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German Pages [452] Year 2015
650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert
Band 1
Hrsg. von Friedrich Stadler im Namen der »Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« und des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« (Katharina Kniefacz und Herbert Posch) International Scientific Board: Walter Rüegg (Universität Bern), Ehrenvorsitz; Gary B. Cohen (University of Minnesota); Pieter Dhondt (University of Eastern Finland); Mordechai Feingold (California Institute of Technology); Tibor Frank (Eötvös-Lornd-Universität Budapest); Maria Carla Galavotti (Universität Bologna); Michael Grüttner (Technische Universität Berlin); Konrad H. Jarausch (University of North Carolina); Trude Maurer (Universität Göttingen); Brigitte Mazohl (Universität Innsbruck); Sylvia Paletschek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg); Ada Pellert (Deutsche Universität für Weiterbildung Berlin); Jirˇ Pesˇek (Karls-Universität Prag); Sheldon Rothblatt (University of California); Rudolf Stichweh (Universität Luzern/ Universität Bonn); Sonˇa Sˇtrbn´ov (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik); Lszlû Szögi (Eötvös-Lornd-Universität Budapest); Heinz-Elmar Tenorth (Humboldt Universität Berlin)
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Katharina Kniefacz / Elisabeth Nemeth / Herbert Posch / Friedrich Stadler (Hg.)
Universität – Forschung – Lehre Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert
V& R unipress Vienna University Press
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0290-8 ISBN 978-3-8470-0290-1 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Nationalbank und des Rektorats der Universität Wien. Lektorat: Katharina Kniefacz Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Unter Verwendung einer Fotografie von Hertha Hurnaus, Arkadenhof im Hauptgebäude der Universität Wien mit »Der Muse reicht’s« von Iris Andraschek (2009), »zur Erinnerung an die nicht stattgefundenen Ehrungen von Wissenschafterinnen und an das Versäumnis, deren Leistungen an der Universität Wien zu würdigen«. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Zur Reihe Grußwort des Rektors
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort der Vorsitzenden des Universitätsrats . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort der Vorsitzenden des Senats . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort des Ehrenvorsitzenden des International Scientific Board . . .
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Friedrich Stadler Vorwort des Reihenherausgebers zur Buchreihe . . . . . . . . . . . . . .
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Band 1 j Universität – Forschung – Lehre Katharina Kniefacz, Elisabeth Nemeth, Herbert Posch und Friedrich Stadler Einleitung der HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Streit der Fakultäten Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler Die Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert« und das unvollendete Projekt gesellschaftlich verankerter Vernunft – Zum »Streit der Fakultäten« von Kant bis Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Joachim Dahms und Friedrich Stadler Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart
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. .
Irene Ranzmaier Die Philosophische Fakultät um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Inhalt
Wolfgang L. Reiter Institution und Forschung: Physik im Wandel 1850 – 1900 – eine kaleidoskopische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Thomas König Aufsteigen, Verdrängen, Nachholen: Sozialwissenschaft(en) an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Thomas Olechowski Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Wissensgesellschaft j Wissenschaftsgesellschaft Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Petra Svatek Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Kontinuitäten und Wandlungen einer multidisziplinären und politisch orientierten Forschungsrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Johannes Feichtinger Die verletzte Autonomie. Wissenschaft und ihre Struktur in Wien 1848 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Christian H. Stifter Universität, Volksbildung und Moderne – die »Wiener Richtung« wissenschaftsorientierter Bildungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Katharina Kniefacz und Herbert Posch Akademische Grade und Berufsberechtigung – Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung an der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Doris Ingrisch Gender-Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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Inhalt
Karl Anton Fröschl Scientia digitalis. Exemplarische Skizzen zur Informatisierung der Wissenschaften an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Universität & Öffentlichkeit Katharina Kniefacz und Herbert Posch Selbstdarstellung mit Geschichte. Traditionen, Memorial- und Jubiläumskultur der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Abstracts
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Anhang Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 AutorInnen dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Universitäre Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im Rahmen des 650-jährigen Jubiläums (UKUG, 2010 – 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Wissenschaftlicher Beirat (VertreterInnen der Fakultäten und Zentren der Universität Wien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 International Scientific Board . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Zur Reihe
Grußwort des Rektors
Jubiläen geben Anlass zur Rückschau, zur Geschichtsschreibung. 1965, zum 600-Jahr Jubiläum veröffentlichte Franz Gall seine Geschichte der Universität Wien Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten. 100 Jahre zuvor, 1865, erschien die Geschichte der Wiener Universität von Josef Aschbach als Festschrift zu ihrer 500-jährigen Gründungsfeier. Aus Anlass des 650-jährigen Gründungsjubiläums erscheint 2015 das von Friedrich Stadler gemeinsam mit Herbert Posch und Katharina Kniefacz vom »Forum Zeitgeschichte der Universität Wien« herausgegebene vierbändige Werk: 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Der Schwerpunkt dieser Aufarbeitung der Universitätsgeschichte liegt erstmals auf dem »langen 20. Jahrhundert«, einem Zeitraum von 1848 bis 2000. Das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Dieses »Jahrhundert«-Konzept umfasst daher bewusst eine Zeitspanne von rund 150 Jahren vom Revolutionsjahr bis zur Jahrtausendwende. Es ist ein »langes« schicksalhaftes Jahrhundert, das die vorangehenden entscheidenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einschließt. Nur ein kritisches Verständnis dieser Epoche erlaubt den Versuch einer Annäherung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der erste Band behandelt die innere Entwicklung der Universität als der Lehre und Forschung verpflichtete höhere Bildungseinrichtung. Der zweite Band bespricht die vielfachen Wechselwirkungen von Universität, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der dritte Band untersucht die Rolle der Universität Wien und ihr Image im regionalen bis globalen Kontext. Der vierte und letzte, kurz »Fakultätenband« genannte Teil vermittelt als vielstimmige Innensicht eine kritische Beschreibung der Instituts- und Disziplinengeschichten. Die vierbändige »neue« Geschichte der Universität Wien ist nicht nur die erste breiter angelegte Geschichte dieser Hochschule seit 50 Jahren. Sie erfüllt auch eine dringende und drängende Aufgabe: Die historische Aufarbeitung der
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Heinz W. Engl
Entwicklungen an der Universität Wien in Zeiten des aufkeimenden Deutschnationalismus, Faschismus und Nationalsozialismus und des damit verbundenen Antisemitismus mit Verfolgung und Vertreibung. Professor Friedrich Stadler ist dafür zu danken, dass er sich schon sehr früh mit der Erforschung von Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus befasst hat. Diese von ihm edierte Geschichte der Universität Wien ist ein Geschenk an die Universität selbst, aber auch ein Geschenk für alle, die mit der Universität Wien verbunden sind. Die vier Bände vermitteln ein Verständnis der Umstände und Prozesse, die letztlich zum gegenwärtigen Zustand und gesellschaftlichen Wirken der Universität Wien im Jahr 2015 geführt haben. Allen AutorInnen und auch den Mitgliedern der Historischen Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte und des internationalen Wissenschaftlichen Beirats sei an dieser Stelle für ihren Beitrag zu diesem Publikationsprojekt herzlich gedankt. Wien, im März 2015
Heinz W. Engl Rektor der Universität Wien
Grußwort der Vorsitzenden des Universitätsrats »Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers«, Gustav Mahler
Die Universität Wien feiert im Jahr 2015 das Jubiläum der 650-jährigen Wiederkehr ihrer Gründung. Aus diesem Anlass werden im Jubiläumsjahr eine Fülle von Veranstaltungen und Aktivitäten stattfinden, die alle von der inhaltlichen Zielsetzung geprägt sind, die Bedeutung von Forschung und Wissenschaft für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft zu vermitteln. Teil dieser Zielsetzung ist auch die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und deren kritische Reflexion, die insbesondere an der Universität, einem Ort der permanenten akademischen Diskussion, von besonderer Bedeutung ist. Gerade als Historikerin ist es mir eine besondere Freude, dass im Rahmen der vielfältigen Festpublikationen auch die vierbändige Buchreihe 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert erscheint. Mit dieser Reihe liegt erstmals eine eingehende Darstellung der Universitätsgeschichte des »langen 20. Jahrhunderts« vor, die den Zeitraum der letzten 150 Jahre etwa vom Revolutionsjahr 1848 bis zur Jahrtausendwende ins 21. Jahrhundert umfasst. Ich danke den Herausgebern, insbesondere Professor Friedrich Stadler und allen Autorinnen und Autoren sowie den weiteren Mitwirkenden in der Historischen Kommission und im Wissenschaftlichen Beirat für ihr großes Engagement für dieses wichtige Jubiläumsvorhaben. Wien, im März 2015
Eva Nowotny Vorsitzende des Universitätsrats der Universität Wien
Grußwort der Vorsitzenden des Senats
Wenige Institutionen erleben ihren 650. Jahrestag. Von den österreichischen Bildungseinrichtungen, die im Mittelalter gegründet wurden, ist die Universität Wien bei weitem die älteste, größte, einflussreichste. Sie hat alle Reformen überlebt, alle finsteren Zeiten der Politik überstanden, dem Wandel der Gesellschaft standgehalten. Was hat sie so stark gemacht? Welches sind ihre Geheimnisse, die sie an ihren veränderten Aufgaben wachsen ließen? Welchem Menschentyp bietet sie Arbeit, Leben, Zukunft? Wie verändert sie uns, die an ihr wirken dürfen? Wie gelingt ihr genug kritische Distanz zur Politik, um jedoch zugleich zur Lösung aktueller Probleme beizutragen? Diesen Fragen und vielen anderen geht das vorliegende Werk nach. Eine große Geschichte bedarf eines großen Werks. Vier Bände sind gerade genug, um sich dem vielfältigen Thema wissenschaftshistorisch anzunähern. Dem Jubiläum angemessen geht es nicht um die Idee der Universität an sich, sondern um die konkrete »Universität Wien« in ihrer beeindruckenden Entwicklung seit der Gründung: um ihre Fakultäten und Fachdisziplinen, ihre prominenten Wissenschafterinnen und Wissenschafter, ihre Studierenden, ihre spannungsreiche und immer wieder neu definierte Rolle für die Gesellschaft, ihre Bedeutung im geografischen Raum. Zu Wort kommen Außensichten ebenso wie reflexive Innensichten, »Disziplingeschichten« der einzelnen Fakultäten. Nur aus Anlass eines Jubiläums ist eine so reichhaltige interdisziplinäre Gesamtschau möglich. Sie spiegelt die elementare Bedeutung der Universität als »universale« Pflegestätte des Wissens einer Gesellschaft wider. Mit großem Bedauern erinnert man sich daher auch daran, dass im Jahr 2004 die medizinische Fakultät von der Universität Wien abgetrennt wurde. Den Herausgeberinnen und Herausgebern, allen voran Friedrich Stadler sei Dank, dass sie das schwierige Projekt in Angriff genommen und rechtzeitig abgeschlossen haben. Gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren machen sie es den Leitungsorganen der Universität Wien möglich, »ihre« Institution in aller Vielgestalt und Wirkungskraft noch besser zu begreifen und öffentlich darzustellen. Den Leserinnen und Lesern möge das Werk tiefe neue Einblicke er-
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Gabriele Kucsko-Stadlmayer
möglichen, vor allem aber auch den Wunsch wecken, die Zukunft der Universität Wien nachhaltig mit zu gestalten! Wien, im März 2015
Gabriele Kucsko-Stadlmayer Vorsitzende des Senats der Universität Wien
Grußwort des Ehrenvorsitzenden des International Scientific Board*
Um die Konzeption der vorliegenden Publikationsreihe mit ExpertInnen der Universitäts- bzw. Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und Hochschulforschung aus Europa und den USA zu diskutieren, fand im Frühjahr 2012 in Wien die konstituierende Arbeitssitzung des International Scientific Board statt. Die ausgedehnten Parkanlagen des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses, die der Universität Wien 1988 als Campus geschenkt worden waren, halfen als Inspirationsquelle dabei mit, dass die Diskussionen über die grundsätzliche Ausrichtung auf die Wissenschaftlichkeit von Erkenntnissen während dieser Arbeitssitzung sehr lebhaft und bereichernd waren. Dies zeigt sich auch in den vier Bänden, die nun zum 650-jährigen Jubiläum der Universität Wien erscheinen und deren reichhaltige Geschichte in wissenschaftlich vertiefter Weise präsentieren. Ich beglückwünsche die HerausgeberInnen und AutorInnen der Buchreihe »650 Jahre Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert« zu ihrer umfassenden Darstellung dieser so nachhaltigen Geschichte der Universität Wien. Villette (Schweiz), im März 2015
Walter Rüegg Ehrenvorsitzender des International Scientific Board
* Mit Betroffenheit und in großer Trauer haben wir vom Ableben Walter Rüeggs vor Drucklegung dieser Buchreihe erfahren. (Friedrich Stadler im Namen der HerausgeberInnen).
Friedrich Stadler
Vorwort des Reihenherausgebers zur Buchreihe
650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert. Die vorliegende vierbändige Buchreihe stellt keine traditionelle Geschichte der Universität Wien seit Gründung 1365 dar.1 Sie ist das Ergebnis langjähriger Konzeption und Diskussion im Sinne neuer Universitätsgeschichtsschreibung, die sich einem forschungsorientierten und fächerübergreifenden Zugang verpflichtet fühlt. Dementsprechend mussten – nicht zuletzt auch aus zeitlichen Gründen – theoretische und inhaltliche Schwerpunkte gelegt werden, die sich einerseits in der Periodisierung, andererseits in der thematischen Ausrichtung spiegeln. Diese Überlegungen basieren auf einem Konzept, das im Rahmen des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien«2 2009 entwickelt wurde, welches als Rektoratsprojekt unter Rektor Georg Winckler ab 2006 am Institut für Zeitgeschichte eingerichtet worden ist.3 Das Publikationsprojekt wurde unter Rektor Heinz W. Engl im Rahmen des breit angelegten Jubiläumsprogramms weiter fortgeführt, sodass die bisherige Kommission Anfang 2012 als »Universitäre Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« (UKUG) unter Leitung des Gesamtherausgebers mit dem Forum die organisatorische und wissenschaftliche Grundlage für die Veröffentlichung der vorliegenden Bände
1 Insofern unterscheidet sich diese Reihe von den Publikationen anlässlich des 600 Jahr-Jubiläums nach Form und Inhalt, vgl. dazu: Studien zur Geschichte der Universität Wien. 7 Bände, Graz–Köln: Böhlau 1965; Franz Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten, Wien: Verlag Austria Press 1965. 2 Friedrich Stadler/Herbert Posch/Katharina Kniefacz, Proposal zur historischen Forschung anlässlich des 650 Jahr-Jubiläums der Universität Wien, Wien, Version 3.0. August 2010. 3 »Forum Zeitgeschichte der Universität Wien« am Institut für Zeitgeschichte, Friedrich Stadler (Leitung), unter Mitarbeit von Herbert Posch und Katharina Kniefacz, URL: http://www. forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/ (abgerufen am 30. 1. 2015). Dort wurde u. a. das Projekt »Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938« realisiert, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at (abgerufen am 30. 1. 2015).
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Friedrich Stadler
bilden konnte.4 Zudem unterstützten seit 2011 ein interdisziplinärer Wissenschaftlicher Beirat, bestehend aus VertreterInnen aller Fakultäten und Zentren der Universität Wien,5 sowie ein International Scientific Board mit ExpertInnen der Universitäts- bzw. Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und Hochschulforschung6 die Konzeptionsarbeiten. Eine inhaltliche Vorentscheidung stellte die zeitliche Ausrichtung auf die Periode des 19. und 20. Jahrhunderts dar, die wir in alternativer Anspielung auf Eric Hobsbawm als »langes 20. Jahrhundert« bezeichnen.7 Neben pragmatischen Gründen liegt der Grund für diesen Fokus in der Auffassung, dass die Universität Wien in ihrer heutigen Form wesentlich durch die Entwicklung seit der Universitätsreform 1848/49 geprägt wurde, wobei die Vorgeschichte seit ihrer Gründung in einzelnen Beiträgen nicht ausgeblendet worden ist.8 Das 20. Jahrhundert mit der Epoche des Faschismus und Nationalsozialismus samt Brüchen und Kontinuitäten von der Monarchie zur Zweiten Republik wird jedenfalls als entscheidende Phase für die Historiografie der Universität Wien betrachtet, sowohl aus der Opfer- wie auch der TäterInnenperspektive mit Rassismus und Antisemitismus als Ursachen für Entlassung und Vertreibung von ca. 2.700 Lehrenden und Studierenden. Darüber hinaus war es das Bestreben, den status quo dieser ältesten heute noch existierenden Universität des deutschen Sprachraums mit einer kritischen Bestandsaufnahme am Beginn des zweiten Jahrtausends nach der Erlangung der Vollautonomie (Universitätsgesetz 2002) mit einem Ausblick ins 21. Jahrhundert zu verknüpfen. 4 Mitglieder dieser Kommission, die sich 29-mal getroffen hat, waren: Mitchell Ash, Josef Ehmer, Margarete Grandner, Friedrich Stadler (Vorsitz), sowie ex officio Dekan/Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät (Michael Schwarz, Claudia Theune-Vogt); als kooptierte Mitglieder der Leiter des Universitätsarchivs (Kurt Mühlberger, Thomas Maisel), die MitarbeiterInnen des Forums (Katharina Kniefacz, Herbert Posch) sowie Thomas König als Co-Herausgeber für Band III. In der Schlussphase wurden auch die übrigen MitherausgeberInnen der vier Bände (Karl Fröschl, Gerd Müller, Elisabeth Nemeth, Thomas Olechowski und Brigitta Schmidt-Lauber) sowie der Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte (Markus Stumpf) kooptiert. 5 Vgl. die Liste der Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats im Anhang dieses Bandes. 6 Vgl. die Liste der Mitglieder des International Scientific Board im Anhang dieses Bandes. 7 Hobsbawm bezieht sich mit seiner Periodisierung eines »kurzen 20. Jahrhunderts« auf die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zur Wende 1989 – 1991. Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: dtv 1998; Eric Hobsbawm, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Antonio Polito. München: dtv 2002, S. 9 – 12. 8 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Kurt Mühlberger/Meta Niederkorn-Bruck (Hg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert, Wien–München: Böhlau/Oldenbourg 2010. Eine eigene Ring-Vorlesung im Wintersemester 2014/15 »Die Wiener Universität 1365 – 2015. Tradition als Innovation und Ort der Begegnung« befasste sich exemplarisch mit der umfassenden Geschichte über die Jahrhunderte. Zur Gründungsphase wurde eine eigene Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek organisiert: »Wien1365. Eine Universität entsteht.«
Vorwort des Reihenherausgebers zur Buchreihe
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Damit stellt diese Buchreihe keine repräsentative und vollständige Universitätsgeschichte dar, sondern ein perspektivisches Produkt einer großen Zahl von Angehörigen mehrerer Generationen, aber auch von Außenstehenden mit ausgewiesener Expertise zur langen Entwicklung dieser altehrwürdigen Institution mit allen positiven und negativen Merkmalen. Der erste Band Universität, Forschung und Lehre – Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert verfolgt schwerpunktmäßig in Variationen einen epistemischen Zugang zur Forschung und Lehre, zu den Lehrenden und Studierenden unter Berücksichtigung der Gender-Perspektive. Den theoretischen Hintergrund für Themen und Fragestellungen bilden Immanuel Kants Streit der Fakultäten (mit Philosophie, Physik, Sozialwissenschaften und juridischen Fächern im Zentrum), der Topos der Wissensgesellschaft (knowledge society), oder das Spannungsfeld von Autonomie und Fremdbestimmung entlang des Humboldtschen Ideals einer »Idee der Universität« gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dabei wird verstärkt sichtbar, dass die kognitive und kollektive Identität der Universität Wien im Lauf der Geschichte kein homogenes und eindeutiges Profil aufweist. Der zweite Band Universität – Politik – Gesellschaft beschäftigt sich in zwei Teilbänden mit dem Wechselspiel zwischen Innen und Außen, konkret mit der Interaktion der Universität und ihren Angehörigen mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kräften und Kontexten. Im ersten Teilband Die Universität als Ort der Politik seit 1848 werden sowohl die Kontinuitäten und Zäsuren untersucht, die Verknüpfungen von Wissenschaft und Politik am Beispiel ausgewählter Personen biografisch illustriert, sowie als Querschnittsthemen exemplarisch das konfliktreiche Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und der Wandel der Universitätsgesetzgebung seit 1848 langfristig untersucht. Im zweiten Teilband Die Studierenden und Lehrenden der Universität Wien wird die sozio-ökonomische Dimension schwerpunktartig behandelt: Hier werden statistische Profile der Lehrenden und Studierenden präsentiert und Struktur und Wandel des wissenschaftlichen Nachwuchses analysiert. Dem starken Wachstum der Universität im »langen 20. Jahrhundert« werden die Hürden gegenübergestellt, die Frauen und andere sozial benachteiligte Menschen an der Universität überwinden mussten. Hier zeigt sich, wie wichtig auch die quantitativen Primärquellen für jede weitere Universitätsgeschichte sind. Der dritte Band Reichweiten – Außenansichten auf die Universität. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche wirft als Kontrast zu herkömmlichen legitimatorischen Selbstdarstellungen unterschiedliche kultur- wie sozialwissenschaftliche Blicke von außen auf die Institution, um das Image im nationalen und internationalen Zusammenhang zu präzisieren. Darin werden sowohl Konstruktionen und Zuschreibungen von kollektiven Identitäten wie auch das Problem der akademi-
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Friedrich Stadler
schen Mobilität untersucht, sowie die (diskriminierenden) Aspekte von Universitätspolitik und die Entwicklung spezifisch gesellschaftspolitischer Expertise beleuchtet. Zwei Fallstudien zur Balkanforschung und zu den Life Sciences beschreiben ergänzend die inter- und transdisziplinäre Institutionalisierung. In diesem Band, der die explizit perspektivische Ausrichtung abschließt, wird zusätzlich für die gesamte Reihe als Orientierung und Überblick eine Chronologie zur Universitätsgeschichte angeboten. Der vierte Band Reflexive Innensichten aus der Universität Wien – Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik soll die Entwicklung der wichtigsten Fächer, Institute und Fakultäten der heutigen Universität im Längsschnitt spiegeln. Zu diesem Zweck haben die GesamtherausgeberInnen von Beginn an nach einer top down-Strategie die einzelnen Fakultäten und Zentren eingeladen, AutorInnen zu nominieren. Diese thematisieren den Wandel der Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart im institutionellen Rahmen und politischen Umfeld. Das interdisziplinär zusammengesetzte HerausgeberInnen-Team setzte es sich zum Ziel, Dynamiken universitärer Strukturen sowie die Wirkungen wissenschaftlichen Handelns aus der Sicht einzelner Fachgebiete darzustellen. Hier wird einmal mehr bestätigt, dass im Spannungsfeld zwischen Selbstorganisation und Heteronomie ein dynamisches Mit- und Gegeneinander stattfand, das die heutige Binnenorganisation durch politische Weichenstellungen bis hin zum Universitätsgesetz 2002 mit Vollautonomie wesentlich veränderte. Zugleich erhebt sich die Frage quo vadis mit künftigen Schwerpunktsetzungen und Richtungsentscheidungen inmitten einer permanenten Entwicklungsplanung zwischen Selbstbestimmung und (finanzieller) Außensteuerung im Konzert der österreichischen, europäischen und internationalen Hochschullandschaft. Ein Indikator für diese Problemzonen war z. B. das folgenreiche Ausscheiden der Medizinischen Fakultät im Jahre 2004, die trotz intensiver Bemühungen der HerausgeberInnen in diesem Band bedauerlicherweise nicht entsprechend vertreten ist. Jedenfalls wird mit diesem abschließenden Band ein Panorama der Universität Wien geliefert, das trotz einiger Leerstellen eine einladende reflexive Selbstdarstellung bietet und gemeinsam mit den übrigen drei Bänden der Reihe eine theoretische und thematische Einheit darstellt. Die Tatsache, dass sich die einzelnen Bände thematisch teilweise überlappen, ergibt sich notwendigerweise aus dem Entstehungsprozess und ist auch der Komplexität des Forschungsgegenstandes geschuldet. Viele KollegInnen (Lehrende wie Studierende) haben die Veröffentlichung dieser Buchreihe direkt und indirekt möglich gemacht. Hier sei vor allem den Mitgliedern der Kommission (UKUG) gedankt, speziell den jeweiligen HerausgeberInnen-Teams der vier Bände, die auf einer zweiten Ebene die aufwändige Verantwortung für ihre Sammelbände übernommen haben. Schließlich
Vorwort des Reihenherausgebers zur Buchreihe
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allen AutorInnen, die neben ihrem intensiven akademischen Alltag den Mehraufwand des Forschens und Schreibens ihres Beitrags auf sich genommen haben. Auch die Kooperation mit dem Jubiläumsbüro unter Dieter Schweizer, der im Auftrag des Rektorats die umfangreichen Gesamtaktivitäten im Jahre 2015 koordiniert,9 hat sich konstruktiv und hilfreich entwickelt. Nicht zuletzt sind wir den VertreterInnen der Fakultäten und Zentren der Universität Wien im wissenschaftlichen Beirat der UKUG-Kommission und vor allem den Mitgliedern des International Scientific Board zu Dank verpflichtet, die sich zusammen mit anderen KollegInnen unter großem Zeitdruck der Mühe der Begutachtung aller Beiträge unterzogen haben. Damit haben sie die Qualität der Publikationsreihe wesentlich gesichert und das Format einer international ausgerichteten Forschungspublikation mit gestaltet. Das gemeinsame Symposium »Neue Universitätsgeschichtsschreibung im internationalen Vergleich« Ende Juni 2015 samt Buchpräsentation unter Beteiligung von Beiratsmitgliedern stellt eine weitere gemeinsame Aktion zusammen mit den HerausgeberInnen und AutorInnen dar.10 Abschließend sei der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass über den konkreten Anlass des 650-Jahr-Jubiläums hinaus eine kritische Universitätsgeschichte, nicht zuletzt im Rahmen des interdisziplinären Forschungsschwerpunktes »Wissenschaftsgeschichte – Wissenskulturen – Wissenschaftsgesellschaften«11 auch nach dem Jubiläumsjahr im Sinne einer kontinuierlichen Schwerpunktsetzung in Forschung und Lehre weitergeführt wird. Sowohl die so genannte »Vergangenheitsbewältigung« als auch das Selbstverständnis der Alma Mater Rudolphina mit Blick in die Zukunft erfordert ein historisches Bewusstsein mit kritischer Selbstreflexion inmitten eines dynamischen Umfeldes im europäischen und globalen Wissenschaftsraum. Damit verbunden ist die Einbettung jeder neuen Universitätsgeschichte als Teil einer fächer- und länderübergreifenden Historiografie in eine Geschichte und Theorie aller Wissenschaften. Eine große Vergangenheit mit vielen Problemzonen verpflichtet die heutige Gemeinschaft der ForscherInnen zum kritischen Rückblick und zu einer permanenten Selbstreflexion mit Ausblick in die Zukunft jenseits des laufenden akademischen Betriebes. Wenn nach weiteren 50 Jahren nochmals eine Bestandsaufnahme zum 700jährigen Jubiläum der Universität Wien gemacht werden sollte, möge die vorgelegte Buchreihe nicht nur als Dokument ihrer Zeit, sondern 9 650 Jahre Universität Wien, URL: http://www.univie.ac.at/650/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 10 Am 22. Juni 2015 im Hauptgebäude der Universität Wien am Ring: Tagung »Neue Universitätsgeschichtsschreibung im internationalen Vergleich«, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http://www.univie.ac.at/unigeschichte2015 (abgerufen am 30. 1. 2015). 11 Dieser Schwerpunkt ist in der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät eingerichtet, die das Publikationsprojekt als federführende Fakultät seit Beginn unter Dekan Michael Schwarz und Dekanin Claudia Theune-Vogt finanziell und ideell unterstützt hat.
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Friedrich Stadler
auch als Beitrag für relevante Fragen und Antworten im 21. Jahrhundert gesehen werden. Aber das ist natürlich eine andere Geschichte und obliegt den kritischen Blicken der nächsten Generationen. Der konkrete Anlass eines Jubiläums mit Ritualen und symbolischen Praktiken wird vergehen, die Forschung verbleibt als Auftrag für die Zukunft. Die HerausgeberInnen und AutorInnen freuen sich über die Geleit- und Grußworte des Rektors, der Senatsvorsitzenden und der Vorsitzenden des Universitätsrates als Zeichen der Solidarität und Identifikation mit diesem langjährigen Publikationsprojekt. Eine besondere Anerkennung stellt das Grußwort von Walter Rüegg dar, Herausgeber der vierbändigen Geschichte der Universität in Europa und Doyen der modernen Universitätsgeschichtsschreibung, und der Ehrenvorsitzende des International Scientific Board. Dank ergeht auch an Vizerektorin Susanne Weigelin-Schwiedrzik und den Verlag V& R, die diese Publikation im Rahmen von »Vienna University Press« ermöglichten. Schließlich danken wir der Österreichischen Nationalbank für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieser Buchreihe. Wien, im Februar 2015
Friedrich Stadler
Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, Institut für Zeitgeschichte (Katharina Kniefacz, Herbert Posch)
Band 1 j Universität – Forschung – Lehre
Katharina Kniefacz, Elisabeth Nemeth, Herbert Posch und Friedrich Stadler
Einleitung der HerausgeberInnen
Im ersten Band Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert zur vierbändigen Buchreihe 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert wird vorrangig die wissenschaftsimmanente Ebene der Universitätsgeschichte im »langen 20. Jahrhundert« aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven beleuchtet. In drei thematischen Blöcken finden sich Beiträge, die erstens von Immanuel Kants Streit der Fakultäten1 und Pierre Bourdieus Homo Academicus2 als Leitideen inspiriert sind, zweitens sich dem Verhältnis zur modernen Wissensgesellschaft und damit auch außeruniversitären, gesamtgesellschaftlichen Beziehungen widmen (Forschungs- und Reflexionsfunktion), und drittens die Selbstdarstellungsrolle der Universität nach innen und außen untersuchen. Obwohl zeitlich auf das 19. und 20. Jahrhundert fokussiert und vorwiegend die epistemische Wissens- und Wissenschaftskultur beschrieben und kritisch analysiert wird, ist die Beschränkung auf Forschung und Lehre sowie auf die Lehrenden und Studierenden nur exemplarisch zu verstehen. Eine strikte Trennung von Mikro- und Makrowelt, System und Umwelt, Rationalität und Sozialsystem ist für diese Betrachtung nicht zielführend.3 So kann Wissenschaft als ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft betrachtet werden, und zwar mit Hilfe einer Theorie der funktionalen Differenzierung, für welche erkenntnistheoretische Konzepte eine wesentliche Rolle spielen.4 Daher ergeben sich notwendigerweise Überschneidungen innerhalb dieses Bandes und mit den übrigen drei Bänden. Verschiedene theoretische Arbeiten zur Wissensgesellschaft bieten ein 1 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Königsberg 1798, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, 261 – 393. 2 Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. 3 Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. 4 Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990.
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Katharina Kniefacz et al.
brauchbares (meta-)theoretisches Gerüst für die diachrone und synchrone Beschreibung und Erklärung der Universität Wien als ein dynamisches gesellschaftliches Sub-System, das mit Wissenschaft allgemein und allen anderen Lebensbereichen in Beziehung steht.5 In diesem Sammelband sind es vor allem theoretische Fragestellungen und ausgewählte Themen, die eine Strukturierung der komplexen und umfangreichen langen Geschichte der Universität Wien ermöglichen und somit zu neuen Forschungsperspektiven führen. Diese sind im Zusammenhang mit einer modernen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte zu behandeln. So steht z. B. die Binnenorganisation der heutigen Universität im Verhältnis der Fakultäten zueinander und der Gliederung innerhalb der »Organisationseinheiten« genauso auf der Tagesordnung wie das seit Kant virulente Spannungsverhältnis von Bildung und Ausbildung, von »reiner« und angewandter Forschung und dem Aspekt der »Ökonomisierung«. Ferner ergibt der Antagonismus von Autonomie mit der verfassungsrechtlich verbrieften Freiheit von Forschung und Lehre und staatlicher Steuerung einen roten Faden seit der Bildungs- und Universitätsreform von 1848/49 und lädt im epochenübergreifenden Längsschnitt zu einer historischen Reflexion ein, die in Variationen auf die idealtypische »Idee der Universität« seit Humboldt Bezug nimmt. Nicht zuletzt wird die Frage der Selbstorganisation6 aus Sicht der Systemtheorie relevant, deren Möglichkeiten und Grenzen angesichts der so genannten Leistungsvereinbarungen mit dem Staat vor allem seit dem Universitätsgesetz 2002 neu bestimmt werden muss. Angesichts der ständigen Veränderungen und Wandlungen von Fächern, Disziplinen und Instituten in der Universität als Ergebnis wissenschaftsinterner wie politischer Prozesse und Konstellationen – bei einer bemerkenswert langen Existenz der klassischen Universität mit den vier bzw. fünf Fakultäten von 1384 bis 1975 – stellt sich die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Einbettung dieser Institution, die sich den politischen Kontinuitäten und Brüchen nicht entziehen kann. Die Auslotung von akademischen Handlungsspielräumen mit 5 U. a. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin: Wagenbach 2001; Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln/Wien u. a.: Böhlau 2004; Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 2, 165 – 193; Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Band III u. IV, München: Beck 2004 u. 2010; Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994; Ders., Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003; Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994; Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 275 – 311. 6 Krohn/Küppers, Selbstorganisation.
Einleitung der HerausgeberInnen
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wissenschaftlicher und politischer Verantwortung im sozio-ökonomischen Umfeld stellte eine besondere Herausforderung für die exemplarischen Studien in diesem Band dar, wobei idealerweise die spezifische Entwicklung der Alma Mater Rudolphina in vergleichender Perspektive (national und international) gesehen werden sollte (mit »Mut zur Lücke« und ohne Vollständigkeitsanspruch). Mit der Thematisierung und Aktualisierung von Kants Streit der Fakultäten wird eine grundlegende Perspektive eröffnet, die sowohl die Beziehung der vier Fakultäten der klassischen Universität als auch deren Binnenverhältnisse vor dem Hintergrund eines normativen Modells von Universität bis zu jüngsten Reformdiskussionen an der Universität Wien zwischen akademischer Autonomie und staatlicher Einflussnahme betrifft (Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler). Ein Blick auf den weiteren Inhalt zeigt dementsprechend die Beschäftigung mit der seit Kant problematisierten Disziplin (Hans-Joachim Dahms und Friedrich Stadler) und Fakultät der Philosophie (Irene Ranzmaier), die durch Beiträge zu Bereichen der übrigen Fakultäten – Physik (Wolfgang Reiter), Sozialwissenschaften (Thomas König), Rechts- und Staatswissenschaften (Thomas Olechowski) – fallstudienartig ergänzt wird und Prozesse der Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Disziplinen sichtbar machen soll. Leider konnte die Medizin aus Gründen der Entwicklung seit 2004 nicht entsprechend berücksichtigt werden. Mit der Einbettung der Universität in die Geschichte der modernen Wissensgesellschaft seit Beginn der Neuzeit wird eine weitere Standortbestimmung vorgenommen, um die Funktion und Rolle dieser altehrwürdigen Institution in einem größeren Rahmen neu zu verorten und deren Beitrag im Wissens- und Wissenschaftssystem am Bildungsmarkt schärfer beurteilen zu können (Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp). Dabei wird die Frage nach der fächerübergreifenden Praxis am Beispiel der Raumforschung im politischen Kontext kritisch beleuchtet (Petra Svatek) und die Freiheit von Forschung und Lehre mit dem ambivalenten Ideal der Autonomie von 1848 bis 1938 beispielhaft untersucht (Johannes Feichtinger). Die Vernetzung in Richtung Gesellschaft und Volksbildung stellt eine weitere Studie ins Zentrum, wobei die spezifisch wissenschaftsorientierte Bildungsarbeit im Zuge der Universitätsausdehnung seit dem 19. Jahrhundert transparent wird (Christian Stifter). Das Spannungsverhältnis von Bildung (mit dem Korrelat von reiner Forschung) und Ausbildung (mit dem Ziel einer berufsorientierten Profilierung) ist kein Phänomen des heutigen Universitätsalltags samt Reformen, wie der Beitrag zu dieser Doppelfunktion zeigt (Katharina Kniefacz und Herbert Posch). Die konkreten Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung und Informatisierung auf den akademischen Alltag werden theoretisch und historisch beschrieben, was die organisatorische aber auch kognitive Ebene des akademischen Alltags wesent-
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Katharina Kniefacz et al.
lich prägt (Karl Fröschl). Das lange Verbot für Frauen, an der Universität zu lernen oder zu lehren und der langsame und mühsame Prozess der Partizipation von Frauen als Studierende und Wissenschaftlerinnen an der Universität Wien ab der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert spiegelt die leidvolle Geschichte von Diskriminierung und Herabsetzung wider. Trotz sichtbarer Verbesserungen in der Gegenwart ist der gender-gap bis heute so groß, dass die Notwendigkeit einer permanenten Genderpolitik und Gender-Forschung zu unterstreichen ist (Doris Ingrisch). Der konkrete Anlass für diese Buchreihe legt schließlich einen kritischen Rückblick zur Jubiläums- und Memorialkultur nahe, wodurch sich die gegenwärtige Selbstdarstellung im Vergleich mit der historischen akademischen Festkultur und Gedenkpolitik näher bestimmen lässt (Katharina Kniefacz und Herbert Posch). Insgesamt liefert der vorliegende Band ausgewählte Bausteine zur Universitätsgeschichte, als theoretische Perspektiven auf die Universität Wien im gesellschaftlichen und politischen Kontext. Dies geschieht mit der Absicht einer kritischen und selbstreflexiven Darstellung als Grundlage zum heutigen Selbstverständnis und für einen utopischen Blick in die Zukunft. Hier drängt sich einmal mehr die Rhetorik von Tradition und Innovation auf, wobei das Problem der Entstehung des Neuen (Emergenz) selbst ein wissenschaftstheoretisches Thema darstellt. Darüber hinaus zeigt sich, dass neben einer selbstkritischen Institutionsgeschichte eine andauernde Kontextualisierung von Universitätsgeschichte notwendig ist, was die Verknüpfung einer Wissenschaft der Gesellschaft7 mit einer »Gesellschaft der Wissenschaft« erfordert. Dieser Band wurde im Wesentlichen vom Kern-Team des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« am Institut für Zeitgeschichte und des Arbeitsbereiches der überfakultären Doppelprofessur History and Philosophy of Science konzipiert und ist durch die erwähnten Beiträge der übrigen AutorInnen bereichert worden, wofür die HerausgeberInnen dankbar sind. Es zeigte sich, dass interdisziplinäre, interfakultäre und intergenerationale Arbeit sehr anregend und produktiv ist, auch wenn der Mehraufwand keine vernachlässigbare Größe darstellt.
7 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft.
Streit der Fakultäten
Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler
Die Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert« und das unvollendete Projekt gesellschaftlich verankerter Vernunft – Zum »Streit der Fakultäten« von Kant bis Bourdieu
Prolog Die heutige öffentliche Diskussion zur Lage der Universitäten im Allgemeinen, und der Wiener Universität im Besonderen, wird bestimmt durch Kontroversen zum Humboldt-Ideal im Zusammenhang mit der so genannten »Massenuniversität« sowie zum »Bologna-Prozess« im Kontext von Exzellenz-Diskursen. Als permanente Konfliktfelder erweisen sich hierbei die Gegensatzpaare von Bildung und Ausbildung im Spannungsfeld zwischen Hochschulautonomie und gesellschaftlichen Ansprüchen (gespiegelt durch den Gegensatz von Grundlagenforschung und angewandter Forschung), sowie das Verhältnis von Forschung und Lehre zwischen Balance und Privilegierung eines Bereichs. Dazu kommt die Perspektive der Europäisierung und Globalisierung der Universitäten als Rahmenbedingung, die jede nationale Wissenschaftspolitik relativiert, was sich nicht zuletzt in den jährlichen internationalen Rankings der Universitäten manifestiert. Zugleich werden die Forschungsbudgets und Hochschulsysteme der jeweiligen Staaten im europäischen Hochschulraum und weltweit miteinander verglichen und in einem Wettbewerbszusammenhang thematisiert. Spätestens hier zeigen sich die gegenseitigen Verflechtungen von nationalem und internationalem Hochschulwesen und die Grenzen einer monokratischen Wissenschaftsstrategie. Das spannungsreiche Verhältnis von Staat, Kirche und Universität zwischen Autonomie und Fremdbestimmung hat sich seit dem Aufkommen der europäischen Universitäten im Mittelalter zu einem Dauerthema entwickelt und das Problem der Einbettung der Universitäten als gesellschaftliche Subsysteme sichtbar gemacht.1 Allein der allgegenwärtige Topos einer idealtypischen »Idee der Universität«2 im Sog der Freiheit von Forschung 1 Als Standardwerk zur Geschichte der Universitäten: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, 4 Bände, München: Beck Verlag 1993 – 2010. 2 Zum Topos »Idee der Universität« seit dem Klassiker von Karl Jaspers, Die Idee der Universität, Berlin–Heidelberg: Springer 1946; Manfred Eigen/Hans-Georg Gadamer/Jürgen Ha-
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und Lehre lässt vermuten, dass es sich hier um ein komplexes Wechselverhältnis handelt, das sich einer monokausalen Interpretation entzieht und auf grundlegende Fragen und Probleme des sozialen und individuellen Wissens im Wandel verweist. Die unumgängliche Kontextualisierung der Universitäten in die gesellschaftlichen Sphären von Politik, Kultur und Wirtschaft hat dementsprechend die Bi-Polarität von Selbststeuerung und Fremdbestimmung unter dem ideal(isiert)en Gesichtspunkt der Lehr- und Forschungsfreiheit zum Gegenstand der Diskussion gemacht, welche zwischen den extremen Positionen von Ökonomisierung/Globalisierung des Wissens und der Humboldt’schen Idylle einer voll autonomen Forschung und Lehre pendelt. Es ist klar, dass sich die Universität Wien – als älteste heute noch existierende Hochschule im deutschsprachigen Raum – in diesem Kräftefeld als Subjekt und Objekt der Geschichte in einem dauernden Prozess der Selbstvergewisserung und -steuerung befindet, der jenseits von Tagespolitik und Entwicklungsplanung auch eine prinzipiell theoretische Auseinandersetzung mit dem Ideal und der Geschichte dieser Institution im Hinblick auf ihre Zukunft nahelegt. In diesem Beitrag geht es vorwiegend um die Frage, inwieweit man die wissenschaftliche Vernunft institutionalisieren kann und soll, und wie seit Immanuel Kants Streit der Fakultäten (1798)3 das Verhältnis der vier klassischen Fakultäten zueinander – und deren innere Verfassung – aus heutiger Sicht von Differenzierung und Pluralisierung der Fächer und Disziplinen im Sog der »Wissensexplosion« zu bewerten ist. Dabei steht der wachsende Ausdifferenzierungsprozess der Fächer und Fakultäten seit dem 19. Jahrhundert zur Debatte, der noch nicht abgeschlossen ist. Gerade weil das Ideal einer Volluniversität mit den vier klassischen Fakultäten der Philosophie, Theologie, des Rechts und der Medizin von der Bildfläche verschwunden ist, erhebt sich die Frage, warum und inwieweit sich die zufälligen Binnenstrukturen der Universitäten zwischen zweckfreier Bildung und berufsorientierter Ausbildung im Vergleich zum Ursprungsmodell als angemessen, innovativ oder als eine völlig neue Institution in der heutigen Wissensgesellschaft begreifen lassen. Jedenfalls sind die bekannten Phänomene eines Kampfes um Hegemonie, Anerkennung und Macht in und zwischen den Fakultäten seit Kant nicht verschwunden, wie immer auch die jeweilige Binnenorganisation aussehen mag. Auch das Thema einer balancierten Gewichtung von Forschung und Lehre, Bildung und Ausbildung sowie Autonomie und Fremdbestimmung steht auf der Tagesordnung der jeweiligen bermas/Wolf Lepenies, Die Idee der Universität: Versuch einer Standortbestimmung, Berlin–Heidelberg: Springer 1988; Ulrich Sieg/Dietrich Korsch (Hg.), Die Idee der Universität heute, Berlin–Heidelberg: de Gruyter 2005. 3 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Königsberg 1798, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, 261 – 393.
Die Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert«
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Entscheidungsträger, wobei sich die normative Idee einer ursprünglichen universitas litterarum von Lehrenden und Studierenden auf dem Prüfstand befindet. All diese Probleme und Fragen finden sich bereits bei Kant mehr oder weniger stark behandelt. Dieser hat für die Volluniversität die Bedeutung der »reflexiven Vernunft« für die gesamte Universität hervorgehoben, die er in der damaligen »unteren Fakultät« der Philosophie (ursprünglich »Artistenfakultät«) im Verhältnis zu den übrigen drei »oberen Fakultäten« verortete. Trotz aller historischer Kontingenz wird schnell klar, dass die heutige Organisation, Funktion und Rolle der vermehrten Fakultäten an der Universität Wien im Verhältnis zueinander und auch innerhalb ihrer Domänen sich ebenfalls dieser Problematik stellen muss, wenn eine rationale Bestandsaufnahme mit Zukunftsperspektive angestrebt werden soll. Es sind die zentralen Begriffe der (wissenschaftlichen) Vernunft und eines kritischen Selbstverständnisses als Voraussetzung für eine institutionelle und kognitive Identität im Horizont von nationaler Mission und kosmopolitischer Vision von (Aus)Bildungsprogrammen mit gesellschaftlichem Legitimationsbedarf. Es ist daher kein Zufall, dass die Kant’sche Idee immer wieder aufgegriffen und in Variationen für die gegenwärtige Analyse der Universitäten aufbereitet wurde.4
1.
Kants Streit der Fakultäten – Rückblick und Ausblick
Immanuel Kant hat in einer seiner letzten Schriften unter dem Titel Der Streit der Fakultäten (1798) die Beziehungen der damaligen universitären Fakultäten kritisch untersucht und das zwischen ihnen bestehende Spannungsfeld angesprochen. Vor allem das Verhältnis der Philosophie zu den anderen drei fakultären Leitfächern stellt nicht nur eine organisatorische, sondern eine theoretische Problemlage dar, die er prinzipiell aus der Perspektive von außen und innen analysiert und dabei ein Plädoyer für eine durchgehend (selbst)kritische Vernunft liefert. Damit sollte die zeitgenössische »untere Fakultät« der Philosophie in ihrer Bedeutung herausgestellt werden, um der Funktion von Bildung durch autonome Vernunft und Ausbildung durch Theologie, Jus und Medizin gerecht 4 Siehe z. B.: Pierre Bourdieu, Homo academicus, übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (französisches Original erschienen in Paris: Les ¦ditions de minuit 1984); Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (französisches Original: L’universit¦ sans condition, Paris: Galil¦e 2001); Martha Nussbaum, Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht, übersetzt von Ilse Utz, Überlingen: TibiaPress 2012 (englisches Original: Not for Profit. Why Democracy needs the humanities, Princeton: Princeton University Press 2010); Torsten Wilholt, Die Freiheit der Forschung. Begründungen und Begrenzungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012; Yehuda Elkana/Hannes Klöpper, Die Universität im 21. Jahrhundert. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft, Hamburg: Edition Körber Stiftung 2012.
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Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler
zu werden. Obwohl diese Schrift vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatten und Konflikte mit dem Preußischen Staat verfasst wurde und selbst zeitweise der Zensur zum Opfer fiel, finden sich darin hochaktuelle Ausführungen über die Möglichkeiten und Grenzen einer aufgeklärten Gesellschaft und der Rolle der Philosophie im Konzert der Wissenschaften zwischen den sozialen und wissenschaftlichen Feldern. Dabei wird der legitime Anspruch des finanzierenden Staates nicht in Frage gestellt, die notwendige Erzeugung von Wissen und die Ausbildung von Fachleuten (Pfarrer, Mediziner, Beamte) zum Wohle der Allgemeinheit zu gewährleisten. Als Gegengewicht dazu garantiere die kritische Vernunft das Potenzial für einen andauernden Reflexionsprozess, der die Gefahr einer Fremdbestimmung und Instrumentalisierung durch Staat und Kirche für Forschung und Lehre mildert und gemäß seiner Definition von Aufklärung (als Ausgang des Menschen von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit) im universitären Kräftespiel harmonisiert. In dieser Absicht konkretisiert Kant den »Streit« der Philosophischen Fakultät mit der Theologischen, Juridischen und Medizinischen Fakultät, wobei er keinen Zweifel über die prinzipielle regulative Einheit und den notwendigen Zusammenhang aller Fakultäten aufkommen lässt. Es versteht sich von selbst, dass die Jahrhunderte lange Rolle der Philosophie als »ancilla theologiae« damit zurückgewiesen und die Universalität der Erkenntnis durch eine Vernunftkritik für alle Bereiche des Wissens und der Wissenschaft betont wird. Dieser prinzipiell einheitliche Wissenschaftsbegriff garantiert nach Kant die beständige Hinterfragung der Voraussetzungen und Methoden der Wissenschaften, womit die Bedingungen der Möglichkeit von wissenschaftlichem Wissen überhaupt erst erfasst werden können. Es liegt nahe, dass damit auch das Prinzip der universitas von Lehrenden und Studierenden im Horizont eines gesamtheitlichen Wissenschaftsbegriffes gestärkt werden sollte, um der Partikularisierung und Spezialisierung entgegen zu wirken. Kants allgemeine Absicht war es zugleich, eine Koalition zwischen den empirischen und apriorischen Prinzipien herzustellen und die freie und autonome Universität zu legitimieren. Wie brisant dieses Aufklärungsdenken auch nach der Französischen Revolution im damaligen Preußen gewesen ist, zeigt sich in der Kritik des Königshauses mit Zensur im Zusammenhang mit Kants Religionskritik (trotz dessen Rechtfertigung des »Vernunftglaubens«). Die durch den legitimen Anspruch der Regierung von außen bestimmte Hegemonie der »oberen« Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) gegenüber der »unteren« (Philosophie) kann nach Kant nur durch das regulative Vernunftprinzip ins Lot gebracht werden. Die Gesetzgebung der Philosophischen Fakultät ist also diejenige der Vernunft, in der historische und reine Vernunfterkenntnis mit den damaligen Fächern vereint sind. Gleichzeitig werden die »oberen« Fakultäten auch Gegenstand philosophischer Forschung zur Ermittlung der Wahrheit vs. Nützlichkeit für die
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Regierung. Der gesetzmäßige Streit ist nun nach Kant in der Forderung gegeben, die untere Fakultät im Sinne der Vernunft als höchster Instanz zur oberen werden zu lassen, was Ende des 18. Jahrhunderts eine revolutionäre Forderung gewesen ist. Was bedeutet nun diese konfliktreiche philosophiegeschichtliche Episode für die heutige Diskussion über die Reform der Universitäten, speziell der Alma Mater Rudolphina? Auf den ersten Blick scheint diese Debatte aufgrund der Schwächung der Gesamtuniversität seit dem Universitätsgesetz (UG) 2002, mit dem Ausscheiden der Medizinischen Fakultät im Jahre 2004 und der Ausdifferenzierung der klassischen vier Fakultäten (in derzeit 15 Fakultäten und vier Zentren) nicht mehr angemessen. Gleichzeitig kann man aber die Kant’schen Fragestellungen und Lösungsvorschläge einerseits auf die vorhandene Binnenorganisation, andererseits auf die jeweiligen einzelnen Fakultäten selbst anwenden. Dies haben eben mit direktem Rückgriff auf Kant aus der Gegenwartsperspektive Pierre Bourdieu für die Sozialwissenschaften und Jacques Derrida für die Philosophie mit der Idee der autonomen Universität, nicht zuletzt Martha Nussbaum zur Stärkung und Legitimation der Kultur- und Geisteswissenschaften (Humanities) mehr oder weniger stark versucht, was weiter unten behandelt wird. Für die Universität Wien hat die Österreichische Hochschülerschaft (ÖH) schon anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Hauptgebäudes am Ring (1984) mit einem Sammelband die kritische Frage gestellt, ob und wie man die Vernunft als Institution denken und rechtfertigen kann, und in Beiträgen zum Verhältnis von Universität und Kulturgeschichte, Gesellschaft, Psychoanalyse, Frauen und Postmoderne durchgespielt. Die Postmoderne wurde in diesem Zusammenhang durch einen Funktionsverlust und Funktionswandel des »universitären Feldes« (Bourdieu) charakterisiert.5 Hier wird einmal mehr die Analogie zwischen universitärem und sozialem Machtfeld angesprochen, das sich in der gegenwärtigen Universität zwischen und auch innerhalb der Fakultäten mit Hierarchisierungen im Spannungsfeld von Autonomie und gesellschaftlicher Abhängigkeit spiegelt. Gerade die Eigen-Logik des akademischen Feldes zwischen den beiden Blöcken der Natur- und Geisteswissenschaften auf der einen, sowie Recht und Medizin auf der anderen Seite ist nach Bourdieu charakteristisch für die Krise der Universität in der Folge des Umbruchjahres 1968.6 Und im Hinblick auf die Gegenwart wurde schon damals zur Frage der Zukunft der Universität formuliert, »ob es für eine auf einer 5 Vernunft als Institution? Geschichte und Zukunft der Universität, hg. von der Projektgruppe Kritische Universitätsgeschichte, Wien: Edition ÖH 1986. 6 Vgl. dazu auch Oliver Rathkolb/Friedrich Stadler (Hg.), Das Jahr 1968 Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen: V& R unipress/Vienna University Press 2010.
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Vernunftidee begründeten Universität legitim sei, die Vertragsformen, die sie mit dem Machtfeld verbinden, in die Postmoderne hinüberzunehmen.«7 Will man diese Fragestellungen auf die Binnenorganisation der Wiener Universität beziehen, so ist die Ausdifferenzierung der Fächer und Fakultäten seit dem Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975 mit der Dreiteilung der Philosophischen Fakultät und der Zweiteilung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät ein erster Schritt in Richtung Auflösung des Idealmodells vollzogen worden.8 Die nachfolgenden weiteren Zergliederungen in der Folge des UOG 1993 im Jahre 2000/2001 mit insgesamt acht Fakultäten und schließlich die heutige Binnenstruktur mit inzwischen 15 Fakultäten und vier Zentren sind das kontingente Ergebnis akademischer Binnenorganisation, Machtpolitik sowie von Interventionen des politischen Feldes, z. B. bei der Ausgliederung der Medizinischen Fakultät. Jedenfalls ist damit die Grundidee der Universität seit Kants Streitschrift verblasst, was zugleich die neue inneruniversitäre Konstellation und die fächerübergreifende Kooperation in und zwischen den Fakultäten unter anderen Rahmenbedingungen (auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit von Lehre und Forschung) zum Thema macht. Dass die klassische Philosophische Fakultät international schon früher verschwunden ist, bestätigt diesen generellen Trend der Ausdifferenzierung. In diesem Rahmen kann keine Analyse dieser dramatischen strukturellen Veränderung erfolgen. Die Spezialisierung und Pluralisierung mit dem Ergebnis von viermal so vielen, nach Größe und Organisation sehr unterschiedlichen Fakultäten und neuen Zentren hat ohne Zweifel Auswirkungen auf das akademische Innenleben bei ständig steigenden Studierendenzahlen (mit derzeit über 92.000 ohne die 2004 ausgegliederte Medizin). Die Relationen zwischen den Fakultäten haben sich verschoben, und die zugeordneten und übergreifenden Studienrichtungen erfordern einen administrativen Mehraufwand mit zahlreichen Hürden für interdisziplinäres Forschen und Unterrichten. Die Implementierung der Bologna-Struktur (mit BA-, MA-, Doktoratsstudien) seit 1999/2000 eröffnete ein experimentelles Spielfeld für die Einrichtung neuer Curricula zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Ansprüchen. Die Vollautonomie ermöglichte es der Universität Wien erstmals, die Inhalte der vorhandenen und neuen Studienpläne selbst zu bestimmen und die formalen Rahmen von »Bologna« zu füllen. Daher ist die einseitige Zuschreibung von angeblichen und tatsächlichen Defiziten des »Bologna-Prozesses« eine verfehlte Darstellung zum Zwecke der Entlastung eigener Verantwortung sowie als eine Art Ideologisierung und Idealisierung einer romantischen untergegangenen Bildungsgesellschaft zu verstehen. Die Tatsache, 7 Eliane Allo, Bemerkungen über das universitäre Feld, in: ebd., 262. 8 Vgl. dazu im Detail den Beitrag von Katharina Kniefacz und Herbert Posch zum Thema Bildung und Ausbildung in diesem Band.
