ war daher von vornherein die Evaluierung der Website nach einer gewissen Laufzeit vorgesehen, die u. a. Anfang 2019 in Form einer Online-Umfrage erfolgt. Ziel der Umfrage ist es, die Funktio-
www.bergbau-sammlungen.de
235
nalitäten, Struktur und Inhalte der Website durch die Benutzer bewerten zu lassen sowie deren Erwartungen und Ansprüche an die Sammlungs- und Objektsuche noch besser kennenzulernen. Dabei wird dann vor allem auch nach Desiderata und weitergehenden Erwartungen an einen Relaunch von www.bergbausammlungen.de gefragt werden.5 Wenngleich man auf die Ergebnisse dieser Online-Umfrage gespannt sein darf, muss sich das Folgende zunächst auf eine eingehendere Betrachtung der Zugriffsdaten beschränken. Als Auswertungszeitraum wurden die Monate Dezember 2017 bis einschließlich Dezember 2018 gewählt, auch, um ein Jahr Laufzeit der Website berücksichtigen zu können. Für den vorhergehenden Zeitraum schienen die Werte aufgrund der öffentlichkeitswirksamen Freischaltung am 16. November 2017 im Rahmen der Tagung „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum“ verzerrt. Wenngleich die Zahlen in Tabelle 2 aufgrund zeitweiser technischer Probleme beim Zugriff auf Matomo mit Vorsicht zu interpretieren sind, so lassen sie doch zumindest in der Tendenz valide Aussagen zum Nutzerverhalten und dessen Entwicklung zu.6 Demnach wurde die Website in den ersten sieben Monaten nach ihrer Freischaltung bis zum Juni 2018 (ohne April 2018) durchschnittlich 567 Mal pro Monat besucht, wobei die Zahl der Zugriffe nach einem ersten Höhepunkt im Dezember 2017, der offensichtlich noch auf die öffentlichkeitswirksame Freischaltung zurückzuführen ist, bis zum Juni 2018 meist um die 500 schwankte. In den Anfangsmonaten wurde die Website mit Maßnahmen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie einer Anzeigenkampagne in relevanten Medien platziert, so dass die höheren Nutzerzahlen von www.bergbau-sammlungen.de in den Monaten der Einführung sicherlich von diesen Maßnahmen profitieren. Ab August 2018 stiegen die Besucherzahlen dann erkennbar auf konstant mehr als 600 bis knapp 900 pro Monat an – was auch auf gute Reichweiten und Interaktionszahlen über die via Social Media geteilten Beiträge zu Objekt bzw. Fund des Monats zurückzuführen ist. Dieser Anstieg ging allerdings zeitgleich mit einer signifikant nachlassenden Intensität der Nutzung einher, wie die zurückgehende Ver5 Die Ergebnisse der Online-Umfrage lagen bei Abfassung dieses Beitrages noch nicht vor, werden aber selbstverständlich in die Konzeptionierung der Weiterentwicklung der Website einfließen. 6 Die technischen Probleme betrafen insbesondere die Monate April 2018 und Juli 2018, was sich deutlich in den entsprechenden Werten niederschlägt. Darüber hinaus scheinen auch die Zahlen für die Monate März 2018 und Mai 2018 auffällig weit unterdurchschnittlich, wobei sich allerdings mögliche bzw. aufgrund dessen vermutete Ausfallzeiten des Servers nicht mehr nachvollziehen ließen. Gleichwohl werden die Werte auch für April und Juli 2018 aufgeführt und, sofern nicht explizit etwas anderes genannt ist, bei weiteren Berechnungen berücksichtigt.
236 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
weildauer, die sinkende Zahl von Aktionen pro Besuch sowie der steigende Prozentsatz der abgesprungenen Besucher, die die Website nach dem ersten Seitenaufruf sofort wieder verlassen, zeigen. Tab. 2: Zugriffe und Nutzungsintensität vom 01.12.2017 bis zum 31.12.2018 Monat
Anzahl Besuche
Dezember 2017
693
durchschnittliche abgesprungene Aktionen SeitenDauer (Min. : Sek.) Besucher (%) pro Besuch ansichten 03:08
53
4,2
2695
Januar 2018
516
03:11
51
4,1
1958
Februar 2018
487
05:07
48
8
3426
März 2018
245
05:05
47
7,5
1728
April 20187
68
05:31
49
5,8
356
Mai 2018
193
04:33
49
6,2
1070
Juni 2018
543
04:00
58
4,6
2219
7
Juli 2018
50
02:18
48
3,7
176
August 2018
708
02:08
64
2,9
1928
September 2018
622
01:45
67
2,6
1517
Oktober 2018
638
02:00
65
2,8
1678
November 2018
698
01:20
68
2,4
1538
Dezember 2018
892
01:07
72
2,2
1813
Summen Mittelwerte
6353
-
-
-
22 102
-
02:40
61
3,8
-
Ganz ähnliche Tendenzen sind bei den wiederkehrenden Besuchern zu beobachten, die die Website im Auswertungszeitraum mehr als nur einmal besucht haben. Mit 18,5 % machen sie einen für die doch sehr fachspezifischen Inhalte der Website recht zufriedenstellenden Anteil aller Besuche im Auswertungszeitraum aus. Allerdings ist die absolute Zahl der Besuche gerade in dieser Gruppe und entgegen dem allgemeinen Trend insgesamt rückläufig. Das scheint bedenklich, dürfte es sich bei dieser Gruppe doch vorrangig um thematisch interessierte Besucher handeln. Vermutlich haben sie sich in den ersten Monaten nach der Freischaltung zunächst einen Überblick über das Angebot verschafft und dann gezielter auf spezielle Angebote zugegriffen. Allerdings scheinen sie nun bei ihren wiederholten Besuchen immer weniger etwas für sie Interessantes oder Neues zu entdecken. Gerade in dieser Gruppe lag die Nutzungsintensität bis Oktober 2018 deutlich über dem der Gesamtheit, um dann erst mit einer ge7 Monat mit nachweislichen Zugriffsproblemen auf Matomo.
www.bergbau-sammlungen.de
237
wissen Verzögerung im November/Dezember 2018 überproportional zurückzugehen. Möglicherweise spielt hier auch die Vielzahl, um nicht zu sagen die Flut an Veranstaltungen, Medienberichten und anderen Angeboten zum Auslaufen des aktiven Steinkohlenbergbaus in den letzten Monaten des Jahres 2018 eine Rolle. Tab. 3: Wiederkehrende Besucher vom 01.12.2017 bis zum 31.12.2018 Anzahl Besuche durchschnittliche abgesprungene Aktionen pro Dauer (Min. : Sek.) Besucher (%) Besuch Dezember 2017
195
04:27
46
4,7
Januar 2018
145
03:11
55
3,9
Februar 2018
139
08:20
36
11
März 2018
114
06:56
40
8,7
April 20188
43
05:52
51
5,5
Mai 2018
86
06:49
37
8,2
Juni 2018
94
04:25
62
5,5
Juli 20188
8
03:16
63
7,4
August 2018
88
04:05
51
3,9
September 2018
78
03:16
46
4,2
Oktober 2018
61
04:15
46
4,6
November 2018
65
00:55
68
2,3
Dezember 2018 Summen Mittelwerte
58
00:56
69
2,2
1174
-
-
-
-
04:21
51,5
5,5
Ein weiterer Erklärungsansatz für diese Befunde ergibt sich aus der näheren Betrachtung der verschiedenen Wege, über die die Besucher auf www.bergbausammlungen.de gelangt sind. Überragende Bedeutung hat mit 3343 Zugriffen und damit mit weit über 50 % aller Besuche der Zugang über eine von insgesamt 15 verschiedenen Suchmaschinen, wobei kaum überraschend Google mit weitem Abstand an erster Stelle liegt. Die anderen Suchmaschinen spielen lediglich eine marginale Rolle. Mehr als ein Drittel (2308) aller Besucher griff direkt und damit wohl gezielt auf die Website zu, was nicht zuletzt ein Erfolg der intensiven und keineswegs nur auf digitale Medien beschränkten Bewerbung sein dürfte. 11 % bzw. 702 Besucher gelangten schließlich über andere, insgesamt 60 verschiedene Websites auf www.bergbau-sammlungen.de. Allen voran ist hier 8 Monat mit nachweislichen Zugriffsproblemen auf Matomo.
238 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
Facebook zu nennen, über das alleine 488 und damit 7,7 % aller Besucher auf die Website kamen. Dieser Zugang verwundert nicht, da die Objekt bzw. Fund des Monats-Beiträge regelmäßig auch auf der Facebookseite des Deutschen Bergbau-Museums Bochum mit einem Direktlink eingebunden werden. Tab. 4: Zugänge zur Website (Verweistypen) vom 01.12.2017 bis zum 31.12.2018 Zugang über
Anzahl Besuche
Aktionen
verbrachte Gesamtzeit in Minuten
Absprünge
Suchmaschinen
3343
7284
3983
2306
Direkte Zugriffe
2308
14879
11 878
1071
702
2038
1034
467
6353
24 201
16 895
3844
Externe Websites Summen
Bemerkenswert sind die nach Zugangstyp unterschiedlichen Nutzungsintensitäten, woraus sich wiederum Rückschlüsse auf unterschiedliche Nutzertypen ableiten lassen. Vor allem diejenigen Besucher, die direkt auf die Website zugriffen, beschäftigten sich überdurchschnittlich intensiv und ausdauernd mit deren Inhalten. Im Vergleich zu ihrem Anteil an allen Besuchen entfallen auf diese Gruppe die weitaus größten Anteile aller Aktionen und der gesamten Nutzungszeit. Vermutlich handelt es sich hierbei meist um Menschen mit einem allgemeineren Interesse am Bergbau, seiner Geschichte und seiner materiellen Überlieferung, die die Angebote durchstöbern und auch überdurchschnittlich lange auf der Website verweilen. Repräsentativ für diesen Typus scheint zum Beispiel ein Besucher, der die Website an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mehrfach besuchte und im Verlauf von insgesamt über einer Stunde verschiedene Bergbausammlungen recherchierte. Im Kontrast dazu liegen die entsprechenden Werte für die Zugriffe über eine Suchmaschine sehr deutlich unter dem Anteil an allen Besuchen. Diese Besucher suchen offenkundig nach spezifischen Informationen, werden über die Suchmaschine auf www.bergbau-sammlungen.de geführt, verlassen die Website zumeist aber sofort wieder. Ein typisch erscheinendes Beispiel ist ein 17 Sekunden dauernder Besuch, der aus Google heraus direkt auf eine Sammlungsbeschreibung zugriff, dort die Mailadresse des Ansprechpartners anklickte und dann die Website wieder verließ. Diese Gruppe ist hinsichtlich ihrer Erwartungen und Interessenlagen schwer einzuschätzen, dürfte aber ungleich heterogener als die erste Gruppe zusammengesetzt sein. Eine Mittelstellung nehmen die Besucher ein, die über eine externe Website bzw. Facebook auf www.bergbausammlungen.de aufmerksam werden. In der Regel ist die Verlinkung dort durch redaktionelle Erläuterungen oder ein konkretes Angebot ausführlicher kontex-
www.bergbau-sammlungen.de
239
tualisiert als in der Ergebnisdarstellung einer Suchmaschine. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass eine Navigation auf die Projektwebsite mit einem höheren Maß an Vorwissen und möglicherweise auch spezifischen Erwartungen erfolgt. Betrachtet man die Entwicklung der Zugriffe über die verschiedenen Zugangstypen im Zeitverlauf, so korreliert die seit August 2018 vergleichsweise stark zunehmende Zahl der Zugriffe über eine Suchmaschine bei gleichzeitig im wesentlichen stabilerer Entwicklung der Werte für die direkten Zugriffe zeitlich mit dem oben konstatierten Rückgang der Nutzungsintensität. Tab. 5: Zugänge zur Website (Verweistypen) im Zeitverlauf vom 01.12.2017 bis zum 31.12.2018 Zugang über Suchmaschinen
direkter Zugriff
Zugang über Websites
Dezember 2017
101
319
273
693
Januar 2018
220
214
82
516
Februar 2018
218
233
36
487
99
139
7
245
März 2018 April 20189
Summen
3
64
1
68
Mai 2018
62
123
8
193
Juni 2018
298
225
20
543
Juli 20189
32
18
0
50
August 2018
428
217
63
708
September 2018
388
193
41
622
Oktober 2018
425
183
30
638
November 2018
457
186
55
698
Dezember 2018 Summen
612
194
86
892
3343
2308
702
6353
In geographischer Hinsicht richtete sich www.bergbau-sammlungen.de als Nachweis und Portal des materiellen Erbes des deutschen Steinkohlenbergbaus bislang ganz vorrangig an eine interessierte Öffentlichkeit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Tatsächlich erfolgte die weit überwiegende Zahl der Zugriffe (86,6 %) aus dem Domainraum „de“. Folgerichtig werden die Zielgruppen auf nationaler Ebene bei der Weiterentwicklung der Website im Fokus stehen. Allerdings fand die Website trotz der zwangsläufig gegebenen Sprachbarrieren auch über die nationalen Grenzen hinaus und weltweit Beachtung. Neben 9 Monat mit nachweislichen Zugriffsproblemen auf Matomo.
240 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
den Vereinigten Staaten sind hier vor allem die europäischen Nachbarländer zu nennen. In vielen dieser Staaten ging oder geht heute noch ebenfalls Steinkohlenbergbau um, und z. B. in Großbritannien, Frankreich, Polen oder Belgien bestehen Steinkohlenbergbaumuseen mit entsprechenden Sammlungen. Für den weiteren Ausbau der Website eröffnen sich hier durchaus Potenziale zur Erschließung neuer Zielgruppen. Sehr erfreulich, in strategischer Hinsicht aber von nachrangiger Relevanz, ist das Interesse sonstiger Einzelbesucher aus der ganzen Welt, so z. B. aus Südkorea und der Türkei – beides Länder, aus denen Menschen im deutschen Steinkohlenbergbau gearbeitet haben – oder auch aus Brasilien oder Dänemark. Tab. 6: Geographische Herkunft der Besucher vom 01.12.2017 bis zum 27.12.2018 Bezeichnung Deutschland
Besuche
Aktionen
verbrachte Gesamtzeit (in Minuten)
Absprünge
5400
22 173
15 241
3125
538
871
903
442
Spanien
57
385
367
15
Niederlande
38
94
58
27
Vereinigtes Königreich
32
39
2
29
unbekannt
25
40
15
20
Polen
24
68
20
12
Österreich
23
53
28
14
Schweiz
19
101
61
8
Russland
17
17
0
17
Frankreich
13
34
12
9
Italien
8
15
5
7
Belgien
6
9
3
5
Vereinigte Staaten
Tschechien
5
11
1
3
Sonstige
34
78
54
23
Summen
6239
23 988
16 770
3756
Für welche Inhalte interessierten sich die Besucher? Angesichts der teilweise heterogenen Datenlage lässt sich diese Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht ohne weiteres befriedigend im Detail und lediglich in der Tendenz beantworten. Hier darf man umso mehr auf die Ergebnisse der oben erwähnten Online-Umfrage zu den Erwartungen und Bewertungen der Benutzer im Februar 2019 gespannt sein. Geht man von den Hauptrubriken der Website auf der Startseite aus, dann fanden vor allem die fortlaufend aktualisierten Inhalte unter „Aktuelles“ den
www.bergbau-sammlungen.de
241
größten Anklang. Das galt vorrangig für die nachgeordneten Kategorien der „Neuigkeiten“ und dem „Objekt des Monats“. Nur geringfügig weniger Zuspruch als „Aktuelles“ erfuhr die „Suche“ in den Bergbausammlungen, deren Inhalte naturgemäß eine weitaus höhere Konstanz aufweisen. Hingegen standen die Informationen „Aus dem Projekt“ und „Über uns“ ungleich weniger im Fokus. Insgesamt scheinen damit, soweit sich dies im Januar 2019 anhand der vorliegenden Zahlen beurteilen lässt, die beiden zentralen Funktionen der Website, als Nachweis und Portal zu den Bergbausammlungen und ihren Beständen sowie als Informationsplattform, etwa gleichrangig genutzt worden zu sein.
Entwicklungen und Perspektiven – Die Website als Prozess Die statistische Auswertung von Nutzerverhalten, direkte Rückmeldungen sowie natürlich die Erfahrungen aus der tagtäglichen Redaktionsarbeit an und mit der Website haben gezeigt, dass eine im Projekt „montan.dok 21“ hinterlegte Evaluierung und die daraus resultierende Anpassung von Funktionalitäten sowie ein Ausbau der Website nach einer bestimmten Laufzeit von großem Nutzen sein können, ja geradezu zwangsläufig erscheinen. Wenn die prinzipielle Offenheit der Website für eine inhaltliche und funktionale Weiterentwicklung von Beginn an eine zentrale Anforderung war, dann hat das der dem Medium Internet, den projektrelevanten Prozessen und den Rahmenbedingungen insgesamt eigenen Dynamiken gleichermaßen Rechnung getragen. Die Website versteht sich als ein integraler Bestandteil des weiterhin angestrebten nationalen Kompetenzzentrums für das materielle Bergbauerbe und als eine Basis für eine bedarfs- und sachgerechte Beratung sammelnder Einrichtungen und potenzieller Förderorganisationen durch „montan.dok 21“, angesiedelt im montan.dok. Hinsichtlich der Portalfunktionen von www.bergbau-sammlungen.de als Einstiegspunkt in ein dezentrales Netz thematisch einschlägiger Sammlungsnachweise widmet sich ein erster Schwerpunkt der Aktualisierung, Verfeinerung und Erweiterung der Datenbasis zu den Bergbausammlungen sowie den Recherchefunktionalitäten. Konkret bezieht sich das zunächst auf die Einbeziehung weiterer Sammlungen zum Steinkohlenbergbau vor allem auch in den europäischen Nachbarländern. Allen voran den im Network of European Coal Mining Museums zusammengeschlossenen Einrichtungen kommt in ihren Ländern eine gewisse Leuchtturmfunktion zu. Als national führende Bergbausammlungen bzw. -museen verfügen sie über ausgedehnte Bestände. Nachdem
242 Wiebke Büsch, Stefan Przigoda
www.bergbau-sammlungen.de ja durchaus auch bei Nutzern im europäischen Ausland Anklang gefunden hat, wäre dies ein erster Schritt hin zu einem Überblick über das materielle Erbe des Steinkohlenbergbaus in Europa. Der Weg dahin wäre allerdings noch lang und hätte u. a. die bestehenden Sprachbarrieren zu überwinden. Eine perspektivisch durchaus denkbare Erweiterung auf andere Bergbaubranchen ist im Rahmen des laufenden Projekts „montan.dok 21“ allerdings nicht geplant. Ein weiteres Arbeitspaket betrifft die Evaluierung, Erweiterung und Verfeinerung der bestehenden Suchwerkzeuge innerhalb der Bergbausammlungen sowie insbesondere der Rechercheschnittstellen zu externen Online-Ressourcen. Sie werden im Kontext der Fortentwicklung von Sammlungssystematik und Objektnamenthesaurus im montan.dok sowie der Dokumentationsarbeiten in den Bergbausammlungen insgesamt zu optimieren sein. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Ausdehnung auf weitere, bislang nicht berücksichtigte Objektgruppen sowie thematisch relevante Online-Ressourcen. Diese Maßnahmen werden sich bis auf weiteres allerdings auf die Objektgruppen als einer übergeordneten Ebene der Sammlungsdokumentation beschränken müssen. Ein Ausbau des Webportals auf die dritte und sogar vierte Stufe sammlungsrelevanter Informationen – also den Nachweis von Objektbeschreibungen und Digitalisaten – kann innerhalb des laufenden Projektes „montan.dok 21“ nicht erfolgen. Wenngleich das Webportal in technischer Hinsicht dafür offen ist, erscheint ein solcher Schritt durchaus nicht trivial und bedarf eingehender konzeptioneller Vorüberlegungen. Als notwendige Konkretisierung des perspektivisch Möglichen soll deshalb im laufenden Projekt zunächst eine Machbarkeitsstudie entstehen. Sie soll in Zusammenarbeit mit dem FIZ Karlsruhe Potenziale und Bedarfe bei den Bergbausammlungen, Aufwände und Kosten, technische Lösungsansätze und nachhaltige Betreibermodelle sowie schließlich die Verortung solch eines thematisch fokussierten Online-Nachweises für das materielle Erbe des Bergbaus in der in Deutschland und Europa bestehenden Portallandschaft näher bestimmen. Vor diesem Hintergrund konzentrieren sich die Planungen für die Weiterentwicklung neben den erläuterten Anforderungen an das Onlineportal zur Sammlungs- und Objektrecherche auf die Funktion der Website als Informationsquelle. Die erst im Laufe der Arbeit an der Website immer weiter ausgebaute Dualität – Onlineportal und Informationsquelle – haben sich in der Gestaltung der Startseite bisher nicht genügend abgebildet. Den Anforderungen und Erwartungen an eine zeitgemäße Website entspricht der eher statische Aufbau nicht in Gänze, eine variablere Gestaltung und damit auch wechselnde Inhalte würden die Attraktivität der Website und die Sichtbarkeit der Inhalte verbessern. Auch die redaktionellen Rubriken wie „Objekt/Fund des Monats“ sind für Erst-
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besucher nicht direkt sichtbar, aktuelle Beiträge finden sich nur über die Klicks in der Menüleiste. Damit bleiben wichtige und wertvolle redaktionelle Inhalte auf der Website verborgen und einem intuitiven Nutzerverhalten nur schlecht zugänglich. Eine Anpassung von Menüstruktur und Startseite sind daher nur konsequent. Auch Begrifflichkeiten gepaart mit ihren Funktionalitäten sind nicht immer eindeutig auf herkömmliche Nutzererwartungen ausgerichtet. Der Begriff „Suche“ ist auf Websites normalerweise einer umfassenden Suche nach Inhalten auf der entsprechenden Website unter bestimmten Begrifflichkeiten vorbehalten. Bei www.bergbau-sammlungen.de verbirgt sich hinter der Suche über die Startseite ebenso wie über die Menüleiste ausschließlich die Suche in den Sammlungs- und Objektdarstellungen. Für die Funktion der Vernetzung und Auffindbarkeit von Sammlungen und Beständen ist das sicherlich sinnvoll. Eine Suche vor allem in und nach redaktionellen Inhalten ist damit jedoch nicht möglich. Der ursprünglich als notwendig und vor allem aus den beteiligten Sammlungen geforderte Bereich der Neuigkeiten zu Vernetzung und Bekanntmachung aktueller Entwicklungen untereinander hat sich bisher als wenig frequentiert erwiesen. Weder das auf der Website platzierte Angebot an die Sammlungen, Informationen und Neuigkeiten an die Redaktionsadresse [email protected] zu senden, noch eine gezielte Bewerbung des Angebots bei den Sammlungen haben zu den entsprechenden Rückmeldungen geführt. Bisher ist diesem Bereich über umfangreiche Eigenrecherchen Rechnung getragen worden, die in keinem Verhältnis zum redaktionellen Output oder der erzielten Reichweite stehen. Die fehlende Inanspruchnahme ist einfach zu begründen: Die größeren Sammlungen verfügen meist über umfassende eigene Kommunikationsangebote, die kleineren teilen ihre Neuigkeiten eher über Lokalpresse und selbst erstellte Websites. Daher werden Tagungs- und Veranstaltungshinweise, Nachrichten aus den Sammlungen und Publikationen vermutlich eher auf gelernten und gewohnten Wegen ver- und geteilt, als sie gebündelt über www.bergbau-sammlungen.de zu präsentieren. Eine Anpassung der redaktionellen Tätigkeiten ist daher durchaus denkbar, so dass freiwerdende Ressourcen eher in andere Bereiche der Website fließen können. Ähnliches gilt für die Einbindung von Publikationen und Vorträgen, die im Projekt selbst entstehen und aktuell unter „Aus dem Projekt“ aufgeführt werden. Die Praxis hat gezeigt, dass derlei Materialien umfassender und leichter zugänglich auf den Projektseiten des Deutschen Bergbau-Museums Bochum dargestellt werden. Unter www.bergbaumuseum.de/gbgv und www.bergbaumuseum.de/ montandok-21 werden zentral Projektinformationen, -inhalte und -bausteine gepflegt und bereitgestellt. Diese können über die jeweiligen Projektseiten oftmals
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umfassender, aktueller und mit einer höheren Reichweite platziert werden. Auch hier führte eine Dopplung der Angebote also nicht unbedingt zu einem informativen Mehrwert. Zukünftig ist daher angedacht, diese Bereiche einzustellen und vermehrt mit der Verlinkung auf die Museums-Homepage zu arbeiten, zumal hier die Pflege bislang sowohl mit Hinblick auf die ganzheitliche und vollständige Darstellung von Forschungsprojekten als auch eine personelle Beständigkeit eher gewährleistet werden kann. Eine Verknappung der redaktionellen Zusatzarbeiten zugunsten einer Konzentration auf die Qualität und Quantität der Inhalte lautet die Devise für die zukünftige Redaktionsarbeit, damit die beiden Hauptaufgaben der Website zukünftig noch zielgerichteter und unter Ressourcengesichtspunkten zielführend erfüllt werden können. Dazu gehört auch, dass die ursprünglich im Projekt eingeplanten Aktivitäten im Bereich Social Media weiterhin zentral über die Kanäle des Deutschen Bergbau-Museums Bochum getätigt werden. Die dort bereits aufgebauten Zielgruppen und breit aufgestellten Communities gewährleisten eine hohe Reichweite und Verbreitung der Informationen und schaffen Synergieeffekte für beide Angebote. Abschließend ist festzuhalten: Die hier vorgestellte Website kann in vielfacher Weise zeigen, wie im Bereich der Forschungsinfrastruktur eines Leibniz-Forschungsmuseums gearbeitet wird – als Sammlungsportal und als Informationsquelle und Schaufenster in die Arbeit mit und am Objekt. So hat sich www.bergbau-sammlungen.de bereits nach einem Jahr als wichtiger und wertvoller Baustein im Kommunikationsmix des Deutschen Bergbau-Museums Bochum erwiesen und die Frage „Geht Bergbau bewahren auch online?“ ist mit einem klaren Ja zu beantworten.
Forschungsperspektiven
Jochen Hennig
Infrastrukturen als Voraussetzung forschender Sammlungspraxis: Zum Konzept eines Objektlabors für die Sammlungen der HumboldtUniversität zu Berlin1 In den letzten Jahren hat mit wissenschaftlichen Sammlungen an Universitäten ein Sammlungstyp vermehrt Aufmerksamkeit erfahren, für den in diesem Beitrag die These vertreten wird, dass er sich in gewissen Charakteristika von musealen, vereinsgetragenen und privaten Sammlungen unterscheidet.2 Ein Blick auf wissenschaftliche Universitätssammlungen, ihre Eigenarten, Potenziale und Grenzen soll im Folgenden dazu beitragen, auch Spezifika anderer Sammlungstypen bewusster zu machen und zu einer produktiven Zusammenarbeit zwischen universitärer, musealer und privater Sammlungspraxis führen. Nach einleitenden Überlegungen werden dazu Potenziale und Bedürfnisse von Universitätssammlungen an der Konzeption eines Objektlabors an der HumboldtUniversität zu Berlin (HU) exemplifiziert. Diese Konzeption folgt der Überlegung, dass wissenschaftliche Sammlungen als solche noch nicht als For1 Der Beitrag ist im Rahmen des Projektes „Mobile Objekte“ innerhalb des von der DFG geförderten Exzellenzclusters „Interdisziplinäres Labor Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. Er gibt Projekt- und Planungsstände aus dem Frühjahr 2018 wieder. Um die Einheitlichkeit des Bandes zu gewähren, werden Personen in männlicher Form bezeichnet, alle anderen Geschlechter sind mit gemeint. 2 Für grundsätzliche Überlegungen zu Universitätssammlungen siehe: te Heesen, Anke: Wissenschaft sammeln. Eine wissenschaftshistorische Perspektive auf das Museum, in: Bauer, Joachim (Hrsg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2009, S. 213–230. Für eine Bestandsaufnahme aus britischer Sicht: Thomas, Nicholas: Revitalised university museums still face big challenges. Times Higher Education Magazine (14. Juli 2016). Unter: www.timeshighereducation.com/comment/revitalised-university-museums-stillface-big-challenges (Stand: 03.06.2018). Für weitere Ausführungen zu den Spezifika universitärer Sammlungen in Abgrenzung zu Museumssammlungen siehe: Hennig, Jochen: Zwischen Forschung, Seminar und Depot: Spezifika von Universitätssammlungen, in: Hamburger Journal für Kulturanthropologie, 1/2015: SAMMELN. Zur Geschichte und Gegenwart einer alltäglichen, musealen und wissenschaftlichen Praxis, S. 117–129. Eine Übersicht über die Universitätssammlungen in Deutschland und die mit ihnen verbundenen Aktivitäten bietet die Website der vom BMBF geförderten Koordinierungsstelle für Universitätssammlungen in Deutschland: http://wissenschaftliche-sammlungen.de (Stand: 03.06.2018). https://doi.org/10.1515/9783110683097-015
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schungsinfrastrukturen zur Verfügung stehen, wie es der Titel der Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu diesem Thema suggeriert3, sondern vielmehr gerade Infrastrukturen geschaffen und ausgestaltet werden müssen, um die Potenziale universitärer Sammlungen zur Entfaltung zu bringen.4 In einem letzten Abschnitt wird der Begriff des „Labors“ für eine Objekt- und Sammlungspraxis nach seiner Angemessenheit und seinem Potenzial kritisch befragt.
Charakteristika von Universitätssammlungen Universitätssammlungen entstehen aus dem wissenschaftlichen Betrieb und für den wissenschaftlichen Betrieb, also aus bzw. für Forschung und Lehre.5 Im Gegensatz zu Museen, an denen Objekte durch den Akt der Objektaufnahme aus der Welt außerhalb des Museums in die Sammlungen aufgenommen werden, befinden sich an Universitäten vielfältige Objekte als Teil der wissenschaftlichen materiellen Kulturen bereits innerhalb der Institution. Naturwissenschaftliche Laborbetriebe basieren beispielsweise auf dinglichen Praktiken und bei dieser Handhabung von Dingen kommt es immer wieder auch zur Ausprägung von Sammlungen, wenn beispielsweise mikroskopische Präparate für spätere Vergleichsmessungen aufbewahrt werden. Hier steht nicht das systematische Sammeln durch die gezielte Aufnahme von Objekten von außen im Zentrum, vielmehr ergibt sich eine Sammlung aus dem Alltagsbetrieb. Aber auch an Universitäten gibt es Bereiche wie beispielsweise die zoologischen oder archäologischen Lehrsammlungen, in denen Sammlungspraktiken durch eine lange Tradition etabliert und auch institutionalisiert sind, was sich etwa durch die Einrichtung von Sammlungskustodien oder Stellen für Präparatoren ausdrückt. Andere Sammlungspraktiken orientieren sich an persönlichen Forschungsinteressen und Lehrgebieten, so im Bereich der Bildsammlungen: Viele Wissenschaftler haben Dias gesammelt oder sammeln heutzutage digitale Bilder, ohne dass sich bei ihnen eine bewusste, institutionalisierte oder verstetigte Sammlungstätigkeit 3 Wissenschaftsrat (Hrsg.): Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen, 28.01.2011. Unter: https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10464-11.pdf (Stand: 03.06.2018). 4 Im Anschluss an die Empfehlungen des Wissenschaftsrats hat Thomas Schnalke skizziert, wie Infrastrukturen zur Aktivierung universitärer Sammlungen aussehen könnten: Schnalke, Thomas: Museums: Out of the cellar, in: Nature, Vol. 471, 2011, S. 576–577. 5 Neben den hier behandelten Sammlungen wissenschaftlicher Universitätseinrichtungen existieren an Universitäten häufig noch Kunstsammlungen und Sammlungen an Bibliotheken und Archiven, für die die genannten Spezifika weniger zutreffen, die aber dennoch als Universitätssammlungen Beachtung finden sollten.