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dass es hier offensichtlich Fehlentwicklungen (u. a. überzogene Standardisierung bis hin zu »Verschulung«) gibt, ist nicht zu leugnen und wurde auch europaweit bereits zum Anlass für eine permanente Curricularreform genommen. Hier sei stellvertretend für diesen dynamischen Reformprozess das geistige Vermächtnis des Wissenschaftsphilosophen und Universitätspolitikers Yehuda Elkana für eine neue Universität thematisiert, gerade weil es einmal mehr von der Kant’schen Vision ausgehend für »eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft« plädiert.9 Darin werden die »verspäteten« Universitäten aufgefordert, sich den Anforderungen der modernen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft im digitalen Zeitalter zu stellen und eine fächerübergreifende Grundausbildung der Studierenden in Richtung demokratische Zivilgesellschaft im Sinne einer »neuen Aufklärung« zu ermöglichen. Die darin vorgeschlagenen neuen Lehrinhalte und Lehrformen für alle Wissensbereiche münden ein in die zentrale Forderung, »die wissenschaftsphilosophische Idee des globalen Kontextualismus in die universitäre Praxis zu übersetzen. Eine flächendeckende Reform dieser Idee bestünde in nichts Geringerem als einer geistesgeschichtlichen Revolution, die wir mit dem Begriff der Neuen Aufklärung beschreiben. Die Voraussetzungen hierfür sind jedoch weitreichende Veränderungen sowohl der Curricula als auch der Pädagogik.«10
Dementsprechend behandeln die beiden Autoren die Idee der Universität und die Ziele der Lehre in Verbindung mit der Forderung nach einer Renaissance der philosophischen Rhetorik in der Wissenschaft im Kontext einer spezifischen Philosophie der Bildung, dies alles als Voraussetzungen für eine konkrete Universitätsreform. Unsere heutige komplexe Gesellschaft erfordere adäquate Methoden der Forschung und Lehre als einer »Neuen Aufklärung«, die auf dem Prinzip »vom lokalen Universalismus zum globalen Kontextualismus« aufbaue.11 Die mangelnde inhaltliche Ausrichtung in der Hochschulbildung mache eine kritische Rückbesinnung auf die Tradition der Aufklärung, inklusive Humboldts Idee und Kants Streitschrift, überraschenderweise auch eine Entflechtung von Forschung und Lehre (mit »Lehrprofessuren« vor allem für das Bachelor-Studium) notwendig, wenn die Erfolgsgeschichte »westlicher« Forschungs-Universitäten im Anschluss an Kant fortgesetzt werden sollte. Jenseits von Fremdbestimmung durch Kommerzialisierung und Ökonomisierung soll eine praktische Ausrichtung der Curricula gleichzeitig mit den klassischen Werten von Objektivität und Universalismus garantiert werden. Technisches, praktisches und theoretisches Wissen sind Elemente der modernen Wissens9 Elkana/Klöpper, Universität. 10 Ebd., 12. Die affirmative Rede von der »Neuen Aufklärung« findet sich bereits bei Neil Postman, Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin: Berlin Verlag 1999. 11 Elkana/Klöpper, Universität, 17.
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gesellschaft zur kritischen Weiterentwicklung der klassischen Ideale von »Einsamkeit und Freiheit«, Lehr- und Lernfreiheit, Einheit und Differenzierung von Wissenschaft, Bildung durch Wissenschaft, sowie Einheit von Lehre und Forschung nach Kant, Wilhelm von Humboldt, Kardinal John Henry Newman und Abraham Flexner. Für die Bachelor-Ausbildung bedeutet das eine Ausrichtung auf ein kollektives, netzwerkorientiertes Lernen mit dem Ziel einer umfassenden Allgemeinbildung und einer Renaissance von Rhetorik mit »listiger Vernunft« (Metis) und »praktischer Vernunft« (Phronesis). Ein einheitlicher Wissenschaftsbegriff dient als regulatives Prinzip, um die Übergänge zwischen den Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften zu ermöglichen. Soweit diese konkrete Utopie vor dem Hintergrund kritischer Reflexion von wachsenden Evaluierungspraktiken und Exzellenzidealen. Hier wird der Zusammenhang von Bildung und Demokratie über die amerikanische Tradition des Pragmatismus seit John Dewey hergestellt und durch Stephen Toulmins Cosmopolis12 erneuert, der auf einen pragmatischen Humanismus im digitalen Zeitalter zusteuert. Unabhängig davon wird dem Doktoratsstudium ein eigener Stellenwert als professionelle Ausbildung für Wissenschaft und Bürgerschaft mit folgendem Resümee zugedacht: »Auch im 21. Jahrhundert werden Universitäten neben der Forschung ihre traditionellen Funktionen erfüllen: Lehre, Prüfung, Zertifizierung und Sozialisierung. Jedoch werden sie sich innovative Wege einfallen lassen müssen, diese Funktionen in einem Kontext auszuüben, der sich in den nächsten Jahren weiter radikal wandeln wird. Durch den Wechsel von analogen zu digitalen Medien wird eine neue Lernkultur entstehen, die hoffentlich auch die Reform der gegenwärtig global einheitlichen (digitalen) Curricula hin zu lokal kontextualisierten (analogen) Curricula befördern wird.«13
Hier stellt sich natürlich die Frage, welche Binnenorganisation und Struktur der heutigen (Wiener) Universität dieser Vision von Forschung und Lehre entspricht, ohne dass die integrative Idee der Universität als einer europäischen Erfolgsgeschichte verloren geht? Jedenfalls bleibt das Problem einer Balance und Gleichwertigkeit von Forschung und Lehre auf der Tagesordnung, die sich durch unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftskulturen zieht und sowohl das vorhandene wie auch das neue Angebot von Studien im europäischen Hochschulraum und globalen akademischen Markt betrifft. Im Konkreten erhebt sich die Frage, ob die derzeit an der Universität Wien angebotenen 180 Studien und Curricula (mit drei Diplom-, 57 Bachelor-, 112 Master-, Doktorats- und Ph.D.– 12 Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Übersetzung von Hermann Vetter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (englisches Original: Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, New York: The Free Press 1990). 13 Elkana/Klöpper, Universität, 498 – 499.
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Studien) aus der Sicht der Lehrenden und Studierenden den Bedürfnissen und Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger Wissensgesellschaften entsprechen. Nicht zuletzt ergibt sich die Überlegung, welche Organisation und epistemische Kultur die optimalen Rahmenbedingungen für eine permanente Entwicklung dieses Bildungsbereiches schaffen. Die Beantwortung dieser Fragen bleibt offen und wird noch durch die wachsende Konkurrenz von Technischen Universitäten, Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Privatuniversitäten befeuert, die allesamt jenseits des klassischen Models einer Volluniversität spezifische und fragmentarische Ausbildungen mit exklusiven Zugangsregelungen anbieten und durch staatliche wie private Förderungen den Wettbewerb mit bestimmen. Das Vorbild einer lebendigen und überschaubaren »universitas magistrorum et scholarium« nach dem Pariser Modell sieht sicherlich anders aus, ist aber vielleicht gar nicht mehr wünschens- und erstrebenswert?
2.
Ortsbestimmung am Ende des »langen 20. Jahrhunderts«
Im Jahr 1994 stellte der Historiker Eric Hobsbawm die Diagnose, dass sich die Welt seit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 – dem Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« – auf einer Fahrt auf dem offenen Meer befinde, für die den Reisenden keine Navigationskarten zur Verfügung stehen: wir können weder feststellen, wo wir uns befinden, noch wohin die Reise geht. Die vorliegenden Bände zur Geschichte der Universität Wien sind ganz bewusst und mit guten Gründen unter einem breiteren Blickwinkel konzipiert: im Unterschied zu Hobsbawm wurde die Perspektive des »langen 20. Jahrhunderts« gewählt, in der das ausgehende 19. Jahrhundert ebenso einbezogen wird wie das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Freilich, die beunruhigende Diagnose Eric Hobsbawms ist damit nicht außer Kraft gesetzt. Je weiter das Jahrhundert, in dem wir leben, fortschreitet, desto unabweisbarer wird ihr prognostischer Gehalt. Das gilt auch für die Universitäten. Sie wurden in den letzten Jahrzehnten grundlegenden Veränderungen unterworfen. Der »Bologna-Prozess«, der 1999 in der Europäischen Union auf den Weg gebracht wurde, ist nur ein besonders deutliches, weil ausdrücklich als politisches Projekt formuliertes Beispiel für einen Transformationsprozess, der weltweit vor sich geht.14 Auch für die Universitäten gilt, dass wir nicht so recht wissen, an welcher Stelle des offenen Meers wir uns befinden, und schon gar nicht, wohin die Reise geht. 14 Siehe dazu exemplarisch Derrida, Die unbedingte Universität; Nussbaum, Profit; Konrad Liessmann, Theorie der Unbildung, Wien: Zsolnay 2006.
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Die theoretischen Fluchtpunkte, die wir für die Betrachtungen dieses einleitenden Kapitels gewählt haben, verstehen sich nicht von selbst: Immanuel Kants Streit der Fakultäten von 1798 auf der einen Seite, und die groß angelegte Studie zur französischen Universität der 1960er Jahre von Pierre Bourdieu auf der anderen Seite. Diese Studie hat gezeigt, dass die Kant’schen Konfliktlinien zwischen den alten Fakultäten überraschenderweise als empirisch-soziologische Charakteristika der Universität der 1960er Jahre artikuliert werden können. Und dass sie weit über die Grenzen Frankreichs hinausweisen. Zwischen diesen beiden Fluchtpunkten lässt sich ein konzeptionelles Gerüst ausmachen, das dem Blick auf die Geschichte der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert« gleichsam einen theoretischen Halt geben kann. Freilich, so könnte eingewendet werden, hat die der Aufklärung verpflichtete Konzeption Immanuel Kants in den Diskursen, die im 20. Jahrhundert über die Universität geführt wurden, nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Die Universitätskonzeption Wilhelm von Humboldts war die Referenz, die AkademikerInnen im »langen« 20. Jahrhundert bevorzugten, wenn sie nach einem theoretischen Rahmen für ihr Selbstverständnis suchten. Der wenige Seiten lange Antrag auf Errichtung der Universität Berlin Wilhelm von Humboldts von 1809 erwies sich als höchst geeignete Projektionsfläche, auf der sich die Universitäten des 20. Jahrhunderts gleichsam in idealisierter Form wahrnehmen konnten.15 Das Bild, das auf dieser Projektionsfläche erschien, ist bis heute ein wesentlicher Bezugspunkt für akademische FestrednerInnen, die die Universität als Hort des freien Geistes und der reinen Wissenschaft beschwören und sie von den Zumutungen einer von ökonomischer, wissenschaftlicher und technischer Rationalität geprägten gesellschaftlichen Welt abzuschirmen suchen. Für Kant dagegen waren die Erwartungen und Zwecke, die von Staat, Kirche und Gesellschaft seiner Zeit an die Universität herangetragen wurden, durchaus legitim. Er ging sogar weiter : die gesellschaftlichen Erwartungen sind seiner Auffassung nach der Universität immanent. Kant rekonstruiert die Universität als eine »künstliche Einrichtung«, die ihre innere Struktur einer bemerkenswerten und durchaus konfliktträchtigen Kompromissbildung verdankt. Die Universität stellt für Kant eine institutionelle Verbindung her : zwischen den Interessen von Regierung, Kirche und Gesellschaft einerseits und dem Recht und der Pflicht der Gelehrten auf freie Ausübung der Vernunft andererseits. Es ist diese Zusammenführung, die für Kant das Wesentliche der Universität aus15 Tatsächlich weicht Humboldts Konzeption von der Realität der deutschen und österreichischen Universitäten des 20. Jahrhunderts deutlich ab. Nachdem sie 1906 veröffentlicht worden war, wuchs ihr im Lauf des 20. Jahrhunderts eine geradezu mythologische Bedeutung zu. Siehe dazu Mitchell Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau 1999 (englisches Original: German Universities, Past and Future. Crisis or renewal? Providence, RI: Berghahn Books 1997).
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macht. Die Idee, die dieser Zusammenführung zugrunde liegt, ist nach Kant eine Schöpfung der menschlichen Vernunft, eine »Vernunftidee«, die sich freilich »an einem Gegenstande der Erfahrung (dergleichen das ganze gegenwärtige Feld der Gelehrsamkeit) praktisch beweisen soll.«16 Im Streit der Fakultäten unternimmt es der Philosoph aufzuzeigen, dass in der inneren Struktur der Universität des 18. Jahrhunderts, ja im ganzen »Feld der Gelehrsamkeit« seiner Zeit, ein »wenn auch nur dunkel« in der Vernunft liegendes Prinzip praktisch wirksam ist. In diesem Kant’schen Unternehmen werden die Umrisse des Projekts einer soziologisch verankerten Vernunft erkennbar, das, wie das Projekt der Moderne insgesamt, bis heute unvollendet geblieben ist. Im Folgenden wenden wir uns zunächst einem konkreten Zeitpunkt vor der Jahrtausendwende zu – dem Jahr 1996 – sowie den Debatten, die damals über die gesellschaftlichen Aufgaben der Universität geführt wurden. Davon ausgehend werden wir einige Verbindungslinien aufzeigen, die die Debatten von 1996 mit den Diskussionen um Bildung und Ausbildung in den Jahren 2009/2010 verbinden. Die Themen und Argumente waren in einem erstaunlichen Ausmaß ähnlich, obwohl sich wesentliche Randbedingungen zwischenzeitlich stark verändert hatten.17 Vor dem Hintergrund dieser Befunde werden wir das theoretische Gerüst rekonstruieren, das sich zwischen Kant und Bourdieu aufmachen lässt. Wir werden mit Hilfe dieses Gerüsts versuchen, sowohl Entwicklungen an der Universität im langen 20. Jahrhundert als auch neuere Literatur, die diese Entwicklungen untersucht, in ein Gesamtbild zu bringen.
3.
Illusionen
Als die österreichische Bundesregierung in den 1990er Jahren drastische Einschnitte in der Bildungs- und Universitätspolitik vorsah, kam es in Österreich 1996 zu lang anhaltenden Protesten, bei denen die Universität Wien eine tragende Rolle spielte. Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion der Universität traten in den Mittelpunkt von Diskussionen außerhalb und innerhalb der Universitäten. Das Ministerium verlangte stärker an Ausbildungszielen orientierte Studienpläne (Stichwort »Verwendungsprofil«). Viele Lehrende an der Universität sahen angesichts erhöhter Lehrverpflichtung die Forschung an der Universität gefährdet. Und Studierende verteidigten die Universität als Institution, deren Bildungsaufgabe nicht wirtschaftlichen Verwertungsinteressen geopfert 16 Kant, Streit, 282. 17 Im Folgenden werden Teile eines Texts in umgearbeiteter Form verwendet, der 1996 erschienen ist: Elisabeth Nemeth, Institutionalisierte Illusionen: Forschung, Ausbildung und Bildung an der Universität, in: IWK-Mitteilungen 4 (1996), 26 – 38.
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werden dürfe. Nach wochenlangen Protesten machte die Regierung gewisse Zugeständnisse, die Richtung wurde aber im Wesentlichen aufrechterhalten. Um die Jahrtausendwende änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die Universitäten in Österreich nochmals gravierend (Bologna-Struktur 1999, Universitätsgesetz 2002), und die Frage nach den Aufgaben der Universität stand erneut auf der Tagesordnung. Die Protestbewegungen der Jahre 2009 und 2010 kritisierten den Mangel an Mitbestimmung durch Studierende sowie die Verschulung und Verknappung der Studienzeit, deren Ursache in der BolognaStruktur gesehen wurde. Nicht zuletzt die europaweit ähnlichen Erfahrungen mit der Bologna-Struktur führten dazu, dass die Proteste diesmal in einigen europäischen Ländern mehr oder weniger gleichzeitig stattfanden. Auch diesmal spielten die Aktivitäten an der Universität Wien eine wichtige Rolle. »Uni brennt« hieß die Devise, unter der vor allem Studierende, aber auch viele Lehrende sowie Persönlichkeiten aus Kultur und Öffentlichkeit einander teils heftige Debatten über die Aufgaben der Universität lieferten.18 Wer die Proteste von 1996 und die von 2009/2010 aus der Nähe miterlebte, konnte mit Erstaunen feststellen, dass die Diskussionen trotz deutlich veränderter Bedingungen ähnlich verliefen. Der folgende erste Abschnitt zieht einige Linien, die diese Debatten über die Jahre hinweg verbinden. Der Ausdruck »Illusion« wird hier in einem doppelten Sinn verstanden: einerseits im alltagssprachlichen Sinn als eine dem Wunschdenken entspringende Vorstellung, die sich bei näherem Hinsehen als trügerisch erweist; andererseits im Sinn von Pierre Bourdieus soziologischer Handlungstheorie: als unvermeidliches Charakteristikum menschlichen Handelns.
Die Universität als Ort der Forschung: die Illusion der Lehrenden an der Universität In den Debatten von 1996 spielte die Sorge der Lehrenden, sie würden angesichts drastisch erhöhter Lehrverpflichtungen noch weniger Zeit für die Forschung haben als bisher, eine wichtige Rolle. Ohne ausreichende Forschung werde auch
18 Die beiden folgenden Publikationen beziehen sich auf die internationale Situation, haben aber jeweils einen Schwerpunkt. Für Österreich siehe Stefan Heissenberger/Viola Mark/ Susanna Schramm/Peter Sniesko/Rahel Sophia Süss (Hg.), Uni brennt. Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches, Wien–Berlin: Turia + Kant 2010. Für den Schwerpunkt Deutschland siehe Johanna-Charlotte Horst/Johannes Kagerer/Regina Karl/Vera Kaulbarsch/Johannes Kleinbeck/Elias Kreuzmair/Anoul Luhn/Adrian Renner/Anna Sailer/Tillmann Severin/Hanna Sohns/Jennifer Sr¦ter (Hg.), Unbedingte Universitäten. Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität, Zürich: diaphanes 2010.
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die Qualität der Lehre sinken – die Universität daher zu einer bloßen Ausbildungsstätte auf sinkendem Niveau herunterkommen. Freilich hätte in diesem Zusammenhang schon damals eine Studie von 1991 zu denken geben müssen.19 Sie untersuchte das Bild, das die Österreicherinnen und Österreicher von der Universität hatten. Dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung so gut wie keine Vorstellung davon hatte, was die Universitäten leisten, mag noch nicht erstaunen. Diejenigen Personen allerdings, die sich unter der Universität überhaupt etwas vorstellten, hielten sie für eine hohe Schule der Berufsbildung: sie bringe vor allem ÄrztInnen und JuristInnen hervor, biete auch Ausbildung in Sprachen. Die Antworten von Personen mit universitärem Abschluss sind besonders interessant: auch unter ihnen waren die meisten der Auffassung, dass die Universität eine Berufsausbildung bietet. Den Studierenden von 1991 scheint die Universität als Forschungsinstitution nicht sehr aufgefallen zu sein. Schon in Bourdieus Studie zur Universität der 1960er Jahre20 zeigt sich, dass UniversitätslehrerInnen die wissenschaftliche Qualität ihrer Forschungsarbeit als ihre wichtigste Legitimierung ansehen. Viele von ihnen aber betonen, dass in ihrem Zeitbudget die Forschung gegenüber der Lehre zu kurz kommt. Damals hatte die französische Universität eine Explosion der Zahlen von Studierenden bereits erlebt. (Österreich zog erst allmählich nach.21) Bourdieu arbeitet freilich heraus, dass die durch die hohe Zahl von Studierenden veränderten Rahmenbedingungen nur zur Verschärfung einer schon lange zuvor bestehenden Dominanz der Lehre gegenüber der Forschung geführt haben. Nach Bourdieu ist eine Tendenz zu diesem Ungleichgewicht in der gesellschaftlichen Funktion der Universität begründet – doch dazu später. Der Idee, dass die Universität vorrangig ein Ort der Forschung sei und als solcher verteidigt werden müsse, liegt eine Illusion zugrunde. Hochqualifizierte wissenschaftliche Forschung hat schon während des 20. Jahrhunderts nicht nur und auch nicht hauptsächlich an den Universitäten stattgefunden. Heute sehen wir, dass sie zunehmend auch an außeruniversitären Orten betrieben wird. WissenschaftsforscherInnen sprachen schon in den 1990er Jahren von einem internationalen Trend. Dieser traf in der Universität auf eine institutionelle Struktur, die – und hier verweist Bourdieus Analyse durchaus auf ähnliche 19 Siehe dazu: Maximilian Gottschlich, Universität und Öffentlichkeit – Symptome kommunikativen Verfalls, in: communications. The European Journal of Communication 16 (1991) 3, 269 – 282. 20 Sie erschien 1984 in Französisch: Bourdieu, Homo academicus. 21 Siehe dazu: Ulrike Felt/Elisabeth Nemeth, Universität, Demokratie und Hochschulreform im Nachkriegsösterreich: Über Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Entscheidungsstrukturen, in: Gerhard Bisovsky/Christian Stifter (Hg.), Wissen für Alle. Beiträge zum Stellenwert von Bildung in der Demokratie, Wien: Verband Wiener Volksbildung 1996, 45– 74.
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Strukturen außerhalb Frankreichs – schon zuvor stärker durch die Zwänge der Lehraufgaben geprägt war als durch Freiräume für Forschung.22
Die Universität als Ort der beruflichen Ausbildung: die Illusion von Studierenden und der Bildungspolitik In den 1990er Jahren erwartete noch ein großer Teil der Studierenden, dass ihnen ein Universitätsabschluss fast automatisch eine Laufbahn in dem ihrem Studium entsprechenden Berufsfeld eröffnen wird. Freilich hatten AbsolventInnen schon damals große Schwierigkeiten, Einstiegsmöglichkeiten in berufliche Laufbahnen zu finden. Das galt auch für Bereiche, in denen die Studien mit einem relativ genau umrissenen Berufsbild verbunden sind (z. B. technische Studien, manche naturwissenschaftlichen Studien, Medizin, Jus und Lehramt für Mittelschulen, AHS und BHS). Die AkademikerInnenarbeitslosigkeit war schon damals nicht nur (und nicht primär) ein Phänomen der so genannten »Orchideenfächer«. Das Universitätsstudiengesetz von 1997 wollte Abhilfe schaffen, indem es die Studien stärker an die künftige berufliche Praxis zu binden suchte. Die Universitäten sollten verpflichtet werden, ihre Curricula an »Verwendungsprofilen« auszurichten, die von den sozialpartnerschaftlichen Interessenvertretungen formuliert werden sollten. Von heute aus gesehen erscheint diese Bestimmung reichlich naiv, und sie wurde im zweiten Gesetzesentwurf daraufhin so abgeschwächt, dass die von den Universitäten formulierten Verwendungsprofile den Interessenvertretungen vorgelegt und von diesen »abgesegnet« werden sollten – was sich als nicht weniger illusorisch erwies. Im Universitätsgesetz 2002 ist diese Bestimmung nicht mehr enthalten, was nicht weiter verwundert: Die damalige Regierung sah in der Sozialpartnerschaft ohnehin ein Auslaufmodell. Aber die grundlegende Forderung an die Curricula blieb unverändert. Die heutigen Curricula geben Auskunft über Berufsfelder und Qualifikationsprofile. Im inneruniversitären Diskurs sprechen wir neudeutsch über die »Employability« von AbsolventInnen. Wie angesichts des Fehlens entsprechender Studien in 22 Die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende haben die Dimension der Forschung an den Universitäten deutlich verstärkt. An den Universitäten werden zunehmend Forschungsprojekte über »Drittmittel« eingeworben, die wesentlich dazu beitragen, internationale Forschung an die Universitäten zu bringen. Freilich ist die obige Diagnose damit nicht außer Kraft gesetzt. Die Vergabe von Drittmitteln (durch private, staatliche oder auch internationale Stellen) unterliegt Gesichtspunkten, die nicht unbedingt identisch sind mit denen, die in den Planungen den Universitäten prioritär wären. Daher ist die zweifellos sehr wünschenswerte Verstärkung der internationalen Forschung, die über Drittmittel an die Universitäten kommt, tendenziell mit einer (Selbst-)Entmachtung der Universitäten gegenüber den GeldgeberInnen erkauft.
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seriöser Weise Auskunft über die »Employability« gegeben werden kann, bleibt weiterhin offen. Die darüber hinausgehende Frage, die schon in den 1990er Jahren schnell aufkam, hat bis heute ihre Berechtigung nicht verloren: sind die Anforderungen eines imaginären zukünftigen »Marktes« überhaupt vorauszusehen? Bis zu welchem Grad? Und wer ist dazu in der Lage? Der Orientierung der Studien an den konkreten beruflichen Anforderungen liegt die Illusion zugrunde, die zunehmenden Schwierigkeiten von AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt könnten durch eine gesteigerte Zielgenauigkeit der auf bestimmte Berufsprofile zugeschnittenen Qualifikationen aus der Welt geschafft werden.
Die Universität als Ort der Bildung: die Illusion der kultur- und geisteswissenschaftlichen Studienrichtungen? Gegen die verordnete Orientierung der Studienpläne an ökonomisch verwertbaren Ausbildungsprofilen traten sowohl 1996 als auch 2009/2010 vor allem Studierende und Lehrende aus den Studienrichtungen der sogenannten Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften auf. Sie verteidigten die Universität als Institution, deren genuine Bildungsaufgabe nicht wirtschaftlichen Verwertungsinteressen geopfert werden dürfe. Das Ideal einer Bildung, die sich wirtschaftlichen Verwertungsinteressen entzieht, spielte dabei eine bemerkenswerte Rolle. Es führte Gruppen und Interessen zusammen, die innerhalb einer gesellschaftlichen Konfliktsituation ansonsten nicht leicht auf derselben Seite zu finden sind: Studierende, die gegen die Durchsetzung neoliberaler Konzepte in allen gesellschaftlichen Bereichen auftraten, kämpften Seite an Seite mit UniversitätslehrerInnen, die in der Weitergabe eines durch akademische Traditionen kanonisierten Bildungsgutes einen Wert an sich sahen. Beide sahen in der Forderung, die Studienpläne nach »Verwendungsprofilen« auszurichten, eine Zumutung, gegen die die Universität als Raum des freien Denkens, Forschens und Bildens verteidigt werden müsse. So berechtigt die Skepsis gegenüber »Verwendungsprofilen« und »Employability« sein mögen, die Einstimmigkeit an diesem Punkt erscheint doch merkwürdig. Vielleicht ist sie Indiz dafür, dass es sich auch beim Ideal reinen, verwertungsdistanten Denkens, Forschens und Bildens um eine Illusion handeln könnte, möglicherweise um eine Illusion, die für die geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer besonders charakteristisch ist. Jedenfalls zeigte die vorhin genannte Studie, dass diejenigen, die den universitären Raum wieder verlassen haben – die AbsolventInnen – die Universitäten großteils weder als Orte der freien Forschung noch der Bildung jenseits ökonomischer Verwertungsinteressen wahrgenommen haben. Im Nachhinein stellte sich ihr Studium
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als Phase des Lebens dar, in der sie Kenntnisse und Kompetenzen erworben haben, die ihre Chancen für erstrebenswerte gesellschaftliche Positionen verbessert haben oder sie jedenfalls verbessern hätten sollen – und das heißt auch: Kenntnisse, und Kompetenzen, die ökonomisch nutzbar sein sollen.
4.
Eine neuralgische Zone: Die Geistes- und Kulturwissenschaften
Die Diskussion um die gesellschaftliche Funktion der Universität und die Kämpfe gegen die Orientierung der Universitäts- und Bildungspolitik der Regierung wurden 1996 durch »Sparmaßnahmen« ausgelöst, die auf zwei Säulen beruhten: erstens auf einer drastischen Einschränkung der finanziellen Ressourcen im Bereich der Lehre, und zweitens auf einer drastischen Einschränkung der finanziellen Mittel der Studierenden, insbesondere der Bindung dieser Mittel an die Einhaltung der Mindeststudienzeit. Schon Jahre zuvor hatte die steigende Zahl der Studierenden in manchen Bereichen der Universitäten, vor allem auch in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, eine so große Überlastung mit sich gebracht, dass viele Studierende ihre Studien schon in den Jahren vor 1996 nicht in der vorgeschriebenen Zeit absolvieren konnten. Die Maßnahmen des »Sparpakets« von 1996 erschienen den Studierenden und Lehrenden wie zwei aufeinander abgestimmte Teile einer Strategie, die zur Reduktion der Zahl der Studierenden führen musste – nicht durch einen offiziellen »numerus clausus« wie in anderen Ländern, sondern durch die Demoralisierung der Studierenden und Lehrenden, die aus der nachhaltigen Zerstörung der Rahmenbedingungen für sinnvolle Studien resultiere. Lehrende und Studierende wiesen immer wieder darauf hin, dass eine solche unausgesprochene Strategie auf einen »sozialen numerus clausus« hinauslaufen müsse, also zur Diskriminierung von Studierenden nach ökonomischer Stärke und sozialer Herkunft sowie nach geschlechtsspezifischen Unterschieden.23 Die Einführung der Bologna-Struktur 2009/2010 brachte durchaus vergleichbare Themen aufs Tapet. Die wichtigsten Kritikpunkte waren: die Verschulung der Studienpläne, die in vielen Bereichen in der Folge von Bologna tatsächlich einsetzte (auch wenn sie durch Bologna keineswegs erzwungen war); die Verknappung der Studienzeit auf das dreijährige Bachelor-Studium; die Eingangsphasen ins Studium, die Studierende möglichst früh mit den Anforderungen der Studien konfrontieren und deren Motivation damit gleichsam 23 Die Frage, inwieweit dies zutrifft, geht über den Rahmen dieses Beitrags weit hinaus. Material dazu siehe in Band II dieser Reihe.
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einem Test aussetzen sollten – ein wichtiges Ziel dabei war es, späte Dropouts möglichst zu reduzieren. Heute wissen wir, dass die Verkürzung der Studienzeit und der Ressourcen mittelfristig nicht zum Sinken der Studierendenzahlen geführt hat. Und die Annahme, dass die Verknappung der Studienzeit sozial schwächer Gestellte benachteiligen würde, hat zumindest einiges an argumentativer Schlagkraft verloren. Inzwischen besteht ein öffentliches Bewusstsein darüber, dass auch die Universität der 1970er, 1980er und 1990er Jahre für Menschen aus sogenannten bildungsfernen Familien keineswegs so zugänglich war wie von vielen erwartet worden war. Genaue, umfassende Untersuchungen zur Frage, welche sozialen, womöglich ausschließenden Wirkungen die neuen Bedingungen in Österreich haben, kann wegen der noch kurzen Zeitspanne wohl erst die Zukunft bringen.24 Eines jedenfalls ist – zumindest aus der Innenperspektive universitärer Lehrender – mit Händen zu greifen: Die Studierenden erleben in der BA/MAStruktur einen deutlich erhöhten Zeitdruck und müssen sich an häufig sehr komplexen Voraussetzungsketten im Studienablauf orientieren. Dies hat eine Kultur der Übervorsicht und Ängstlichkeit vor möglichen bürokratischen Fehlern in den Studienalltag gebracht, die mit einem relativ freien Studieren und Lehren, das sich die Universitäten immer noch auf ihre Fahnen schreiben, weniger und weniger zu tun hat. Dass sich die Proteste sowohl 1996 als auch 2009/2010 in den kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen als tragfähiger und länger anhaltend erwiesen haben als in anderen Bereichen der Universität, hat eine Reihe von Ursachen. – In vielen dieser Fächer existierte schon lange ein extremer Mangel an ProfessorInnen und daher eine schwierige, in manchen Bereichen katastrophale Betreuungssituation der Studierenden. – In diesen Fakultäten lehrten besonders viele »externe Lehrbeauftragte«. Sie waren seit den 1970er Jahren zunehmend in die Lehre einbezogen worden, um die Zahl der Lehrveranstaltungen den steigenden Zahlen von Studierenden anzupassen. Sowohl die Anzahl der »Externen« als auch deren Einkommen wurden sukzessive reduziert. – Der erste Entwurf des UniStG 1997 sah vor, nur die Studiendauer in den »kultur- und geisteswissenschaftlichen« Studien, aber nicht die in anderen Disziplinen, auf sechs Semester zu reduzieren. – Die Forderung nach ausdrücklich formulierten »Verwendungsprofilen« bzw. »Qualifikationsprofilen« wurde und wird bis heute als in besonderem Maße 24 Ansätze dazu finden sich in Band II und in der von der Universität Wien im Jahr 2014 unternommenen Studierendenbefragung, siehe: Studierendenbefragung, Abteilung Gleichstellung und Diversität der Universität Wien, URL: http://gleichstellung.univie.ac.at/gleich stellung-und-diversitaet/diversity/studierendenbefragung/ (abgerufen am 30. 1. 2015).
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gegen die spezifischen Wertvorstellungen der »Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften« gerichtet empfunden – und als Versuch, diese Studien dem Generalverdacht der Nutzlosigkeit auszusetzen. – Darüber hinaus zeigte sich 1996 im Lauf der Verhandlungen um ein neues Dienstrecht der UniversitätslehrerInnen, dass die Entwürfe des Ministeriums zu einer deutlichen Umverteilung der Mittel zugunsten der technischen Universitäten und der naturwissenschaftlichen Fächer führen würde. Die Bologna-Struktur hat europaweit für alle Studien – bis auf wenige Ausnahmen, deren wichtigste die Medizin und die Rechtswissenschaften sind – den Bachelor als ersten Studienabschluss nach sechs Semestern vorgeschrieben und so die Reduzierung der Studienzeit für den ersten Universitätsabschluss, die im Österreich der 1990er Jahre den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vorbehalten gewesen wäre, allen Studienrichtungen gebracht. Freilich, in anderen Hinsichten blieb ein spezieller Druck auf die geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen bis heute erhalten. Er zeigt sich in der besonders schlechten Betreuungsrelation ProfessorInnen / Studierende in diesen Fächern, in der weiterhin sehr hohen Zahl »externer« Lehrender sowie in der Bedrohung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften durch die Forderung, Studien müssten sich an nachweisbarer ökonomischer Verwertbarkeit orientieren. Vor allem das zuletzt genannte Thema hat gegenüber den 1990er Jahren an Aktualität nicht nur nicht verloren, sondern sogar an Momentum gewonnen. Zur internationalen Diskussion über die kritische Situation der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sei hier kurz auf zwei Positionen verwiesen, die für die Debatten der letzten Jahre als repräsentativ gelten können. Im Jahr 2001 veröffentlichte Jacques Derrida einen Vortrag unter dem Titel L’universit¦ sans condition25. Darin forderte er, die Universität müsse ein Ort »letzten kritischen – und mehr als kritischen – Widerstands gegen alle dogmatischen Versuche sein, sich ihrer zu bemächtigen.«26 Die Universität müsse also »der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht: Die gegenwärtige und determinierte Gestalt der Demokratie sowenig wie selbst die überlieferte Idee der Kritik als theoretischer Kritik, ja noch die Autorität der Form ›Frage‹, des Denkens als ›Befragung‹.«27 Dass Derrida hier die prekäre Situation der heutigen Universität dafür nützt, um gleichsam pro domo für die uneingeschränkte Anwendung der von ihm vertretenen Philosophie der Dekonstruktion zu werben, soll uns in diesem Zusammenhang nicht stören. Uns interessiert, dass die Neuerfindung der Universität, auf die Derrida drängt, erstens auf die Veränderungen reagieren 25 Derrida, Die unbedingte Universität. 26 Derrida, Universität, 12. 27 Ebd., 14.
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soll, die sowohl die Arbeit als auch das Wissen erfahren haben, insofern sie zunehmend im virtuellen Raum vor sich gehen; dass er zweitens bei dieser Neuerfindung der Universität den »Humanities«, also den Geistes- und Kulturwissenschaften, eine zentrale Rolle einräumt; und drittens, dass er die Neuerfindung der Universität und der »Humanities« für einen notwendigen Beitrag zur Erhaltung und Weiterentwicklung der Demokratie hält. Genau hier setzt auch Martha Nussbaums Buch Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities von 2010 an. Die Beispiele, von denen Nussbaum ausgeht, stammen hauptsächlich aus den USA und aus Indien. Aber sie weist zu Recht darauf hin, dass die Tendenzen in Europa und anderen Teilen der Welt durchaus ähnlich sind: Da dem Wirtschaftswachstum in allen Ländern »zumal in diesen Krisenzeiten, hohe Priorität eingeräumt wird, ist zu wenig nach der Ausrichtung der Bildung und somit nach der Weichenstellung für die demokratischen Gesellschaften gefragt worden«.28 Nussbaum diagnostiziert den wohlbekannten Gegensatz »zwischen einer profitorientierten Ausbildung und einer Bildung, die einen Bürger mit umfassenderen Fähigkeiten hervorbringt«29, wobei die profitorientierten Fähigkeiten vor allem in Naturwissenschaft und Technik, die umfassenderen in den geisteswissenschaftlichen und musischen Fächern hervorgebracht würden. An einer Vielzahl von Geschichten und Überlegungen macht Nussbaum deutlich, wie wichtig die Hervorbringung von Emotionen wie Teilnahme und Mitgefühl ist, ebenso wie die Schulung in sokratischem Argumentieren sowie die Ausbildung von Fantasie und der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Und sie stellt sehr einleuchtend dar, dass solche Fähigkeiten aus den Geisteswissenschaften und den Künsten erwachsen: »die Fähigkeit zum kritischen Denken; die Fähigkeit, über lokale Bindungen hinaus zu denken und die Probleme als ›Weltbürger‹ anzugehen; und schließlich die Fähigkeit, sich in die Notlage eines anderen Menschen zu versetzen.«30 Für die Weiterentwicklung lebendiger Demokratien seien diese Fähigkeiten unerlässlich.31
28 Nussbaum, Profit, 20. 29 Ebd., 21. 30 Ebd., Nussbaum zieht die Trennlinie bemerkenswerter Weise zwischen den Geisteswissenschaften und Künsten auf der einen Seite und den Natur- und Gesellschaftswissenschaften auf der anderen Seite. Sie begründet diese Trennung damit, dass die Natur- und Gesellschaftswissenschaften von niemandem ernsthaft beiseite geschoben werden, wenn es um die Erziehung verantwortungsbewusster BürgerInnen geht. Gefährdet seien die Geisteswissenschaften und die Künste. Dabei hat sie das gesamte Bildungssystem von der Primärstufe bis zur Universität im Blick. Demgegenüber würde sich die Situation in Österreich wohl anders darstellen. Hierzulande spielt Schulunterricht in Sozialwissenschaften, wenn er überhaupt stattfindet, eine extrem untergeordnete Rolle. Auch von einer Dominanz der Naturwissenschaften und Technik im Höheren Bildungssystem kann keine Rede sein. 31 Ebd., 96.
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So überzeugend und sympathisch diese Plädoyers zugunsten einer gesellschaftlichen Wertschätzung und Förderung von Geisteswissenschaften und Künsten sind, so bleiben sie doch in dem wohlbekannten, oben geschilderten Gegensatz verhaftet. Diesen werden wir im Folgenden zwar nicht bestreiten, aber wir werden ihn – mit Hilfe von Kant und Bourdieu – in einem strukturellen Zusammenhang diskutieren, der vielleicht über die wohlbekannten Dichotomien, die unsere Debatten seit so langer Zeit prägen, ein Stück weit hinaus führen kann.
5.
Reproduktion von anerkanntem Wissen und Produktion von neuem Wissen – Die beiden gegensätzlichen Funktionen der Universität32
In der Studie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu Homo academicus kristallisieren sich die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächer als eine neuralgische Zone innerhalb der Universität heraus.33 Sie befinden sich nämlich in dem Bereich, in dem die beiden gegensätzlichen Aufgaben, die der Universität von der Gesellschaft und vom Staat gestellt werden, einander gleichsam überlappen und daher eine besonders spannungsreiche Situation hervorrufen. Die Universität hat zunächst die Aufgabe der Reproduktion von anerkanntem Wissen. In der Weitergabe dieses Wissens an diejenigen, die eine akademische Ausbildung durchlaufen, werden nicht nur wissenschaftliche Fakten vermittelt, sondern auch eine bestimmte Haltung eingeübt: nämlich die Bereitschaft, das, was als Wissen zu einem gegebenen Zeitpunkt anerkannt ist, und die Prozeduren, nach denen es gesichert wird, in einer ganz bestimmten, geordneten Form zu übernehmen. (Die Zeit spielt in dieser Ordnung eine wesentliche Rolle: 32 Im Folgenden haben wir Passagen aus Felt/Nemeth, Universität, umgearbeitet und eingebaut. 33 In Bourdieus Rekonstruktion des universitären Raums der Universität der 1960er Jahre treten die Sozialwissenschaften im selben Spannungsfeld auf wie die Geisteswissenschaften. Wir haben schon mit Blick auf Nussbaum gesehen, dass in den Auseinandersetzungen um Wissenschafts- und Bildungssysteme die Konfliktlinien je nach nationaler Tradition unterschiedlich verlaufen können. In Frankreich hat sich die Soziologie aus der Philosophie heraus entwickelt und einerseits eine gewisse Nähe zu ihr behalten; andererseits spielt sie die Rolle einer scharfen Konkurrentin der Philosophie. Was die Herkunftsdisziplinen der deutschen Soziologie betrifft, haben Geschichtsforschung, Nationalökonomie und Jus eine mindestens ebenso große, wenn nicht größere Rolle gespielt als die Philosophie. Auch in Österreich war die Soziologie – ebenso wie die Wirtschaftswissenschaften – lange Zeit Teil der Staatswissenschaften. Siehe dazu die Beiträge von Thomas König und Thomas Olechowski in diesem Band.
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warten können, warten lassen, ein Gefühl dafür entwickeln, wie viel Zeit zur Arbeit an einer Dissertation, einer Habilitation angemessen ist, oder auch zur Zulassung zu einem Seminar, nicht zu früh zu viel wollen, all das muss anerkannt, muss erlernt werden und führt in den Individuen zu einem Gefühl für Distinktion, für die angemessenen Unterscheidungen: zwischen den Generationen, den Geschlechtern, den Begabten, den Fleißigen etc.). Genau darin liegt auch ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, welche die Universität erfüllt: die AbsolventInnen einer Universität sollen qualifiziert sein, gesellschaftlich vorgesehene Positionen, meist im oberen Bereich der sozialen Hierarchien, einzunehmen. Die Qualifikation, die sie in einem Universitätsstudium erwerben, besteht einerseits in den spezifischen Kenntnissen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben in solchen Positionen benötigen, und andererseits in einer »Liebe zur Ordnung überhaupt«, die – so die Diagnose Bourdieus – ebenso unerlässliche Voraussetzung wie Ergebnis akademischer Bildung ist. Die Universität bringt demnach Individuen hervor, die die Anerkennung der Ordnung des gelehrten Wissens gleichsam personifizieren und die für eine gesellschaftliche Ordnung, in der akademische Bildung mit ökonomischer, politischer und kultureller Macht belohnt wird, höchstpersönlich einstehen. Durch die Erfüllung ihrer Aufgabe, Wissen zu reproduzieren und zu verteilen, trägt die Universität wesentlich zur Reproduktion der bestehenden ökonomischen, politischen und kulturellen Machtverteilung bei. Die Universität hat aber nicht nur eine reproduktive Funktion, sondern auch eine produktive; sie ist beauftragt, neues wissenschaftliches Wissen hervorzubringen und damit sowohl Teile des bereits gesicherten Wissens als auch die Verfahrensweisen, mit denen es gewonnen und gesichert wird, in Frage zu stellen und unter Umständen auch über Bord zu werfen. Die Notwendigkeiten, die sich aus der Aufgabe ergeben, im Namen der Freiheit des Denkens und der Forschung neue Typen von Fragen und Methoden durchzusetzen, stehen zur Aufgabe der Reproduktion von bereits anerkanntem Wissen in einem spannungsreichen Gegensatz, der allen in der Institution Universität handelnden Individuen einen Konflikt zwischen der sozialen und der wissenschaftlichen Berechtigung ihrer Tätigkeit vorschreibt. Dieser Gegensatz tritt innerhalb des universitären Raums gleichsam personifiziert in Erscheinung, und zwar in zwei relativ eigenständigen Hierarchien: die eine folgt den Attributen von Anerkennung außergewöhnlicher wissenschaftlicher Leistungen (der Bezugspunkt im außeruniversitären Raum ist die wissenschaftliche Fachwelt), die andere folgt der Akkumulierung von inneruniversitären Machtattributen (die meist mit dem Zugang zu außeruniversitärer Macht, insbesondere in institutionellen Formen wie Akademien, politischen Parteien, akademischen Verbänden, Kirchen etc. verbunden sind). Zwar ist jedes Fach, jede Fakultät, jedes Individuum den Anforderungen der
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beiden konkurrierenden Hierarchien unterworfen; aber im universitären Gesamtraum, über die unterschiedlichen Fakultäten hinweg, findet man den Gegensatz zwischen den beiden Hierarchien in sehr unterschiedlicher Weise verteilt. An dem einen Rand des universitären Raumes finden sich die naturwissenschaftlichen Fakultäten. Hier dominiert die »wissenschaftliche« Hierarchie gegenüber der »sozialen«. Am anderen Rand – in den juridischen und medizinischen Fakultäten – findet sich die umgekehrte Dominanz. In der »Mitte« – in den geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten – sind die beiden Hierarchien ähnlich stark ausgebildet; daher findet in dieser mittleren Zone ein beständiger Kampf um die Dominanz einer der beiden Hierarchien statt.
6.
Der Streit der Fakultäten: Kant 1798
Schon für Kant ist die Universität charakterisiert durch einen irreduziblen Spannungszustand zwischen den beiden Aufgaben, die dieser Institution vom Staat und von der Gesellschaft gestellt sind. Die erste Aufgabe der Universität ist es, Personen mit Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, die sie in die Lage versetzen, gesellschaftliche Positionen einzunehmen, an denen sie zur Reproduktion der gesellschaftlichen und politischen Ordnung beitragen. Drei Fakultäten kommen nach Kant dieser Aufgabe nach: die Theologische, die Juridische und die Medizinische Fakultät – sie bringen Prediger, Rechtsbeamte und Ärzte hervor. Diesen drei »oberen« Fakultäten steht eine »untere«, die Philosophische Fakultät gegenüber. Ihre Aufgabe ist es, den anderen Fakultäten, die Lehren im Dienst der Reproduktion der gesellschaftlichen und politischen Ordnung verbreiten, Einwürfe zu machen, den von ihnen verbreiteten Auffassungen Zweifel entgegenzusetzen. Diese Fakultät stellt die kritische Kraft der Vernunft innerhalb der Universität dar. Sie ist berechtigt und verpflichtet, durch ihre Einwürfe und Zweifel die Rechtfertigung jedes Wissensanspruchs vor dem Gerichtshof der Vernunft einzufordern. Kant gibt in dieser Schrift eine soziologische Deutung der Autonomie der Vernunft. Das Programm der Aufklärung – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – wird hier dadurch gesellschaftlich verankert, dass ein Spannungszustand institutionalisiert wird. Die Universität ist der gesellschaftliche Ort, an dem ein Streit um den »Einfluss aufs Volk«34 geführt wird, der nicht endgültig beigelegt werden kann, weil er um die Frage geht, in welcher Weise das »gelehrte Wissen« gesellschaftlich wirksam werden soll. Die »Geschäftsleute« der drei oberen Fakultäten, deren Lehren von der Regierung sanktioniert werden, sind, so Kant, jederzeit bereit, wie »Wundermänner« aufzutreten und dem 34 Kant, Streit, 293.
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»Volk«, das ohnehin die Tendenz hat, von den Gelehrten Wunderdinge zu erwarten, solche tatsächlich zu versprechen. Die Universität ist der Ort, an dem es einer besonderen Fakultät, der Philosophischen, erlaubt ist, den von der Regierung sanktionierten Geschäftsleuten öffentlich entgegenzuarbeiten – allerdings nicht, um ihre Lehren zu stürzen, sondern um »der magischen Kraft, die ihnen und den damit verbundenen Observanzen das Publikum abergläubisch beilegt, zu widersprechen, als ob sie bei einer passiven Übergebung an solche kunstreiche Führer sich alles Selbsttuns überhoben und mit großer Gemächlichkeit durch sie zur Erreichung jener angelegenen Zwecke schon werde geleitet werden.«35
Der Streit geht also um die magische Kraft, die das Publikum und die »Geschäftsleute« der Gelehrsamkeit dem gelehrten Wissen gerne beilegen. Die Universität ist der Ort, an dem die magische Kraft des gelehrten Wissens gepflegt wird, und sie ist der Ort, an dem ihr öffentlich entgegengearbeitet wird. Kants Schrift macht auf ein Ungleichgewicht in diesem Streit aufmerksam: drei Fakultäten stehen einer einzelnen gegenüber ; und die drei sind die »oberen«, denen von der Regierung befohlen wird, die aber auch selbst befehlen können. Die Philosophische Fakultät dagegen nimmt den »unteren« Platz ein; sie hat keine andere Verpflichtung als »nach der Autonomie, d.i. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen«36 und steht daher unter der Gesetzgebung der Vernunft und nicht der Regierung. Schon allein auf Grund des Ungleichgewichts kann man vermuten, dass die eine Seite immer wieder bedroht sein wird; die oberen, reproduktiven Fakultäten werden immer wieder versucht sein, die untere Fakultät zu verjagen oder ihr unter Hinweis auf ihre staats- und gesellschaftstragenden Funktionen den Mund zu verbieten.37 Die Maßnahmen des »Sparpakets« von 1996 und die »Profitmacherei als Handlungsorientierung«, die Nussbaum für die 2000er Jahre konstatiert, konnten und können als derartige Bedrohung gedeutet werden und sind von Studierenden und Lehrenden der kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer tatsächlich so gedeutet worden: in Zukunft wird es immer drastischere Einschränkungen der Zeit und des Raums geben, innerhalb derer die Einwürfe und die Zweifel der »unteren« Fakultät erhoben und wirksam werden könnten; es scheint nicht mehr nötig, Wissensansprüche unter dem Gesichtspunkt des selbständigen Denkens und der Freiheit der Forschung zu rechtfertigen, sondern nur noch im Namen der ökonomischen und sozialen Verwertbarkeit.38 35 36 37 38
Ebd., 294. Ebd., 290. Ebd., 291. Übrigens weist auch Nussbaum auf etwas hin, was bei Bourdieu ausdrücklich Thema wird: der kritische Geist von Kants »unterer« philosophischer Fakultät findet sich keineswegs nur
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Wenn aber – und international weisen viele Indizien in diese Richtung – die bestehende Krise der Universitäten eine grundlegende ist, dann kann uns Kants Konzeption der Universität auf etwas aufmerksam machen, was heute selten zum Thema wird.39 Wenn wir mit Kant die Universität als einen gesellschaftlichen Ort kritischer Vernunfttätigkeit verstehen wollen, dann muss der Kampf um die Universität als Kampf sowohl um die kritischen als auch um die reproduktiven Funktionen der Universität geführt werden. Also: die kritische Kraft der Vernunft kann das, was sie im Sinn der Aufklärung gesamtgesellschaftlich leisten sollte, nur in einem Raum leisten, der auch, und sogar primär Aufgaben der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung erfüllt. Die Vernunft kann den universitären Raum nicht dominieren, weil sie auch den gesamtgesellschaftlichen Raum nicht dominieren kann. Und gesellschaftlich wirksam werden kann die kritische Kraft der Vernunft nur um den Preis, dass sie in einem Raum, in dem Wissen primär der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung dient, öffentlich ihre Einwände und Zweifel erhebt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es selbstbestimmtes Denken und freies Forschen nicht auch außerhalb dieses Raums geben kann, gegeben hat und gibt. Auch Kant spricht von »zunftfreien Gelehrten«, die sich in freien Kooperationen oder »gleichsam im Naturzustande der Gelehrsamkeit« als deren »Liebhaber beschäftigen«.40 Aber die Konzeption der Aufklärung, die sich in Kants Schrift zeigt, besteht ja darin, eine Art von Koppelung zwischen den Verfahren der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung und dem selbstbestimmten Denken und Forschen zu institutionalisieren und politisch zu garantieren. Die Universität war als dieser Raum konzipiert, und Kant zeigt, dass so etwas wie autonome Vernunft nur dann ein Stück weit gesellschaftliche Realität werden kann, wenn ein Raum existiert, in dem die magische Wirkung des gelehrten Wissens zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber – freilich nur innerhalb dieses Raums – öffentlich in Zweifel gezogen wird.
in der Philosophie, sondern grundsätzlich in allen Wissenschaften. Der »Spirit«, den Nussbaum den Geisteswissenschaften zuschreibt, ist nicht auf diese beschränkt, wenn Wissenschaften »optimal« gelehrt werden: »kritisches Denken, kühne Fantasie, empathisches Verständnis für die unterschiedlichsten menschlichen Erfahrungen und Wissen um die Komplexität der Welt, in der wir leben« sind nach Nussbaum auch in den Naturwissenschaften zu Hause: »Richtig betrieben ist Naturwissenschaft ein Freund der Geisteswissenschaft und nicht ihr Feind.« Nussbaum, Profit, 22. 39 Einen sehr interessanten Versuch, Kants Konzeption für Fragen der heutigen Universität auszubuchstabieren, liefert Catherina Zakravsky, Universität als Prozess: die politische Philosophie der Universität in Immanuel Kants »Streit der Fakultäten« (1798), phil. Diss., Wien 1999. 40 Kant, Streit, 279 – 280.
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Der Streit der Fakultäten: Bourdieu 1984
Die doppelte Aufgabe, die Kant noch im Gegensatz zwischen den Aufgaben der »unteren« und der »oberen Fakultäten« sah, findet Bourdieu in seiner Analyse der französischen Universität der 1960er Jahre auf alle Fakultäten – freilich ungleichmäßig – verteilt vor. Der Streit findet im 20. Jahrhundert nicht mehr in erster Linie zwischen den Fakultäten statt, er wird vielmehr innerhalb der Fakultäten, innerhalb der einzelnen Fächer, ja sogar innerhalb der einzelnen Individuen ausgetragen. Denn jedes einzelne Individuum, das sich im universitären Raum bewegt, weiß sich beiden Legitimationsprinzipien verpflichtet, die Kant noch im Gegensatz von »oberen Fakultäten« und »unterer Fakultät« repräsentiert sah: dem Prinzip gesellschaftlicher Legitimation auf der einen und dem Prinzip wissenschaftlicher Legitimation auf der anderen Seite (in den oben gebrauchten Worten: Wissen im Dienst der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung zu verteilen versus überkommenes Wissen in Frage zu stellen und neues Wissen hervorzubringen). Und jedes Individuum im universitären Raum weiß, dass die beiden Prinzipien miteinander konkurrieren. (»Facult¦« heißt im Französischen auch »Fähigkeit«. Im Streit der Fakultäten, wie Bourdieu ihn beschreibt, handelt es sich auch immer um zwei miteinander konkurrierende Kompetenzen und Qualifikationen der Individuen: die »sozialen«, die »wissenschaftlichen« Fähigkeiten.) Kein Bereich des universitären Raums ist dieser Auseinandersetzung vollständig entzogen: Fortschritte in einer wissenschaftlichen Disziplin – in jeder Fakultät – werden immer dort erzielt, wo es gelingt, Fragen und Methoden durchzusetzen, die das Gegenstandsfeld erweitern und neu ordnen. In derartigen Auseinandersetzungen geht es immer auch darum, ob es gelingt, Wahrnehmungs- und Argumentationsweisen, die bereits tradiert und daher sozial legitimiert sind, zu erschüttern und durch einen neuen Typ von Wahrnehmungs- und Denkformen zu ersetzen. Insofern können die inneruniversitären Kämpfe dazu führen, dass neue, mit den bisher etablierten Begriffen und Methoden nicht erfasste Realitäten ein Stück weit sichtbar gemacht werden. Aber eben nur ein Stück weit, denn – und darin besteht dieses bereits von Kant beschriebene »institutionalisierte Spannungsverhältnis« – in einer Institution, deren Aufgabe die Reproduktion von Wissen ist, kann sich niemand dieser Funktion ganz entziehen. Bourdieu kann daher zwar davon sprechen, dass das wissenschaftliche Denken eine ihm immanente Notwendigkeit entwickelt – sie ist aber dennoch an eine äußere, »soziale« Notwendigkeit gebunden. Diese gibt gleichsam einen Widerstand vor, gegen den das unabhängige Denken und die freie Forschung ihre Autonomie überhaupt erst zu artikulieren und durchzusetzen in der Lage sind. Es gibt also keine autonome Autonomie. »Fortschritte« in der Wissenschaft werden demnach nicht auf Grund von beschaulicher For-
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schertätigkeit unter möglichst ungestörten Bedingungen erreicht, sondern als Ergebnis von Kämpfen um die Dominanz der wissenschaftlichen Hierarchie über die soziale. Die Universität unterwirft diese Kämpfe ganz spezifischen Bedingungen. Diese sind mit den Regeln eines Spiels vergleichbar, in dem es das Ziel der Spielenden ist, Anerkennung im universitären Raum zu erlangen. Die Chancen in diesem Spiel sind nicht nur ungleich verteilt (d. h. die Chancen auf Gewinne variieren systematisch nach Geschlecht, sozialer und geographischer Herkunft, Schulabschlüssen und anderen Variablen), sondern sie gehören auch zwei völlig unterschiedlichen Spielen an, die aber immer gleichzeitig gespielt werden: dem Spiel um »soziale Anerkennung« und dem Spiel um »wissenschaftliche Anerkennung«. Eine Position im universitären Raum erreichen kann nur, wer über eine Mindestanzahl von Karten in beiden Spielen verfügt. Je länger aber und um je höhere Positionen gespielt wird, desto unvermeidlicher wird es, auf eine der beiden Typen von Spielkarten zu setzen: was sich über den universitären Raum hinweg als Riss zwischen den Fakultäten darstellt, ist eine reale Konfliktsituation für die Individuen, die in diesem Raum um Gewinne kämpfen. Dass die beiden Arten von Anerkennung nur in den seltensten Fällen gleichmäßig steigen, zeigt sich nicht nur im »Riss« in der Verteilung von Merkmalen institutioneller Macht und wissenschaftlicher Anerkennung im universitären Raum, sondern auch in den Schwierigkeiten der Individuen, die Eigendynamik von sozialen Verpflichtungen mit den Anforderungen einer eigenständigen Forschungspraxis in ihrem »Zeitbudget« zu verbinden. Im mittleren Bereich ist die Lage besonders gespannt: hier gelten nicht nur – wie im gesamten universitären Raum – zwei verschiedene Typen von Spielkarten. Während an den Rändern eindeutig festgelegt ist, von welcher der beiden Kartentypen eine größere Anzahl akkumuliert werden muss und damit klar ist, welches der beiden Spiele letztlich den Ausgang bestimmt, ist der Kampf um Anerkennung im mittleren Bereich nie nur Kampf um das Erringen eines Platzes in einer Hierarchie, sondern auch darum, welche von den beiden Hierarchien, welches der beiden Spiele letztlich entscheidend sein soll. Schon das Studium stellt sich hier teilweise als Prozess der Orientierung über die Regeln dar, nach denen die Auseinandersetzungen um die Dominanz der wissenschaftlichen oder der sozialen Hierarchie verlaufen.41
41 Dazu ausführlicher : Felt/Nemeth, Universität.
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Eine optische Täuschung
Zurück zu unserer Vermutung, das Ideal einer Bildung, die sich wirtschaftlichen Verwertungsinteressen entzieht, wäre eine akademische Illusion, die für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften besonders charakteristisch ist. Mit Hilfe von Bourdieus Schema können wir diese Illusion auf die Lage der kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer innerhalb des universitären Raums zurückführen: es handelt sich um eine Art optischer Täuschung, die sich in der »mittleren Zone« aufdrängt. Das oben beschriebene Spiel wird ja nicht nur darum gespielt, Positionen im universitären Raum zu erreichen. Für den größten Teil derer, die in das »Spiel« eintreten, geht es darum, die Anerkennung im universitären Raum (in Form von Diplomen) als »Spielkarte« außerhalb der Universität nützen zu können: im Spiel um eine Position in den gesellschaftlichen Räumen. Und unter diesem Gesichtspunkt scheinen auf den ersten Blick die in der »mittleren Zone« vermittelten Kenntnisse und Kompetenzen – im Vergleich zu den Fächern an den »Rändern« – tatsächlich weniger gut »verwertbar«: Technik und Naturwissenschaften auf der einen Seite sind in vielfältiger Weise mit der nationalen und internationalen Wirtschaft verbunden; für die Absolventinnen und Absolventen der alten »oberen Fakultäten« Theologie, Jurisprudenz und Medizin auf der anderen Seite sind nach wie vor wichtige staats- und gesellschaftstragende Positionen vorgesehen, wenn deren Zahl auch insgesamt im Sinken begriffen sein mag. Die »Verwertbarkeit« des Erlernten liegt in der mittleren Zone wirklich »nicht nahe« – im wörtlichen Sinn: die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind von den »Rändern«, an denen der universitäre Raum die anderen gesellschaftlichen Räumen berührt und in die Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung einbezogen ist, am weitesten entfernt. Daraus entsteht der Anschein einer relativen Geborgenheit am großen Herzen der Alma Mater. Von hier aus kann einem Teil ihrer Kinder der Innenraum des mütterlichen Leibes als »Raum, den das Denken braucht« erscheinen, anderen dagegen als Hort der humanistischen Werte unserer Kultur oder auch als Quelle von Reflexions- und Kritikfähigkeit. Um Illusionen handelt es sich dabei zunächst deshalb, weil Universitätsdiplome auch in denjenigen Studien, die weder nach dem Modell der Naturwissenschaften noch dem von Jus und Medizin »verwertbar« sind, den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen und Tätigkeitsfeldern erleichtern. Wenn auch die Zahl von arbeitslosen AkademikerInnen ständig im Steigen begriffen ist, hat die Universität ihre Funktion, solche Zugänge zu erschließen, keineswegs eingebüßt. Allerdings gilt für die Berufslaufbahnen im Prinzip dasselbe wie für den Zugang zur Universität und die Positionierung innerhalb ihrer : die Wahrscheinlichkeit, mit der ein akademischer Grad den Zugang zu einer angestrebten Position erleichtert, variiert systematisch mit den zusätzlichen »Kapitalien«, den
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»Spielkarten«, die die AbsolventInnen in ungleicher Verteilung mitbringen, und dies sind vor allem ökonomische Stärke, soziale Herkunft und Geschlecht. Für die AbsolventInnen der »mittlere Zone« gilt dies nicht in geringerem, sondern sogar in höherem Maß als für diejenigen, die Studien an den »Rändern« abgeschlossen haben. Denn je weniger genau das Berufsbild, das mit einem Studium verbunden ist, umrissen wird, und je weniger genau die Schritte zur Erreichung des Ziels definiert und formalisiert sind, desto mehr kommen die »informellen« Voraussetzungen zum Zuge.42 Das heißt: gerade in diesem Bereich kann die »magische Kraft« der Gelehrsamkeit ihre schönsten Blüten treiben. Wann und wie die AbsolventInnen diese Blüten ernten und zu welchen Gelegenheiten sie sich diese ans Revers stecken, werden diejenigen am besten wissen, die früh genug gelernt haben, dass Bildungsgüter zu den wichtigsten gesellschaftlichen Distinktionsmerkmalen gehören.