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ausprägt. Elisabeth Edwards hat den Begriff der „non-collections“ vorgeschlagen, um Sammlungen zu benennen, die nicht explizit als solche angesehen werden.6 Im Fall der Bildbestände an Universitäten ist der Übergang von solchen „non-collections“ hin zu institutionalisierten Diasammlungen in Fächern wie Kunstgeschichte und Archäologie fließend. Für letztere Sammlungen gibt es geregelte Vorgänge für die Aufnahme von Objekten, ihre Erschließung, Nutzbarkeit und dauerhafte Bewahrung. Verbindendes Charakteristikum dieser unterschiedlichen Ausprägungen von Universitätssammlungen und zugleich Unterscheidungsmerkmal zu Sammlungen von Gedächtniseinrichtungen ist die Orientierung der Sammlungskonzeption an der Lehre und der Forschung. Beispielsweise werden für die Kartensammlung des Geografischen Instituts der HU seit Jahren Karten gesammelt, die im Rahmen konkreter Forschungsprojekte und Lehrexkursionen angeschafft wurden. Die Sammlung lässt sich damit als Archiv vergangener Aktivitäten des Instituts lesen und steht so im Gegensatz etwa zur Kartensammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, deren Sammlungskonzept und -auftrag darauf abzielt, bestimmte Regionen systematisch und vollständig durch Kartendarstellungen zu erfassen, um diese Karten für mögliche künftige Interessenten zur Verfügung stellen zu können. Auch die bereits erwähnten Diasammlungen der Kunstgeschichte, die zur Verwendung im Hörsaal zumeist zur Doppelprojektion im Rahmen von Vorlesungen erstellt und genutzt wurden, orientierten sich an den Lehrinhalten. In beiden Fällen, Geografie und Kunstgeschichte, stand der Gebrauch im Vordergrund, in beiden Fächern haben sich aber die fachlichen Ausrichtungen und medialen Gewohnheiten so verändert, dass die ursprünglichen Verwendungen analoger Karten bzw. Dias in den Hintergrund getreten ist; in beiden Beispielen ist der Medienwandel hin zu digitalen Formaten nicht abrupt, aber doch in einem überschaubaren Zeitraum weniger Jahre abgelaufen. Da die Dias in der Lehre nicht mehr routinemäßig zur Vermittlung der Bildinhalte eingesetzt werden, ist die Intensität ihrer Nutzung gesunken, zugleich hat eine reflektierende, historisierende Praxis eingesetzt: Die Dias dienen medienarchäologischen Untersuchungen, sie werden nach Unikaten durchforstet, die dann digitalisiert und wieder der Lehre zur Verfügung gestellt werden, oder dahingehend befragt, welche Kanonisierungen im Fach bzw. mit der Aktivität einzelner Forscher stattgefunden haben.7 Am Institut für Geografie der HU etwa wird anläss6 Edwards, Elizabeth: Institutions and the Production of ‚Photographs‘. Part 2: The Presence of Non-Collections and the Challenge of Photographic Ecosystems (23. September 2016). Unter: www.fotomuseum.ch/de/explore/still-searching/articles/29378_the_presence_of_non_collections_and_the_challenge_of_photographic_ecosystems (Stand: 03.06.2018). 7 Für eine Beschreibung des Medienwandels, die selbst schon wieder historischen Charakter hat, siehe: Haffner, Dorothee: „Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach.“ Bilder an der
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lich der bevorstehenden Pensionierung des Sammlungsleiters in wenigen Jahren die Frage diskutiert, welche die künftige Rolle der Kartensammlung sein sollte, da in diesem Fach digitale Geodaten in den Vordergrund gerückt sind und damit zugleich die Verwendung analoger Karten in den Hintergrund getreten ist. Es liegt damit eine Krisensituation der Sammlung vor, die aus der schleichenden Veränderung des Status analoger Karten im Fach resultiert und durch den Einschnitt der Pensionierung des Sammlungsleiters besonders sinnfällig wird. Diese Situation ist, genau betrachtet, jedoch weniger eine Krisensituation als der Normalfall von Sammlungen, die für den Gebrauch entstanden sind, da sich der Fächerkanon, die Fragestellungen und die damit verbundenen Praktiken sowie die Medien fortlaufend wandeln. Für wissenschaftliche Universitätssammlungen als Gebrauchssammlung ergibt sich daraus die Anforderung wie auch die Chance, in einem stetigen Prozess der Selbstbefragung neue Perspektiven und Nutzungsszenarien zu entwickeln und gegenwärtige Entwicklungen vor dem Hintergrund historisch gewachsener Wissenssysteme zu reflektieren. Die derart charakterisierbaren Sammlungen lassen sich von musealen Sammlungen kulturellen Erbes unterscheiden, bei denen die Aufnahme eines Objektes ins Museum einen deutlichen Bruch in der Objektbiografie dahingehend darstellt, dass ein Objekt seinem Gebrauch und dem Markt entzogen wird, um im Museum einer neuen Bestimmung zu folgen.8 Damit werden die Objektbiografien selbstverständlich nicht eingefroren, sondern ist ihre Fortschreibung durch wechselnde Forschungsperspektiven und Ausstellungskontexte möglich und wünschenswert. Die Hervorhebung der Entstehung universitärer Sammlungen aus und für den wissenschaftlichen Betrieb und die Argumentation, dass Statusveränderungen die Regel sind, führt direkt zu dem Plädoyer, universitäre Sammlungen nicht zu zentralisieren und damit zu musealisieren, sondern vielmehr dezentral in den jeweiligen Instituten zu belassen und zu entwickeln. Statt eines Bruchs in den jeweiligen Objektbiografien, den eine Musealisierung zur Folge hätte, ist eine kontinuierliche Neubewertung in den jeweiligen Fächern erstrebenswert..
Wand, auf dem Schirm und im Netz, in: Helas, Philine u. a. (Hrsg.): Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 119–129. 8 Für diese stark rezipierte Charakterisierung von Sammlungen siehe: Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1986.
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Dezentrale und zentrale Infrastrukturen Die dezentrale Verortung von Universitätssammlungen ist verbunden mit der Problematik, dass nicht in allen Fächern auch das Sammlungsmanagement zu den Kernkompetenzen gehört und die Sammlungen in den Instituten einem hohen Ressourcendruck ausgesetzt sind. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit an den einzelnen Sammlungsorten entsprechende Infrastrukturen und Kompetenzen aufgebaut werden können bzw. sollen und inwieweit zentrale Einrichtungen die dezentralen Sammlungen unterstützen und sammlungsübergreifende Perspektiven eröffnen können. Im Folgenden soll am Beispiel des Objektlabors der Humboldt-Universität das Konzept eines zentralen Sammlungsortes vorgestellt werden, der komplementär zu den in die Fächer eingebundenen dezentralen Sammlungen vier Funktionen übernehmen soll: 1) Servicefunktion etwa im Bereich von Restaurierungs- und Digitalisierungsvorhaben, da viele Sammlungen diesbezüglich defizitär ausgestattet sind. 2) Entwicklung komplementärer Perspektiven zu fachwissenschaftlichen Fragen in den jeweiligen Instituten, insbesondere wissenschafts- und kulturhistorischer wie auch interdisziplinärer und sammlungsübergreifender Art. 3) Ausarbeitung konkreter sammlungsübergreifender Lehr- und Forschungsprojekte und -formate. 4) Unterstützung, im Sinne eines Netzwerk-Ansatzes, des Zusammenkommens von Personen mit Personen, von Personen mit Dingen und von Dingen mit Dingen, die sich im Gebiet wissenschaftlicher Objekte und Sammlungen bewegen. Dabei sollen auch Personen und Dinge der Universitätssammlungen mit verwandten Bereichen wie Museumssammlungen oder materiellen Kulturen der Wissenschaft außerhalb von Sammlungen in Kontakt treten können. Das Objektlabor wird seit Ende 2012 in den Anbauten des historischen Tieranatomischen Theaters, ein 1790 von Carl Gotthard Langhans errichtetes frühklassizistisches Lehrgebäude der damals entstehenden Veterinärmedizin, konzipiert (Abb. 1). Der erste Anbau ist von Julius Emmerich entworfen und 1874 realisiert worden, der daran anschließende Kopfbau nach den Plänen von Walter Wolff ist 1935/1936 ergänzt worden.9 Seit 2012 wird das Tieranatomische Theater an der Humboldt-Universität nach einer aufwendigen Sanierung durch das dort angesiedelte Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik als Ort für forschende Ausstellungspraxis und damit verbundene Veranstaltungen betrieben, wobei explizit performative Formate eingebunden werden. Die Anbauten werden in einem zweiten Sanierungsschritt seit 2015 hergerichtet und sollen im Herbst 2018 an 9 Zur Architekturgeschichte des Tieranatomischen Theaters und seiner Anbauten siehe: Kempf, Jens-Oliver: Die königliche Tierarzneischule in Berlin von Carl Gotthard Langhans. Eine baugeschichtliche Gebäudemonographie, Berlin 2008.
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das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik zur weiteren Nutzung übergeben werden. Die Konzeption eines Objektlabors hat die vormalige Planung einer Bereichsbibliothek des Helmholtz-Zentrums zu Sammlungen und Museologie abgelöst. Anstatt einen weiteren universitären Ort der geisteswissenschaftlich-textbasierten Auseinandersetzung mit Dingen zu schaffen, wurde damit die Eröffnung eines Ortes projektiert, an dem Geistes-, Natur- und Restaurierungswissenschaften die Möglichkeit zur physischen, materiellen, haptischen, anschaulichen und handwerklichen Beschäftigung mit Objekten erhalten. Das nichtöffentliche Objektlabor, das Studierenden und Forschenden der HumboldtUniversität und kooperierenden Einrichtungen zur Verfügung stehen soll, ist bewusst in Verbindung mit dem öffentlichen Tieranatomischen Theater als Veranstaltungs- und Ausstellungsort konzipiert, der die Verbindung zu nichtuniversitären Besuchergruppen herstellt.
Abb. 1: Das Tieranatomische Theater von 1790 (links) dient seit 2012 als Ausstellungs- und Veranstaltungsort der HU Berlin. Im Kopfbau von 1936 (rechts) wird das Objektlabor eingerichtet. Das Foto zeigt den Zustand im Frühjahr 2020.
Formate im Tieranatomischen Theater Die Konzeption der Formate im Tieranatomischen Theater kann am besten anhand konkreter, bereits realisierter Beispiele aus dem Programmbetrieb veranschaulicht werden:
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Die Ausstellung „Repliken Wissen. Eine Archäologie vervielfältigter Vergangenheit“ wies mehrere Charakteristika der Ausstellungs- und Veranstaltungsformate im Tieranatomischen Theater auf.10 Ihren Ausgangspunkt nahm sie bei einer der universitären Sammlungen, nämlich der Lehrsammlung des Winckelmann-Instituts für Klassische Archäologie der Humboldt-Universität. Im Zentrum der Ausstellung stand der Status von Repliken am Beispiel der minoisch-mykenischen Archäologie, also der Forschung zu bronzezeitlichen Kulturen im Mittelmeer-Raum. Der damit verbundene Objektkosmos umfasst vielfältige Repliken, die in zahlreichen wissenschaftlichen Sammlungen und Museen anzutreffen sind, aber beispielsweise auch in der Populärkultur oder im Europäischen Gerichtshof in Den Haag, wo eine Replik des Throns von König Minos steht. Nicht das archäologische Wissen über Objekte stand im Zentrum der Ausstellung „Repliken Wissen“, sondern die Arbeitsweisen von Archäologen, die Veränderungen, die beim Anfertigen von Repliken unterschiedlicher Materialien und Originaltreue auftreten, die Entstehung von Mythen, die Übernahme der Repliken in außerwissenschaftliche Bereiche und die damit zusammenhängende Veränderung des Wissens (Abb. 2). Einen hohen Stellenwert hatten innerhalb des Projektes Veranstaltungen mit performativem Charakter, beispielsweise die einwöchige Erweiterung des Kunstwerkes „Labyrinth der Geschichte“ unter dem Titel „A Pacifist Workshop“, in dessen Verlauf der Künstler Jan Stöwe sein im Ausstellungsraum präsentiertes Werk fortsetzte und dabei für Gespräche über die Rolle von Kunst in einer Wissensausstellung zur Verfügung stand. Die Präsentation historischer Repliken wurde auch ergänzt um den einwöchigen Workshop „Making Goddesses: A Re-Embodiment“ zur Anfertigung und Auswertung von Repliken mit aktuellen Techniken wie beispielsweise 3D-Scans (Abb. 3). Die produktive Zusammenkunft von reflektierter historisch-kuratorischer Gestaltung und aktuellen Praktiken, die Befragung materieller Kulturen nach ihrem epistemischen Status und die Einbettung von Objekten aus universitären Sammlungen in neue Zusammenhänge, komplementär zum fachlichen – hier archäologischen – Sammlungszusammenhang, sind konzeptionelle Grundpfeiler der öffentlichen Formate im Tieranatomischen Theater. Sie sollen in der nichtöffentlichen Forschungs- und Lehrinfrastruktur des Objektlabors ihre Ergänzung finden. Neben einem derartigen aufwendigen, detailliert ausgestalteten und auf internationalem Leihverkehr beruhenden Projekt wie „Repliken Wissen“ sind 10 „Repliken Wissen. Eine Archäologie vervielfältigter Vergangenheit.“ Ausstellung im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin vom 16. September 2017 bis 31. März 2018, realisiert durch Anna Simandiraki-Grimshaw (Kuratorin, wissenschaftliche Leitung), Felix Sattler (Idee, Kurator & künstlerische Leitung), Konrad Angermüller (Gestaltung); zugehörige Publikation: Anna Simandiraki-Grimshaw, Felix Sattler, Konrad Angermüller (Hrsg.): Replica Knowledge, Berlin 2020.
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auch kleinere, niederschwellige Formate fester und wichtiger Bestandteil universitärer Objektpraxis. Beispielsweise bildete eine Präsentation im zentralen amphitheatrischen Hörsaal des Tieranatomischen Theaters anlässlich der Berliner Langen Nacht der Wissenschaften den Fluchtpunkt eines Seminars zum Nachlass des Medizin-Nobelpreisträgers Robert Koch aus dem Archiv der Humboldt-Universität.11 Die in Vorbereitung befindliche Einrichtung des Objektlabors zielt eben darauf ab, derartige Projekte weiter zu befördern: Im nicht-öffentlichen Teil können sich Seminare im geschützten Rahmen mit den Objekten auseinandersetzen, wobei diese Auseinandersetzung schon durch die Möglichkeit geprägt wird, temporär mit (Zwischen-)Ergebnissen in das öffentliche Tieranatomische Theater zu treten. Die dabei gesammelten Erfahrungen können dann wiederum im weiteren internen Seminarverlauf reflektiert werden.
Abb. 2: In der Ausstellung „Repliken Wissen“ verdeutlichte eine Reihung verschiedener Repliken der Goldmaske von Agamemnon deren unterschiedliche Ausführungen, Erhaltungszustände und individuellen Gebrauchsspuren.
11 Seminar von Sarah K. Becker und Mona Wischhoff „Experimentelle Ausstellungspraxis: Robert Koch in fünf Objekten“ im Rahmen des interdisziplinären Studienprogramms „Vielfalt der Wissensformen“ an der HU Berlin, Sommersemester 2017.
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Abb. 3: Die Präsentation historischer Repliken in der Ausstellung „Repliken Wissen“ wurde durch die Anfertigung von Repliken mittels neuer Techniken im Rahmen des Workshops „Making Goddesses: A ReEmbodiment“ ergänzt.
Im Gegensatz zum öffentlichen Tieranatomischen Theater wird das Objektlabor als nicht-öffentlicher Ort konzipiert.12 Dabei erfolgt die Gesamtkonzeption nicht vorrangig in Anlehnung an Museen mit öffentlichen Ausstellungs- und Veranstaltungsflächen und nicht-öffentlichen Magazin-, Werkstatt- und Verwaltungsbereichen, sondern bewusst als universitäre Service-, Lehr- und Forschungsinfrastruktur. Insbesondere sollen im Unterschied zu einem Universitätsmuseum keine Sammlungen dauerhaft im Gebäudekomplex untergebracht werden, um sie nicht den dezentralen Instituten zu entziehen. Vielmehr sollen Objekte temporär und projektorientiert in Bewegung gesetzt und im Objektlabor verfügbar gemacht werden.
12 Für das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik als künftigem Nutzer haben Felix Sattler und der Autor dieses Beitrags das hier vorgestellte Konzept entwickelt, das den Planungsstand im Januar 2018 wiedergibt. Wir bedanken uns bei Thomas Schnalke und Beate Kunst vom Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité als Kooperationspartner für den produktiven Austausch. Im Rahmen des Basisprojekts „Mobile Objekte“ (s. Anmerkung 1) danken wir Ina Heumann vom Museum für Naturkunde Berlin und Christian Kassung, HU Berlin, für die engagierte Unterstützung. Zu Entwicklungen seit 2018, insbesondere den zwischenzeitlichen Betrieb eines temporären Objektlabors, siehe: Oliver Thie (Hrsg.): Das temporäre Objektlabor / The Temporary Object Lab, CLOU - Cluster Letters of Understanding, Berlin, 2020.
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Szenarien für ein Objektlabor Die Entwurfsplanung des Objektlabors13 orientierte sich zum einen an konkreten Nutzungsszenarien, die sich im Rahmen der bereits benannten vier Funktionen bewegen, zum anderen wird auf die Schaffung eines flexiblen Raumes abgezielt, der vielfältige, im Detail noch nicht genau benennbare Arbeitssituationen ermöglicht. Zu den konkreten Szenarien zählen Weiterbildungen von Sammlungsleitern, beispielsweise in den Bereichen der Restaurierung, Verpackung, Etikettierung und Inventarisierung. Bei bisherigen Veranstaltungen musste ohne entsprechende Ausrüstung improvisiert werden, im Objektlabor soll durch eine Grundausstattung an Werkzeug, Waschbecken und ein Digestorium entsprechende Infrastruktur zur Verfügung stehen. Auch hatten Sammlungsleiter im Anschluss an eine Weiterbildung im Bereich der Papierrestaurierung den Wunsch geäußert, gemeinsam das erlernte Wissen anzuwenden und sich weiter auszutauschen, was mangels räumlicher Möglichkeiten bisher nicht zustande kam. Analoge und digitale Objekte wie auch analoge und digitale Praktiken sollen im Objektlabor eng aufeinander bezogen werden können. Dies betrifft sowohl die Digitalisierung vorhandener Objekte durch Fotografie, Film, 2D- und 3D-Scan als auch die Materialisierung digitaler Objekte durch 2D- und 3D-Drucker. Ein Raum wird entsprechend als Digitallabor eingerichtet. Im Hauptraum werden insbesondere Projektionsflächen vorgesehen, um beispielsweise mikroskopische Untersuchungen für Gruppen darstellen zu können. Lehrveranstaltungen unter Einbeziehung konkreter Objekte sind ein universitätsspezifisches Format, in dem sich vor allem bei sammlungsübergreifenden Ansätzen die Zugänglichkeit zu Objekten als Herausforderung darstellt. Ein Semesterapparat mit einem Objektbestand und Kontextmaterial soll im Objektlabor temporär den Studierenden zur Verfügung gestellt werden können. Das bereits benannte Seminar zum Nachlass Robert Kochs ist ein konkretes Beispiel einer Lehrveranstaltung, für die die Nähe zum Tieranatomischen Theater genutzt wurde, wobei sich das Fehlen der Infrastruktur eines Objektlabors als Problem erwiesen hat. Es steht noch aus, ob komplementär zu temporär in der Lehre eingesetzten Objektbeständen auch ein überschaubarer sammlungs- und medienübergreifender Objektbestand für wiederkehrende Fragen der Objektkunde im Objektlabor zusammengestellt werden soll. Eine Facette der avisierten Objektforschung ist die Reprozessualisierung von Objekten, wie sie durch den Replikationsansatz mit dem Nachvollzug histo13 Die Entwurfsplanung hat das Büro für Ausstellungsgestaltung Franke | Steinert, Berlin vorgenommen.
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rischer Experimente in der wissenschaftshistorischen Forschung bereits etabliert ist, sich aber auch für die Lehre als produktiv erwiesen hat.14 Das Objektlabor soll Arbeitsplätze und Ausrüstung zur Verfügung stellen, um derartige Forschungen und ihre Dokumentation etwa durch Filmaufnahmen zu unterstützen. Der Ansatz greift das eingangs ausgeführte Spezifikum universitärer Sammlungen auf, Gebrauchsobjekte zu versammeln, die in der Sammlung nicht musealisiert werden, sondern nach wie vor in Gebrauch sind oder möglicherweise nach einer Phase der Stillstellung wieder in Gebrauch gesetzt werden. Dabei gilt es selbstverständlich, den Nutzungs- mit dem Bewahrungsauftrag in Einklang zu bringen. Dieser Forschungsansatz, der die Performanz von Experimenten und Versuchen in den Mittelpunkt stellt, ist zudem prädestiniert, im öffentlichen Tieranatomischen Theater und durch die dortigen performativen Formate eine Fortsetzung zu finden. Wie bereits im öffentlichen Tieranatomischen Theater sollen auch im Objektlabor künstlerische Praktiken auf wissenschaftliche Objekte angewendet und auf ihren wissensgenerierenden Charakter hin befragt werden. In einem Pilotprojekt, dessen Ergebnisse in die Ausgestaltung und Ausstattung des Objektlabors einfließen sollen, wurden seit März 2018 durch zeichnerische Praktiken Wahrnehmungen geschärft. Ein wiederkehrendes Element der benannten Formate ist die Erzeugung neuer Objektnachbarschaften unter bestimmten Fragestellungen, die in den angestammten Sammlungen nicht vorkommen. Dies setzt flexibel nutzbares Mobiliar voraus. Mit diesem Ansatz ist die vielleicht spannendste Frage für die Nutzung des Objektlabors verknüpft, nämlich ob in Verbindung mit der Zusammenkunft von Objekten aus verschiedenen Sammlungen auch ein Austausch der damit verbundenen disziplinären Zugänge und Methoden verbunden werden kann. Wird es sich beispielsweise als produktiv erweisen, ethnologische, archäologische oder naturkundliche Methoden auf Objekte der jeweils anderen Disziplinen anzuwenden? Neben dem Prinzip des Zusammenbringens heterogener Objekte unter gemeinsamen Fragestellungen soll dazu der komplementäre Ansatz verfolgt werden, verschiedene disziplinäre Perspektiven auf eine homogene Objektgruppe oder auch ein einzelnes Objekt anzuwenden. Beide Szenarien – das Zusammenbringen heterogener Objektgruppen wie auch die Multiperspektivität auf einzelne Objekte oder homogene Objektgruppen – können zudem eine weitere kuratorische und gestalterische Ausprägung erfahren, wenn sie in den öffentlichen Raum des Tieranatomischen Theaters überführt werden. Aus den Szenarien, dem Ziel der flexiblen Nutzung sowie den baulichen Vorgaben durch ein denkmalgeschütztes Gebäude wurde im Planungsprozess 14 Breidbach, Olaf u. a. (Hrsg.): Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, München 2010.
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die Einrichtung eines Magazinraums zur temporären Unterbringung von Objekten, einer Werkstatt, eines Digitalisierungslabors und eines zentralen Laborraums abgeleitet (Abb. 4). Der zentrale Laborraum verfügt über eine Nassstrecke und ein Digestorium. Die Sammlungsschränke sind im Magazinraum ganz auf die Ziele der präventiven Konservierung ausgerichtet, im zentralen Laborraum sollen sie hingegen mit Glastüren ausgestattet werden, um einen Weg zu finden, eine konservatorisch angemessene Unterbringung mit dem Ziel eines Raumeindrucks zu verbinden, der die Arbeit mit Objekten ausstrahlt. Die Arbeitsfläche soll mit einem Vorhang optisch wie auch akustisch flexibel unterteilbar sein. Einzel- und Gruppenarbeitsplätze sollen sich ebenso leicht realisieren lassen wie eine Lehrsituation für bis zu 18 Teilnehmern. Die Arbeitsplätze sollen auch flexibel mit Objektarrangements kombiniert werden können. Die Tische erlauben mit ihren Oberflächen sowohl das Abstellen von Objekten als auch handwerkliche Tätigkeiten (Abb. 5). Alle Räume sind im Erdgeschoss des Anbaus untergebracht, Objektwägen ermöglichen den Objektverkehr zwischen den Räumen, ein Zugangsmanagement zu den Schränken soll es den jeweiligen Nutzergruppen ermöglichen, die von ihnen verwendeten Objekte zwischen zwei Arbeitsterminen zu sichern.
Abb. 4: Grundriss des Kopfbaus (Erdgeschoss), in dem das Objektlabor mit einem Zentralraum, einem Digitalisierungslabor, einem Magazin und einer Werkstatt eingerichtet werden soll.
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Abb. 5: Der Zentralraum des Objektlabors (105 qm) soll flexibel durch Gruppen und Einzelpersonen zur Objektarbeit genutzt werden können.
Betrachten wir den gesamten Gebäudekomplex inklusive des Tieranatomischen Theaters und der Anbauten, entsteht eine operative Strecke zwischen dem geschützten Rahmen des Objektlabors und dem öffentlichen Tieranatomischen Theater. Die öffentliche Präsentation wird als Möglichkeit für die Arbeit im Objektlabor bestehen, sei es in Form von ausgearbeiteten Sonderausstellungen oder in Form offensichtlich improvisierter, niederschwelliger Formate – an der Universität gerade im Bereich studentischer Projekte.
Herausforderungen und Grenzen in der Praxis Die effektive und möglichst gewinnbringende Interaktion zwischen den dezentralen Sammlungen und dem zentralen Tieranatomischen Theater mit dem Objektlabor bringt einige Herausforderungen mit sich: Der Transport der Objekte ist beispielsweise logistisch zu bewältigen, was an Museen zwischen unterschiedlichen Standorten wie z. B. Ausstellungshaus und Außendepot etabliert ist, aber an der Universität erst aufgebaut werden muss; dies betrifft auch Kosten und personelle Ressourcen. Dieser Aspekt zeigt beispielhaft, wie wenig die Objektarbeit an Universitäten verankert ist, während der Umgang mit Schriftgut im Rahmen von Universitätsbibliotheken fest etabliert ist.
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Eine weitere Ressourcenfrage betrifft die Kapazitäten der Sammlungsleiter, inwieweit sie über ihre disziplinäre Einbindung hinaus die Freiräume und die Motivation besitzen, sammlungsübergreifende Themen und entsprechenden Austausch zu vertiefen. Zunächst scheint es wichtig, dass die Sammlungsleiter direkt von der Einrichtung des Objektlabors profitieren, z. B. durch Weiterbildungen und Service im Bereich der Restaurierung, Konservierung und Digitalisierung. Es soll das Gefühl vermieden werden, dass die dezentralen Sammlungen einem zentralen Ort zuliefern, vielmehr soll eine Aneignung dieses zentralen Ortes durch die Sammlungsleiter ermöglicht werden. Das Objektlabor soll als ein Ort belebt und wahrgenommen werden, in dem die Objektarbeit im Zentrum steht, was für viele Sammlungsleiter in ihren jeweiligen Instituten nicht gewährleistet ist. Die daraus entstehende Attraktivität soll durch die Entwicklung von Projekten weiter gesteigert werden, über die Kapazitäten zu schaffen sind, die dann wiederum eine Gravitation besitzen, um die Sammlungsleiter zu entlasten. Die Grenzen eines solchen Projektes liegen in seinem ergänzenden Charakter, es darf keine Konkurrenzsituation zu den dezentralen Sammlungen entstehen und diese nicht in Frage gestellt werden. Viele Objekte erhalten ihre Bedeutung auch weiterhin in ihrem angestammten Sammlungszusammenhang, sind Teil von Serien oder durch die räumliche Anordnung etwa in Schausammlungen geprägt – ganz zu schweigen von botanischen und gärtnerischen Lebendsammlungen, die weitgehend ortsgebunden sind. Die neuen Objektnachbarschaften an einem zentralen Ort können natürlich nicht die gewachsenen Objektnachbarschaften ersetzen, sie können diese nur temporär ergänzen. Ebenso können Seminare mit Studierenden nicht auf Sammlungsbesuche verzichten, um dortige Ordnungen, Mobiliare, Personen und räumliche Anordnungen kennen zu lernen. Mit dieser Grenze des Vorhabens umzugehen heißt, für die Universitätssammlungen nicht eine Zentralisierung in Ablösung der dezentralen Sammlungspolitik anzustreben, sondern den zentralen Ort als Ergänzung zu sehen.
„Labor“: mehr als eine Metapher Für die konzipierte und sich in Vorbereitung befindliche Infrastruktur des Objektlabors an der HU wurde bewusst ein Labor-Begriff gewählt, dessen Reflektion das Projekt weiter charakterisiert. Seit einigen Jahren ist im Kultur- wie auch im geisteswissenschaftlichen Wissenschaftsbereich eine inflationäre Verwendung des Begriffs „Labor“ zu verzeichnen. Während grundsätzlich davon auszugehen ist, dass Labore wie auch Sammlungen und Ausstellungen Wissensräume
Infrastrukturen als Voraussetzung forschender Sammlungspraxis
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sind, die das Potenzial haben, neues Wissen zu generieren, scheint dies dem Labor selbstverständlicher zugeschrieben zu werden als Sammlungen und Ausstellungen. Für den musealen Bereich der Restaurierung lässt sich festhalten, dass Werkstätten und Labore in dem Sinne etabliert sind, dass handwerklich-naturwissenschaftlich-technisch mit den Objekten gearbeitet wird, auch materialverändernd. Eine Begriffsschärfung würde den Werkstattbegriff für die Anwendung etablierter Verfahren verwenden, den Laborbegriff hingegen für explorative Aktivitäten mit der Entwicklung neuer Methoden. Das Objektlabor soll für Restaurierungsvorhaben gemäß dieser Begriffsverwendungen als Werkstatt fungieren, darüber hinaus aber auch Objekte in Gebrauch setzen, neue Konfigurationen ausprobieren, Methoden der Objektbefragung sammlungs- und disziplinübergreifend erproben und Assoziationen durch neue Nachbarschaften ermöglichen. Im Zusammenkommen dieser vielfältigen Ansätze soll der explorative Charakter durch den Begriff des „Labors“ zum Ausdruck kommen. Der Labor-Begriff für einen solchen nichtöffentlichen, objektbezogenen Raum ist aber sicherlich auch mit der Konjunktur, Ausstellungen als Labore zu titulieren, in Relation zu setzen. So ist beispielsweise in Vorbereitung des Humboldt-Forums auf dem Schlossplatz in der Mitte Berlins von 2012 bis 2015 eine Ausstellungsreihe unter dem Titel „Humboldt Lab Dahlem“ durchgeführt worden. Die zugehörige Publikation mit dem Titel „Prinzip Labor“ führt aus, wie für das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst bisher nicht ausgetretene Pfade begangen wurden, um Formen des Ausstellens nicht-europäischer Kunst und Kultur zu finden.15 „Prinzip Labor“ hieß im Rahmen des Projektes, etwas auszuprobieren und auch scheitern zu dürfen. Scheitern gehört zum Experimentieren und zum Labor dazu, wenn nicht bestehendes Wissen reproduziert werden, sondern die Möglichkeit zur Generierung von Neuem, noch nicht Absehbarem eröffnet werden soll. Aber können Ausstellungsmacher, Kuratoren wie Gestalter in Kauf nehmen, im Rahmen von Ausstellungen öffentlich zu scheitern? Können freie Kuratoren sich in einer Förderumgebung bewegen, wenn sie ihr Scheitern vergangener Projekte benennen? Was hieße es, im Umgang mit sensiblen Objekten wie z. B. human remains oder Objekten schwieriger Provenienz zu scheitern? Kann das gewollt sein und verantwortet werden? Diese Fragen müssen gestellt werden, wenn Ausstellungen einen experimentellen Charakter haben und als Ausstellungslabore firmieren. Gesamtkonstellationen und Selbstverständnisse des Museums sind mit derartigen Benennungen, die letztlich einen Anspruch, Neues zu generieren und sich damit auch angreifbar 15 Humboldt Lab Dahlem (Hrsg.): Prinzip Labor. Museumsexperimente im Humboldt Lab Dahlem, Berlin 2015.
262 Jochen Hennig
zu machen, zum Ausdruck bringen, ebenso herausgefordert wie die Frage, in welchen Punkten Museen tatsächlich bemüht sein sollten, neue Wege mit einem laborhaften Charakter zu beschreiten und wann es eher gefragt sein kann, vorhersehbar zu agieren. Das Prinzip Labor des Humboldt Lab Dahlem und das Objektlabor können durch ihre Begrifflichkeit produktiv sein, wenn sie den potenziell wissensgenerierenden Charakter von Ausstellungen und Objektarbeit herausstellen. Die Begriffe sind hingegen kontraproduktiv, wenn sie suggerieren, dass Sammlungsräume und Ausstellungen im Normalfall keine Wissensräume sind, sondern dieses nur in Spezialfällen, die mit „Labor“ überschrieben sind. Die Begriffe sind zudem kontraproduktiv, wenn sie sich insgeheim doch nicht trauen, auch zu scheitern – dann sind sie ein Etikettenschwindel. Dafür müsste aber auch diskutiert werden, wie ein Scheitern benannt und produktiv gewendet werden kann. Wünschenswert wäre es auch, zu einer differenzierten Schärfung von Begriffen wie Labor, Atelier, Studio, Sammlung, Ausstellung, Probebühne, Kabinett, Werkstatt etc. zu kommen. Das Objektlabor, wie es derzeit konzipiert und vorbereitet wird, kann vielleicht einen Beitrag dazu leisten, die Benennung einzelner Formate reflektiert vorzunehmen; wenn der derzeit übergreifend und pauschal verwendete Titel „Objektlabor“ damit relativiert würde, könnte dies als wichtiges Ergebnis eines experimentell-laborhaften Ansatzes gewertet werden. Auch Sammlungspraktiken an Museen oder in privater Hand könnten von einer solchen Ausdifferenzierung profitieren.
Stefan Schulz
Ein Bluttransfusionsgerät aus Kunstbernstein und das Netzwerk Bergbau Fasst man Bergbau als ein Netzwerk mit räumlichen, zeitlichen und prozeduralen Dimensionen aus Subjekten, Objekten und Institutionen auf, so wird eine Antwort auf die Frage, welche materialen Artefakte als „Bergbauobjekte“ im engeren oder weiteren Sinn zu bewerten sind, nur perspektivhaft möglich sein. Dabei sollten die jeweils benutzten Kriterien transparent dargestellt und die Folgen für die Beschäftigung mit den Objekten erwogen werden. Von besonderer Bedeutung ist dies für Einrichtungen wie dem Deutschen Bergbau-Museum, das vor diesem Hintergrund aus der Sicht einer klassisch disziplinär ausgerichteten Sammlung ein breites Spektrum an Objekten sammelt und dementsprechend Objektkompetenzen aus vielen dieser klassischen Disziplinen benötigt. Im folgenden Beitrag soll demonstriert werden, wie ein zunächst rein medizinisch anmutendes Objekt der Medizinhistorischen Sammlung der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zu einem „Bergbauobjekt“ wurde, welche Hilfsmittel dabei zum Einsatz kamen und inwieweit sich daraus spezifische Kooperationen in Forschungs- und Ausstellungsprojekten ergaben (Abb. 1).
Abb. 1: Bluttransfusionsgerät nach Bürkle de la Camp https://doi.org/10.1515/9783110683097-016
264 Stefan Schulz
Bestimmung und Funktionsanalyse Im Zuge der Aufarbeitung des „Altbestandes“ der Medizinhistorischen Sammlung der RUB wurde ein Gerät zur näheren Bestimmung und Bewertung ausgewählt, das nach einer ersten, orientierenden Bewertung zu den eher seltenen medizinhistorischen Sammlungsobjekten zählt. Die genaue Funktion des Apparates war ebenso unbekannt wie seine Provenienz, da keine weiteren Informationen über die Herkunft des Objekts vorlagen. Erste Anhaltspunkte zur Funktion konnten allerdings aus den Bauteilen abgeleitet werden. Der Hauptteil des Apparates besteht aus einer dunkelroten, transparenten, kunststoffartigen Bürette mit einem Deckel, der im Zentrum einen Zweiwegehahn trägt. Am unteren Ende des Apparates befindet sich seitlich ein konischer, mit einem Kanal versehener Fortsatz. Beigelegt waren großkalibrige Injektionsnadeln sowie zwei Schläuche, der eine mit einem Druckgebläse, der andere mit einem gläsernen Mundstück. Nach dem Zusammenbau (Abb. 1) lag die Vermutung nahe, dass es sich um ein Bluttransfusionsgerät des „Bürettentyps“ handelt, wie sie vornehmlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts produziert und eingesetzt wurden. Ausgangspunkte für die weitere Bestimmung lieferte die Beschriftung der Bürette mit „Neo-Athrombit“, „D.R.P.“ sowie „F. & M. Lautenschläger München“ (Abb. 2).
Abb. 2: Bluttransfusion mit der Becher-(links) und der Saugmethode (rechts)
Über einen Katalog der Firma „F. & M. Lautenschläger“ aus dem Jahre 1938 gelang es rasch, das Objekt als „Bluttransfusionsgerät aus Neo-Athrombit“ zu bestimmen, und zwar für die so genannte „Saugmethode“. Gleichzeitig wurde
Ein Bluttransfusionsgerät aus Kunstbernstein und das Netzwerk Bergbau
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deutlich, dass es für diesen Gerätetyp eine ganz ähnliche Alternative gab, die nach der so genannten „Becher-Methode“ funktionierte. Außerdem fand sich in diesem Katalog der Hinweis auf eine „Sonderliste 318“, die beide Methoden und die dazu gehörenden Geräte ausführlich erläutern würde.1 Nachdem diese Sonderliste recherchiert und beschafft worden war, lag tatsächlich die detaillierte Funktionsweise der Geräte offen auf dem Tisch. Da zusätzlich die Nachnamen der Autoren der beiden Methoden bzw. Apparate genannt wurden, konnten ohne große Mühen die Konstrukteure der Geräte und ihre Publikationen recherchiert werden. Das Bochumer Gerät für die Saugmethode hatte Heinrich Bürkle de la Camp (1895–1974) entwickelt, das Gerät für die ältere Bechermethode Heinrich Lampert (1898–1981) und Otto Neubauer (1874–1957).2 Über die Kombination des Namens „F. & M. Lautenschläger, München“ und D. R. P. (für Deutsches Reichs-Patent) gelang es außerdem, das zugrundeliegende Patent zu finden: das „Deutsche Reichspatent 528523 Kunstharze für die Bluttransfusion“, patentiert im Deutsch Reich vom 3. September 1929 an, angemeldet von der Firma F. & M. Lautenschläger. Wegen der damals geltenden Vorschriften zur Kennzeichnung von Gegenständen als „patentiert“ wurde dadurch gleichzeitig ein weiterer zeitlicher Marker zum Produktionsdatum des Bluttransfusionsgeräts gewonnen, zusätzlich zum Herstellerkatalog und den wissenschaftlichen Publikationen.3 Durch die Analyse der Publikationen und des Patentes konnte so in einem ersten Schritt der medizinisch-wissenschaftliche Kontext rekonstruiert werden, in dem die Geräte um 1930 herum im Münchener Raum entwickelt und in die medizinische Praxis implementiert worden waren.4
1 Vgl. F. & M. Lautenschläger: 1888–1938. 50 Jahre Lautenschläger, München/Berlin [1938], S. 23 (Doppelseite, jede mit Paginierung 23) (Jubiläumskatalog Nr. 346); F. & M. Lautenschläger: Sonderliste 318, München/Berlin [ca. 1932]. 2 Wichtige Publikation dieser Autoren sind: Lampert, Heinrich: Die Bestimmung der Blutgerinnungszeit, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 77, 1930, S. 586–688; Lampert, Heinrich: Die Methode der Wahl für die Bluttransfusion, in: Zentralblatt für Chirurgie 57, 1930, S. 249–250; Lampert, Heinrich: Die physikalische Seite der Blutgerinnung und ihre praktische Bedeutung, Leipzig 1931; Lampert, Heinrich: Vereinfachung der Blutübertragung (Percy-Methode mit Athrombit), in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 57, 1931, S. 760–761; Neubauer, Otto/Lampert, Heinrich: Ein neuer Bluttransfusionsapparat. Zugleich ein Beitrag zur Kenntnis der thrombagogenen Eigenschaften fester Stoffe, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 77, 1930, S. 582–586; Bürkle de la Camp, Heinrich: Vereinfachte Bluttransfusionsröhre aus „Athrombit“ (Saugverfahren), in: Zentralblatt für Chirurgie 58, 1931, S. 347–348; Bürkle de la Camp, Heinrich: Erfahrungen mit Athrombit und Bernstein bei der Bluttransfusion, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 58, 1932, S. 1798–1799. 3 Vgl. Schulz, Stefan: Reichspatentdauer und Objektdatierung, in: Medizin im Museum. Jahrbuch der Medizinhistorischen Sammlung der RUB 2, 1995, S. 75–82.
266 Stefan Schulz
Anlass für die durch Neubauer angestoßenen Forschungen Lamperts war eine Ende der 1920er-Jahre an der II. Medizinischen Klinik in München missglückte Transfusion, die man mit einer von Auguste Bécart (1896–1954) entwickelten Transfusionsspritze versucht hatte.5 Diese raffinierte Konstruktion hatte einen hohlen Spritzenkolben, in dem sich ein Paraffin-Vaseline-Gemisch befand. Durch Öffnungen im Kolben wurden bei jeder Bewegung kleine Mengen davon abgegeben und so die Innenseite des Spritzenkörpers mit dem Gemisch beschichtet. Auf diese Weise wurde die seit einiger Zeit bekannte Eigenschaft von Paraffin und Vaseline ausgenutzt, die Gerinnung des Blutes deutlich zu verzögern, die ein Kontakt mit Oberflächen gewöhnlich schnell in Gang setzt. Mit der Bluttransfusionsspritze nach Bécart konnte man daher unverändertes Blut übertragen. Eine Praktik, die damals im Kontext der frühen Organtransplantationsversuche Konjunktur hatte.6 Anhänger dieser Methode lehnten gewöhnlich die schon länger bekannten, gerinnungsverzögernden Blutzusätze ab, wie etwa Natriumzitrat oder Heparin. Ein weiterer Vorteil dieser Transfusionsspritze bestand darin, dass Spender und Empfänger nicht nebeneinander gelagert werden mussten, wie es bei den so genannten direkten Methoden nötig war, und eine Portion Spenderblut für mehrere Empfänger genutzt werden konnte.7 Die Vorbereitung, Pflege und Handhabung der Spritze war aber nicht einfach, wie etwa die missglückte Münchener Transfusion belegt. Lampert stellte fest, dass es offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der „Benetzbarkeit“ von Oberflächen und der Geschwindigkeit der Blutgerinnung gab: umso geringer die Benetzbarkeit mit Wasser, umso langsamer die Gerinnung (Abb. 3). Um die Benetzbarkeit zu quantifizieren, fotografierte Lampert die Kontaktstelle zwischen Flüssigkeit und Oberfläche und ermittelte planimetrisch die Fläche des gehobenen Anteils. Den so erhaltenen Wert multiplizierte er mit dem spezifischen Gewicht der Flüssigkeit. So erhielt er den so genannten Benetzbarkeitsfaktor (Abb. 4).8
4 Zu diesem Prozess vgl. allg. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte aus echtem und KunstBernstein, in: Ganzelewski, Michael/Slotta, Rainer (Hrsg.): Bernstein-Tränen der Götter, Bochum 1996, S. 465–474 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum, 64). 5 Vgl. Neubauer, Otto/Lampert, Heinrich: Bluttransfusionsapparat (s. Anmerkung 3); Lampert, Heinrich: Blutgerinnung (s. Anmerkung 3). 6 Vgl. Schulz, Stefan: Zwischen Parabiose, Reizen und Organtransplantationen: Die Wiederentdeckung der Bluttransfusion im frühen 20. Jahrhundert, in: Gadebusch-Bondio, Maria-Carla (Hrsg.): Blood in history and blood-histories, Florenz 2005, S. 289–310, Abb. 1 und 2 (Anhang). 7 Vgl. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5). 8 Vgl. Neubauer, Otto/Lampert, Heinrich: Bluttransfusionsapparat (s. Anmerkung 4); Lampert, Heinrich: Blutgerinnung, S. 11–20 (s. Anmerkung 3).
Ein Bluttransfusionsgerät aus Kunstbernstein und das Netzwerk Bergbau
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Abb. 3: Messung der Benetzbarkeit verschiedener Materialoberflächen nach Lampert
Abb. 4: „Benetzbarkeit“ verschiedener Materialoberflächen nach Lampert
Lampert erforschte eine große Zahl an Materialien. Nicht alle waren als Baumaterial für medizinische Geräten geeignet, andere erschienen ihm zu teuer, wie z. B. Bernstein. Auf der Grundlage seiner Ergebnisse konstruierte er gemeinsam mit Neubauer den ersten Bluttransfusionsapparat aus dem von der Firma F. & M. Lautenschläger patentierten Kunstharz, das sie „Athrombit“ tauften.9 Dabei
268 Stefan Schulz
orientierten sie sich an den schon seit den 1910er-Jahren bekannten Bürettentypen aus Glas, die vor einer Transfusion in einer komplizierten Prozedur innen mit Paraffin beschichtet werden mussten (Abb. 5).10
Abb. 5: Frühes Bluttransfusionsgerät des Bürettentyps, 1913
Der Apparat selbst bestand aus einem Athrombit-Becher, in dem das Spenderblut nach der Punktion einer Vene aufgefangen wurde, und einer Athrombit-Bürette. Das mit dem Becher aufgefangene Blut wurde in die Bürette gegossen und dann mit Hilfe eines Druckgebläses, das am Deckel der Bürette angebracht war, dem Empfänger infundiert (vgl. Abb. 2, „Nr. 100“). Um die Handhabung zu erleichtern, verband ein paraffinierter Schlauch die Bürette mit der Injektionskanüle. Die Kanüle selbst wurde aus hochglanzpoliertem V2a-Stahl gefertigt, da sich hier Athrombit nicht eignete. Um das Risiko von Komplikationen zu minimieren, konnte man zudem erst eine kleine Menge Blut einfließen lassen, um so die Verträglichkeit des Blutes zu überprüfen. Das Gerät hatte eine Reihe weiterer Vorzüge, es war beispielsweise leicht zu reinigen und sterilisierbar (Abb. 6).11
9 Vgl. Lampert, Heinrich: Blutgerinnung, S. 53 (s. Anmerkung 3). 10 Vgl. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5). 11 Ebd.
Ein Bluttransfusionsgerät aus Kunstbernstein und das Netzwerk Bergbau
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Abb. 6: Vorzüge der Neo-Athrombit-Apparate, Werbung der Firma F. & M. Lautenschläger, 1939
Im Dezember 1929 wurde das Gerät der Öffentlichkeit vorgestellt. Dort fand die Konstruktion zwar Beifall, aber auch Kritik. Als Hauptnachteil wurde empfunden, dass das Blut durch das Umgießen geschädigt werde.12 Dieser Ansicht war auch Bürkle de la Camp. Er modifizierte daher das Modell nach Lampert-Neubauer so, dass mit der Bürette das Blut sowohl entnommen als auch infundiert werden konnte. Die wichtigsten funktionalen Unterschiede zum Gerät nach Lampert/Neubauer sind der in den Deckel der Bürette integrierte Zweiwegehahn und der seitlich angebrachte Anschluss für eine Kanüle ohne Schlauchverbindung. Bei der Blutentnahme öffnete man mit dem
12 Vgl. Lampert, Heinrich: Bluttransfusion (s. Anmerkung 3).
270 Stefan Schulz
Zweiwegehahn den Anschluss zum Mundstück, stach die Kanüle in eine Vene des Spenders und ließ das Blut in die Bürette laufen. Bei Bedarf konnte man diesen Vorgang durch vorsichtiges Saugen an dem Mundstück unterstützen. War genügend Blut in die Bürette geflossen, zog man das Gerät aus der Vene des Spenders und stellte den Zweiwegehahn so ein, dass beide Wege verschlossen waren. Nun konnte kein Blut mehr aus der Bürette laufen, während man das Blut zum Empfänger brachte. Dort wurde eine neue Kanüle aufgesetzt und eine Vene des Empfängers punktiert. Nun öffnete man über den Zweiwegehahn den zum Druckgebläse führenden Schlauch. Jetzt strömte das Blut in den Empfänger, bei Bedarf unterstützt durch behutsame Druckerhöhung in der Bürette mittels Druckgebläse.13 Die Kritik an seinem Bluttransfusionsapparat beeindruckte auch Lampert. Fast zeitgleich konstruierte er einen ähnlichen Apparat wie Bürkle de la Camp, der auf dem älteren Modell, jetzt „A“ genannt, aufbaute. Das neu entwickelte Modell „B“ besaß statt eines Schlauches, der vom Boden des Gerätes zur Nadel führte, nun einen Steckansatz, auf den eine gebogene Nadel aufgesteckt wurde. Bei der Deckelkonstruktion kam er ohne einen Zweiwegehahn aus, indem er ein kombiniertes Druck-Saug-Gebläse verwendete (Abb. 7).14
Abb. 7: Bluttransfusionsgerät nach Lampert, Model B, Einsatz am Empfänger
Verkauft wurden die Athrombit-Geräte durch die Firma F. & M. Lautenschläger, die ja das Patent für das Baumaterial besaß. Lampert, der inzwischen die Fertigung von Gegenständen aus Pressbernstein kennen gelernt hatte, gelang es aber, im Februar 1930 beim Deutschen Reichspatentamt eine eigene Erfindung anzumelden, die ökonomische Vorteile versprach: „Gegenstand, der dazu be13 Vgl. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5). 14 Vgl. Lampert, Heinrich: Blutgerinnung, S. 62 (s. Anmerkung 3); ders.: Blutübertragung (s. Anmerkung 3).
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stimmt ist, mit gerinnbaren Flüssigkeiten in Kontakt zu kommen, insbesondere medizinisches Gerät, z. B. Bluttransfusionsapparat, dadurch gekennzeichnet, daß er aus Pressbernstein besteht“. Die Erteilung dieses Patentes wurde am 5. Januar 1933 bekannt gemacht. In der Folge produzierten auch andere Firmen Lamperts Bluttransfusionsapparat, etwa die Firma B. Braun aus Melsungen (Abb. 8).15
Abb. 8: Bluttransfusionsgerät „Echt Bernstein“ nach Lampert, produziert aus Pressbernstein, in einem Katalog der Firma B. Braun, Melsungen, 1939
Netzwerk Bergbau Nach der Auswertung der zeitgenössischen Literatur waren damit die Funktionsweise der Bochumer Geräte und der medizinisch-wissenschaftliche Diskurs im Umfeld bekannt. Die Provenienz der Geräte war allerdings noch nicht geklärt. Wie wurde also dieser Apparat zu einem „Bergbauobjekt“? Der wesentliche Faktor war hier die Biografie von Heinrich Bürkle de la Camp. Dieser Chirurg war zwar noch Anfang der 1930er-Jahre Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik München gewesen, wechselte dann aber 1933 als Leitender Arzt an das „Bergmannsheil Bochum“, wo er 1935 Durchgangsarzt der Knappschaft-Berufsgenossenschaft wurde.16 1962 trat er in Bochum in den Ruhestand. Anknüpfend an diese biografischen Aspekte konnte nun eine Hypothese zur Provenienz der Bochumer Geräte entwickelt werden: Die Geräte gelangten demnach direkt oder
15 Vgl. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5). 16 Vgl. Ostermann, Wolfgang: Die Geschichte der Berufsgenossenschaftlichen Krankenanstalten Bergmannsheil Bochum, Münster 1976 (= Studien zur Geschichte des Krankenhauswesens 3), S. 57 f.; Boyer, Josef: Bergmannsheil 1890–1990. Ein historischer Rückblick, in: BergbauBerufsgenossenschaft Bochum (Hrsg.): 100 Jahre Bergmannsheil, Bochum 1990, S. 36–83; Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5).
272 Stefan Schulz
indirekt über Bürkle de la Camp nach Bochum und anschließend möglicherweise aus dem Bergmannsheil an die Ruhr-Universität Bochum. Die Zahl der Verletzten, die im Bochumer Bergmannsheil in den 1930er-Jahren erstversorgt wurden, stieg in den 1930er-Jahren stark an (Abb. 9). Waren es 1934 noch etwas über 7000 gewesen, wuchs ihre Zahl auf über 20 000 im Jahr 1937.17 Viele dieser Patienten waren verunfallte Bergleute, die bei schweren Verletzungen und Operationen Bluttransfusionen benötigten. Dabei ist auf dem Boden der bisherigen Analysen plausibel, dass viele dieser Übertragungen mit Bluttransfusionsgeräten nach Bürkle de la Camp durchgeführt wurden. Die Kontinuität der Person wäre dann hypothetisch auch dafür verantwortlich, warum im Bergmannsheil die im Vergleich kostenintensiven Geräte angeschafft und eingesetzt wurden. Ob das tatsächlich der Fall war, müssen zukünftige Forschungen zeigen.
Abb. 9: Erstversorgte Verletzte im Bergmannsheil Bochum
Der Kontext der medizinischen Versorgung der Bergleute liefert so gute Argumente, die Bochumer Bluttransfusionsgeräte als „Bergbauobjekte“ zu bewerten. Sie gehören eindeutig zur Vergangenheit des Netzwerks Bergbau im Ruhrgebiet, in das sie mehrdimensional verwoben sind. Ob man sie allerdings als Bergbauobjekte im engeren Sinne etwa sogar als Teil des Bergbauerbes ansehen sollte, ist damit jedoch noch nicht entschieden.
17 Angaben nach Ostermann, Wolfgang: Bergmannsheil (s. Anmerkung 18); Boyer, Josef: Bergmannsheil (s. Anmerkung 17).
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Kooperationen Für die Kooperationen, die sich in der Folgezeit mit dem Deutschen BergbauMuseum Bochum ergaben, war eine Antwort auf diese Frage auch zweitrangig. Über die Ausstellung „Bernstein – Tränen der Götter“, die von 1996 bis 1997 im Deutschen Bergbau-Museum Bochum gezeigt wurde, ergab sich eine erste Zusammenarbeit.18 Mittelpunkt war hier das Baumaterial der Bluttransfusionsbüretten, das Kunstharz Athrombit, ein Material, das, wie andere ähnliche Kunstharze, auch als „Kunstbernstein“ bezeichnet wurde.19 Auf der Basis dieses Ausstellungsprojektes ergab sich eine weitere Kooperation in dem von der Kulturstiftung des Bundes und der Länder von 2008 bis 2012 geförderten und von Michael Ganzelewski geleiteten Forschungsprojekt „Konservierungs- und Restaurierungsverfahren zur Erhaltung von Composite-Objekten mit hohen Elastomer- und anderen Kunststoffanteilen (Gummimaterialien)“.20 Diese temporären Kooperationen trugen schließlich mit dazu bei, dass es 2012 gelang, das Netzwerk „bochum scientific collections“, kurz boscol, als Kooperation der Sammlungen der Ruhr-Universität Bochum, der Sammlungen des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, des montan.dok und dem Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets zu gründen. In diesem Netzwerk arbeiten gegenwärtig 13 Sammlungen zusammen, die sich in allen sammlungsbezogenen Belangen unterstützen und, etwa in Fragen der Objektbearbeitung, bei konservatorischen Fragen, bei Ausstellungen und bei Seminaren, gemeinsame Projekte betreiben (vgl. www.boscol.de).
18 Über die Ausstellung informiert der Katalog: Ganzelewski, Michael/Slotta, Rainer (Hrsg.): Bernstein – Tränen der Götter. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums 1996–1997, Bochum 1996 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum, 64). 19 Vgl. Schulz, Stefan: Bluttransfusionsgeräte (s. Anmerkung 5). 20 Ganzelewski, Michael: Antiaging für Kulturgut mit Elastomeranteilen Entwicklung und Praxiserprobung von Konservierungs- und Restaurierungsverfahren zur Erhaltung von KompositObjekten mit hohen Elastomeranteilen (natürliche und synthetische Gummimaterialien), in: Jahresbericht des Deutschen Bergbau-Museum 2012, Bochum 2012, S. 154–155. Unter: www. bergbaumuseum.de/index.php/de/forschung/publikationen-zum-download/item/jb-forschung-antiaging-kulturgut (Stand: 13.07.2018).
Hans Peter Hahn
Materielle Objekte als Zeugen der Geschichte? Zum Status von „Überresten“ als Quelle historischer Rekonstruktion „Dinge zeigen nur, ansonsten sind sie stumm.“1
Einleitung Dinge haben ihren eigenen Bezug zur Zeit. Was aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart überdauert hat, stellt vielfach ein Rätsel dar. Zugleich sind die aus der Vergangenheit bis in die heutige Zeit hineinragenden materiellen Objekte ein starkes Indiz dafür, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten anders als heute und in ganz verschiedenen Lebensweisen ihren Alltag gestaltet haben. Für die Komplexität der Geschichte und für die Prägnanz historischer Entwicklungen gibt es keine stärkere Evidenz als die, die durch die Auseinandersetzung mit den Dingen vergangener Epochen in den Vordergrund tritt. Der unmittelbare Eindruck von Objekten, deren Funktion aus heutiger Sicht am besten als „rätselhaft“ geschrieben wird, ermöglicht auch ohne das Studium von Texten oder eine andere diskursive Vorbereitung das Eintauchen in die Vergangenheit. Alain Schnapp hat auf dieser Grundlage die Hypothese entwickelt, dass materielle Überreste, besonders in Form von Ruinen, erst durch ihren spezifischen Charakter – nämlich nicht mehr einem aktuellen Zweck zu dienen – eine eindeutige Rolle als Markierung von tief in der Geschichte verankerten Identitäten erlangen.2 Es gibt kein besseres Mittel für die Referenz an generationenübergreifenden Kontinuitäten als das Vorzeigen oder Zurschaustellen von alten Dingen. Das Beispiel der Ruine ist schon deshalb überzeugend, weil es sich zumeist um Gebäude handelt, deren Lebensspanne ein Mehrfaches des Lebens des Menschen entspricht. Dies lässt sich verallgemeinern: Tradition und Erinnerung sind immer dann insbesondere an Objekte geknüpft, wenn die infrage stehen1 Lauffer, Otto: Quellen der Sachforschung: Wörter, Schriften, Bilder und Sachen. Ein Beitrag zur Volkskunde der Gegenstandskultur, in: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 17, 1943, S. 106–131, hier: S. 125. 2 Vgl. Schnapp, Alain: Was ist eine Ruine? Entwurf einer vergleichenden Perspektive (= Historische Geisteswissenschaften, Frankfurter Vorträge 7), Göttingen 2014. https://doi.org/10.1515/9783110683097-017
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den Objekte außerordentlich langlebig sind.3 Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang auch auf das Museum zu verweisen, hat es doch definitionsgemäß die Rolle, Dinge zu sammeln und zu verwahren, und damit deren Lebensdauer weit über die vergleichbarer Objekte im alltäglichen Gebrauch hinaus auszuweiten. Objekte aus früheren Epochen waren ein Thema der historischen Reflexion, schon lange bevor sich die Geschichtswissenschaften im modernen Sinne etablierten. Schon seit dem Altertum wurden materielle Gegenstände, die offensichtlich nicht in die jeweilige Epoche passten, und die zugleich aber doch einen spezifischen Sinn der Herstellung und einen speziellen Zweck vermuten ließen, gesammelt. Ein alter Begriff für jene, die ihre Leidenschaft den alten Dingen widmeten, ist der der „Antiquare“. Arnaldo Momigliano beschrieb in einem umfassenden Aufsatz die Leistungen dieser Sammler im 18. Jh. und stellte heraus, wie viel Beweiskraft damals solchen Objekten zugetraut wurde.4 Die Veröffentlichung von Momigliano führte in den darauffolgenden Jahren zum so genannten „Antiquarismusstreit“. Er bezieht sich auf die Frage, ob das Sammeln von Dingen aus früheren Epochen bereits als ein Anfang der Geschichtsschreibung zu sehen ist, oder ob nicht doch das Schreiben von Geschichte, also die Historiografie, ein ganz anderes und neuartiges Arbeitsziel sei, in dem Geschichte paradigmatisch an textliche Selbstzeugnisse gebunden wird.5 Beide Seiten in diesem Streit räumen ein, dass eine Verbindung erkennbar ist: Auf spezifische Art hat das Zusammentragen von historischen Zeugnissen jedenfalls etwas mit Geschichtsschreibung zu tun. Ohne die Debatte hier im Einzelnen weiter zu verfolgen, ist für den vorliegenden Beitrag folgende Feststellung bedeutsam: Der Status des Materiellen als Zeugen der Geschichte war schon immer notorisch unsicher. In diesem Beitrag soll es darum gehen, einige ausgewählte Verbindungen von Dingen und Geschichte näher zu beschreiben und zu problematisieren. Auch wenn ganz unbestritten ist, dass die Dinge aus früheren Epochen etwas über jene Zeiten aussagen, so stellt sich doch die Frage, wie und in welcher Weise diese Informationen in den Objekten enthalten sind oder an sie geknüpft werden. 3 Shils, Edward A.: Tradition, London 1981. 4 Momigliano, Arnaldo: Ancient History and the Antiquarian, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1–2), 1950, S. 285–315. In Bezug auf die Epoche der Antiquare hebt Alain Schnapp ebenfalls hervor, wie sehr damals die Vorstellung historischer Evidenz an Objekte, nicht an Texte geknüpft wurde. Vgl. dazu Schnapp, Alain: Die Entdeckung der Vergangenheit: Ursprünge und Abenteuer der Archäologie, Stuttgart 2009, S. 173. 5 Völkl, Markus: Historischer Pyrrhonismus und Antiquarismus-Konzeption bei Arnaldo Momigliano, in: Das achtzehnte Jahrhundert 31 (2), 2007, S. 179–191.
Materielle Objekte als Zeugen der Geschichte?