9.
Zum Projekt einer gesellschaftlich verankerten Vernunft
Die internationale Krise der Universität und der Bildung, die von Derrida und Nussbaum in unterschiedlicher Weise diagnostiziert werden, können wir unter der von Kant und Bourdieu artikulierten Perspektive noch anders als die beiden fassen. Der ökonomische und ideologische Druck, der derzeit auf den Universitäten lastet, könnte dazu führen, dass ein zentrales politisches Projekt der Aufklärung ersatzlos gestrichen wird. Dieses zielte darauf ab, den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen, von denen aus die Reproduktion der sozialen Ordnung kontrolliert wird, an die Vermittlung von Wissen zu binden – und zwar gekoppelt mit der Erfahrung, dass die Arbeit an begründetem Wissen immer auch darin besteht, die überkommenen Gegenstände, Methoden, Wahrnehmungs- und Argumentationsformen von Grund auf in Frage zu stellen. Kant hat daran geglaubt, dass eine gesellschaftlich verankerte Vernunft auch für die »Regierung« von großem Wert ist und dass dieser Wert denen plausibel gemacht werden kann, die den Raum, in dem die öffentliche Auseinandersetzung stattfindet, politisch zu garantieren haben. Und er hat dafür sehr interessante Argumente gefunden. Nach Kant kommt einer relativ unabhängigen 42 Bourdieu hat in zahlreichen bildungssoziologischen Studien analysiert, welche Mechanismen dazu führen, dass das Bildungssystem bei offiziell angestrebter Chancengleichheit die Chancen derer, die es durchlaufen, systematisch – wie durch soziale Magie – entsprechend der »mitgebrachten« sozialen, ökonomischen und geschlechtlichen Voraussetzungen verstärkt und sie keineswegs ausgleicht. Die bereits genannte aktuelle Studierendenbefragung der Universität Wien macht deutlich, wie aktuell diese Diagnose auch heute noch ist: Studierendenbefragung, URL: http://gleichstellung.univie.ac.at/gleichstellung-und-diversitaet /diversity/studierendenbefragung/.
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»gelehrten Welt« eine wichtige Funktion für die Erhaltung einer aufgeklärten politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu. Gäbe es eine solche institutionalisierte gelehrte Welt nicht, würden alle beliebigen neuen Lehren und Meinungen direkt im »Publikum« verbreitet, dabei könnte den abergläubischen Neigungen des Volks das Wort geredet und allen möglichen gesellschafts- und staatsgefährdenden Gefolgschaften Vorschub geleistet werden. »Dagegen gehen die Lehren und Meinungen, welche die Fakultäten unter dem Namen der Theoretiker unter einander abzumachen haben, in eine andere Art von Publikum, nämlich in das eines gelehrten gemeinen Wesens, welches sich mit den Wissenschaften beschäftigt« – also in einen Raum kritischer Befragung.43 Würde den »Geschäftsleuten« der Regierung die Erfahrung fehlen (die sie im akademischen Raum kritischer Befragung machen können), dass das als gesichert geltende und von der Regierung sanktionierte Wissen auf seine vernünftige Begründung hin in Zweifel gezogen werden kann und muss, wären sie kaum in der Lage, notwendige Veränderungen in der staatlichen Ordnung mitzutragen. Staatsdiener ohne Schulung in Kritik und Zweifel am Anerkannten könnten sich, so Kant, bald als Gefahr für die Regierenden selbst entpuppen, sobald diese nämlich Veränderungen für notwendig erachten, während ihre Beamten den bisherigen Stand des Wissens für unumstößlich ansehen. Bourdieu hat in der Universität des 20. Jahrhunderts eine Struktur durchleuchtet, in der sich eine viel weitergehende Soziologisierung der Vernunft zeigt als im 18. Jahrhundert vorstellbar war. Und er hat darauf aufmerksam gemacht, dass unter den Bedingungen der modernen Wissenschaften – die sich zu einem relativ unabhängigen Feld gesellschaftlicher Produktion ausdifferenziert haben – der »Streit der Fakultäten« nicht zu trennen ist von den Auseinandersetzungen zwischen Individuen und Gruppen, die darum kämpfen, gesellschaftliche Positionen zu erreichen oder zu verteidigen. Sie tun dies auch dadurch, dass sie neuen Formen und Gegenständen des Wissens Anerkennung zu verschaffen bzw. die bereits etablierten Formen und Gegenstände der Wissenschaften zu verteidigen suchen. Wenn Bourdieus Analyse Gültigkeit hat, dann gewinnt der Spannungszustand, in dem schon Kant das Wesen der soziologisch verankerten Vernunft erkannte, in der »mittleren Zone« der Universität gegenüber den »Rändern« eine genau definierte Dimension dazu: hier wird die Auseinandersetzung, die für die Universität insgesamt charakteristisch ist, zu einer bewussten und konkreten Erfahrung der in diesem Bereich handelnden Individuen. Hier, in jenem Bereich der Institution, in welchem keine ihrer beiden gegensätzlichen Funktionen – Reproduktion und Produktion von Wissen – eindeutig dominiert, machen die handelnden Individuen spezifische Erfahrungen und sammeln spezifische Er43 Kant, Streit, 298.
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kenntnisse. Insbesondere die Erkenntnis, dass die Erweiterung von gesellschaftlichem Wissen sich nicht der Akkumulation von vorgeblich Wissenswertem verdankt, sondern den Auseinandersetzungen um die Frage, was in einer gegebenen historischen Situation als wissenschaftliche Frage durchgesetzt werden kann und was nicht. Vor allem in dieser eher prekären Zone wird sichtbar und thematisierbar, dass das, was als wissenschaftlicher Gegenstand Anerkennung findet, nicht das Ergebnis von anonymen geistigen, materiellen oder sonstigen Entwicklungsprozessen ist, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe. In diesem Sinn setzt die »mittlere Zone« den Streit der Fakultäten Kants unter modernen Bedingungen um: was für alle Wissenschaften gilt – nämlich dass die Frage, welche Begriffe, Fragestellungen und Methoden zu wohlbegründetem Wissen führen, nicht ein für alle Mal zu beantworten ist – wird in den kultur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern öfter zum Thema als in anderen Bereichen der Universität. Es ist die institutionelle Struktur der »mittleren Zone«, die die Individuen, die in diesem Bereich Anerkennung ihrer Gegenstände und Fragestellungen finden wollen, dazu drängt, die anerkannten Begründungsprinzipien in Frage zu stellen und um die Anerkennung neuer zu kämpfen.
10.
Die Gefährdung von innen
Sowohl die spezifischen Gefährdungen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften als auch deren spezifische Chancen können mit Hilfe der Kategorien Kants und Bourdieus schärfer umrissen werden. Eine spezifische Gefährdung, die der Weiterführung des »Streits der Fakultäten« in der »mittleren Zone« der Universitäten droht, geht von dieser Zone selbst aus. Die in den Protesten von 1996 und 2009/10 zutage getretene Harmonie täuscht nämlich leider nicht. Dass sich Universitätsangehörige mit so extrem unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen (männliche und weibliche Studierende unterschiedlichster sozialer Herkunft, externe LektorInnen, wissenschaftliche BeamtInnen, interne DozentInnen in Fast-ProfessorInnen-Status, ProfessorInnen etc.) so schnell darauf einigen konnten, dass es darum gehe, die Universität als gesellschaftlichen Freiraum einer genuinen, der gesellschaftlichen Verwertung entrückten Bildung und eines den disziplinierenden Zwängen entzogenen Denkens zu verteidigen, ist nur zu einem geringen Teil als Strategie nach außen zustande gekommen. Das in den Geistes- und Kulturwissenschaften dominierende und teilweise auch in den Sozialwissenschaften bestehende Selbstverständnis kommt in dieser Auffassung richtig zum Ausdruck. Falls die Angehörigen der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer um die aufklärerische gesellschaftliche Funktion der Universität, wie Kant
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sie formuliert hat, kämpfen wollen, werden sie zu allererst ihr Selbstverständnis revidieren müssen. Diese Fächer werden ihre reale gesellschaftliche Funktion nur dann erfüllen (und finden) können, wenn die Studierenden und Lehrenden diese Zone nicht als einen Freiraum verstehen, innerhalb derer die Frage nach der gesellschaftlichen Nutzung der vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten unter Hinweis auf unantastbare Werte – seien diese Persönlichkeitsbildung oder freies Denken – weitgehend außen vor gelassen wird. Ganz im Gegensatz zu dem Bild, das – auf Grund der oben skizzierten »optischen Täuschung« – innerhalb dieser Fächer dominiert, sind sie als diejenige Zone der Universität zu begreifen, in der die Spannung zwischen der reproduktiven und der produktiven Funktion der Universität besonders stark ist. Nur unter dieser Voraussetzung könnten, so scheint uns, die spezifischen in dieser Zone angelegten Möglichkeiten in Gang gehalten bzw. in Gang gesetzt werden. Wenn Derrida und Nussbaum vor den Folgen einer Reduzierung und Marginalisierung der Geistes- und Kulturwissenschaften warnen, dann können wir diese Warnungen auch unter der eben skizzierten Perspektive zu artikulieren versuchen. Wir können sie als Warnung davor verstehen, dass der Streit darum, welches Wissen als begründet zu gelten hat, gleichsam von außen unterbunden werden kann, indem die sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Raums, in dem er geführt wird und geführt werden soll, zerstört werden. So wichtig der Hinweis auf eine solche Gefährdung von außen ist, so wichtig ist es, zu sehen, dass dieser Streit auch »von innen« unterbunden werden kann und tendenziell wirklich unterbunden wird. Im Bereich der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften kann dies vor allem auf zwei Wegen geschehen: erstens, indem die Magie des gelehrten Wissens möglichst ungebrochen weitergegeben wird. Das ist überall dort der Fall, wo den AbsolventInnen der Eindruck und die Haltung vermittelt wird, dass Wissen dann als wohlbegründet zu gelten habe, wenn es in der docta opinio einer Gruppe von Gelehrten, doctores und professores, verankert ist. Die im Studium erworbenen Kenntnisse, Haltungen, Sprachregelungen erscheinen unter diesen Bedingungen als Beweise der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die Tendenz zur Herausbildung solcher Gruppenidentitäten führt zu einer Abgrenzung der Fächer voneinander. Diese verdankt sich der Logik der Selbstbehauptung im akademischen Universum und ist keineswegs in der Logik der Forschung begründet. Innerhalb der einzelnen Fächer zeigt sich diese Tendenz in der Reproduktion von Schulen und Orthodoxien, in denen sich Lehrende und Studierende gemeinsam als Hüter eines kanonisierten Bildungsguts verstehen und so an einer Stilllegung des Streits der Fakultäten »von innen« arbeiten. Der Streit kann aber zweitens auch wie von selbst verebben, wenn die Reibungsflächen zur gesellschaftlichen Reproduktion verloren gehen oder bewusst ausgeblendet werden. Auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, scheint besonders wichtig, weil sie von vielen übersehen wird, die nur
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die Bedrohung von außen sehen, wenn sie kritisieren, dass die Bildungspolitik der »Profitmacherei« geopfert wird, wie Nussbaum es ausdrückt.44 Dass die Universität dadurch zerstört werden könnte, dass sie mit Lehraufgaben überhäuft und so immer weniger Raum für Forschung bleiben könnte, war das Bedrohungsszenario von 1996 – das freilich in dieser Form nicht eingetreten ist, jedenfalls was die Universität Wien betrifft. Zwar ist hier auch noch im Jahr 2015 das Verhältnis zwischen der Zahl der Studierenden und der Zahl der ProfessorInnen in manchen Studienrichtungen wesentlich höher als im internationalen Durchschnitt, die Belastung durch Lehre also in vielen Zonen der Universität sehr hoch geblieben. Gleichzeitig aber ist festzustellen, dass die Universität Wien in puncto Forschung heute in vielen Bereichen international sehr gut positioniert ist. Das heißt nicht, dass sich damit die Debatten von 1996 und 2009/10 als irrelevant erweisen. Tatsächlich wurde die heute bestehende Situation durch zwei Faktoren ermöglicht: Erstens hat das UG 2002 die Möglichkeit geschaffen, Forschung und Lehre strukturell zu entkoppeln, was an der Universität Wien sehr konsequent umgesetzt wurde. Diese Möglichkeit wurde mit Blick auf das Ziel, internationale Exzellenz zu erreichen, genutzt und eine dezidiert an der internationalen Forschung, weniger an der Lehre orientierte Politik der Restrukturierung und der Berufungen betrieben. Auch wenn die organisatorische Entkoppelung von Forschung und Lehre ein Österreich-Spezifikum sein mag, das durch das UG 2002 ermöglicht war, wurde hier nur explizit zum Managementprinzip erhoben, was im internationalen Trend lag und liegt. Dieser Trend hat mit dem zweiten Faktor zu tun, der für die heutige Situation eine wichtige Rolle spielt. Die internationale und nationale Konkurrenz der Universitäten um »Drittmittel« gehorcht einer Dynamik, die von den Universitäten weitgehend unabhängig funktioniert. Die unter den hoch kompetitiven Bedingungen eingeworbenen Projekte stellen für die Universitäten einen so hohen ökonomischen und – vor allem – symbolischen Wert dar, dass den Bedürfnissen dieser Projekte tendenziell ein Vorrang gegenüber anderen Forschungsvorhaben und den Bedürfnissen in der Lehre eingeräumt werden muss. Die damit verbundene Dynamik hat zu einer bemerkenswerten Internationalisierung der Forschung an den Universitäten geführt. So begrüßenswert dies ohne jeden Zweifel ist, so wichtig ist es, die damit verbundenen, nicht intendierten Effekte zu beobachten und zu untersuchen.45 Hochrangige internatio44 Nussbaum, Profit, 21. 45 Der Bericht der European Science Foundation von 2013 untersucht sehr differenziert, wie sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unter einer europäischen Perspektive darstellt und benennt klar Problemzonen der europäischen Wissenschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Merkwürdigerweise spielen darin die Universitäten und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die in den Universitäten institutionalisiert ist und gelebt wird, so gut wie keine Rolle. Science in Society : caring for our future in turbulent
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nale Forschungsprojekte tendieren dazu, Inseln zu bilden, die wenig bis gar nicht in die Universität diffundieren und in der Lehre kaum Wirkungen zeigen. Wie unter diesen Bedingungen das produktive, streitbare Verhältnis zwischen der reproduktiven und der produktiven Aufgabe der Universität (Lehre und Forschung), wie Bourdieu es mit Blick auf Kant herausstellte, realisiert werden kann, muss hier wohl offen bleiben. Jedenfalls gehört auch der beschriebene Trend zu den Kräften, die Kants aufklärerische Konzeption der Universität tendenziell außer Kraft setzen. Aber kommen wir von den Bedingungen, die die gesamte Wissenschaftslandschaft und damit auch alle akademischen Disziplinen in den letzten Jahren verändert haben, zurück zu den Spezifika der »mittleren Zone« der Universität. Kommen wir zurück zu den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Unter der Perspektive von Kant und Bourdieu wird eine Problematik formulierbar, die in diesen Fächern selten gesehen wird: Der streitbaren Spannung kann nicht nur »von außen« (durch ökonomische, gesellschaftliche, politische Entwicklungen) der Boden entzogen werden, sondern auch »von innen«. Vor allem in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften neigen AkteurInnen dazu, zu übersehen oder sogar zu bestreiten, dass auch Studiengänge in diesen Bereichen ihre Legitimität nicht nur, aber doch auch daraus beziehen, dass ihren AbsolventInnen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die ökonomisch und sozial verwertbar sind. Bourdieus Analyse macht darauf aufmerksam, dass die Frage, ob es im 21. Jahrhundert ein sozial gerechteres Bildungssystem geben wird, auch davon abhängt, ob es eine Universität geben wird, die in der Lage ist, das Projekt gesellschaftlicher Aufklärung weiterzuführen und weiterzuentwickeln. In einer Gesellschaft, in der der Zugang zu Wissen für alle Akteurinnen und Akteure von höchster Bedeutung ist, wird den Universitäten jedenfalls eine Schlüsselstellung zukommen. Schon heute kontrolliert die Universität nicht nur – wie zu Kants Zeiten – die Rekrutierung von Beamten, Ärzten und Predigern, sondern immer größere Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion: akademische Diplome sind mittlerweile Voraussetzung für den Zugang zu fast allen höheren und mittleren Positionen im gesellschaftlichen Raum. Das Ideal einer der gesellschaftlichen Verwertung entzogenen akademischen Bildung ist unter diesen Voraussetzungen nicht nur illusionär, sondern trügerisch. Es macht unsichtbar, dass auch Abschlüsse in den angeblich zweckfreien geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern de facto ökonomisch verwertbar sind und verwertet werden – freilich fast ausschließlich von denjenigen, die auf Grund ihres geselltimes (ESF Science Policy Briefing 50, June 2013), hg. von der European Science Foundation, Strasbourg: European Science Foundation, 2013, URL: http://www.esf.org/fileadmin/Pu blic_documents/Publications/spb50_ScienceInSociety.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015).
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schaftlichen Hintergrunds auch über andere Ressourcen als einen akademischen Abschluss (in Bourdieus Terminologie: über andere »Kapitalarten«) verfügen. In diesem Sinn trägt die Rhetorik, die für eine den Verwertungsinteressen entzogene akademische Bildung plädiert, zur Instrumentalisierung des höheren Bildungssystems zugunsten der Reproduktion bestehender gesellschaftlicher Ungleichheit bei. Sie blockt die Flächen, an denen sich die akademische Lehre mit veränderten Anforderungen der gesellschaftlichen Reproduktion reiben kann, ab und verhindert damit sowohl die theoretische Auseinandersetzung über diese veränderten Anforderungen als auch den Zugang der Individuen, die um die Wahrnehmung und Durchsetzung veränderter gesellschaftlicher Anforderungen kämpfen – und zwar den Zugang sowohl zu Positionen innerhalb wie außerhalb der Universität. In der »mittleren Zone« ist die Komplizenschaft zwischen der »magischen Kraft der Gelehrsamkeit« und der Reproduktion bestehender sozialer Hierarchien besonders wirksam und bedrohlich, weil es an den Rändern des universitären Raums (Naturwissenschaften auf der einen, Jus und Medizin auf der anderen Seite) viel weniger leicht möglich ist, die Abschottung sowohl von veränderten Forschungslagen als auch von veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen so weit zu treiben wie im »mittleren Bereich«. Hier kann die Magie der Gelehrsamkeit lange Zeit ziemlich pur überleben.
11.
Der Blick von außen – Eine unerwartete Chance
Falls eine Konzeption der Universität, die in der Tradition der Aufklärung verankert ist, im 21. Jahrhundert überhaupt eine Chance haben sollte, dann wohl nur unter der Bedingung, dass diejenigen, die an den Universitäten – insbesondere im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften – studieren und lehren, die Reibungsflächen mit dem »Außen« ausdrücklich suchen – das heißt, dass sie die Vermittlung von ökonomisch und sozial verwertbaren Kenntnissen und Fertigkeiten ebenso vehement anstreben wie die rigorose Öffnung für die internationale Forschung. Während die internationale Forschung innerhalb der gesamten Universität in den letzten Jahrzehnten erheblich an Präsenz gewonnen hat, scheint die Forderung nach sozialer und ökonomischer Verwertbarkeit im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften nach wie vor weitgehend tabu. Solange freilich die Lehrenden und Studierenden dieses Tabu nicht durchbrechen, wird der soziale und ökonomische Wert der akademischen Abschlüsse in diesen Studien zwar sehr wohl festgelegt werden, nur eben durch die dynamischen Prozesse außerhalb der Universitäten, in denen zusätzliche »Spielkarten« (wie soziale Herkunft und Geschlecht) bestimmen, ob
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diese Universitätsabschlüsse die Chancen auf eine angestrebte berufliche Laufbahn erhöhen oder nicht.46 Die Suche nach Reibungsflächen der Geistes- und Kulturwissenschaften mit dem »Außen« der akademischen Welt dürfte vor allem dann Chancen auf Erfolg haben, wenn sie nicht nur auf den höheren Ebenen der Institutionen (Gesamtuniversität oder Fakultäten auf der einen und Politiker und Berufsverbände auf der anderen Seite) erfolgt, sondern auch und vor allem auf der Ebene der realen Arbeitseinheiten in und zwischen den Disziplinen. Nur wenn Personen, die in Forschung und Lehre miteinander arbeiten, von sich aus gesellschaftliche Tätigkeits- und Arbeitsfelder zu erschließen beginnen, wird es für sie sowohl bei deren Gestaltung etwas mitzureden als auch wirklich etwas zu lernen geben, und zwar oft anderes als sie immer schon erwartet haben. Wichtig sind derartige Bemühungen auch deshalb, weil sie in das Selbstverständnis der Studierenden und Lehrenden eine Außenwahrnehmung einführen, die einen neuen Blick freigibt auf die spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten, die in den kultur- und geisteswissenschaftlichen Studien vermittelt werden, und gleichzeitig auf spezifische Defizite, die mit der akademischen Ausbildung auch einhergehen können. Dass dabei anderes zu Tage treten kann als von den meisten inneruniversitären AkteurInnen erwartet, zeigte eine Diskussion zwischen Universitätsangehörigen und führenden UnternehmerInnen die an der Universität Wien schon vor langer Zeit, nämlich im Jahr 1993, vom damaligen »Außeninstitut« der Universität organisiert worden war. Die Ausbildungsmängel von UniversitätsabsolventInnen wurden damals von Seiten führender ManagerInnen großer österreichischer Unternehmen nicht etwa darin gesehen, dass die im Studium vermittelten Inhalte dem Anforderungsprofil der jeweiligen Unternehmen zu wenig entsprächen. Genannt wurden vor allem zwei spezifische Defizite von Personen, die mit ihren Abschlüssen von den Universitäten kommen und die diesen oft erst nach Jahren gleichsam abtrainiert werden können: erstens, Universitätsabsolventinnen können nicht in Teams arbeiten; zweitens, sie neigen dazu, Schwierigkeiten und Fehlerquellen, die im Lauf eines Arbeitsprozesses aufgetreten sind, nicht zu benennen, sondern das Ergebnis in einer Form zu präsentieren, die dieses möglichst als abgesichert erscheinen lässt; auf Nachfragen sind sie kaum in der Lage, Schwierigkeiten, auf die sie gestoßen sind und die sie nicht lösen konnten, zu benennen. Das sind charakteristische Schwächen eines akademischen Schulbetriebs, in dem die SchülerInnen lernen, die eigene
46 Siehe dazu auch die Studierendenbefragung der Universität Wien von 2014: Studierendenbefragung, URL: http://gleichstellung.univie.ac.at/gleichstellung-und-diversitaet/diversity/ studierendenbefragung/.
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Arbeit im Vorhinein abzusichern, so dass sie vor dem prüfenden Auge von ProfessorInnen oder GutachterInnen möglichst unangreifbar erscheint.47 Zwar dürfte sich die ökonomische Welt seit damals noch gründlicher verändert haben als die akademische Welt, aber die Beobachtungen der Wirtschaftstreibenden von damals sind nach wie vor instruktiv. Der »Blick von außen« legt hier Defizite frei, die unerwarteter Weise Argumente zugunsten einer frühzeitigen und kontinuierlichen Einübung der Studierenden in die Forschung liefert – denn wo und wie sonst sollten AkademikerInnen lernen, in selbständiger Weise gemeinsam mit anderen Personen Fragestellungen zu erarbeiten, wissenschaftliche Begriffe zur Weiterentwicklung neuer Problemstellungen zu konzipieren, Schwierigkeiten bei der Lösung anstehender Fragen zu erkennen und benennen? Der »Blick von außen« macht in diesem Fall die UniversitätslehrerInnen darauf aufmerksam, dass in ihrer akademischen Praxis die Verbindung von Lehre und Forschung schon damals mehr zu wünschen übrig ließ als sie selbst wahrnehmen konnten. Und vor allem macht er darauf aufmerksam, dass unter der Verbindung von Forschung und Lehre nicht nur die Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse in die Vorlesungen und Seminare verstanden werden darf, sondern die Vermittlung von Kenntnissen, Methoden und Erfahrungen, die die AbsolventInnen in die Lage versetzen, gemeinsam mit anderen Personen an neuen Fragestellungen zu arbeiten. Unter dieser Perspektive wäre die Erstellung von »Qualifikations- und Verwendungsprofilen«, die den gesellschaftlichen Entwicklungen sowieso immer hinterherhinken, weit weniger wichtig als die Bereitschaft von Studienprogrammleitungen, Fakultäten und Instituten, die Erschließung von Arbeits- und Tätigkeitsfeldern auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften von sich aus voranzutreiben und solche Versuche nachweislich zu evaluieren. Die Erfahrung, in Teams an der Konzipierung und Durchführung von Forschungsprojekten zu arbeiten, sowie die dabei entwickelten Fähigkeiten könnten als zentrale Ausbildungsziele in allen Phasen der Studienpläne verankert werden. Auch die Evaluierung dieser Bemühungen sollte verpflichtend zunächst auf der Ebene der Studienprogrammleitungen und der Institute durchgeführt werden, wobei hier den Stimmen der Studierenden und der Alumni ein besonderes Gewicht gegeben werden müsste. Spezifische Chancen der »geistes- und kulturwissenschaftlichen« Studien könnten gerade in dem erhöhten Spannungszustand zwischen der wissenschaftlichen und der sozialen Legitimierung in diesem Bereich liegen. Denn theoretische und praktische Auseinandersetzungen um die Frage, woher wis47 Übrigens wird diese dem akademischen Beurteilungssystem immanente Problematik weder durch das Peer Review-System noch durch den internationalen Wettbewerb um Projekte aufgehoben, sondern auf eine andere Ebene verschoben.
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senschaftlich begründetes Wissen seine Legitimation erhält und welchen gesellschaftlichen Wert solchermaßen legitimiertes Wissen darstellt, sind von außerordentlich hoher Aktualität – oder vielmehr sollten sie es sein. Der große Prestigeverlust in der Öffentlichkeit, dem die Wissenschaften im 20. Jahrhundert unterworfen waren, ist nicht nur auf deren Verstrickung in die größten Verbrechen und Zerstörungen zurückzuführen, sondern auch auf die inzwischen weit verbreitete Erfahrung, dass so gut wie jedem wissenschaftlichen Gutachten, das zur Entscheidungsfindung in gesellschaftlich und politisch brennenden Fragen beitragen soll, wenigstens ein Gutachten gegenübergestellt werden kann, das zu anderen Ergebnissen kommt. Falls Bourdieus Analyse zutrifft, dann können diesbezüglich vor allem in »mittleren Bereich« der Universität die Erfahrungen gesammelt werden, von denen ausgehend eine theoretische Durchleuchtung des Verhältnisses von sozialer und wissenschaftlicher Legitimation des Wissens erfolgen muss. Die Zerstörung der institutionellen Struktur, die die Individuen zu einem Streit um diese beiden Legitimationen zwingt – einem Streit, der nach Kant niemals beigelegt werden kann – würde jedenfalls einschneidende Folgen für eine Gesellschaft haben, deren Reproduktion mit den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik aufs engste verbunden ist und in der gleichzeitig das Misstrauen und die Skepsis gegenüber den Wissenschaften drastisch gestiegen ist. Kant hat davor gewarnt, dass in einem Gemeinwesen, das zu seiner Reproduktion auf die Hervorbringung und Verteilung von Wissen angewiesen ist, kunstreiche Führer die abergläubischen Neigungen der Menschen nützen, vor ihnen als die »Wissenden« auftreten und ihnen Wunderdinge versprechen werden – es sei denn, es gibt einen Raum, in dem die Magie der Gelehrsamkeit gepflegt und ihr entgegengearbeitet wird.
12.
»Streit der Fakultäten« ohne Philosophische Fakultät?
Nun scheint es so, als wäre den heutigen Universitäten eine wesentliche Voraussetzung der Kant’schen Universitätskonzeption abhandengekommen: die Philosophische Fakultät. Diese hat an der Universität Wien – wie auch an den anderen österreichischen Universitäten – zwar wesentlich länger existiert als anderswo. Aber schließlich wurde auch hier die große Philosophische Fakultät, die alle Fächer außer Medizin, Jurisprudenz und Theologie in sich umfasste, durch das UOG 1975 aufgelöst. An ihre Stelle traten damals drei Fakultäten: die Geisteswissenschaftliche Fakultät (GEWI), die Formal- und Naturwissenschaftliche Fakultät (NAWI) und die Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät (GRUWI) – wobei die letztere sich im Wesentlichen aus Fächern zusammensetzte, die den beiden anderen Fakultäten aus unterschiedlichen Gründen nicht zuzuordnen waren. Daraus ergab sich ein buntes Gemisch von
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Disziplinen. In dieser Fakultät war die Philosophie ein Institut unter anderen, aber dieses Institut war in einer merkwürdig versteckten Form auch im Namen der Fakultät noch enthalten. Die beiden Großordinarien der Philosophie in den 1960er und 1970er Jahren Leo Gabriel und Erich Heintel, die philosophisch durch eine tiefe Feindschaft verbunden waren, waren durchaus in der Lage, sich zu verbünden, wenn es ihrer Außenwirkung nutzen konnte. Es gelang ihnen, ihre Spuren im Titel der neuen Fakultät zu hinterlassen. Die »Fundamentalphilosophie« Erich Heintels und die »Integrative Logik« Leo Gabriels vereinten sich im merkwürdigen Namen »Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät«. Es gehörte zu den Ritualen dieser Fakultät, die bis 2000 existierte, dass sich jeweils in der letzten Sitzung des Studienjahres ein Mitglied der Professorenkurie in der Fakultätskonferenz zu Wort meldete und den Dekan ersuchte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Namen der Fakultät zu ändern: im Ausland stoße dieser Name auf Unverständnis und Kopfschütteln. Freilich: so eigentümlich der Name war, so zukunftsweisend war die GRUWIFakultät in ihrer eher zufälligen Zusammensetzung. Denn eine gewisse Zufälligkeit ist inzwischen charakteristisch für die Struktur von Universitäten insgesamt – ein Blick auf Webseiten im internationalen Raum zeigt das sehr schnell. Auch die Organisation der heutigen Universität Wien in 15 Fakultäten und vier Zentren folgt keiner Systematik, sondern drückt diejenigen Kräfteverhältnisse wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Art aus (im Sinn von Bourdieus Spannung zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Legitimationsprinzipien), die bei der Einführung der neuen Universitätsorganisation 2004 bestanden haben, und stellt dar, wie diese sich in den Jahren danach weiter entwickelten. Ist angesichts dieser Mischung aus sehr unterschiedlich großen und unterschiedlich funktionierenden Organisationseinheiten die Brücke, die wir zu Kants Streit der Fakultäten geschlagen haben, nicht obsolet? Keineswegs. Denn erstens war auch die Philosophische Fakultät, die Kant vor Augen hatte, eine bunte Mischung ohne innere Systematik. Zweitens präsentiert uns Kant nicht eine historische Streiterei zwischen den Fakultäten seiner Zeit, sondern führt uns die Spannung vor Augen, die in der Aufgabe liegt, die Studierenden mit Lehren im Dienst der gesellschaftlichen Ordnung zu versehen und ihnen gleichzeitig zu vermitteln, dass und wie alle Lehren im Licht der Freiheit des Denkens und Forschens immer neu auf ihre Begründung hin befragt werden können und müssen. Dass er diese Spannung als eine zwischen den Fakultäten seiner Zeit darstellt, ist weniger wichtig als die Prinzipien der Spannung, die er dabei herausarbeitet. In diesem Sinn – und das ist der dritte Punkt – hat Kant etwas vorweggenommen, was Bourdieu in der Universität des 20. Jahrhunderts soziologisch entdeckte: das von Kant benannte Spannungsverhältnis ist für die Universität als Institution charakteristisch. Es besteht nicht nur auf der Ebene der Fakultäten, sondern auf allen Ebenen und in allen Sektoren dieser Institu-
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tion, wenn auch unterschiedlich verteilt. Das theoretische Gerüst, das sich aus Kant und Bourdieu gewinnen lässt, erscheint uns daher in hohem Maß zur Orientierung geeignet – auch und gerade in einer akademischen Landschaft, die so zersplittert und so schnellen Veränderungen ausgesetzt ist wie die heutige.
13.
Epilog: Geistes- und Kulturwissenschaften als Reflexionsund Orientierungswissenschaften im heutigen Fächerkanon?
Das Verhältnis der Fakultäten und Fächer seit Kant hat sehr viel mit den gegebenen Hierarchien und Ansprüchen der Disziplinen und Forschungsfächer zu tun, die gegen Ende der 1990er Jahre in so genannte, von den USA ausgehende »Science Wars« zwischen den philosophischen soft sciences und den naturwissenschaftlichen hard sciences einmündeten.48 In diesem Zusammenhang wurde einmal mehr die Rolle der (bereits postmodernen) Kulturwissenschaften im Verhältnis zu den Naturwissenschaften diskutiert, dem im deutschsprachigen Bereich Anfang der 1990er Jahre die Rhetorik von einer »Krise der Geisteswissenschaften« vorausging.49 Damit wurde auf anderer Ebene und in neuen Kontexten der symbolische und ökonomische Umverteilungskampf im universitären Feld – nicht zufällig mit Rückgriff auf Charles Percy Snows Zwei Kulturen50 – wiederbelebt. Hier ging es zwar auch um Positionierungen im Hinblick auf Forschungsförderung, aber zugleich um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit inmitten »neuer Unübersichtlichkeit«.51 Der labyrinthische und großteils polemische Verlauf dieser inzwischen wegen Erschöpfung ausgelaufenen Debatte spiegelt einmal mehr das nichttriviale Problem der Einheit und Vielheit der Wissenschaften sowie der theoretischen und praktischen Vernunft mit Konsequenzen für die universitäre Ordnung und die dortige Allokation wider. Einerseits erfolgte seitens der Geisteswissenschaften eine Art Flucht nach vorne in die trendigen Cultural Studies, andererseits wurde ein – nicht erfolgreicher – Rettungsversuch für die Geisteswissenschaften als Orientierungs- und Kompensationswissenschaften gestartet, der das Bild von den zwei – in der Zwi48 Als Auslöser der »Science Wars«: Alan Sokal/Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München: Beck 1999. 49 Zur »Krise der Geisteswissenschaften«: Wolfgang Frühwald/Hans Robert Jauß/Reinhard Koselleck/Jürgen Mittelstraß/Burkhart Steinwachs, Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991; Wolfgang Prinz/Peter Weingart (Hg.), Die sogenannten Geisteswissenschaften: Innenansichten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990; Peter Weingart/Wolfgang Prinz/Maria Kastner/Sabine Maasen/Wolfgang Walter (Hg.), Die sogenannten Geisteswissenschaften: Außenansichten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. 50 Charles Percy Snow, The Two Cultures, Cambridge: Cambridge University Press 1959/1964. 51 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit (Kleine politische Schriften 5), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985.
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schenzeit mit den Sozialwissenschaften52 drei – Wissenschaftskulturen noch verstärkte.53 Damit wurde die fruchtbare Perspektive eines inter- und transdisziplinären Zusammenhangs aller Wissenschaften unter dem regulativen Begriff der Einheit von Forschung und Lehre verspielt. Zwischen den beiden Polen eines naiven Realismus oder szientifischen Naturalismus einerseits und einer philosophischen Position normativer apriorischer Letztbegründung andererseits wurde mit Blick auf das Feindbild des Relativismus ungewollt das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn die berechtigte Anerkennung einer praktischen, theoretischen, epistemischen und methodischen Verschiedenheit der Wissenschaften schließt nicht eine prinzipielle meta-theoretische und methodologische Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Wissenschaften aus, die sich z. B. in der österreichischen Wissenschaftsförderung der Grundlagenforschung über einen einheitlichen Qualitätsbegriff für alle Disziplinen und Forschungsfelder manifestiert.54 Jede defensive Strategie der Geistes- und Kulturwissenschaften überzeichnet das Paradigma der Natur- und Formalwissenschaften hinsichtlich Exaktheit oder kausal-deterministischem Denken und verkennt die Grenzen und das Potenzial der eigenen Domäne zwischen Erklären und Verstehen, welches via Interpretation für alle Disziplinen relevant ist.55 Eine exklusive Hermeneutik der Erkenntnis nur für den Bereich der Geisteswissenschaften ist jedenfalls eine Überbetonung und legitimatorische Wiederbelebung des Autonomieanspruchs von Kulturwissenschaften seit dem Methodenstreit im Zeitalter des Historismus. Sie stellt eine Engführung angesichts der tatsächlichen Möglichkeiten des Gesprächs zwischen den Wissenschaften dar, wenn gemeinsame erkenntnisund wissenschaftstheoretische Fragen und Inhalte ernst genommen werden sollen. Ein spezifisches Feld dieser Problemzone bildet analog das Verhältnis von Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, welches im prinzipiellen Anspruch als dynamisches fächerübergreifendes Forschungsfeld international sichtbar wird.56 52 Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2006. 53 Zur Kritik an diesem Konzept von Geisteswissenschaften vgl. z. B. Jürgen Mittelstraß, Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 54 Das sind z. B. die Prinzipien des Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF), der die Grundlagenforschung ohne inhaltliche Schwerpunktsetzung und Privilegierung nur aufgrund von Exzellenz fördert. 55 In diesem Zusammenhang: Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Göteborg: Elander 1942 (englische Übersetzung: The Logic of the Humanities, New Haven–London: Yale University Press 1960). 56 Vgl. als Überblick, Friedrich Stadler, History and Philosophy of Science. Zwischen Deskription und Konstruktion, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3 (2012), 217 – 238. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wird eine entsprechende neue Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften einrichten.
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Die Geschichte der fakultären Gliederungen der Universität Wien seit dem UOG 1975 bis heute ist ein Lehrstück für das Mit- und Gegeneinander der akademischen Eliten mit unterschiedlichen, aber auch nicht beabsichtigten Konsequenzen. Allein die Dreiteilung der großen Philosophischen Fakultät in eine »Grund- und Integrativwissenschaftliche«, »Geisteswissenschaftliche«, »Formal- und Naturwissenschaftliche« Fakultät dokumentiert das Wechselspiel von internen und externen Machtspielen jenseits wissenschaftstheoretischer Überlegungen. Jedenfalls ist es für Wien im internationalen Vergleich bemerkenswert, dass es nominell zur Etablierung einer Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft gekommen ist, die allerdings den Umfang und die ursprüngliche Fächervielfalt, sowie die seit 1872 verbriefte Funktion für das obligatorische Philosophicum für alle Studierenden im Rahmen des Doktoratsstudiums der ursprünglichen Fakultät verloren hat.57 Die seit dem 19. Jahrhundert vorhandenen Bestrebungen zur Teilung der Philosophischen Fakultät waren Ausdruck des Bedeutungszuwachses der naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer gegenüber dem Anspruch der traditionellen Königsdisziplin Philosophie, die sich allerdings bereits in der Monarchie mit den Berufungen von Franz Brentano und Ernst Mach der naturwissenschaftlichen Herausforderung (inkl. Psychologie, Physiologie und Medizin) stellte und damit als »wissenschaftliche Philosophie« den Wind aus den Segeln der Teilungsbefürworter nehmen konnte. Die heutige Konstellation einer Philosophischen Fakultät gegenüber einer Philologisch-Kulturwissenschaftlichen, HistorischKulturwissenschaftlichen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät bestimmt die Rolle der Philosophie wieder als gleichwertige Disziplin mit interdisziplinären Vernetzungen.58 Wenn man also die Binnendifferenzierung der europäischen Universitäten und die veränderten Rahmenbedingungen (z. B. Studierendenzahlen und private Hochschulen) vergleichsweise als Barometer für den strukturellen Wissenschaftswandel heranzieht, wird verständlicher, warum die klassische Fakultätsgliederung verlorengegangen ist. Auch das virulente Problem der Zukunft universitärer LehrerInnenausbildung in diesem Veränderungsprozess macht eine weitere, noch laufende Herausforderung für die Universität Wien 57 Zur Entwicklung der Philosophischen Fakultät vgl. den Beitrag von Irene Ranzmaier in diesem Band, sowie Richard Meister, Das Werden der philosophischen Fakultät in Wien, Wien–Leipzig: Hölder-Pichler-Tempsky 1937; Kurt Mühlberger, Das »Antlitz« der Wiener Philosophischen Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Struktur und personelle Erneuerung, in: Johannes Seidl (Hg.), Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession, Göttingen: 2009, 67 – 102. Zum Doktoratsstudium: Richard Meister, Geschichte des Doktorates der Philosophie an der Universität Wien (ÖAW, Sitzungsbericht der Phil.-hist. Klasse 232/2), Wien: Rohrer 1958. 58 Vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Dahms und Friedrich Stadler in diesem Band.
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sichtbar, die im Falle einer einseitigen Verlagerung in die aufkommenden Pädagogischen Hochschulen zu einem signifikanten Funktionsverlust im Sinne eines wissenschaftlichen und pädagogisch ausgerichteten Lehramtsstudiums an Mittelschulen führen könnte – während in Deutschland z. B. bereits seit längerer Zeit die Trennung von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen rückgängig gemacht wurde. Das wäre schließlich definitiv ein signifikanter Wandel gegenüber der Bildungsreform unter Leo Thun-Hohenstein von 1848/49, die das Lehramtsstudium – neben der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses – als Eckpfeiler der aufgewerteten Philosophischen Fakultät etabliert hatte.59
14.
Resümee und Ausblick
Kants Streitschrift, variiert und aktualisiert durch Bourdieu, Derrida und Nussbaum, scheint auch heute noch nichts an Brisanz und Relevanz verloren zu haben. Dies vor allem deshalb, weil Kant die grundlegenden Probleme und Fragen der realen und idealen Universität angesprochen und teilweise beantwortet hat: das Spannungsverhältnis zwischen Bildung und Ausbildung, von Autonomie und staatlicher Lenkung, von reiner und angewandter Forschung, nicht zuletzt die generelle Rolle und Funktion der Universität in einer aufgeklärten kosmopolitischen Gesellschaft. Vor allem hat er präzise das Begründungsproblem und die Legitimation einer selbstkritischen Vernunft für alle Fächer, Disziplinen und Fakultäten thematisiert und in einen rationalen Erklärungszusammenhang gebracht. Die Zeiten und Rahmenbedingungen haben sich natürlich geändert, das Grundproblem bleibt jedoch auch in der Periode der Postmoderne und der heutigen Wissensgesellschaften virulent, nämlich mit der Frage nach dem Selbstverständnis der Institution Universität als gesellschaftliches Subsystem und zugleich als selbstorganisierende Institution unter Infragestellung ihres Alleinstellungsmerkmales hinsichtlich Vermittlung, Systematisierung und Selbstthematisierung des kaum mehr überschaubaren Wissens. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen erscheint eine fächerübergreifende »neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft« für das 21. Jahrhundert nach Elkana eine konkrete Utopie, auch bei Anerkennung der Fruchtbarkeit interdisziplinärer Forschung und Lehre. Als Alternative zu dieser stark anglo-amerikanisch ausgerichteten Konzeption könnten die Kant’schen Empfehlungen zusammen mit konkreten Humboldt’schen Ideen als eine spezifisch europäische 59 Als allgemeine Einführung zum staatlichen Bildungssystem: Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, 6 Bände, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1982 – 1995.
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Antwort auf die globalisierte knowledge society verstanden werden. Eine Kombination von theoretischem Pluralismus und bewusster Schwerpunktbildung sollte genauso wenig einen Widerspruch bedeuten wie die punktuelle Durchbrechung einer idealisierten Balance und Symmetrie von Lehre und Forschung. Dass das Ideal der »Freiheit von Lehre und Forschung« seit Humboldt nur als Idealtypus wirkte, zeigt sich allein in der historischen und gesellschaftlichen Manifestation dieses Prinzips als Projektionsfläche für das heutige akademische Leben. Dessen philosophischer Legitimationszusammenhang stellte selbst lange Zeit ein Forschungsdesiderat dar, wie die überzeugende Studie von Torsten Wilholt über die Begründungen und Begrenzungen der Forschungsfreiheit zeigt.60 Das kann aber auch nicht überraschen, weil der homo academicus in seiner universitären Sphäre schon immer in die Geschichte und Gesellschaft eingebettet war – und weiterhin ist.
60 Torsten Wilholt, Die Freiheit der Forschung. Begründungen und Begrenzungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012.
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Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart
Einleitung Die Entwicklung der Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis in die Gegenwart in einem Artikel zu beschreiben, ist eine gleichermaßen reizvolle wie risikoreiche Aufgabe. Reizvoll ist sie, weil so Langzeitentwicklungen in den Blick genommen werden können, die sonst der Aufmerksamkeit entgehen. Auch kann der Zusammenhang der Philosophieentwicklung mit den vielfachen politischen Umbrüchen in diesem Zeitraum reflektiert werden (von der Monarchie zur Ersten Republik, von dort über den so genannten austrofaschistischen »Ständestaat« zum nationalsozialistischen »Dritten Reich«, und schließlich nach dem Ende dieser Diktaturen der Übergang zur Zweiten Republik). Es wird dann augenfällig, wie unangemessen eine rein »interne«, nur die Inhalte der philosophischen Lehren thematisierende Darstellung bleiben müsste. Risikoreich wird das Unterfangen dadurch, dass notwendigerweise eine Auswahl aus der Fülle des Materials getroffen werden muss, die dazu zwingt, viele jener Personen und Ereignisse beiseite zu lassen oder nur am Rande zu behandeln, die vielleicht anderen Autoren als relevant erschienen wären.1 Stattdessen sollen hier jene Tatbestände herausgestellt werden, die für die Wiener Philosophie besonders charakteristisch sind. Deshalb seien hier die Auswahlkriterien explizit gemacht, die für das Folgende maßgeblich waren. Was die Langzeitperspektiven betrifft, handelt es sich vor allem um 1) die Entwicklung von der früheren Philosophischen Fakultät, in der die Disziplin der Philosophie noch keine spezifische Identität ausgebildet und 1 Insbesondere müssen hier die beiden berühmtesten österreichischen Philosophen des 20. Jahrhunderts außen vor bleiben, weil sie nie dem Lehrkörper der Universität Wien angehörten: Ludwig Wittgenstein und Karl Popper; siehe aber die aktuellsten Biographien: Malachi H. Hacohen, Karl Popper. The Formative Years 1902 – 1945. Politics and Philosophy in Interwar Vienna, Cambridge–New York u.a.: Cambridge University Press 2000, und Michael Nedo, Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album, München: Beck-Verlag 2012.
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noch keine Ausbildungsmöglichkeiten bis hin zum Doktorat und zur Habilitation eröffnet hatte, hin zu einem universitären Fach unter anderen, wie wir sie in der Gegenwart antreffen; 2) im Zuge damit die Auffächerung und spätere Ausgliederung von Teildisziplinen aus ihrem Bestand (wie der Psychologie und der Pädagogik). Was die Charakteristika der Wiener Philosophie betrifft, wegen deren sie national und darüber hinaus international bekannt wurde und bis heute in der Diskussion bleibt, ist zu erinnern an: 3) Franz Brentano und die von ihm seit seiner Berufung im Jahre 1874 aufgebaute Schule der Phänomenologie, 4) Ernst Mach als Pionier der Wissenschaftsphilosophie und Vorläufer des Wiener Kreises sowie 5) Moritz Schlick und den um ihn sich schnell nach seiner Berufung im Jahre 1922 entstehenden Wiener Kreis des Logischen Empirismus. Einige Autoren haben in den Lehren dieser Gruppen – meist im Rückblick – sozusagen die Brennpunkte einer »typisch österreichischen Philosophie« gesehen.2 Ob diese These zutrifft, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, sondern muss späteren Publikationen vorbehalten bleiben.3 Wenn man anhand der vorhandenen Akten4 untersucht, wie es jeweils zu den genannten Berufungen und anschließenden Schulenbildungen kam, wird man feststellen müssen, dass es sich dabei jeweils um Konstellationen gehandelt hat, die sich ganz außergewöhnlichen Zeitumständen verdanken und die wenige Jahre später schon nicht mehr möglich gewesen wären. Deshalb wird hier der Kontext dieser Berufungen etwas ausführlicher dargestellt und analysiert.
2 So Otto Neurath, Le d¦veloppement du Cercle de Vienne et l’avenir de l’Êmpirisme logique (1936), deutsche Übersetzung: Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Band 2, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981, 673 – 709, und Rudolf Haller, Österreichische Philosophie, in: Conceptus XI (1977) 28 – 30, 57 – 66. 3 Siehe dazu Hans-Joachim Dahms, Der Neubeginn des philosophischen Lebens in Wien im Jahre 1922: Die Berufungen von Moritz Schlick, Karl Bühler und Robert Reininger, in: Janette Friedrich/Friedrich Stadler (Hg.), Karl Bühlers ›Krise der Psychologie‹ (1927). Positionen, Bezüge und Kontroversen im Wien der 1920er und 1930er Jahre, Dordrecht: Springer 2015 (im Erscheinen). 4 Es handelt sich um die Personal- und Berufungsakten im Archiv der Universität Wien (AUW) sowie im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) in Wien, letztere im Allgemeinen Verwaltungsarchiv (AVA)/Archiv der Republik, Bestand Unterricht, Unterrichtsministerium 1848 – 1940 (UMin.), 4 Cl.Phil.
Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart
1.
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Zur Entwicklung des Faches Philosophie im Rahmen der Philosophischen Fakultät seit der Gründung der Universität von 1365 bis 1848
Die Philosophische Fakultät als »Artistenfakultät« hatte seit Gründung der Universität Wien im Vergleich zu den anderen Fakultäten eine untergeordnete Rolle gespielt und blieb bis 1848 durch die Religion und/oder die Staatsmacht dominiert.5 Bis 1848 stellte das erfolgreiche Studium in der Artistenfakultät die Voraussetzung für jedes weitere Studium an den übrigen drei Fakultäten dar. Das Fach Philosophie umfasste die Bereiche der Dialektik, Logik, Physik, Ethik und Metaphysik, wobei vor allem in der Tradition des Aristoteles vorgetragen und diskutiert wurde.6 Daneben wurde die Philosophie natürlich auch an der Theologischen Fakultät im Sinne der mittelalterlichen Scholastik (nach Petrus Lombardus, Thomas von Aquin, Duns Scotus) zur Klärung der Beziehung von Glauben und Vernunft zwischen Einheit und Zweiheit gelehrt. In der Zeit des aufkommenden Humanismus sind zusätzlich Vorlesungen in Latein, Griechisch und Hebräisch unter Berücksichtigung der Poetik angeboten worden, was zu einem Aufschwung auch der Philosophischen Fakultät ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts führen sollte. Unter Ferdinand I. wurden 1519 vier philosophische Disziplinen (Dialektik, Logik, Ethik, Physik) festgelegt und die aristotelische Tradition gefestigt. Im Zuge der Gegenreformation installierten die Habsburger 1623 den Orden der Jesuiten zur Leitung der theologischen und philosophischen Studien, die ohne Lehrbücher vortrugen, was bis 1772 (Aufhebung des Jesuitenordens) schließlich in eine Verschulung samt einem damit verbundenen geistigen Stillstand nicht nur in der Philosophie führen sollte. Erst 1752 erfolgte ein Reformversuch mit einer Ausweitung des aristotelischen Kanons und einer Art aufbauendem Proto-Curriculum mit Logik und Dialektik, Physik und Ethik mit einer langen Studiendauer als Voraussetzung für jedes weitere Studium. Das Fach Philosophie war jedoch nur mit einer Lehrkanzel (für Logik, Metaphysik und Ethik) vertreten. Allerdings war die Philosophie verpflichtend für alle Hörer, wobei trotz Reduzierung der Aristoteles-Lektüre keine Erweiterung des Kanons erfolgte. Im Wesentlichen wurden vor 1848 zwei Kurse mit Logik und empirischer Psychologie bzw. Metaphysik angeboten: von Samuel Karpe (über Leibniz und Wolff im christlichen Kontext) und Franz Hammer (mit Cicero-Rezeption). Anfang des 19. Jahrhunderts las Franz Xaver Wilde theoretische und praktische Philosophie – eine Einteilung, die bis heute international 5 Einen deskriptiven Überblick liefert die Dissertation von Alfred R. Wieser, Die Geschichte des Faches Philosophie an der Universität Wien 1848 – 1938, phil. Diss., Wien 1950. 6 Als Übersicht für das Folgende: ebd.
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mehr oder weniger stark präsent geblieben ist. Im Jahre 1816 übernahm Leopold Rembold die einzige Lehrkanzel und las sowohl über Kant als auch über Herbart, was für die weitere Entwicklung des Faches und der Fakultät prägend werden sollte. Denn sowohl die Stellung zu Kant wie auch die wichtige Rolle Herbarts im österreichischen Bildungswesen sind entscheidende Faktoren für die Frage nach einer spezifisch österreichischen Philosophie.7 Hier begegnet uns auch bereits der Dualismus von »reiner« und »angewandter« Philosophie auf der Basis des Lehrbuchs von Josef C.L. Likawetz. Entscheidend wurde die Vertretung von Rembolds Lehrkanzel ab 1826 durch den späteren Prager Philosophieprofessor Franz Exner, bis ab 1832 Johann Peithner von Lichtenfels allein die Philosophie vertrat, der auch seine eigenen Lehrbücher der Philosophie, Logik, Psychologie, Metaphysik und Moralphilosophie in die Lehre mit einbezog. Seit 1808 wurden parallel auch Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie und Ästhetik angeboten. Mit der staatlichen Universitätsreform von Thun-Hohenstein, stark inspiriert durch die Philosophie von Bernard Bolzano und seinem Schülerkreis, erfolgte nach der gescheiterten Revolution von 1848 schließlich die entscheidende Neuorganisation des Schul- und Unterrichtswesens mit weitreichenden Folgen für das Fach und die Philosophische Fakultät mit Ausdifferenzierung durch neue Disziplinen.8
2.