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Offensichtlich ist es so, dass die Geschichtswissenschaften heute aus gutem Grund sorgfältig trennen zwischen Quellen (= Texten) und Überresten (= Objekten). Wie sind die alten Dinge zu entschlüsseln? Und wo liegen die Grenzen solcher Auslegungen von Objekten? Sind sie Zeugen im vollen Sinn des Wortes, oder bedarf es eines anderen Begriffs?6 Die Debatte zu diesem Thema ist so außerordentlich groß, dass sie im gegebenen Rahmen nur in Ausschnitten behandelt werden kann. Einen sehr frühen Hinweis auf die fundamentale Bedeutung für die Anfänge der Geschichtsschreibung gibt das Werk „De Signatura Rerum“ des Naturphilosophen Jacob Böhme aus dem Jahr 1622. Dort schreibt er: „Ein jedes Ding hat einen Mund zur Offenbarung und das ist der Natur Sprache“.7 Das mit diesem Zitat geäußerte Vertrauen in die Aussagekraft der Dinge ist kaum noch zu übertreffen. Später, in der Epoche des Historismus, war man Objekten gegenüber viel skeptischer und orientierte sich mehr und mehr an überlieferten Texten. Dietrich Harth folgend kann die Periode der Dominanz des Historismus zeitlich nach Herder und vor Nietzsche eingeordnet werden.8 Zeitgleich mit der im frühen 20. Jahrhundert zunehmenden Kritik am Historismus rückte die Frage in den Vordergrund, ob man nicht doch den materiellen Bedingungen des alltäglichen Lebens einen besonderen Status zuweisen solle. Im so genannten „Methodenstreit“ stellte unter anderen Karl Lamprecht die Rolle der wirtschaftlichen Bedingungen in den Vordergrund und verwies auf die Bedeutung der Dinge des Alltags.9 Die Frage nach den Dingen ist mithin verbunden mit der Auseinandersetzung über den Stellenwert von Sozial- und Alltagsgeschichte.10 Die Entwicklung der Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert hat den Dingen spät, aber dann doch mit immer mehr Nachdruck zu größerer Bedeutung verholfen.11 In den beiden folgenden Abschnitten seien beispielhaft zwei gegenwärtig wichtige Zugänge zu Dingen in der Geschichte genannt, nämlich erstens die Mobilität der Dinge und zweitens die Frage der Einbettung von Dingen. Bei6 Vgl. Schwark, Thomas: Dinge als Quellen des Lebens. Kulturgeschichtliche Überreste zwischen Zeugnischarakter und Attrappenfunktion, in: Historische Anthropologie 2, 1994, S. 323– 331. 7 Böhme, Jacob: De Signatura Rerum, Frankfurt a. M. 2009, S. 519. 8 Vgl. Harth, Dietrich: Kritik der Geschichte im Namen des Lebens. Zur Aktualität von Herders und Nietzsches geschichtstheoretischen Schriften, in: Archiv für Kulturgeschichte 68, 1986, S. 407–456. 9 Vgl. Lamprecht, Karl: Die kulturhistorische Methode, Berlin 1900. 10 Vgl. Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 1: Der Alltag, München 1985. 11 Vgl. Cremer, Annette C.: Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, in: Cremer, Annette C./Mulsow, Martin (Hrsg.): Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2017; S. 9–22.
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de Zugänge sind methodologisch bedeutsame, explizit auf materielle Kultur rekurrierende Erweiterungen der Geschichtswissenschaft. Sie machen anschaulich, wie Dinge über historische Ereignisse und Prozesse sowie über frühere Lebenswelten informieren. Aber, wie für jeden dieser Zugänge zu zeigen sein wird, sie haben zugleich auch klar erkennbare Grenzen. Den Dingen eine mit Texten vergleichbare Eindeutigkeit der Repräsentation von Vergangenheit abzuverlangen, entspricht nicht den neueren theoretischen Zugängen zu materieller Kultur. Dementsprechend schließt sich der Beitrag der Forderung nach der Berücksichtigung von Polyvalenzen des Materiellen an. Dieser Beitrag endet mit dem Plädoyer, materielle Kultur nicht nur als eine Erweiterung des historischen Wissens und der Methoden zu verstehen, sondern in der Betrachtung der Dinge aus früheren Epochen auch eine Herausforderung für den Platz unterschiedlicher Lesarten von Vergangenheit aufzufassen.
Dinge sind mobil Zum spezifischen Potential materieller Kultur gehört es, dass bestimmte, räumlich weit verbreitete Objekttypen verschiedene Orte um den Globus herum miteinander verbinden. Diese so genannte „globale Verflechtungsgeschichte“ ist – bezogen auf einzelne, nur an bestimmen Orten verfügbare Handelsgüter – sehr viel älter, als vielfach vermutet wird. Schon sehr früh widmete die Archäologie dem Fernhandel beispielsweise von Bernstein oder Kauri-Schnecken eine besondere Aufmerksamkeit.12 Beide Schmuckmaterialien wurden schon in vorgeschichtlicher Zeit durch ganz Europa sowie zwischen Asien und Europa transportiert. Aber auch Werkzeuge aus seltenen Steinen, wie zum Beispiel geschliffene Jadebeile oder fein behauene Obsidianmesser wurden schon vor Jahrtausenden über weite Distanzen gehandelt.13 Zu den wichtigen Antriebskräften für die Verknüpfung verschiedener Orte gehörte wenig später auch die Herstellung von Metallen, insbesondere von Bronze, die aus mehreren Rohmaterialien besteht. Spätestens ab dem Mittelalter spielten Gewürze eine wichtige Rolle für die globale Verflechtung. Rezepte der feudalen Küche im 14. Jahrhundert kamen ohne Zutaten aus Fernost nicht aus. Die Materialität der kulinarischen Sitten je-
12 Vgl. De Navarro, J. M.: Prehistoric Routes between Northern Europe und Italy Defined by the Amber Trade, in: The Geographical Journal 66, 1925, S. 481–503. 13 Vgl. Pétrequin, Pierre/Jeunesse, Christian/Jeudy, Françoise: La hache de pierre. Carrières et échanges de lames polies pendant le Néolithique, Paris 1995.
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ner Zeit ist gewissermaßen ein Indikator für die globale Verflechtung.14 In der frühen Neuzeit kam eine ganze Reihe von Gütern aus Fernost hinzu.15 Ob es angemessen ist, deshalb von einer ersten „Globalisierung im Mittelalter“ zu sprechen16, braucht an dieser Stelle nicht entschieden werden, wesentlich sind die räumlichen Verbindungen, die durch die genannten Güter entstehen. Mit dem Höhepunkt des Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand endgültig eine globale Ordnung, die auf dem Austausch von Waren beruhte. Zugleich wurden damit Verhältnisse der Unterdrückung und Ausbeutung zwischen einigen wenigen Staaten im Norden und in vielen anderen so genannten Kolonien im globalen Süden definiert. Transkontinental gehandelte Waren spielten in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, weil nur durch den Export von Rohstoffen der Besitz der Kolonien zu einem rentablen Unterfangen werden konnte. Zusätzlich zum Export aus den Kolonien suchte man mit großer Intensität nach Möglichkeiten, westliche Konsumgüter in den Kolonien abzusetzen. Zum Teil wurden solche Güter sogar in speziellen Formen hergestellt, um für den Konsumgütermarkt in den Kolonien tauglich zu sein. Dies gilt für so unterschiedliche Erzeugnisse wie bedruckte Stoffe, aber auch Geräte für den Feldbau17 und andere technische Güter, wie Eisenbahn, Automobile und Fahrräder.18 Die vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs erreichte Intensität der globalen Verflechtung wurde erst wieder in den 1980er-Jahren erreicht. Die kulturelle Begegnung im kolonialen Kontext Ende des 19. Jahrhunderts war gleichermaßen von Dominanz geprägt, wie auch auf der Ebene des Austausches von Gütern ver-
14 Vgl. Harvey, Karen: History und Material Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, London 2009. 15 Vgl. Siebenhüner, Kim: Kostbare Güter globaler Herkunft. Der Juwelenhandel zwischen Indien und Europa, in: North, Michael (Hrsg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Wien 2009, S. 327–342; Wills, John E.: European Consumption und Asian Production in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Brewer, John/Porter, Roy (Hrsg.): Consumption and the World of Goods, London 1993, S. 133–147. 16 Vgl. Ertl, Thomas: Seide, Pfeffer und Kanonen. Globalisierung im Mittelalter, Darmstadt 2008. 17 Vgl. Hahn, Hans Peter: Follow the Thing. Zur Substitution von lokalen Gütern durch globale Waren am Beispiel von Feldbaugeräten in Togo, in: Egbert, Henrik (Hrsg.): Afrika im Wandel, Berlin 2001, S. 109–119; Picton, John/Mack, John: African Textiles, London 1991. 18 Vgl. Wilson, S.: Bicycle Technology, in: Scientific American 228, 1973, S. 81–91; Edgerton, David: Creole Technologies and Global Histories. Rethinking How Things Travel in Space und Time, in: History of Science and Technology 1, 2007, S. 75–112; Mom, Gijs: Atlantic Automobilism. The Emergence and Persistence of the Car, Oxford 2015.
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mittelt.19 Während Unterdrückung und Entrechtung heute zum Grundwissen über Kolonialismus gehören20, sind die vielfältigen Prozesse der globalen Ausbreitung und Übernahme westlicher Güter sowie deren Modifikation bislang nur zum Teil aufgearbeitet worden.21 Tatsächlich sind die Versuche, in den Kolonien die Verbreitung westlicher Güter zu beschränken oder auf bestimmte Personengruppen zu limitieren, vielfach gescheitert. Die in diesem Kontext sich rasch vollziehende globale Ausbreitung von Kleidungsnormen, und deren intentionelle Modifikation an verschiedenen Orten, also die Einpassung in lokale Kulturen, können im Rückblick auch als subversive Handlung verstanden werden.22 Wesentlich für den hier vorliegenden Zusammenhang ist die Einsicht, dass die Ausbreitung und Übernahme von Gütern nicht immer den Intentionen der Akteure entspricht oder von diesen kontrolliert werden kann. Dinge werden angenommen, sie werden adaptiert und erhalten zugleich neue Bedeutungen. Obgleich es zum Beispiel nicht erwünscht war, dass die Bevölkerung in den Kolonien Afrikas westliche Kleidung trug, entstand in den urbanen Zentren dieser Länder sehr schnell eine lokale Elite, die sorgfältig westliche Bekleidungsstandards imitierte. Trotz der Restriktionen durch die Kolonialverwaltung wurde westliche Kleidung regelmäßig benutzt, allerdings mit anderen Bedeutungen belegt. Die räumliche oder auch soziale Ausbreitung von Gütern und der Übergang eines Objekttyps von einer Kultur zur anderen ist fast immer mit Umwertungen und Neudefinitionen von Kontexten verbunden.23 Im Moment der Aneignung von Gütern an einem bestimmten Ort oder durch eine soziale Gruppe werden Freiräume entdeckt, die es plausibel machen, Fragen der „richtigen“ Benutzung neu festzulegen. In unzähligen Fällen werden durch die Konsumenten andere, gegenüber den Intentionen der Hersteller deutlich abweichende Bedeutungen generiert. Marshall Sahlins verweist auf einen weiteren, bei Studien zur globalen Verflechtung von Gütern oft vernachlässigten Zusammenhang. Wie er zeigen kann, gibt es weite Teile der Welt, in denen trotz vorkolonialer Kontakte oder späterer Kolonisierung westliche Güter zurückgewiesen wurden oder zumindest ein ge-
19 Vgl. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992; Ulf, Christoph: Rethinking Cultural Contact, in: Ancient West & East 8, 2009, S. 81–132. 20 Vgl. Speitkamp, Winfried: Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005. 21 Wilk, Richard R.: Emulation und Global Consumerism, Bloomington 1996. 22 Comaroff, Jean/Comaroff, John: Of Revelation and Revolution: Christianity, Colonialism, und Consciousness in South Africa, Chicago 1991. 23 Vgl. Hahn, Hans Peter: Globale Güter und lokales Handeln in Afrika. Einige methodische Vorbemerkungen, in: Sociologus 54, 2004, S. 51–77.
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ringes Interesse daran bestand.24 Er folgert daraus, dass eine Weltgeschichte der materiellen Verflechtungen nicht nur das konkrete Auftreten bestimmter Dinge zu berücksichtigen hätte, sondern gerade auch die Abwesenheit von Übernahmen. Für die materielle Kultur des 21. Jahrhunderts ist festzustellen, dass an praktisch allen Orten der Welt Güter verwendet werden, die nicht in der Region oder in dem Land des Konsums hergestellt sind. Die globale Verflechtung von Warenproduktion und Konsum ist heute ein ubiquitäres Phänomen.25 „Globale Güter“ als Teil des Alltags gibt es überall, auch wenn die Verflechtung heute in ihrem vollen Ausmaß erst nach und nach, und oft nur am Beispiel einiger weniger prominenter Güter z. B. Mobiltelefone erkannt wird. Es gibt heute keinen Ort der Welt mehr, an dem nicht Emaille- und Plastikgefäße aus China oder Jeans amerikanischer Marken (letztere sicherlich auch gefälscht) verwendet werden.26 Automobile und Smartphones einiger weniger Dutzend Hersteller sind heute auf allen Kontinenten in Gebrauch, ohne dass deshalb diesen Dingen überall die gleiche Bedeutung zugeschrieben würde. Die bereits erwähnte Auf- oder Abwertung, die Zuweisung neuer Bedeutungen ist ein universelles Phänomen.27 Bemerkenswert ist die Beobachtung, wie wenige Menschen eine Vorstellung von solchen Verflechtungen haben. Die scheinbar offensichtliche Feststellung der globalen Zirkulation von Gütern entspricht nicht der vorherrschenden Alltagswahrnehmung. Menschen benutzen Dinge, ohne zu wissen, was ihr Herkunftsort ist; und es scheint auch nicht als Verlust oder Defizit empfunden zu werden, von solchen Verflechtungen nichts zu wissen.28 Würde man eine Geschichte der globalen Verflechtung durch Güter schreiben, so wäre diese Form von Ignoranz mit zu berücksichtigen. Unbestreitbar hat dieses Nichtwissen auch Vorteile: Würden Angehörige zeitgenössischer Gesellschaften immer wieder darauf verwiesen, welche weltumspannenden Bezüge schon durch die banalen Gegenstände auf dem Frühstückstisch zum Ausdruck kommen, so würde manche Konsumentscheidung zu einer Herausforderung werden.
24 Vgl. Sahlins, Marshall D.: Cosmologies of Capitalism: The Trans-Pacific Sector of ‚The World System‘, in: Proceedings of the British Academy 74, 1988, S. 1–51. 25 Vgl. Hahn, Hans Peter (Hrsg.): Consumption in Africa Anthropological Approaches, Münster 2008 (= Beiträge zur Afrikaforschung, 37). 26 Vgl. Miller, Daniel/Woodward, Sophie: Global Denim, Oxford 2010. 27 Vgl. Hahn, Hans Peter/Weiss, Hadas: Mobility, Meaning and Transformations of Things: shifting contexts of material culture through time and space, Oxford 2013. 28 Vgl. Verne, Markus: Auf der Suche nach dem ‚globalen Gut‘, in: Loimeier, Roman/Neubert, Dieter/Weißköppel, Cordula (Hrsg.): Globalisierung im lokalen Kontext. Perspektiven und Konzepte von Handeln in Afrika, Münster 2005, S. 85–124.
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Obgleich also die globale Vernetzung einen naheliegenden Zugriff bietet, um die Dingverhältnisse in der Vergangenheit und Gegenwart offenzulegen, bleibt doch die Problematik, dass damit Eigenschaften beschrieben werden, die unter Umständen wenig mit der erfahrenen Lebenswelt der Besitzer und Benutzer dieser Güter zu tun haben. Die Inanspruchnahme der Mobilität materieller Dinge als historisches Zeugnis läuft mithin Gefahr, eine wissenschaftliche Erkenntnis (= „Schreibtischwissen“) dem erfahrenen Alltag vergangener Epochen überzustülpen.
Dinge zwischen Form und Kontext Zur Idee des modernen Museums gehört es, zu einem definierten und wissenschaftlich abgegrenzten Bereich eine möglichst umfassende Sammlung anzulegen.29 Vor diesem Hintergrund bestand eine der lange währenden Praktiken des musealen Sammelns darin, Objekte, von denen es mehrere Exemplare gab, einzutauschen gegen solche Objekte, die in der Sammlung noch fehlten.30 Das so genannte „Tauschen von Dubletten“ bezeugt ein ganz spezielles Verständnis von Dingen. Dahinter steht nämlich die Vorstellung, dass jedes Objekt als Repräsentant einer bestimmten Kategorie von Gegenstanden anzusehen sei.31 Zugleich glaubt man, dass alle Dinge innerhalb einer Kategorie im Grunde den gleichen Formprinzipien folgen.32 Scheinbar ist das menschliche Denken so strukturiert, dass eine einmal in der Vorstellung etablierte Kategorie die Bedeutung des einzelnen Objektes in den Hintergrund drängt. Bei den Dingen in Museumssammlungen sind vielfach äußere, rein formale Kriterien darüber entscheidend, wie eine Kategorie definiert und gegen andere abgegrenzt wird. Trotz dieser problematischen Äußerlichkeit der Abgrenzungsmechanismen haben sich die Bestimmbarkeit einer Form und ihre Einordnung zu einer Kategorie als ein hohes Prinzip der Ordnung materieller Umwelt erwiesen.33 Das unendliche Kontinuum von Objektvarianten wird auf diese Weise sys29 Vgl. Hahn, Hans Peter: Sammlungen, besondere Orte von Dingen, in: Hofmann, Kerstin P./ Meier, Thomas/Mölders, Doreen (Hrsg.): Massendinghaltung in der Archäologie. Der material turn und die Ur- und Frühgeschichte, Leiden 2016, S. 23–42. 30 Vgl. Hoffmann, Beatrix: Das Museumsobjekt als Tausch- und Handelsgegenstand. Zum Bedeutungswandel musealer Objekte im Kontext der Veräußerungen, Berlin 2012. 31 Strawson, Peter Frederick: Einzelding und logisches Subjekt, Stuttgart 1972. 32 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig/Biermann, Armin (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 725–788.
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tematisch erfassbar. Wie der Soziologe Georg Simmel schon im Jahr 1911 herausstellte, schafft die Zuweisung eines Stils als Kategorie Struktur, Ordnung und nicht zuletzt auch Distanz gegenüber dem Einzelobjekt.34 Ohne die rasche Kategorisierung von Dingen im Alltag wäre der Einzelne in der Moderne nicht in der Lage, sich zu orientieren.35 Die Ethnologin Ulla Johansen hat mit Hilfe einer Anekdote aus ihrer ethnografischen Arbeit in Mexiko dieses Prinzip jedoch in Frage gestellt.36 Wie sie berichtet, hat sie einmal an einen Holzschnitzer dort den Auftrag vergeben, zwölf gleichartige Stühle herzustellen. Als Entlohnung hat sie dafür einen Preis angeboten, der genau dem zwölffachen eines einzelnen Stuhles entsprach. Der Schnitzer wies dieses Entgelt als zu gering zurück und erklärte, die Serie von zwölf Stühlen herzustellen, bedeute ungleich mehr Arbeit, als im Laufe eines längeren Zeitraums zwölf einzelne Stühle des gleichen Typs zu schnitzen. Die feinen Unterschiede des Materials und die Anforderung, eine Serie gleichartiger Objekte herzustellen, erschienen dem Schnitzer als eine besondere Herausforderung, die einen zusätzlichen Lohn rechtfertigte. Johansen entwickelte aus dieser überraschenden Information zur Bewertung von Dingen eine kritische Perspektive auf die gängige Museumspraxis. Die Geringschätzung scheinbar gleichartiger Objekte entspringt ihrer Auffassung zufolge einer ungenauen Wahrnehmung durch die Museumsexperten. Anstatt Doubletten zu tauschen, fordert Johansen, sollte man in Museen viel mehr lernen, Serien von Dingen als eine besondere Quelle der Erkenntnis zu betrachten. Minimale Variationen in einer Serie grundsätzlich gleichartiger Dinge können hoch bedeutsam sein, weil sie auf Bedingungen der Herstellung verweisen. So wäre im angeführten Beispiel zu fragen: Kann die Varianz gleicher oder geringfügig unterschiedlicher Objekte eher durch handwerkliches Können oder aber eher Eigenschaften des Materials erklärt werden? Museen sind stets auch Orte der systematischen und bestenfalls auch gutbegründeten „Anordnung“ von Dingen. Die 33 Vgl. Rafflet, Marlies: Sammeln, die ordnende Weltsicht. Aspekte zur historischen Museologie, in: Curiositas. Zeitschrift für Museologie und Museale Quellenkunde 1, 2001, S. 67–80. 34 Vgl. Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Ders: Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S. 25–54; Lohmann, Georg: Der Schleier zwischen uns und den Dingen: Georg Simmels ’Stilisierung’, in: Fuhrer, Urs/Josephs, Ingrid E. (Hrsg.): Persönliche Objekte. Identität und Entwicklung, Göttingen 1999, S. 40–59. 35 Natürlich haben auch sprachliche Kategorien ihre Polyvalenzen und Antagonismen. Insbesondere die Diskursanalyse von Michel Foucault beruht auf der Dynamik von sich verändernden Wortbedeutungen. Foucault verweist dafür auf das Beispiel der chinesischen Enzyklopädie, das er von Jorge Luis Borges übernimmt. Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses, Paris 1966. 36 Vgl. Johansen, Ulla: Materielle oder materialisierte Kultur?, in: Zeitschrift für Ethnologie 117, S. 1–15.
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Gleichheit aller Gegenstände in einer Objektkategorie einfach zu postulieren, wäre ein nicht zu unterschätzender Verlust an Erkenntnismöglichkeiten.37 Mit diesem Beispiel ist hinreichend deutlich geworden, welche epistemischen Verkürzungen durch die Festlegung von Objektkategorien entstehen können. Eine genaue Betrachtung eines Objektes kann sich nicht auf die Zuordnung zu einem Typus oder Formprinzip beschränken.38 An Stelle dessen sind individuelle Merkmale mit zu berücksichtigen. Eine sorgfältige Objektbeschreibung verlangt das genaue Eingehen auf die Gründe für bestimmte Varianten oder aber eine Erklärung für die völlige Gleichartigkeit. Dies gilt grade auch für industriell hergestellte Massenprodukte. Die Bedeutung eines einzelnen Dings kann bei solchen Dingen zum Beispiel durch die Analyse von Gebrauchsspuren herausgestellt werden. Museen erfahren die in der Sammlungsgeschichte angewendeten Kategorisierungen oftmals als einen historischen Ballast, weil sie für aktuelle Untersuchungen der Dinge einen einschränkenden Rahmen bilden. So sinnvoll Objektkategorien im Alltag sein mögen und so wirksam sie sich für die Strukturierung von Sammlungen erweisen, sie stellen gegenüber der Aufgabe einer umfassenden Beschreibung oftmals eher ein Hindernis dar. Das einzelne Objekt verschwimmt, es wird unscharf und bedeutungslos gegenüber der immer schärferen Profilierung der Kategorie.39 Auf Grund dieser im Grunde schon lange bekannten Schwächen eines Zugriffs auf Dinge durch Kategorien verweist man vielfach auf andere Möglichkeiten der Objektbeschreibung. Damit sind insbesondere die Möglichkeiten kontextbezogener Betrachtungen gemeint. Wie schon im obigen Beispiel deutlich wurde, ist es in vielen Fällen sinnvoll, materielle Objekte als Einzeldinge zu beschreiben. Dies bedeutet, ihre Eigenschaft als Teil einer Kategorie gleichartiger Objekte in den Hintergrund treten zu lassen, und an Stelle dessen den Zusammenhang mit solchen anderen Gegenständen herauszustellen, mit denen sie im Alltag verknüpft sind. So gehört es zu den großen Traditionen der Museumsarbeit, komplette Kücheninventare, Wohnzimmereinrichtungen oder Werkstätten von Menschen einer bestimmten Epoche im Zusammenhang darzustellen. Erst durch das Nebeneinander von ganz verschiedenen Objekten, die gemeinsam ei-
37 Vgl. Griesser-Stermscheg, Martina: Tabu Depot. Das Museumsdepot in Geschichte und Gegenwart, Wien 2013. 38 Conkey, Margaret: Style, Design and Function, in: Tilley, Christopher (Hrsg.): Handbook of Material Culture, London 2006; S. 355–373. 39 Hahn, Hans Peter: Wie Archive das Denken beeinflussen. Über Materialsammlungen, fragmentierte Objektinformationen und die Erzeugung von Sinn im musealen Kontext, in: Archäologische Informationen 38, 2015, S. 203–212.
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nen Gebrauchskontext ergeben, wird eine weitere wichtige Bedeutungsebene erkennbar. Der Philosoph Martin Heidegger hat dafür einen speziellen Begriff verwendet; in seiner Darstellung handelt es sich hier um das unscheinbare „Zeug“.40 „Zeug“ gewinnt seine Ansehnlichkeit erst im Moment des Gebrauchs. Nur eine solche Einbettung bietet einen Schlüssel zum tieferen Verständnis seiner Bedeutung. Sowohl in kulturhistorischen als auch in ethnographischen Museen waren solche Verbindungen in Ausstellungen stets ein wichtiges didaktisches Prinzip. Letztlich ist damit das wahrscheinlich beste Verfahren beschrieben, um dem Besucher im Museum fremde Lebenswelten näherzubringen. Im Hinblick auf den historischen Diskurs verweist dieser Zugang zur materiellen Kultur auf den sozialgeschichtlichen Zusammenhang: Bestimmte alltägliche Güter informieren über soziale Unterschiede, über arm und reich in der Gesellschaft, sowie über den Auf- oder Abstieg bestimmter sozialer oder professioneller Gruppen. Damit entsteht auch eine signifikante Nähe zur ebenfalls dem ganzheitlichen Prinzip verpflichteten ethnografischen Beschreibung.41 Die Einbettung der Dinge spielt weiterhin eine zentrale Rolle in der so genannten Alltagsgeschichte. Gerade bei jenen sozialen Gruppen, bei denen das Verfassen von Texten nicht üblich war, sind die Dinge des Alltags von besonderer Bedeutung.42 Die Einbettung der alltäglichen Dinge ist eine wichtige Ergänzung, nicht selten auch ein Korrektiv der Geschichtsschreibung, auch wenn die Dinge nur implizit erwähnt werden.43 Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass einige der wichtigsten Ansätze der neueren material culture studies genau dieser Idee verpflichtet sind: Die Geschichte sozialer Gruppen soll entlang von eingebetteten Objekten geschildert werden. Es ist wenig relevant, ob es um die Analyse einer ausgewählten Domäne geht – z. B. das Mobiliar in Landhäusern des 18.-19. Jahrhunderts44 – oder um einen ganzheitlichen Ansatz, der den Sachbesitz insgesamt erfasst.45 Immer 40 Vgl. Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, S. 20; Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 22. 41 Medick, Hans: Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 10, 1984, S. 295–319. 42 Vgl. Korff, Gottfried: Die Wonnen der Gewöhnung. Anmerkungen zu Positionen und Perspektiven der musealen Alltagsdokumentation, in: Korff, Gottfried/Eberspächer, Martina (Hrsg.): Museumsdinge. Deponieren Exponieren, Köln 2002, S. 155–166. 43 Ferme, Mariane C.: The Underneath of Things. Violence, History, and the Everyday in Sierra Leone. Los Angeles 2001. 44 Vgl. Lubar, Steven/Kingery, David W.: History from Things. Essays on Material Culture, Washington D.C 1993. 45 Vgl. Fél, Edit/Hofer, Tamás: Geräte der Atanyer Bauern, Budapest 1974.
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wird das soziale Leben auf Grund einer Beschreibung der den Menschen und ihrer Aktivitäten zugeordneten Objekte anschaulich gemacht. Das gilt gleichermaßen für die Kate eines Holzköhlers, wie für einen Palast, dessen Luxusobjekte das Leben der Oberschichte anschaulich machen. Auch das Werkzeug eines Handwerkers verrät mehr über sein Können als nur ökonomische Berechnungen oder eine Statistik. So vorteilhaft dieser Zugang auch sein mag, in der Vorstellung einer unmittelbaren Anschauung durch die Präsentation des Objektes im Kontext liegt auch schon seine Problematik. Nicht selten wird aus dem Nebeneinander der Dinge und aus der Interpretation der offensichtlichen Gebrauchsspuren sehr rasch eine Evidenz, die einer näheren Prüfung nicht standhält. Heidegger selbst war Opfer einer solchen ungeprüften Evidenz. Er erwähnt die von van Gogh gemalten Schuhe und interpretiert sie auf Grund der Gebrauchsspuren als Bauernschuhe. Die Kunstgeschichte hat jedoch erwiesen, dass es sich um die Schuhe des Malers handelt.46 Wenn man glaubt, Dinge vollständig aus dem Kontext heraus erklären zu können, unterschätzt man den notorischen Mangel an Eindeutigkeit und wird blind gegenüber dem überschießenden Charakter der unmittelbaren Wahrnehmung, die aus jedem Detail eine Evidenz herausziehen will.47 Das interpretierende Auge schafft Evidenz, wo keine ist. Karl-Heinz Kohl hat diese Problematik in eine polemische Zuspitzung gebracht, wenn er erklärt: „Kontext ist Lüge“.48 Das Anliegen dieses Abschnittes war es, zwei eng miteinander verbundene Zugänge zu Dingen als historischen Zeugen nebeneinanderzustellen und zugleich deren Grenzen deutlich zu machen. Sowohl die Beschreibung eines Objektes als Vertreter einer Kategorie - also die klassische stilgeschichtliche Analyse -, wie auch die Schilderung von ganzheitlichen Kulturbildern oder Szenen, in denen Dinge in ihrer Einbettung präsentiert werden, sind beide nur mit gewissen Einschränkungen hilfreich, wenn es um die Aussage der Objekte über Kultur und Gesellschaft in der Vergangenheit geht. Beide Zugänge haben ihre Berechtigung; sie wurden und werden in Museumsausstellungen genutzt und sind auch als Grundlage von zahllosen wichtigen Studien verwendet worden. Wie jedoch deutlich gemacht wurde, haben beide Ansätze aber auch Grenzen. 46 Vgl. Gockel, Bettina: Van Goghs Schuhe. Zum Streit zwischen Heidegger und Meyer Schapiro, in: Frank, Michael C./Gockel, Bettina/Hauschild, Thomas (Hrsg.): Fremde Dinge, Bielefeld 2007 (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1), S. 83–94. 47 Vgl. Porath, Erik: Die Frage nach der Dinglichkeit Heidegger und das Geschlecht der Dinge zwischen Entzug und Ereignis, in: Ecker, Gisela/Breger, Claudia/Scholz, Susanne (Hrsg.): Dinge Medien der Aneignung, Grenzen der Verfügung, Königstein/Ts. 2002 (= Kulturwissenschaftliche Gender Studies, 3), S. 256–272. 48 Kohl, Karl-Heinz: Kontext ist Lüge, in: Paideuma 54, 2008, S. 217–221.