Die Philosophie in der Zeit der Monarchie – von der Bildungsreform 1848/49 bis 1918
Aufwertung und Professionalisierung des Fachs Philosophie Zeitgleich mit der Gymnasialreform durch Einführung und Aufwertung des propädeutischen philosophischen Einführungsunterrichts in der Sekundarstufe der Gymnasien wurde die universitäre Philosophie zu einer gleichwertigen wissenschaftlichen Disziplin neben den anderen Fächern. Damit etablierte sich 7 Zur Rolle Herbarts in Österreich: Carole Maign¦/C¦line Trautmann-Waller (Hg.), Formalismes Esth¦tiques et H¦ritage Herbartien. Vienne, Prague, Moscou, Hildesheim–Zürich–New York: Olms 2009; Carole Maign¦, Johann Friedrich Herbart, Paris: Berlin 2007. 8 Zur Unterrichtsreform 1848/49: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1962; Dazu: Kurt Mühlberger, Das »Antlitz« der Wiener Philosophischen Fakultät in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts. Struktur und personelle Erneuerung, in: Johannes Seidl (Hg.), Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession, Göttingen: V& R unipress 2009, 67 – 102.
Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart
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auch die Philosophische Fakultät neben den drei übrigen Fakultäten der Volluniversität.9 Der erste Reformentwurf von Franz Exner wurde von dem aus Preußen geholten Gymnasialprofessor und als Aristotelesspezialisten bekannten Hermann Bonitz, der in Wien zum Ordinarius für klassische Philologie avancierte, überarbeitet und durch den Minister für Cultus und Unterricht Leo von Thun-Hohenstein 1849 genehmigt. Neben der Säkularisierung der Gymnasiallehrer im selben Jahr konnte an der Universität durch die neu ausgesprochene Lehr- und Lernfreiheit auch eine Professionalisierung durch eine Habilitationsordnung für Privatdozenten eingeleitet werden. Dazu zählte später auch die Einführung des philosophischen Doktorates im Jahre 1872 mit der Anforderung von Dissertationen für den Abschluss des Studiums in der Philosophie und in den übrigen Fächern der Fakultät, zuzüglich zu den vorher schon obligaten Rigorosen für die wenigen Doktoranden in der Philosophie.10 Das erste Ordinariat mit Vorlesungen über Rechtsphilosophie, praktische Philosophie und Geschichte der Philosophie hatte weiterhin Johann Peithner bis 1860 inne. Eine zweite neue Lehrkanzel wurde 1849 mit Franz Karl Lott besetzt, der in seinen Vorlesungen über praktische Philosophie und Psychologie bis 1872 im Sinne Herbarts wirken sollte. Lott war 1838 als Student zu Herbart gekommen, ein Jahr nach dem Protest der »Göttinger Sieben« gegen die Abschaffung der Verfassung und die folgende Entlassung der Protestierenden durch den hannoverschen König. Herbart war der Wortführer einer kleinen Minderheit an der Universität gewesen, die die Handlungsweise des Herrschers öffentlich gut geheißen und sich damit politisch als obrigkeitskonform positioniert hatte. Dagegen war die Lehre Kants in Österreich schon seit Ende des 18. Jahrhunderts von staatlicher Seite als subversiv zurückgedrängt worden. Herbarts Schüler Lott war in Göttingen schon zum ao. Prof. aufgestiegen. Mit dem ergänzenden Angebot für Pädagogik und für Lehramtskandidaten stärkte er in Wien seit 1848 aber schulreformerische Ambitionen. Eine dritte Lehrkanzel wurde erst 1857 geschaffen und mit dem aus Innsbruck berufenen Philosophiehistoriker Georg Schenach besetzt, der sie aber nur zwei Jahre innehaben sollte. Es sei hier vorweggenommen, dass diese dritte Lehrkanzel über dreißig Jahre vakant blieb und erst 1895 durch den Physiker und Naturphilosophen Ernst Mach (1895 – 1901) übernommen wurde.11
9 Zur Errichtung und Entwicklung der Philosophischen Fakultät vgl. Richard Meister, Das Werden der philosophischen Fakultät, Wien–Leipzig: Hölder-Pichler-Tempsky 1937. Die Aufwertung der Philosophie wurde sicherlich durch den stärker werdenden politischen Liberalismus gefördert. 10 Richard Meister, Geschichte des Doktorates der Philosophie an der Universität Wien, Wien: Rohrer 1958. 11 Eine gute Übersicht zu den Lehrkanzeln der Philosophie, Pädagogik und Psychologie in:
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Daneben konnte sich in der Zeit von 1848 bis 1918 eine Reihe von Privatdozenten habilitieren, die mehr oder weniger stark den Lehrbetrieb mit bestimmten, z. B. Carl Sigmund Barach-Rappaport (1861 – 1870) und Theodor Vogt. Letzterer habilitierte sich 1865 als erster in Wien explizit auch für Pädagogik und erhielt zusätzlich 1868 die venia docendi für Philosophie. Im Jahre 1871 wurde er zum außerordentlichen Professor (ao. Prof.) ernannt und gründete auch das »Pädagogische Seminar«. Diese Entwicklung in der Pädagogik, welche bis in die Zwischenkriegszeit mit der Philosophie zusammenhängt, wurde mit der Habilitation von Alois Höfler 1895, Ordinarius von 1907 – 1922, verstärkt fortgesetzt. Dieser war im Rahmen der »Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien« als deren Mitbegründer und Vorsitzender führend tätig.12 Außerdem war er auch für die fächerübergreifende Forschung und Lehre inkl. experimenteller Psychologie, speziell für den in Österreich typischen Fachbereich »Philosophischer Einführungsunterricht« (Philosophie-Psychologie-Pädagogik) maßgeblich verantwortlich, welcher als verpflichtendes Unterrichtsfach seit 1848/49 an der Oberstufe der Gymnasien bis heute präsent ist.13 Mit der Berufung von Robert Zimmermann (1861 – 1896) als Nachfolger Peithners wurde jedenfalls die Tradition von Bolzano und Herbart weiter geführt und eine Entwicklung mit stark österreichischer Identitätsbildung forciert.14 Schließlich wurde mit dem deutschen Franz Brentano in der Nachfolge Lotts ab 1874 ein weiteres Kapitel österreichischer Philosophie als Alternative zum deutschen Idealismus aufgeschlagen.15 Er wirkte als Ordinarius trotz seiner kurzen Tätigkeit aufgrund einer unterbrochenen Karriere von 1874 bis 1880 für eine aristotelisch orientierte wissenschaftliche Philosophie Schulen bildend.
12 13 14
15
Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts, Wien: WUV-Universitätsverlag 1995, 338 ff. Zur Geschichte der Gesellschaft vgl. Denis Fisette, L’histoire de la philosophie autrichiennes et ses institutions: Remarques sur la Soci¦t¦ philosophique de l’Universit¦ de Vienne (1888 – 1938), in: Philosophiques 38 (2011), 71 – 101. Zur Pädagogik vgl. auch Richard Olechowski in Band IV dieser Reihe. Zur Rolle Höflers: Thomas Uebel, Vernunftkritik und Wissenschaft. Otto Neurath und der erste Wiener Kreis, Wien–New York: Springer 2000. Zu Leben und Werk von Zimmermann: Kurt Blaukopf, Von der Ästhetik zur »Zweigwissenschaft«. Robert Zimmermann als Vorläufer des Wiener Kreises, in: Martin Seiler/ Friedrich Stadler (Hg.), Kunst, Kunsttheorie und Kunstforschung im wissenschaftlichen Diskurs. In memoriam Kurt Blaukopf (1914 – 1999), Wien: ÖBV& HPT 2000, 35 – 46. Über Brentano: Barry Smith, Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Chicago, Illinois: Open Court Publications 1994.
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Franz Brentano und seine Schule Die erste Phase des Berichtszeitraums wurde durch die Philosophie Johann Friedrich Herbarts dominiert, dessen Anhänger Robert Zimmermann und Franz Lott beide Lehrstühle besetzen konnten. Im Jahre 1872 kam es aus Gesundheitsgründen zur Emeritierung Lotts. In den folgenden Beratungen der Wiener Berufungskommission wurden mehrere Listen beschlossen.16 Auf der letzten vom 18. Juni 1873, die vor der anschließenden Besetzung der Stelle verabschiedet worden war, wurde an erster Stelle der als Verfasser einer »Geschichte des Materialismus« bekannt gewordene Marburger Mitbegründer des Neukantianismus17 Friedrich Albert Lange und an zweiter Stelle der (damalige) Göttinger Carl Stumpf genannt, der sich später als einer der Begründer der empirischen Psychologie und als Pionier der empirischen Musikforschung einen Namen machte. Viele dieser Listen scheinen daran gescheitert zu sein, dass sich keiner der Genannten (soweit sie überhaupt gefragt wurden) dazu entschließen konnte, nach Wien zu kommen, weil dies mit materiellen Einbußen verbunden gewesen wäre. Statt nun weitere – womöglich ähnlich aussichtslose – Vorschläge der Universität abzuwarten, entschloss sich der Cultusminister Karl von Stremayr kurzerhand zu einem außergewöhnlichen Schritt: er berief den 38-jährigen Würzburger Privatgelehrten Franz Brentano. Dieser Ruf war deshalb ungewöhnlich, weil Brentano – obwohl als Priester geweiht und Mitglied des Dominikanerordens – als bekennender Gegner des am 18. Juli 1869 verkündeten päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas bekannt war. Er hatte sogar im Auftrag der deutschen Bischöfe ein (negatives) Gutachten zum Dogma verfasst, in dem er unter anderem die historischen Fehlurteile von Päpsten aufzählte und am Schluss auf die Inopportunität des Dogmas hinwies.18 Als die nordeuropäischen Kardinäle aber der Mehrheit der südeuropäischen und lateinamerikanischen in der Abstimmung unterlagen, hatten sich die Kleriker wohl oder übel fügen müssen. Brentano dagegen hatte im Protest den Orden verlassen und auch seine Stellung an der Universität Würzburg aufgegeben. Wie kam es dann dazu, dass ein abtrünnig Gewordener an die noch bis zur Kündigung des Konkordats in der 16 Seiler erwähnt eine frühere Liste, auf denen noch die beiden Herbartianer Ludwig Strümpell und Julius Baumann (Göttingen) genannt werden, sowie Wilhelm Dilthey (Breslau). Martin Seiler, Un »Manifeste de la philosophie autrichienne«. La nomination du philosophe Robert Zimmermann l’universit¦ de Vienne (1860/61), in: Maign¦/Trautmann-Waller (Hg.), Formalismes, 70. 17 Siehe dazu Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, 233 ff. 18 Siehe dazu die auf Aufzeichnungen Franz Brentanos beruhende Darstellung des Vorgangs in den Memoiren seines Bruders Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena: E. Diederichs 1931, 56 ff.
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liberalen Ära an den Katholizismus gebundene Wiener Universität im katholischen Österreich berufen wurde? Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass die Philosophische Fakultät schon seit einiger Zeit nicht mehr gewillt war, ihre Personalauswahl nach konfessionellen Kriterien zu treffen.19 Sodann waren aktuell nicht nur die deutschen, sondern auch die österreichischen Bischöfe Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas gewesen. Ferner hatte der liberale Cultusminister die Gelegenheit ergriffen, nach der Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas sozusagen wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage das Konkordat mit der katholischen Kirche 1870 aufzukündigen und kurz danach auch die Wissenschaftsfreiheit, insbesondere auch die Entkonfessionalisierung der Hochschulen, einzuführen. Trotz dieser stark veränderten Situation konnte die Berufung Brentanos nur gelingen, weil Stremayr nicht nur die Universität gänzlich überging, sondern auch dem Kaiser eine sozusagen mundgerechte Vorlage unterbreitete, aus der hier wegen ihrer großen Bedeutung für die Entwicklung an der Universität Wien im 19. Jahrhundert auszugsweise zitiert werden soll.20 Zunächst einmal bemerkte Stremayr, dass als einziger k.k. Staatsbürger der Prager Professor (und Herbartianer) Wilhelm Fridolin Volkmann in Frage gekommen wäre, den man aber offenbar nicht aus seiner Wirkungsstätte reißen wollte. Andere Möglichkeiten seien hauptsächlich nicht zum Zuge gekommen, weil sie bei einer Berufung materielle Verluste hätten in Kauf nehmen müssen. In dieser Lage hätte der Göttinger Professor Hermann Lotze, der »derzeit als der erste Vertreter der Philosophie an den deutschen Universitäten gilt«, ihn darauf aufmerksam gemacht, dass Franz Brentano einem Ruf freudig folgen und sich dabei wegen seiner gefestigten materiellen Lebensumstände auch mit bescheidenen »listenmäßigen« Bezügen zufrieden geben würde. Wie Lotze hier ins Spiel kam, bedarf weiterer Klärung.21 Brentano selbst wird im Brief Stremayrs zunächst als »Weltpriester« und »aus der bekannten katholischen Patrizierfamilie dieses Namens« aus Frankfurt am
19 Eine gute Übersicht über die verwickelte Lage im Verhältnis Staat/Kirche/Universität bringt Blaukopf, Von der Ästhetik zur »Zweigwissenschaft«. 20 Die folgenden Zitate sind der Personalakte Brentano entnommen (ÖStA, AVA, UMin., Universität Wien, Philosophie, Professoren BI-BR (Bibl-Brunswik), Ktn. 664, Sign. 4). Der Brief Stremayrs an den Kaiser ist auf den 14. 1. 1874 datiert. Im Wiener Universitätsarchiv sind Brentano betreffende Akten offenbar verloren gegangen. Die Fakultätsakte »Brentano, Franz« enthält keinerlei Material zu seiner Berufung und Anstellung als Ordinarius, sondern betrifft nur die spätere Zeit, als er beantragte, als Privatdozent zugelassen zu werden. 21 Lott war in seiner Göttinger Zeit Kollege von Lotze gewesen war und könnte den Kontakt geknüpft haben. Wahrscheinlicher ist aber, dass Lotze von Carl Stumpf, den Brentano noch als Schüler 1867 zu Lotze geschickt hatte (so Mitchell Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890 – 1967, Cambridge–New York: Cambridge University Press u. a. 1998, 29) von Brentanos Lage unterrichtet war.
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Main stammend vorgestellt. Sein Weggang von der Universität Würzburg wird dann so geschildert: »[…] im März 1873 veranlaßten ihn persönliche Verhältnisse, welche seinen lehramtlichen Wirkungskreis zu schmälern drohten, um die Enthebung von der Professor zu ersuchen, welche ihm von der k. bairischen Regierung unter ausdrücklicher Anerkennung seiner ausgezeichneten Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaft, wie als Lehrer bewilligt wurde«.22
Brentano würde sich in Zukunft »jeder politischen Thätigkeit ganz ferne« halten und sein Leben »nur der Wissenschaft« widmen. Schließlich würde ihm, der »sich aber nach Wiederaufnahme der lehramtlichen Thätigkeit sehnt, durch die Berufung an die Wiener Universität ein großer Dienst geleistet […], da er als katholischer Priester, insbesondere unter den gegenwärtigen Verhältnissen an den norddeutschen Universitäten, keine Stellung finden kann.«23 Brentano wurde also fast als Asylant beschrieben, weil er in Deutschland mit Diskriminierung zu rechnen habe. Der Kaiser ließ sich durch Stremayrs Eingabe beeindrucken: Brentano wurde am 14. Januar 1874 zum Professor ernannt und begann sein Amt in Wien am 22. April 1874 mit seiner berühmten Antrittsrede »Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischen Gebiete«.24 Darin nahm er zunächst nüchtern eine Bestandsaufnahme der Ursachen für den Verfall des Prestiges der Philosophie vor (wie die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitverbreitete Neigung zur spekulativen Systemphilosophie oder auch den Mangel, praktisch zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beizutragen). Dann jedoch machte er deutlich, dass kein Grund zur Resignation vorhanden sei: wenn die Philosophie sich nur – wie die geduldig schrittweise vorgehenden und ab eines gewissen Reifegrades auch praktisch relevant werdenden Naturwissenschaften – als Wissenschaft begreifen und entsprechend arbeiten wollte, hätte sie vielmehr eine große Zukunft vor sich.25 Welches Profil hatte Franz Brentano nun als Wissenschaftler? Er hatte sich mit seinen Qualifikationsarbeiten zur Promotion und Habilitation als Aristoteles-Spezialist ausgewiesen. Seine Dissertation »Von der mannigfachen Bedeutung des Seins nach Aristoteles«, also eine Interpretation von Aristoteles’ Metaphysik, beeindruckte selbst den jungen Heidegger und gilt noch heutzutage 22 Kursive Hervorhebung von Dahms. 23 Ebd. Hervorhebung von Dahms. 24 Franz Brentano, Über die Gründe der Entmutigung auf Philosophischem Gebiete (Wiener Antrittsrede am 22. April 1874), in: ders., Über die Zukunft der Philosophie, hg. von O. Kraus, Leipzig: F. Meiner 1929, 85 – 100. 25 Dabei hatte er allerdings vor allem jene Teildisziplinen im Auge, die sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte allmählich von der Philosophie abnabeln sollten: die empirische Psychologie und die Soziologie.
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als Standardwerk.26 Brentanos Habilitationsschrift befasste sich mit der »Psychologie des Aristoteles«.27 Sie erleichterte ihm in Wien den Einstieg in die Lehrwie auch die Publikationstätigkeit. Denn sein berühmtestes Buch ist seine »Empirische Psychologie«.28 Für seine Tätigkeit in Wien führte Brentano sich beim Minister mit einem 12seitigen Memorandum ein, in dem er Vorschläge für eine Reform des philosophischen Unterrichts unterbreitete. Wie Brentano sich später erinnerte,29 fand er bei seinen ersten Diskussionen mit Wiener Studenten die Auffassung vor, die Philosophie habe sich mehr oder weniger erledigt: sie sei entweder in den einzelnen positiven Wissenschaften und insbesondere deren Grundlagenproblemen aufgegangen oder habe sich in metaphysischen Spekulationen verirrt,30 ein Standpunkt, wie er später dann im Wiener Kreis wieder auftauchte.31 Dagegen setzte sich Brentano allerdings vehement zur Wehr. Ohne Zweifel ist die erwähnte »Psychologie vom empirischen Standpunkt«, die ab 1874 in drei Bänden erschien, als Brentanos Hauptwerk anzusprechen. Dabei darf man sich vom Titel des Werks nicht täuschen lassen: wenn Brentano vom »empirischen Standpunkt« spricht und auch (schon in seinen Habilitationsthesen) forderte, man müsse Philosophie so exakt wie die empirischen Wissenschaften betreiben, so versteht er unter »empirischer Psychologie« nicht nur jene experimentelle, die sich in Deutschland mit den Zentren in Leipzig (um Wilhelm Wundt), Würzburg (mit Oskar Külpe) und Göttingen (mit Georg Elias Müller) gegründet hatte.32 Denn Brentano wollte außer den empirischen Verfahren im engeren Sinne auch die Introspektion als legitimen Zugang zu seelischen Phänomenen zulassen. Am besten bekannt – und nach wie vor umstritten – ist Brentanos Lehrstück aus seiner Psychologie, das den Unterschied von 26 Michael Frede/Günther Patzig (Hg.), Aristoteles »Metaphysik Z«: Text, Übersetzung und Kommentar, 2 Bände, München: C.H. Beck 1988. 27 Franz Brentano, Die Psychologie des Aristoteles (1867), Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967; außer diesen Schriften über Aristoteles werden von Stremayr noch eine Reihe weiterer Veröffentlichungen genannt, die Brentanos weiten Horizont – auch jenseits der klassischen griechischen Philosophie – und eine schon bis in den englischen Sprachbereich reichende Wirkung belegen. 28 Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Leipzig: Duncker & Humblot 1874. 29 Franz Brentano, Meine letzten Wünsche für Österreich, in: Neue Freie Presse, 2./5./ 8. 12. 1894. 30 Siehe zu diesen Frontstellungen Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848 – 1938, Bielefeld: Transcript-Verlag 2010, Kapitel 3. 31 Siehe unten Abschnitt 3. 32 Für genaue Angaben dazu siehe Ulfried Geuter (Hg.), Daten zur Geschichte der deutschen Psychologie, Band 1: Psychologische Institute, Fachgesellschaften, Fachzeitschriften und Serien, Biographien, Emigranten 1879 – 1945, Göttingen–Toronto–Zürich: Verlag für Psychologie Hogrefe 1986.
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psychischen und physischen Gebilden und Phänomenen mit einem Kriterium festhalten will. Es handelt sich um die Intentionalität, jene Zielgerichtetheit, die den psychologischen Akten zukomme und physikalischen abgehe.33 Daran ist kritisiert worden, dass erstens wohl nicht allen psychischen Phänomenen Intentionalität innewohnt und zweitens vielleicht auch bei den Phänomenen, bei denen das der Fall ist, diese Intentionalität physikalistisch erklärt werden kann. Wie anfangs angedeutet, dauerte eine ungestörte und uneingeschränkte Tätigkeit Brentanos aber nur sechs Jahre an. Im Jahre 1880 hatte er sich entschlossen, der Kirche ganz den Rücken zu kehren und zu heiraten. Das war nach österreichischem Recht nicht möglich. Also verzichtete er auf die österreichische Staatsbürgerschaft, nahm die sächsische an und heiratete die jüdische Bankierstochter Ida von Lieben. Die Folgen an der Wiener Universität waren für ihn fatal: er hatte angenommen, dass sein Antrag auf Rückstufung auf die Stellung eines Privatdozenten (er musste sogar erneut ein Habilitationsverfahren durchlaufen, wobei ihm aber die Ablieferung einer weiteren Habilitationsschrift erlassen wurde34) nur vorübergehender Natur sein würde. Aber obwohl sich die Fakultät, statt den Lehrstuhl mit jemand anderem zu besetzen, jahrelang um Brentanos Rehabilitation bemühte, blieb es dabei: er kam nie wieder über die Privatdozentur hinaus und konnte deswegen selbst auch keine Schüler mehr promovieren. Sein Plan, in Wien ein psychologisches Institut zu gründen, wie man ihm anscheinend versprochen hatte, wurde ignoriert.35 Trotz dieser empfindlichen Einschränkung seiner Wirksamkeit hatte sich wegen seines Lehrgeschicks und seiner Gabe, auf Studenten zuzugehen, um Brentano bald ein immer größer werdender Schülerkreis gebildet. Dazu gehörte eine ganze Reihe von Doktoranden, die dann selbst andernorts wiederum Schulen gründeten. In den Grenzen des österreichischen Kaiserreichs seien besonders die Grazer Schule der Gegenstandstheorie um Alexius Meinong erwähnt sowie der Prager Ableger der Brentano-Schule um Oskar Kraus und Alfred Kastil.36 Auch der spätere tschechoslowakische Präsident Thomas G. Masaryk war Student bei Brentano gewesen.37 In Polen ist an den Kreis um Kazimierz 33 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 124. 34 Siehe zu diesem Vorgang die genannte Fakultätsakte »Brentano, Franz«. AUW, Philosophische Fakultät. 35 Brentano, Letzte Wünsche für Österreich. 36 Siehe die Schrift Zur Philosophie der Gegenwart, die 1934 von der Prager Brentano-Gesellschaft aus Anlass des 8. Internationalen Philosophen-Kongresses in Prag herausgegeben wurde (Oskar Engländer (Hg.), Zur Philosophie der Gegenwart. Vorträge und Reden anlässlich des 8. Internationalen Philosophenkongresses in Prag, gehalten von Mitgliedern der Brentano-Gesellschaft, Prag: Calve 1934). Bei diesem Kongress wurden auch Grußadressen der Brentano-Schüler Masaryk und Husserl verlesen. 37 Die Wirksamkeit der verschiedenen Brentano-Schulen machte sich noch besonders beim
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Twardowski zu erinnern, aus dem eine Reihe von berühmten Logikern hervorging.38 In Deutschland konnte der – aus Böhmen gebürtige – BrentanoSchüler Edmund Husserl auf Betreiben des berühmten Mathematikers David Hilbert in Göttingen Fuß fassen und dort 1911 die Schule der Phänomenologie begründen, ehe er seine Tätigkeit ab 1916 als Ordinarius in Freiburg in noch größerem Maßstab fortsetzen konnte. Es ist hier nicht der Ort, um all diese Entwicklungen39 und insbesondere die partiellen Unterschiede zwischen den Lehren Brentanos und seiner Schüler und auch die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen zu schildern, die von diesen ausgegangen sind. Als Brentano 1896 sein Wirken in Wien beendete, zog er in seinen »letzten Wünschen für Österreich« eine – teilweise recht bittere – Bilanz seiner Wiener Tätigkeit.40 Insbesondere ging er noch einmal auf den Konflikt mit den klerikalen Kreisen wegen seiner erzwungenen Aufgabe des Lehrstuhls ein. Aber auch die Weigerung des Unterrichtsministeriums, trotz entsprechender Zusagen ein psychologisches Institut in Wien einzurichten, nimmt breiten Raum ein. Es sollte noch fast drei Jahrzehnte dauern, bis es zur Etablierung eines solchen Instituts in Wien kam. Es dauerte sogar bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ehe man Brentano durch die Aufstellung einer Büste im Arkadenhof des Universitätshauptgebäudes die längst überfällige akademische Ehrung für seine Verdienste zuteil werden ließ.41
Umbruch nach 1895 Eine entscheidende Phase für die Entwicklung des Faches Philosophie an der Universität Wien bildeten die Jahre 1895/96. Zunächst wurde im Jahre 1895 Ernst Mach – nach Professuren in Graz und Prag – auf einen der drei vakanten Lehrstühle nach Wien berufen, der eigens für ihn die Denomination »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften«
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Internationalen Philosophenkongress 1934 in Prag geltend. Siehe in den Kongressakten besonders die Beiträge von Edmund Husserl, Roman Ingarden und Felix Kaufmann. Siehe zu Twardowski: Anna Brozek, Kazimierz Twardowski. Die Wiener Jahre, Wien–New York: Springer-Verlag 2011. Siehe dazu Hans Rainer Sepp (Hg.), Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung. Zeugnisse in Text und Bild, Freiburg–München: Alber 1988, und Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, 3rd revised and enlarged edition, Dordrecht–Boston–London: Springer 1994; Denis Fisette (Montreal) und Guillaume Frechette (Salzburg) planen eine wissenschaftliche Brentano-Biographie. Brentano, Letzte Wünsche für Österreich. Dieser Akt war schon 1938 geplant gewesen, wurde aber wegen des »Anschlusses« Österreichs an das Dritte Reich abgesetzt, ehe es 1951 zur Realisierung kam. Siehe dazu die genannte Akte »Brentano, Franz«. AUW, Philosophische Fakultät.
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erhielt.42 Das besondere dieser Ernennung bestand darin, dass hier erstmalig – und in Österreich wohl einmalig – ein Professor für Physik und Mathematik einen philosophischen Lehrstuhl übernahm. Dies wurde u. a. auch dadurch möglich, dass in der österreichischen Reichshälfte der k.u.k. Monarchie nach dem Sturz der Regierung Taaffe 1893 eine Koalition der so genannten Vereinigten Linken (Deutschliberale, Vereinigte Fortschrittspartei, Deutschkonservative) unter Ministerpräsident Alfred Windischgrätz und dem polnischen Cultus-Minister Stanislaus Madeyski-Poraj regierte – eine Regierung, die schon einen Monat nach der Berufung Machs wieder gestürzt wurde. Die Initiative auf universitärer Seite ging von dem angesehenen liberalen Altphilologen Theodor Gomperz aus. Erste Besetzungsvorschläge mit Carl Stumpf, sowie mit Anton Marty, Friedrich Jodl und Wilhelm Windelband waren vom Ministerium abgelehnt worden. Daraufhin kontaktierte Gomperz auf Anraten seines Sohnes, des Philosophiestudenten Heinrich Gomperz, Mach persönlich.43 Der Besetzungsvorschlag mit Mach erfolgte schließlich nahezu einstimmig. Obwohl Mach drei Jahre nach dieser Berufung einen Schlaganfall erlitt und im Jahre 1901 sein Gesuch zur Emeritierung einreichte, entfaltete er auch danach in Wien eine kaum vergleichbare Wirkung, die weit über die Philosophie – in die Natur- und Sozialwissenschaften, sowie in die Literatur und Politik – hinausreichte.44 Er ebnete zugleich den Weg für die Entstehung des Logischen Empirismus und späteren Wiener Kreis, was sich auch in der Benennung des »Verein Ernst Mach« (1928 – 1934) als seines öffentlichen Popularisierungsorgans spiegeln sollte. Ferner kam der Deutsche Friedrich Jodl als Nachfolger Zimmermanns nach Wien, wo er von 1896 bis 1914 die erste Lehrkanzel bekleidete. Er ist durch eine mehrbändige Geschichte der Ethik hervorgetreten und hat sich außeruniversitär als Pionier der Wiener Volksbildung engagiert und sich führend in der Ethischen Gesellschaft und im Österreichischen Monistenbund beteiligt. Im gleichen Jahr wurde der katholische Gelehrte Laurenz Müllner (1896 – 1911) auf die wiedererrichtete Professur von Brentano berufen, womit mit kurzer Unterbrechung drei Ordinariate der Philosophie im Wesentlichen bis zum Ausbruch des Ersten 42 Siehe zu dieser Berufung Josef Mayerhöfer, Ernst Machs Berufung an die Wiener Universität 1895, in: Symposium aus Anlaß des 50. Todestages von Ernst Mach, hg. vom Ernst MachInstitut, Freiburg: Ernst-Mach-Institut 1967, 12 – 25, und John Blackmore, Ernst Mach. His Work, Life, Influence, Berkeley–Los Angeles–New York: University of California Press 1972, 45 – 163. 43 Briefwechsel Theodor Gomperz und Ernst Mach 1894, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1988, 215 – 219. 44 Friedrich Stadler, Vom Positivismus zur »Wissenschaftlichen Weltauffassung«. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934, Wien–München: Löcker 1982, und Haller/Stadler, Ernst Mach.
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Weltkriegs aktiv waren. 1912 wurde der Lehrstuhl von Müllner in zwei Extraordinariate umgewandelt, die mit Robert Reininger und von 1913 bis 1914 mit dem Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster besetzt wurden. Der nächste entscheidende Schritt sollte dann erst im Jahre 1922 erfolgen.45 Zusammenfassend können wir folgende Trends im 19. Jahrhundert erkennen: (1) eine vorwiegend antiidealistische, bereits sprachkritische Philosophie, die weltanschaulich zwischen katholischer und sozialliberaler Aufklärung eingebettet ist. In der ersten Phase dominieren Herbart, Bolzano und auch Kant, in der zweiten Phase, vermittelt durch Zimmermann, die von Brentano ausgehende empirische Philosophie und Psychologie mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Exaktheit: das objektivistisch-phänomenologische Paradigma; schließlich setzt sich in der letzten Phase das positivistisch-antimetaphysische Paradigma (Ernst Mach und seine Anhänger) durch, das im Logischen Empirismus der Zwischenkriegszeit kulminiert; (2) ein durchaus vorhandenes Interesse an Kant, das sich außer durch die Nennung Langes als möglicher Nachfolger Lotts und einer Reihe weiterer Philosophen auch durch Vorlesungsthemen und Qualifizierungsarbeiten nachweisen lässt. (3) Gleichzeitig existiert eine philosophische Alternative mit einer metaphysischen Philosophie abseits vom konkreten Forschungsbetrieb. Bei aller Stilisierung und Typisierung derartiger Traditionen und Schulen wird man zugleich den vorhandenen Eklektizismus sowie die Pluralität in einer Gesamtschau genauso wie die interdisziplinären Übergänge und literarischen Bezugsfelder mit berücksichtigen müssen. Trotz aller Vielfalt »österreichischer Philosophie« im Wien der Monarchie kann man mit Carl Siegel46 einen Trend zum Objektivismus und Realismus aus erkenntnistheoretischer und logischer Sicht erkennen. Dagegen konnten sich ein reiner Idealismus oder dialektischer Materialismus sowie auch betont subjektivistische Philosophien kaum durchsetzen. Diese Strömungen werden al45 Zur akademischen Migration in der k.u.k. Monarchie vgl. Jan Surman, Science and its Publics, in: Mitchell Ash (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848 – 1918, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, 30 – 56. Noch in der Zeit der Monarchie erlangten eine Reihe weiterer Philosophen die venia und trugen zum Lehrbetrieb mehr oder weniger bei. Z.B. Richard Wahle (1886, ab 1894 in Czernowitz), Alfred v. Berger (1886, ao. Prof. 1894), Vincenz Knauer (1888), Christian von Ehrenfels (1888, 1896 nach Prag), Emil Reich (1891, ao. Prof.1904), Wilhelm Jerusalem (1891), Josef Klemens Kreibig (1898), Carl Siegel (1904, 1913 nach Czernowitz), Hermann Swoboda (1904), Walther Schmied-Kowarzik (1913), und Viktor Kraft (1914). 46 Carl Siegel, Philosophie, in: Johann Willibald Nagl/Jakob Zeidler/Eduard Castle (Hg.), Deutsch-österreichische Literaturgeschichte, Band III, Wien: Carl Fromme 1930, 17 – 48.
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lerdings verständlicher, wenn sie konkret im Kontext von Schulen, Institutionen und sozialen Bewegungen beschrieben werden.47
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Neubeginn und Aufbruch in der Ersten Republik
Eine zukunftsträchtige Konstellation entsteht Im Jahre 1922 kam es zur Berufung von Moritz Schlick, Karl Bühler und Robert Reininger auf die Lehrstühle für Philosophie in Wien.48 Dabei handelte es sich sicherlich um die bis dahin einschneidendste Weichenstellung in dieser Disziplin seit dem Beginn ihrer Professionalisierung nach 1848. Der philosophische Unterrichtsbetrieb an der Wiener Universität war zuvor durch Todesfälle in ihrem Lehrkörper sowie durch den Ersten Weltkrieg fast vollständig zum Erliegen gekommen. Wie kam es nun zu der Neubesetzung, die einerseits mit Schlick und Bühler zwei Deutsche und mit dem Letztgenannten zudem – nach jahrzehntelangem Stillstand in dieser Angelegenheit – den ersten Direktor eines neuen psychologischen Instituts nach Wien brachte, eine Konstellation, die durch die gleichzeitige Berufung des Wieners Robert Reininger (und 1924 von Heinrich Gomperz) abgerundet wurde? Am 26. Januar 1914 war Friedrich Jodl gestorben.49 Schon kurze Zeit später gab es eine Berufungsliste, deren Bearbeitung schon von der Philosophischen Fakultät angemahnt wurde, ehe der Erste Weltkrieg für einige Jahre einen Strich durch die Rechnung machte. 1917 wurde der Vorgang wieder aufgenommen. Innerhalb weniger Monate lösten sich in rascher Folge Berufungslisten ab, auf denen zahlreiche Namen deutscher Philosophen genannt wurden, deren inhaltliche Ausrichtung ganz im Gegensatz zu jener Konstellation steht, die sich am Ende durchsetzte. Dazu gehörten Angehörige aller gängigen Philosophenschulen wie des Neukantianismus, der Phänomenologie, der Lebensphilosophie 47 Dazu allg.: Richard Meister, Die Geschichte des Faches Philosophie, Vortrag vom 18. November 1927, in: Wissenschaftlicher Jahresbericht der Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien für das Vereinsjahr 1927/28, Wien: Verlag der Philosophischen Gesellschaft 1928, 3 – 13; ders., Das Werden der Philosophischen Fakultät; Wieser, Geschichte des Faches Philosophie; Roger Bauer, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich. Heidelberg: Winter 1966, und die umfangreichen Bände von Michael Benedikt u. a. (Hg.), Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung, VI Bände, Wien: Facultas-WUV 1996 – 2010; Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bände, Wien: PassagenVerlag 1999 – 2006. 48 Siehe zum Folgenden ausführlicher Benetka, Psychologie in Wien, und Dahms, Neubeginn. 49 Siehe für die folgenden Versuche einer Wiederbesetzung seines Lehrstuhls bis 1921 die Akte »Lehrkanzel für Philosophie nach Friedrich Jodl (+ 26. 1. 1914)«. AUW, Philosophische Fakultät, PH S 34.24; weiters die Personalakten Moritz Schlick, Edgar Zilsel, Viktor Kraft, Rudolf Carnap, Karl Menger, Kurt Gödel, Heinrich Gomperz.
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sowie auch einige von solchen Kollektiven unabhängige Gelehrte. Aber erst als am 10. Februar 1921 mit Adolf Stöhr der letzte verbliebene Wiener PhilosophieOrdinarius gestorben war, ging man ernstlich die Aufarbeitung der Vakanzen an. Nun scheinen aber nicht – wie noch im 19. Jahrhundert – außer fachlichen Gesichtspunkten religiöse Kriterien von Gewicht für die Auswahl geworden zu sein, sondern nationale und zwar in diesem Fall solche der Präferenz von »Reichsdeutschen«, wie es in den Universitätsakten verschiedentlich hieß.50 Schon gleich nach Kriegsende, am 9. November 1918 hatte der Dekan der Philosophischen Fakultät (der Geograf Eugen Oberhummer) eine dramatische Rede in seiner Fakultät gehalten und darin u. a. ausgeführt: »Unser Ziel muss es sein im Rahmen des neu erstandenen Staates Deutsch-Österreich und in engem Anschluss an das deutsche Volk, der seit 5 12 Jahrhunderten unentwegt festgehaltenen Aufgabe unserer Alma mater, der deutschen Geisteskultur im Osten ein Hort und ein Führer für die Jugend zu sein, gerecht zu werden, solange es irgendwie die Umstände gestatten.«51
Der Senat der Universität hatte eine einstimmig beschlossene Eingabe zum Anschluss an das Deutsche Reich an das Unterrichtsministerium gesandt.52 Bekanntlich ist daraus wegen des Friedensvertrags von Saint Germain nichts geworden. Es scheint nun, dass die Berufungen in der Philosophie nach Kriegsende darauf hinauslaufen sollten, dieses Verbot auf akademischem Gebiet zu kompensieren. In einer ersten Runde des einsetzenden Berufungskarussells war die Fakultät ein hohes Risiko eingegangen: sie hatte sich einstimmig und unico loco für den Münchener Philosophen und Psychologen Erich Becher ausgesprochen; Becher sollte dann bei der Auswahl seiner Kollegen auf den beiden anderen Lehrstühlen mitreden können. Er war offenbar wegen des breiten Themenspektrums, das er abdecken konnte, gewählt worden: er war sowohl in der empirischen Psychologie ausgewiesen als auch in den neuesten Entwicklungen der modernen Naturwissenschaften bewandert. Von ihm stammt eine der ersten Stellungnahmen eines Philosophen zu den Einstein’schen Relativitätstheorien.53 Becher war auch 50 Siehe etwa den Eintrag in AUW, Protokollbuch der Philosophischen Fakultät 1918 – 1922, Eintrag vom 4. 3. 1922: »Nur im Vertrauen auf die feste Zusage des Ministeriums, die aussichtsvollen Verhandlungen mit Schlick zu günstigem Ergebnis zu führen und auch für die experimentelle Psychologie Vorsorge zu treffen, änderte die Kommission ihren am 21. November gefassten Beschluss ab, erst die Besetzung der beiden anderen Lehrkanzeln mit den vorgeschlagenen Reichsdeutschen abzuwarten, ehe sie Österreicher für die dritte Lehrkanzel in Betracht zöge. Sie kam nunmehr zu dem Ergebnis, einstimmig den Wiener Professor Dr. Robert Reininger für diese Lehrkanzel vorzuschlagen […]«. 51 Siehe Sitzung vom 9. 11. 1918. Ebd. 52 Siehe die Resolution in: Becke (Rektor) an Staatsamt für Unterricht, 5. 2. 1919. ÖStA, AVA, UMin., Zl. 2846/1919. 53 Im Standardwerk von Klaus Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretation der spezi-
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durchaus interessiert, dem Ruf zu folgen, besuchte Wien und hatte danach einen durchaus positiven Eindruck.54 Indes scheiterte die Berufung daran, dass das Ministerium ihm nicht die geforderte Einrichtung eines psychologischen Instituts bereitstellen konnte. In den nachfolgenden Beratungen ging es zunächst darum, ob man weiterhin nur einen Lehrstuhl besetzen sollte oder gleich alle drei. Man entschied sich für letztere Variante.55 Schließlich wurden Listen aufgestellt, auf denen der Kieler Professor Moritz Schlick auf dem ersten Platz der Nachfolge Jodl als Vertreter der theoretischen Philosophie genannt wurde (Alfred Brunswig aus Münster und der in Graz geborene Hans Pichler, der damals einen Lehrstuhl in Greifswald innehatte, aequo loco auf den folgenden Plätzen) und der Marburger Erich Jaensch primo loco als Vertreter der Philosophie und Psychologie (gefolgt von Karl Bühler aus Dresden). Beide primo loco Genannten hatten übrigens im Vorjahr einen Aufruf zur Rettung der Weimarer Republik unterschrieben.56 Das Tableau rundete schließlich – unico loco und ohne Gegenstimmen in der Philosophischen Fakultät – der Wiener Robert Reininger als Vertreter der Geschichte der Philosophie ab. Schlick hatte man gewählt, weil er – der als Schüler Max Plancks in Physik promoviert worden war – die neuesten naturwissenschaftlichen Theorien in seinem Buch »Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik«57 verständlich hatte erklären können, aber auch mit seiner »Allgemeinen Erkenntnislehre« ein allgemeineres Profil gezeigt hatte.58 Er war im Hintergrund – wie schon bei einem Berufungsverfahren in Erlangen – durch ein positives Gutachten Bechers gestützt und bei anderen Verfahren – wie in Kiel und Zürich – auch durch Einstein empfohlen worden.59 Der Einfluss Hans Hahns bei der Berufung Schlicks (nicht
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ellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins, Basel–Boston–Berlin: Birkhäuser 1990, 240 ff. wird Becher zur Gruppe der kritischen Realisten gezählt. Vgl. in diesem Kontext: Korrespondenz von Moritz Schlick mit: Erich Becher, Albert Einstein, Hans Hahn. Rijksarchief Noord-Holland Haarlem/Niederlande, Nachlass Schlick. Nur in dieser Frage lässt sich im Protokollbuch der Philosophischen Fakultät 1918 – 1922 (AUW) ein Einfluss des in die Berufungskommission kooptierten Mathematikers Hans Hahn nachweisen, der für die Besetzung aller vakanten Lehrstühle eintrat. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bände, Berlin: Akademie Verlag 2002, 55 f. zitiert diesen Aufruf deutscher Hochschullehrer vom 5. 6. 1920, die Weimarer Verfassung »ohne Vorbehalte und Umschweife« anzuerkennen. Dieser Aufruf dürfte auch in Wien bekannt gewesen sein. Auf einem anderen Blatt steht, dass Jaentsch später zu einem dezidierten Parteigänger des Nationalsozialismus wurde. Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, Berlin: Springer 1917, Reprint hg. und eingeleitet von Fynn Ole Engler, Wien–New York: Springer 2006. Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin: Springer 1918, Reprint hg. und eingeleitet von Hans Jürgen Wendel/Fynn Ole Engler, Wien–New York: Springer 2009. Hingegen favorisierte der andere philosophische Gutachter Hermann Natorp aus Marburg
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dagegen bei der Formierung des Wiener Kreises) wird gelegentlich in der Literatur überschätzt.60 Auf dem psychologischen Lehrstuhl kam Karl Bühler erst zum Zuge, nachdem Jaensch – wieder wegen der ausbleibenden Finanzierungszusage für ein psychologisches Institut – abgesagt hatte. Bühler kam allerdings erst, nachdem in dieser Frage die Stadt Wien eingesprungen war. Dafür hatte Bühler allerdings die Verpflichtung übernommen, für das neu eingerichtete Pädagogische Institut der Stadt Wien, dem die Pflichtschullehrerausbildung oblag, Lehrveranstaltungen und Prüfungen zu übernehmen.61 Robert Reininger schließlich, der seine philosophische Ausbildung – wenngleich nicht seine Qualifikationsarbeiten – in Deutschland absolviert hatte und sich weitgehend in den Spuren des Neukantianismus Heidelberger Prägung bewegte, kam hinzu, damit wenigstens ein Lehrstuhl durch heimische Kräfte besetzt würde. Das Bild rundete Heinrich Gomperz ab, der wie sein Vater, der 1873 berufene klassische Philologe Theodor Gomperz, ab 1924 hauptsächlich die klassische griechische Philosophie behandelte. Diese Personalkonstellation sollte wegen der politischen Entwicklungen nach 1934 allerdings nur etwas mehr als ein Jahrzehnt Bestand haben. Schon kurz nach den ersten drei Berufungen hatte sich gezeigt, dass das Fenster für eine Modernisierung der Philosophie in Wien sich wieder zu schließen begann. Anhänger wissenschaftlicher Philosophie und Psychologie wurden behindert oder von einer akademischen Karriere gänzlich ausgeschlossen; Anhänger einer Konzeption von Philosophie als abendländische Weltanschauungslehre gewannen Boden. Die Umhabilitierung von Charlotte Bühler, der Ehefrau Karl Bühlers, von Dresden nach Wien – unter normalen Umständen eigentlich ein reiner Routinevorgang – wäre, wenn es nach der Abstimmung in der Philosophischen Fakultät gegangen war, schon fast gescheitert.62 Dabei dürften frauenfeindliche und auch antisemitische Hintergründe eine Rolle gespielt haben.63 Ein Protestbrief an das Unterrichtsministerium vom März 1923 gegen die angebliche
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den profiliertesten Neukantianer seiner Generation Ernst Cassirer und lehnte Schlick ausdrücklich ab; siehe seine gutachterliche Stellungnahme in der Personalakte Schlick im AUW. Insbesondere findet die immer wieder zu lesende Angabe, Hahn habe eine Unterschriftenliste für die Berufung Schlicks initiiert, weder in den Universitäts- noch in den Ministeriumsakten eine Stütze. Siehe dazu ausführlich Benetka, Psychologie in Wien. Dekan Junker an Unterrichtsministerium, 1. 3. 1923. ÖStA, AVA, UMin., Professoren und Lehrkräfte: Anstellungen, Rang, Entlassung, Staatsbürgerschaft, Eide, Disziplinierung; 1921. Kt. 79, Sign. 4C1. Charlotte Bühler hatte zuvor Schlick um Unterstützung bei ihrer Umhabilitierung gebeten. Friedrich Stadler, Antisemitismus an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, in: Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: V& R unipress, Vienna University Press 2013, 207 – 238.
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Bevorzugung Charlotte Bühlers zeigt deutlich schon die immer stärkere Frontstellung von progressivem und traditionellem Lager im Lehrkörper der Fakultät. Schließlich wurde ihre Umhabilitierung aber doch genehmigt. Noch aufschlussreicher ist das tatsächliche Scheitern des Habilitationsgesuchs von Edgar Zilsel, weil sich dabei neben latentem Antisemitismus auch die Frage nach dem genuinen Gegenstandsbereich der Philosophie stellte.64 Zilsel, der um die Erteilung der venia docendi für das Gesamtgebiet der Philosophie angesucht hatte, legte im Juni 1923 neben physikalischen, naturphilosophischen und philosophiedidaktischen Arbeiten sein Buch über die Geniereligion sowie als Habilitationsschrift die zweiteiligen Beiträge zur Geschichte des Geniebegriffs vor.65 Die Habilitationskommission ließ Zilsel über Schlick und Gomperz ausrichten, er solle, besonders wegen des Fehlens einer naturphilosophisch-erkenntnistheoretischen Arbeit, sein Ansuchen zurückziehen, da er wahrscheinlich keine Mehrheit in der Fakultät erhalten werde.66 Dieses Ansinnen lehnte der kompromisslose Zilsel mit der Begründung ab, dass er seine Interessenrichtung nicht durch fremde Erwägungen beeinflussen lassen wolle und das Ergebnis seiner achtjährigen Arbeit seiner Meinung nach wissenschaftlicher Kritik durchaus standzuhalten vermöge.67 Hier nun zeigte sich eine Spaltung unter den Ordinarien der Philosophie: Reininger fand die Habilitationsschrift philosophisch ungenügend, Richard Meister glaubte sogar, fundamentale Fehler entdeckt zu haben (unter anderem, dass »alles auf das Wirtschaftliche zugeschnitten« sei).68 Schlick und Gomperz dagegen stimmten für Zilsel. Auswärtige Gutachten (von Adolf Dyroff, Heinrich Scholz und Ernst Cassirer) kamen nicht mehr zum Zuge. Denn Zilsel gab in einem Brief an den Dekan im Juni 1924 den Rückzug seines Gesuches bekannt, da er sich außerstande sah, weitere »philosophische Schriften im engeren Sinne« vorzulegen. Er schrieb dem Dekan, er habe sich der Philosophie »nicht etwa von literaturgeschichtlicher Seite zufällig genähert, sondern […] naturund geschichtsphilosophische Darstellungen an physikalischen und geisteswissenschaftlichen Tatbeständen zu entwickeln versucht, in der Meinung, der Philosophie dadurch besser zu dienen, als durch ihre enge Abgrenzung gegen den fruchtbaren Boden der Einzelwissenschaften«.69 64 Siehe für das Folgende: AUW, Personalakt Edgar Zilsel. 65 Zilsel an die Professoren der Philosophischen Fakultät (Phil. Fak.), 10. 6. 1923. Ebd. Seine übrigen Arbeiten waren: »Bemerkungen zur Abfassungszeit und zur Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe« (1913); Das Anwendungsproblem (1916); Die Geniereligion (1918); »Versuch einer Grundlegung der statistischen Mechanik«; »Der einführende Philosophieunterricht an den neuen Oberschulen« (1921). 66 Schlick an Dekan, 22. 2. 1924. AUW, PA Zilsel. 67 Zilsel an Schlick, 23. 2. 1924. Ebd. 68 Protokoll, 6. 3. 1924. Ebd. 69 Zilsel an Dekan, 3. 6. 1924. Ebd.
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Wie sehr sich die Kräfteverhältnisse in der Fakultät seit 1922 verschoben hatten, wurde vollends nach dem Tod des außerordentlichen Professors für Pädagogik mit Einschluss der Geschichte der Philosophie, Wilhelm Jerusalem, deutlich. Als Nachfolger kamen die beiden Privatdozenten Hans Eibl und Viktor Kraft ins Gespräch.70 Dabei stand Kraft, ein späteres Mitglied des Wiener Kreises, für eine wissenschaftliche Weltauffassung und Eibl für eine Vorstellung von Philosophie als abendländischer Weltanschauungslehre.71 Kraft hatte sich 1914 mit der Schrift »Weltbegriff und Erkenntnisbegriff« habilitiert und trat zur Existenzsicherung in die Wiener Universitätsbibliothek ein. Eibl hatte in Wien klassische Philologie und Philosophie studiert und war vor dem Ersten Weltkrieg als Gymnasiallehrer tätig gewesen. Zu Beginn des Krieges habilitierte er sich mit seiner Arbeit Metaphysik und Geschichte, hielt aber erst seit 1921 Vorlesungen über antike und mittelalterliche Philosophie sowie Weltanschauungsfragen. Außerdem unterrichtete er bis 1938 propädeutischen Philosophieunterricht für Realschulabsolventen.72 Das Professorenkollegium der Fakultät sprach sich im Einverständnis mit dem Unterrichtsministerium für die Berufung Eibls zum außerordentlichen Professor (bei gleichzeitiger Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors an Kraft) aus, weil Eibl eine Philosophie vertrete, »die auf der Universität gesucht wird«. Daraufhin erstellten einige Professoren, unter ihnen Schlick und Reich ein Minoritätsvotum mit der Begründung, dass Eibl kein Spezialist für Geschichte der Philosophie sei, sondern vorwiegend Interesse für religiös-metaphysische Probleme zeige. Außerdem würden von den fünf Professoren ohnehin schon zwei vorwiegend Geschichte der Philosophie lesen. Ganz abgesehen davon würden auch die Theologen Patristik lehren, und zwar »mancher in freierer Haltung als Eibl«. Mit der Ernennung Eibls gab es trotz finanzieller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten an der Philosophischen Fakultät schließlich vier Lehrer (Reininger, Gomperz, Roretz und eben Eibl), die Geschichte der Philosophie lehrten. Der Fall Eibl vs. Kraft (letzterer erhielt, wie von der Fakultät beantragt, 1924 nur den Titel eines außerordentlichen Professors) dokumentiert somit in nuce die Präferenz des Unterrichtsministeriums und der Mehrheit der Professorenschaft an der Philosophischen Fakultät für eine scholastisch inspirierte Weltanschauungsphilosophie als Alternative zur wissenschaftlichen Weltauffassung.
70 ÖStA, AVA, UMin. 1924, Reg. 4, Fasz. 629, Philos. Lehrkanzeln. 71 Erika Weinzierl-Fischer, Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus 1918 – 1933, in: Wort und Wahrheit 18 (1963), 417 – 439. 72 Anton Julius Walter, Die Hochschulen im neuen Staate, Wien: Deutscher Verlag für Jugend & Volk 1936; Die Presse, 8. 8. 1934; Wiener Neueste Nachrichten, 8. 5. 1934.
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Wirkungen der neuen Konstellation Was haben die neuen Lehrkanzelinhaber nun in den Jahren von ihrer Berufung 1922 bis zum Ende ihrer Wirksamkeit in Wien bewegen können? Wegen der überragenden Bedeutung von Schlick und des aus seinem Seminar hervorgegangenen Wiener Kreises wird im Folgenden der Fokus auf ihm und seiner Gruppe liegen. Die Tätigkeit der anderen Ordinarien kann hier vorweg nur angedeutet werden. Durch Karl und Charlotte Bühler wurde die aufkommende (experimentelle und empirische) Psychologie und Kognitionspsychologie, wenn auch noch unter der Schirmherrschaft der Philosophie, institutionalisiert. In der Tat hat Karl Bühler sich auch als systematischer Philosoph, besonders durch seine Sprachphilosophie – mit ihrer Unterscheidung verschiedener Sprachfunktionen – profiliert. Mit der Ernennung Karl Bühlers zum ordentlichen Professor für Philosophie »mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik« kam es 1922 aber vor allem endlich zur Errichtung des Wiener Psychologischen Instituts neben dem Institut für Philosophie (seit 1913), das ebenfalls in der Liebiggasse 5 untergebracht war. Die Innovationen der Bühlers in der Psychologie haben sich seit 1923 auch im Rahmen des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien bis 1934 ausgewirkt, wo die pädagogische Psychologie im Sinne der Wiener Schulreform betrieben wurde.73 Später ab 1931 hat die dem Institut assoziierte Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle (um die BühlerschülerInnen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld) Aufmerksamkeit erzeugt. Dort wurde nicht nur Marktforschung entwickelt und betrieben, sondern es entstanden auch bahnbrechende Arbeiten über Massenmedien (wie das Radio) und vor allem die berühmte Studie über die »Arbeitslosen von Marienthal«.74 Im Fach Psychologie konnte sich Egon Brunswik 1934 habilitieren, der in engem Kontakt zum Wiener Kreis um Moritz Schlick stand, bevor er, zusammen mit seiner späteren Frau, der Psychoanalytikerin Else Frenkel nach einem Forschungsaufenthalt 1937 endgültig in die USA (Berkeley) emigrierte.75 Als Konterpart zu den Bühlers wirkte der von der Altphilologie kommende Richard Meister im Sinne einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Er war 1923 als Nachfolger von Alois Höfler berufen worden und hatte bis 1938 dessen früheren Lehrstuhl inne. Meister hat darüber hinaus durch seine langjährige 73 Benetka, Psychologie in Wien. 74 Zu dieser Studie und ihrem Kontext siehe Christian Fleck, Rund um »Marienthal«. Von den Anfängen der Soziologie in Österreich bis zu ihrer Vertreibung, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1990. 75 Zu Egon Brunswik: Kurt R. Fischer/Friedrich Stadler (Hg.), »Wahrnehmung und Gegenstandswelt«. Zum Lebenswerk von Egon Brunswik (1903 – 1955), Wien–New York: Springer 1997.
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Tätigkeit über alle Perioden von der Ersten zur Zweiten Republik hinweg nicht nur als Pädagoge und Altphilologe, sondern auch als Funktionär und Wissenschaftspolitiker einen wesentlichen Einfluss auf die Wiener Universität und auch in der Akademie der Wissenschaften ausgeübt, der erst in letzter Zeit kritisch erforscht wird.76 Die universitäre Pädagogik war auch durch Willibald Kammel vertreten, der sich 1919 für experimentelle Pädagogik und pädagogische Psychologie habilitierte und als Direktor der Landeslehrerakademie bis zur Eröffnung des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien fungierte. Ferner wurde durch Robert Reininger die Philosophiegeschichte und die kantianische Tradition zusätzlich in der Wiener Philosophischen Gesellschaft gepflegt. Vor allem die antike Philosophie hat durch Heinrich Gomperz mit dem vierten Lehrstuhl ab 1924 eine weitere Stärkung erfahren, bevor dieser seine Position aus Protest gegen das Dollfuß-Schuschnigg-Regime verlor und 1935 in die USA (Los Angeles) emigrierte. Von den in der Zwischenkriegszeit in der Philosophie habilitierten Privatdozenten seien hier Sigmund Kornfeld (1918), Hans Eibl (1921, ao. Prof. 1924), Karl Roretz (1922, Titel eines ao. Prof.) und vor allem Rudolf Carnap (1927 für theoretische Philosophie, mit dem Titel eines ao. Profs. 1930) genannt. Carnap habilitierte sich mit der Schrift Der logische Aufbau der Welt (1928), die bis heute zu den meistdiskutierten Texten der analytischen Philosophie zählt. Er war Mitglied des Schlick-Zirkels, bevor er 1931 nach Prag berufen wurde und nach der Emigration 1935/36 seine akademische Karriere in den USA fortsetzte. Dagegen konnte Schlicks Student und Mitarbeiter Friedrich Waismann bis zu dessen Ermordung nur als Bibliothekar ohne Anstellung am Institut bis 1936 arbeiten, obwohl er regelmäßig Lehrveranstaltungen mit und ohne Schlick abhielt und zu einem tragenden Mitglied des Wiener Kreises, vor allem als Gesprächspartner von Schlick und Wittgenstein wurde.77 Die Berufung Moritz Schlicks, der für die Geschichte der Wiener Philosophie Wichtigste aus dem Personaltableau der genannten vier Lehrstuhlinhaber, war fast noch daran gescheitert, dass im von großer Wohnungsnot geplagten Wien keine standesgemäße Unterkunft aufzutreiben war. Als diese Hürde schließlich genommen wurde, konnte er im Wintersemester 1922/23 mit seinen Vorlesungen beginnen.78 Nach den Quellen im Universitätsarchiv hatten sowohl Schlick
76 Vgl. auch den Beitrag von Thomas Olechowski in diesem Band. Außerdem: Johannes Feichtinger/Herbert Matis/Stefan Sienell/Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2013. 77 Brian McGuinness (Hg.), Wittgenstein und der Wiener Kreis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984. 78 Siehe Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des
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als auch Bühler von Anfang eine sehr hohe Anzahl von Studierenden.79 Gegen Ende des Jahrzehnts zeigten sich jedenfalls schon die ersten größeren Früchte von Schlicks Lehrtätigkeit: mit Herbert Feigl, Tscha Hung (China) und Marcel Natkin konnten die ersten seiner Studenten promovieren, die sich danach – allerdings gezwungenermaßen später größtenteils außerhalb Wiens80 – einen Namen machten.81 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich um Schlick eine aus seinem Seminar herauswachsende Gruppe gebildet, die allmählich zum berühmten Wiener Kreis wurde. An dieser Gruppe sind – zunächst abgesehen von ihren Themen und Auffassungen – einige Züge bemerkenswert, die bei sonstigen Philosophenschulen meist nicht vorliegen: 1) Es handelte es sich nicht nur um fortgeschrittene StudentInnen, wie sie in Seminaren anzutreffen sind, sondern auch und vor allem um KollegInnen Schlicks aus dem Lehrkörper der gesamten Philosophischen Fakultät. 2) Beeindruckend ist die fast schon enzyklopädisch anmutende Breite der Fächer, die durch die Mitglieder des Kreises abgedeckt wurde. Mit dem kurz vor Schlick berufenen Hans Hahn und dem gleichzeitig mit Schlick nach Wien gekommenen Kurt Reidemeister sowie dem 1928 nachfolgenden Karl Menger war die Mathematik überproportional vertreten. Die Physik hatte ebenfalls einen großen Anteil, u. a. mit dem immer wieder aus Prag anreisenden Nachfolger Einsteins Philipp Frank. Schlick selbst war ja über die Physik zur Philosophie gekommen, auch andere spätere Mitglieder des Kreises wie Rudolf Carnap und Edgar Zilsel hatten ihre Dissertationen noch physikalischen Themen gewidmet gehabt. 3) Über den Schwerpunkt in der Mathematik und den Naturwissenschaften hinaus gab es aber auch VertreterInnen mit anderen Schwerpunkten, die zum Teil keine Stellen an der Universität hatten. Da ist besonders Otto Neurath zu nennen82, der sich nach Studium der Volkswirtschaft und entsprechender Habilitation in Heidelberg nach Ende des ersten Weltkriegs
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Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, 779 ff. für eine Liste dieser Lehrveranstaltungen. Unveröffentlichte Dokumentation von Christoph Limbeck-Lilienau und Edwin Glassner, Wien 2008. Nur Waismann blieb bis zu seiner Emigration 1938 noch längere Zeit in Wien. Siehe für einen Überblick zur Emigration des Wiener Kreises Hans-Joachim Dahms, Vertreibung und Emigration des Wiener Kreises zwischen 1931 und 1940, in: ders. (Hg.), Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung. Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises, Berlin–New York: de Gruyter 1985, 307 – 365. Rudolf Haller/Binder Thomas (Hg.), Zufall und Gesetz. Drei Dissertationen unter Schlick: H. Feigl – M. Natkin – Tscha Hung, Amsterdam–Atlanta: Rodopi 1999. Friedrich Waismann hat trotz vorhandener Publikationen erst 1936 nach der Ermordung Schlicks promoviert. Siehe dazu Günther Sandner, Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien: Zsolnay 2014.
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kurzzeitig als Sozialisierungsbeauftragter der bayrischen Regierung – auch zur Zeit der kurzlebigen Räterepubliken – engagiert hatte. Deshalb hatte er seine venia docendi verloren und war sogar zu einer Haftstrafe verurteilt worden. 1925 gründete er in Wien das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, das sich mit einer eigens entwickelten bildstatistischen Methode um die Vermittlung sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalte gegenüber einer breiten Öffentlichkeit bemühte. Er kümmerte sich im Wiener Kreis um die dort etwas vernachlässigten Sozialwissenschaften.83 Der bereits genannte Edgar Zilsel, der wie Neurath in der österreichischen Sozialdemokratie sehr aktiv war, hatte sich nach seinem gescheiterten Habilitationsversuch als Gymnasiallehrer und Kursleiter an Volkshochschulen betätigt. Er begann dann einen großangelegten Versuch einer Erklärung für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, den er allerdings auch in der Emigration in den USA nicht mehr ganz zu Ende führen konnte. Felix Kaufmann – ein Vermittler zwischen Phänomenologie, Reiner Rechtslehre und Logischem Empirismus – ist ein weiteres Mitglied des Kreises, das sich eine akademische Wirksamkeit durch einen wissenschaftsfernen Brotberuf sichern musste (in diesem Fall als Manager in der Ölindustrie). Er publizierte umfangreich zu den Grundlagen der Mathematik sowie den Sozialwissenschaften. Angesichts des breiten Fächerspektrums und des Generationen umspannenden Altersaufbaus des Kreises ist es instruktiv zu beobachten, wie sich allmählich eine Identität im Inhaltlichen herausbildete. Das ist vor allem auf die gemeinsame Lektüre der neuesten Ideen in der Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaften zurückzuführen: auf Vorschlag Reidemeisters begann man das Lesen von Wittgensteins Tractatus sowie auf Vorschlag Hahns der Principia Mathematica von Russell/Whitehead. Obwohl die einzelnen Mitglieder bei weitem nicht in allen auftretenden Problemen übereinstimmten, bildete sich doch ein Konsens in einem wichtigen Punkt heraus: dass man nämlich den Positivismus bzw. Empirismus klassischer Prägung oder auch die Lehre Ernst Machs in einem wichtigen Punkt ergänzen bzw. überwinden müsse. Die Logik und Mathematik seien nicht durch Erfahrung begründbar, sondern den synthetischen Erfahrungswissenschaften als analytische Wissenschaften gegenüberzustellen. Von daher erklärt sich auch der Name »Logischer Positivismus« bzw. »Logischer Empirismus« für die Programmatik des Kreises. Allerdings war
83 Siehe besonders Otto Neurath, Empirische Soziologie (1931), in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Band 1, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981, 423 – 527.
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man sich dabei nicht einig, wie man sich die Grundlegung von Logik und Mathematik selbst zu denken habe.84 Kontroversen ergaben sich auch, als es um die nähere Bestimmung des anderen Standbeins des Logischen Empirismus ging, nämlich der Erfahrung. In der Diskussion des Kreises wurde es als Protokollsatzdebatte geführt. Wittgenstein hatte in seinem Tractatus die Existenz von Sätzen, die nicht weiter analysierbare Gegebenheiten abbilden, nur mehr oder weniger postuliert, die Beschaffenheit solcher Elemente und der entsprechenden Sätze aber offen gelassen. Also debattierte man im Zirkel die Natur der Protokoll- bzw. Basissätze. Dabei schälte sich eine Frontstellung zwischen Schlick, der psychisch und subjektiv akzentuierte sogenannte Konstatierungen vorschlug, gegenüber von Neurath und Carnap geforderten physikalistisch und objektiv zu deutenden Protokollsätzen heraus, was hier nicht weiter diskutiert werden kann.85 Die Tätigkeit des Kreises blieb nicht auf akademische Debatten beschränkt. Viele seiner Mitglieder waren gegenüber der kulturellen Moderne aufgeschlossen und zudem politisch links eingestellt. Einige zeigten ausserdem ein ausgesprochenes Sendungsbewusstsein. So kam es denn dazu, dass der Kreis seit dem Ende der 1920er Jahre in eine Phase eintrat, in der Aktivitäten zur Popularisierung und auch zur Internationalisierung zunahmen. Dazu sind insbesondere zu rechnen die Gründungen: – des »Vereins Ernst Mach« im November 1928, der regelmäßig Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen für ein auch außeruniversitäres Publikum anbot; – der philosophischen Zeitschrift »Erkenntnis«, mit der man sich an die akademische PhilosophInnenszene wandte und die ab 1930/31 erschien (herausgegeben zusammen mit der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie); – der Schriftenreihe »Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung« (1928 – 1937); – der Schriftenreihe »Einheitswisssenschaft« (1933 – 1938). Spektakulärer Ausdruck der öffentlichen, von Sendungsbewusstsein geprägten Phase war die Programmschrift des Kreises »Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis«. Sie wurde dem in den USA weilenden Schlick zu Füßen gelegt, als Dank für seinen Entschluss, Wien die Treue zu halten und einen Ruf an die Universität Bonn abzulehnen. Folge dieser Konstellation war allerdings, dass 84 Deshalb wurde 1930 eine Tagung zur Grundlegung der Mathematik in Königsberg abgehalten, zu der der inzwischen dort hingezogene Kurt Reidemeister eingeladen hatte. Siehe Stadler, Studien zum Wiener Kreis, 388. 85 Siehe Thomas Uebel, Empiricism at the Crossroads. The Vienna Circle’s Protocol Sentence Debate, Chicago: Open Court 2007, für eine ausführliche Diskussion.
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Schlick selbst nicht als Verfasser an der Schrift beteiligt war (in der Schrift werden Carnap, Hahn und Neurath genannt) und sich durch ihren Inhalt zum Teil überrumpelt vorkommen musste. Mit dem Titel »Wissenschaftliche Weltauffassung« und der Beschreibung von Gegenständen und Methoden der neuen Philosophie konnte Schlick wohl noch zufrieden sein. Diese Weltauffassung wird in ausdrücklicher Abgrenzung zu zeitgenössischen Programmen so genannt, welche Philosophie als »Weltanschauung« verstehen und – je nachdem – eine christliche, liberale etc. solche Anschauung propagieren. Dagegen besteht der Wiener Kreis darauf, dass nur die Wissenschaft berufen sei, ein Bild der Welt zu entwerfen. Nach ausführlichen historischen Herleitungen und Beschreibungen des Diskussionsstandes verschiedener Probleme des Logischen Empirismus wird sodann als Kern der neuen Lehre nicht die Festlegung auf bestimmte Lehrstücke, sondern auf eine Methode hervorgehoben, nämlich auf die Methode der logischen Analyse86 von Begriffen, Sätzen und Argumentationszusammenhängen. So weit ist der Inhalt der Schrift vielleicht noch jenen Proklamationen vergleichbar, die unternehmungslustige Ordinarien bei ihren Antrittsreden programmatisch verkünden.87 Im letzten Kapitel wird dann aber die Programmatik in das weitere Spektrum der zeitgenössischen weltanschaulichen und politischen Kämpfe eingeordnet und das hat Schlick weniger gefallen: »Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.«88
Diese Botschaft hat man allzu lange als bloße Bekenntnislyrik abgetan, ehe schließlich die erheblichen Aktivitäten von Kreis-Mitgliedern in diversen außeruniversitären Feldern herausgearbeitet wurden.89 Besonders der Hinweis auf die moderne Baukunst ist wichtig: Otto Neurath wie Philipp Franks Bruder Josef hatten sich schon seit Mitte der 20er Jahre bei den Bauten des »Roten Wien« als Planer bzw. als Architekt betätigt, im November 1928, also im gleichen Monat, 86 Friedrich Stadler/Thomas Uebel (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Reprint der Erstausgabe hg. vom Verein Ernst Mach (1929), Wien–New York: Springer 2012, 29. 87 Man denke etwa an die Rektoratsrede des Neukantianers Wilhelm Windelband oder die Antrittsreden des Phänomenologen Edmund Husserl oder des Gründers der Frankfurter Schule Max Horkheimer. 88 Stadler/Uebel, Wissenschaftliche Weltauffassung, 40. Hervorhebung im Original. 89 Siehe besonders Friedrich Stadler, Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrundes des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien, in: Hal Berghel/Adolf Hübner/Eckehart Köhler (Hg.), Wittgenstein, der Wiener Kreis und der Kritische Rationalismus, Wien: Hölder-PichlerTempsky 1979, 41 – 59; und ders., Studien zum Wiener Kreis.
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als der Verein Ernst Mach gegründet wurde, die Reorganisation des Österreichischen Werkbundes in die Wege geleitet und ihre Zusammenarbeit schließlich mit der Wiener Werkbundsiedlung von 1932 gekrönt.90 Außerdem ist – nunmehr auf internationaler Ebene – ihre Beteiligung an der Gründung bzw. Weiterführung der internationalen Architektenvereinigung CIAM zu nennen sowie die zahlreichen Vorträge von Kreis-Mitgliedern am Dessauer Bauhaus in der Ära des Bauhausdirektors Hannes Meyer (1928 – 30). Es scheint, dass mit der partiellen Politisierung und der Forcierung des Sendungsbewusstseins auch eine Radikalisierung der Inhalte einherging. Da ist besonders die Entwicklung jener Sinnkriterien (wie der Verifizierbarkeit) zu nennen, mit denen OpponentInnen nicht mehr bloß falscher Ansichten überführt werden sollten, sondern der Produktion sinnloser Wortfolgen und geradezu lyrischer oder musikalischer Kompositionen, die fälschlich mit Erkenntnisansprüchen daherkämen.91 Das führte dazu, dass auch Probleme der Ethik und Ästhetik, für die sich eine größere Zahl von Kreismitgliedern lebhaft interessierte, von einigen Mitgliedern zeitweise als sinnfreie Debatten abgetan wurden.92 Ihren Höhepunkt erreichte diese Position in der emotivistischen Ethik, die – auf den Spuren Carnaps – dann allerdings von angelsächsischen Autoren wie Alfred J. Ayer und Charles L. Stevenson weitergeführt wurde. Die Tätigkeit des Kreises kam, was die außerakademische Szene betrifft, abrupt mit den Folgen der Niederschlagung des Februaraufstands 1934 gegen die austrofaschistische Diktatur zum Ende. Mit zahlreichen anderen Vereinen und Gruppierungen wurde nämlich auch der Verein Ernst Mach als sozialdemokratische Vereinigung verboten. Ein Einspruch seines Vorsitzenden Schlick wurde übergangen. Seitdem konnte der Wiener Kreis in Wien nur noch auf kleinerer Flamme weiterkochen, zumal sein tatkräftiger Organisator Otto Neurath in die Niederlande ins Exil gegangen und Hans Hahn gestorben war. Als prononcierter Gegner des Nationalsozialismus hatte Schlick noch 1933 – mit einer gewissen politischen Naivität – den »Ständestaat« als Bollwerk gegen Hitler-Deutschland betrachtet. Daher unterstützte er auch Dietrich von Hildebrand, mit dem er trotz inhaltlicher Differenzen eine sehr gute persönliche Beziehung pflegte, gegen die deutschnationale Professorenschaft.93 Wie fatal 90 Siehe den Ausstellungskatalog Andreas Nierhaus/Eva-Maria Orosz (Hg.), Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neues Wohnens, Katalog zur Sonderaustellung des Wien-Museums, Wien–Salzburg: Wien Museum, 2012. 91 Ein locus classicus für diese Tendenz ist Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (1932), 219 – 241. 92 Anna Siegetsleitner (Hg.), Logischer Empirismus, Werte und Moral. Eine Neubewertung, Wien–New York: Springer 2010. 93 Rudolf Ebneth, Die österreichische Wochenschrift »Der christliche Ständestaat«, Mainz: Schöningh 1976, 107.
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und illusorisch der Appell des liberalen Schlick war, zeigte sich schon im Zusammenhang mit seinem Protest gegen den antisemitischen und antipositivistischen Kurs des Unterrichtsministeriums. In einem dieser Schreiben an das Ministerium deutete Schlick zum letzten Mal seine Situation an der Universität an:94 So verwies er zum Beispiel darauf, dass ihm schon 1929, als er einen lukrativen Ruf nach Bonn »aus Anhänglichkeit an Österreich« abgelehnt hatte, zwar keine Erhöhung der Bezüge, jedoch eine reguläre Bibliothekarstelle für Waismann bekommen hatte. Ab 1924 hatte Waismann nämlich als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut unentgeltlich gearbeitet. Tatsächlich war Schlick schon damals über die teilnahmslose Haltung des Unterrichtsministeriums und der österreichischen Regierung enttäuscht gewesen, welche – anders als im Falle Eibl – von sich aus keine Anstalten machte, ihn in Wien zu behalten. Erst nach langem Überlegen hatte er beschlossen, auf Drängen seiner Freunde und Anhänger in Österreich zu bleiben.95 Schlicks Hinweis auf seine eigene Konzessionsbereitschaft konnte die Entlassung seines engsten Mitarbeiters Friedrich Waismann aber nicht verhindern. Für die offizielle Wissenschaftspolitik war dieser ebenso wenig förderungswürdig wie viele andere »NichtArier«. Zu diesen gehörten beispielsweise Amalie Rosenblüth und Else Frenkel, beide Assistentinnen bei Robert Reininger bzw. Karl Bühler. Die Bestellung der beiden Wissenschaftlerinnen war bereits 1931 öffentlich kritisiert worden. Ein letzter Vorschlag Schlicks, Waismann wenigstens als wissenschaftliche Hilfskraft anzustellen, wurde vom Ministerium kommentarlos übergangen. Daraufhin beklagte sich Schlick resignativ, dass »der philosophische Unterricht […] gegenwärtig schon sehr schwer«96 sei. Schlicks begabter Student Herbert Feigl hatte die Lage schon 1931 realistisch eingeschätzt. Er erkannte bereits damals, dass er als Jude und Vertreter des Wiener Kreises praktisch keine Chancen auf eine akademische Laufbahn in Österreich besaß, obwohl Schlick fest davon überzeugt war, ihm eine Privatdozentur verschaffen zu können. Feigl hatte sich deshalb bei mehreren Universitäten in den USA beworben und war als erstes Mitglied des Wiener Kreises im September 1931 emigriert97. Sein mit Albert Blumberg verfasster programmatischer Aufsatz »Logical Positivism« zog
94 Schlick an Unterrichtsministerium, 29. 2. 1936. ÖStA, AVA, UMin., 4G Philos.: Philosophisches Institut 1936, 7894-I, 1. 95 Henk L. Mulder, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, in: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), 368 – 390, 388. 96 Schlick an Unterrichtsministerium., 29. 2. 1936. ÖStA, AVA, UMin., 4G Philos.: Philosophisches Institut 1936, 7894-I, 1. 97 Herbert Feigl, The Wiener Kreis in America, in: Donald Fleming/Bernard Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration 1930 – 1960, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1969, 630 – 673, 650.
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dort sofort große Aufmerksamkeit auf sich. Später konnte er in Iowa und in Minneapolis eine erfolgreiche internationale akademische Karriere begründen. Am 22. Juni 1936 schließlich folgte der Schock der Ermordung Schlicks durch einen arbeitslosen Philosophen und ehemaligen Studenten.98 Der Täter handelte offenbar aus einer Mischung verschiedener Motive: weltanschauliche Gegnerschaft, angebliche berufliche Behinderung, wahnhafte Eifersucht. Die rechtsgerichtete Presse war sich nicht zu schade, den »schrecklichen Mordfall« zu Attacken gegen den »verderblichen Positivismus« zu nutzen und für die Zukunft eine betont christlich-katholische Philosophie einzufordern. Es dauerte im Fall Schlick noch länger als im Fall Brentano, ehe eine offizielle Ehrung der Wiener Universität für ihn zu Stande kam: erst im Jahre 1993 wurde an der Stelle, an der er auf dem Weg zu seiner Vorlesung ermordet worden war, eine Erinnerungsplakette eingelassen.99 Zur Etablierung einer typisch österreichischen Philosophie (im Sinne des »Ständestaats«) kam es aber nach Schlicks Ermordung kaum noch: der »Anschluss« Österreichs an Deutschland 1938 – eine andere Art von Vereinigung, als sie sich viele Universitätsangehörige nach dem Ersten Weltkrieg erträumt hatten – machte nämlich sowohl den Resten des Wiener Kreises als auch den sporadischen Versuchen einer mit dem »Ständestaat« kompatiblen Implementierung betont abendländischer Philosophie ein Ende. Dem steht allerdings – und das darf man nicht vergessen – ein immer größerer Siegeszug des Logischen Empirismus außerhalb seines Ursprungs in Wien (und auch in Berlin) gegenüber. Im selben Jahr 1934, als der Verein Ernst Mach verboten wurde, konnten sich die Anhänger des Logischen Empirismus auf dem 8. Philosophischen Weltkongress in Prag eindrucksvoll präsentieren, während die Vertreter nationalsozialistischer Philosophie aus Deutschland ein eher klägliches Bild abgaben.100 Dieselbe Konstellation wiederholte sich drei Jahre später in Paris auf erweiterter Stufenleiter. Denn inzwischen hatten die logischen Empiristen auch eigene internationale Kongresse für Einheit der Wissenschaft abgehalten und sogar auf dem ersten schon ein Programm einer »International Encyclopedia of Unified Science« aus der Taufe gehoben. Deren erste Monographien erschienen dann ab 1938. Zahlreiche ehemalige Kreis-Mitglieder konnten Beiträge verfassen und mit amerikanischen Pragmatisten eine Zu98 Siehe für eine Dokumentation des Mordfalles Stadler, Studien zum Wiener Kreis, 920 ff. 99 Vgl. den Beitrag von Katharina Kniefacz und Herbert Posch zur Memorialkultur in diesem Band. 100 Siehe dazu Hans-Joachim Dahms, Nationalismus und Internationalismus in der Philosophie. Wiener Kreis und offizielle deutsche Delegation auf den internationalen Philosophenkongressen 1934 in Prag und 1937 in Paris, in: Elisabeth Nemeth/Christian Bonnet (Hg.), Wissenschaft und Praxis. Zur Wissenschaftsphilosophie in Österreich und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Dordrecht: Springer 2015.
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sammenarbeit vertiefen, die sich seit 1934 (oder zum Teil schon früher) ergeben hatte. Auch wenn das Unternehmen schließlich Torso geblieben ist, diente es doch als Türöffner für den Eintritt der Lehren des ehemaligen Wiener Kreises in den angloamerikanischen akademischen Raum. Da über lange Jahrzehnte der Logische Empirismus keine Heimstatt in Wien mehr fand, aber in den Ländern des Exils sich als Teil der analytischen Philosophie immer stärker durchsetzte, wurde die Kluft zwischen continental und analytic philosophy ständig größer. Daran hat sich außerhalb Wiens seit den 1960er Jahren allmählich etwas zu ändern begonnen, in Wien selbst erst 20 Jahre später.101
4.
Austrofaschismus und Nationalsozialismus – Brüche und Kontinuitäten
Austrofaschismus Die Errichtung des austrofaschistischen »Ständestaates« bedeutete das Verbot aller sozialdemokratischen, kommunistischen und nationalsozialistischen Organisationen, um auch auf den Universitäten die neue Österreich-Ideologie gegen »katholisch-nationale« und »betont-nationale« Koalitionen zu etablieren. Das sollte angesichts der nationalsozialistischen Dominanz bekanntlich sukzessive scheitern.102 Dieser Trend kann auch am Beispiel der Personalpolitik (Berufungen, Habilitationen, Entlassungen) konkretisiert werden, die zugleich ein Spiegelbild für das philosophische Leben an der Universität Wien darstellt. Auf einen ersten Blick zeigt sich das für die Monarchie bereits festgestellte Bild einer pluralistischen Szene, die neben der wissenschaftlichen Philosophie einen Neukantianismus, die naturrechtlichen Scholastik und christliche Weltanschauungsphilosophie, sowie den neuromantischen Universalismus umfasste. Die Mehrheit betrachtete die Philosophie noch immer als grundlegende und orientierende Königsdisziplin mit einer strikten Trennung von den empirischen Wissenschaften einerseits und von der formalen Logik und Mathematik andererseits, wobei eine Synthese von Philosophie und Weltanschauung im Sinne »integraler Logik« (Leo Gabriel) plausibel erschien. 101 Siehe zur komplizierten doppelten Verpflanzung (von Mitteleuropa in die USA und – viel später und nur indirekt – wieder zurück) und den damit einhergehenden inhaltlichen Transformationen Friedrich Stadler (Hg.), Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie, Wien–München: LIT-Verlag 2010, und die darin gesammelten Arbeiten. 102 Emmerich Tlos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933 – 1938, Wien–Berlin: LIT Verlag 2013.
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Trotzdem lassen sich im Groben wieder – wie schon in der Zeit der Habsburgermonarchie – zwei Grundströmungen unterscheiden, wobei die weitere Entwicklung letztlich zuungunsten der wissenschaftlichen Philosophie ausschlug. Dem entsprach die politische Polarisierung: während im Bereich wissenschaftlicher Philosophie eher demokratische (aufklärerische, liberale, sozialistische) Tendenzen vorherrschten, dominieren im übrigen Spektrum ein neoromantischer politischer Katholizismus und deutschnationale bis nationalsozialistische Ideologien. Im Fach Philosophie an der Wiener Universität103 mit insgesamt 22 Lehrern und Lehrerinnen in der Zeit von 1918 bis 1938 vertraten die wissenschaftliche Philosophie (Wiener Kreis und Umfeld) Moritz Schlick als Ordinarius von 1922 bis 1936, Rudolf Carnap als Privatdozent und Titularprofessor von 1926 bis 1931, Viktor Kraft als Privatdozent und Titularprofessor von 1914 bis 1938, während am Rande Friedrich Waismann von 1931 bis 1936 als wissenschaftliche Hilfskraft und Bibliothekar bei Schlick wirkte, aber eigenständig Lehrveranstaltungen abhielt. Am häufigsten wurde, von den philosophischen Übungen abgesehen, in traditioneller Weise die Geschichte der Philosophie gelehrt – eine Sparte, die zusammen mit Ethik auch die größten Hörerzahlen aufweisen konnte. Lässt man die Psychologie außer Betracht, so machen die Vertreter der Wissenschaftsphilosophie mit den ihnen verwandten Denkern (z. B. Heinrich Gomperz, Karl von Roretz, Emil Reich) nicht ganz ein Viertel aus (das Verhältnis der Stundenanzahl von Lehrveranstaltungen pro Semester ist günstiger). Zwar waren drei der vier Lehrkanzeln mit Moritz Schlick (bis 1936), Karl Bühler (bis 1938) und Heinrich Gomperz (bis 1934) besetzt, doch wurde die Philosophie auch durch Vertreter der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät (z. B. Othmar Spann, Johann Sauter) sowie der beiden Theologischen Fakultäten gelehrt. Das Vortragsprogramm der »Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien«104 zeigt zudem, dass die Vertreter wissenschaftlicher Philosophie mit ungefähr einem Siebtel vertreten sind. Eine ähnliche Streuung über verschiedene Disziplinen hinweg weisen übrigens die wenig beachteten »Wiener Internationalen Hochschulkurse« auf, unter deren Vortragenden sich als einziges Wiener-Kreis-Mitglied Moritz Schlick befand.105 Im austrofaschistischen »Ständestaat« wurden die demokratischen Rechte
103 Wieser, Geschichte des Faches Philosophie, 158, 231, 235 ff. 104 Robert Reininger (Hg.), 50 Jahre Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien. 1888 – 1938, Wien: Verlag der Philosophischen Gesellschaft 1938, 21 – 43. 105 Leo Gabriel (Hg.), Wiener internationale Hochschulkurse 1922 – 1971, Wien: Selbstverlag 1972, 8, 14.
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zum Zwecke der Ausschaltung »staatsfeindlicher Elemente« beschnitten.106 Dazu gehörten beispielsweise eine Änderung der Habilitationsvorschrift, die nun Personalentscheidungen des Ministeriums ohne Angaben von Gründen vorsah, sowie eine Ermächtigung des Unterrichtsministeriums, nonkonforme Professoren und Assistenten ohne besonderes Verfahren in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Im Juni 1935 wurde ein Hochschulerziehungsgesetz zur Gleichschaltung im Sinne des »neuen Österreich« mit verpflichtenden Vorlesungen zur weltanschaulich-staatsbürgerlichen Erziehung, vormilitärischen Übungen und Hochschullagern beschlossen. Die Krise der Wissenschaft an den »Hochschulen im neuen Staate« wurde mit dem Einfluss des Liberalismus in Zusammenhang gebracht, besonders weil dieser den Gegensatz von Wissenschaft und Weltanschauung betone.107 Der philosophische Gegner an der Universität war die »positivistische«, weil »voraussetzungslose« Weltanschauung, die positive Methode der Naturwissenschaften als Konterpart zu einer »einheitlichen Idee« und eines Glaubens an eine geistige Führerschaft. Die Konformität der Hochschulen sollte durch eine allumfassende Weltanschauung, einen einheitlich-idealistischen Wissenschaftsbegriff nach mittelalterlichem Vorbild sowie durch die gemeinsame »Grundwissenschaft« Philosophie als Weltanschauungsdisziplin garantiert werden. Die endgültige Installierung des Austrofaschismus nach dem Februar 1934 schlug sich auch in den Hochschulen nieder, und zwar durch eine gesetzlich abgesicherte Umorganisierung im Sinne der Österreich-Ideologie gegen »liberalistische und individualistische Tendenzen« – zusammen mit einer gezielten Sparpolitik. Gegenüber der mächtigen »nationalen Opposition« (darunter die Hochschullehrer Hugelmann, Eibl, Spann, Nadler und Srˇbik) und den illegalen Nationalsozialisten war eine defensive Bildungspolitik vorgezeichnet.108 Einer der ersten Betroffenen war Heinrich Gomperz,109 der sich weigerte, der Vaterländischen Front beizutreten. Der nachfolgende Berufungsvorgang war
106 Die Presse, 8. 8. 1934; Wiener Neueste Nachrichten, 28. 5. 1934. Allgemein: Tlos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. 107 Anton Julius Walter, Die Hochschulen im neuen Staate, Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1936. 108 Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklungen der Parteien und politischen Bewegungen, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Teil 2, Wien: Oldenbourg 1954, 414. 109 Heinrich Gomperz, Philosophical Studies, hg. von Daniel S. Robinson, Boston: The Christopher Publishing House 1953; Ernst Topitsch, Österreichs Philosophie – zwischen totalitär und konservativ, in: Heinz Fischer (Hg.), Versäumnisse und Chancen. Beiträge zur Hochschulfrage in Österreich, Wien–Hannover : Forum-Verlag 1967, 29 – 52; Martin Seiler/ Friedrich Stadler (Hg.), Heinrich Gomperz, Karl Popper und die österreichische Philosophie, Amsterdam: Rodopi 1994.
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typisch für den »Ständestaat«.110 Als Ersatz für den wegen Illoyalität zum Dollfuß-Österreich vorzeitig in den Ruhestand versetzten Gomperz – sein Ordinariat wurde nach außen hin in ein Extraordinariat umgewandelt – war von staatlicher Seite der 1933 aus Deutschland emigrierte antinazistische christliche Philosoph Dietrich von Hildebrand vorgesehen. Hildebrand hatte vor dem Krieg in Deutschland Philosophie studiert, sich 1918 in München habilitiert und dort bis 1933 als Privatdozent gewirkt. Vor seinem Ruf nach Wien war er Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät in Salzburg.111 Er vertrat eine personalistische Philosophie und Ethik. Politisch wandte er sich gegen jede Art eines Kollektivismus von Links und Rechts: Nationalsozialismus und Bolschewismus waren gleichermaßen seine Gegner. Daneben bejahte er in »Ausnahmezuständen« ein autoritäres System im Geiste Dollfuß’ und plädierte für den Typus eines »österreichischen Menschen«. Genauso wie seine Zeitschrift Der christliche Ständestaat kämpfte er gegen die antisemitischen Propheten des »katholischen Nationalismus« im christlichen Lager, zum Beispiel gegen Spann, Eibl, Bischof Alois Hudal sowie gegen Josef Eberles Wochenzeitschrift Schönere Zukunft – ja auch gegen die Reichspost, weshalb er heftige Kritik erntete und immer weiter isoliert wurde.112 Nach dem »Anschluss« gelang ihm nach abenteuerlicher Flucht die Emigration in die USA. Die »katholisch-national« dominierte Berufungskommission unter dem Historiker Heinrich von Srbik hielt diesen Vorschlag als »wissenschaftlich« nicht vertretbar und empfahl die Reihung Alois Dempf, Viktor Kraft und Karl von Roretz. Dempf hatte sich in Bonn als Privatdozent habilitiert und wurde dort 1933 Titularprofessor bis zu seinem späteren Ruf als Ordinarius nach Wien im Jahre 1937. Sein philosophisches Interesse galt der mittelalterlichen christlichen Philosophie, der Ethik und Kulturphilosophie.113 Politisch-weltanschaulich war er konservativ, überzeugter Katholik und in klarer Abgrenzung zum Nationalsozialismus, weshalb er auch 1938 »beurlaubt« wurde.114 Karl von Roretz hatte Jus, Medizin und Philosophie studiert und war ab 1922 Privatdozent für Geschichte der Philosophie, daneben aber auch als Kustos in der Nationalbibliothek tätig. Er vertrat eine antimetaphysische Philosophie in Anlehnung an Mach
110 Ebneth, Die österreichische Wochenschrift, 39 f.; GZ39735, 4C, 20. 2. 1935. ÖStA, AVA, UMin., 13 f. 4U. 111 Wieser, Geschichte des Faches Philosophie, 225 f. 112 Peter Eppel, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Haltung der Zeitschrift »Schönere Zukunft« zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934 – 1938, Wien–Köln–Graz: Böhlau 1980; Ebneth, Die österreichische Wochenschrift, 76 f., 100 – 106. 113 Wieser, Geschichte des Faches Philosophie, 228 ff. 114 Fasz. 761, 4C1 37/38. IV-2 – 37.333, 17. 8. 1938. ÖStA, AVA, UMin., fasc. 761, 4LL.
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und beschäftigte sich neben der Erkenntniskritik mit kulturpsychologischen und kulturphilosophischen Problemen.115 Als Kompromiss billigte die Berufungskommission die Aufnahme Hildebrands in den Lehrkörper. Diesem Vorschlag wurde bezeichnenderweise hinzugefügt, dass Hans Eibl ohnehin ein »allgemein anerkannter Vertreter christlicher Weltanschauung« sei, was seine Rangerhöhung zum Ordinarius rechtfertigen würde. Trotz all dieser Widerstände wurde Hildebrand Ende 1934 von Kurt Schuschnigg zum außerordentlichen Professor berufen, musste aber bei seinem Vorlesungsbeginn gegen die Störversuche deutschnationaler Studierender Polizeischutz anfordern. Dempf wurde als Ausländer abgelehnt, auch Kraft und Roretz fielen durch. Beide wurden zwar als tüchtige Gelehrte, jedoch für das Spezialgebiet »Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Weltanschauungslehre« im Vergleich zu Hildebrand, der in »wissenschaftlicher Hinsicht einen sehr guten Ruf habe«, als weniger geeignet bezeichnet. Nun ist zwar die Begründung der Ablehnung von Kraft und Roretz inhaltlich plausibel und entspricht einer realistischen Einschätzung der Bewerber, wenn man den Begriff der Weltanschauungslehre als Kriterium heranzieht. Gleichzeitig wird damit aber auch die Marginalisierung exakten Philosophierens jenseits der Theologie deutlich und einmal mehr ein politisch-weltanschaulich bedingter Wissenschaftsbegriff manifest. Nach der Ermordung Moritz Schlicks,116 der für die Presse mit wenigen Ausnahmen Anlass für eine massive antisemitische und antipositivistische Diffamierungskampagne war,117 kam die Berufungskommission für die Neubesetzung der Lehrkanzel im Jahre 1937 (Bühler, Knoll, Koppers, Meister, Mewaldt, Praschniker, Reininger, Srbik, Thirring, Versluys und Winkler) schnell zur Überzeugung, dass keine für die Nachfolge in Frage kommende Persönlichkeit vorhanden sei (!).118 Ferner wurde programmatisch bekräftigt, »daß die Geschichte der Philosophie die eigentliche Substanz und wesentlichste Aufgabe des Philosophieunterrichts zu bilden hat«, was die Liquidation des seit Mach bestehenden Lehrstuhls für Naturphilosophie bedeutete. Diese nicht mehr überraschende Erklärung über Art und Aufgabe der Philosophie als Universitätsfach war wieder auf Hans Eibl zugeschnitten, obwohl Heinrich Gomperz prinzipiell noch zur Disposition stand. Der Dreiervorschlag lautete schließlich Eibl, Dempf und Friedrich Kainz. Kainz war seit 1925 Privatdozent und las vornehmlich über Sprachphilosophie und -psychologie.119 Zugunsten Eibls, den 115 Karl Roretz, Ziele und Wege philosophischen Denkens, hg. von Franz Austeda, Wien: Deuticke 1976. 116 Zur Ermordung Schlicks: Stadler, Studien zum Wiener Kreis, Teil II, Kapitel 3. 117 Vgl. Der Christliche Ständestaat, 8. 6. 1936 und 19. 7. 1936. 118 GZ 4035. ÖStA, AVA, UMin., B, 1937, 4CL. 119 Wieser, Geschichte des Faches Philosophie, 218 f.
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der deutsche Botschafter von Papen zu seinen Anhängern zählte, intervenierte der für seine Vision eines nationalsozialistischen Staates im katholischen Geiste streitende Bischof Alois Hudal in Rom, um auf Schuschnigg Druck auszuüben.120 Diese Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg, denn schließlich wurde Alois Dempf in der Nachfolge Schlicks berufen, weil er als überzeugter Katholik der Österreich-Ideologie eher entsprach als der politisch agierende, mit dem Nationalsozialismus koalierende Eibl.121 Dieser hatte sich schon als »Brückenbauer« zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus in den Reihen der sogenannten »Katholisch-Nationalen« (zusammen mit Josef Eberle, Edmund von Glaise-Horstenau, Oswald Menghin, Karl Gottfried Hugelmann, Othmar Spann) betätigt. So beklagte er unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland die »geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus«, setzte sich für die Revision der Friedensverträge ein und bekundete seine Sympathie für den Nationalsozialismus durch ein Engagement für ein »gemeinsames christlich-humanistisches« Programm sowie die Forderung eines Konkordats zwischen Hitler und dem Vatikan.
Die nationalsozialistische Zeit Nach der Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland, die von einem Großteil der HochschullehrerInnen, die jahrelang ideologische Vorarbeit geleistet hatten, freudig oder mit Genugtuung begrüßt worden war, wurden die letzten Spuren der wissenschaftlichen Philosophie durch Entlassungen und Vertreibungen beseitigt. Der Zwang zur Emigration, zur Pensionierung oder zum Rückzug für die Betroffenen kam nicht sehr überraschend. Dramatisch war die Ernüchterung bei denjenigen Austrofaschisten, die sich jahrelang auch aus naiv-illusorischen Motiven für eine Fraternisierung zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus eingesetzt hatten und ihre Vorstellungen und Hoffnungen sehr bald durch die herbeigesehnten »Befreier« enttäuscht sahen. Die nationalsozialistische Machtübernahme nach dem März 1938 bedeutete die politische, weltanschauliche und ideologische »Gleichschaltung« (mit aktiver Kollaboration oder erfolglosem Widerstand der Lehrenden), aber auch eine polykratische Wissenschaftspolitik im Spannungsfeld zwischen dem Zentrum Berlin und der »Ostmark«.122 120 Weinzierl-Fischer, Österreichs Katholiken, 498. 121 Ebd., 435 ff., 502, 505 ff. 122 Gernot Heiss, Philosophie an der Universität Wien von der Ersten zur Zweiten Republik, in: Michael Heidelberger/Friedrich Stadler (Hg.), Wissenschaftsphilosophie und Politik. Phi-
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Sofort nach dem »Anschluss« kam es zur endgültigen »Säuberung« mit Entlassungen und Vertreibungen im Geiste des rassistischen Führerstaates, die auch mithilfe von Vertretern der Universität Wien erfolgte.123 Vor 1938 gab es am Institut für Philosophie drei Lehrkanzeln:124 Alois Dempf, Robert Reininger und Karl Bühler. Da neben der Psychologie auch die Pädagogik im Vorlesungsverzeichnis in einem Block angeboten wurde und alle diese Fächer in der Betreuung von Dissertationen und in der Lehrerausbildung für das Fach Philosophischer Einführungsunterricht zusammenarbeiteten, ist auch die Lehrkanzel für Pädagogik nach Alois Höfler mit Richard Meister – als inhaltlicher Bruch dieser Ausrichtung – relevant.125 Die Philosophische Fakultät mit dem obligatorischen Philosophicum für alle Doktoratsstudierenden mit Ausnahme der Philosophie bis in die 1980er Jahre stellte auch symbolisch mit der Orientierungs- und Grundlagendisziplin Philosophie ein normatives Wissenschaftsfeld dar,126 wobei die Philosophie an den beiden Theologischen Fakultäten ergänzend zu erwähnen ist.127 Von den – teilweise nicht im Personalstand vertretenen – PrivatdozentInnen und außerordentlichen ProfessorInnen mit venia legendi waren vor 1938 Hans Eibl (Philosophie), Egon Brunswik (Psychologie), Charlotte Bühler (Psychologie), Sigmund Kornfeld (Psychologie und Ethik), Viktor Kraft (Philosophie), Karl Roretz (Philosophie) und Willibald Kammel (experimentelle Pädagogik und pädagogische Psychologie) tätig. Alois Dempf, Ordinarius für christliche Philosophie seit 1937, wurde aus politischen Gründen die Lehrbefugnis entzogen. Er wurde beurlaubt bzw. in den
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losophy of Science and Politics, Wien–New York: Springer-Verlag 2003, 5 – 38; Herbert Posch/Katharina Kniefacz, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http://ge denkbuch.univie.ac.at (abgerufen am 30. 1. 2015); Andreas Huber/Herbert Posch, Eliten/ dis/kontinuitäten im Wissenschaftsbereich in der II. Republik. Zur Reintegration der im Nationalsozialismus aus »politischen« Gründen vertriebenen Lehrenden der Universität Wien nach 1945. Projekt P09 – 0563 (unveröffentlichter Projektbericht) Wien 2011; Andreas Huber, Eliten/dis/kontinuitäten. Kollektivporträt der im Nationalsozialismus aus »politischen« Gründen vertriebenen Hochschullehrer der Universität Wien, Dipl. Arb., Wien 2012; Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität von 1944 in den Nachkriegsjahren, Wien: Vienna University Press 2014. Vgl. Posch/Kniefacz, Gedenkbuch, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at. Eine gute schematische Übersicht liefert Benetka, Psychologie in Wien, 338 ff. Da im Rahmen dieses Beitrages die Psychologie und Pädagogik nicht explizit behandelt werden, sei auf die vorhandene diesbezügliche Literatur verwiesen: Wolfgang Brezinka, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Band 1, Wien: Verlag der ÖAW 2000; Beitrag von Richard Olechowski in Band IV dieser Reihe. Zur Entwicklung der Philosophischen Fakultät und des Philosophicums: Meister, Das Werden der philosophischen Fakultät. Zu den Theologischen Fakultäten im Überblick vgl. die Beiträge in Band IV dieser Reihe.
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Ruhestand versetzt. Er zählte zu den 1938 Entlassenen, die 1946 am Institut für Philosophie wieder tätig werden konnten – bevor er 1949 einen Ruf an die Universität München annahm. Ein ähnliches Schicksal ereilte am Philosophischen Institut Viktor Kraft: er wurde wegen »jüdischer Versippung« vorzeitig von der Universitätsbibliothek in Pension geschickt; die Lehrbefugnis für Philosophie an der Universität wurde ihm entzogen. Der international renommierte Karl Bühler, Begründer der Wiener Schule der Kognitions- und Gestaltpsychologie, wurde wegen seiner Tätigkeit im Roten Wien und wegen seiner jüdischen Frau Charlotte Bühler ebenfalls entlassen und unter abenteuerlichen Umständen zur Emigration in die USA gezwungen.128 Man kann im Falle der Kognitionspsychologie und Entwicklungspsychologie von einem totalen akademischen Bruch an der Wiener Universität sprechen, der auch das Ende einer innovativen Kooperation auf dem Gebiet der philosophischen Psychologie (Karl Bühler und Moritz Schlick) sowie der akademisch nicht etablierten Psychoanalyse und empirischen Sozialforschung (im Rahmen der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle) bedeutete.129 Der Sprachpsychologe Friedrich Kainz wurde nach dem »Anschluss« und der Entlassung Bühlers zum provisorischen Leiter des Psychologischen Instituts bestellt und erhielt am 1. November 1939 nach der Entlassung Dietrich von Hildebrands das frei gewordene Extraordinariat für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik und Sprachpsychologie.130 Kainz ist ein typisches Beispiel für einen Opportunisten mit beruflichem Aufstieg in der Zweiten Republik: er habilitierte sich 1925 an der Universität Wien, erlangte den Titel einer ao. Professur 1931, war danach Lehrer am Pädagogischen Institut der Stadt Wien 128 Zur Entlassung und dramatischen Emigration der beiden Bühlers vgl. Mitchell Ash, Österreichische Psychologen in der Emigration. Fragestellungen und Überblick, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 – 1940, 2. Aufl., Münster : LIT-Verlag 2004, 252 – 267; Achim Eschbach/ Gabi Willenberg, Karl Bühler, in: ebd., 297 – 305. Zu den Folgen der NS-Herrschaft für die Psychologie in Österreich allgemein: Gerhard Benetka/Werner Kienreich, Hochschulpsychologie in der Ostmark: Das Wiener Psychologische Institut, in: Karl Fallend/Bernhard Handlbauer/Werner Kienreich (Hg.), Der Einmarsch in die Psyche. Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Folgen, Wien: Junius 1988, 147 – 167. 129 Zur Geschichte des von den Bühlers geleiteten Pädagogischen Instituts der Stadt Wien, der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und der Psychoanalyse um Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda: Gerhard Benetka, Zur Geschichte der Institutionalisierung der Psychologie in Österreich. Die Errichtung des Wiener Psychologischen Instituts, Wien–Salzburg: Geyer-Edition 1990. 130 Zu Kainz im Detail vgl. Gernot Heiss, »… wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie«? Die Reorganisation der Philosophie (Psychologie und Pädagogik) in Wien 1938 bis 1940, in: Kurt R. Fischer/Franz M. Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930 – 1950, Wien: WUV-Universitäts-Verlag 1993, 130 – 169, 145 f.
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bis 1934, anschließend nach seinen eigenen Worten »Zwangsmitglied« der Vaterländischen Front, bevor er im Nationalsozialismus als »Parteianwärter« seine akademische Karriere begründen konnte.131 Im Jahre 1939 wurde er zum ao. Prof. ernannt und war nach 1945 als ehemaliger Anwärter des NSDAP registrierungspflichtig. 1945 verlor er seine Professur, bevor er 1949 – hier zeigt sich die verzögerte Kontinuität – zum ao. Prof. für Philosophie und allgemeine Kunstwissenschaft wiederernannt wurde. Ein Jahr später reüssierte er mit seiner Aufnahme als wirkliches Mitglied in die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), schließlich 1950 zum Ordinarius für Sprachpsychologie, Ästhetik, Kunstphilosophie und Geschichte der Philosophie bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968.132 In der NS-Zeit begann auch die Karriere des Psychologen Hubert Rohracher, der ähnlich wie Richard Meister in der Pädagogik, für die Psychologie und für die universitäre Politik bis weit in die Zweite Republik wirkte.133 Die Professur für Pädagogik von Richard Meister wurde frei, nachdem dieser auf einen Lehrstuhl für Altphilologie, übrigens Meisters akademische Herkunft, versetzt wurde. Dessen philosophischer Lehrstuhl wurde in ein Extraordinariat umgewandelt und der Berliner Ottomar Wichmann ab im Oktober 1939 mit der Vertretung der Professur als Extraordinarius für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik betraut. Im Machtspiel zwischen der Berliner Ministerialbürokratie und den Wiener Parteigrößen der NSDAP sowie den universitären Allianzen scheint sich das Reichserziehungsministerium bei der Umgestaltung des Wiener Instituts für Philosophie durchgesetzt zu haben. Durch die Besetzung der beiden philosophischen Lehrstühle mit Gunther Ipsen und Arnold Gehlen sollte schließlich die Neustrukturierung im nationalsozialistischen Geiste realisiert werden: Das Ordinariat von Karl Bühler wurde mit dem aus Königsberg kommenden SA- und NSDAP-Mitglied Gunther Ipsen am 22. Mai 1939 als Professor für »Philosophie und Volkslehre« besetzt, der im September 1943 auch zum Direktor des Instituts für Psychologie ernannt wurde. Die Erwartungshaltung an eine neue Philosophie im Sinne der NS-Expansionspolitik im Osten und Südosten scheint genauso eine Rolle gespielt zu haben, wie dessen fächerübergreifende Perspektive für die bevölkerungspolitischen Ambitionen des Nationalsozialismus. Da Ipsen nach Kriegsausbruch zum Militär eingezogen wurde, blieb sein Wirkungsbereich hinsichtlich der erwar131 Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie, 778 ff. 132 Zum wissenschaftlichen Werk von Kainz: Gerhard Gelbmann, Sprachphilosophie und Sprachpsychologie. Der sprachkritische Ansatz von Friedrich Kainz, Frankfurt a. M.–New York: Lang 2004. 133 Zu Rohracher vgl. Gerhard Benetka, Der »Fall« Stegmüller, in: Friedrich Stadler (Hg.), Elemente moderner Wissenschaftstheorie. Zur Interaktion von Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften, Wien–New York: Springer-Verlag 2000, 123 – 176.
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teten philosophischen und soziologischen Unterstützung der »Ostforschung« bis 1945 beschränkt. Die Nachfolge des 1939 emeritierten Robert Reininger trat schließlich ab 1. November 1940 der Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen an, der seit 1938 den »Kant-Lehrstuhl« in Königsberg innegehabt hatte, aber vom Reichserziehungsministerium nach dem »Anschluß« mit der Reorganisation der Philosophie und der Institute der Philosophischen Fakultät in Wien beauftragt wurde. Zugleich übernahm er die Direktorenstelle des Psychologischen Instituts im April 1940 und 1942 zusätzlich die des Instituts für Philosophie. Er vertrat die philosophische Anthropologie und eine soziologische Ausrichtung im Kontext der neuen »Volksforschung«. Die außerordentliche Professur von Hans Eibl wurde beibehalten, obwohl er in der NS-Zeit mithilfe des Dekans Christian stark auf eine Umwandlung in ein Ordinariat drängte. Dies wurde nach dem »Anschluss« in einem – von Unterrichtsminister Menghin befürworteten – Brief Eibls an den Reichsstatthalter Seyß-Inquart aktenkundig.134 Darin ersuchte Eibl – im Sinne einer »Wiedergutmachung« – um Verleihung der vom Professorenkollegium zweimal vorgeschlagenen Professur an. Er beklagte sich, er sei vom Schuschnigg-Regime wegen seiner nationalen Haltung übergangen worden. Insofern müsse gerade vom Standpunkt des Großdeutschen Reiches eine Ernennung zum Ordinarius als Akt der Gerechtigkeit angesehen werden. Allen Anforderungen zur Mitarbeit von nationalsozialistischer Seite habe er aus Überzeugung Folge geleistet. Insbesondere habe er, »als nach dem unglücklichen Juli 1934 die Stimmung in unseren Kreisen gedrückt war, […] durch Vorträge vor der NS-Studentenschaft, insbesondere durch einen Vortrag vor dem erweiterten Stabe der SS-Standarte 89 über das Dritte Reich und die Staatskunst des Führers […] den Mut und den Glauben an die Zukunft neu belebt«.135
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Entwicklung nach 1945 – Brüche und Kontinuitäten Eine Charakterisierung der Philosophie, samt Psychologie und Pädagogik an der Universität Wien in der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg kann als wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Phänomen zwischen Konti134 Brief von Hans Eibl an Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, 25. 4. 1937. ÖStA, AVA, UMin., fasc. 761, 1937/38, 4C1, Zl. 12309-i/1. 135 3. 5. 1938. Ebd.
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nuität und Bruch beschrieben werden.136 Die Philosophische Fakultät als etablierte universitäre Organisationseinheit hatte mit dem obligatorischen Philosophicum und den allgemeinen Vorgaben in der LehrerInnenausbildung für Mittelschulen bis in die 1970er Jahre mehr als nur eine fachspezifische Bedeutung. Aus der Gender-Perspektive ist hier anzumerken, dass – zum Unterschied von der exilierten Philosophie – im heimischen philosophischen Betrieb der Frauenanteil nach 1938 und 1945 praktisch null war. Das hing u. a. mit dem vor dem »Anschluss« vorhandenen Anteil von Philosophinnen jüdischer Herkunft an der zwangsemigrierten Philosophie (wenn auch nicht im Lehrbetrieb) zusammen.137 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind wie erwähnt in der zeitgeschichtlichen Forschung als Restauration im Zeichen des Gründungsmythos beschrieben worden.138 Der gesamtuniversitäre Kontext – z. B. mit materieller Wiederherstellung und ideologischer Rekonstruktion – sowie die allgemeine Lage der Philosophie, Pädagogik und Psychologie in Österreich insgesamt stellt den spezifischen Bezugsrahmen dar.139 Am Beginn der Zweiten Republik werden die nicht emigrierten, vor 1938 aktiven Philosophen reaktiviert und nach einer 1947 unvollständig beendeten Entnazifizierung auch die während der NS-Zeit aktiven Mitglieder des Instituts rehabilitiert und wieder in den Dienst gestellt – wie z. B. die aufsteigenden Karrieren von Erich Heintel und Friedrich Kainz zeigen. Zwischen klerikalkonservativer Restauration und vorzeitig beendeter Entnazifizierung, die dem
136 Friedrich Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, 2. Aufl., Münster : LIT-Verlag 2004. 137 Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst (Wien) 1 – 2 (2005): Frauen im Exil; Friedrich Stadler, Der Wiener Kreis, in: Claus-Dieter Krohn (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt: Primus-Verlag 1998, 813 – 824; Ilse Korotin, Deutsche Philosophen aus der Sicht des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1993, 323 – 344 und 1994, 305 – 319, 325 – 326; Vgl. den Beitrag von Doris Ingrisch in diesem Band. 138 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien: Ueberreuter 1994. 139 Preglau-Hämmerle, Die politische und soziale Funktion der österreichischen Universität von den Anfängen bis zur Gegenwart, Innsbruck: Inn-Verlag 1986, 197 ff.; Leo Gabriel/ Johann Mader (Hg.), Philosophie in Österreich. Als Beitrag zum XIV. Internationalen Kongreß für Philosophie in Wien, 2.–9. September 1968, (Wissenschaft und Weltbild, 21 (1968) 2/3), Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1968; Rudolf Haller, Die philosophische Entwicklung in Österreich am Beginn der Zweiten Republik, in: Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch, 157 – 179; Acham, Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6; Michael Benedikt/Cornelius Zehetner/Reinhard Knoll (Hg.), Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Philosophie in Österreich, Band V: Im Schatten der Totalitarismen. Vom philosophischen Empirismus zur kritischen Anthropologie, Philosophie in Österreich 1920 bis 1951, Wien: Facultas-WUV 2005.