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Die Offenheit des Materiellen als Potential Welche Rolle können materielle Dinge im historischen Verstehen spielen, wenn ihnen in keinem der geschilderten Zugänge eine eindeutige Evidenz zukommt? Das Plädoyer dieses Beitrags lautet, die Dinge nicht einfach als „Zeugen“ der Geschichte aufzufassen. Eine bloße Erweiterung des Quellenbegriffs oder eine Ergänzung der Methoden ist nicht ausreichend, um dem Spezifischen materieller Kultur als historischem Zeugnis gerecht zu werden. An Stelle dessen wird hier dafür plädiert, das Studium von materiellen Dingen der Vergangenheit als eine Option dafür zu betrachten, Geschichte anders zu erzählen. Dinge sind nicht nur weniger eindeutig als eine Statistik oder eine Gerichtsakte, sie sind auch anschaulicher. Noch wichtiger ist aber, dass materielle Objekte verschiedene Rekonstruktionen der Geschichte zulassen und damit die Eindeutigkeit eines spezifischen Narrativs zuverlässig unterlaufen. In einer Reflexion über das Spezifische von „Alltagsgeschichte“ spricht Alf Lüdtke in diesem Zusammenhang von dem „spröden Charakter“ des Materiellen.49 Die Logik einer mittelalterlichen Werkstatt oder die einer Fabrikhalle des frühen 20. Jahrhunderts kann nicht so leicht Diskursen untergeordnet werden. Lüdtke betont diesen Unterschied, indem er darauf verweist, dass ein Text stets ein Narrativ enthalte; den Umgangsweisen mit Dingen des Alltags hingegen nicht immer eine Rationalität oder Zweckgebundenheit zu eigen ist. Man kann es als ein eher literarisches Genre auffassen, wenn Dinge in der Vielfalt ihrer Bedeutungen dargestellt werden. Unzweifelhaft hat dieser Zugang aber auch eine Entsprechung in der alltäglichen Wahrnehmung. Es ist durchaus überzeugend für den Betrachter oder Leser, wenn für einen materiellen Gegenstand nicht nur ein spezifischer Kontext, sondern gerade die Vielfalt unterschiedlicher Kontexte herausgestellt wird. Ein typisches Beispiel dafür, wie diese Beobachtung der Vielfalt der Bedeutungen über das literarische hinausgeht, ist das Werk von Francis Ponge. Seine kurzen Texte zum Beispiel über die Seife, den Kieselstein oder das Holz zeigen, wie problematisch es ist, einzelnen Objekten oder auch einer bestimmten Objektkategorie nur eine bestimmte Assoziation exklusiv zuzuordnen.50 Die Spannung in der Annäherung oder auch der Effekt des Wiedererkennens entsteht gerade durch die Offenheit dieser Texte. Dinge bedeuten nicht nur Eines, sondern evozieren unterschiedliche, mitunter sogar 49 Lüdtke, Alf: Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen. Zu den Perspektiven von Alltagsgeschichte, in: Schulze, Winfried (Hrsg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, MikroHistorie, Göttingen 1994, S. 65–80, hier: S. 70. 50 Vgl. Ponge, Francis: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine, Frankfurt a. M. 1982; ders.: Einführung in den Kieselstein und andere Texte, Frankfurt a. M. 1986; ders.: Die Seife, Frankfurt a. M. 1993.
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auch widersprüchliche Bedeutungen.51 Man könnte solche Öffnungen als reine Gedankenspiele abtun. Tatsächlich aber haben auch historische Abhandlungen über die Produktion von Seife im 20. Jahrhundert und ihren Konsum auf die Inspiration von Ponge rekurriert, um die vielfältigen Bedeutungen dieses industriellen Erzeugnisses hinreichend zu würdigen.52 Wichtiger als diese Verbindung zu historischen Studien erscheint aber das philosophische Echo auf die schon in den 1940er-Jahren verfassten Texte von Ponge. So hat Jean-Paul Sartre in einem Essay über Ponge auf die Aktualität seiner Perspektive hingewiesen.53 Im Umfeld der erschütternden Erfahrungen Mitte des 20. Jahrhunderts hatten nach Sartre Worte zur Beschreibung der Lebenswelt ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sätze und Worte sind ihm zufolge Gefängnisse des Geistes, sie sind (vor-)geprägte Strukturen, die jede Unmittelbarkeit des Eindrucks verhindern. An die Stelle der (mahnenden oder warnenden) Worte tritt der Blick auf die Dinge als dem letzten Ausweg aus einer unmenschlich gewordenen Umwelt. Dingen kommt durch die Verschiebung der Bedeutungsgenerierung ein eigentümliches, von multiplen Assoziationen gekennzeichnetes Leben zu. Dabei geht es, immer noch nach Sartre, nicht um eine Deskription im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern um eine Phänomenologie der Dinge, die den subjektiven Sichtwinkel ernst nimmt. Deshalb haben die Dinge einen besonderen Status; sie können in einer Form Denkweisen und Assoziationen generieren, die der „normalen“ Wahrnehmung widersprechen. Während, wie oben erwähnt, Heidegger aus den Dingen das „Zeug“ macht, seinen Zugang also an der Relation des Objektes zum Menschen orientiert, steht für Ponge die Autonomie des Materiellen im Vordergrund. Es gibt für ihn keinen Grund, warum sich die Dinge zum Menschen hinneigen sollten. Nur autonom gedacht verkörpern sie die Freiheit der Bedeutungsgenerierung, wegen der sich der Autor für sie interessiert. Würden die Dinge dauerhaft in ein ein-deutiges Bedeutungskorsett hineingepresst, so hätten sie zugleich Lebendigkeit verloren. Nach Sartre ist schon das Nennen des Namens eine Einschränkung gegenüber der Vielfalt der Dingbedeutungen. Philosophisch ist dieser Appell auf fruchtbaren Boden gestoßen. Verschiedene andere Autoren haben zur gleichen Zeit oder später daran erinnert, dass 51 Vgl. Hahn, Hans Peter/Neumann, Friedemann: Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen, Bielefeld 2018. 52 Vgl. Brede, Christina: Das Instrument der Sauberkeit. Die Entwicklung der Massenproduktion von Feinseifen in Deutschland 1850 bis 2000, Münster 2005 (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 26); Burke, Timothy: Lifebuoy Men, Lux Women. Commodification, Consumption and Cleanliness in Modern Zimbabwe, Durham 1996. 53 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Der Mensch und die Dinge, in: Neue Rundschau 73, 1962, S. 229–268.
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die Reduktion von Objekten auf eine Funktion, auf ein Design oder einen repräsentativen Status immer eine defizitäre Betrachtung bleiben muss. Wie Hans Blumenberg feststellt, ist jedes Ding im Moment der ersten Begegnung offen in seinen Möglichkeiten. So wie der Mensch seine besonderen Fähigkeiten nur durch den Verzicht auf andere erlangt, so wird das Objekt erst durch Kategorisierung, Bedeutungszuweisung und Gebrauch eingehegt. Einen Gegenstand in eine historisch-kulturelle Spezifik einzubetten, ist nach Blumenberg eine Selektion einiger weniger Eigenschaften. Dieser Prozess ist unumkehrbar, weil solche Einhegungen nicht einfach wieder verschwinden. Menschen haben sich an Kategorien gewöhnt, und nur in wenigen Situationen des Alltags gibt es eine Öffnung, die neue Zugänge erlaubt. Genau in diesem gedanklichen Zusammenhang verweist Blumenberg auf die Leistung Ponges, der die Sprache als ein „leeres Muschelgehäuse“ entlarvt habe, und damit die Offenheit der Dinge herausstellt.54 Blumenberg erinnert daran, dass die Sprache stets ein unangemessenes Instrument gegenüber dem Gegenstand ist. Die so erklärte „wesentliche Unbestimmtheit“ der Dinge selbst ist der erste Grund für die Unabschließbarkeit der Objektbeschreibung. Vergleichbar damit sind die „Phänomenologischen Skizzen“ mit dem Obertitel „Dinge und Undinge“ von Vilem Flusser.55 In diesem Buch stellt er in mehreren Essays einzelne Objekte vor und folgt dabei ähnlich wie Ponge einer freien Assoziationskette. Flusser nähert sich den Alltagsgegenständen, ohne Eindeutigkeit herzustellen; an Stelle dessen lässt er Raum für multiple, zum Teil gegenläufige Bedeutungen. Phänomenologisch gesprochen zwingt der Strom der sich dem Bewusstsein gegenüberstellenden Dinge ihn als Betrachter dazu, jedes einzelne Objekt unvollständig wahrzunehmen, seine Eigenschaften nur teilweise aufzunehmen und letztlich auch, widersprüchliche Bewertungen in ihrem Widerspruch hinzunehmen. Käte Meyer-Drawe hat diese Paradoxie noch einmal zehn Jahre später in Verbindung mit Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels gebracht.56 Ihr Anliegen ist es, auf die künstliche Basis der verbreiteten Auffassung von der Unveränderlichkeit der Dinge hinzuweisen. Wie sie betont, ist es das Ergebnis eines gesellschaftlichen Lernprozesses, Dinge dauerhaft einer Kategorie zuzu54 Blumenberg, Hans: Sokrates und das ’object ambigu’. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, in: Wiedmann, Franz (Hrsg.): Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen, München 1964, S. 285–323, hier: S. 320. 55 Vgl. Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 1993. 56 Vgl. Meyer-Drawe, Käte: Die Dinge als Beinahe-Kameraden, in: Kallinich, Joachim/Bretthauer, Bastian (Hrsg.): Botschaft der Dinge, Heidelberg 2003 (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 18), S. 16–21.
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ordnen. Sie macht die Erziehung dafür verantwortlich, dass Dinge kaum je als „Ob-jektus“ als „Gegenüber-stehend“ aufgefasst werden. Erziehung reduziert Dinge vom emotionalen, lebendigen Gegenüber zu gegenständlichen Sachen.
Schluss: Dinge als Basis einer anderen Geschichtsschreibung Wie ist das Plädoyer für die Offenheit in der Objektbetrachtung sowie für den multiplen Charakter der Dinge, ihrer Bedeutungen und Nutzungen nun in eine historische Fragestellung zu überführen? Die hier mit einigen phänomenologischen Positionen herausgestellte „Offenheit von Dingen“ lässt sich nur in einer gewissen Distanz plausibel beschreiben. Sich den Dingen zu sehr anzunähern, ihnen zu sehr zu vertrauen, sollte demnach schon einmal ausgeschlossen sein.57 Zeugen im Sinne der im Titel dieses Beitrags gestellten Frage sind sie sicher nicht. Sie deshalb aber einfach nur als Überreste zu bezeichnen wäre aber auch nicht angemessen. Zeugen sind sie schon deshalb nicht, weil Subjektivität in der Wahrnehmung von Materialität stets bedeutsam ist. Aber es gibt nicht die eine spezifische Sicht, die als überlegen gegenüber allen anderen herauszustellen wäre. Die Einsicht in die Möglichkeit unterschiedlicher Wahrnehmungen sollte dazu ermutigen, Differenzen in der Wahrnehmung offen zutage treten zu lassen. Was die Dinge bedeuten, steht nicht fest; vielmehr sollten die Dinge in der Schwebe gehalten werden, schwebend zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten der Interpretation. Es ist also ein Gebot epistemologischer Reflexion, die Interpretationen von Dingen nicht nach Modellen zu gestalten, die den Objekten eine Zeugenrolle zuweisen. Veränderlichkeit der Wahrnehmung, multiple Bedeutungen und der Wandel der Bewertung sind eine realistische Basis; und dies sollte nicht als Mangel angesehen werden. Genau dies ist vielmehr die eigentliche Herausforderung. Die Welt der Dinge steckt voll von Informationen. Aber es gibt nicht die eine „richtige“ Botschaft.58 Eine Geschichte mit Objekten muss eine Geschichte sein, die mehrere parallele Erzählungen zulässt und damit offenlegt, wo die Grenzen der Eindeutigkeit in der historischen Erkenntnis liegen. Die damit geforderte Offenheit bedeutet 57 Vgl. Olsen, Bjørnar: Keeping Things at Arm’s Length. A Genealogy of Asymmetry, in: World Archaeology 39, 2007, S. 579–588. 58 Vgl. Brooks, David: The Danger of a Single Story, in: New York Times v. 19.04.2016.
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nicht den Verzicht auf die genaue Objektanalyse: Im Gegenteil, die sorgfältige Untersuchung ist der beste Weg, um den Reichtum der von den Dingen gehüteten Botschaften zu zeigen. Eine offene Befassung muss aber auch damit rechnen, dass nicht alle Spuren der Dinge sich zu einem Narrativ verdichten. Betrachtet man die Dinge, so gibt es nicht eine Geschichte zu erzählen, sondern viele Geschichten, deren Verhältnis untereinander oftmals spannungsgeladen ist. Diese Widersprüchlichkeit in die Rekonstruktion von Geschichte hineinzubringen, ist sicherlich die wichtigste Aufgabe der materiellen Kultur, um ein besseres Verständnis der Vergangenheit zu erlangen. Dinge sind nicht Zeugen, sie sind nicht Überreste, sie sind Agenten der Mehrdeutigkeit.
Achim Saupe
Kumpel, Kaue, Keilhaue: Historische Authentizität, Geschichtsmarketing und Erinnerungskultur „Das alles ist Vergangenheit und die zieht dich runter und dann kommst du nie wieder hoch.“ Stefan in „Sommerfest“ (2012) von Frank Goosen
Seit den 1980er-Jahren und verstärkt noch seit den 1990er-Jahren ist man in der Geschichtskultur, aber auch in den historisch arbeitenden wissenschaftlichen Disziplinen, in vielfacher Weise mit dem Topos des Authentischen konfrontiert. Authentizität ist zu einem Zauberwort der Gegenwart geworden, zu einem Sehnsuchtstopos, aber auch Marken- und Marketingschlager. Was sich am öffentlichen Umgang mit der Vergangenheit im Allgemeinen zeigen lässt in der Wertschätzung von „authentischen Objekten“ in Museen, Sammlungen und Archiven und von „authentischen Orten“, seien es historische Bauwerke, Stadtensembles oder aber Gedenkstätten, lässt sich auch auf das Ruhrgebiet im Besonderen übertragen.1 Historisch gewachsene, aber auch die bisweilen lustvoll kreierte, inszenierte und aus manifesten Interessen „erfundene“ Authentizität spielt für die Ruhrgebietsidentität eine tragende Rolle. Dazu trägt eine ausgeprägte Erinnerungskultur in der mittlerweile positiv konnotierten Industrielandschaft bei, ein Begriff, der seit den 1960er-Jahren eine steile Karriere macht. Angefangen von der Entstehung der Industriedenkmalpflege in den 1970er-Jahren, insbesondere der 1969 unter Schutz gestellten Zeche Zollern II/IV in Dortmund, über die Initiativen der lokalen Geschichtswerkstätten der 1980er-Jahre, die Entstehung der rheinisch-westfälischen Industriemuseen, die Internationale Bauausstellung Emscher Park (1989–1999), dem seit 1991/1993 bestehenden, sieben Mal ausgeschriebenen Geschichtswettbewerb des Forum Geschichtskultur zum Thema „Industriegeschichte an Ruhr und Emscher“, der Route Industriekultur bis hin zur Aufnahme der Zeche Zollverein in das UNESCO Welterbe 2001 und der Auszeichnung Essens zur Europäischen Kulturhauptstadt (2010) findet in der Regi1 Siehe hierzu die Veröffentlichungen des Leibniz-Forschungsverbunds Historische Authentizität: Sabrow, Martin/Saupe, Achim (Hrsg.): Historische Authentizität, Göttingen 2016; Bernhardt, Christoph/Sabrow, Martin/Saupe, Achim (Hrsg.): Gebaute Geschichte. Historische Authentizität im Stadtraum, Göttingen 2017; Eser, Thomas u. a. (Hrsg.): Authentisierung im Museum. Ein Werkstatt-Bericht, Mainz 2017. Zur Authentisierung industriekulturellen Erbes: Farrenkopf, Michael/Meyer, Torsten (Hrsg.): Authentizität und industriekulturelles Erbe. Zugänge und Beispiele, Berlin/Boston 2020. https://doi.org/10.1515/9783110683097-018
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on eine Beschäftigung, Auseinandersetzung und Würdigung der eigenen industriellen Vergangenheit statt, die wohl ihresgleichen sucht. Und mit dem Ende des Steinkohlenbergbaus 2018 geht noch einmal ein erinnerungskultureller Schub einher, aus dem unter anderem die Ausstellung „Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“ resultierte. Andererseits durchzieht das Ruhrgebiet eine anhaltende Diskussion, die Tradition und Moderne verbinden will und beides „ausbalancieren“ möchte: Man brauche, so eine Zukunftsstudie der RAG, nichts anderes als ein „zukunftsgerichtetes Leitbild und ein Erscheinungsbild, das die vergangenheitsbezogene Symbolik von Kohle und Stahl kontrastiert.“ Also werden eine zeitgemäße „Modernität“ und „neue Ikonen“ im RAG-Programm „Glückauf Zukunft!“ gesucht.2 Das Verlorengegangene und Verlorengehende ist Abgrenzungs- und Ankerpunkt zugleich für die eigene historische Selbstvergewisserung und dies freilich nicht erst seit neuester Zeit. Und auch wenn, wie zu zeigen sein wird, das Authentische in hohem Maße Aufmerksamkeit erzeugt und auch den Charme des Ruhrgebiets mitbestimmt, so ist es hier sicher keineswegs eine „Sehnsucht nach dem Ursprünglichen“3, die die Beschäftigung mit der Geschichte antreibt. Oder im Sinne der Kompensationstheorie Hermann Lübbes eine Sehnsucht, der Vergänglichkeit in einer beschleunigten Welt und einer trüben Zukunft etwas entgegenzusetzen.4 Denn auch wenn man das historische Orientierungsbedürfnis im Zuge einer sich globalisierenden Welt nicht unterschätzen sollte, ist das Ruhrgebiet als „Waffenschmiede des Reiches“ und der mit industrieller Arbeit verbundenen Umweltverschmutzung sicher keine Region, die eine unproblematische Nostalgie erzeugt. Was hier stattfindet, ist wohl vielmehr, dass AußerWertsetzungsprozessen, die den Bergbau, industrielle Arbeit und fossile Verbrennungstechnologien im Zeitalter der erneuerbaren Energien betreffen, mit einer vielstimmigen In-Wertsetzung der Vergangenheit begegnet wird. Und dabei hilft sicherlich auch die „dark history“ des Ruhrgebiets. Doch welche Rolle spielt dabei der Wert des Authentischen? Historische Authentizität ist zunächst eine Zuschreibung, die sich in erinnerungskulturellen Zusammenhängen meist auf drei Aspekte bezieht: auf Subjekte, Orte und Dinge 2 Unter: https://www.glueckauf-zukunft.de/zukunftsstudie/7-zukunftsthesen/these-5/ (Stand: 05.03.2018). 3 Rössner, Michael/Uhl, Heidemarie (Hrsg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2014. 4 Lübbe, Hermann: Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hrsg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13–38. Vgl. auch die kurze kritische Auseinandersetzung bei Jannelli, Angela: Wilde Museen. Zur Museologie des Amateurmuseums, Bielefeld 2012, S. 52–54.
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und darüber hinaus ihre sprachlichen Repräsentationen. Die Behauptung, dass etwas besonders authentisch sei, ist dabei eines der wesentlichen Tools, Bedeutung zu generieren und aus Geschichten überzeugende Argumente und Narrative zu kreieren. Zugleich ist sie aber auch ein Wahrnehmungseffekt, der sich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ihren Relikten, nicht zuletzt aber im intersubjektiven Austausch mit Individuen auf eigenartige Weise einstellt. Kumpel, Kaue und Keilhaue stehen hier für diese drei Dimensionen: Mit dem Kumpel wird der personale bzw. subjektbezogene Aspekt des Authentischen berührt. Dabei ist es gerade der Kumpel-Mythos, der aus der Beschreibung von Bergmännern Repräsentanten einer gemeinsamen und übergreifenden Ruhrgebiets-Identität macht. Die Kaue steht für einen verlassenen bzw. re-inszenierten Ort, an dem sich die personale Welt des Bergmanns mit der materiellen des Bergbaus, die Übertage- mit der Untertagewelt trifft. Als ein besonders effektvoll zu inszenierender Ort ist sie zur Ikone des abgewickelten Bergbaus geworden. Die dingliche Dimension des Authentischen, eng mit der räumlichen verbunden, kann anhand vieler Relikte, die der Steinkohlebergbau hinterlassen hat und die heute in Vorgärten, Privatsammlungen und Museen erhalten geblieben sind, nachvollzogen werden. Keilhauen stehen hier exemplarisch für die materielle und dingbezogene Dimension des Authentischen; als Werkzeug repräsentieren sie jedoch nicht allein eine den Menschen ferne dingliche Welt, sondern sind auch Träger vergangenen Handelns. Von diesem universellen und vorindustriellen Ur-Arbeitsgerät, quasi einem Leitfossil der Bergbaugeschichte, haben sich zahlreiche Stücke und Abbildungen in den Sammlungen des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (DBM) erhalten, die meist aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen (Abb. 1 und 2).5 Die Objekte sind von ihrer Herkunft meist nur allgemein spezifiziert, eine Überlieferungsgeschichte oder Objektbiographie findet sich in der montanhistorischen Dokumentation des DBM selten. Interessant ist, dass in dieser Objektgruppe nicht nur authentisches Arbeitsgerät bewahrt wurde, sondern vielmehr zahlreiche Repräsentationsobjekte und Memorabilia: Figuren von Bergleuten, bei denen die Keilhaue neben der Grubenlampe zur Grundausstattung zählt, bis hin zu Medaillen, die für verdiente Bergleute oder andere Repräsentationszwecke vergeben wurden. In einer Zeit voranschreitender Industrialisierung, die auf den pneumatischen Abbauhammer oder weit größeres Fördergerät setzte, versichert man sich also schon frühzeitig einer (vorindustriellen) Tradition (Abb. 3 und 4). Insofern treffen sich in den titelgeben5 Ich danke den Kollegen des DBM und des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok), hier insbesondere Stefan Siemer und Stefan Przigoda, für die Hinweise und Bereitstellung der Abbildungen.
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den Bergbaubegriffen nicht nur objekt- und subjektbezogene Aspekte des Authentischen, sondern auch ihre erinnerungskulturellen und zeitlichen Implikationen.6
Abb. 1: Hacke von der Zeche Pörtingssiepen, Essen um 1930
Abb. 2: Hacke von der Zeche Langenbrahm, Essen um 1950
6 Diese nostalgischen Aspekte müssen dabei nicht gleich im Sinne der Kompensationstheorie Hermann Lübbes ausbuchstabiert werden, nach dem das historische Orientierungsbedürfnis eine Antwort auf Beschleunigung und Flüchtigkeit der Moderne ist, sondern können vielmehr auch als ein traditionsgründendes Interesse begriffen werden, sich selbst und seine Arbeit in die Geschichte einzuschreiben.
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Abb. 3: Bronzefigur eines Bergmanns mit Lampe und Keilhaue von Otto Poerzel, 1910–1930
Abb. 4: Bronzeplakette eines Bergmanns mit Keilhaue von Oscar Roty, 1899
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Den unterschiedlichen Dimensionen des Authentisierens und Authentifizierens7 soll nun im Folgenden anhand mehrerer Aspekte vertiefend nachgegangen werden: Erstens wird der ökonomische Aspekt kultureller Authentisierung hervorgehoben, etwa in Vermarktungsstrategien der Region, zu der nicht zuletzt Zertifizierungsverfahren wie das UNESCO-Welterbe-Verfahren gehören. Sodann wird auf die Beziehung von Akteuren und Orten in der Erinnerungskultur eingegangen, um von dort aus wieder auf Fragen der Ökonomisierung des kulturellen Gedächtnisses zurückzukommen. Zusammenfassend wird argumentiert, dass die Beschreibung von Authentisierungsprozessen dabei hilft, die Konstruktion von Geschichte und Erinnerung im Hinblick auf ihre jeweilige Glaubwürdigkeit besser nachvollziehen zu können.
Authentizität als Verkaufsargument im Geschichtstourismus Authentizität ist zunächst einmal ein Verkaufsargument, in der Tourismusbranche und darüber hinaus im breiten Feld des vom Tourismus und der Kommerzialisierung von Identitätsressourcen nicht mehr zu trennenden Geschichtsmarketings.8 Das gilt natürlich auch für das Ruhrgebiet. So heißt es 2003 aus dem Projekt Ruhr GmbH: Das Bild des „modernen Ruhrgebiets unter Würdigung seiner Authentizität zu kommunizieren, ist sowohl Voraussetzung als auch Aufgabe der regionalen Tourismusentwicklung“.9 So kommt es zu bisweilen bizarren Formen der Inszenierung regionaler Identität, etwa wenn man in Kanalrohren oder
7 Zu diesen Begriffen vgl.: Sabrow, Martin/Saupe, Achim: Historische Authentizität. Zur Kartierung eines Forschungsfeldes, in: dies. (Hrsg.): Historische Authentizität (s. Anmerkung 1), S. 7–28. 8 Während der Authentizitätstopos in der Tourismusforschung gut erforscht ist, ist dies für den Geschichtstourismus noch nicht der Fall. Wenn der Authentizitätstourismus in der ein oder anderen Weise auf die Entdeckung des Exotischen und Fremden als Repräsentanten des Authentischen setzt, so kommt im Geschichtstourismus noch die zeitliche Dimension hinzu, die das Authentische im Abwesenden und Fernen sucht, aber eben doch auch gleichzeitig Nahem und Anwesendem verortet. Als Einführung in die Debatte in der Tourismusforschung bietet sich an: Wang, Ning: Rethinking Authenticity in Tourism Experience, in: Annals of Tourism Research 26, 1999, H. 2, S. 349–370. 9 Zitiert nach: Mader, Thomas: Produzierende Betriebe als touristische Attraktionen im Ruhrgebiet. Grundlagen, Erscheinungsformen, Probleme, Hamburg 2005, S. 64. Siehe auch: Projekt Ruhr GmbH (Hrsg.): Zu Gast im Ruhrgebiet. Beratungsergebnisse und Empfehlungen aus dem Expertenforum Tourismus bei der Projekt Ruhr, Essen: o. J. [2003], S. 14.
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in einem „Original Bergmann-Haus“ mit „original Zinkbadewanne“10 übernachten kann. Wenn das Portal Ruhr-Tourismus zugibt, dass die Siedlung Ziethenstraße in Lünen „zwar nicht zu den anspruchsvollsten und schönsten Arbeitersiedlungen, die das Ruhrgebiet zu bieten hat“, gehöre, aber doch „den wahrscheinlich authentischsten Eindruck vom Leben in einer Arbeitersiedlung im 19. und 20. Jahrhundert“ vermittele, so erfasst es damit recht gut den relationalen Charakter vieler Authentizitätsbehauptungen. Tourismusforscher haben sich lange Zeit an der Frage abgearbeitet, ob sich hinter dem touristischen und freizeitorientierten Setting des Tourismus, hier der Industriekultur, nicht auch noch ein authentisches, unmittelbar zu erfahrenes Bild einer Region verbirgt, dass es also neben den Aufführungen auf der „staged authenticity“11 noch die Hinterbühne gibt, auf der wenn nicht der Kern, so doch der „spirit“ des Ruhrgebiets zu erfassen sei. Zumal die vielfach beschworene, sehr spezifisch historisch verortete montanindustrielle Vergangenheit, wenn man die bestehende Eisen- und Stahlproduktion in Betracht zieht, noch nicht gänzlich Vergangenheit ist. Angela Schwarz hat dazu festgehalten: „In der Wahrnehmung von Besucherinnen und Besuchern ist damit zumindest potenziell ein ständiges Changieren angelegt zwischen der ‚staged authenticity‘, die vorne auf der Bühne für das Publikum inszeniert wird, und einer ‚realen‘ Authentizität, die hinter der Bühne durchaus existiert, aber dem Publikum nicht zugänglich ist. Für die Authentisierungsvorgänge im Falle des Ruhrgebiets hat das die Konsequenz, dass die Grenzen zwischen Aufführung, Konstruktion und Realität, zwischen Geschichte und Gegenwart verschwimmen.“12 Dies kann man durchaus auch auf die Einheimischen übertragen, deren Bild der eigenen Region keineswegs einheitlich, aber natürlich erfahrungsgebunden ist. Wie diese Grenzen zwischen Vorder- und Hinterbühne, die hier als heuristische Metapher genutzt werden, verschwimmen, zeigt sich in der Stilisierung des „Kumpels“, bzw. des Bergarbeiter-Mythos, mit der man im Ruhrgebiet und in anderen Bergbauregionen auf so vielfältige Weise konfrontiert ist. 10 Zum Bergmann-Haus in Katernberg: „Das unter Denkmalschutz stehende Haus wurde 1899 erbaut. Ein besonderes Highlight der Ferienwohnung befindet sich im Keller: Hier steht eine original Zinkbadewanne und die Gäste können ‚Kohle schnuppern‘“. Vgl. Buchungsseite des Anbieters unter: http://www.ruhr-tourismus.de/suchen-buchen/ungewoehnlich-uebernachten-im-ruhrgebiet.html (Stand: 05.03.2018). 11 MacCannell, Dean: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, London 1976; ders.: Staged Authenticity: Arrangements of Social Space in Tourist Settings, in: American Journal of Sociology 79, 1973, S. 589–603. 12 Schwarz, Angela: Vom Nicht-Ort zum geschichtstouristischen Reiseziel: Der Authentizitätsbegriff und die Umdeutungen des Ruhrgebiets im 20. Jahrhundert, in: Bernhardt, Christoph/ Sabrow, Martin/Saupe, Achim (Hrsg.): Gebaute Geschichte (s. Anmerkung 1), S. 269–284, hier: S. 284.
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Materielle Authentizität im Welterbe-Verfahren Der Tourismus und die Industriekultur berufen sich bei ihren „Authentizitätsfiktionen“13 auf materielle Ankerpunkte der industriellen Vergangenheit, die mit dem Signum historischer Authentizität ausgezeichnet werden. Dabei hat sich gerade das UNESCO-Welterbe-Programm als wahre Authentisierungs- bzw. Autorisierungsinstanz erwiesen, gehörte doch seit den späten 1970er-Jahren zunächst ein „test of authenticity“, heute eine Stellungnahme zur Authentizität des Bewahrten, in jede Bewerbung – neben Fragen der Integrität des Erhaltenen und des „outstanding universal value“ und weiteren Faktoren.14 So wird in der erfolgreichen Bewerbung, die 2001 zur Einschreibung der Zeche Zollverein in die Welterbeliste führte, in der Kurzfassung attestiert: „The Zollverein XII Coal Mine Industrial Complex has a high level of authenticity. The individual industrial components have inevitably lost their functional authenticity. However, a policy of sensitive and imaginative adaptive reuse has ensured that their forms survive intact, with significant items of the industrial plant preserved, and that their interrelationships remain visible in a clear and logical manner. In particular, the authenticity of the important group of industrial buildings designed for Zollverein XII by Fritz Schupp has been carefully conserved.“15 In der Bewerbung des Ruhrgebiets in die Tentativ-Liste des Unesco-Weltkulturerbes heißt es 2011, mit starkem Bezug auf die Essener Zollverein-Anlage: „Im industriellen Komplex Zeche Zollverein Schacht XII und in der industriellen Kulturlandschaft mit den weiteren Stätten von außergewöhnlichem universellem Wert sind die für ein montanindustrielles Gebiet typischen Infrastrukturen und Anlagen weitgehend nachvollziehbar im Kontext und mit hohen Maßstäben für ihre Integrität erhalten geblieben. Ihre Zahl und Dichte ist im Weltmaßstab wohl als einzigartig zu bezeichnen. Der Industriekomplex Zeche Zollverein Schacht XII und die zahlreichen anderen historischen Stätten der Industrielandschaft Ruhrgebiet zeichnen sich durch ein hohes Maß an Authentizität aus. Architektonisch und technologisch herausragende Anlagen und Stätten, die für den Abbau und die Weiterverarbeitung von Kohle und der Koksproduktion notwendig sind, 13 Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, in: Pirker, Eva Ulrike u. a. (Hrsg.): Echte Geschichte: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen. Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen, Bd. 3, Bielefeld 2010, S. 11–30. 14 Siehe dazu u. a. Mager, Tino: Schillernde Unschärfe. Der Begriff der Authentizität im architektonischen Erbe, Berlin 2016. 15 Unter: UNESCO whc.unesco.org/en/list/975 (Stand: 11.07.2018). Ausführlicher die Begründung in: UNESCO World Heritage Centre. Nomination Documentation Zollverein Coal Mine Industrial Complex in Essen (Germany) File Name: 975.pdf, S. 7 und 111 f.