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allgemeinen zeitgeschichtlichen Trend entsprach, wurde der Boden für eine konservative Restauration und Provinzialisierung der Philosophie bereitet. Wirft man nun einen Blick auf das Lehrangebot der Philosophie (im Vorlesungsverzeichnis zusammen mit Pädagogik und Psychologie) im Wintersemester (WS) 1945/46, so finden wir eine Reihe von Personen, die bereits vor 1945 tätig waren: o. Prof. Richard Meister, ao. Prof. Friedrich Kainz, ao. Prof. Hubert Rohracher, sowie der Privatdozent (PD) Friedrich Billicsich. Bis 1938 hatten von denen, die nun wieder Lehrveranstaltungen ankündigten, o. Prof. Alois Dempf, sowie die PD (ao. Prof.) Willibald Kammel, Karl Roretz und Viktor Kraft dem Lehrkörper angehört. Entlassen wurden 1945 die beiden Ordinarien Arnold Gehlen und Gunter Ipsen, während Hans Eibl aufgrund seiner NS-Vergangenheit vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde.140 Hier können nur die wichtigsten Entwicklungen und Personen behandelt werden:141 Der nach dem »Anschluss« entlassene Alois Dempf142 setzte nach 1945 seine Tätigkeit in Wien fort, obwohl es auch im katholischen Milieu wegen seiner soziologischen Ausrichtung gegen ihn Widerstände gab. Im Jahre 1948 wurde er an die Universität München berufen, wirkte aber in Wien noch einige Jahre als Gastprofessor weiter. Sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl war 1951 der bereits im Austrofaschismus als Kulturfunktionär, Lehrer und Volksbildner aktive Leo Gabriel. Er war derjenige, der dem Mörder Schlicks in den 1930er Jahren freundschaftlich und hilfreich beiseite stand, diesen aber auch »durch irrtümliche oder missverstandene Äußerungen« (Urteilsschrift 1937) über Schlick irritierte. Dass Gabriels philosophisches Programm nicht nur persönliche Meinung geblieben ist, zeigt die Wirkungsgeschichte in den nachfolgenden Dezennien: er übernahm für Jahrzehnte einen der drei Lehrstühle für Philosophie in Wien und konnte im Jahre 1968 im Rahmen des internationalen Philosophenkongresses in Wien seine integrale Philosophie vom damaligen Bundeskanzler Josef Klaus sozusagen zur Staatsphilosophie deklariert bekommen. Gabriel habilitierte sich 1947 und sorgte für eine Kontinuität des politischen Katholizismus auf Hochschulboden mit seiner an Othmar Spann angelehnten Ganzheitsphilosophie – z. B. in seiner Schrift Führertum und Gefolgschaft (1937) – sowie mit der allumfassenden »integralen Logik«, welche die Philosophie für einige Jahrzehnte in Wien prägen sollte.143 140 Heiss, Philosophie an der Universität Wien, 32. 141 Korotin, Deutsche Philosophen, sowie dies. (Hg.), »Die besten Geister der Nation«. Philosophie und Nationalsozialismus, Wien: Picus 1994; George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg–Berlin: Argument-Verlag 1993, sowie ders., Die Universitätsphilosophen der »Ostmark«, in: Forum XLI (1994) 481 – 484, 25 – 32. 142 Heiss, »… wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie«, 138 ff. 143 Zu Gabriels Selbstdarstellung vgl. Renate Lotz-Rimbach, Zur Biografie Leo Gabriels. Re-
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Der als Sprachpsychologe bekannt gewordene Friedrich Kainz, vor 1934 als Lehrer am Pädagogischen Institut der Stadt Wien tätig, wurde nach Jahren der Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front nach dem »Anschluss« zum provisorischen Leiter des Psychologischen Instituts bestellt und Ende 1939 zum ao. Prof. für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik und Sprachpsychologie ernannt.144 Seine Karriere konnte Kainz trotz seines Arrangements mit dem NS-System 1948 als ao. Prof. für Philosophie und allgemeine Kunstwissenschaft fortsetzen. Im Jahre 1950 wurde er zum o. Prof. für Sprachpsychologie, Ästhetik, Kunstphilosophie und Geschichte der Philosophie ernannt, seine Emeritierung erfolgte im turbulenten Jahr 1968.145 In dieser Zeit machte auch Erich Heintel, Schüler des 1939 emeritierten Kantianers Robert Reininger und Vertreter einer Transzendentalphilosophie des deutschen Idealismus, Karriere. Er habilitierte sich nach dem »Anschluss«, wurde 1940 Mitglied der NSDAP und »Dozent neuer Ordnung« für Philosophie (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Wertlehre und Ethik). Nach seiner Enthebung aus politischen Gründen wegen seiner Involvierung in den NS 1945 scheint er im WS 1949/50 wieder im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien auf, nachdem er 1948 erfolgreich um Wiederverleihung der Venia angesucht hatte.146 Im Jahre 1952 wurde er vom dritten Platz einer Liste zum ao. Prof. ernannt147 und schließlich 1960 zum Ordinarius berufen. Mit Gabriel und Heintel wurde an der Universität Wien einerseits die katholisch-scholastische und christliche Existenz-Philosophie, andererseits der deutsche Idealismus auf der Basis protestantischer Theologie institutionalisiert. Die Polarisierung des Kulturkampfs der Zwischenkriegszeit wurde hier (wie allgemein im Wissenschaftsbereich) fortgesetzt: im Sinne Heintels waren sowohl der »Marxismus« als auch der »Positivismus« »Labyrinthe der Philosophie« (wie der Buchtitel eines seiner Werke 1968 lautet). Dies entsprach der Einstellung des langjährigen Unterrichtsministers Heinrich Drimmel.148 Wiener Kreis, Reine Rechtslehre und Psychoana-
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vision und Ergänzung der Selbstdarstellung eines Philosophen und Rektors der Universität Wien, in: Zeitgeschichte 31(2004) 6, 370 – 391. Heiss, »… wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie«, 145 f. Oliver Rathkolb/Friedrich Stadler (Hg.), Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen: Vienna University Press 2010. Vgl. Reinhold Knoll, Die Entnazifizierung an der Universität Wien, in: Sebastian Meissl/ Klaus-Dieter Mulley/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945 – 1955, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, 270 – 280, 278; dazu Franz Weiss, Der frühe Heintel. Leben und Werk und Lehre von 1912 bis 1949, phil. Diss., Wien 2009. Die attraktive Dreierliste hatte gelautet: 1. (ex aequo) Friedrich Waismann und Carl Friedrich von Weizsäcker, 2. Bela Juhos, 3. Erich Heintel. Vgl. Wolfgang Reiter, Wer war Bela Juhos?. Eine biografische Annäherung, in: Andras Mt¦/Miklûs R¦dei/Friedrich Stadler (Hg.), Der Wiener Kreis in Ungarn, Wien–New York: Springer 2011, 65 – 98, 77 – 84. Topitsch, Österreichs Philosophie; Thomas König, Heinrich Drimmel and the System of
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lyse waren für sie weiterhin Manifestationen eines durch Judentum geprägten Liberalismus und Sozialismus. In diesem Klima konnte nur ein einziges ehemaliges Mitglied des Wiener Kreises für kurze Zeit eine akademische Karriere machen. Viktor Kraft zählte zu den wenigen Philosophen mit einem biografischen Bruch während der NSHerrschaft, der seine Lehr- und Forschungstätigkeit nach 1945 wieder aufnehmen konnte. In diesem Jahre erfolgte seine Reaktivierung in der Universitätsbibliothek, bevor er dort zwei Jahre später als Generalstaatsbibliothekar in den Ruhestand ging. 1947 wurde Kraft im Alter von 67 Jahren (!) außerordentlicher Prof. und für knapp zwei Jahre 1950 bis 1952 für knapp zwei Jahre bis zu seiner Emeritierung letztlich noch Ordinarius für Philosophie. Wirft man nun einen Blick auf das Angebot für Philosophie, Psychologie und Pädagogik im Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1955/56, so ergibt sich nach zehn Jahren Restauration folgendes Bild: Neben dem bereits emeritierten Richard Meister als Honorarprofessor und o. Prof. Hubert Rohracher lesen im Fach Philosophie Friedrich Kainz, Leo Gabriel, und Erich Heintel, daneben die Privatdozenten Bela Juhos, Ernst Topitsch und Ulrich Schöndorfer. Außerdem fällt auf, dass die Psychologie verstärkt durch die Privatdozenten Sylvia Klimpfinger, Lambert Bolterauer und Erich Mittenecker vertreten ist und hier zusätzlich die Soziologie mit August M. Knoll und Leopold Rosenmayr aufscheint. Aus personeller Hinsicht zeigt sich also eine quantitative Erweiterung des klassischen philosophischen Lehrbetriebes bei gleichzeitiger Kontinuität und Stabilisierung im Spannungsfeld zwischen »verdrängtem Humanismus und verzögerter Aufklärung«.149 Aus organisatorischer Sicht manifestierte sich diese Personalpolitik in der Errichtung von zwei getrennten philosophischen Instituten unter Gabriel und Heintel. Der Versuch einer Anknüpfung an die wissenschaftlichen Philosophie der Ersten Republik um den kurzfristig reaktivierten Viktor Kraft blieb aus mehreren Gründen fragmentarisch: einerseits war Kraft bereits im fortgeschrittenen Alter zum Zeitpunkt seiner kaum zweijährigen Tätigkeit als Ordinarius und in der sogenannten »Drimmel-Ära« relativ isoliert, andererseits hatte er vor allem außerhalb des Philosophischen Instituts eine beachtliche Wirkung erzielt. Diese manifestierte sich im informellen »Kraft-Kreis« am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst sowie im Rahmen des Österreichischen College/Forum Alpbach samt Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Kommunikation mit den emigrierten Wiener Philosophen wie z. B. Herbert Feigl, Philipp Frank, Rudolf Carnap und Karl Popper. Viktor Kraft lud den amerikanischen WisContainment. Shaping Higher Education in the Early Second Republic (unveröffentlichtes Manuskript) 2013. Kopie im Besitz der Verfasser. 149 Benedikt/Zehetner/Knoll, Verdrängter Humanismus, Bd. V.
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senschaftsphilosophen mitteleuropäischer Herkunft Arthur Pap mithilfe eines Fulbright-Stipendiums zu einer folgenreichen Gastprofessur im Studienjahr 1953/54 nach Wien ein: der früh verstorbene Pap, einer der Hoffnungsträger der analytischen Philosophie der Nachkriegszeit, hatte den vergeblichen Versuch unternommen, die Wiener Philosophie wieder an das internationale »Goldene Zeitalter der österreichischen Philosophie«150 anzukoppeln. Zu diesem Zwecke engagierte er den jungen Wiener Paul Feyerabend151, der ihn bei der Publikation seines Buches Analytische Philosophie. Kritische Übersicht über die neueste Entwicklung in den USA und England unterstützte, das als »Dem Wiener Kreis zum Andenken und zur Wiederbelebung« gewidmetes Werk 1955 erschien. Fünf Jahre vor der Publikation von Paps Buch war Krafts eigener Beitrag in Buchform unter dem Titel Der Wiener Kreis erschienen. Der deutsche Philosoph Hugo Dingler, der bereits in der NS-Zeit eine Kampagne gegen den Wiener Kreis unter anti-positivistischen und antisemitischen Vorzeichen gestartet hatte, fühlte sich berufen, diese Polemik in abgeschwächter Form fortzusetzen.152 Für den Pap-Assistenten und Kraft-Dissertanten Paul Feyerabend bedeutete der Kraft-Kreis 1949 – 1953 des Österreichischen College – u. a. mit einmaliger Beteiligung Ludwig Wittgensteins – sowie der Arbeitskreis am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst den Ausstieg aus der österreichischen Provinz und den Beginn seiner internationalen Karriere.153 Schon die Dingler-Episode vermittelt einen Eindruck vom Klima des philosophischen Lebens im Jahrzehnt des »Wiederaufbaus« – eine Situation, die ein weiterer »gescheiterter« Philosoph am Philosophischen Institut (1948 Assistent, 1951 Privatdozent, 1956 tit. ao. Prof. für praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Geschichts- und Sozialphilosophie), der bereits erwähnte Ernst Topitsch in seinem Artikel »Österreichs Philosophie – Zwischen totalitär und konservativ« (1967) eingehend charakterisiert hat. Darin kritisiert Topitsch – ein Anhänger von Heinrich Gomperz – im Sinne seines 1958 erschienenen Buchs Vom Ursprung und Ende der Metaphysik den Zeitgeist der weltanschaulich gebundenen Philosophie des politischen Katholizismus und die naturrechtliche Variante der christlichen Weltanschauungslehre, wie sie von Johannes Messner (gegen Hans Kelsen und August M. Knoll) vertreten wurde. 150 Kurt R. Fischer (Hg.), Das goldene Zeitalter der Österreichischen Philosophie. Ein Lesebuch, Wien: WUV-Universitätsverlag 1995. 151 Kurt R. Fischer/Friedrich Stadler (Hg.), Paul K. Feyerabend – Ein Philosoph aus Wien. Wien–New York: Springer 2006. 152 Dahms, Vertreibung und Emigration, 328 – 331 und 357. 153 Ernst Topitsch (Hg.), Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, Wien: Springer 1960; Paul Feyerabend/Grover Maxwell (Hg.), Mind, Matter, Method. Essays in Philosophy and Science in Honor of Herbert Feigl, Minneapolis: University of Minnesota Press 1966.
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Der aufstrebende Topitsch selbst folgte, irritiert von der metaphysischen Wirklichkeits- und Weltanschauungsphilosophie, im Jahre 1962 einem Ruf auf einen Lehrstuhl nach Heidelberg, wo ihn allerdings die Studentenbewegung der 1968er Bewegung selbst zu einem konservativen Denker und später umstrittenen Zeit-Historiker werden ließ.154 Eine weiteres Mitglied des Kraft-Kreises (und früheren Wiener Kreises) war Bela Juhos, der es an der Universität Wien trotz internationaler Reputation nur zu einem Privatdozenten für theoretische Philosophie mit dem Titel eines außerordentlichen Professors brachte, womit er ein weiteres Beispiel für die Marginalisierung der wissenschaftsorientierten Philosophie darstellt. Der »Fall Juhos«, ausgelöst durch dessen Artikel »Gibt es in Österreich eine wissenschaftliche Philosophie?« (1965), führte im November 1965 sogar zu einer parlamentarischen Anfrage an den Unterrichtsminister (Theodor Piffl-Percevic), die von Heinz Fischer, dem derzeitigen Bundespräsidenten, zum Anlass für eine Veröffentlichung zum Problem »Freiheit der Wissenschaft in Österreich« genommen wurde. Die damaligen Inhaber der drei philosophischen Lehrkanzeln haben nicht überraschend den Vorwurf einer Marginalisierung der »wissenschaftlichen Philosophie« und erkenntnis-analytischen Methode strikt von sich gewiesen – wenn auch mit offensichtlich ungenügenden Argumenten. So blieb Juhos in Wien ein »Denker ohne Wirkung«, obwohl er wesentliche Beiträge zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geliefert hatte.155 Neben den traditionellen Bereichen der Philosophie, der Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Logik konnte sich die moderne (symbolische) Logik im Anschluss an Gottlob Frege, Bertrand Russell, Alfred North Whitehead und vor allem an den weltberühmten Kurt Gödel in Wien erst spät außerhalb der Philosophie (u. a. durch ein eigenes Institut für Logistik unter Curt Christian) institutionalisieren. Noch später, im Jahre 1986, wurde ein Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung gegründet – das allerdings in der Folge des Universitätsgesetzes (UG) 2002 wieder aufgelöst und in das Institut für Philosophie eingegliedert wurde.156 Zieht man in Betracht, dass z. B. weder Ludwig Wittgenstein, noch Kurt Gödel oder Karl Popper wirklich ernsthaft zu einer Rückkehr nach Österreich von ministerieller oder universitärer Seite eingeladen wurden, ist der Effekt einer
154 Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Sonderheft 8/2004 (Schwerpunkt: Ernst Topitsch). 155 Hubert Schleichert, Denker ohne Wirkung. B¦la Juhos – ein typisches Schicksal, in: Conceptus (1971), 5 – 12. 156 Friedrich Stadler, Wissenschaftstheorie in Österreich seit den 1990er Jahren im internationalen Vergleich: Eine Bestandsaufnahme, in: Journal for General Philosophy of Science 43 (2012) 1, 137 – 186.
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»autochthonen Provinzialisierung«157 umso plausibler, weil er als bewusste Immunisierungsstrategie der wissenschaftlichen und politischen Eliten erscheint. Obwohl eine derartige Einladung kaum zu einer tatsächlichen akademischen Rückkehr geführt hätte, wäre sie eine angemessene Geste der Wertschätzung gewesen. Dieses Defizit wurde dadurch noch verstärkt, dass eine viel versprechende jüngere Generation von Philosophen durch diese strukturellen Defizite ins Ausland ging oder Wien verließ: die bereits genannten Paul Feyerabend, Ernst Topitsch, dazu Heinz von Foerster, Werner Leinfellner, Hubert Schleichert, Heinrich Kleiner, Rudolf Freundlich – nicht zuletzt der in Deutschland schulenbildende Österreicher Wolfgang Stegmüller.158 Dieser war vorher selbst in Wien von der geschilderten Vergangenheit eingeholt worden: dieselben Eliten, die für das restaurative intellektuelle Klima nach 1945 verantwortlich waren, inszenierten ein networking mit dem Ergebnis einer Verhinderung der Ernennung Stegmüllers zum außerordentlichen Professor in Innsbruck und Wien.159 Obwohl er durch seine deutschsprachigen Publikationen seit den 1950erJahren – u. a. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie (1952); MetaphysikSkepsis-Wissenschaft (1954) – maßgeblich für die Wiederentdeckung und den geistigen Re-Import der analytischen Philosophie und modernen Wissenschaftstheorie verantwortlich war, scheiterte er in der monokulturellen Wissenschaftslandschaft am Beginn der Zweiten Republik mit seinen Ambitionen auf eine entsprechende akademische Position – nicht zuletzt aus weltanschaulichen und philosophischen Differenzen mit den damaligen akademischen und ministeriellen Entscheidungsträgern (u. a. mit Drimmel, Gabriel und der »Katholischen Akademie«). Stattdessen startete er 1958 an der Universität München seine internationale wissenschaftliche Karriere mit einer beachtlichen Wirkung hinsichtlich der Verbreitung der modernen analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie im deutschsprachigen Raum.160 Der emigrationsbedingte Bruch wurde noch durch die lange Zeit übersehene Tatsache indirekt verschärft, dass auch eine ganze Gruppe von Philosophen der zweiten Generation nach der Emigration im Ausland blieben, wie z. B. Paul Edwards, Gerald Holton, Kurt Baier, Yehuda Elkana, Yehoshua Bar-Hillel oder 157 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996), 67 – 92. 158 Stadler, Vertreibung, Transformation und Rückkehr, darin: Hans Joachim Dahms, Stegmüller und das Comeback der Wissenschaftstheorie in Deutschland, 271 – 340, und Michael Schorner, Comeback auf Umwegen. Die Rückkehr der Wissenschaftstheorie in Österreich, 189 – 252. 159 Benetka, Der »Fall« Stegmüller. 160 Stadler, Vertreibung, Transformation und Rückkehr.
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Rudolf Ekstein. In Wien hat erst seit den 1970er-Jahren der Remigrant Kurt Rudolf Fischer, ein Studienkollege Feyerabends in Berkeley, durch seine Tätigkeit als Gast- und Honorarprofessor am Philosophischen Institut, vor allem durch seine Kontakte mit der anglo-amerikanischen analytischen Philosophie für eine Internationalisierung und Pluralisierung gesorgt.161 Natürlich kann man diese kontrafaktische Geschichte auch auf die Psychologie ausdehnen: Was wäre gewesen, wenn man Karl und Charlotte Bühler, Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld oder Egon Brunswik und Else Frenkel-Brunswik wieder nach Wien geholt hätte?162
Das Jahr 1968 und die Folgen Die Dominanz einer weltanschaulich ausgerichteten Philosophie in den beiden ersten Jahrzehnten nach 1945 wurde erstmals im Zusammenhang mit der 600Jahr-Feier der Universität Wien zum Thema öffentlicher Kontroversen. Die bereits erwähnte Kritik von Juhos war schon Ausdruck dieser Distanzierung gewesen, während der Fall des antisemitischen Hochschulprofessors Taras Borodajkewycz im gleichen Jahre 1965 die verdrängte und verspätete Auseinandersetzung mit der NS-Zeit beschleunigte.163 Eine jüngere Generation von Studierenden fand auch in Wien im Zuge des internationalen Studentenprotests der späten 1960er Jahre zu öffentlicher Kritik an der Ordinarienuniversität.164 Vom 2. bis 9. September 1968, mitten im Kalten Krieg und eine Woche nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings«, fand nämlich in Wien der 14. Internationale Kongress für Philosophie statt. Er stand unter der Patronanz des Bundespräsidenten und Bundeskanzlers und wurde von Leo Gabriel und Erich Heintel als Vertreter des Organisationskomitees veranstaltet. Rund 3000 TeilnehmerInnen aus aller Welt hielten an die 1000 Vorträge, u. a. von prominenten Philosophen wie Ernst Bloch oder Gabriel Marcel. Unter den fünf Plenarsitzungen gab es auch eine über Philosophie und Naturwissenschaften und unter den acht Kolloquien wurde eines über Wittgenstein, den Wiener Kreis und die analytische Philosophie organisiert, was eine erstmalige offizielle Thematisie161 Gertraud Diem-Wille/Ludwig Nagl/Friedrich Stadler (Hg.), Weltanschauungen des Wiener Fin de Si¦cle 1900/2000. Festgabe für Kurt Rudolf Fischer zum achtzigsten Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2002. 162 Karl Fallend/Bernhard Handlbauer/Werner Kienreich (Hg.), Der Einmarsch in die Psyche. Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Folgen, Wien: Junius 1988. 163 Heinz Fischer (Hg.), Einer im Vordergrund. Taras Borodajkewicz. Eine Dokumentation, Wien: Europa Verlag 1966. 164 Rathkolb/Stadler, Das Jahr 1968.
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rung der vertriebenen Richtung nach 1945 bedeutete. Die früheren Kreis-Mitglieder aus Wien, Kraft und Juhos, kamen allerdings nicht zu Wort. Dieser Kongress war geprägt einerseits durch die Herausforderung der Prager Ereignisse mit einer starken medialen Öffentlichkeit, andererseits durch die Infragestellung der beiden dominanten Ordinarien Gabriel und Heintel, vor allem durch die jüngere Generation der Studierenden. Allerdings war die Präsenz der modernen Wissenschaftsphilosophie in den Vorträgen und späteren Akten165 marginal, wenn man von den Vorträgen von Karl Popper, W.V.O. Quine, Gilbert Ryle, Alfred J. Ayer, Georg Henrik von Wright, Mario Bunge und Jaakko Hintikka absieht. Zieht man Wien als Veranstaltungsort in Betracht, dann erfolgte nur eine spärliche Thematisierung des inzwischen globalisierten und berühmt gewordenen Wiener Kreises. Aber diese Verdrängung der Vorgeschichte des Kreises in Wien provozierte einige Protestaktionen seitens der Studierenden (u. a. von Eckehart Köhler), die die Rolle der beiden Ordinarien im Austrofaschismus und Nationalsozialismus thematisierten. Eine akademische Reaktion kam auch vom Popper-Anhänger Hans Lenk, der über die Rolle der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie im gleichen Jahr publizierte und darin bedauerte, dass es beim Kongress keinen politischen Dialog gegeben hatte und eine kritische Auseinandersetzung zwischen »analytischer« und »kontinentaler« Philosophie ausgeblieben war.166 Seit dem Jahr 1968 begann in der Philosophie eine Auseinandersetzung mit dem Austrofaschismus und Nationalsozialismus sowie mit der klerikal-konservativen Restauration der Nachkriegszeit mit antisemitischem Subtext. Einige Jahre zuvor hatte sich in dem von Paul Lazarsfeld und Oskar Morgenstern, ohne Begeisterung des Ministeriums und der Universität Wien, begründeten Instituts für Höhere Studien (IHS) neben den empirischen Sozialwissenschaften auch die aus Wien stammende moderne Wissenschaftstheorie (Philosophy of Science) mithilfe von temporären Besuchern wie Karl Menger, Herbert Feigl, oder Karl Popper für kurze Zeit wieder in Erinnerung gerufen.167 Hier sind auch diejenigen Autoren und Philosophen zu nennen, die als Remigranten das intellektuelle Leben außerhalb der Universität kompensiert und bereichert haben: Albert Fuchs, Günther Anders, Jean Am¦ry, Kurt Blaukopf u. a.m. In den ersten Jahren der Zweiten Republik hat sich in der von Willy Verkauf-Verlon herausgegebenen Zeitschrift Erbe und Zukunft (1946 – 1948) eine philosophische Gruppe versammelt, die sowohl die vergessene »österrei165 Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie. Wien, 2.–9. September 1968, 6 Bände, Wien: Herder 1968 – 1971. 166 Hans Lenk, Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie beim internationalen Kongress für Philosophie in Wien 1968, in: Conceptus II (1968) 4, 155 – 161. 167 Christian Fleck, Österreichische Universitäten am Beginn der Zweiten Republik (unveröffentlichtes Manuskript), Graz 2002. Kopie im Besitz der Verfasser.
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chische Philosophie« seit der Aufklärung, als auch den Logischen Empirismus als doppelt verdrängte Emigrationswissenschaft kurzzeitig thematisierte und weiterentwickelte. »Wissenschaftsphilosophie und Politik« bildeten in Österreich eine untrennbare Einheit und müssen als »science im context« – zusammen mit der rein theoretischen Perspektive – behandelt werden.168 Gleichzeitig wird der Verlust eines wesentlichen Bestandteils der blühenden Wissenschaftskultur und einer Besonderheit der Ersten Republik sichtbar : nämlich die enge Verbindung zwischen volksbildnerischem, philosophischem und literarischem Diskurs, wie sie sich am Beispiel von Robert Musil oder Hermann Broch zeigte. Kann es daher zufällig erscheinen, wenn in den 1950erJahren gerade durch die literarische Avantgarde um die Wiener Gruppe und durch die junge Ingeborg Bachmann (die bei Viktor Kraft dissertierte) die zögerliche Rezeption des inzwischen weltweit bekannten Ludwig Wittgenstein begann? Diese Art von sprachphilosophischer Analyse und literarischer Kritik stellte nämlich das logisch-empirische Gegenprojekt zur universitären Ganzheits- und Systemphilosophie dar. So wird es auch verständlich, wenn Hilde Spiel, die vor ihrer Emigration in Wien bei Moritz Schlick studierte und bei Karl Bühler im Jahre 1935 dissertierte (»Versuch einer Darstellungstheorie des Films«), mehrmals in ihren Schriften den Verlust einer intellektuellen Welt thematisierte, die im Zusammenhang mit Vertreibung, Holocaust und dem auch am Beginn der Zweiten Republik fortgesetzten Kulturkampf unwiederbringlich verschwand.169 Bis Mitte der 1960er Jahre können wir noch eine Kontinuität erkennen, die einerseits an den politischen Katholizismus und Universalismus des »Ständestaates« mit christlicher Existenzialphilosophie anknüpfte, andererseits eine Etablierung und Remigration der vertriebenen Philosophen verhinderte. Wenn man dazu noch die Nachkriegskarriere von Erich Heintel als Vertreter des transzendentalphilosophischen Idealismus am Philosophischen Institut der Universität Wien in Betracht zieht, kann weder die internationale Randlage der Wiener Philosophie in den ersten Dekaden nach 1945, noch die fortgesetzte Exilierung der emigrierten Philosophen überraschen. Diese Bipolarität ist dadurch verstärkt worden, dass die Schüler der beiden genannten Ordinarien durch Professuren in Wien für eine Art Fortsetzung der beiden Strömungen sorgten, bis seit den 1970er-Jahren eine Öffnung und Pluralisierung am Philosophischen Institut eingetreten ist. Gleichzeitig hat sich dieser Einfluss auch universitätspolitisch niederge168 Michael Heidelberger/Friedrich Stadler (Hg.), Wissenschaftsphilosophie und Politik. Philosophy of Science and Politics, Wien–New York: Springer-Verlag 2003. 169 Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911 – 1946, München: List 1989, sowie dies., Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946 – 1989, München: List 1990.
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schlagen: in der Umbenennung und Umstrukturierung der großen Philosophischen Fakultät in eine Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät, Geisteswissenschaftliche Fakultät und Naturwissenschaftliche Fakultät (1975), sowie zuvor in der Mitarbeit von Erich Heintel bei der Ausarbeitung des »Allgemeinen Hochschulstudiengesetzes« (1966). Dem skizzierten Zeitgeist der Nachkriegszeit entsprach die damalige Hochschulpolitik unter den Unterrichtsministern Felix Hurdes, Ernst Kolb und Heinrich Drimmel (letzterer von 1954 – 1966, danach Kulturstadtrat und Vizebürgermeister von Wien), die nicht nur für eine selektive Personalpolitik im Hochschulwesen sorgte. Drimmel hat auch selbst kräftig polemisch zur Feder gegriffen und in seinen Schriften auf die Priorität eines klerikal-konservativen, antimodernistischen Weltbildes insistiert, das an den politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit wieder anknüpft.170 Die weitere Entwicklung nach dem großen Philosophenkongress 1968 in Wien, mit den nachfolgenden Emeritierungen von Gabriel (1972) und Heintel (1982) führte zu einem Ende der dualen Dominanz mit zwei getrennten Instituten der Philosophie seit dem Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975. Danach wurde das seit Bestehen der Philosophischen Fakultät verpflichtende Philosophicum für alle Lehramts- und Doktorats- Studierenden der Fakultät (außer der Philosophie) abgeschafft. Diese Phase ist durch die Etablierung der zweiten Generation der beiden Ordinarien und mit zusätzlichen Berufungen und Ernennungen gekennzeichnet, was in diesem Rahmen nur skizzenhaft erwähnt werden kann: Der 1970 aus Deutschland berufene Karl Ulmer wirkte in der Nachfolge von Kainz für rund zehn Jahre als klassischer hermeneutischer Philosoph mit einem Fokus auf immanente Textinterpretation und rationale Argumentation. Ihm folgte 1982 der am Institut habilitierte Hans Dieter Klein, der den deutschen Idealismus und die Transzendentalphilosophie in Richtung systematische Philosophie weiter pflegte, die heute noch durch (tit. ao. Prof.) Walter Zeidler vertreten ist. Aus der SchülerInnengeneration kam auch Herta Nagl, die eine Erweiterung des klassischen Kanons hin zur Geschichtsphilosophie und feministischen Philosophie vollzog. Aus Deutschland wurde noch Hans-Dieter Bahr als Nachfolger Heintels berufen, der jenseits der philosophischen Tradition vor allem eine postmoderne Philosophie der Technik vertrat. Auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Hermeneutik wurde Norbert Leser berufen, der in Wien neben seinem Schwerpunkt Austromarxismus auch die katholische Soziallehre im Kontext österreichischer Geistesgeschichte behandelte. Der von Gabriel kommende Peter Kampits hat mit einem Fokus auf (angewandte) Ethik sowie auf französische Existenzphilosophie und österreichische Philosophie eine eigene Entwicklung vollzogen. 170 König, Heinrich Drimmel.
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Schließlich vertrat Michael Benedikt von 1976 bis zu seiner Emeritierung die kantianische Tradition und verknüpfte Phänomenologie mit kritischer Anthropologie. Er erwarb sich besondere Verdienste als Initiator, (Mit-)Herausgeber und Autor der voluminösen sechsbändigen Buchreihe »Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung« um die Historiografie zur Philosophie in Österreich von 1400 bis zur Gegenwart.171 Daneben wirkte Johann Mader als Professor von 1971 bis 1996 im Sinne der deutschen Transzendentalphilosophie und klassischen Philosophiegeschichte. Von den außerordentlichen Professoren seien stellvertretend noch Franz Martin Wimmer genannt, der in Wien bis 2008 den bis heute existierenden Schwerpunkt der interkulturellen Philosophie etablieren konnte. Auch die ebenfalls heute noch stark vertretene Phänomenologie wurde in dieser Phase besonders durch Günther Pöltner und Helmut Vetter gepflegt. In dieser Zeit avancierten viele Mitglieder des so genannten habilitierten »Mittelbaus« zu außerordentlichen ProfessorInnen oder erhielten Professuren ohne klassisches Berufungsverfahren.
6.
Ausblick: Philosophie an der Universität Wien auf dem Weg ins 21. Jahrhundert
Im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und analytischen Philosophie ist eine Wiederanknüpfung an die große Tradition in der Zwischenkriegszeit mit Wittgenstein- und Wiener Kreis-Forschung erkennbar, die schon zuvor an den übrigen österreichischen Universitäten (Graz, Salzburg, Innsbruck, Linz) eingesetzt hatte.172 Der von Heintel gekommene Erhard Oeser übernahm im Jahre 1972 den neu eingerichteten Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie. Im Rahmen des Internationalen Kongresses für Philosophie war die Wissenschaftstheorie 1968 noch marginal vertreten, was durch die damalige Bestandsaufnahme der Philosophie in Österreich im internationalen Vergleich bestätigt wird.173 Der Forschungsstand der Wissenschaftsphilosophie am Beginn 171 Zuletzt: Michael Benedikt/Reinhold Knoll/Franz Schwediauer/Cornelius Zehetner (Hg.), Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung, Band VI: Auf der Suche nach authentischem Philosophieren, Philosophie in Österreich 1951 bis 2000, Wien: Facultas-WUV 2010. 172 Stadler, Wissenschaftstheorie in Österreich. 173 Gabriel/Mader (Hg.), Philosophie in Österreich, 2 – 3). Zur Geschichte des Instituts für Philosophie in der NS-Zeit und am Beginn der Zweiten Republik siehe: Kurt R. Fischer/ Franz M. Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930 – 1950, Wien: WUV-Universitäts-Verlag 1993; Friedrich Stadler, Philosophie – Zwischen »Anschluss« und Ausschluss, Restauration und Innovation, in: Margarete
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der Zweiten Republik mit den erwähnten Aufbruchsbemühungen spiegelt sich in der von Ernst Topitsch 1960 herausgegebenen Festschrift für Viktor Kraft.174 Seit dessen Ableben ist die Wiener Wissenschaftstheorie in der Tradition des Wiener Kreises an der ÖAW nicht mehr vertreten. Es war daher nicht zufällig, dass sich seit 1983 im Wiener Institut für Philosophie die moderne analytische Richtung im Rahmen einer informellen Arbeitsgruppe für sprachanalytische Philosophie (die ao. Profs. Richard Heinrich, Herbert Hrachovec, Ludwig Nagl, Elisabeth Nemeth) manifestierte, die vor allem durch den aus den USA zurückgekehrten Gast- und Honorarprofessor Kurt Rudolf Fischer initiiert und bereichert worden ist.175 In den letzten Jahren hat sich auch ein studentisches »Forum für analytische Philosophie« gebildet, das durch Vorträge und Tagungen aktiv geworden ist. Eine weitere institutionelle Weichenstellung erfolgte mit der bereits erwähnten Gründung des Instituts für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung im Jahre 1986, welches neben dem Ordinariat von Erhard Oeser für Terminologie und Wissenstechnik noch die zwei Professuren von Helga Nowotny für vergleichende Wissenschaftsforschung und Friedrich Wallner für Epistemologie und Kognitionsforschung nach sich zog. Alle drei Genannten sind inzwischen emeritiert oder pensioniert (Helga Nowotny nach einer anschließenden Professur an der ETH Zürich bis Ende 2013 als Präsidentin des European Research Council in Brüssel tätig). Außerhalb des Instituts für Philosophie wurde 1967 ein Institut für Logistik an der Philosophischen Fakultät errichtet, das von Curt Christian bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1990 geleitet worden ist.176 Nach einer mehrjährigen Vakanz wurde ein Institut für formale Logik, ab 2004 im Zuge der Implementierung des UG 2002 als »Gödel Research Center for Mathematical Logic« mit der Berufung von Sy-David Friedman vom MIT 1999 errichtet. Dieses hat sich inzwischen im Bereich der mathematischen Logik mit den Schwerpunkten Mengentheorie und Modelltheorie zu einem Forschungszentrum, allerdings im Rahmen der Fakultät für Mathematik etabliert. Die Philosophie der Logik und Mathematik inkl. Wittgenstein-Forschung ist am Institut für Philosophie u. a. durch die assoziierte Professorin Esther Ramharter vertreten. Das Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung ist wie Grandner/Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Wien: Studien-Verlag 2005, 121 – 136. Allgemein zur Philosophie in Österreich: Benedikt/Knoll/Zehetner, Verdrängter Humanismus, Bd. V, und Benedikt/Knoll/ Schwediauer/Zehetner, Verdrängter Humanismus, Band VI. Außerdem: Acham, Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6. 174 Topitsch, Probleme der Wissenschaftstheorie. 175 Diem-Wille/Nagl/Stadler, Weltanschauungen. 176 Von 1980 bis 1997 wurde ein Diplomstudium für Logistik angeboten.
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gesagt in das Institut für Philosophie – mit den ao. Profs. Mona Singer und Markus Peschl – eingegliedert worden. Letzterer hat einen interdisziplinären Schwerpunkt »Cognitive Science« mit einem entsprechenden Master und einer Forschungsplattform eingerichtet.177 Ulrike Felt, Nachfolgerin von Helga Nowotny, leitet inzwischen das Institut für Wissenschaftsforschung im Rahmen der Fakultät für Sozialwissenschaften, wo ein Masterstudium in Social Science Studies angeboten wird. Nach der Emeritierung von Erhard Oeser wurde dessen Professur im Jahre 2009 mit dem aus Cambridge (UK) berufenen Martin Kusch besetzt, der seitdem als »Professor für Angewandte Wissenschaftstheorie und Theorie des Wissens« tätig ist und der inzwischen mit einem fünfjährigen European Research Council (ERC) Advanced Research Grant über Relativismus ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte die Professorin für Praktische Philosophie, Herlinde Pauer-Studer bereits einen ERC Advanced Research Grant über »Distortions of Normativity« erhalten, der zugleich die analytische Richtung in der Ethik und politischen Philosophie wesentlich stärkte. Im Jahre 2008 wurde Friedrich Stadler, 1991 Begründer und seitdem wissenschaftlicher Leiter des Instituts Wiener Kreis, auf die neu geschaffene Doppelprofessur für »History and Philosophy of Science« (Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftstheorie) berufen. Diese fakultäts- und fächerübergreifende Professur ist an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft und an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt. Im Jahre 2011 wurde das Institut Wiener Kreis auch als universitäres Institut (Subeinheit) an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft eingerichtet, an dem seit seiner Gründung auch die derzeitige Dekanin Elisabeth Nemeth mit gearbeitet hat. Damit hat die Wissenschaftstheorie in Wien eine im historischen Vergleich in der Zweiten Republik starke Aufwertung erfahren. Durch weitere Neuberufungen in jüngster Zeit auf die Professuren für Europäische Philosophie (Violetta Waibel), Theoretische Philosophie (Sven Bernecker), Politische Philosophie und Sozialphilosophie (Hans Bernhard Schmid), Interkulturelle Philosophie (Georg Stenger), Angewandte Ethik (Angela Kallhoff) sowie Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik (Konrad Paul Liessmann) entwickelte sich das Institut für Philosophie damit insgesamt zu einem der größten im deutschsprachigen Bereich. Zuletzt hat Matthew Ratcliffe (Durham University, UK) den Ruf auf die Professur für theoretische Philosophie (Nachfolge Bernecker) angenommen, zwei weitere Professuren für Medien- und Technikphilosophie und für analytische Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Sprachphilosophie werden ab 2015 besetzt. 177 Middle European Interdisciplinary Joint Master Program in Cognitive Science, Peschl ist Leiter der Forschungsplattform »Cognitive Science« an der Universität Wien.
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Mit diesen Entwicklungen ergaben sich weitere Pluralisierungen zwischen kontinentaler und analytischer, praktischer und theoretischer Tradition sowie eine fächer- bzw. länderübergreifende Vernetzung mit zunehmender Präsenz auch von Philosophinnen im letzten Jahrzehnt, was angesichts der Entwicklung von der Ersten zur Zweiten Republik Anlass für Optimismus gibt.178 Nach einem totalen Generationenwechsel und durch mehrere Berufungen zeichnet sich eine viel versprechende Entwicklung hin zur Internationalisierung auf hohem Niveau ab (was nicht zuletzt durch aktuelle internationale Rankings und Evaluierungen bestätigt wird). Diese Entwicklung hat Wien wahrscheinlich wieder zu einem der Zentren deutschsprachiger Philosophie, auch im Rahmen der globalen Philosophie, werden und an eine große Vergangenheit anknüpfen lassen, was sich auch in den steigenden Studierendenzahlen spiegelt.179 Dass diese Entwicklung zur Spezialisierung mit einer Öffnung auch zur angewandten Philosophie mit dem wohl endgültigen Verschwinden der klassischen großen Philosophischen Fakultät in der Volluniversität begleitet war, mag man – gerade angesichts des großen Kant-Kongresses 2015 im Jahr des 650jährigen Jubiläums der Universität Wien – mit Bezug auf Kants »Streit der Fakultäten« bedauern oder begrüßen. Immerhin existiert seit 2004 wieder eine eigene Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, womit in der (international nicht mehr gängigen) Namensgebung das seit Gründung der Universität vorhandene zentrale Fach explizit beibehalten, ausgebaut und gewürdigt wird.
Anmerkung Dieser Beitrag wurde gemeinsam verfasst, wobei Dahms im Wesentlichen die Rohfassungen von »Franz Brentano und seine Schule« und »Moritz Schlick und der Wiener Kreis« schrieb und Stadler die aller anderen. Siehe für die Vorarbeiten Stadlers zu diesem Artikel: Friedrich Stadler, Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrundes des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien, in: Hal Berghel/Adolf Hübner/Eckehart Köhler (Hg.), Wittgenstein, der Wiener Kreis und der Kritische Rationalismus, Wien: HölderPichler-Tempsky 1979, 41 – 59; ders. (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, II Bände. Wien-München: Jugend u. Volk 1988, 2. Auflage: Münster : LIT-Verlag 2004; ders., Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 178 Herta Nagl-Docekal, Das Institut für Philosophie der Universität Wien. Der Status quo und seine Genese, in: Fischer/ Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß, 206 – 220; Elisabeth Nemeth, Zwischen Orthodoxie und gesellschaftlicher Sichtbarkeit, in: ebd., 221 – 238. 179 Eine fundierte aktuelle Bestandsaufnahme bildet der Selbstevaluationsbericht der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft (2013) als Grundlage für die Ende 2013 erfolgte internationale Evaluierung.
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(Englisch: Wien–New York 2001; Spanisch: M¦xico-Santiago de Chile: Univ. Autûnoma Metropolitanay, Fondo de Cultura Econûmica 2010; 2. Auflage Deutsch und Englisch: Dordrecht: Springer 2015); ders., Philosophie – Zwischen »Anschluss« und Ausschluss, Restauration und Innovation, in: Margarete Grandner/Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955. Wien: Studien-Verlag 2005, 121 – 136; ders., Antisemitismus an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, in: Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: V& R unipress, Vienna University Press 2013, 207 – 238. Als zusammenfassenden Überblick zum hier vorliegenden Artikel sei auf den Beitrag von Stadler im Band IV dieser Reihe verwiesen, wobei sich naturgemäß inhaltliche und wörtliche Überschneidungen nicht vermeiden ließen.
Irene Ranzmaier
Die Philosophische Fakultät um 1900
Die Philosophische Fakultät gilt als das Herzstück einer Universität, die gemäß dem Ideal der Humboldt-Universität Forschung und Lehre vereint sowie Lehrund Lernfreiheit gewährt.1 Auch die Universitätsreformen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Österreich unter Minister Leo von Thun-Hohenstein durchgeführt wurden, werden im Wesentlichen unter der Perspektive dieses Ideals betrachtet.2 Demnach wäre die Philosophische Fakultät jener Ort, wo die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung, die Innendifferenzierung der Disziplinen und damit die Etablierung neuer Fächer ihre größte Dynamik entfalteten. Freilich standen dem Ideal die realen Rahmenbedingungen gegenüber. Traditionen, unterschiedliche Interessen der Fakultätsangehörigen und speziell Regierungsentscheidungen über die Verteilung von Ressourcen für Lehre und Forschung prägten die Fakultät. Im Universitätsverband genoss die Wiener Philosophische Fakultät relative Autonomie. Personalvorschläge und Anträge auf die Errichtung neuer Professuren richtete das Professorenkollegium ohne Involvierung des Senats oder einer anderen Fakultät direkt an das Ministerium für Cultus und Unterricht. Damit besaß das Professorenkollegium maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der in seinen Reihen vertretenen Disziplinen und auf neu zu etablierende Disziplinen. Die Entscheidungen fielen freilich im Ministerium, sodass auch Regierungsinteressen in den Fakultätsverhandlungen eine Rolle spielen mussten. Folglich geben diese Verhandlungen mitsamt ihren Resultaten ein 1 Rüdiger vom Bruch, Differenzierung und Professionalisierung. Von der Propädeutik zum Motor der modernen Forschungsuniversität, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1), Basel: Schwabe & Co 1999, 393 – 401, 392 – 393; Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau 1999. 2 Auch für neuere Arbeiten in dieser Hinsicht grundlegend: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte der Philologisch-historischen Klasse 139/2), Wien–Graz: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1962.
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Irene Ranzmaier
deutliches Bild sowohl von den Voraussetzungen, die um 1900 für die Entwicklung der Wiener Philosophischen Fakultät bestanden, als auch von den Auswirkungen dieser Voraussetzungen.3 Dabei ist von besonderem Interesse, wie die Interaktion der Vertreter unterschiedlicher Disziplinen sich auswirkte – speziell in Hinblick auf die Vereinigung der philologisch-historischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächergruppe unter dem gemeinsamen Dach der Philosophischen Fakultät.4 Um 1900 wurde die Wiener Philosophische Fakultät in erster Linie von der stark limitierten Zuteilung finanzieller Ressourcen durch die Regierung geprägt. Die Phase des Ausbaus, die mit den Thun’schen Reformen begonnen hatte, war zu Ende; das Budget der gesamten Universität Wien ging bis 1900 zugunsten der anderen cisleithanischen Universitäten und Technischen Hochschulen sukzessive zurück.5 Zwischen 1890 und 1910 erwies sich die Etablierung neuer Lehrstühle, neuer Extraordinariate oder die Errichtung neuer Forschungseinrichtungen an der Philosophischen Fakultät als äußerst schwierig. Gleichzeitig verengte sich der Kreis potentieller Kandidaten für Lehrstühle zusehends, da Auslandsberufungen wegen der vergleichsweise niedrigen Bezüge der österreichischen Universitätsprofessoren und in einigen Naturwissenschaften zusätzlich wegen unzureichender Forschungseinrichtungen beinahe unmöglich
3 Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse des FWF-Projekts P21865 »Die Philosophische Fakultät der Universität Wien um 1900« von Mitchell G. Ash und Irene Ranzmaier zusammen (Institut für Geschichte, Universität Wien, 2009 – 2013). Sie basieren auf Materialen des Archivs der Universität Wien sowie des Österreichischen Staatsarchivs (Personalakten und andere Dokumente zur Einrichtung von Professuren) zur Wiener Karriere jener Gelehrten, die in den Studienjahren 1899/1900 bis 1901/02 als Ordinarien oder Extraordinarien lehrten oder deren Berufung in diesem Zeitraum verhandelt wurde. Der Fokus lag dadurch auf der Zeit zwischen 1885 und 1910. 4 Um 1900 umfasste die philologisch-historische Fächergruppe folgende durch ein Ordinariat oder ein Extraordinariat vertretene Disziplinen: Philosophie, Geschichte (mittlere und neuere Geschichte), Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, klassische Philologie, klassische Archäologie, Alte Geschichte, Germanistik, Romanistik, Anglistik, Slawistik, vergleichende Sprachwissenschaft, Ägyptologie, Semitistik, Indologie, Geschichte des Orients, Alte Geschichte des Orients und Urgeschichte. Zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächergruppe gehörten Mathematik, Physik, Chemie, Zoologie, Botanik, Mineralogie und Petrographie, Geologie, Paläontologie, Meteorologie, Astronomie, Geographie und Geodäsie. 5 Vgl. zur Budgetentwicklung die Grafiken in: Walter Höflechner, Zum Einfluß des deutschen Hochschulwesens auf Österreich in den Jahren 1875 – 1914, in: Bernhard vom Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das »System Althoff« in historischer Perspektive, Hildesheim: Lax 1991, 155 – 183, 161 und 165. Zur Ausbauphase speziell der 1850er und 1870er Jahre vgl. Kurt Mühlberger, Das »Antlitz« der Wiener Philosophischen Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Struktur und personelle Erneuerung, in: Johannes Seidl (Hg.), Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession (Schriften des Archivs der Universität Wien 14), Göttingen: V & R unipress 2009, 67 – 102, 82 – 88.
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wurden. In der Folge gewann die Fakultät ihre Professoren6 hauptsächlich aus dem eigenen Nachwuchs – oftmals per Hausberufung, also ohne Zwischenstation der Dozenten an einer anderen Universität – oder von anderen cisleithanischen Universitäten, vornehmlich Prag, Graz und Innsbruck.7 Unter diesen Voraussetzungen blieb der Fakultät kaum eine Möglichkeit zur planvollen Differenzierung und Spezialisierung bereits etablierter Disziplinen oder zur Etablierung neuer Disziplinen. Wegen der beschränkten finanziellen Ressourcen mussten die Verhandlungen des Professorenkollegiums sich auf personelle Fragen konzentrieren. Statt die künftige wissenschaftliche Entwicklung eines vakanten oder neu zu etablierenden Lehrstuhls festzulegen und nach diesen Vorgaben einen Personalvorschlag mit den bestgeeigneten arrivierten Kandidaten zu erstellen, mussten die Professoren ihre Pläne für die Lehrstühle auf die erreichbaren Kandidaten ausrichten. Die Fakultätsanträge illustrieren generell, dass die Professoren wissenschaftlichen Fortschritt keineswegs als schlagkräftigstes Argument für die Realisierung ihrer Pläne durch das Ministerium ansahen. Neben etwaigen hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen eines Kandidaten für eine Professur hob die Fakultät vor allem Lehrbedürfnisse hervor. Oft betonte sie außerdem die Gefahr, hinter andere europäische Länder zurückzufallen – sowohl in Hinblick auf die Zahl der Lehrstühle als auch auf das internationale wissenschaftliche Prestige. Besonders schwierig war die Lage in jenen Disziplinen, deren Expansion kostspielige neue Forschungsausstattung erforderte, also vor allem in den Naturwissenschaften. Bemühungen um die Errichtung eines zusätzlichen Lehrstuhls für Chemie und eines Instituts für Experimentalpsychologie scheiterten, weil das Ministerium die benötigten finanziellen Mittel nicht bewilligte. In der Folge stagnierte die Zahl der ordentlichen Lehrstühle in den Naturwissenschaften, während in den Geisteswissenschaften aufgrund der weniger teuren Forschungsmittel Zuwachs möglich war.8 6 Die Zulassung von Frauen zur akademischen Karriere stand an der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 erst ganz an ihrem Anfang. 1905 ließ die Fakultät die Romanistin Elise Richter als erste Privatdozentin zu, 1921 erhielt Richter wiederum als erste Frau eine außerordentliche Titularprofessur. Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Doris Ingrisch in diesem Band. 7 In der philologisch-historischen Fächergruppe stammten mehr als 60 % der Professoren aus dem eigenen Nachwuchs, in der mathematisch-naturwissenschaftlichen 70 %. Auslandsberufungen konnten nur vereinzelt vorgenommen werden, aber in der philologisch-historischen Fächergruppe immer noch doppelt so oft wie in der mathematisch-naturwissenschaftlichen. 8 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Fächergruppe verfügte laut Personalstandsverzeichnis 1890 über 20 Lehrstühle und 1900 über 21. Dabei wurde ein unbesoldetes Ordinariat für Geodäsie als Lehrstuhl gerechnet (vgl. dazu weiter unten in diesem Text). Die philologischhistorische Gruppe verfügte 1890 über 22 Lehrstühle und 1900 über 27. Neue Lehrstühle gab es in Semitistik (1891 für semitische Sprachen), Romanistik (1892 ohne Spezifikation, führte
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Auch die Zahl der besoldeten Extraordinariate stieg nicht an, nur jene der unbesoldeten vervielfachte sich.9 In manchen Fällen musste die Fakultät sogar darum kämpfen, bestehende Lehrstühle zu erhalten. Dabei wichen die Argumentationsstrategien der Professoren durchaus von der Praxis der wissenschaftlichen Forschung ab, um die Notwendigkeit mehrerer Lehrstühle in einer Disziplin zu vermitteln. In der Physik und in der Astronomie suggerierten Kommissionsberichte wiederholt eine glatte Trennung von theoretischem und experimentellem bzw. beobachtendem Fachbereich, obwohl die theoretischen Zweige keineswegs auf Experiment und Beobachtung verzichten konnten. In der Zoologie wurde ein systematisch-deskriptiver Zweig von einem entwicklungsgeschichtlichen Zweig abgegrenzt, obwohl auch der wissenschaftliche Status der deskriptiven Richtung von ihrer entwicklungsgeschichtlichen Grundlage abhing. Die Strategie, ein gefährdetes Ordinariat durch seine populäre Ausrichtung zu retten, duldete die Fakultät in einer Naturwissenschaft wie der Zoologie nicht, während sie im Fall der Kunstgeschichte zumindest für einen Teil des Professorenkollegiums eine Option war.10 Die geringe Aussicht auf Auslandsberufungen schlug sich stark in den Verhandlungen der Fakultät nieder. Immer wieder verzichtete das Kollegium bei der Formulierung von Personalvorschlägen auf die Nennung ausländischer Professoren, um einem neuerlichen Scheitern von Berufungsverhandlungen vorzubeugen. In einigen Fällen wurden umgekehrt die Leistungen der einheimischen Kandidaten heruntergespielt, um einen Personalvorschlag mit mehreren ausländischen Kandidaten zu rechtfertigen und so die Chance auf Verhandlungen mit einem Ausländer zu wahren.11 Zuletzt erhielten ausländische Professoren einen geradezu mythischen Nimbus: 1908/09 beharrte die Fakultät lange, aber erfolglos auf die Berufung eines Astronomen aus Deutschland, weil sie dank dessen besonderen Prestiges den Bau einer neuen, für astrophotographische Forschung geeigneten Sternwarte durchzusetzen hoffte. aber zur Ausdifferenzierung eines literatur- und eines sprachwissenschaftlichen Zweiges), Slawistik (1893 für slawische Philologie und Altertumskunde) und Philosophie (1895 speziell für Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften; 1896 de facto als Wiederbesetzung eines seit 1880 vakanten Lehrstuhls). 9 1890 gab es zwölf Extraordinarien, davon zehn besoldet und zwei unbesoldet. 1900 waren es 18, davon zehn besoldet und acht unbesoldet. Die Zahl der Extraordinarien in den beiden Fächergruppen war sowohl 1890 als auch 1900 exakt ausgeglichen. 1890 galt dies auch für die Zahl der besoldeten Extraordinariate, 1900 überwog die Zahl der geisteswissenschaftlichen besoldeten Extraordinariate jene für die Naturwissenschaften sieben zu drei. 10 Zu verfolgen anhand der Verhandlungen über die Nachfolgen des Zootomen Karl Brühl 1890 – 1893 und des Kunsthistorikers Rudolf Eitelberger 1885 – 1893. 11 Z. B. bei den Verhandlungen der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für indische Philologie und Altertumskunde 1898/99.
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Es ist bemerkenswert, dass die Professoren unter diesen schwierigen Voraussetzungen auf ein geschlossenes Auftreten setzten. Statt direkt im Ministerium für die Förderung der eigenen Disziplin zu werben und auf diese Weise Konflikte an der Fakultät zu riskieren, unterstützten die Ordinarien die Pläne ihrer Kollegen und legten dem Ministerium somit Anträge vor, die von einer starken Mehrheit getragen wurden. Möglicherweise stärkte die Rekrutierung der Professoren aus einem relativ engen Kreis das Zusammengehörigkeitsgefühl und somit die gegenseitige Unterstützung. Sogar die Vertreter derselben Disziplin gerieten nur selten in Konflikt miteinander. Die Fakultät suchte Hierarchien zwischen Ordinarien zu vermeiden, indem sie darauf achtete, dass jeder Lehrstuhlinhaber über seine eigenen Lehr- und Forschungsmittel verfügte und weitgehend über die Angelegenheiten seines Fachbereichs bestimmen konnte. So machte sich innerhalb einzelner Disziplinen erst ab einer gewissen Kopfzahl das Bemühen bemerkbar, nicht noch weitere Ordinariate zuzulassen, um den Einfluss der einzelnen Fachvertreter nicht übermäßig zu schmälern. Allerdings erreichten die wenigsten Disziplinen diese kritische Kopfzahl.12 Freilich war die Situation für alle Lehrstühle einer Disziplin ähnlich ungünstig, sodass ein geschlossenes Auftreten ihrer Inhaber ihren Interessen mehr Gewicht verlieh und besser diente als ein Konkurrieren um Ressourcen. Die Angelegenheiten einer Disziplin wurden üblicherweise durch ihren bzw. ihre ordentlichen Vertreter und den Ordinarien benachbarter Disziplinen verhandelt. Da die Professoren der benachbarten Disziplinen für gewöhnlich die Pläne ihrer Kollegen unterstützten, gewannen sie kaum Einfluss auf eine andere Wissenschaft als ihre eigene. Nur wenn jene Disziplin, der die Verhandlungen galten, vorübergehend keinen oder noch keinen Vertreter im Professorenkollegium hatte, wirkten fachfremde Ordinarien prägend. Bei der Nachfolge auf den durch Todesfall vakanten Lehrstuhl für vergleichende Sprachwissenschaft 1898/ 99 machten etwa die klassischen Philologen eigene Lehrbedürfnisse bei der Auswahl der Kandidaten geltend. Zu Verhandlungen, an denen sowohl Geistesals auch Naturwissenschafter teilnahmen, kam es nur bei jenen Disziplinen, die Elemente beider Fächergruppen kombinierten: Philosophie, Geographie und Urgeschichte. Diese Verhandlungen zeigen, dass in beiden Fächergruppen das Ideal empirischer, exakter und induktiver Forschung galt und deshalb kaum Konflikte zwischen den beiden Gruppen entstanden. Bestrebungen zur Gründung einer naturwissenschaftlichen Fakultät, wie sie 1877/78 unter einigen Naturwissenschaftern aufgekommen waren, gab es keine mehr.13 Freilich galten 12 Mehr als vier Ordinariate in einer Disziplin hießen deren Vertreter nicht gut, wie sich anhand der Geschichte zeigt. Allerdings waren an der Wiener Philosophischen Fakultät schon drei Lehrstühle in einer Disziplin selten, sie bestanden nur in Physik, Mathematik, Philosophie und klassischer Philologie, teils mit langen Vakanzen. 13 Mühlberger, Das »Antlitz«, 92 – 98.