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die notwendigen Transportwege, Bergehalden und Siedlungen sind mustergültig erhalten.“16 Fast ausschließlich wird in diesem Dokument die Authentizität des materiellen Erbes betont, mit ihren Umnutzungen und funktionalem Wandel. Das schließt im Umfeld der Bewerbung auch Stilblüten ein wie die Behauptung, dass die bereits unter nationalem Denkmalschutz stehenden Schleusenbauwerke in Henrichenburg im Hinblick auf das nordwestdeutsche Wasserstraßennetz „das letzte historisch authentische Technotop“ seien.17 Und den Museums-Besuchern der Heinrichshütte in Hattingen habe man es ermöglicht, „den ‚Weg des Eisens‘ von der Anlieferung des Erzes bis zum Hochofenabstich am authentischen Ort nach zu verfolgen“.18 Kaum oder gar nicht werden hingegen jene weicheren Faktoren des Authentischen adressiert, die seit dem Nara Document on Authenticity von 1994 in die Diskussion über die Authentizität des Kulturerbes Einzug erhalten hatten.19 Das Nara Document hatte es sich zum Ziel gesetzt, die kulturelle Diversität und regionale Spezifik jeglichen Verständnisses von Authentizität anzuerkennen und betonte, dass bei Authentizitätsurteilen in Bezug auf Baudenkmale nicht nur „form and design, materials and substance“ zu berücksichtigen seien, sondern auch „use and function, tradition and techniques, location and setting, and spirit and feeling, and other internal and external factors“.20 Mit dieser Ausweitung, die sowohl als Aufweichung des Originalitätsprinzips als auch als notwendige Invektive gegen einen (vermeintlich) eurozentristischen Substanzfetischismus gedeutet wurde (also einer Fixierung auf die Bewahrung eines oft durch die Zeit gegangenen materiellen „Originals“), geriet die Bewertungskategorie Authentizität, als „most slippery concept“21 im Zusammenhang des UNESCO-Welterbe-Diskurses verstärkt in die Kritik. Das führte auch dazu, dass die UNESCO-Konvention zum Schutz des immateriellen Kultur16 Antrag zur Aufnahme des Ruhrgebiets in die Tentative List des UNESCO Weltkulturerbes 2011. Unter: www.industriedenkmal-stiftung.de/docs/10754899981136_de.php (Stand: 05.03.2018). 17 Objektbeschreibung in: Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet, S. 6. Unter: www.industriedenkmal-stiftung.de/welterbe/01_Objektbeschreibungen_Industrielle_Kulturlandschaft_Ruhrgebiet.pdf (Stand: 05.03.2018). 18 Ebd., S. 2. 19 Zur Weiterentwicklung des Authentizitätskonzepts und zur Nara-Konferenz siehe Larsen, Knut Einar (Hrsg.): Nara Conference on Authenticity in Relation to the World Heritage Convention. Nara, Japan 1–6 November 1994, Proceedings, Paris 1995. 20 UNESCO: The Nara Document on Authenticity. Unter: whc.unesco.org/archive/nara94.htm (Stand: 11.07.2018). 21 Labadi, Sophia: World Heritage, Authenticity and Post-Authenticity. International and National Perspectives, in: dies./Long, Colin (Hrsg.): Heritage and Globalisation, London 2010, S. 66–84, hier: S. 66.
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erbes bewusst auf den Authentizitätsbegriff als Kriterium verzichtete, abseits der Tatsache, dass in den Bewerbungen für das Intangible Cultural Heritage der Authentzitätsbegriff durchaus häufig zu finden ist.22 Und obgleich Authentizität als essentialisierende Kategorie seit den Studien von Eric Hobsbawm und Terrence Ranger über „erfundene Traditionen“, von Benedict Anderson über „imaginierte Gemeinschaften“ als auch von Ethnologen und anderen Wissenschaftlern aus ideologiekritischer und konstruktivistischer Perspektive mehr oder minder ad acta gelegt wurde,23 bleibt bei der Auszeichnung, was denn ein materielles und immaterielles Kulturgut überhaupt auszeichnen soll, die Frage bestehen, ob allein die Bewahrung, die Pflege und der Diskurs über eine Tradition oder ein Bauwerk eine auszeichnungswürdige kulturelle Praxis ausmacht, oder ob abseits der Transformation, der Wiederaneignung, der Adaption neuer Elemente, die bei jeder Weitergabe und Wiedergabe von kulturellen Traditionen als auch von Bauwerken stattfindet, nicht doch auch so etwas wie ein kultureller Kernbestandteil, um es vorsichtig zu formulieren, bestehen bleiben muss.
Kumpel Dass „spirit and feeling“ in die Betrachtung über die Authentisierung kultureller Überlieferung in Betracht gezogen wurden und das immaterielle Kulturerbe an neuer Bedeutung gewonnen hat, ermöglicht etwas salopp den Sprung zum „Kumpel“. Er repräsentiert die Sehnsucht nach personengebundener Authentizität, nach authentisch verkörperten Geschichten im Ruhrgebiet, nach Subjektauthentizität, die historisch geprägt ist. Tatsächlich sind wissenschaftliche Arbeiten über den Bergmann in den Künsten, in der Populärkultur und in der Erinnerungskultur keineswegs häufig.24 Insofern sei der Blick auf den Klappentext 22 Bortolotto, Chiara: Authenticity. A Non-Criterion for Inscription on the Lists of UNESCO’s Intangible Cultural Heritage Convention, in: Final Report of the Experts Meeting on ICH Evaluating the Inscription Criteria for the Two Lists of UNESCO’s Intangible Cultural Heritage Convention, International Research Centre for Intangible Cultural Heritage in the Asia-Pacific Region (IRCI), S. 76–82. 23 Hobsbawm, Eric J./Ranger, Terence (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983; Anderson, Benedict R.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, überarb. u. erw. Aufl., London 1991; Bendix, Regina: In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies, Madison 1997. 24 Das mag daran liegen, dass man sich zunächst mit der Arbeiter- und Bergmannskultur auseinandergesetzt hat. Im Zuge des Auslaufens des Bergbaus wäre jedoch eine kritische und einordnende Bestandsaufnahme dieser Erinnerungskultur wünschenswert, die sich auch der Rezeption der Figur des Bergmanns widmen würde.
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der populären Veröffentlichung von David Schraven erlaubt, der 2013 unter dem Titel „Zechenkinder“ zwanzig Geschichten „über das schwarze Herz des Ruhrgebiets“ aufgezeichnet hat: „Nicht mehr lange, dann wird der Bergbau im Ruhrgebiet Geschichte sein. In ZECHENKINDER erzählen 25 Kumpel von der schwarzen Seele des ‚Potts‘. Über Kameradschaft, von Maloche unter Tage, über den Willen zu überleben und den Fluch der Staublunge. Über eine Arbeiterwelt, in der das Wort ‚Arschloch‘ keine Beleidigung sein muss und ein gemeinsames Bier verdient sein will. Ungeschliffen, kraftvoll, ungekünstelt, eben Menschen aus dem Ruhrgebiet. Die Aufrichtigkeit der Kumpel bleibt Inspiration für Generationen, die den Bergbau nicht mehr erleben werden.“25 Dass jemand als authentisch wahrgenommen wird, als treu zu sich selbst, als glaubwürdig, ehrlich und aufrichtig, als verbunden mit seiner Umgebung eingeschätzt wird usw., ist eine Zuschreibung durch andere. Denn wer von sich selbst behauptet, authentisch zu sein, verwirkt meist einen entsprechenden Effekt. Es ist also durchaus gekonnt, wenn hier der Klappentext auf das Wort des Authentischen verzichtet und dies mit der Ungeschliffenheit, dem Kraftvollen und Ungekünstelten umschreibt: „eben Menschen aus dem Ruhrgebiet“. Diese Dimension kann als subjektbezogene Dimension von Authentizität verstanden werden. Sie ist ein Phänomen der Neuzeit und zutiefst mit der Entstehung der modernen Identität und Vorstellungen von Subjektivität verbunden.26 Die Treue zu sich selbst, die immer auch eine Abgrenzung zu anderen impliziert, gewinnt seit den 1970er-Jahren und den Neuen Sozialen Bewegungen an Bedeutung für das Selbstverständnis des Subjekts und seinen Geltungsanspruch. Und sie gewinnt gerade mit der Alltagsgeschichtsschreibung an Bedeutung, die sich in einer Absatzbewegung zur Struktur- und Sozialgeschichte für die Erfahrungen und die Lebensgeschichten von Arbeitern, für das Milieu interessiert. So schrieb der SPIEGEL 1983: „Was da zutage gefördert wurde im Falle des Ewald H. aus einer eisernen Kiste, die seine Witwe 40 Jahre später fürs Fernsehen öffnete, war Authentisches buchstäblich vom Rand der Geschichte: von Leuten, wie sie in den Wochenschauszenen der NS-Zeit höchstens unter der jubelnden Menge am
25 Schraven, David: Zechenkinder. 20 Geschichten über das schwarze Herz des Ruhrgebiets. Gelesen von Uwe Fellensiek, Hörbuch Köln 2014 [zunächst Hollenstedt 2013]. Hervorhebung A. S. 26 Vgl. Saupe, Achim: Authentizität, Version 3.0; in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2015. Unter: http://docupedia.de/zg/Saupe_authentizitaet_v3_de_2015 (Stand: 30.10.2018).
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Straßenrand oder in den endlosen Kolonnen der Soldaten zu sehen gewesen waren. Nun rücken sie von der Peripherie ins Zentrum, mit ihrer ganz persönlichen Version von Geschichte.“27 Zu denken ist dabei natürlich auch an das „Hochlarmarker Lesebuch: Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte“, in dem 1981 Bergarbeiter und ihre Frauen aus Recklinghausen-Hochlarmark ihre Geschichte aufgeschrieben haben.28 Alltagsgeschichtliche Berichte stellten die bisher marginalisierten Subjekte ins Zentrum historischer Erzählungen, und wenn man so will setzt sich diese Selbstautorisierung heute, in den vereinsgeführten Bergbausammlungen und den vielen Ansprüchen, selbst als Zeitzeuge auftreten zu wollen, fort.29 Um den Eindruck des Authentischen zu steigern, gehört dabei die implizite Infragestellung durchaus dazu. So stellt einer der befragten Bergleute der „Zechenkinder“ fest: „Das Kumpelhafte im Bergbau, das gibt es nur in der Kneipe; es herrscht vielmehr harter Konkurrenzkampf […]“ Das ist die eine Seite des Schicht- und Akkordsystems, öfter aber wird der solidarische Charakter und der identitätsstiftende Vergemeinschaftungseffekt der harten Arbeit unter Tage beschworen, bei der man eine klare, direkte Sprache spricht und auf die Hilfe anderer angewiesen ist: vom Hauer bis zum Leiter der Grubenfeuerwehr. In vielen der hier aufgezeichneten, selbstverständlich stilisierten Geschichten geht es um gefochtene Arbeitskämpfe in Zeiten eines nicht enden wollenden Strukturwandels, selbst nach dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007, welches das sozialverträgliche Auslaufen der subventionierten Steinkohlenförderung bis 2018 festlegte, aber selbst nach der Unterzeichnung nochmals in Frage gestellt wurde. Gerade diese letzten, den Bergleuten noch in Erinnerung gebliebenen Arbeitskämpfe werden als erfolgreiche geschildert. Und vor allem damit schaffen diese Berichte immer auch eine Atmosphäre von Wehmut und Nostalgie. Aufgezeichnet sind die Geschichten vom Leiter des Ressorts Recherche der WAZ Mediengruppe in Essen. Er wohnt, wie zu erfahren ist, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen „im Schatten der Zeche Prosper Haniel“ in Bottrop. In der Hörbuchversion wird der Text im schönsten Ruhrgebiets-Deutsch von Uwe Fel27 „Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit“ SPIEGEL-Report über die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik, in: Der Spiegel, Nr. 23, 06.06.1983. Unter: www.spiegel.de/ spiegel/print/d-14021414.html (Stand: 05.03.2018). 28 Hochlarmarker Lesebuch, Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte. Bergarbeiter und ihre Frauen aus Recklinghausen-Hochlarmark haben ihre Geschichte aufgeschrieben, Oberhausen 1981. 29 Auf einer breiteren Quellenbasis könnte man auch danach fragen, ob es hier wie im Fall der Hochlarmarker Arbeiter noch um ein Einschreiben in die „allgemeine“ Geschichte geht, oder aber ob wir es heutzutage nicht oft mit einer „Selbstethnisierung“, hier des Bergmannmilieus, zu tun haben, die neben der Bedeutung die Differenz betont.
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lensiek gesprochen, dem Sohn eines Bergbau-Ingenieurs. Fellensiek hat selbst ein Bergbaustudium begonnen, dann jedoch eine Karriere als Musiker und Schauspieler eingeschlagen. Der Titel der ersten Schallplatte lautet „Schlagende Wetter“. Das nennt man wohl eine Mehrfach-Authentisierung von RuhrgebietsIdentität oder auch Mythisierung des Bergmännischen.
Kaue Diese Mehrfach-Authentisierung bezieht sich auch auf das beigegebene Fotomaterial, unter dem sich auch das Foto einer Waschkaue befindet. An den Haken gehängt und hinaufgezogen sind Schuhe und Kleidung der letzten Schicht. Die Waschkaue ist sicherlich eine der stärksten erinnerungskulturellen Ikonen des Bergbaus. Neben zahlreichen Fotografien, die etwa im Internet zu finden sind, konnte man eine stilisierte Waschkaue auch im Deutschen Bergbau-Museum Bochum finden. So hing im Kassenbereich bis zur Neugestaltung der Daueraustellung eine Schwarzkauenanlage mit 70 Kauenhaken und zugehörigen Zügen und Rollen, Kauenbank und Vorhängeschlossern. Die Haken waren zudem mit Bekleidungsteilen und Schuhen ausgestattet. Die Figur eines Bergmanns vervollständigte diese Inszenierung. Die Waschkaue des Museums war dabei kein transloziertes Original, allenfalls waren Bestandteile der Inszenierung in irgendeiner Weise echt, sondern im Gesamten eine museale Dekoration. Auch wenn diese Installation nicht zu den Originalen des Museums gehörte, gab sie doch einen guten Eindruck authentischer Orte wieder, was andernorts, in Industriemuseen wie der Zeche Zollern, auf Grund der Größe der Waschkauen natürlich viel leichter und anschaulicher zu bewahren ist (Abb. 5).30 Die Waschkaue ist dabei ein vielfältiges Symbol des Übergangs, eben nicht nur von der Alltagswelt in die Welt des Museums, sondern zunächst von der Übertage- in die Untertagewelt, was zugleich der zentrale Ort der Vergemeinschaftung beim Schichtwechsel war: „Wer runterwill, muss sich nackig machen. Erst mal in die Kaue, umziehen. Feuerfeste Wäsche, Bergwerkshemd, Halstuch, Hose, Handschuhe, Helm und Schienbeinschoner, Sicherheitsstiefel mit Zehenschutzkappen. Einen Gürtel anlegen, vier Kilo schwer, mit der Batterie für die Grubenlampe und einem Atemschutzgerät für den Notfall. Dazu noch drei Liter Wasser gegen den Durst, und ab geht’s. Wer Glück hat, den bringt eine Diesellok zum Arbeitsplatz; kommt aber auch vor, dass fünf Kilometer zu laufen sind, durch 30 Es gibt überdies noch Kauenlatschen in der Sammlung, die aus Resten von Gurtband zusammengeschustert wurden, da normierte und standardisierte Latschen wie in späterer Zeit (Hygiene, Unfallschutz etc.) anfangs der 1950er-Jahre noch nicht existierten.
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Matsch und Wasser und Geröll, vorbei an lärmenden Transportbändern voll Kohle. Viele Kumpel werfen sich darauf, um schneller an ihrem Flöz zu sein; danach siehste aus wie ein paniertes Hähnchen, sagt Vedat.“31
Abb. 5: Waschkaue der Zeche Zollern II/IV in Dortmund
Darüber hinaus ist die Waschkaue in der Erinnerungskultur zu einem Symbol der Vergänglichkeit, des Wandels, des Abwesenden geworden, gerade weil sie den Eindruck erzeugt, als seien die Bergleute gerade eben noch hier gewesen. Sie gewähren einen Einblick in einen intimen Bereich, weshalb das Aus- und Umziehen in vielen Waschkauen-Berichten und Inszenierungen dokumentiert wird. Gerade die aufgezogenen Schuhe sind voller Symbolkraft, lassen sie sich doch als Abdruck, als Spur der Kumpel und der industriellen Arbeitswelt deuten.32 Nähe und Distanz zu einer vergangenen Arbeitswelt können im Raum
31 Hauser, Uli: „Pippi inne Augen“ unter Tage mit den letzten Kumpeln in Bottrop, in: Der Stern, 13.05.2017. Unter: www.stern.de/panorama/gesellschaft/steinkohle-im-ruhrpott–2018macht-die-letzte-zeche-dicht-7446898.html (Stand: 12.07.2018). 32 Zur Metapher der Spur siehe insbesondere Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hrsg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007. Den Zeitlichkeitsaspekt der Spur beschreiben wahrscheinlich am eindrücklichsten Emmanuel Lévinas und Paul Ricoeur. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen: Untersu-
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nachvollzogen werden, Wissen und Imaginationen über Bergleute verbinden sich in der Konkretion des Materiellen am authentischen, durch die Zeit gegangenen, atmosphärisch dichten und beeindruckenden Ort.33
Malocher-Image und Traditionspflege Die Frage, die sich hier stellt, ist, wieviel Nostalgie die Erinnerungskultur verträgt, eine im Ruhrgebiet oft diskutierte und in der Einleitung schon angerissene Frage. Ob das Ruhrgebiet mit seiner Pflege des industriekulturellen Erbes nicht zu rückwärtsgewandt sei, fragte 2017 eine Redakteurin des Online-Portals Der Westen den ehemaligen Leiter des Ruhr Museums, Ulrich Borsdorf. Dass der Bergbau, und mit ihm die Bergarbeiter, einen Einfluss auf die Mentalität der Region haben, gilt als ausgemachte Sache: „Und viele Menschen, die zu Besuch im Ruhrgebiet sind, sagen mir beinahe klischeehaft immer das gleiche. Dass die Menschen (mehr oder weniger) ehrlich sind, sagen was sie denken, unheimlich freundlich und hilfsbereit, direkt und pragmatisch sind. Und viele fühlen, dass diese Bergarbeitersolidarität, die lebensnotwendig war, positiv auf die Gesellschaft abgefärbt hat.“34 Authentizität und Solidarität übertragen sich auf breite Bevölkerungsschichten im Ruhrgebiet, und zwar durch ritualisierte Kommunikation. Dabei unterwandert der positive Kumpel-Mythos selbstverständlich problematische Seiten, etwa, dass der Körper des Bergmanns einer hohen sozialen und auch hygienischen Kontrolle ausgesetzt war und die damit verbundene Disziplinierung zur Rationalisierung industrieller Arbeit beitrug.35
chungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1983 und Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991. 33 Schuhe als Abdruck des Abwesenden begegnen uns auch in einem ganz anderen historischen Kontext, in Auschwitz: Hier gehören sie wahrscheinlich zu den wirkmächtigsten Ikonen des Holocaust. Es wäre einmal lohnenswert, die Ikonographie des Schuhwerks im Museum nachzuzeichnen; auch um zu schauen, ob sich hier Bedeutungsschichten der Erinnerung an den Holocaust auf andere Bereiche wie die Industriekultur überschrieben haben. 34 Figge, Katrin: Zechen-Nostalgie im Revier ist ein „menschliches Bedürfnis“, in: Der Westen v. 21.02.2017. Unter: www.derwesten.de/region/zechen-nostalgie-im-revier-ist-ein-menschliches-beduerfnis-id12190123.html (Stand: 05.03.2018). 35 Bluma, Lars/Uhl, Karsten (Hrsg.): Kontrollierte Arbeit disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012.
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Das Interview nimmt sodann eine für das Ruhrgebiet typische Wendung: Ob nicht die Erinnerung produktiv im Vereinswesen, etwa im Fußball bewahrt werden könne. Tatsächlich scheinen hier zu Marketing-Zwecken geronnene Erinnerungsmythen, wie etwa der erst seit 2014 gepflegte Gesang des Steiger-Lieds vor den Spielen des FC Schalke 04, oder aber das 2009 umgesetzte Kumpel-und Malocher-Logo des Vereins (Abb. 6), schon zur Annahme geführt haben, dass diese „Traditionen“ uralt seien und am besten im Kreis einer stimmungsvollen Arena bewahrt werden könnten. Natürlich hat jeder Mythos, auch der „vom Schalker Markt“36, seine Bezüge zur Wirklichkeit. So gibt es selbstverständlich Bezüge des S04 zum Bergbau, auch wenn seine Mitglieder bei Vereinsgründung wohl weniger proletarisch als vielmehr kleinbürgerlich und die „echten Knappen“ in der Mannschaft wenige waren.37 Die Frage ist hier jedoch, wann aus gelebten Traditionen eine erinnerungskulturelle Marketingstrategie wird – eine Frage, die sich vielleicht gar nicht so leicht beantworten lässt.38 So lädt der Verein zur Eröffnung der Glückauf-Kampfbahn 1928 und zum 50. Vereinsjubiläum 1954 eine Bergwerkskapelle zu den Feierlichkeiten ein, und zu diesem Vereinsjubiläum lässt der Verein auch eine Geschenk- bzw. Gedenkmünze aus Kohle produzieren, die an verdiente Mitglieder und Förderer verschenkt wird. In den 1960erJahren lässt der legendäre Trainer Rudi Gutendorf öffentlichkeitswirksam die Profis vor den Toren eines Bergwerks trainieren: Um 6 Uhr in der Früh beim Schichtwechsel machen sie vor dem Werkstor Dauerläufe. Zu den weiteren Bestandteilen, die die Verbindung des Vereins zu den Bergleuten repräsentieren, gehört natürlich das Vereinslied, das in der bestehenden Version „Tausend Feuer in der Nacht haben uns das große Glück gebracht“ 1963 getextet wurde. Und dass man „auf Schalke“ geht, wie es der Bergmannssprache entnommen heißt, hat sich wohl spätestens in den 1960er-Jahren durchgesetzt.
36 Diesen beschwört auch der Fanblock: „Kennst du den Mythos vom Schalker Markt, die Geschichte, die dort begann, der FC Schalke wurde Legende, eine Liebe, die niemals endet.“ 37 Goch, Stefan/Silberbach, Norbert: Zwischen Blau und Weiß liegt Grau. Der FC Schalke 04 im Nationalsozialismus, Essen 2005. Im Zuge seines 100jährigen Vereinsjubiläums hat der FC Schalke 04 als einer der ersten Vereine seine Geschichte kritisch aufarbeiten lassen. 38 Für die folgenden Ausführungen danke ich Christine Walther, der Archivarin des FC Schalke 04.
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Abb. 6: Fan-Pullover des FC Gelsenkirchen, Schalke 04 e. V.
Während der Verein 1984 in der Glückauf-Kampfbahn ein Benefizspiel zugunsten der Familien der Grubenopfer auf der Zeche Consol veranstaltet, werden die Verbindungen in den 1990er-Jahren dann jedoch häufiger von der Vereinsseite gepflegt: 1993/1994 wird das offizielle Mannschaftsfoto auf einem Zechengelände aufgenommen, 1997 lädt der FC Schalke 04 auf dem Höhepunkt der Kohlekrise am 7. März Bergleute ins Parkstadion ein und gibt ihnen eine Bühne für ihren Protest. In den 1990er-Jahren beginnt der Verein mit regelmäßigen Grubenfahrten für die Schalker Profis, und ab dieser Zeit treten nun auch verstärkt Bergmannskapellen bei Heimspielen im Parkstadion auf. Mit der weiteren Professionalisierung des Fußballs seit den 2000er-Jahren entstehen eine Marketing-Abteilung, eine Medien-Abteilung und einer Merchandising-Abteilung. Während der Verein in den 1990er-Jahre nur 10 oder 15 Mitarbeiter hatte und die Anzahl der angebotenen Fan-Produkte auf eine DIN A4 Seite passte, hat der FC Schalke 04 im Jahr 2018 über 600 Mitarbeiter. Schalke ist 2005 dann auch der erste Bundesligist, der ein eigenes Museum eröffnet. Das Ruhrgebiets- und Knappen-Image wird nun verstärkt gepflegt: 2009 entwerfen die Ultras Gelsenkirchen den Begriff (und ein Logo) des Kumpel- und Malocherclubs. 2010 stellt der Verein unter Felix Magath Neuzugang Raul flankiert mit Bergleuten vor, und der Verein lässt auch das offizielle Mannschaftsfoto wieder in einem Bergwerk anfertigen. 2014/15 startet der Verein dann eine MarketingKampagne „1000 Freunde unzählige Kumpel“ mit entsprechenden Bildmarken. In der gleichen Saison erfolgt die Umgestaltung des Spielertunnels als Bergbaustollen und das Steigerlied wird jetzt vor dem Einlaufen der Profis gesungen. Und auch die Abteilung „Tradition“ wird 2014 eingerichtet, in der ehemalige Spieler als Vereinsbotschafter eingebunden werden und aus der heraus auch
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das Vereinsmuseum und die Fananlaufstelle „Tabakladen“ in Anspielung an den ehemaligen Tabakladen von Ernst Kuzorra betreut werden. Identitätsstiftende und verständliche Nostalgie, echte Traditionspflege, Erfindung von Traditionen im Zuge voranschreitender Kommerzialisierung oder Traditionalismus? Die Archivarin des FC Schalke 04 sieht es so, dass auf Schalke die Bergbau-Tradition schon immer gepflegt wurde, und dass es immer eine Rolle gespielt habe, dass dieses Image dem Verein gut zu Gesicht steht und Sympathie-Werte einbringe in einer Bergbauregion, wo viele Anhänger einen direkten Bezug zum Bergbau hätten. Damals habe das nur noch nicht Marketing oder Öffentlichkeitsarbeit geheißen.
Geschichte, Erinnerung, Authentizität Die Differenz zwischen Geschichte als Wissenschaft und Erinnerung als privatöffentliche Angelegenheit ist oft beschrieben worden. Während Geschichte als „das disziplinierte Befassen mit der Vergangenheit nach Formeln und Regeln“ begriffen werden kann, erlaubten es „die Erinnerungen […] dem Einzelnen oder einem Erinnerungskollektiv, sich Vergangenes so zurechtzulegen, dass es passt und auch mal Dinge wegzulassen.“ Das sei zwar „menschlich, aber nicht immer gut“, so nochmals Ulrich Borsdorf: „Museen und Erinnerungsgemeinschaften […] müssen diese Inkongruenzen aufdecken. […] Für eine Gesellschaft wie die im Ruhrgebiet ist es lebensnotwendig, sich wissenschaftlich und aufklärerisch mit der Vergangenheit zu beschäftigen.“39 Es steht außer Frage, dass eine solche Differenzierung zwar heuristischen Wert hat, aber nicht völlig aufrecht zu erhalten ist, kann doch auch Geschichte durch Auslassungen glänzen. Es steht aber demgegenüber in Frage, was passiert, wenn auf dem Feld der Geschichtswissenschaften, der Public History und der individuellen und kollektiven Erinnerung noch das Geschichtsmarketing großer Unternehmen auftritt. In einer RAG-Werbung vom 10. Juni 2014, die das „nachhaltige Handeln“ und Bemühen der RAG schildert, das „kulturelle und soziale Erbe in der Heimat in die Zukunft zu tragen“, wird neben der Rolle des Bergbaus für die Identität und Kultur des Ruhrgebiets und des Saarlandes auch das wissenschaftliche Engagement, nicht zuletzt am Deutschen Bergbau-Museum Bochum, betont: „Die gelebte Erinnerungskultur stellt einen wichtigen Teil des Wandels in der Region dar, denn nur wo Vergangenes Wertschätzung erfährt, kann Neues wachsen. 39 Figge, Katrin: Zechen-Nostalgie (s. Anmerkung 34).
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Viele ehemalige Bergleute engagieren sich heute in der historischen Aufarbeitung und als Botschafter der Bergbaukultur auf den stillgelegten Zechen. Als Zeitzeugen vermitteln sie den Jüngeren ein lebendiges Bild der Technik, Sitten und Gebräuche des Steinkohlenbergbaus. So leisten sie einen wichtigen Beitrag und tragen mit ihrer authentischen Art dazu bei, dass ehemalige Bergbauareale immer mehr Touristen anziehen.“40 (Abb. 7)
Abb. 7: RAG-Werbung Glück auf. Zukunft.
Interessant ist, in welche Bezüge diese positiv gelebte Erinnerungskultur und die „authentischen Zeitzeugen“ in der Broschüre gestellt werden, denn tatsächlich geht es auf den letzten Seiten im Rahmen eines „nachhaltigen Handelns“ auch um den Schutz des Grund- und Trinkwassers in den Bergbauregionen, der für die RAG „oberste Priorität“ besitze, aber bekanntermaßen gerade in der jüngsten Gegenwart zu äußersten Spannungen mit Anwohnern im Saarland geführt hat, die etwa dem gewollten Anstieg des Grubenwassers kritisch gegenüberstehen und trotz anderslautender wissenschaftlicher Gutachten Erdstöße, Bergschäden und eine Verschmutzung des Grundwassers befürchten.41 Vor dem Hintergrund, dass der Schutz der Umwelt und des übertägigen privaten Eigen40 Glück auf. Zukunft. Nachhaltig handeln. Die RAG stellt Umwelt, Wirtschaft und Soziales in den Fokus. Eine Verlagsbeilage Ihrer Tageszeitung in Kooperation mit der RAG, S. 5. Unter: http://docplayer.org/25958580-Glueck-auf-zukunft-nachhaltig-handeln-die-rag-stellt-umweltwirtschaft-und-soziales-in-den-fokus.html (Stand: 05.03.2018). 41 Gründung der Interessengemeinschaft zur Abwendung von Bergschäden. Kernig, Anja: Die Angst vor Bergschäden ist groß, in: Saarbrücker Zeitung v. 25.02.2018. Unter: https://www. saarbruecker-zeitung.de/saarland/neunkirchen/schiffweiler/die-angst-vor-bergschaeden-istgross_aid-7599513 (Stand: 05.03.2018).
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tums sicherlich eine der größten, auch finanziellen Herausforderungen für die Bergbaunachfolgelandschaften ist, erscheinen die erinnerungskulturellen Fördermaßnahmen der RAG kritisch gelesen als eine ausgleichend und vorbeugende Beschwichtigungsmaßnahme gegenüber den Langzeitwirkungen eines gesellschaftlich lange Zeit nicht in Frage gestellten Raubbaus an der Natur. Man kann sich also fragen, inwieweit sich hier eine Region und mit ihnen die Bergleute und die vielfältigen Akteure der Geschichtskultur und Geschichtswissenschaften vor eine erinnerungskulturelle Lore haben spannen lassen. Und wird sich ebenso fragen müssen, welchen kulturellen Verlust und welche sozialen Verwerfungen es geben könnte, wenn es das Engagement für das Bergbaugedächtnis in dieser Form nicht gäbe. Kumpel, Kaue und Keilhaue sind hier als Signifikanten subjekt-, objekt- und ortsbezogener Dimensionen des Authentischen verstanden worden. Entgegen essentialisierenden oder ontologisierenden Vorstellungen von Authentizität, dass also Authentizität verkörpert werde oder als ein Kern bzw. das Sein kultureller Identität aufzufassen sei, wurde Authentizität als eine Zuschreibung verstanden. Wie allerdings entsteht der Eindruck historischer Authentizität, was ist Ausgangspunkt für derartige Zuschreibungsakte jenseits des Marketings? Für die Archäologen und Sozialanthropologen Siân Jones und Thomas Yarrow ist Authentizität keine rein subjektive, diskursive Konstruktion: „[A]uthenticity is neither a subjective, discursive construction nor a latent property of historic monuments waiting to be preserved. Rather it is a property that emerges through specific interactions between people and things.“42 Authentizität ist demnach keine latente Eigenschaft von historischen Industriedenkmälern, Erinnerungsorten oder Dingen, die darauf warten, bewahrt und konserviert zu werden. Oder von Personen oder Personengruppen wie dem Kumpel und die ihm zugesprochene bergmännische Identität. Es ist eher ein Eindruck und Effekt, der in einer erinnerungskulturellen Atmosphäre entsteht,43 in der Rezipienten und Konstrukteure von Geschichte mit den historischen Akteuren, Dingen und Orten in eine Beziehung treten. Wo ist nun abschließend das analytische Potential des Authentizitätsbegriffs zu sehen? Er verweist uns auf Fragen der klassischen Quellenkritik, der „Authentifizierung“ von historischen Sachverhalten. Damit impliziert er eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine Infragestellung des Echten und Originalen in allen changierenden Formen, ohne sich von bei42 Jones, Siân/Yarrow, Thomas: Crafting Authenticity. An Ethnography of Conservation Practice, in: Journal of Material Culture 18, 2013, S. 3–26, hier: S. 3. 43 Siehe dazu jetzt Kerz, Christina: Atmosphäre und Authentizität. Gestaltung und Wahrnehmung in Colonial Williamsburg, Virginia (USA), Stuttgart 2017 (= Erdkundliches Wissen, 161).
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den Begriffen zu verabschieden. Als „Authentisierung“ sind demgegenüber die vielfältigen Repräsentationen und Inszenierungen des Echten zu verstehen, denn der Eindruck des Unmittelbaren und Unvermittelten, der mit dem Authentischen einhergeht, ist immer auf Darstellung angewiesen. Der Authentizitätsbegriff verweist uns aber auch darauf, dass wir es im erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Feld oft mit Authentizitätskonflikten zu tun haben, denn aus der Fülle dessen, was als authentisch bezeichnet werden kann, wird immer etwas herausgegriffen, um ein Argument zu begründen, ein Narrativ zu stützen oder einen Beweis zu liefern. Die Betonung der besonderen Bedeutung des einen heißt aber im Umkehrschluss auch, anderen Personen oder Sachverhalten ggf. weniger historische Authentizität zuzubilligen. Probleme des Authentisierens verweisen uns insofern auch auf die Autorisierung des Authentischen, denn für den Ausweis des Echten, Originalen und Wirklichen sind immer Institutionen, Wissenschaftler und andere von der Gesellschaft abgestellte Experten verantwortlich. Diese Autorisierung führt im Umkehrschluss zu Formen der Marginalisierung, dem Streit um Anerkennung und zur Selbstautorisierung. Über eine Analyse von Prozessen der Authentisierung kann es insofern gelingen, die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Geschichte und Erinnerung neu zu überdenken. Dass Authentizitätskonstruktionen kulturelle Identitätsbehauptungen aufstellen und diese mit der Generierung von Wahrheit und Glaubwürdigkeit verbinden, macht sie einerseits so attraktiv, offenbart aber zugleich ihre Problematik.
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Erinnerungslandschaften. Über die Musealisierung von Individualitäten, Dingausstattungen und Infrastrukturen Im Jahre 1908 eröffnete das Berliner Märkische Museum, das eine Traumwelt des alten Berlin im Innern zeigte, durch dessen Fenster man jedoch zugleich das neue Berlin betrachten konnte (Abb. 1). Errichtet wurde ein memento mori, geschuldet der Dynamik der Zeit, ein Sehnsuchts- und Erinnerungsort in einer sich ständig wandelnden Stadtlandschaft. Das Märkische Museum bot thematisch und architektonisch im Stil des Mittelalters und der Frühneuzeit gestaltete Räume, gefüllt mit Dingensembles, bestehend aus dem, was interessierte Bürger zusammengetragen, ausgegraben und vor dem Abriss gerettet hatten.1 Bereits zum Zeitpunkt der Eröffnung des Museums war das Gezeigte nur noch Erinnerung, mehr noch, eine zeitgenössische Vorstellung des Erinnerungswerten. Mit der realen Stadt hatte das alles nichts mehr zu tun. Vor den Fenstern wuchs die Mietskasernenstadt.
Abb. 1: Stadtmuseum Berlin, Foto: Ernst von Brauchitsch, 1906. (c) Stiftung Stadtmueseum Berlin, Inv.-Nr. 2007/626 VF 1 Winkler, Kurt (Hrsg.): Gefühlte Geschichte. 100 Jahre Märkisches Museum, Berlin 2008. https://doi.org/10.1515/9783110683097-019
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Mein Beispiel ist willkürlich gewählt und könnte so vielerorts aufgefunden werden. Es zeigt schlaglichtartig die mit der Musealisierung in Rettungsabsicht einhergehenden Probleme. Sammlungs- und Museumsgründungen sind oft anlassbezogen und repräsentieren einen Zeitschnitt, einen Umschlagpunkt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und zwar sowohl einen realen wie auch einen der Vergegenwärtigung. Hätten die Akteure des Märkischen Museums die damals moderne Stadt Berlin ebenso beachtet wie die bau- und kulturgeschichtlichen Funde der Vergangenheit, wären also Zeugnisse der massiven Urbanisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beachtet worden, dann könnten die heutigen Besucherinnen und Besucher die Brücke zur Gegenwart leichter schlagen. So aber bleiben die Orte, auf die sich die Musealisierung bezog, außerhalb des Museums schlicht unauffindbar. Sie wurden, teils mehrfach, überbaut. Das Museum, inklusive der Vorstellungswelt seiner Erbauer, wird zu einen lieux de mémoire, um eine Bezeichnung von Pierre Nora zu verwenden,2 einem Gedächtnisort ohne Erinnerungszusammenhang. Im Titel dieser Publikation, „Perspektiven des Bergbauerbes im Museum“, ist genau dieser Vorgang der Musealisierung des Verlusts beschrieben und es fragt sich, was wir aus dem eingangs zitierten Märkischen Museum lernen können, das heute vor allem als Dokument seiner Zeit wirkt. Ich möchte dies in vier Punkten von unterschiedlichen Seiten aus beleuchten. Einleitend soll es um Sammlung und Museum als Teil einer Erinnerungslandschaft gehen. In einem zweiten Abschnitt wird am Beispiel des DDR-Alltags danach gefragt, was sich erhält, wenn die unmittelbare Vergangenheit ins Museum kommt. Daran anschließend wird der mikrogeschichtlich orientierte Blick auf das Einzelobjekt geworfen, bevor schließlich die Frage der Neuinterpretation der gesammelten und musealisierten Dinge diskutiert wird.
Das Museum und die Sammlung als Teil einer Erinnerungslandschaft Museen und Sammlungen sind Teil einer Erinnerungslandschaft, in der sich real Vorhandenes und persönliche Erfahrung überlappen, wenn sie sich, wie bei der Bewahrung des Bergbauerbes, mit einer Fast-Noch-Gegenwart beschäftigen. Wir befinden uns, um noch einmal mit Pierre Nora zu sprechen, am Übergang von den milieux de mémoire zu den lieux de mémoire, also von einem lebens2 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis die Gedächtnisorte, in: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–33.
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weltlichen zu einem kulturell verfestigten, gleichsam institutionalisierten Gedächtnis. Das, was im lebensweltlichen „kommunikativen“ Gedächtnis3 noch auf Erfahrung beruht und miteinander verhandelt werden kann, wird in der Sammlung und im Museum statisch, zum feststehenden Beleg einer historischen Zeit. Der Auswahlprozess bei dieser Musealisierung – man sammelt exemplarisch, typologisch, seriell oder als Lebensbild – ist Gegenstand kontinuierlicher museumsfachlicher Debatten.4 Mit Blick auf das musealisierte Bergbauerbe taucht jedoch ein viel weitergehendes Problem auf: Verhandelt wird über eine ganze Region und über deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Prägung durch den industrieschaffenden Bergbau. Die damit verbundenen Herausforderungen sollen anhand von drei Fotografien erläutert werden.5
Abb. 2: Wildstraße, Essen-Vogelheim, 1977
Die erste Fotografie zeigt die drei Ebenen der Erinnerungslandschaft: Zu sehen sind erstens spielende Kinder, die die individuelle Ebene der Aneignung der Umwelt verdeutlichen (Abb. 2). Zweitens fällt der Blick auf die Dingausstattungen, die vom Wurfgeschoss der spielenden Kinder bis hin zur am Fuß der Halde liegenden Wohnung reichen, hinter deren Mauern wir weitere Dinge erwarten
3 Begriffsprägend Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985. 4 Vgl. die Beiträge zu „Kernaufgabe Sammeln“ in: Walz, Markus (Hrsg.): Handbuch Museum. Geschichte Aufgaben Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 156–176; Meiners, Uwe/Xylander, Willi E. R.: Sammeln, in: Graf, Bernhard/Rodekamp Volker (Hrsg.): Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen, Berlin 2012, S. 73–87. 5 Veröffentlicht in: Meisel, Rudi: Landsleute 1977–1987 (Ausstellungskatalog c/o Berlin), Heidelberg/Berlin, 2. Aufl. 2016.
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dürfen. Drittens schließlich sind die Infrastrukturen6 der Industrielandschaft zu sehen: Häuser, Straßen, Halden, Freiflächen. Das Bergbauerbe steht hier im Zentrum und zeigt sich als Schichtung von Großstrukturen bis hin zu den Individuen, die es auf ihre Weise benutzen. Das Foto zeigt mithin eine Gleichzeitigkeit, die aber heute, vierzig Jahre nach dem Aufnahmedatum, nicht mehr gegeben ist. Es kommt also bei der Betrachtung der Fotografie eine vierte Ebene hinzu: die der Zeit, die hier als Faktor von Erinnerung und Veränderung, also unter Betonung des Wortteils „Erinnerung-“, im Titel dieses Beitrags „Erinnerungslandschaften“ zum Tragen kommt. Für die spielenden Kinder hatte „Landschaft“ eine aktuelle Bedeutung und eine klare Begrenzung: Sie war Aktionsraum; zum Erinnerungsraum wird sie erst anlassbezogen, etwa beim Betrachten eines solchen Fotos beim Museumsbesuch, bei Ortsveränderungen, im Familiengespräch. Die Dingausstattungen, die auf dem Foto erkennbar sind, sind die „beiläufigen Begleiter“ dieser kindlichen Aktivität. Damals weitgehend unbeachtet, finden sie sich heute möglicherweise im Museum: Kleidung, Spielzeug, Wohnungseinrichtungen und dergleichen sind als „movable objects“ gleichsam musealisierungsfähig, ganz im Gegensatz zu den Infrastrukturen, die den festen, physischen Rahmen abgeben, eine Art „Grundrauschen“ der jeweils aktuellen Gegenwart. Das hier gezeigte Foto ist ikonisch: Es zeigt ein vom Bergbau geprägtes Ruhrgebiet zu einer Zeit, als der Himmel noch nicht blau war7 und, in einer eng beieinanderliegenden Durchmischung der Funktionen, eine spezifische Landschaft, die auch Nichteingeweihte verorten könnten: typisch Ruhrgebiet eben. Dennoch kann diese Zuspitzung auch in die Irre führen, wie das folgende Foto zeigt (Abb. 3).
Abb. 3: Hombrucher Straße vor B 1/A 430 (nach 1990 A 40), Essen-Frillendorf, 1984 6 van Laak, Dirk: Eine kurze (Alltags-)Geschichte der Infrastruktur. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2017. Unter: www.bpb.de/apuz/246420/eine-kurze-alltags-geschichte-der-infrastruktur (Stand: 10.3.2018). 7 Die Anspielung bezieht sich auf eine Wahlkampfrede Willy Brandts von 1961: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden.“ Vgl. Zu blauen Himmeln, in: Der Spiegel 1961, H. 33, v. 09.08.1961. Unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-43365482.html (Stand: 10.03.2018).
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Hier wird die Verbindung von Individuum, Dingausstattungen und Infrastrukturen umgekehrt. Menschliche Aktivität, die Blumenpflege an der Hauswand, ist eingeengt durch Asphalt und Verbundplatten, wird gleichsam an die Wand gedrückt und beinahe schon bedrohlich dominiert vom Verkehr auf der angrenzenden Autobahn. Wohl keiner der erkennbaren Gegenstände würde es in ein Museum schaffen, und die Erinnerungslandschaft der Gärtnerin lässt den „Erbe“-Begriff in einem monströsen, gewalthaften Licht erscheinen. Ebenso ist die Dimension zeitlicher Veränderung hier (noch?) ausgehebelt, denn Infrastrukturen erweisen sich als langlebiger als der Mensch in seinen Aktivitäten und die Dinge, die er benutzt. Schließlich, als drittes Beispiel, eine Fotografie, die die Frage des Ortes in den Blick nimmt (Abb. 4). Ein älteres Paar sitzt am Tisch und isst Suppe. Auch hier wird wieder die Frage nach den drei Dimensionen von Individualität, Dingausstattungen und Infrastrukturen gestellt: Die Individualität zeigt sich in der Konzentration auf die Tätigkeit, die alltäglicher nicht sein könnte und lediglich die Dingausstattungen der Küche lassen Hinweise auf Lebensumstände zu. Das Foto ist darüber hinaus völlig ortlos und es wirkt wie eingefroren in einer vergangenen Zeit.
Abb. 4: Kraspothstraße, Zechensiedlung Zollverein, Essen-Katernberg, 1983
Die Fotos zeigen drei Erinnerungslandschaften in der gleichen Stadt. Sie sind ikonisch bis ephemer und regen Imagination an, wo konkretes Wissen fehlt. Dennoch sind sie komplex genug, um den Begriff der Landschaft, wie er für den Titel des Beitrags gewählt wurde, zu verdeutlichen: Landschaft vereint Reales mit Wissen und Vorstellung, große Strukturen mit Individuellem. Bereits der Stadt-
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planer Kevin Lynch8 hat diese Verbindung von Strukturen, Materialität und Orientierungswissen (man könnte auch sagen: Erinnerung, aber auch Aufmerksamkeit) hergestellt, indem er die Stadt in individuell erfahrene, visuell erinnerbare und nutzungsprägende Markierungen unterteilt. Er spricht von Wegen, Kanten, Knoten, Zonen und Erinnerungszeichen9, die die Orientierung in der Stadt strukturieren. Lynchs Markierungssystem, mit dem er eine Stadtindividualität auch in funktional dominierten Stadtsystemen verdeutlichen wollte, hilft bei der Frage, welches Erbe bewahrt werden soll: Es sind die unbeachteten Dinge der täglichen Routinen, Gewohnheiten und Zwänge, die weit mehr über eine Gesellschaft aussagen, als das Besondere, Einzigartige oder das „souvenir“ (frz.: Erinnerung). Eine andere Konnotation hat die Beschreibung der Erinnerungslandschaft als „Palimpsest“, also ursprünglich der Suche nach Spuren auf einem überschriebenen Papyrusdokument. Hier geht es eher um die Wiederentdeckung der ausgelöschten und damit verloren erscheinenden Spuren, die jedoch unter ihrer neuesten Deckschicht aufgefunden werden können. Der Begriff des Palimpsests kann nicht nur auf ausgelöschte und überschriebene Informationen auf Dokumenten angewendet werden, sondern im übertragenen Sinne auch auf Orte, deren frühere Funktion und Bedeutung durch Abriss und Neubau unkenntlich scheinen, deren übersehene Spuren aber durch eine Gegenwartsarchäologie wieder sichtbar gemacht werden können.10 Schließlich lohnt es, sich den Begriff der „Landschaft“ zu vergegenwärtigen. Er wird zunächst einmal auf naturräumliche Zusammenhänge angewendet, aber zunehmend auch auf seine kulturellen und historischen Dimensionen hin befragt: Archäologen benutzen ihn, um ihre Funde in Nutzungs- und Sinnzusammenhänge zu integrieren, es gibt „cultural landscapes“, „industrial landscapes“ und „urban landscapes“, um visuell erfahrbare Prägungen von Landschaft durch den Menschen auf den Begriff zu bringen. Sie alle eint, dass es sich um interpretierende Begriffe, also eine Sichtweise von außen und von heute aus handelt. Der Begriff von Landschaft ist im Kontext von Überlegungen zur Bewahrung hilfreich, weil er die Komplexität von Strukturen und Orten sowie die Gleichzeitigkeit der historischen Schichtungen und ihrer Materialität deutlich macht. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass das, was in Museen und Sammlungen aufgenommen wird, nur Teil einer umfassenderen Ding- und Erinnerungswelt ist, und es fragt sich, welcher Ausschnitt von vergangener Lebenswelt auf diese Weise auf Dauer gestellt werden kann und soll. 8 Vgl. Lynch, Kevin: The Image of the City, Cambridge/London 1960. 9 „Paths“, „edges“, „nodes“, „zones“ und „landmarks“, vgl. ebd., S. 46 ff. 10 Binder, Julia: Stadt als Palimpsest. Zur Wechselwirkung von Materialität und Gedächtnis, Berlin 2015.
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Was sich erhält. Ein Exkurs auf die DDR Vergleichbar mit der Musealisierung des Ruhrbergbaus ist diejenige der DDR nach 1990. Gesammelt und gesichert wurden in beiden Fällen die materiellen Hinterlassenschaften einer Gesellschaft, die sich auflöste und damit perspektivisch im Verschwinden begriffen war. Akteure waren und sind sowohl Museen wie auch Privatpersonen.11 Ähnlich wie beim Ruhrbergbau wurde auch hier auf das Verschwinden einer Lebenswelt reagiert, war die Generation der „Mitlebenden“12 zugleich auch an deren Bewahrung beteiligt. Eine auffällige Parallelität zeigt sich schließlich auch darin, dass die Bewahrung des jeweiligen alltagskulturellen Erbes sowohl an der Ruhr wie auch in der ehemaligen DDR parallel von öffentlich finanzierten Museen wie durch von privater Hand getragene Initiativen vorangetrieben wurde. Hier wie dort kann ein, der Gründungsphase von Heimatmuseen vergleichbarer, „zweiter“ Museumsboom13 verzeichnet werden, der im Ruhrgebiet frühzeitig zu einem eigenen, neuen Museumstyp, dem Industriemuseum, geführt hat. Neben diesen Ähnlichkeiten bestehen jedoch auch gravierende Unterschiede: Die Musealisierung des Ruhrbergbauerbes bezieht sich auf eine Region und eine Industrie, die der DDR auf einen ganzen Staat, also viele Regionen, und seine gesamte Gesellschaft. Im Ruhrgebiet finden wir eine begleitende Musealisierung innerhalb eines über Jahrzehnte andauernden Prozesses, hinsichtlich der DDR die plötzliche, nachträgliche, wenn auch zeitnahe Musealisierung unter dem Eindruck des kompletten Austauschs politischer, wirtschaftlicher und lebensweltlicher Zusammenhänge. Daher ist auch die zeitgeschichtliche Bewertung eine gänzlich andere, denn die Bewahrung der lebensweltlich konnotierten Relikte aus der DDR wurde im Zuge der Aufarbeitungsdebatte mit einem politisch motivierten Nostalgieverdacht in Verbindung gebracht.14
11 Vgl. Verein zur Dokumentation der DDR-Alltagskultur e. V. (Hrsg.): DDR-Museumsführer 2011. Von Rügen bis zum Erzgebirge. Der Alltag in der DDR. Wohnen und Leben, Schule und Spiel, Arbeit und Freizeit, Berlin 2011. 12 Rothfels, Hans: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1, 1953, H. 1, S. 1–8. 13 Thamer, Hans-Ulrich: Das „zweite Museumszeitalter“. Zur Geschichte der Museen seit den 1970er-Jahren, in: Graf, Bernhard/Rodekamp Volker (Hrsg.): Museen (s. Anmerkung 4), S. 33– 42. 14 Zündorf, Irmgard: Vitrine oder Wühltisch? Zur Objektkultur der DDR-Geschichte im Museum, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach 2008, Göttingen 2009, S. 211–219; Ludwig, Andreas: Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext, in: Deutschland Archiv 44 (2011), H. 4, S. 604–613.
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Ungeachtet dieser Unterschiede sind die verbindenden Elemente der Fokus auf das Lebensweltliche und die zeitliche Nähe von Verschwinden und Musealisierung. Es soll daher gefragt werden, wie Bergbau, Industrie und allgemeiner Arbeit mit Blick auf die DDR auf Dauer bewahrt und damit potentiell in der Öffentlichkeit repräsentiert sind. Im Hintergrund schwingt die Überlegung mit, ob die Integration des Lebensweltlichen eher in Spezialmuseen15 oder in einer integrierten Form sozial- und alltagsgeschichtlicher Ausrichtung erfolgt und wenn ja welchen Stellenwert die Arbeitswelt bislang in einem solchen Kontext hat. In einer ersten Annäherung wurden die Sammlungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR16 daraufhin geprüft, wie sich Bergbau in einer allgemeinen, alltagsgeschichtlichen, weitgehend von Bürgern zusammengetragenen Sammlung niederschlägt. Hier also einige (Be-)Funde. Da sich die Sammlungen des Museums auf die gesamte DDR beziehen, fand sich Verschiedenes, das vor allem auf Grund seiner spezifischen wirtschaftlichpolitischen Konnotierungen aufschlussreich ist. Ausgangspunkt sind die Jahre nach 1990, als versucht wurde, die schrittweise seit den späten 1940er-Jahren verstaatliche Industrie der DDR zu (re-)privatisieren. Dies hieß in vielen Fällen: Einstellung der Produktion, Vorbereitung der Betriebe und ihrer Infrastrukturen für potentielle alte oder neue Eigner. Aus musealer Sicht heißt das: Es wurde abgebaut und aufgeräumt, so dass ein Großteil der industriellen Hinterlassenschaften verloren ist. Was heute noch erreichbar ist, war im Zuge der Betriebsschließungen „privat privatisiert“ worden und wird nun möglicherweise von ehemaligen Beschäftigten dem Museum übergeben. Zugleich werden die Orte selbst im Zuge eines lost-places Tourismus aufgesucht,17 wobei Industrieruinen von einer internationalen Urbex-Community18 fotografiert, aber auch Objekte mitgenommen werden, die später Ausgangspunkt von Ausstellungen sein können.19 Es sind in der Regel vereinzelte Spuren, die in solchen verlassenen oder bereits geräumten Werksgeländen aufgefunden werden, Bodenfunde einer Gegenwartsarchäologie (Abb. 5).
15 Verwiesen sei für den Bergbau in der DDR auf das Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge. 16 Unter: www.alltagskultur-ddr.de (Stand: 10.3.2018). 17 Teils mit explizitem Bezug auf die Industriearchäologie, vgl. marodes.de. Vgl. Draga, Anne: Schockverliebt in ein verlassenes Gebäude in Münnerstadt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.9.2017. 18 Urbex = urban explorers, zu denen sich die lost places-Anhänger zählen. 19 Zum Beispiel die Ausstellung „Éclats DDRDA Splitter“ im Institut Français Berlin, 2017.
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Abb. 5: Roheisenmassel, aufgefunden in einem geräumten Geländeteil des VEB Eisenhüttenkombinat Ost, 1990er-Jahre
Ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, repräsentieren solche Fundstücke lediglich Erinnerungsmarker an eine untergegangene Zeit, „souvenirs“ für eine spätere Generation. Was ihnen fehlt, ist eine historische Ein- und Zuordnung und deren zeitliche Dynamik. Bergbau in der DDR hieß in den 1950er-Jahren noch Steinkohlenbergbau und die Stoßschichten eines Adolf Hennecke sind Teil der propagandistischen Legende der Aufbaujahre des Sozialismus. Zeitgleich wurde auf Grund der Interessen der Sowjetunion der Uranbergbau massiv ausgebaut und die Wismut AG bildete im Süden der DDR einen Staat im Staate, ausgestattet mit bevorzugt belieferten Einkaufsmöglichkeiten, Ferienheimen, Kulturhäusern und einem eigenen Wohnungsbau (Abb. 6).
Abb. 6: Papiertüten der HO Schwarzenberg für den Sonderversorgungsbereich der Deutsch-Sowjetischen Aktengesellschaft Wismut
Seit den späten 1950er-Jahren wurde dann das „Kohle- und Energieprogramm“ angefahren, das auf Grundlage des Braunkohlenbergbaus einen realen und politischen Kern der industriellen Strukturierung der DDR ausmachte. Der massive Ausbau der Braunkohlengewinnung und -weiterverarbeitung bewirkte einschneidende Veränderungen in der territorialen Struktur der DDR bis hin zum
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Bau der Neuen Stadt Hoyerswerda, der industrie-strukturellen Überformung ganzer Regionen20 und reichte auf der Objektebene tief in die Gesellschaft hinein. Die hier gezeigte Kartongestaltung eines Metallbaukastens, der auch für den so genannten polytechnischen Unterricht an den Schulen verwendet wurde, verweist auf den Arbeitskräftebedarf des Bergbaus und vermittelte eine Faszination für Großgeräte. Spielzeuge wie das folgende – ähnliches gibt es auch für den industriellen Wohnungsbau der DDR – integrieren Beruf, Industrie und Staat zu einem kollektiven Projekt, das eine gesamtgesellschaftliche Entwicklungsrichtung markiert (Abb. 7).
Abb. 7: Sonneberger Metallbaukasten Piccolo, VEB Injecta Steinach/Thüringen, 1964–1967
Die gesellschaftliche Bedeutung des Bergbaus in Form seines Produkts, der Kohle, wurde in der DDR ein gesellschaftliches wie pädagogisches Programm: Auf einem Stundenplan wird Schülerinnen und Schülern erklärt, dass ihre warme Wohnung auf der Arbeit der Bergleute beruht (Abb. 8). Die Rückseite des Stundenplans richtet sich mit einem Gedicht direkt an die Eltern: „Der Kumpel schafft von früh bis spät, Damit es allen besser geht. Ihr könnt ihn wirksam unterstützen, Nur müßt die Sommerzeit ihr nützen. Drum liebe Eltern, denkt dar-
20 Bayerl, Günter: Vom Regenwald in die Wüste. Die Niederlausitz und die Musealisierung der Industriekultur, in: John, Hartmut/Mazzoni, Ira (Hrsg.): Industrie- und Technikmuseen im Wandel. Standortbestimmungen und Perspektiven, Bielefeld 2005, S. 211–234.
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an, Schafft Sommerkohle jetzt heran. Wir bitten euch, befolgt den Rat, Ihr spart viel Zeit und Geld für euch und unseren Staat“.21
Abb. 8: Stundenplan, VEB Kohlehandel Neubrandenburg, 1962
Was wir in den hier gezeigten Objekten vorfinden, ist eine zeitlich begrenzte kommunikative Konjunktur des Bergbaus, wobei sich der Braunkohlenbergbau des Images des in Sachsen schon seit langem bestehenden Steinkohlen- und Erzbergbaus bediente: Die Losung „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“, in den 1950er-Jahren unter anderem zur Arbeitskräftegewinnung eingesetzt, markiert den Bergmann als positiven Helden in einer befristeten Zeitperiode; er wurde in den 1960er-Jahren vom Ingenieur als gesellschaftliches Vorbild abgelöst und in den 1970er-Jahren war es der Montagearbeiter auf dem Bau, jedenfalls wenn man nach den zahlreichen Plakaten zu SED-Parteitagen geht. Berufsbilder verkörpern Zeitumstände und ökonomische Prioritätensetzungen. Auffallend ist die Kontinuität bergbaulicher Traditionsbestände unter den gesellschaftlichen Bedingungen der DDR, die von der für das Erzgebirge typischen weihnachtlichen Volkskunst in Form von Nussknackern und Räuchermännchen in Bergmannskleidung bis hin zu rituellen Gastgeschenken wie stilisierten Grubenlampen und Ziergläsern reichte. Vom positiven Image (aber auch den bevorzugten Lohnbedingungen und Versorgungsleistungen) des Bergbaus profitierte auch die Stahlindustrie, in der neben materiellen Leistungen wie Tarifverträgen und Deputaten die Bergmannsuniform und der Gruß „Glück auf“ übernommen wurden. Offizielle Gastgeschenke der Betriebe wie Zierbriketts 21 Das Schuljahr begann in der DDR am 1. September.
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und Biertulpen verweisen nicht nur auf die Herstellerbetriebe, sondern auch auf deren Zugehörigkeitsgefühl und ihren sozialistischen Charakter (Abb. 9 und 10). Die Zahl der in den Museumssammlungen überlieferten Biergläser lässt vermuten, dass es sich um ein Massenphänomen gehandelt hat.
Abb. 9: Zierbrikett zum 40. Jahrestag der DDR
Abb. 10: Biertulpe, Gastgeschenk, VEB BKK (Braunkohlenkombinat) Lauchhammer
Diese Auswahl bergbaubezogener Sammlungsobjekte täuscht über eines hinweg: In der arbeitsbezogenen, sich selbst als Arbeiterstaat und Arbeitsgesellschaft definierenden DDR sind Objekte mit erkennbarem Bezug zur Arbeitswelt eher selten, wenn allgemein nach dem Alltag und nicht gezielt nach der Berufstätigkeit der privaten Schenker gefragt wird. Was sich erhalten hat, sind Arbeitsverträge, Dokumente gewerkschaftlich gewährter Kuren und vor allem berufliche Auszeichnungen, von denen es außerordentlich viele gibt (Abb. 11). Aus ihnen lassen sich Berufsbiographien rekonstruieren, die eng mit staatlichen Initiativen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität verbunden sind. Nur selten steht die eigene Berufsarbeit im Zentrum einer Schenkung und wenn, dann wird sie von den Schenkenden mit ihrer Bedeutung für die DDR verbunden und ist von einer höheren beruflichen Stellung gekennzeichnet. Alles andere zeigt sich, so scheint es zunächst, nicht in Objekten. Dennoch verweisen die Dinge, wenn
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wir uns noch einmal die Ausgangsfragen vergegenwärtigen, bei aller Ausschnitthaftigkeit der Beispiele neben der materiellen auch auf eine Art symbolische Infrastruktur der Industriegesellschaft der DDR, die sich in Museumssammlungen niederschlägt. Ebenso fungieren sie, im Rückgriff auf Lynchs Kategorien, als Merkpunkte22 in einer arbeitsweltlich geprägten „Landschaft“. Es sind allerdings nicht nur die Großstrukturen der Werke, Maschinen und Transportwege, die zu berücksichtigen sind, nicht nur Werkzeuge oder Arbeitskleidung, sondern auch die zahllosen unbeachteten Begleiter des berufsgeprägten Alltags, vom Schichtplan bis hin zum Kantinengeschirr. Die Rekonstruktion eines durchschnittlichen berufstätigen Wochentages würde Aufschluss über diese breite materielle Kultur des Alltags auch jenseits symbolbehafteter Objekte bringen.