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jene Argumente, mit welchen die Fakultätsmehrheit damals eine Trennung abgelehnt hatte, um 1900 nach wie vor, bzw. noch stärker : Eine große Fakultät konnte bei Verhandlungen mit dem Ministerium größeres Gewicht geltend machen. Ebenso zeigten nicht zuletzt die Beispiele der Philosophie, Geographie und Urgeschichte, dass die beiden Fächergruppen eben nicht so sauber zu trennen waren. Es muss derzeit offen bleiben, ob die große Stabilität des Ideals empirischer, exakter und induktiver Forschung eine konservative Reaktion auf die wissenschaftlichen Umwälzungen war, die sich um 1900 ankündigten, oder ob sie aus der häufigen Rekrutierung des eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses resultierte. Der Status der Wissenschaftlichkeit aller Disziplinen hing von der Einhaltung der eben genannten Standards ab. In den beiden Fächergruppen wurden allerdings die Grenzen zwischen den Disziplinen auf unterschiedliche Weise gezogen. Die philologisch-historischen Disziplinen, die unter streng positivistischen Ansätzen in erster Linie auf die Gewinnung von Quellenmaterial ausgerichtet waren, gewannen ihr Profil durch ihren jeweils wichtigsten Quellenbestand und die entsprechenden Spezialmethoden. Die Erforschung der bildenden Künste und der Musik, deren Wurzeln in der Ästhetik lagen, konnte ihren wissenschaftlichen Status nur behaupten, indem sie zur quellenbasierten Kunstgeschichte und Musikgeschichte wurde. Leichte Spannungen gab es zwischen historischen und »rein philologischen« (auf Sprache und Literatur konzentrierten) Disziplinen – besonders dort, wo auf materiellen Quellen basierende historische Realfächer sich aus Philologien ausdifferenzierten. Am eindrücklichsten zeigt sich dies bei der Wandlung der klassischen Philologie im Sinne einer umfassenden klassischen Altertumswissenschaft in die drei separaten Disziplinen klassische Philologie, Alte Geschichte und klassische Archäologie, die um 1900 zu ihrem Abschluss gelangte. Auch im orientalistischen Fächerkreis lassen sich ähnliche Prozesse beobachten.14 Während die Vertreter der Mutterphilologien die Spezialisierungsprozesse zunächst als eine Expansion ihrer eigenen Disziplin begrüßten und unterstützten, verloren sie bald den Einfluss auf die Tochterdisziplinen und mussten mit ihnen um Ressourcen konkurrieren. Die Differenzierung der Neuphilologien Germanistik und Romanistik in einen sprach- und einen literaturwissenschaftlichen Zweig geschah im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ohne Spannungen, da sie Hand in Hand mit einer Vermehrung der Professuren ging. Allein für die vergleichende Sprachwissenschaft war die Entwicklung sprachwissenschaftlicher Zweige in den einzelnen Philologien ungünstig. Als fächerübergreifende Disziplin, die ihr Quellenma14 Dem 1886 gegründeten Orientalischen Institut gehörten die Lehrstühle für ägyptische Altertumskunde, für Geschichte des Orients, für semitische Philologie, für indische Philologie und (bis 1899) für vergleichende Sprachwissenschaft an.
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terial mit anderen Disziplinen teilte, verlor die Linguistik zunehmend Boden an die anderen Philologien. In der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächergruppe bestimmten Forschungsgegenstände bzw. Forschungsziele die Umrisse einer Disziplin am stärksten. Anders als in der philologisch-historischen Fächergruppe teilten die naturwissenschaftlichen Disziplinen oft Quellenmaterial und Untersuchungsmethoden. Beispielsweise bediente die Mineralogie sich zur Bestimmung von Mineralien physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden, während in der Physik wiederum kristallographische – speziell kristalloptische – Forschungen durchgeführt wurden. Auch gemeinsame theoretische Grundlagen führten zu einer größeren Nähe der Disziplinen. So förderte die frühe Rezeption von Evolutionstheorien nicht nur die Etablierung von Geologie und Paläontologie ab 1857. Sie prägte gleichzeitig die Botanik und die Zoologie stark, deren ältere deskriptive Zweige in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch entwicklungsgeschichtliche Zweige verdrängt bzw. adaptiert wurden. In dem dadurch entstandenen Fächergefüge stand die Paläontologie zwischen Geologie und Zoologie und wurde je nach Interessenlage von einzelnen Professoren mehr der einen oder der anderen Disziplin nahegerückt. Die größere Nähe der naturwissenschaftlichen Disziplinen zueinander erhöhte tendenziell den Einfluss fachfremder Ordinarien auf Verhandlungen. So beteiligten Vertreter der Mineralogie und Botanik sich lebhaft an Diskussionen über Vakanzen in der Chemie. Freilich erhöhte die größere Nähe zugleich die Konkurrenz. Anträge für die Geologie und Mineralogie wurden beispielsweise in einigen Fällen zeitlich aufeinander abgestimmt bzw. zurückgehalten, um die Aussichten auf die Umsetzung der Pläne für die jeweils andere Disziplin nicht zu schmälern. Nichtsdestotrotz öffnete die Nähe auch Räume für Kooperation. Gemeinsame Lehrbedürfnisse in Mathematik und Astronomie förderten die Berufung eines Extraordinarius für Astronomie; Überschneidungen in der Lehre zwischen Geographie und Meteorologie verhalfen der zweitgenannten Disziplin zu stärkerer Vertretung. Teilweise bildeten Tauschgeschäfte zwischen konkurrierenden Disziplinen eine Lösung oder boten zumindest einen Lösungsansatz: 1896/97 einigte das Professorenkollegium sich auf die Beantragung je eines Extraordinariats für Geologie und für Paläontologie, um ein Gleichgewicht zwischen den eng benachbarten Disziplinen zu halten. Neue Disziplinen wurden mit Ausnahme der Urgeschichte unmittelbar um 1900 nicht etabliert – zumindest nicht dauerhaft. Von 1899 bis 1903 bestand ein unbesoldetes (honoriertes) Ordinariat für Geodäsie. Mit der Aufnahme dieser florierenden anwendungsorientierten Wissenschaft versuchte die Fakultät neue Ressourcen zu gewinnen und den Führungsanspruch der Universitäten über die Technischen Hochschulen zu behaupten. Allerdings fehlten die notwendigen Voraussetzungen, speziell hervorragende Kandidaten für einen solchen Lehr-
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stuhl, die nicht von einer Technischen Hochschule kamen. Die Unterstützung in der Fakultät für das Vorhaben schwand rasch, während das Ministerium sich von Anfang an wenig begeistert gezeigt hatte. Die Etablierung der Urgeschichte zeigt die vielen Spannungsfelder, die sich bei der akademischen Etablierung einer neuen Wissenschaft an der Philosophischen Fakultät eröffnen konnten.15 Zu verfolgen sind der Übergang einer bislang auf Vereinsebene institutionalisierten Wissenschaft an die Universität, wobei jene Wissenschaft im Grenzbereich zwischen mathematisch-naturwissenschaftlicher und philologisch-historischer Fächergruppe angesiedelt war und sich bereits im Prozess ihrer Innendifferenzierung befand. Trotz vielfacher personeller Überschneidungen zwischen Verein und Universität und trotz der Offenheit beider Fächergruppen für die akademische Etablierung der Anthropologie als empirische, induktive und exakte Naturgeschichte des Menschen hatten die Fakultätsstrukturen beträchtliche Auswirkungen. Die Innendifferenzierung der Anthropologie in ihre Teilfächer physische Anthropologie, Ethnographie und Urgeschichte wurde durch unterschiedliche Interessen der Vertreter bereits etablierter Disziplinen auf eine Weise geprägt und verstärkt, die ihrer akademischen Etablierung nachteilig wurde. Gegen die 1889 unter Wortführung des vergleichenden Sprachwissenschafters Friedrich Müller getroffene Entscheidung, dass Anthropologie und Ethnographie aufgrund ihrer unterschiedlichen – natur- bzw. sprachwissenschaftlichen – Grundlagen durch separate Lehrstühlen zu vertreten seien, wurde bald Widerspruch erhoben. Nach dem Beispiel der Entwicklungen in Deutschland trat eine zweite, von dem Geographen Albrecht Penck angeführte Fraktion im Professorenkollegium für die Vertretung von Anthropologie und Ethnographie in Personalunion auf rein naturwissenschaftlicher Grundlage auf. Die daraus folgenden Konflikte machten eine Einigung auf Personalvorschläge ebenso unmöglich wie die geschlossene Förderung bestimmter Nachwuchskräfte und verzögerten die Etablierung der anthropologischen Fächer um Jahrzehnte.16 Dass hier kein Konflikt zwischen den beiden Fächergruppen der Philosophischen Fakultät um die wissenschaftliche Grundlage einer neu zu etablierenden Universitätsdisziplin vorlag, sondern es um unterschiedliche Konzepte für die Teilhabe einzelner Disziplinen an der neuen Disziplin ging, dokumentiert die Urgeschichte. Die gesamte Fakultät sah nämlich in Moriz Hoernes den geeigneten Kandidaten für die erste einschlägige Professur, und Hoernes verband 15 Irene Ranzmaier, Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Etablierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien, 1870 – 1930 (Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 2), Wien–Köln: Böhlau 2013, Kapitel 5. 16 Erst 1913 erhielt Rudolf Pöch ein persönliches Extraordinariat für Anthropologie und Ethnographie, 1919 ein persönliches Ordinariat. Systemisierte separate Professuren für Anthropologie und für Völkerkunde gab es ab 1927 bzw. 1928.
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seine Ausbildung in klassischer Archäologie friktionslos mit der als Naturwissenschaft aufgefassten Naturgeschichte des Menschen. Weil die Fakultät jedoch fürchtete, mit der Einrichtung eines Lehrstuhls für Urgeschichte die Aussicht auf die Einrichtung eines Lehrstuhls für Anthropologie und/oder Ethnographie zu verlieren, stellte sie die Frage der Urgeschichte hinter die Lösung des Konflikts um die beiden anderen anthropologischen Fächer zurück. Nur wegen der Ungeduld des Ministeriums und dank der Unterstützung durch den klassischen Archäologen Otto Benndorf kam es 1899 zur Ernennung Hoernes’ zum unbesoldeten Extraordinarius für prähistorische Archäologie. Seine Besoldung im Jahr 1906 wurde wesentlich durch Promemoria von Abgeordneten des Reichsrats und des niederösterreichischen Landtags gefördert, was das große Interesse an der Urgeschichte auch außerhalb der Universität belegt. Die Beförderung Hoernes’ zum Ordinarius ad personam 1910 endlich ging allein auf einen Fakultätsantrag zurück. Trotz der stagnierenden Zahl der Lehrstühle führte die Hierarchie zwischen Ordinarien und Extraordinarien nicht zu Konflikten.17 Für gewöhnlich wurden Extraordinariate nicht für bestimmte Fächer eingerichtet, sondern ausgewählte Privatdozenten bzw. Nachwuchswissenschafter wurden von der Fakultät zu Extraordinarien gefördert, um sie als künftige Kandidaten für Ordinariate zu kennzeichnen. Dementsprechend begründete die Fakultät einschlägige Anträge in erster Linie mit Lehrbedürfnissen und/oder besonderen wissenschaftlichen Leistungen des betreffenden Dozenten und nur in zweiter Linie mit der zunehmenden Spezialisierung innerhalb einer Disziplin. Das Fehlen systemisierter Extraordinariate war ungünstig für den wissenschaftlichen Nachwuchs, weil die Fakultät jede einzelne außerordentliche Professur neu durchsetzen musste. Die Aufstiegschancen für Extraordinarien standen hingegen gut. Wie die Archivquellen zu den Karrieren der Professoren zeigen, stieg die Mehrheit der Extraordinarien nach durchschnittlich sieben Jahren zu Ordinarien auf.18 Die hohe Aufstiegsrate war möglicherweise eine Folge der geringen Konkurrenzfähigkeit der Wiener Philosophischen Fakultät. Die enge Beschränkung des Kandidatenkreises und das Bemühen des Ministeriums, vielversprechende heimische 17 Gesetzlich war das Hierarchiegefälle zwischen Ordinarien und Extraordinarien in Hinblick auf die Fakultätsgeschäfte relativ gering. Prinzipiell gehörten auch alle Extraordinarien dem Professorenkollegium an und waren damit an der Verabschiedung von Fakultätsbeschlüssen beteiligt. Freilich wurde die Vertretung der Extraordinarien im Kollegium auf deren dienstälteste Vertreter beschränkt, sobald ihre Zahl die Hälfte der Zahl der Ordinarien überschritt (Gesetz vom 27. 4. 1873 betreffend die Organisation der Universitätsbehörden, Reichsgesetzblatt (RGBl.) 63), was an der Wiener Philosophischen Fakultät 1905/06 erstmals der Fall war. Viel schwerer wog deshalb die Tatsache, dass die Ordinarien in den Kommissionsverhandlungen unter sich blieben. Extraordinarien wurden höchstens zu Habilitationskommissionen zugezogen. 18 Zu den Archivquellen vgl. Anmerkung 3.
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Kräfte mittels intakter Aufstiegschancen zu halten, griffen hier ineinander. Immer wieder wurden Anträge auf Beförderungen oder Besoldungen erst zum Zweck der Berufungsabwehr erfüllt. Das Bemühen des Ministeriums, renommierte Professoren zu halten, machte die Universität Wien gemeinsam mit ihrer Eigenschaft als wichtigste Hochschule des Landes zu einer Endstationsuniversität für die Professoren der Philosophischen Fakultät – sowohl für Ordinarien als auch für Extraordinarien. Während nur einzelne Philologen und Historiker als außerordentliche Professoren in den Ruhestand traten, blieb in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächergruppe einem Fünftel der Professoren der Aufstieg zum Ordinarius verwehrt. Sieht man die individuellen Fälle an, so lassen zum Teil schon die Verhandlungen um das Extraordinariat erkennen, dass kein zukünftiger Ordinarius positioniert wurde. Hier galt das Interesse der Fakultät der Erweiterung des Lehrangebots durch Spezialisten, der Entlastung eines Ordinarius und der Abdeckung elementarer Lehrbedürfnisse. Zum anderen Teil – in den Naturwissenschaften nämlich – wirkte sich die Tatsache aus, dass bei der Ernennung neuer Ordinarien die Finanzierung neuer Forschungsausstattung notwendig geworden wäre. In den Geisteswissenschaften waren Bemühungen um die weitere Beförderung von Extraordinarien nur in jenen Disziplinen vergeblich, die an Bedeutung verloren (klassische Philologie), deren Lehrstuhlzahl nicht mit ihrer wissenschaftlichen Expansion und wachsenden Popularität Schritt hielt (Germanistik) oder in peripheren Fächern, denen nicht mehr als ein Lehrstuhl zugestanden wurde (Ägyptologie). Nur bis 1890 war mit der Beförderung eines Extraordinarius zum Ordinarius gelegentlich die Etablierung einer neuen (Teil)Disziplin einhergegangen.19 Danach stiegen Extraordinarien nur mehr durch die Berufung auf einen vakanten ordentlichen Lehrstuhl auf, wobei ihre frühere Professur der Fakultät verlorenging.20 Weil das Extraordinariat eine wichtige Stufe auf dem Weg zur akademischen Etablierung einer neuen (Teil)Disziplin darstellt – nach den ersten Habilitationen und vor der Einrichtung eines ordentlichen Lehrstuhls – litt nicht zuletzt die Differenzierung der Disziplinen unter dem Mangel an systemisierten Extraordinariaten. Prinzipiell wuchsen an der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 die Aussichten auf die Berufung eines Extraordinarius, wenn der Kandidat sich auf ein neues Feld spezialisiert hatte, weil mit seiner Ernennung eine Verbreiterung des Lehrangebots einher ging.21 Doch mit der späteren Be19 Z. B. die Errichtung der Lehrstühle für Mineralogie und Petrographie 1874 und für Geschichte des Orients 1884. 20 Die unter Anm. 8 angeführten neuen Lehrstühle in bereits etablierten Disziplinen wurden durch Außenberufungen besetzt. 21 Dies ist z. B. zu beobachten bei den Extraordinariaten für Emil Szanto (1893 für griechische Altertumskunde), Alfons Dopsch (1898 für Geschichte wegen seines Schwerpunkts in Ver-
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rufung dieser Extraordinarien auf vakante ordentliche Lehrstühle fiel die Etablierung ihrer Spezialdisziplin wieder einen Schritt zurück.22 Gleichzeitig bedeutete Spezialisierung für den wissenschaftlichen Nachwuchs ein gewisses Risiko, weil sie die Chancen auf die Berufung auf einen vakanten ordentlichen Lehrstuhl minderte.23 Denn für diese Lehrstühle wurden Kandidaten bevorzugt, die ein breites wissenschaftliches Gebiet abzudecken vermochten.24 Obwohl im Rahmen der Thun’schen Reformen versucht worden war, katholische Grundpositionen zu wahren, präsentierte das Professorenkollegium sich um 1900 als liberal und bemühte sich vehement darum, konfessionelle Einflüsse auf die Wissenschaft auszuschließen. So verlor der Extraordinarius für klassische Philologie und Augustiner-Chorherr Michael Gitlbauer jegliche Unterstützung der Fakultät für seine akademische Karriere, nachdem er vor einer Studentenverbindung für die Stärkung des Einflusses der Katholiken auf die Universitäten eingetreten war. Umgekehrt genoss der Historiker Engelbert Mühlbacher, der seinem Orden den Rücken gekehrt hatte, trotz der Kritik der Presse und trotz der Vorbehalte des Kaisers die volle Unterstützung seiner Kollegen. Von Seiten der Regierung wurde nur in der Geschichte und in der Philosophie Wert auf katholische Professoren gelegt, wobei der Kaiser hier den größeren Ausschlag gab als die meisten seiner Unterrichtsminister. Dementsprechend war die Zahl der nicht katholischen Professoren an der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 relativ hoch. Rund 20 % der Professoren waren Protestanten, rund 15 % Juden. Offener Antisemitismus war im Professorenkollegium nicht salonfähig. Etwa verwehrte Penck sich in seiner fassungs- und Verwaltungsgeschichte), Adolf Stöhr (1900 für Philosophie mit einem Lehrauftrag in experimenteller Psychologie) und Viktor Schiffner (1902 für systematische Botanik als Spezialist für Kryptogamen). Freilich gewährleistete die leichtere Ernennung eines spezialisierten Extraordinarius nicht dessen sofortige Besoldung. Stöhr etwa erhielt erst nach drei Jahren Besoldung. 22 Julius Hanns Extraordinariat für physikalische Geographie (1874) ging bei seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Meteorologie im Jahr 1877 verloren. Robert Sieger hatte als (unbesoldeter) Extraordinarius für Geographie ab 1903 einen Lehrauftrag für politische Geographie, der bei seiner Berufung auf einen vakanten Grazer Lehrstuhl 1905 wegfiel. Stöhr vertrat nach seinem Wechsel auf ein Ordinariat der Philosophie im Jahr 1913 die experimentelle Psychologie nicht mehr, was jedoch auf personelle Konflikte innerhalb der Fakultät zurückzuführen ist. 23 So zu beobachten an den Karrieren des Zoologen Friedrich Brauer, des Botanikers Schiffner und des Mathematikers Gustav Kohn. 24 Besonders deutlich zeigt sich dieses Dilemma an der Positionierung Rudolf Wegscheiders als künftiger Ordinarius der Chemie im Jahr 1899: Die Aussicht auf die Beförderung des Privatdozenten war durch die Spezialisierung seines Extraordinariats auf theoretische Chemie größer, gleichzeitig durften Kandidaten für ein Ordinariat nicht zu eng spezialisiert sein. Wegscheider erhielt 1899 den Titel eines Extraordinarius und wurde 1902 auf den nach Hugo Weidel vakanten Lehrstuhl für Chemie berufen, unter besonderer Berücksichtigung der physikalischen Chemie.
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Eigenschaft als Prodekan im Rahmen der Verhandlungen um den vakanten Lehrstuhl für Musikwissenschaft gegen den Vorwurf, der (am Ende berufene) Guido Adler werde aus antisemitischen Gründen nicht ausreichend unterstützt.25 Neben einigen jüdischen Ordinarien, deren Karrieren durchwegs von der Fakultät gefördert worden waren,26 standen jedoch andere, vornehmlich jüngere Professoren, die auffällig lange und teils für immer im Status eines Extraordinarius verblieben.27 Im Ministerium trat der Antisemitismus explizit hervor. Die wenigen Umreihungen oder Zurückweisungen von Personalvorschlägen, die das Ministerium vornahm, erfolgten – sofern sie nicht mit der Nennung ausländischer Kandidaten zusammenhingen – meist aus antisemitischen Motiven. So wurde die Berufung Guido Goldschmiedts auf einen vakanten Lehrstuhl der Chemie mehrmals abgelehnt, weil neben Adolf Lieben nicht ein weiterer jüdischer Ordinarius in dieser Disziplin lehren sollte.28 Im Allgemeinen folgte das Ministerium den Wünschen und Anträgen des Professorenkollegiums, solange diese keine hohen zusätzlichen Kosten mit sich brachten. Bei Berufungen wurde Wert darauf gelegt, im Rahmen der systemmäßigen Gehälter zu bleiben, damit die amtierenden Ordinarien nicht ebenfalls höhere Bezüge fordern würden. Da die Professorengehälter an den bestrenommierten deutschen Universitäten um ein Drittel bis um die Hälfte höher lagen, scheiterten Verhandlungen für Auslandsberufungen meist aus diesem Grund. Attraktiv war die Wiener Philosophische Fakultät nur für einzelne Ordinarien an kleineren deutschen Universitäten, oder wenn sie – wie in Geographie und Romanistik – mit einem höheren Etablierungs- und/oder Spezialisierungsgrad locken konnte.29 Die Reform der Professorenbezüge im Jahr 1898, die eine weitgehende Gleichstellung der Professoren aller cisleithanischen Universitäten vorsah, verschärfte das Problem noch mehr. Neu berufene Ordinarien erhielten danach keine Collegiengelder mehr, und die »Wiener Zulage« allein vermochte die hö-
25 Theophil Antonicek, Musikwissenschaft in Wien zur Zeit Guido Adlers, in: Studien zur Musikwissenschaft 37 (1986), 165 – 193, 179. 26 Zu nennen wären der Klassische Philologe Theodor Gomperz, der Semitist David Heinrich Müller und der Zoologe Berthold Hatschek. 27 Z. B. der Historiker Alfred Francis Prˇibram, der Germanist Max Hermann Jellinek und der Chemiker Josef Herzig. 28 Erst 1911, nachdem Lieben in Ruhestand getreten war, erhielt Goldschmiedt einen Lehrstuhl in Wien. 29 Die Geographen Albrecht Penck und Eugen Oberhummer wurden 1885 bzw. 1903 aus dem Stand eines Privatdozenten bzw. eines Extraordinarius nach Wien berufen; der Romanist Wilhelm Meyer-Lübke kam 1886 als Extraordinarius aus Jena. Bereits von einem Ordinariat wurden der Althistoriker Eugen Bormann 1885 aus Marburg und der klassische Philologe Hans von Arnim 1893 aus Rostock berufen.
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here Lehrbelastung in der Hauptstadt nicht aufzuwiegen.30 Speziell in unterrichtsintensiven Fächern wie der Chemie, die überdies unter unzureichenden Lehr- und Forschungsmitteln litt, waren Lehrstühle an der Wiener Philosophischen Fakultät nun sogar für Inländer unattraktiv. 1902 prangerte das Professorenkollegium in einer Denkschrift über die Lage der Philosophischen Fakultät das neue Gehaltsgesetz und die katastrophale Ausstattung vieler naturwissenschaftlicher Disziplinen an.31 Ein Investitionsschub für die Universitäten, der einen Neubau der Physikalischen Institute der Wiener Philosophischen Fakultät möglich machte, wurde allerdings erst 1905 in Gang gesetzt. Hohe finanzielle Opfer brachte das Ministerium nur, um die Berufung wissenschaftlicher Koryphäen ins Ausland zu verhindern32 oder um eine heimische Koryphäe aus dem Ausland zurückzurufen – buchstäblich eine, nämlich den Physiker Ludwig Boltzmann, der 1894 aus München und 1902 aus Leipzig berufen wurde. Allerdings schreckte das Ministerium in diesen Fällen nicht davor zurück, die Interessen anderer Disziplinen zu opfern. Die Einrichtung einer dritten Lehrkanzel für Chemie scheiterte unter anderem an den Kosten, die 1902 bei der Rückberufung Boltzmanns anfielen. Das Muster des Ministerium, so oft wie möglich die kostengünstigste Lösung zu wählen, wirkte besonders schädlich auf den wissenschaftlichen Nachwuchs und auf die Etablierung neuer Fächer oder neuer Disziplinen. Anträge auf die Beförderung von Privatdozenten beantwortete das Ministerium oft mit der Ernennung unbesoldeter Extraordinarien, nicht selten unter Kumulierung mit bisherigen Assistentenstellen oder mit bisherigen Posten an anderen wissenschaftlichen Institutionen. Durch diese Kumulierungen waren zwei Nachwuchsstellen von einer Person besetzt. Dies wirkte sich vor allem in den Naturwissenschaften schwer aus, weil der Zugang zu Forschungseinrichtungen hier wesentlichen Einfluss auf die Karriere hatte, und dieser Zugang nur durch einen Posten gewährleistet war. Ein weiterer großer Nachteil dieser nicht systemisierten Professuren war, dass eine regelmäßige Dotation für Lehr- und Forschungsmittel außer Frage stand. Trotz aller Ökonomiebestrebungen entschied das Ministerium in Beru30 Die »Wiener Zulage« in der Höhe von 400 fl., die ausschließlich Ordinarien der Universität Wien zustand, machte je nach Zahl der Dienstjahre zwischen 8 und 12 % der jährlichen Bezüge aus und war nicht in die Pension einrechenbar. Gesetz vom 19. 9. 1898, RGBl. 167. 31 Denkschrift über die gegenwärtige Lage der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Motivenbericht aus einer dem k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht überreichten Eingabe des Professoren-Kollegiums der Philosophischen Fakultät, Wien: Holzhausen 1902. Vgl. dazu Höflechner, Zum Einfluß, 170 – 177. 32 Etwa erhielt der Mineraloge Friedrich Becke 1908 zur Abwehr eines Rufs nach Berlin eine Personalzulage, die sein systemisiertes Gehalt um 50 % erhöhte. Ähnlich großzügig zeigte das Ministerium sich bei Berufungsabwehren für den Germanisten Richard Heinzel (Ruf nach Berlin 1887) und für den Geographen Penck (Ruf nach Leipzig 1905).
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fungsangelegenheiten kaum über den Kopf der Fakultät hinweg, obwohl diese weit häufiger unico-loco- als Ternavorschläge verabschiedete und somit kaum Wahlmöglichkeiten bot. Bei eigenmächtigen Ernennungen – etwa zur Lösung langjähriger innerfakultärer Konflikte wie in der Urgeschichte, der Zoologie oder der Paläontologie33 – griff das Ministerium stets auf Dozenten zurück, die auch an der Fakultät zum engsten Kandidatenkreis gezählt wurden. Oktrois gab es nur in jenen Disziplinen, die Legitimierungsfunktion für den Staat trugen bzw. in den Augen der Regierung vor allem der Heranbildung loyaler Staatsbürger zu dienen hatten: Philosophie und Geschichte.34 In der Philosophie nahmen Fakultät, Ministerium und Kaiser langjährige Vakanzen in Kauf statt vom jeweils eigenen Standpunkt abzuweichen. Die Ressourcenzuteilung an die Geschichte fiel hingegen großzügig genug aus, um neben dem Interesse der Regierung an der Vertretung der neueren Geschichte und der katholisch-konservativen Richtung auch das Interesse der Fachvertreter am Ausbau der vorgeblich unpolitischen Mediävistik und der historischen Hilfswissenschaften zu bedienen.35 Von der vergleichsweise großzügigen Zuteilung von Ressourcen an Disziplinen, die sich besonders der Habsburgermonarchie widmeten, profitierten neben der Geschichte jene Erdwissenschaften, die ihre Forschungen auf das Staatsgebiet konzentrierten, nämlich Geologie, Geographie und Meteorologie. Daneben ließ sich das Ministerium bei der Ressourcenverteilung vor allem von den Bedürfnissen der Ausbildung von Gymnasiallehrern, Medizinern und Pharmazeuten leiten. So trugen Änderungen in den Curricula von Medizinern und Pharmazeuten zum Verlust eines der drei zoologischen Lehrstühle bei und gefährdeten einen mineralogischen Lehrstuhl. Dies lässt vermuten, dass die Funktion der Philosophischen Fakultät in erster Linie in der Ausbildung von 33 1890 – 1893 führte das Bestreben des Zoologen Carl Claus, die gesamte Disziplin zu dominieren, zu Konflikten an der Fakultät; 1902 – 1906 herrschte Uneinigkeit über die stärker geologisch-stratigraphische oder zoologisch-entwicklungsgeschichtliche Ausrichtung der Paläontologie. 34 1896 wurde der Ordinarius der christlichen Philosophie an der Wiener Theologischen Fakultät, Laurenz Müllner, entgegen einer Stellungnahme der Fakultät zum dritten Ordinarius der Philosophie neben Ernst Mach und Friedrich Jodl berufen. 1899 bzw. 1903 oktroyierte das Ministerium der Fakultät Josef Hirn als Ordinarius für österreichische Geschichte und August Fournier als Ordinarius für allgemeine Geschichte. 35 Der wissenschaftliche Status der Geschichte hing wesentlich von der Einhaltung der strengen methodischen Standards mediävistischer Quellenforschung ab; gleichzeitig bot diese positivistische Arbeitsweise den Wiener Historikern einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen einer »deutschen« und der von Regierungsseite eingeforderten »österreichischen« Geschichtsschreibung. Walter Höflechner, Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien: Passagenverlag 2002, 217 – 238, 225 – 227.
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Staatsdienern gesehen wurde und ihre Funktion als Forschungsinstitution nur eine untergeordnete Rolle spielte. Gerade in jenen Disziplinen, die vornehmlich mit der Ausbildung angehender Gymnasiallehrer beschäftigt waren, stieß das Konzept der Einheit von Forschung und Lehre aufgrund der wachsenden Studierendenzahlen und der notwendigen Vermittlung von Elementarkenntnissen als Erstes an seine Grenzen. Die Politik des Ministeriums verlieh der Wiener Philosophischen Fakultät ein Profil, das durch manche Fachkoryphäe glänzte,36 aber über deren Leistungen hinaus wenig Raum für Neuerung und Entwicklung ließ. In der wirtschaftlich schwierigen Lage Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg konnte die Fakultät deshalb kaum von ihrer Vergangenheit in der Donaumonarchie um 1900 zehren.
36 Neben dem bereits genannten Boltzmann wären hier unter anderem der Physiker Franz Exner jr., der Geologe Eduard Suess, der Meteorologe Julius Hann, der Chemiker Adolf Lieben, der Philosoph Ernst Mach, der Slawist Vatroslav Jagic´ und der Romanist Wilhelm Meyer-Lübke zu nennen.
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Institution und Forschung: Physik im Wandel 1850 – 1900 – eine kaleidoskopische Annäherung
1845, Provinz Limburg, Holland, Eisenbahn Utrecht – Maarssen. Der junge niederländische Mathematiker, Physiker und Meteorologe Christophorus Buys Ballot schickte sich an, ein unorthodoxes Experiment auszuführen: Auf einer Lokomotive war ein Musiker postiert, der die Trompete blies; entlang der Schienen standen in größerem Abstand von 400 Metern Musiker, die die Tonhöhe des Trompetentons feststellen sollten, sobald sich die Lokomotive mit dem Trompeter ihrer Position näherte. Die Geschwindigkeit der Lokomotive wurden zwischen 20 und 70 Kilometer pro Stunde variiert. Auf dem Rückweg wurden die Rollen getauscht: Nun bliesen Trompeter entlang der Schienen das g und die Musiker auf der Lokomotive notierten die Tonhöhe. Hier ging es nicht um eine Frühform eines dadaistischen Spektakels. Buys Balot wollte mit Schallwellen einen 1842 von dem am Prager Polytechnikum wirkenden Physiker und Mathematiker Christian Doppler behaupteten Effekt untersuchen.1 Nach einigem Hin und Her waren sich die Musiker darin einig, dass sich der Trompetenton g beim Annähern des Zuges erhöhte und das Umgekehrte zu hören war, sobald er sich entfernte.2 Genau dies hatte Doppler behauptet: der von ihm postulierte Effekt sollte sowohl für Schallwellen als auch als Ursache der Farbverschiebungen des Lichtes von Doppelsternen gelten. Festzuhalten ist, dass ein Zeitraum von drei Jahren für die, wenn auch recht qualitative experimentelle Bestätigung eines neuen Effektes auch nach heutigen Maßstäben als prompt zu qualifizieren wäre. Die entscheidende Bedingung für die Durchführbarkeit des 1 Christian Doppler, Ueber das farbige Licht der Doppelsterne und einiger anderer Gestirne des Himmels. Versuch einer das Bradley’sche Abberations-Theorem als integrierenden Theil in sich schliessenden allgemeinen Theorie, Prag: Borrosch & Andr¦ 1842 und Abhandlungen der königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, V. Folge, 2. Band, Prag: Verlag der Gesellschaft 1843, 465 – 482. 2 Christoph Bujis Ballot, Akustische Versuche auf der niederländischen Eisenbahn, nebst gelegentlichen Bemerkungen zur Theorie des Hrn. Prof. Doppler, in: Annalen der Physik und Chemie, hg. von Johann Christian Poggendorff, 66 (1845), 321 – 351. Vgl. dazu auch: Peter Schuster, Christian Doppler (1803 – 1853), 2. Band (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte 9/1, hg. von Helmuth Grössing), Wien–Köln–Weimar : Böhlau Verlag 1992, 61.
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Experiments war – ähnlich wie heute – technologischer Natur : Die zu erzielenden Geschwindigkeiten der Dampflokomotiven der 1840er Jahre reichten gerade aus, um erkennbare Effekte (die Änderung der Tonhöhe) zu erlauben. Jedenfalls war die Rezeption dieses in einem böhmischen Journal publizierten Forschungsergebnises kein lediglich lokales Ereignis. Europa war schon damals – und lange zuvor – ein Raum wissenschaftlicher Kommunikation zwischen den Zentren und der Peripherie. Die experimentelle Bestätigung des Doppler-Effektes bedeutete jedoch nicht, dass dieser auch schon als erwiesen akzeptiert wurde. Er bot vielmehr Anlaß für eine hartnäckige wissenschaftliche Kontroverse. In seiner Prager Zeit (1835 – 1847, ab 1843 als Professor für Elementarmathematik und praktische Geometrie am Prager Polytechnikum), die bereits von seiner Lungenkrankheit überschattet war, fand Doppler in dem Theologen, Philosophen und Mathematiker Bernhard Brentano und in dem Herbartianer Franz Serafin Exner sr., Professor für Philosophie an der Universität Prag, enge Freunde von ähnlicher wissenschaftlicher, philosophischer und politischer Gesinnung, die der vormärzlichen Politik und den restaurativen und reaktionären Bestrebungen der katholischen Kirche ablehnend gegenüber standen. Im Umfeld des Exner’schen Salons in Prag, dem »Dienstag-Kränzchen«, finden wir auch Exners Schüler Leo Graf Thun–Hohenstein, und der junge Josef Loschmidt diente während seiner Studienzeit an der Universität Prag (1839 – 1841) Exner wegen dessen Augenleidens als Vorleser. 1841 ging Loschmidt zum Studium nach Wien. Nach einem kurzen Intermezzo an der Berg- und Forstakademie zu Schemnitz (Bansk Sˇtiavnica) als Professor für Mathematik, Physik und Mechanik mit dem Titel eines k. k. Bergrathes von 1847 bis 1848 und der darauffolgenden Berufung 1848 an das Wiener Polytechnische Institut als Nachfolger seines Lehrers Simon Stampfer wurde Doppler zu Beginn 1850 zum Direktor des neu errichteten Physikalischen Instituts der Universität Wien und zum ordentlichen Professor für Experimentalphysik ernannt. Wenn mit einiger Berechtigung von einer Zäsur in der Entwicklung der Physik in Österreich gesprochen werden kann, so ist dies Leo Thun–Hohensteins Vortrag als Unterrichtsminister vor Kaiser Franz Joseph I. vom 1. Dezember 1849. Thun schlug darin die Errichtung eines neuen physikalischen Instituts mit Doppler als dessen Direktor vor. Thuns Präferenz für Doppler mag erstaunen, da diesem damit gegenüber dem in Wien seit 1821 etablierten Mathematiker und Physiker Andreas von Ettingshausen der Vorzug gegeben wurde. Hinter Thuns Entscheidung ist die lenkende Hand Exners als – zusammen mit dem Philologen Hermann Bonitz – maßgebliche Kraft im Unterrichtsministerium bei der Planung und Realisierung der Reform der Gymnasien und Realschulen sowie damit verbunden der Hohen Schulen spürbar. Ein Kernpunkt des von Exner und Bonitz verfassten »Organisationsent-
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wurf[s] für österreichische Gymnasien und Realschulen« war die Umwandlung der sechsklassigen Gymnasien in achtklassige, eine Maßnahme, die unmittelbare Auswirkungen auf die Ausbildung der Gymnasiallehrer implizierte und somit auch die Neuorganisation der universitären Lehre notwenig machte. An diesem neuen Physikalischen Institut sollten nicht nur Lehramtskandidaten der Physik (eine zentrale Forderung der Thun’schen Reformen zur Verbesserung der Ausbildung von Gymnasiallehrern), sondern auch Studenten der Chemie und Physiologie ausgebildet werden. Neben dem theoretischen und experimentellen Unterricht (vornehmlich für die späteren Schulexperimente) der Lehramtskandidaten war der Leiter des Instituts zu selbständiger experimentalphysikalischer Forschungen verpflichtet und erhielt dafür auch alle notwendigen Mittel. Es ist unangemessen, zum damaligen Zeitpunkt von einer klaren Trennung von experimenteller und theoretischer (damals: mathematischer) Physik zu sprechen und völlig unsinnig wäre es, von einer Unterscheidung in reine und angewandte Forschung/Wissenschaft zu sprechen. Doch auf politischer Ebene (Thun–Hohenstein, Exner, Bonitz) war klar geworden, dass neben der Notwendigkeit einer grundlegenden Verbesserung der Ausbildung der Lehrer an Gymnasien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die zunehmende Mechanisierung und Technisierung der Produktion, die Verwissenschaftlichung der Natur- und Produktivkräfte, völlig neue Anforderungen auch an die universitäre Ausbildung und Forschung stellte.3 Im Vortrag Thuns heißt es dazu: »Bei den riesigen Fortschritten, welche die Naturwissenschaften überhaupt und insbesondere die Physik in den letzten Decen[n]ien gemacht haben, ist die Einrichtung [die bisherige Lehre der Physik, Anm. d. Verf.] durchaus ungenügend geworden […]«.4 Betont wird von Thun weiters die »Anleitung zu selbständigen Forschungen« der Lehramtskandidaten und die Verpflichtung des Leiters des neuen Instituts zum »experimentellen Forschen […] für die Förderung der Physik selbst, als Wissenschaft […]«. Diese Formulierungen, die an den hohen Schulen der Monarchie erstmals der Forschung gegenüber der Lehre gleiches Gewicht gaben, ja der Forschung überhaupt eigenständige Bedeutung verliehen, wurden von Doppler in das von ihm entworfene Statut für das Physikalische Institut übernommen.5 Für die Physik 3 Ein nächster Schritt der Modernisierung des Bildungssystems, der auch den sogenannten unteren Schichten der Gesellschaft Anspruch auf Bildung zumaß, erfolgte nach 20 Jahren mit der Schaffung des Reichsvolksschulgesetzes von 1869 durch den Minister für Cultus und Unterricht, Leopold Hasner Ritter von Artha mit konfessionsübergreifendem Gemeinschaftsunterricht, was den heftigen Widerstand des österreichischen Episkopates hervorrief. 4 Physikalisches Institut, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Ministerium des Cultus und Unterrichtes 4 A, 514/1850. 5 Helmuth Grössing/Karl Kadletz, Christian Doppler (1803 – 1853), 1. Band (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte 9/1, hg. von Helmuth Grössing), Wien–Köln–Weimar : Böhlau Verlag 1992, 146 – 153.
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an der Universität Wien datiert die »Forschungsuniversität« als enge Verzahnung von Forschung und Lehre somit auf das Jahr 1850. Die wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussionen des Prager Netzwerkes, das sich beim »Dienstags-Kränzchen« des Exner’schen Salons traf, trugen in der Haupt-, Reichs- und Residenzstadt Wien politische Früchte. Die Einrichtung des ersten Physikalischen Instituts an der Universität Wien (Ordnung und Aufbau einer Sammlung der apparativen Ausstattung, Aufbau einer Bibliothek) erforderte die gesamte organisatorische und administrative Kraft Dopplers, der bisher nur als Lehrer und Forscher aktiv war. Besonderes Augenmerk richtete Doppler dabei auf die Neuordnung der Instrumentensammlung, die zwei Funktionen zu erfüllen hatte: Einerseits dienten die Instrumente den Zwecken demonstrativer Experimente, also den Schulversuchen zur Veranschaulichung physikalischer Vorgänge (in Verfolg der Schulreform) und andererseits sollten die Instrumente nunmehr auch, geleitet vom neuen »Forschungsauftrag«, explorativen Zwecken dienen, im Sinne des induktiv-experimentellen Zugangs zu den Naturphänomenen als »Forschungsinstrumente«. Die epistemische Bedeutung der alten Apparatesammlungen wurde im Zuge der Thun–Hohenstein–Reform radikal geändert mit der Implikation der ab nun regelmäßig notwendigen Erneuerung und Modernisierung der instrumentellen Ausstattung physikalischer Institute sowie deren Finanzierung. Durch den administrativen Akt der Reform wurde das Instrument zum epistemischen Objekt für die Produktion neuen Wissens. Wien war damit erst so recht in der neuzeitlichen Naturwissenschaft angekommen. Es bedurfte allerdings nach Doppler noch einer nächsten Generation von Schülern und Absolventen des Physikalischen Instituts, bis die experimentalphysikalische Forschung in der Praxis der Naturforschung an den österreichischen Universitäten fix etabliert war. Vorgreifend seien die Namen Ernst Mach, Josef Stefan und Ludwig Boltzmann genannt. Zu Dopplers zentralen und administrativ aufwendigen Aufgaben als Direktor des neuen Instituts gehörte die Übersiedlung des Instituts aus der Alten Universität (heute Sitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien I., Dr.–Ignaz–Seipel–Platz 2) in das neu angemietete Haus in Wien-Erdberg im Herbst 1851 – eine Belastung, der Dopplers angegriffene Gesundheit nicht standhielt. Krankenurlaub und Kur im Sommer dieses Jahres brachten kaum Linderung und im Herbst 1852 wurde Doppler ein sechsmonatiger Genesungsurlaub für eine Reise in das Lombardisch-Venezianische Königreich gewährt.6 Am 17. März 1953 starb Doppler in Venedig. Sein schwerkranker Freund 6 In die Zeit Dopplers als Direktor des Physikalischen Instituts fällt das Studium des Lehramtskandidaten in den Fächern Naturgeschichte und Physik und außerordentlichen Hörers (Zögling) am Institut, Johann Gregor Mendel vom Wintersemester 1851/52 bis zum Som-
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Exner, der mit der Reform des italienischen Schulwesens befasst war, starb drei Monate nach Doppler in Padua.7 Die letzten beiden Lebensjahre Dopplers waren von einer heftigen Auseinandersetzung mit dem führenden Mathematiker an der Universität Wien, Josef Petzval überschattet, der mit Beginn des Jahres 1852 in eine zunehmend persönlich gefärbte Polemik über Dopplers Arbeit aus 1842 eintrat, die knapp vor Dopplers krankheitsbedingter Abreise nach Italien in einer direkten Konfrontation beider in einer Sitzung der kaiserlichen Akademie ihren abschließenden – und für Doppler desaströsen – Höhepunkt fand. Petzval gelang es, Dopplers mathematisch einfache Ableitung seines »Doppler-Prinzips« (der Abhängigkeit der Schwingungsdauer von der Relativgeschwindigkeit zwischen Quelle und Beobachter) basierend auf linearen Gleichungen, also – wie Petzval polemisch feststellte – »gewisse[r] populäre[r] Anschauungsweisen«, mit einer formalistischen Argumentation der vermeintlich alleine legitimierenden Verwendung linearer Differentialgleichungen (also die Anwendung von mathematischen Methoden der höheren Analysis, die Petzval wohl vertraut waren) und dem vom ihm postulieren »Princip der Erhaltung der Schwingungsdauer« (»PetzvalPrinzip«), in ein schiefes Licht zu rücken.8 Ob die Gründe für diese Auseinanmersemester 1852. Mendel belegte Dopplers zehnstündigen Experimentalphysik-Kurs »Demonstrative Physik«; er scheiterte auch bei einem zweiten Anlauf 1856, die Lehramtsprüfung zu bestehen. Inwieweit oder in welchem Umfang Mendel in der Zeit am physikalischen Institut Kenntnisse der Statistik erworben hatte, kann nur vermutet werden; bei Mendels ab 1856 begonnenen systematischen Kreuzungsversuchen waren diese Kenntnisse geboten. Während seines Wiener Aufenthaltes studierte Mendel auch bei dem bedeutenden Botaniker, Pflanzenphysiologen und Professor der Universität Wien, Franz Unger. 7 Franz Exner ist der Ahnherr einer weitverzweigten österreichischen Gelehrtendynastie, dessen Nachfahren noch heute auf akademischen Positionen zu finden sind. Seine Söhne sind der Jurist Adolf Exner, die Physiker Franz Serafin Exner jr. und Karl E. Exner und der Physiologe Sigmund Exner Ritter von Ewarten; der Enkel und Begründer der dynamischen Meteorologie ist Felix Maria Exner Ritter von Ewarten, Direktor der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik; dessen Sohn Christof Exner Ritter von Ewarten arbeitete als Geologe an der Geologischen Bundesanstalt und seit 1958 als Professor für Geologie an der Universität Wien; die Tochter Franz Exners ist Marie Exner, verheiratete von Frisch, die Mutter des Biologen Karl von Frisch, Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 1973; der Geologe Wolfgang Frisch lehrte von 1980 bis 1981 als Professor an der Universität Wien und von 1981 bis 2009 an der Universität Tübingen. Vgl. dazu auch Berta Karlik/Erich Schmid, Franz Serafin Exner und sein Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Physik in Österreich, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1982, 44 – 58. 8 Vortrag Petzvals in der Sitzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der kaiserlichen Akademie vom 21. Mai 1852 »über die Unzuköm[m]lichkeiten gewisser populären [sic!] Anschauungsweisen in der Undulationstheorie und ihre Unfähigkeit das von ihm [Petzval] aufgestellte Princip der Erhaltung der Schwingungsdauer zu ersetzen.« Josef Petzval, Über ein allgemeines Prinzip der Undulationslehre: Gesetz der Erhaltung der Schwingungsdauer, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien, Bd. 8, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1852, 134 – 156; ders., Über die Unzukömmlichkeiten populärer Anschauungsweisen in der Undulationstheorie und ihre
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dersetzung ausschließlich auf der fachlich-wissenschaftlichen Ebene zu verorten sind, mag angesichts des recht robusten Selbstwertgefühls Petzvals und seiner Neigung zu Konflikten bezweifelt werden; die Berufung auf die Verwendung von Differenzialgleichungen als alleine legitimierende Methode in der theoretischen Physik ist unzulässig und im Zusammenhang mit Dopplers Arbeit wohl eher als Zeichen eines autoritären Diskurses seitens Petzvals zu interpretieren. Inwiefern epistemologische Implikationen der Doppler’schen Sicht mit ihrer Berücksichtigung der (sinnlichen) Erfahrung und der Rolle des Beobachters den Widerwillen Petzvals erregt hatten, ist nicht schlüssig aufweisbar, und inwieweit im weiteren Sinne politische Spannungsmomente innerhalb der Mitglieder der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Wiener Akademie in den Tagen nach der niedergeschlagenen 1848er-Revolution einen polarisierenden Effekt erzeugten, ist ebenso wenig belegbar. Petzval, seit 1837 Professor für Mathematik an der Universität Wien und einer der besten Säbelfechter der Stadt, ist denn auch heute nicht für den obsolet gewordenen Streit mit Doppler bekannt, sondern für seine theoretischen Arbeiten zu den Abbildungsfehlern optischer Systeme, die zur Produktion von neuartigen, sehr lichtstarken, erstmals wissenschaftlich berechneten Porträtobjektiven führten und so der Daguerreotypie neue Wege eröffneten.9 Exemplarisch für das wissenschaftliche Arbeiten um die Mitte des 19. Jahrhunderts sind Petzvals Beiträge zur Physik und Mathematik insofern, als die Grenzen zwischen den Disziplinen sehr durchlässig waren und angewandte Forschung bis hin zu industriellen Anwendungen der Grundlagenforschung nicht nur Petzvals Oeuvre charakterisieren, sondern auch das seiner Generation in Mathematik, Physik und Chemie, oftmals auch unter Einschluss von Überlegungen zur industriellen Produktion und Nationalökonomie. Der Übergang in der Leitung des Physikalischen Instituts in Erdberg wurde nach dem von Minister Thun bewilligten Genesungsurlaub mit Schreiben vom 29. Oktober 1852 gemessen an den üblichen bürokratische Gepflogenheiten außerordentlich zügig behandelt; darin wurde Doppler schon angewiesen, dem Unfähigkeit, das Prinzip der Schwingungsdauer zu ersetzen, in: ebd., 567 – 586. Doppler replizierte in dieser Sitzung mit der Note »Bemerkungen zu dem Aufsatze: Über ein allgemeines Prinzip der Undulationslehre,« in: ebd., 590. Auch Ettingshausen verteidigte in dieser Sitzung Dopplers Standpunkt. Grössing/Kadletz, Christian Doppler, 48 – 49 und 120. Petzval war der erste, der die Laplace-Transformation einer systematischen Untersuchung unterzog; vgl. dazu: Jûzeph Miksa Petzval, Integration der linearen Differentialgleichungen, 2 Bände, Wien: Braumüller 1853 – 1859. 9 Die von den Wiener Optiker Peter Wilhelm Friedrich von Voigtländer nach Petzvals Berechnungen produzierten Porträtlinsen erbrachten eine Verbesserung der Lichtstärke um das 16-fache und damit eine vergleichbare Verkürzung der zuvor nötigen Belichtungszeit der Photoplatten von mehr als zehn Minuten.
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Assistenten des Instituts Franz Pekrek die Geschäfte zu übergeben. Inwiefern die Auseinandersetzung mit Petzval in der Akademie Einfluss hatte und der schwerkranke Exner seinen Freund aus Prager Tagen bei Entscheidungen des Ministers nicht mehr unterstützen konnte oder Thun nicht mehr mit einer Reaktivierung Dopplers nach dessen sechsmonatigem Urlaub rechnete und vornehmlich die Kontinuität in der Direktion des neugegründeten Instituts im Auge hatte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Doch war offensichtlich Eile geboten, Doppler loszuwerden. Schon am 25. November 1852 teilte das Ministerium mit, dass der Kaiser Doppler von der Direktion des Physikalischen Instituts enthoben und Ettingshausen als seinen Nachfolger ernannt hatte, dem das Ministerium schon am 30. Oktober die vorläufige Leitung des Instituts übertragen hatte und der kurz darauf zum ordentlichen Professor für Physik an der Universität Wien ernannt wurde.10 Wenn auch die Unterbringung des Instituts in der Vorstadt, die wegen der langen Wege für die Studenten zunehmend unattraktiv wurde, und die beengten Möglichkeiten des eher herabgekommenen Zinshauses in Erdberg zu wünschen übrig ließen, so traf dies auf die Qualität der Ausbildung mit einem deutlichen Gewicht auf der theoretischen Seite nicht zu. Petzval galt als ein hervorragender Mathematiker und Lehrer, Andreas Freiherr von Baumgartner und Ettingshausen förderten den Mathematikunterricht an der Wiener Universität durch hohe Ansprüche an die Studenten und erreichten, dass die Absolventen in Wien sowohl in der Experimentalphysik als auch der mathematischen Physik hohe Kompetenz erlangten. Stefan, Loschmidt, Mach und Boltzmann und deren Arbeiten zu experimentellen und theoretischen Problemen sind herausragende Beispiele für die mit der Reform 1850 erzielten Leistungen. Ernst Mach, der 1855 an der Universität inskripiert hatte und Zögling am k. k. Physikalischen Institut war, befasste sich nach Abschluss seines Studiums 1860 bei Ettingshausen auf dessen Anregung hin intensiv mit der experimentellen Verifikation des akustischen Doppler-Effektes und konstruierte dazu einen Apparat, der auf akustischem Wege unter Zuhilfenahme einer auf einem rotierenden Rohr befestigten Pfeife die Veränderung der Tonhöhe hörbar machte, also jenes Auf- und Abschwellen des Tones, je nach der Position der Pfeife zum ruhenden Beobachter in der Rotationsebene der umlaufenden Pfeife (senkrecht zur Rotationsebene bleibt der Ton konstant!). Eine Modifikation des Apparates erlaubte auch den akustischen Nachweis der Konstanz des Tones bei gleichbleibendem akustischen Weg (Prinzip der Erhaltung der Schwingungsdauer, Petzval-Prinzip).11 Es war dies Machs erste selbständige Arbeit, der im Jahr 10 Grössing/Kadletz, Christian Doppler, 43 – 44; Lotte Bittner, Geschichte des Studienfaches Physik an der Universität Wien in den letzten hundert Jahren, phil. Diss., Wien 1949, 97. 11 Ernst Mach, Über die Änderung des Tones und der Farbe durch Bewegung, in: Sitzber. d. k.
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zuvor eine Publikation zusammen mit drei Kommilitonen vorausgegangen war.12 Petzval nahm Machs Arbeit zum Anlass, in einer Sitzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie vom 5. Juli 1860, in der Mach seine Ergebnisse präsentierte, seine Kritik an Dopplers Prinzip zu erneuern und dem von Mach gelieferten experimentellen Nachweis jegliche Beweiskraft abzusprechen, da der schwedische Physiker Anders ængström in Funkenspektren keine spektrale Verschiebung beobachten konnte und somit, so Petzvals Argument, der Doppler-Effekt für Licht obsolet wäre und damit auch für den Schall nicht gelten könne.13 Mach konnte ængströms Resultat als Missinterpretation seiner experimentellen Daten widerlegen und stellte Petzvals Kritik als schlichtes Missverständnis dar, da Dopplers Überlegungen eine Relativbewegung zur Voraussetzung hatten, hingegen Petzvals Ansatz von der Ortsunabhängigkeit des Phänomens ausging, dem er einen objektiven Charakter zumaß.14 Machs Ungeduld mit Petzvals Intransigenz tönt auf freundlich-ironische Weise aus seinen Worten, die das Wort »populär« ganz bewusst gegen den seinerzeitigen Einwand Petzvals wendet, Dopplers Wissenschaft entspräche nicht den strengen Kriterien, die an diese anzulegen sei.15 »Populär könnte man das Verhältnis beider Gesetze, des Petzval’schen und Doppler’schen so veranschaulichen. Wenn man Prof. Petzval, etwa für die Erfindung seines Principes, ein Ständchen brächte, so würde dieses selbst bei weniger gemüthlichem Wetter in derselben Tonart, ebenso harmonisch und melodisch zu seinen Fenstern hinauftönen, wie am schönsten Maienmorgen. Dagegen könnte man nach Doppler, von der Höhe herabfallend einen Chor aus E-Dur ganz wohl in F-Dur hören.«16
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Akad. d. Wiss. Wien Bd. 41, 1860, 543 – 560; ders., Beiträge zur Doppler’schen Theorie der Ton- und Farbänderung durch Bewegung, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Prag: J. G. Calve’sche k. k. Universitätsbuchhandlung (Ottomar Beyer) 1874. Peter Blaserna/Ernst Mach/Julius Peterin, Über elektrische Entladungen und Induktion, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 36, 1859, 477 – 524. Diese Arbeit wird fälschlich manchmal als Machs Dissertation angesehen. Vgl. dazu Peter M. Schuster, Weltbewegend – unbekannt. Leben und Werk des Physikers Christian Doppler und die Welt danach, Pöllauberg–Hainault(UK)–Atascadero(USA): Living Edition 2003, 125. Zur Erlangung des Dr. phil. im Fache Physik (Promotion) war zu dieser Zeit das Verfassen einer schriftlichen Arbeit nicht notwendig. Dies gilt auch für Ludwig Boltzmanns Promotion 1866. Mach, Beiträge zur Doppler’schen Theorie, 31; ders., Neue Versuche zur Prüfung der Doppler’schen Theorie der Ton- und Farbänderungen durch Bewegung, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 77, 1878, Abt. 2, 299 – 310; Josef Petzval, ængström’s experimentelle Untersuchungen über das Spektrum des elektrischen Funkens in Beziehung auf die Farben der Doppelsterne, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 41, 1860, 581 – 589. Mach, Über die Änderung, 543 – 560; ders., Beiträge zur Doppler’schen Theorie, 29 – 30. Zur Auseinandersetzung zwischen Doppler und Petzval vgl. auch Theodor Gassauer, Die wissenschaftliche Kontroverse zwischen Petzval und Doppler, phil. Diss., Wien 1951. Mach, Beiträge zur Doppler’schen Theorie, 30.