Abb. 11: Dokumentensammlung eines Mitarbeiters des Hüttenzementwerks Ost in Eisenhüttenstadt
22 S. Anmerkung 9.
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Bemerkungen zur Mikrogeschichte der Dinge Wenn also Arbeit in einer musealen Alltagssammlung wie der im Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrum vor allem in symbolhaft wirkenden Objekten repräsentiert wird, so stellt sich die Frage, ob wir es mit einem isolierten Phänomen zu tun haben oder ob nicht, jenseits der „Bergbaudinge“, eine Tiefenwirkung in die Gesellschaft erkennbar ist, oder anders ausgedrückt: die Integration des Beruflichen in eine breiter betrachtete Lebenswelt. Hier gilt es, die einzelnen Objekte genauer in den Blick zu nehmen und nach indirekten Zeichen einer gesellschaftlichen Integration von Industriearbeit zu suchen. Ich möchte dafür zwei Richtungen andeuten. Die eine Richtung verweist auf Objekte, die zuerst in der Arbeitswelt vorkommen und dann in die breitere Gesellschaft übernommen und für sie modifiziert werden. Die hier gezeigte Bohrmaschine könnte man auf Grund ihres Aussehens und des massiven Aluminiumkörpers für ein Arbeitswerkzeug zum Einsatz in Industrie und Bergbau halten (Abb. 12). Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein Werkzeug für den privaten Gebrauch, eine 1963 von Erich John, einem der führenden Industriedesigner der DDR, entworfene Haushaltsbohrmaschine. Spätere Maschinen waren kleiner, erhielten ein Gehäuse aus Kunststoff und eine Reihe praktischer Zusatzgeräte, die sie für den Einsatz im privaten Doit-yourself geeigneter machten. Der industrielle Gebrauch bestimmte also zunächst die Form und Materialität des Gegenstands beim Übergang in ein Konsumgut, eine Ausgangsform, die ihre Herkunft zeigt, bevor sie zum kommodifizierten Haushaltsgegenstand wird, der dann so aussehen wird, als ob er schon fast mit einer Hand zu bedienen ist.
Abb. 12: Haushaltsbohrmaschine HBM 300, VEB Elektrowerkzeuge und Apparate Sebnitz, Entwurf: Erich John, 1963
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Ganz anders das zweite Objekt. Es handelt sich um Buchgeschenke, einmal als Prämie für gute Arbeit im Hüttenzementwerk Ost, ein Geschenk, das auf die öffentliche Belobigung von Arbeitsleistungen hinweist (Abb. 13, 14 und 15). Hier geht es direkt in die Struktur von Erwerbsarbeit in der DDR hinein: Arbeit erschöpfte sich nicht im Lohn, gegebenenfalls in Deputaten und Privilegien bei der Versorgung, sondern hatte eine ausgeprägte symbolische Komponente, indem gute Arbeitsleistungen öffentlich belobigt und so der gesamten Belegschaft zur Kenntnis gegeben wurden. Zu diesen öffentlichen Belobigungen gehörte die „Straße der Besten“, Wandzeitungen oder gar Plakatwände an öffentlichen Straßen mit den Portraits und den besonderen Leistungen von Betriebsangehörigen sowie Auszeichnungen, die oft mit Geldprämien verbunden waren und sowohl Individuen wie Kollektiven verliehen wurden. Das private Buchgeschenk fällt durch seine Widmung auf, die auf Lebensverhältnisse und ihre Bewältigung verweist. Dass hier ein Nietzsche-Zitat verwendet wurde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, auch wenn das Zitat als Abwandlung der offiziellen Losung „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“23 interpretiert werden kann. Verschenkt beziehungsweise verliehen wurde das gleiche Buch, passenderweise ein Aufbauroman, der im damaligen Stalinstadt, dem Ort des verleihenden Betriebes und der schenkenden Privatperson spielt. Der Roman schildert die Jahre des Aufbaus des Eisenhüttenkombinats Ost und der Stadt Eisenhüttenstadt außerordentlich realistisch und dürfte damit den Erfahrungen der Beschenkten nahe gekommen sein.24 Auch wenn Spurensuchevorgänge am Objekt oft mehr Fragen offenlassen als Antworten geben, verweisen sie doch auf die unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Dinge. Objekte, die dem Museum aus Gründen, die oftmals nicht mehr rekonstruierbar sind, übergeben wurden, erhalten durch genaue Inspektion einen sekundären Sinn, nämlich den eines Hinweises auf dahinterliegende Bedeutungen. Aus dem Gegenstand selbst ergeben sich die Verweise auf teils erwartbare, teils wenig vertraute Zusammenhänge. Allerdings kann sich die Aufmerksamkeit für solche Bedeutungen wandeln, je nach Kontext der Beschäftigung mit dem Objekt. Dessen berühmte, ich würde hinzufügen: auch in unbekannte Wasser führende Polyvalenz erlaubt den Objekten, wie auch den Sammlungen ein zweites Leben, das der Neubefragung von Objekten und Sammlungen. Ich komme damit zum letzten Punkt. 23 Zugeschrieben der Weberin Frieda Hockauf, die ähnlich wie Hennecke durch Normübererfüllung zur offiziellen Heldin bei Aufbau der DDR wurde. 24 Vgl. Ludwig, Andreas: Menschenbilder. Der sozialistische Mensch. Zur Konstitution eines Idealtyps am Beispiel der frühen Jahre Eisenhüttenstadts, in: Beier, Rosmarie (Hrsg.): aufbau west aufbau ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit (Ausstellungskatalog), Ostfildern-Ruit 1997, S. 323–331.
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Abb. 13: Karl Mundstock: Helle Nächte. Roman, Halle/Saale 1952
Abb. 14: Buchgeschenke mit Widmung. Hüttenzementwerk Ost, 1954
Abb. 15: Buchgeschenke mit Widmung. Privat, 1955
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Die Neuinterpretationen im Zuge der Zeit Die Musealisierung des Bergbauerbes im Ruhrgebiet, wie auch die der eben gezeigten Objekte aus der DDR, geschieht in einem konkreten zeitlichen Kontext; sie ist eine vorausschauende oder auch eine nachholende Sicherung der materiellen Kultur unter dem Gesichtspunkt einer dauerhaften Verfügbarkeit. Die Intentionen derer, die eine Sammlung aufbauen und derer, die sie anschließend nutzen, sind also nicht unbedingt identisch. Fragestellungen können sich ändern, ebenso Nutzerkreise. Die künftige Entwicklung von an die Sammlungen gerichteten Interessen ist schlichtweg nicht absehbar. Bei den Sammlungen zur DDR beispielsweise zeigte sich um die Jahrtausendwende ein Umschwung der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie galt nun weniger dem Alltagsleben in der DDR oder auch „dem anderen Deutschland“, als vielmehr ihrer Produktkultur. Diese wurde als Beispiel für eine europäische Nachkriegsmoderne interpretiert, mit einem deutlichen Interesse am Utopischen, das heißt nicht den Verwertungsinteressen des Konsumkapitalismus Unterworfenen.25 Damit hatte sich die Sammlung als kollektives Zeugnis der Generation der „Mitlebenden“, um erneut diesen Begriff aus der Zeitgeschichtsforschung zu zitieren, zu einer Sammlung der Vergangenheit verschoben, die jedoch Zukunftspotential suggerierte. Nicht das Objektarchiv (weniger indes für Erinnerung oder „Aufarbeitung“), als das die Sammlung zunächst angelegt worden war, sondern das Interesse an einer spezifischen Moderne standen nun im Vordergrund. Solche Verschiebungen sind unschwer vorauszusagen, aber nicht vorherzubestimmen. Es erscheint mir durchaus unklar, unter welchen Fragestellungen das Bergbauerbe des Ruhrgebiets künftig von Interesse sein und welche Rolle die Bergbautechnik und das bergmännische Erbe dabei spielen werden. Die eingangs gezeigten Fotografien aus den 1970er- und 1980er-Jahren wurden kürzlich in einer vielbesuchten Ausstellung gezeigt, dort aber nicht auf Grund ihrer Besonderheit (industriegeprägtes Ruhrgebiet), sondern ihrer Verallgemeinerbarkeit und Zeitspezifik (Ost-WestKorrespondenzen). Die Kunst besteht vermutlich darin, die Sammlungsdokumentation so zu gestalten, dass sie für viele Interessen offen bleibt. Sie besteht aber auch darin, die jeweiligen Umstände der Sammlungsbildung darzulegen, Entscheidungsmotive zu notieren. Wenn deutlich werden kann, wer aus welchen Motiven was gesammelt hat und auf welche Aspekte bei der Objektdokumentation Wert gelegt wurde, erleichtert dies den späteren quellenkritischen Umgang mit der Sammlung und den Informationen, die sie bereitzustellen in der Lage ist. Auf diesem Wege kann die Sammlung, bis hin zum Einzelobjekt, 25 Eine parallele Entwicklung zeigte sich in einem erneuten Interesse an der „Ostmoderne“ in der Architektur.
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als historisch verortet verstanden und mithin nachvollzogen werden, warum bestimmte Dinge ins Museum kamen und andere nicht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass, ausgehend vom Begriff der Erinnerungslandschaft, museale Sammlungen sich als spezifischer Teil einer kulturellen Überlieferung und einer vielfach historisch und sozial geschichteten „landscape“ zeigen. Diese Vorstellung von Landschaft als komplexes System von Erinnerungen, Bedeutungen und Nutzungen, von Infrastrukturen bis hin zu Gebrauchsgegenständen, entspricht einer lebensweltliche basierten Vorstellung von Umwelt, Region, Heimat – wie auch immer der Begriff gewählt werden mag –, in der Gegenwart und Vergangenheit immer zusammengehen. Mit der Musealisierung von Teilen dieser Lebenswelt wird eine bestimmte Auswahl aus eben dieser Lebenswelt getroffen, aber die Einzeldinge und das Ganze auch örtlich isoliert und zeitlich stillgestellt. Über ihren Gebrauch wird damit noch nichts gesagt. Es kann zunächst lediglich davon ausgegangen werden, dass Museen und Sammlungen einen weiteren Aspekt dieser „landscape“ bilden. Eine der Überlegungen war, museale Sammlungen schon bei ihrer Anlage als historischen Quellenfundus zu betrachten und die Dokumentation ihres Zustandekommens, aber auch der Motive, die dahinter stehen, zu dokumentieren. Über diese, wie es seit kurzem in der Fachdebatte heißt, „reflexive Musealisierung“26 erweist sich der Blick auf das Ganze als sinnvoll, also der Blickwechsel vom Eigenen, wenn man so will, auf das eigen Gewesene und damit, auf eine lange Dauer gesehen, auf das Fremde.
26 Falkenberg, Regine/Jander, Thomas (Hrsg.): Assessment of Significance. Deuten-BedeutenUmdeuten, Berlin 2018.
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Abbildungsnachweise Farrenkopf Abb. 1: Foto: Ina Fassbender, RAG Aktiengesellschaft Abb. 2, 5–7: Foto: Karlheinz Jardner, DBM Abb. 3: Foto: montan.dok Abb. 4, 8: Foto: DBM
Siemer Abb. 1: Google Earth Abb. 4, 5: Foto: Nikolai Ingenerf Abb. 6: montan.dok/Fotothek 477_060003539001_3
Ganzelewski Abb. 1: montan.dok 030350287001 Abb. 2: montan.dok/BBA 120/12212 Abb. 3: montan.dok/BBA 120/12299 Abb. 4: montan.dok 024000158001 Abb. 5: montan.dok 071201299914 Abb. 6: aus: Friedrich Herbst/Heinrich Winkelmann: Das geschichtliche Bergbau-Museum Bochum, Gelsenkirchen 1934, S. 2 Abb. 7: montan.dok/BBA 120/12154.1 und 120/12154.2 Abb. 8: montan.dok BBA 120/12153 Abb. 9: montan.dok 030390150000, Foto: Helena Grebe Abb. 10: Foto: Heinz-Werner Voß Abb. 11: montan.dok 030000971001, Foto: Claus Werner Abb. 12: montan.dok 030006476001 Abb. 13: montan.dok 030200101001 Tab. 1, 2: aus: Siemer, Stefan: Die Erfassung der Vielfalt. Museen und Sammlungen zum Steinkohlenbergbau in Deutschland, in: Farrenkopf, Michael/Siemer, Stefan (Hrsg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2020 (im Erscheinen)
Werner Abbildung 1–4, 6–7: Claus Werner/DBM Abbildung 5: montan.dok 030007659003, Foto: Claus Werner/DBM
https://doi.org/10.1515/9783110683097-021
352 Abbildungsnachweise
Dommer/Kift Abb. 1, 2, 4, 5: LWL-Industriemuseum, Dortmund/Martin Holtappels Abb. 3, 6–9: LWL-Industriemuseum, Dortmund/Annette Hudemann
Färber Abb. 1: Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, Foto: Arndt Gaube Abb. 2: Grafik: ö_Konzept Atelier für Gestaltung, Zwickau Abb. 3: Fotothek des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge Abb. 4, 6–9: Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, Foto: Heino Neuber Abb. 5: Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, Foto: Jan Färber Abb. 10: Bergbaumuseum Oelsnitz/Erzgebirge, Foto: Alexander Stoll Abb. 11: IPROconsult/KEM Dresden
Israël/Schürmann Alle Fotos: Christian Israël, Bergbaumuseum Ibbenbüren
Vereinssammlungen Abb. 1–5: Fördergemeinschaft für Bergmannstradition linker Niederrhein e. V. Abb. 6–14: Wolfgang Imbsweiler, Bexbach Abb. 15–23: Martin Gernhardt, Gelsenkirchen
Götz Abb. 1–12, 14, 15: Kornelius Götz, BRB Abb. 13: planinghaus architekten BDA/Thomas Eicken
Gómez Sánchez/Kunz Abb. 1: Foto: Janine Köppen und Susanne Brunner, DBM Abb. 2: Foto: Cristian Mazzon, DBM Abb. 3: Foto: Simon Kunz, DBM Abb. 4: Foto: Heinz-Werner Voß, DBM
von Hagel Abb. 1: Tyne & Wear Archives & Museums: https://www.flickr.com/photos/twm_news/ 34801340616 (Stand: 12.10.2017) Abb. 2: https://www.bergbau-sammlungen.de/ (Stand: 12.10.2017) Abb. 3: https://www.museum-digital.de/nat/index.php?t=listen&tag_id=6478 (Stand: 12.10.2017)
Büsch/Przigoda Abb. 1: Foto: Helena Grebe Abb. 2–9: www.bergbau-sammlungen.de (11.03.2019) Tab. 1: Quelle: stichtagsbezogene Erhebungen auf https://www.deutsche-digitale-bibliothek. de/.
Abbildungsnachweise
353
Hennig Abb. 1: Foto: Kathleen Waak Abb. 2, 3: Foto: Felix Sattler, HU Berlin Abb. 4, 5: Franke | Steinert, Berlin
Schulz Abb. 1: Objekt Chir. 232 aus dem Bestand der Medizinhistorischen Sammlung der RUB (Foto: Eberhard Schuy, Köln). Abb. 2: F. & M. Lautenschläger: 1888–1938. 50 Jahre Lautenschläger, München, Berlin [1938], S. 23. Abb. 3: Lampert, Heinrich: Die physikalische Seite der Blutgerinnung und ihre praktische Bedeutung, Leipzig 1931, S. 17. Abb. 4: Lampert, Heinrich: Die physikalische Seite der Blutgerinnung und ihre praktische Bedeutung, Leipzig 1931, S. 20. Abb. 5: Kimpton, Arthur Robert/Brown, James Howard: A new and simple method of transfusion, in: Journal of the American Medical Association 61, 1913, S. 117–118. Abb. 6: F. & M. Lautenschläger: Sonderliste 318, München, Berlin [ca. 1932], S. 2. Abb. 7: Lampert, Heinrich: Vereinfachung der Blutübertragung (Percy-Methode mit Athrombit), in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 57, 1931, S. 760. Abb. 8: B. Braun: Hauptliste 1939, Melsungen 1939, S. 179. Abb. 9: Die dem Diagramm zugrundeliegenden Daten stammen aus Ostermann, Wolfgang: Die Geschichte der Berufsgenossenschaftlichen Krankenanstalten Bergmannsheil Bochum, Münster 1976 (= Studien zur Geschichte des Krankenhauswesens 3), S. 57 f.; Boyer, Josef: Bergmannsheil 1890–1990. Ein historischer Rückblick, in: Bergbau-Berufsgenossenschaft Bochum (Hrsg.): 100 Jahre Bergmannsheil, Bochum 1990, S. 36–83.
Saupe Abb. 1: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen BergbauMuseum Bochum 030005589001 Abb. 2: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen BergbauMuseum Bochum 030006104001 Abb. 3: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen BergbauMuseum Bochum 030005211001 Abb. 4: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen BergbauMuseum Bochum 033302946001 Abb. 5: LWL/A. Hudemann Abb. 6: FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V. Abb. 7: Klingenburg/RAG
Ludwig Abb. 1: Stadtmuseum Berlin, Foto: Ernst von Brauchitsch, Reproduktion: Friedhelm Hoffmann, Berlin Abb. 2–4: © Rudi Meisel, Berlin Abb. 5, 7, 11: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Foto: Andreas Ludwig Abb. 6, 8–10, 12, 13, 14, 15: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR
Abkürzungen a.
auch
Abb.
Abbildung(en)
a. d.
an der
AG/A.G.
Aktiengesellschaft
allg.
allgemein
Anm.
Anmerkung
ATR
abgeschwächte Totalreflexionseinheit
Aufl.
Auflage
Bd./Bde.
Band/Bände
BKK
Braunkohlenkombinat
Bsp.
Beispiel
bspw.
beispielsweise
bzw.
beziehungsweise
CA
Celluloseacetat
ca.
circa
CCI
Canadian Conservation Institute
CN
Cellulosenitrat
DBM
Deutsches Bergbau-Museum Bochum
DDB
Deutsche Digitale Bibliothek
DDR
Deutsche Demokratische Republik
d. h.
das heißt
dies.
dieselbe
DIN
Deutsches Institut für Normung
DMB
Deutscher Museumsbund
DMT
Deutsche Montan Technologie
Dr.
Doktor
D.R.P
Deutsches Reichspatent
ebd.
ebenda
erw.
erweitert(e)
etc.
et cetera
e.V.
eingetragener Verein
f.
folgende
ff.
fortfolgende
GmbH
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
H.
Heft
HO
Handelsorganisation
hrsg./Hrsg.
herausgegeben/Herausgeber/in
https://doi.org/10.1515/9783110683097-022
356 Abkürzungen
HU
Humboldt-Universität
IBC
Initiativkreis Bergwerk Consolidation e.V.
ICOM
International Council of Museums
i.d.R.
in der Regel
incl.
Inklusive
IR
Infrarot
ISO
International Organization for Standardization
Jh.
Jahrhundert
km2
Quadratkilometer
LIDO
Lightweight Information Describing Objects
LVR
Landschaftsverband Rheinland
LWL
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
m
Meter
mbH
mit beschränkter Haftung
μg
Mikrogramm
Mio.
Million(en)
mm
Millimeter
montan.dok
Montanhistorisches Dokumentationszentrum (beim DBM)
Nr.
Nummer
NRW
Nordrhein-Westfalen
o. D.
ohne Datum
o. J.
ohne Jahr
PET
Polyethylenterephthalat
PU
Polyurethan
PVC
Polyvinylchlorid
RAG
Ruhrkohle AG
rF
relative Feuchte
RUB
Ruhr-Universität Bochum
S.
Seite(n)
s.
siehe
s. a.
siehe auch
SDAG
Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft
STEAG
Steinkohlen-Elektrizität AG
stellv.
stellvertretende(r)
t
Tonne(n)
TPU
Thermoplastisches Polyurethan
TU
Technische Universität
u.
und
u. a.
unter anderem/und andere
Abkürzungen
überarb.
überarbeitet(e)
unv.
unveränderte
URL
Uniform Resource Locator
usw./u.s.w.
und so weiter
v.
von/vom
VEB
Volkseigener Betrieb
vgl.
vergleiche
WBK
Westfälische Berggewerkschaftskasse
z. B.
zum Beispiel
°C
Grad Celsius
357
Die Autorinnen und Autoren Wiebke Büsch studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Komparatistik, Politikwissenschaft und Angewandte Kulturwissenschaften. Nach Abschluss des Magisters folgten berufliche Stationen in Wirtschaft, Kultur sowie Hochschule in den Bereichen Public Affairs, Veranstaltungsmanagement, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Marketing. Seit 2016 leitet sie die Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit am Deutschen Bergbau-Museum Bochum. Olge Dommer ist seit 2001 Leiterin des Referats Sammlung im LWL-Industriemuseum. Sie studierte Kunstgeschichte, Europäische Ethnologie und Neuere Deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg. Nach Verlagstätigkeit und einem Volontariat am LWL-Industriemuseum, Museumsstandort Zeche Zollern arbeitete sie als wissenschaftliche Dokumentarin in der Zentrale des Museums. Sie forschte und veröffentlichte zur Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Jan Färber ist seit 2008 Leiter des Bergbaumuseums Oelsnitz/Erzgebirge. Er studierte Museologie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig und arbeitete anschließend am Automatik-Museum der HTWK Leipzig, am Textil- und Rennsportmuseum Hohenstein-Ernstthal und am Bauernhaus-Museum AllgäuOberschwaben, Wolfegg. Er ist Vorstandsmitglied des Sächsischen Museumsbundes und arbeitet u. a. in der Arbeitsgruppe Kulturelle Bildung des WelterbeProjektes Montanregion Erzgebirge, in der Arbeitsgruppe Museen im Kulturraum Erzgebirge-Mittelsachsen und im Fachbeirat Sächsische Kohlenstraße mit. Michael Farrenkopf ist seit 2001 Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum und seit 2014 Mitglied im Direktorium. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum und am Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte (IWTG) der TU Bergakademie Freiberg. Nach dem Studium der Geschichte und Publizistik an der TU Berlin promovierte er über „Schlagwetter und Kohlenstaub. Das Explosionsrisi-
360 Die Autoren
ko im industriellen Ruhrbergbau (1850–1914)“ (Bochum 2003) und veröffentlichte zahlreiche weitere Publikationen zur Montangeschichte. Michael Ganzelewski leitet seit 2001 den Bereich Museale Sammlungen des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum. Er studierte Geologie in Bochum und promovierte über die frühgeschichtliche Eisengewinnung in Schleswig-Holstein. Forschungs- und Ausstellungsprojekte in Bochum und Wilhelmshaven sowie eine Zusatzausbildung mit den Schwerpunkten Betriebswirtschaft und Marketing waren Zwischenstationen. Martin Gernhardt war Buchhändler und ist seit 2001 im Ruhestand. Er war in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich tätig und ist zurzeit Vorsitzender im Initiativkreis Bergwerk Consol e. V. Kornelius Götz ist freiberuflicher Fachplaner für Restaurierung. Nach einer Ausbildung zum Schreiner studierte er Geschichte an der Fernuniversität Hagen und war von 1984 bis 1996 Restaurator für Technisches Kulturgut am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. 1996 gründete er das „Büro für Restaurierungsberatung“ in Meitingen. Er ist Lehrbeauftragter an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin und an der Haute École Arc (Conservation Restauration) in Neuchâtel. Elena Gómez Sánchez forscht seit 2015 in der Abteilung Materialforschung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum. Sie hat 2008 in organischer Chemie promoviert und beschäftigt sich seitdem intensiv mit Fragen der Konservierung von Museumsobjekten, so u. a. von 2009 bis 2015 am Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen zu Berlin. Ihr hauptsächliches Arbeitsfeld sind der natürliche Abbau von Polymeren und Fragen der Konservierung. Frank von Hagel arbeitet seit 2005 am Institut für Museumsforschung in Berlin. Er studierte Geschichte und Politologie an der Universität Osnabrück und war anschließend u. a. am Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen und dem Landesmuseum für
Die Autorinnen und Autoren
361
Technik und Arbeit in Mannheim tätig. Kontinuierliche Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Unterstützung großer und kleiner Einrichtungen bei der Bereitstellung ihrer digitalen Informationen sowie die Vermittlung geeigneter Verfahren zur wissenschaftlichen Museumsdokumentation und des Sammlungsmanagements. Hans Peter Hahn ist seit 2007 Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und Globalisierung. Weitere Interessensgebiete sind wirtschaftsethnologische Themen und Arbeitsmigration. Er ist Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Wert und Äquivalent“ (GRK 1576) an der Goethe-Universität und Mitglied des Beirats für die ethnologischen Sammlungen im Humboldt Forum Berlin. Wichtige Publikationen sind: „Ethnologie“ (Berlin 2013), „Handbuch Materielle Kultur“ (Stuttgart 2014), „Eigensinn der Dinge“ (Berlin 2015). Jochen Hennig leitet seit 2018 den Sammlungsbereich Energietechnik und Versorgung am Deutschen Technikmuseum Berlin. Zuvor war er seit 2011 am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter und zugleich als Sammlungsbeauftragter des Präsidiums tätig. In seinen wissenschafts- und technikhistorischen Forschungen geht er Fragen nach dem Status von Bildern, Experimenten, Objekten und Sammlungen bei der Wissenserzeugung und -kommunikation nach. Als Ausstellungskurator leitete er u. a. die Berliner Jubiläumsausstellung „WeltWissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin“ (2010), am Deutschen Museum in München war er Co-Kurator von „Atombilder“ (2007) und Bereichskurator bei „Klima. Das Experiment mit dem Planten Erde“ (2002). Wolfgang Imbsweiler war Betriebsdirektor Personal und Sozialwesen bei der RAG und ist zurzeit erster Vorsitzender des Vereins Saarländisches Bergbaumuseum Bexbach e. V. Christian Israël ist ehrenamtlich im Bergbaumuseum Ibbenbüren (Werksmuseum) engagiert und seit Anfang 2016 Leiter des Museums. Nach einem Bergbau-Studium an der TU Clausthal arbeitete er seit 1982 bei der damaligen Preussag AG Kohle in Ib-
362 Die Autoren
benbüren, bis 1989 unter Tage als Aufsicht in verschiedenen Betriebsbereichen und betraut mit Sonderaufgaben. Seit 1985 war er Mitglied der Grubenwehr und ab 1989 bis zum Vorruhestand im Jahr 2005 im Planungsstab als Ausbau-Ingenieur im Einsatz. Dagmar Kift war Leiterin des Referats Wissenschaft und Vermittlung im LWL-Industriemuseum und stellv. Direktorin. Sie studierte Geschichte und Germanistik an der FU Berlin und in Oxford und promovierte über „Arbeiterkultur im gesellschaftlichen Konflikt. Die englische Music Hall im 19. Jahrhundert“ (Essen 1991). Von ihr stammen zahlreiche Veröffentlichungen zur Arbeiter-, Jugend-, Revier- und Industriekultur, Bergbau- und Freizeitgeschichte, Migration, Frauen- und Geschlechtergeschichte. Simon Kunz ist Konservierungswissenschaftler (2011, TU München) und wirkte von 2012– 2014 als wissenschaftlicher Angestellter am Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen zu Berlin in Projekten zur nicht-invasiven Analyse von Kunstgegenständen mit (DBU). Im Anschluss als Stipendiat am Deutschen Museum in München zu Materialien in Computern ist er derzeit Masterstudent (TH Nürnberg, Photodegradation von Cellulosenitrat) und studentische Hilfskraft am Deutschen Bergbau-Museum Bochum (Degradation von Polyurethan). Andreas Ludwig ist seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, wo er derzeit über die Musealisierung von Gegenwart arbeitet. Er ist Historiker und promovierte an der TU Berlin mit einer Arbeit über BerlinCharlottenburg in der Urbanisierung. Nach Mitarbeit in der Berliner Geschichtswerkstatt leitete er das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Seine Forschungsschwerpunkte sind Neue Städte, Materielle Kultur, Alltagsgeschichte und Museumsfragen. Stefan Przigoda ist seit 2003 Leiter der Bibliothek und der Fotothek des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik in Mainz und Berlin und untersuchte in seiner Promotionsarbeit die Geschichte der Unternehmensverbände
Die Autorinnen und Autoren
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im Ruhrbergbau. Seit 2015 ist er zudem Lehrbeauftragter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Manfred Reis betreut seit 2003 das Fotoarchiv der Fördergemeinschaft für Bergmannstradition linker Niederrhein e. V. Er absolvierte eine Ausbildung zum Betriebsschlosser auf dem Bergwerk Rheinpreußen V und besuchte 1975 die Technikerschule der WBK in Essen und 1986 deren Oberklasse in Bochum. Er arbeitete als Maschinensteiger und als Abteilungsleiter, zuletzt zuständig für die Großbänder der Anlagen Pattberg/Rossenray und des Bergwerks Friedrich Heinrich. Achim Saupe ist seit 2013 wissenschaftlicher Koordinator des Leibniz-Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Er studierte Geschichtswissenschaften, Politologie, Lateinamerikanistik und Philosophie an der FU Berlin. 2007 wurde er mit der Arbeit „Der Detektiv als Historiker Der Historiker als Detektiv. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman“ (Bielefeld 2009) promoviert. Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam, der Humboldt-Universität und der Freien Universität Berlin. Thomas Schürmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kulturanthropologischen Institut Oldenburger Münsterland in Cloppenburg. Er studierte Volkskunde, Geschichte und Deutsche Philologie und wurde 1993 im Fach Volkskunde promoviert. Von 2014 bis 2019 war er wissenschaftlicher Referent in der Volkskundlichen Kommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Dort war er mit einer Dokumentation über die Bergbaukultur im Ibbenbürener Steinkohlerevier betraut. Die daraus hervorgegangene Monographie „Anthrazit. Ibbenbürener Bergbaukultur im Spiegel lebensgeschichtlichen Erzählens“ ist 2020 erschienen. Stefan Schulz ist seit 2001 Leiter der Medizinhistorischen Sammlung der Ruhr-Universität Bochum. Er studierte Medizin und Philosophie in Bochum und Essen. Seit 1989 war er Assistent und Mitarbeiter an der Medizinhistorischen Sammlung/Abteilung für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum und von 1991 bis 2001 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Zürich. 2002 erfolgte die Habilitation in „Medizinische Ethik und Geschichte der
364 Die Autoren
Medizin“. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Geschichte der medizinischen Technik im 19. und 20. Jahrhundert. Stefan Siemer ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum und dort für den Aufbau eines Netzwerks bergbauhistorischer Sammlungen zuständig. Ausstellungstätigkeiten führten ihn unter anderem an das Deutsche Museum in München und an das Ruhr Museum Essen. Er studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Bonn, Freiburg i. Br. und London und wurde mit der Arbeit „Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert“ (Mainz 2004) promoviert. Claus Werner ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum. Nach dem Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der FU Berlin arbeitete er 2011 bis 2014 als wissenschaftlicher Volontär und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZeppelinMuseum in Friedrichshafen.