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Zu fragen wäre noch, ob Mach bei seiner eigenen Analyse der Empfindungen unter dem Eindruck von Dopplers Darstellung seines Prinzips stand, wenn dieser den Empfindungen (Licht- und Schallempfindungen), die »vom Auge oder Ohr irgend eines Beobachters aufgenommen und empfunden werden«, entscheidendes Gewicht beimisst, also den Beobachter und dessen »rein subjektive Bestimmungen« zum Träger der »Farbe und Intensität einer Lichtempfindung oder Tonhöhe und Stärke irgend eines Schalles« werden lässt. Ist hier eine der Wurzeln zu Machs Empiriokritizismus angelegt? In der »Analyse der Empfindungen« gibt es dazu keinen Hinweis.17 Wenn auch der Doppler-PetzvalKonflikt mit Dopplers Ableben ein Ende der persönlichen Auseinandersetzung fand, so eröffnete die neuerliche Prüfung durch Mach 1860 und dessen experimentelle Bestätigung des (akustischen) Doppler-Effekts für diesen weitergehende epistemologische Fragen: der Gebrauch und die Gültigkeit von Analogien in Dopplers »Beweisführung« (Lichtwellen/Optik–Schallwellen/Akustik–Analogie), das Verhältnis von mathematischer Analyse einer Theorie zum Experiment und die Frage, ob und inwieweit Experimente zwischen Theorien zu entscheiden vermögen. Und Mach betonte, dass »in einem Konflikt zwischen Theorien den empirischen Faktoren das Hauptgewicht vor allen anderen Bereichen eingeräumt werden sollte. Die Aufgabe des Wissenschaftlers bestünde eben darin, die Struktur der Erklärungen so lange zu ändern, bis diese sowohl intern konsistent als auch fähig sind, sämtliche Beobachtungsbefunde zu klären. Petzvals und Dopplers Zugangsweisen hätten jeweils nur einem dieser Kriterien entsprochen.«18 In einer Arbeit aus 1862 beschäftigte sich Mach erneut mit der Problematik einer Analogie zwischen akustischen und optischen Aussagen, nachdem die stellaren Annahmen Dopplers (Geschwindigkeit der Doppelsterne und deren Oberflächenbeschaffenheit) als empirisch haltlos erkannt wurden19 und bezog nunmehr eine positivistische Position zum akustischen DopplerEffekt, betonte hier die Priorität der empirischen Befunde und wies der astronomischen Seite einen allenfalls heuristischen Wert zu.20 Zu erkennen sind hier also erste Ansätze des jungen Mach zu einer positivistischen und empiristischen Auffassung, die seine spätere kritische Behandlung der Wissenschaft prägte. 17 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Neudruck der sechsten, vermehrten Aufl, Jena 1911, eingeleitet und bearbeitet von Gereon Wolters (Ernst-Mach-Studienausgabe 1), Berlin: Xenomoi Verlag 2008. 18 Wolfram W. Swoboda, Physik, Physiologie und Psychophysik – Die Wurzeln von Ernst Machs Emporiokritizismus, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach. Werk und Wirkung, Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky 1988, 361. 19 F. H. Mädler, Über kosmische Bewegungsgeschwindigkeiten mit Beziehung zu Doppler’s Hypothese der Entstehung der Farben, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 43, 1861, 258 – 291. 20 Ernst Mach, Über die Änderung des Tones und der Farbe durch Bewegung, in: Annalen der Physik und Chemie 114 (1862), 333 – 338.
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Der Nachweis des optischen Doppler-Effektes, wozu Mach argumentativ, jedoch nicht experimentell beitrug, reicht in die Zeit um und nach 1900 und erforderte neue experimentelle Voraussetzungen, insbesondere jene der Spektralanalyse (Nachweis der Sonnenrotation anhand des Doppler-Effekt 1871 durch den deutschen Astrophysiker Hermann Carl Vogel, Entdeckung des Doppler-Effekts an Kanalstrahlen 1905 durch den deutschen Physiker Johannes Stark, wofür dieser, zusammen mit seiner Arbeit zur Aufspaltung der Spektrallinien im elektrischen Feld (Stark-Effekt), den Nobelpreis für Physik 1919 erhielt). Einen, wenn auch nur sehr schematischen Eindruck von den wissenschaftlichen Arbeitsgebieten der Naturforschung des 19. Jahrhunderts in Österreich erlaubt eine grobe Gliederung der wissenschaftlichen Publikationen Dopplers in der Zeit zwischen 1832 und 1852, die zum überwiegenden Teil in Periodika der Monarchie erschienen. Etwa 20 % der Arbeiten sind der Mathematik gewidmet, ebenso viele dem Umfeld des Doppler-Effektes, gefolgt von Publikationen zu instrumentellen Entwicklungen sowie galvano-elektrischen und magnetischen Erscheinungen, inkl. Erdmagnetismus; Akustik und Farbenlehre sowie solche zur Astronomie/Astrophysik umfassen ca. ein Zehntel seines Oeuvres, weitere Arbeiten galten der Photographie/Photometrie und Mineralogie. Zusammenfassend zeigt dies folgendes Bild eines Forschungsprogramms mit den folgenden Schwerpunkten: Mathematik, (akustische und optische) Wellenlehre (Undulationslehre), elektrische und magnetische Erscheinungen sowie experimentelle Methodologie (Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente). Innovativer Charakter kam dabei nur Dopplers Undulationsphysik zu, die jedoch nicht über Machs diesbezügliche Publikationen hinaus zu einem Forschungsprogramm im heutigen Sinne fortgeführt wurde. Zieht man den Ansatz Zentrum-Peripherie zur Modellierung wissenschaftlicher Entwicklungen in sozialen Kontexten heran, so ist eine verhältnismäßig autochthone Entwicklung der physikalischen Forschung dieser Zeit in Korrespondenz mit den Forschungen und deren Rezeption in anderen europäischen Ländern zu beobachten.21 Was die akademischen Karriereverläufe der mathematischen und physikalischen Protagonisten des mittleren 19. Jahrhunderts betrifft, so sind diese ganz an die institutionellen Einrichtungen des »österreichischen« Teils der Monarchie gebunden. Das Berufungskarussell begann oftmals an einer zu Wien peripheren universitären Einrichtung (z. B. Prag im Falle Dopplers, Innsbruck im Falle Ettingshausen) und endete an der Universität Wien (mit möglichen Wiener Zwischenstationen wie der Ingenieurakademie oder dem Polytechnischen Institut, wie bei Doppler und Ettingshausen). Weder 21 Joseph Ben-David, The scientist’s role in society : A comparative study, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1971.
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Berufungen »von außen« noch Studienaufenthalte im Ausland durchbrachen das Gesamtbild einer von Binnenmobilität geprägten Entwicklung an der Peripherie. Mit der Ausnahme Petzvals, der als Slowake in Pest studierte und unterrichtete und 1837 auf einen Lehrstuhl für Mathematik an der Wiener Universität berufen wurde – er war zugleich Mitglied der Ungarischen und der Wiener Akademie der Wissenschaften –, erfolgte die Rekrutierung und Reproduktion der universitären Lehrer an der Universität Wien ausschließlich durch ihre seinerzeitigen Absolventen, mit Doppler als Ausnahme, der am Wiener Polytechnischen Institut ab 1822 studiert hatte. Dass diese Autoreproduktion in den naturwissenschaftlichen Fächern, insbesondere der Mathematik und Physik, an der Philosophischen Fakultät nicht durchgängig für die Universität Wien galt, zeigt unter anderem die Berufung des Berliner Physiologen Ernst Wilhelm von Brücke im Jahr 1849 auf den Lehrstuhl für Physiologie der Medizinischen Fakultät. Brücke hatte zusammen mit dem Physiologen Emil Du Bois-Reymond und dem Physiker und Chemiker Heinrich Gustav Magnus 1845 die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, die nachmalige Deutsche Physikalische Gesellschaft, mitbegründet. Nach dem Vorbild der Physik vertrat Brücke eine streng auf dem Boden der Naturwissenschaften wurzelnde, gegen spätromantische und vitalistische Ansätze gerichtete Programmatik in der Physiologie, und begründete in Wien eine Forschungsmethodik, die ihn freundschaftlich mit Wiener Physikern, Chemikern und Astronomen (Doppler, Wilhelm Josef Grailich, Josef Redtenbacher, Karl Ludwig von Littrow) verband. Freundschaftliche Kontakte bestanden auch zum Philosophen und Herbartianer Franz Karl Lott, der durch Vermittlung Exners 1849 aus Göttingen zugleich mit Bonitz, der vorher in Stettin gewirkt hatte, nach Wien berufen wurde.22 Exner zog offensichtlich sehr geschickt die Fäden der reformpädagogisch orientierten Herbartianer zur Absicherung seiner (und Thuns) Reform der mittleren und hohen Schulen. Der Wiener Lott war in Göttingen nicht nur ein Schüler Johann Friedrich Herbarts gewesen, sondern studierte dort auch Mathematik bei Carl Friedrich Gauss und Chemie bei dem Pionier der organischen Chemie Friedrich Wöhler.23 Bevor wir uns den Nachfolgern Dopplers zuwenden, wollen wir die Spur kurz weiter verfolgen, die mit der Berufung Brückes und mit dessen physikalischer Orientierung seiner Forschungen verbundenen Intensivierung der Verbindung zwischen Physik und Physiologie eingeleitet wurde. Um die naturwissenschaftliche Ausrichtung seiner Forschungen auch im universitären Curriculum zu verankern, wurden Vorlesungen aus Physik (August von Kunzek) und Chemie 22 Swoboda, Physik, 362. 23 Sowohl Mach wie Boltzmann legen ihre Rigorosen aus Philosophie bei Lott ab, Boltzmann mit der Note »Sehr gut«, Mach musste sich mit »Gut« zufrieden geben. Dieter Flamm (Hg.), Hochgeehrter Herr Professor! Innig geliebter Louis! Ludwig Boltzmann, Henriette von Aigentler, Briefwechsel, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 1995, 26.
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(Josef Redtenbacher) auch für Medizinstudenten angeboten. Im Wintersemester 1859/60 begann Mach ein Studium der Medizin, belegte Vorlesungen aus Physiologie bei Brücke, Chemie bei Redtenbacher und Anatomie bei Josef Hyrtl und bereitete sich derart auf eine Lehrtätigkeit am Institut bei Brücke vor.24 Nach der Publikation von psycho-physikalischen Experimenten reichte Mach zusammen mit den beiden erwähnten Publikationen zu Beginn 1861 sein Ansuchen um die Venia legendi für »allgemeine Physik in einem unbegrenzten Sinn« ein, dem im gleichen Jahr stattgegeben wurde.25 Mit dem Sommersemester 1861 begann Mach an der Universität Wien zu lehren, u. a. »Physik für Mediziner«, »Höhere physiologische Physik« und (1862) »Die Principien der Mechanik und mechanischen Physik in ihrer historischen Entwicklung«, eine frühe Vorwegnahme seiner späteren historisch-kritischen Untersuchungen.26 Die Sozialisierung Machs an ein Modell interdisziplinärer empiristisch-positivistischer Forschung in der Physiologie erfolgte bei Brücke in den Jahren unmittelbar nach seinen Arbeiten zum Doppler-Effekt und resultierte in zwei Arbeiten des Jahres 1863 unter den Titeln Compendium der Physik für Mediziner27 und Vorträge über Psychophysik28, in denen Mach seine damaligen methodologischen und philosophischen Sichtweisen darlegte.29 Die Kontinuität, die den Wandel bei den Curricula im Fach Physik und der Organisation von Forschung und Lehre in diesem Bereich begleitete, ist ein Charakteristikum der universitären Naturwissenschaften nicht erst seit ca. 1850 und bis in die 1970er Jahre mit Einführungs- und Fortgeschrittenen-Vorlesungen, Anfänger- und Fortgeschrittenenpraktika, Seminaren und Spezialvorlesungen, den Vorlesungen für Mediziner und Pharmazeuten und schließlich dem teilweise überlappenden, teilweise separaten Curriculum für die LehramtskandidatInnen. Es wäre irreführend, den Experimentalvorlesungen am Physikalischen Institut, also den experimental-physikalischen Demonstrationen Dopp24 Josef Hyrtl war in Jahr des 500-jährigen Bestehens der Universität Wien zum Rektor gewählt worden und hielt anlässlich seiner Inauguration am 1. Oktober 1864 eine Rede zum Thema »Die materialistische Weltanschauung unserer Zeit«, die er aufgrund der heftigen Kritik in der Öffentlichkeit und seitens seiner »materialistischen« Kollegen, zu denen vor allem Brücke und Du Bois-Reymond zählten, unveröffentlicht ließ. Die Inaugurationsrede Hyrtls gilt als eines der Schlüsseldokumente des »Materialismusstreits« des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch Kurt Bayertz/Walter Jaeschke/Myriam Gerhard (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert (Der Materialismusstreit 1), Hamburg: Meiner 2007. 25 Ernst Mach, Über das Sehen von Lagen und Winkeln durch die Bewegung des Auges, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 43, 1861, 215 – 224. 26 Swoboda, Physik, 363 – 366. 27 Ernst Mach, Compendium der Physik für Mediziner, Wien: Wilhelm Braumüller 1863. 28 Ernst Mach, Vorträge über Psychophysik, in: Österreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde IX (1863), in zwölf Teilen veröffentlicht. 29 Swoboda, Physik, 371 – 403.
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lers einen besonderen innovativen Charakter zuzuschreiben, denn schon Ettingshausen und Kunzek hatten ähnliche, an Demonstrationen orientierte Vorlesungen angeboten. Was sich verändert hatte, war die verstärkte Vorgabe staatlicher Regulative bei der Gestaltung des Unterrichts, die Ausweitung der apparativen Ausstattung des neuen Instituts durch Bestände des Physikalischen Cabinets, der museumsartigen Apparatesammlung, die auf die Jesuitenuniversität zurückging, und eine ausreichende finanzielle Dotierung. Eine ähnliche organisatorische Neuordnung beobachten wir auch bei den im weiteren Sinne naturwissenschaftlichen kaiserlichen Sammlungen, den »k. k. Hof–Naturalien–Cabineten« mit der 1851 erfolgten Unterteilung in eine zoologische und botanische Sammlung und weiters den Mineraliensammlungen des Mineralien-Cabinets, dem k. k. Mineralogischen Hof-Cabinet mit seinen mineralogisch-petrographischen und paläontologisch-geologischen Arbeitsrichtungen, ab 1827 geleitet von dem Mineralogen Friedrich Mohs, bekannt durch die von ihm entwickelte und bis heute verwendete Härteskala für Mineralien. Mohs, seit 1826 Professor an der Universität Wien, lehrte am Cabinet, da die Ausstattung an der Universität völlig unzureichend war, und unterzog die kaiserliche Sammlung einer Neuordnung. Im mineralogischen Bereich arbeitete Ettingshausens Schwiegersohn Wilhelm Josef Grailich, Kristallograph und Initiator des 1860 an der Universität Wien gegründeten »Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse«. Grailich, Zögling und dann Assistent am Physikalischen Institut, ab 1857 a. o. Professor für höhere Physik an der Universität Wien, untersuchte gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen geometrischen und physikalischen Eigenschaften von Kristallen und beschäftigte sich mit Fluoreszenzerscheinungen an Kristallen, wofür er als erster eine physikalische Erklärung zu geben versuchte. Der wohl bedeutendste österreichische Geologe und spätere liberale Politiker, Initiator der Wiener Hochquellenwasserleitung und Schulreformer Eduard Suess begann, nach einem abgebrochenen Studien am k. k. Polytechnischen Institut,30 seine wissenschaftliche Laufbahn 1852 als Assistent am »Hof–Naturalien–Cabinet«.31 Mit paläozoologischen Studien am Bestand der überaus reichhaltigen Sammlung des Cabinets und mit seinen Arbeiten zur Anatomie und Klassifikation der Brachiopoden und Graptoliten erreichte er in kurzer Frist hohes wissenschaftliches Ansehen, wurde 1856 – ohne je ein Doktorat erworben zu haben – zum unbesoldeten Extraordinarius für Paläontologie ernannt und trat 1862 zuerst als Extraordinarius, ab 1867 als
30 Aufgrund seiner Teilnahme an der 1848er-Revolution und der 1850 erfolgten kurzzeitigen Inhaftierung und weiteren polizeilichen Aufsicht bis Dezember 1851. 31 Das k. k. Hof–Naturalien–Cabinet ist die Vorgängerinstitution des 1889 eröffneten k. k. Naturhistorischen Hofmuseums, heute Naturhistorisches Museum Wien.
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ordentlicher Professor für Geologie an die Universität Wien über.32 Seit seiner Gründung diente Suess dem »Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse« als Präsident, in der Überzeugung, naturwissenschaftlichen Forschungen den ihnen gebührenden Platz in der Öffentlichkeit zu sichern. Eine der ersten Aktivitäten des Vereins im Herbst 1860 war ein Vortrag des Biologen Gustav Jäger über Darwin, im Nachklang zur Huxley-Wilberforce-Debatte vom Juni 1860 in Oxford, argwöhnisch beobachtet vom Cultusministerium. Das 1835 gegründete k. k. Montanistische Museum, zu dessen Leiter 1840 Wilhelm Haidinger bestellt wurde, war die Keimzelle der 1849 gegründeten k. k. Geologischen Reichsanstalt, deren Planung Haidinger seit 1844 betrieb und deren erster Direktor er auch wurde. Nach dem 1835 gegründeten britischen Ordonance Geological Survey, dem ältesten geologischen Dienst weltweit, ist die k. k. Geologischen Reichsanstalt der älteste staatliche geologische Dienst auf dem Kontinent. Zusammen mit der 1851 in Österreich begründeten Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus, dem – neben der 1843 in St. Petersburg gegründeten Zentralanstalt für Wetterforschung – ältesten staatlichen Wetterdienst, schließt sich der Reigen der organisatorisch-administrativen Neugründungen und fachlich-disziplinären Innovationen in den Naturwissenschaften der Thun’schen Reformen. In allen diesen Fällen, besonders in jenem der Centralanstalt, war die 1847 gegründete kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien bei der Initiative für diese Neugründungen wesentlich beteiligt. Als erster Direktor der Centralanstalt wurde der Direktor der Sternwarte des Prager Clementinums, Karl Kreil, ein Freund Dopplers aus Prager Tagen, berufen und erhielt zugleich eine ordentliche Professur für Physik an der Universität Wien. Andreas von Baumgartner, Professor für Physik und 1848 VizePräsident der Akademie der Wissenschaften (1847 – 1851) und damals auch Minister der öffentlichen Arbeiten und das Bergwesen setzte die erste Initiative zur Gründung eines meteorologischen Dienstes mit dem Vorschlag, die entlang der Eisenbahnlinien bestehenden telegraphischen Stationen für die Übermittlung meteorologischer Beobachtungen an eine Zentrale zu nutzen. Kreil wurde von der Akademie mit der Ausarbeitung eines Organisationsentwurfes beauftragt und am 8. Juni 1851 trug Thun dem Kaiser den Vorschlag »betreffend die Errichtung einer Central Anstalt in Wien für meteorologische und magnetische Beobachtungen« vor, den Franz Joseph I. am 23. Juli 1851 bewilligte.33 32 Vgl. dazu: Helmuth Zapfe, Eduard Suess als Paläontologe, in: Mitteilungen der Österreichischen Geologischen Gesellschaft. 74./75. Band, 1981/82 (Eduard-Suess-Gedenkband zum 150. Geburtstag), Wien: Verlag der Geologischen Bundesanstalt 1981, 17 – 26. 33 Allerunterthänigster Vortrag betreffend die Errichtung einer Central Anstalt in Wien für meteorologische und magnetische Beobachtungen, 8. Juni 1851. ÖStA, AVA, Ministerium für Cultus und Unterricht, ad Nr. 8171 aus 1851, Majestätsvortrag. Christa Hammerl/Wolfgang Lenhardt/Reinhold Steinacker/Peter Steinhauser (Hg.), Die Zentralanstalt für Meteorologie
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Durch die bisherigen Ausführungen könnte der Eindruck entstanden sein, die Thun-Hohenstein’schen Reformen wären quasi voraussetzungslos aus dem bürokratisch-ministeriellen Zauberhut gezogen worden. Der notwenige Wandel schloss an die bisherigen Gegebenheiten an. Schon mit der Berufung Andreas Baumgartners 1823 als ordentlicher Professor für Physik und angewandte Mathematik an der Universität Wien kam es zu einer Zäsur und einem Neubeginn in der Lehre durch die endgültige Abkehr vom bis dahin traditionellen lateinischen Vortrag aus Büchern und Skripten. Der Sohn eines böhmischen Bäckers, der 1778 aus der Leibeigenschaft entlassen worden war, modernisierte Lehrinhalte und Lehrmethoden, verwendete für seine Vorlesung von ihm verfasste Lehrbücher, die auch die Newton’sche Mechanik und Optik präsentierten, und trug als erster in deutscher Sprache vor, nachdem durch die Reform Franz I. die deutsche Sprache für Vorlesungen verbindlich wurde. Weiters unterzog er die Geräte- und Modellsammlung des Physikalischen Cabinets, das seiner Lehrkanzel angegliedert war, einer gründlichen Revision, schied unbrauchbare Instrumente aus und erwarb neue – eine Tätigkeit, die sich forthin zum Standardritual frisch berufener Ordinarien verfestigen sollte. Seine Bekanntheit reichte über Wien und Österreich hinaus und Baumgartner hatte u. a. in Paris Kontakt zu Augustin Fresnel, was zur Revision seiner bis dahin geübten Äquidistanz zwischen Emanations- und Undulationstheorie des Lichtes zugunsten letzterer führte, für die Fresnel mit seinen Interferenzversuchen überzeugende Belege vorgelegt hatte. Dem Fehlen eines lokalen Publikationsorgans für wissenschaftliche Abhandlungen begegnete er zusammen mit seinem Schwager Ettingshausen durch die Gründung der Zeitschrift für Physik und Mathematik, die unter geändertem Titel und wechselnder Herausgeberschaft bis 1840 bestand. 1833 legte Baumgartner aus gesundheitlichen Gründen sein Lehramt zurück und übernahm im selben Jahr die Leitung der Porzellanfabrik in Wien und der Guss-Spiegel- und Smaltefabrik in Reichenau.34 Die Einführung der elektromagnetischen Telegraphen in Österreich 1846 ging auf seine Initiative zurück, die für seinen Vorschlag der Einrichtung eines meteorologischen Dienstes konzeptiv ausschlaggebend war. Baumgartner wurde 1842 mit der Leitung der österreichischen Tabakfabriken betraut, die er von Grund auf modernisierte und mechanisierte und so gutes Geld für das staatliche Monopol verdiente. Erwähnt wurde bereits sein Ministeramt 1848 und daran schloss sich unmittelbar seine Position als Sektionschef im Finanzministerium, alsbald wieder Minister (für Handel und und Geodynamik 1851 – 2001. 150 Jahre Meteorologie und Geophysik in Österreich, Graz: Leykam 2001, 19 – 37. 34 Smalte ist ein Kobalt(II)-oxid gefärbtes Kalium-Silikatglas (SiO2 K2O CoO) intensiv blauer Färbung, das als Pigmentpulver breite Verwendung hat.
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für Finanzen), die Erhebung in den Freiherrnstand und schließlich die Pensionierung auf eigenem Wunsch 1855. Bis zu seinem Tod war er Präsident der Akademie – eine Funktion, die er von 1851 bis 1865 bekleidete. Andreas von Ettingshausen, ab 1821 Professor der höheren Mathematik in Wien, folgte Baumgartner 1835 auf dessen Lehrkanzel als Professor der Physik, der angewandten Mathematik und Mechanik und war zudem mit der Leitung des Physikalischen Cabinets betraut. 1848 trat er in die Wiener Ingenieursakademie über, hielt 1852 Kurse am Polytechnischen Institut und folgte im selben Jahr Doppler als Nachfolger und Direktor des Physikalischen Instituts. Ettingshausen machte sich vor allem um die von Doppler eingeleitete praktische Ausbildung verdient und erweiterte die Instrumentensammlung für Zwecke des demonstrativen Unterrichts. Sein wissenschaftliches Interesse galt neben der Optik und der Photographie der elektrischen Induktion mit dem Bau einer elektromagnetischen Maschine zur Stromerzeugung. Josef Stefan folgte Ettingshausen 1866 in der Position des Direktors und leitete das Institut bis zu seinem Tod 1893. Der Slowene Josef Stefan, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, hatte dank seiner ausgeprägten mathematischen Begabung schnell im akademischen Leben Wiens fuß gefasst. Unmittelbar nach Abschluss seiner Studien 1858 arbeitete er am Physiologischen Institut des Josephinums mit dem im Kurhessischen geborenen Physiologen Carl Ludwig, ein strenger Vertreter der »organischen Physik« wie Brücke, an Problemen des Durchflusses von Wasser in Röhren.35 Ludwig war auf den begabten Studenten aufmerksam geworden, der als 22Jähriger seine zweite Arbeit über die »Allgemeinen Gleichungen für oszillatorische Bewegungen« in Johann Christian Poggendorffs Annalen der Physik und Chemie publiziert hatte, ein deutlicher Hinweis auf die profunde mathematische Ausbildung durch seine Wiener Lehrer.36 Im selben Jahr (1858) habilitierte sich Stefan an der Universität für mathematische Physik. Im Alter von 28 Jahren wurde er 1863 als damals jüngster der Monarchie zum ordentlichen Professor der höheren Mathematik und Physik ernannt und Ettingshausen wegen dessen gesundheitlicher Probleme als Vizedirektor am Physikalischen Institut zur Seite gestellt. Einmal mehr kann Stefan als typischer Vertreter der Wiener Physik der 35 Carl Ludwig/Josef Stefan, Über den Druck, den fliessendes Wasser senkrecht zu seiner Strömungsrichtung ausübt, in: Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien, Bd. 32, 1858, 25 – 42. Carl Ludwig, einer der Begründer der Experimentalphysiologie, wurde 1855 als Professor für Physiologie und Zoologie an die medizinische Militärakademie, das Josephinum, berufen und beschäftigte sich hier besonders mit der Physiologie der Atmung, der Blutgefäßinnervation, dem Blutgastransport und dem Stoffwechsel. 1865 wurde Ludwig an das Institut für Physiologie der Universität Kiel berufen. 36 Josef Stefan, Allgemeine Gleichungen für oszillatorische Bewegungen, in: Annalen der Physik und Chemie 102 (1857), 365.
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bezeichnet werden, da er auf dem Gebiet der theoretischen wie auch der experimentellen Physik bedeutende Beiträge lieferte. Das von ihm auf phänomenologisch-empirischer Grundlage formulierte Strahlungsgesetz, das sein Schüler Boltzmann mathematisch begründen konnte, und seine experimentellen Bestimmungen der spezifischen Wärmeleitfähigkeit von Gasen waren Meilensteine. Und Stefan war einer der wenigen, die auf dem europäischen Festland der Maxwell’schen Theorie des Elektromagnetismus zu Akzeptanz verhalfen. Eines gilt für die erste und auch zweite Generation von Physikern an der Universität Wien des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts: Sie standen nicht auf den Schultern von Riesen, sie erwarben ihre Kenntnisse bis 1850 in einem recht beschränkten System von reglementierter Lehre; die apparativen Möglichkeiten, experimentell zu arbeiten, waren – bis nach 1850 – unzulänglich und die weiter im Westen gepflogene Kommunikation mit Kollegen war unterentwickelt, wie Boltzmann am Beispiel Stefans und Loschmidts bedauernd feststellte, die nie eine Reise außerhalb der Grenzen Österreichs unternommen hatten.37 Die soziale Herkunft der ersten Generation von local heroes – von Baumgartner, Doppler, Stefan bis Loschmidt – hatte ihnen nicht in die Wiege gelegt, zu hohen akademischen Positionen aufzusteigen: Manche der Eltern dieser ersten Generation war des Schreibens nicht mächtig, doch offensichtlich waren die sozialen Barrieren für deren begabte Kinder damals nicht unüberwindlich gewesen. Ab den 1870er Jahren beobachten wir eine deutliche soziale Verschiebung in den Berufen der Väter von Wissenschaftlern, die nunmehr überwiegend aus der urbanen Mittelschicht kamen; in dieser Kohorte überwogen nun Väter aus der Beamtenschaft und wenig später aus akademischen Berufen, wie am Beispiel der Träger des Ignaz–L.–Lieben–Preises der Akademie der Wissenschaften (erstmals vergeben 1865 an Josef Stefan) gezeigt werden kann.38 Deutlich wird auch an der Entwicklung der Naturforschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Formation eines neuen Berufsbildes: das des akademischen Physikers. Baumgartners Mobilität zwischen Universität, Industrie und Verwaltung verschwand als Modell, Doppler und Loschmidt signalisierten den Übergang mit diskontinuierlichen Karriereverläufen, während Stefan, Viktor von Lang und Boltzmann ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits dem bis heute gültigen Rollenverständnis des Physikers als Universitätslehrer entsprechen, allerdings mit der Einschränkung der noch nicht er37 Ludwig Boltzmann, Josef Stefan, in: ders., Populäre Schriften, Leipzig: Barth 1905, 92 – 103. 38 Wolfgang L. Reiter, Mäzenatentum, Naturwissenschaft und Politik im Habsburgerreich und in der Ersten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25. Jg., Heft 3, 2014, 212 – 247.
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folgten Ausdifferenzierung in eine experimentelle oder theoretische Arbeitsrichtung des Faches. Deutlich wird dieser nächste Schritt der abschließenden Professionalisierung des Faches Physik in der Person Franz Serafin Exners jr., dem Sohn Franz Exners, für die Experimentalphysik und in Boltzmanns Nachfolger Friedrich Hasenöhrl für die theoretische Physik. Ein Aspekt – und er ist für die Wissenschaft zentral – blieb allerdings bis zur Jahrhundertwende unverändert: die lokale, regionale und (mit Einschränkung) überregionale wissenschaftliche Kommunikation, für die die Akademie der Wissenschaften die dominante Plattform der fachlichen Diskussion war und mit ihren Publikationsorganen (v. a. die Sitzungsberichte der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse) das einzige Vehikel der internen und externen Wissensvermittlung darstellte. Nur wer Mitglied der Akademie war, zählte daher zur scientific community, denn allein die Akademie bot die wissenschaftliche Arena, die an der Universität fehlte. Im monumentalen wissenschaftlichen Werk Boltzmanns kam die Entwicklung der Physik an der Universität Wien seit 1850 zu ihrer vollen Reife. Er folgte seinem Lehrer Stefan, der 1893 verstarb, im folgenden Jahr auf dessen Lehrstuhl am Physikalischen Institut, den der unstete Boltzmann 1900 für eine Position an der Universität Leipzig wieder verließ. Und mit der Jahrhundertwende endet auch dieser Streifzug durch die Geschichte des 1850 gegründeten Physikalischen Instituts der Universität Wien. Die Reformen von 1850 waren alles andere als ein Bruch, schon gar keine Revolution, die auf den Straßen Wiens zwei Jahre zuvor politisch gescheitert war. Von Wandel zu sprechen erscheint angemessen, angestoßen durch einen hoheitlichen Akt, eine dem politischen System entsprechende »Reform von oben« für eine zeitgemäße Ausgestaltung der Lehre der Physik mit dem erstmals expliziten Auftrag zur Forschung, der eine erstaunliche Kreativität in den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Universität Wien freisetzte. Der Aufschwung der Naturwissenschaften seit 1850 und insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde hier durch wenige kaleidoskopische Blicke auf die Geschichte der physikalischen Forschung an der Universität Wien mit gelegentlichen Ausflügen in benachbarte Fachgebiete beleuchtet. In seiner Abschiedsvorlesung als Professor für Geologie an der Universität Wien des Jahres 1902 findet Eduard Suess Worte zum Fortschritt der Naturwissenschaften dieser Zeit, ganz im Geist der liberalen Ära, die diesen Aufschwung in steter Auseinandersetzung mit den politischen Entscheidungsträgern beflügelt hatte, die es verdienen ins Gedächtnis gerufen zu werden:
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»Im Laufe dieser 44 Jahre [die Suess an der Universität Wien wirkte, Anm. d. Verf.] hat sich vieles auf der Erde zugetragen, aber nichts ist so durchgreifend, nichts für die gesamte Kultur des Menschengeschlechtes so entscheidend gewesen, wie die Fortschritte der Naturwissenschaften in dieser Zeit. In jedes Gebiet des menschlichen Lebens und Schaffens sind sie eingedrungen; sie beeinflussen und verändern unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, unsere philosophischen Auffassungen, die wirtschaftliche Politik, die Machtstellung der Staaten, alles. Wer aber genauer zusehen will, kann wahrnehmen, daß neben der Naturforschung auch der Naturforscher mehr und mehr in den Vordergrund tritt, daß seine soziale Bedeutung anerkannt wird und der Wert seiner Studien immer mehr geschätz wird. Hieraus erwächst der heranwachsenden Generation von Forschern eine hohe Pflicht. Diese Pflicht besteht darin, daß sie an die Ethik ihrer eigenen persönlichen Lebensführung einen immer strengeren Maßstab anzulegen hat, damit bei der steigenden Einwirkung der Naturforschung auf alles gesellschaftliche und staatliche Leben auch der Naturforscher selbst sich mehr und mehr würdig fühle, teilzunehmen an der Führung der geistigen Menschheit.«39
39 Eduard Suess, Erinnerungen, Leipzig: Verlag von S. Hirzel 1916, IV – V.
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Aufsteigen, Verdrängen, Nachholen: Sozialwissenschaft(en) an der Universität Wien
1.
»Socialwissenschaften«
Im Dezember 1882 schrieb Carl Menger über »die eigentliche Verderblichkeit des gegenwärtigen Zustandes des Politischen Oekonomie in Deutschland«, die »in der Herrschaft irrthümlicher methodischer Grundsätze« begründet sei.1 Bei dem Text handelte es sich um das Vorwort zu Mengers Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften. Der erst wenige Jahre zuvor zum Professor der Staatswissenschaften an der Universität Wien berufene Menger war sich des »polemische[n] Charakter[s]« seiner Schrift bewusst;2 nicht unbedingt erwartet hatte er vielleicht, dass sie in eine wissenschaftstheoretische Debatte führen würde, die heute als »älterer Methodenstreit« bekannt ist.3 Das Buch war Mengers Versuch, seine mehr als ein Jahrzehnt zuvor verfasste volkswirtschaftliche Hauptschrift4 wissenschaftstheoretisch zu untermauern – und sollte ihr wohl auch mehr Aufmerksamkeit verleihen.5 Tatsächlich stand die von ihm vertretene »exacte[] Richtung der Forschung […] für die Gewinnung exacter Gesetze«6 konträr zur damals in Deutschland verbreiteten historischen Schule der Nationalökonomie, die »Gesetze und Theorien auf der Grundlage der Sammlung ökonomischer Daten gewinnen« wollte. Waren die deutschen Ökonomen im Wesentlichen induktiv, vertrat Menger »eher eine deduktive Position.«7 1 Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften, und der Politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig: Duncker & Humblot 1883, XIX. 2 Ebd., XX. 3 Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 2. Aufl., Berlin: Springer 2001, 276. 4 Carl Menger, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien: W. Braumüller 1871. 5 Margarete Boos, Die Wissenschaftstheorie Carl Mengers. Biographische und ideengeschichtliche Zusammenhänge, Wien: Böhlau Wien 1986, 38 – 40; Karl Milford, A Note on Menger’s Problem Situation and Non-Essentialist Approach to Economics, in: Harald Hagemann/Tamotsu Nishizawa/Yukihiro Ikeda (Hg.), Austrian economics in transition: from Carl Menger to Friedrich Hayek, Houndsmill: Palgrave Macmillan 2010, 154 – 175, 161 – 163. 6 Menger, Untersuchungen, 41. 7 Söllner, Geschichte, 276.
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Die Bedeutung Mengers bemisst sich an den wissenschaftshistorischen und -theoretischen Beiträgen, die sein Werk stimuliert hat. Die Literatur beschäftigt sich etwa mit Fragen, ob und inwieweit der Angriff auf die damalige deutsche Orthodoxie berechtigt war ; auf welcher philosophischen Grundierung Menger seine Erkenntnistheorie entwickelte;8 und worin sein Beitrag zur so genannten »marginalistischen Revolution« in der Wirtschaftswissenschaft bestand.9 Im engen Rahmen des vorliegenden Textes dient uns Menger als Anlassfall: Allein der Umstand, dass der Professor an der Universität Wien in den 1880ern eine Monographie der Methode der »Socialwissenschaften« publiziert hat, wirft die ganz grundsätzliche Frage nach der Bedeutung dieses Begriffs auf, und seine Beziehung zur Universität (allgemein und jener in Wien). Die Schwierigkeit, was im historischen Kontext unter Sozialwissenschaften zu verstehen ist, wurde bereits eingehend reflektiert.10 Kurz gefasst können wir sagen, dass diese eng mit der »institutional formation of modernity« verquickt sind.11 Edward Shils nennt »appreciation of the present as an object of knowledge« und »the irresistible wave of equality« als zwei positive Stimuli, aufgrund derer die Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert etabliert worden seien.12 Lutz Raphael dagegen macht den Glaubwürdigkeitsverlust des Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Aufstieg der Sozialwissenschaften verantwortlich: »the liberal vision of reason, law, education, and individual freedom as universal principles automatically leading mankind towards a better
8 Max Alter, Carl Menger and the origins of Austrian economics, Boulder: Westview Press 1990; Milford, Note. 9 Erich W. Streissler, Wirtschaftliche Entscheidungstheorie als Angelpunkt der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, in: Karl Acham (Hg.), Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Wirtschaft, Politik und Recht, Bd. 3.2 (Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften), Wien: Passagen Verlag 1999, 79 – 124, 85 – 88. 10 Vgl. die beiden Sammelbände Theodore M Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Modern Social Sciences (The Cambridge history of science 7), Cambridge–New York–Melbourne u. a.: Cambridge University Press 2003; Roger Backhouse/Philippe Fontaine, The History of the Social Sciences Since 1945, Cambridge: Cambridge University Press 2010; Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870 – 1980, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1990; zu Österreich, siehe auch spezifisch Karl Acham (Hg.), Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, Bd. 3.1 (Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften), Wien: Passagen Verlag 2001; ders. (Hg.), Menschliches Verhalten. 11 Björn Wittrock, Modernity : One, None, or Many? European Origins and Modernity as a Global Condition, in: Daedalus 129 (2000) 1, 31 – 60, 47. Wie Wittrock weiter schreibt, waren »economic organization in the form of a liberal market economy«, »modern nation-state of compatriots or as a constitutional republic of fellow citizens«, sowie »legally protected sphere where the state was only allowed to make interventions and undertake« Kennzeichen dieser institutionellen Modernität. 12 Edward Shils, The universities, the social sciences, and liberal democracy, in: Interchange, 23 (1992) 1 – 2, 183 – 223, 184.
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future was tested by a generation of sceptical empiricists«.13 Die wissenschaftlichen Betrachtungen des Sozialen waren jedenfalls erstens eine spezifische Reaktion auf, zweitens wissenschaftliche Reflexion (oder Interpretation) von, und drittens auch Intervention in diesen Formierungsprozess der Moderne. Was ist eigentlich Gesellschaft, und was das Soziale? Verknüpft war diese Frage mit konfligierenden Interessen politischer, ökonomischer, kultureller Natur : Die entstehenden, oftmals (aber nicht immer) nationalen Kultur- und Staatsräume bedurften spezifischer (empirischer wie theoretischer) Instrumente zur Erfassung, Planung und Projektion von Bevölkerungsklassen, Gütern, Bedürfnissen und Meinungen – eben dem, was Menger etwas flapsig als »Socialphänomene« bezeichnete.14 Hinzugefügt sei, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Praktiken und Theorien, Disziplinen und Schulen, die gemeinhin unter »Sozialwissenschaften« gebündelt sind, sich bisher einer wissenschaftstheoretisch stringenten Definition entzogen haben. Ihr Wesensmerkmal scheint Differenzierung und Heteronomie zu sein.15 Zugleich – auch das lässt sich an Mengers Polemik beispielhaft zeigen – liegt ein Grund in der Einführung der Sozialwissenschaften als »makro-epistemologische Kategorie« darin, gerade diese Unterschiede normativ zu verdecken.16 Die historische Kontingenz dieses Begriffs gilt es also mitzudenken. Sie betrifft drei Ebenen: Das (methodologische sowie theoretischkonzeptionelle) Verständnis darüber, was jeweils unter Sozialwissenschaften verstanden wird; die in dieses spezifische Ensemble jeweils projizierte (politische) Verwendbarkeit; und ihre (meist nur implizit geäußerte) Reichweite bzw. Einbettung in einen bestimmten akademischen Kulturkreis. Daraus lassen sich grob gesprochen die folgenden drei, diesen Artikel strukturierenden Abschnitte ausmachen.17
13 Lutz Raphael, Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880 – 1980: Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Kerstin Brückweh u. a. (Hg.), Engineering Society : The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880 – 1980, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, 41 – 56, 42. 14 Menger, Untersuchungen, 31. 15 Andrew Abbott, Chaos of Disciplines, Chicago: University of Chicago Press 2001. 16 Roberto Sala, One, Two, or Three Cultures? Humanities Versus the Natural and Social Sciences in Modern Germany, in: Journal of the Knowledge Economy 4 (2013) 1, 83 – 97, 88 – 90. 17 Die Darstellung ist notwendigerweise verkürzt auf jene sozialwissenschaftlichen Bereiche, in denen die Universität Wien tatsächlich eine rühmliche oder eben auch unrühmliche Rolle gespielt hat.
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2.
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1870 bis 1918: Aufbruch, Formierung, Positionierung
Die Universität wird gern als der natürliche Ort gesehen, an dem Wissenschaft produziert und vermittelt wird. Doch die Etablierung der Sozialwissenschaften – oder, richtiger, des historisch kontingenten Konstrukts eines Ensembles differenzierter wissenschaftlicher Praktiken, die unter der Kategorie Sozialwissenschaften gefasst werden – fand nicht unbedingt an Universitäten statt; und sie erfolgte in sehr unterschiedlichen Konfigurationen.18 Die nach 1848 erfolgte Modernisierung der Universitäten im Habsburger Reich war stark am deutschen Vorbild orientiert. So wurde das rechtswissenschaftliche Studium auf die historische Rechtsschule hin ausgerichtet.19 Zugleich standen die zentraleuropäischen Universitäten im Zeichen einer verstärkten Indienstnahme durch die wachsende staatliche Beamtenschaft, die durch die Verfassung von 1867 zusätzlich an Bedeutung gewann.20 Sie bedurfte grundlegender Wissensbestände über eine immer unberechenbarer erscheinende Gesellschaft. An der Universität Wien fanden jene Köpfe ein institutionelles Zuhause, die eine wissenschaftlich-theoretische Antwort geben wollten auf die »soziale Frage«, aber auch auf die »nationale Frage«. Neben dem eingangs erwähnten Menger waren es Personen wie Lorenz von Stein, Eugen Philippovich, Carl Grünberg, Sigmund Adler, die – aus durchaus unterschiedlichen Perspektiven und unter verschiedenen politischen Zielsetzungen – die gesellschaftlichen Dynamiken erforschten, zu erklären versuchten, und auch konkrete politische Schlussfolgerungen daraus ableiteten. An der Universität erfolgte auch die Ausbildung der höheren Beamten, welche die konkrete Anwendung und Verwendung der erarbeiteten Wissensbestände vornahmen. Insbesondere die Rechtswissenschaftliche Fakultät wurde zum Nukleus sozialwissenschaftlicher Forschungs- und Lehrgegenstände; aber auch an der Philosophischen Fakultät wurden bereits Studien durchgeführt, die man post festum als »sozialwissenschaftlich« charakterisieren könnte, u. a. im Bereich der damals so genannten Völkerkunde oder der Psychologie. Im zeitgenössischen Selbstverständnis umfasste »Sozialwissenschaften« hauptsächlich die Nationalökonomie bzw. politische Ökonomie. Sie war im späten 19. Jahrhundert Brennpunkt mehrerer Problemstellungen betreffend gesellschaftlicher Modernisierung und Industrialisierung. Doch sogar bei Carl Menger, der diesen Oberbegriff maßgeblich prägte, bleibt das Verhältnis zu den enger gefassten 18 Shils, The universities, 185 – 195; Asa Briggs, Geschichte und Sozialwissenschaften, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800 – 1945), Bd. 3, München: C. H. Beck 2004, 379 – 405, 396 – 398. 19 Waltraud Heindl-Langer, Josephinische Mandarine: Bürokratie und Beamte in Österreich, Wien: Böhlau 2013, 67. 20 Ebd., 175 – 176.
Aufsteigen, Verdrängen, Nachholen: Sozialwissenschaft(en)
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»Wirthschaftswissenschaften« unbestimmt.21 Sozialwissenschaftliche Disziplinen, wie wir sie heute kennen, existierten ohnehin nicht.22 In Nachfolge von Menger bekleideten die Wirtschaftswissenschaftler Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich Wieser Professuren in Wien. Die sich von ihnen ausgestaltete österreichische Schule war charakterisiert von einer marktliberalen Grundhaltung, einem antimathematischen Reflex und einer Betonung der Rolle des Entrepreneurs. Ideengeschichtlich steht ihre Zugehörigkeit zum wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream heute in Frage;23 unbestritten ist aber, dass Wien einer der drei Standorte war, wo die »marginalistische Revolution« stattfand. Mengers Fakultätskollege Lorenz von Stein arbeitete zeitgleich zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft. In Zeiten industrieller Entfaltung und den dabei entstehenden sozialen Spannungen interessierte von Stein, wie staatliche Bürokratie »Bedingung und Garant der individuellen Entfaltung mittels der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum« sein konnte.24 Insbesondere die Verwaltung sozialpolitischer Agenden stellte eine Herausforderung dar, denn jeder Beamte inkorporierte das einzelne bürgerliche Individuum und den objektiven Staat zugleich. Wie dieser Interessenskonflikt in einer Person ausgeglichen werden konnte, versuchte von Stein durch eine Theorie der Persönlichkeit nachzuweisen. Die Werke Mengers und von Steins sind prominente Beispiele für die an der Universität Wien vor dem Ersten Weltkrieg geleisteten Beiträge zu den Sozialwissenschaften. Einige Ähnlichkeiten stechen ins Auge: Obwohl sie an der Leituniversität eines multinationalen Reichs lehrten und forschten, fühlte sich die Mehrzahl der Professoren dem deutschsprachigen Wissenschaftsraum zugehörig. So konnte etwa Menger seine Polemik selbstverständlich an die »deutschen Fachgenossen« adressieren.25 Doch sein Insistieren auf empiriefreie Theoriebildung deutet auch einen Unterschied an. Im Kontext des Habsburger Reiches waren nationale Gefühlsausdrücke verdächtig der Vorteilnahme; um die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren, bedurfte es zumindest eines anderen Tonfalls als im Deutschen Reich. So entwickelte sich eine »republique des lettres«, in der es eher möglich war, objektive gesellschaftliche Erkenntnisinter21 Menger, Untersuchungen, vgl. insbesondere Anhang IV, »Ueber die Terminologie und die Classification der Wirthschaftswissenschaften«, 249 – 258. 22 Shils, The universities, 190 – 191; noch Max Weber meinte, wenn er von Soziologie sprach, »eine systematische wissenschaftliche Herangehensweise im Unterschied zur rein historischen Untersuchung, aber nicht eine Disziplin neben anderen mit unterschiedlichen Zugängen zur sozialen Wirklichkeit.« Wagner, Sozialwissenschaften und Staat, 146. 23 Söllner, Geschichte. 24 Michael Löbig, Persönlichkeit, Gesellschaft und Staat: idealistische Voraussetzungen der Theorie Lorenz von Steins, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 11. 25 Menger, Untersuchungen, XXI.
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essen in den Vordergrund zu rücken.26 Anders als im Deutschen Reich27 blieb die Nationalökonomie in Wien zudem ein Anhängsel der Jurisprudenz: Sie konnte nur im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Fachausbildung studiert werden und ihre Lehrstuhlinhaber waren in der Regel Professoren der Staatswissenschaften mit juristischem Doktorat.28 Wie damals üblich, zeichnete sich die Mehrzahl der Vertreter der Staatswissenschaften und Nationalökonomie in Wien durch eine »deferential attitude […] towards the state« aus,29 und wie in anderen imperialen Kontexten, waren sie »analysts, critics, and advisors«.30 Menger gab Kronprinz Rudolf Privatunterricht in Politischer Ökonomie und Statistik;31 Eugen Böhm-Bawerk war zwischen 1895 und 1904 Finanzminister. Doch an der Universität Wien fanden nicht nur liberale und konservative Kräfte, sondern auch sozialistisch bzw. marxistisch inspirierte Wissenschaftler wie Carl Grünberg Obhut. Hier entstand eine Gemengelage aus reduzierter Institutionalisierung und Marginalisierung, welche für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung gewesen sein dürfte.
3.
1918 bis 1965: Politisierung, Katholisierung, Provinzialisierung
Von Georges Canguilhem stammt die Beobachtung, wonach in der Wissenschaft »die Zeit der Verifikation […] von unterschiedlicher Flüssigkeit oder Zähigkeit in denselben Perioden der allgemeine Geschichte« sei.32 Die Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnis, der »Heraufkunft der wissenschaftlichen Wahrheit«,33 folgt eigenen Periodisierungen; doch unbeeinflusst von gesellschaftspolitischen Veränderungen und Einschnitten bleibt sie nicht. Wien war in den 1920er und 1930er Jahren eine höchst produktive Metropole sozialwissen26 Jan Surman, Science and its publics: Internationality and national languages in Central Europe, in: Mitchell Ash/Jan Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848 – 1918, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, 30 – 56, 48. 27 Rüdiger vom Bruch, Professoren im Deutschen Kaiserreich, in: Björn Hofmeister/HansChristoph Liess (Hg.), Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 39 – 40. 28 William M. Johnston, The Austrian Mind: An Intellectual and Social History, 1848 – 1938, Berkeley–Los Angeles: University of California Press 1972, Kapitel 3 – 5. 29 Shils, The universities, 191. 30 George Steinmetz, The Imperial Entanglements of Sociology in the United States, Britain, and France since the Nineteenth Century, in: Ab Imperio 4 (2009), 23 – 78, 29. 31 Boos, Wissenschaftstheorie Carl Mengers, 26 – 37. 32 Georges Canguilhem, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie: Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, 12 – 37, 32. 33 Ebd.
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schaftlicher Erkenntnisproduktion, doch die scheinbar bedeutendste wissenschaftliche Institution vor Ort entzog sich dieser Aufgabe immer mehr und trug bald dazu bei, diese Produktivität einzudämmen und zu verhindern. In den 1920er Jahren erlebten die Sozialwissenschaften international ihren Aufschwung und ihre Ausdifferenzierung.34 Sichtbarer Ausdruck der »Hochzeit« der Sozialwissenschaften35 an der Universität Wien war die Einrichtung des staatswissenschaftlichen Studiums. Auch die Liste derer, die unmittelbar nach 1918 und in den Jahren danach an der Universität Wien lehrten, war beeindruckend: Neben Hans Kelsen waren dies der ebenfalls schon erwähnte Nationalökonom Friedrich Wieser, weiter (wenngleich nur ganz kurz) Max Weber, der einen prägenden Einfluss auf buchstäblich alle sozialwissenschaftlichen Fächer haben sollte; Karl und Charlotte Bühler etablierten die Sozialpsychologie. Mengers subjektive Wertlehre hatte in Wien das zarte Pflänzchen einer erkenntnistheoretischen Herangehensweise gesetzt, das weit über die engen Grenzen der Wirtschaftswissenschaften hinausweist und das ein berühmter Nachfolger später als »methodologischen Individualismus«36 bezeichnete: »[S]ocial facts, processes or institutions have to be explained as the unintended result of the interplay of intended individual actions.«37 Unter dieser »Doktrin« ist das Interesse, gesellschaftliche Verhältnisse zu verstehen, nachzuvollziehen und zu erklären, ein genuin wissenschaftliches (und nicht etwa politisches). In Wien war dieses Interesse in jenen Jahren besonders stark ausgeprägt und ermöglichte die Etablierung einer Erkenntnistheorie, die als »reflexiv-positivistische Position« bezeichnet wird.38 Einen Höhepunkt in diesem Kontext stellte das Werk Hans Kelsens dar. Bekannt in erster Linie für seine Reine Rechtslehre39, insistierte Kelsen Zeit seines Lebens auf die Notwendigkeit, die soziale Realität in einer zu seiner Rechtslehre komplementären Art darzustellen.40 Auch selbst beschäftigte er sich mit Fragen der Demokratietheorie und dem Verhältnis von Demokratie und Diktatur.41 In 34 Shils, The universities, 195: »In the 1920s, the social sciences came into their own. That was when they began their meteoric ascent.« 35 Karl H. Müller, Hochzeit der Sozialwissenschaften 1871 – 1938, in: Josef Langer (Hg.), Geschichte der österreichischen Soziologie: Konstituierung, Entwicklung und europäische Bezüge, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988, 51 – 69. 36 Joseph Alois Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Berlin: Duncker & Humblot 1908, 88 – 98. 37 Milford, Note on Menger’s Problem Situation, 158. 38 Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt: von Bolzano über Freud zu Kelsen – Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848 – 1938, Bielefeld: Transcript 2010, 186. 39 Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Olechowski in diesem Band. 40 Markus Porsche-Ludwig, Die Abgrenzung der sozialen Normen von den Rechtsnormen und ihre Relevanz fu¨ r das Verhältnis von Recht(swissenschaft) und Politik(wissenschaft), BadenBaden: Nomos 2007, 86 – 90. 41 Siehe Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: Archiv fu¨ r Sozialwissenschaft
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seinem weitverzweigtem Netzwerk waren viele SozialwissenschafterInnen zu finden, die diese wissenschaftstheoretische Reflexion aufgriffen.42 Doch der weitere Verlauf ist ernüchternd. Das Staatswissenschaftsstudium war rasch diskreditiert,43 und sozialwissenschaftliches Personal wurde politisch homogenisiert, lange bevor die Erste Republik ihre demokratische Legitimierung verlor.44 Für die Universität ging damit die Chance verloren, den immer stärker werdenden gesellschaftspolitischen Spannungen in der Republik eine Arena der intellektuell-wissenschaftlichen Konfliktaustragung zu bieten; stattdessen wurde sie Ort politischer Randale und rechtsextremistischer Betätigungen. Deutlich wurde dies durch den Aufstieg Othmar Spanns, der 1919 zum Professor für Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre (in der Nachfolge von Eugen Philippovich) berufen worden war. Als antiliberaler und antiparlamentarischer Konservativer stand Spann in diametralem Gegensatz zu Hans Kelsen; doch wie dieser war er ein äußerst emsiger Autor und talentierter Netzwerker. Spanns in der deutschen Romantik verwurzelte »universalistisch-idealistische Gesellschaftslehre« verstand sich als Versuch, »über die Natur alles Gesellschaftlichen Rechenschaft« zu geben, wollte aber auch »die Eiterbeule, die da heißt Demokratie und Marxismus, aus[]schneiden«.45 Der Unterschied zwischen Kelsen und Spann lag nicht zuletzt im Verhältnis ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses zur Politik: Anders als Kelsens subtil-reflexiver Umgang mit dem liberalen Ideal der Demokratie war Spanns
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und Sozialpolitik 47 (1920) 1, 50 – 85; ders., The Political Theory of Bolshevism: A Critical Analysis, Berkeley–Los Angeles: University of California Press 1948; zusammenfassend Horst Dreier, Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: Robert Walter/Clemens Jabloner (Hg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, Wien: Manz 1997, 79 – 102. Tamara Ehs, Vertreibung in drei Schritten. Hans Kelsens Netzwerk und die Anfänge österreichischer Politikwissenschaft, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21 (2010) 3, 147 – 174. Tamara Ehs, Die Staatswissenschaften. Historische Fakten zum Thema »Billigdoktorate« und »Frauen- und Ausländerstudien«, in: Zeitgeschichte 37 (2010) 4, 238 – 256. Christian Fleck, Rund um »Marienthal.« Von den Anfängen der Soziologie in Österreich bis zu ihrer Vertreibung, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1990, 76 – 83, verweist auf die insgesamt institutionell extrem ungünstige Situation für die Sozialwissenschaften an Österreichs Universitäten nach 1918; Hinweise zu den gängigen Berufungs- und Habilitationspraktiken geben Hansjörg Klausinger, Academic Anti-Semitism and the Austrian School: Vienna, 1918 – 1945, Vienna University of Economics and Business, URL: http:// epub.wu.ac.at/3983/ (abgerufen am 1. 6. 2014); Albert Müller, Grenzziehungen in der Geschichtswissenschaft: Habilitationsverfahren 1900 – 1950 (am Beispiel der Universität Wien), in: Christian Fleck (Hg.), Soziologische und historische Analysen der Sozialwissenschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag 2000, 287 – 307. Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, gehalten im Sommersemester 1920 an der Universität Wien, Leipzig: Quelle & Meyer 1921, 72 sowie 299.
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deduktiver Universalismus brutal und direkt: Seiner politischen Idee des »wahren Staates« hatte sich die empirische Welt unterzuordnen. Die Spann’sche Ganzheitslehre basierte auf einer Dichothomie zwischen Individualismus und Universalismus und brachte ziemlich banale Postulate hervor. Vielleicht deshalb war sie in den 1920er und 1930er Jahren so populär. Ihrem Urheber gelang es aber trotz Verrenkungen nicht, sich zum geistigen Kopf eines der damals in Mitteleuropa ja mehrfach vorhandenen autoritären Regime aufzuschwingen. Im Nationalsozialismus, dem er zuletzt große Hoffnungen entgegenbrachte, verlor Spann sogar seine akademische Akkreditierung.46 Der dramatische Verfall des wissenschaftlich-intellektuellen Niveaus an der Universität war in der Wirtschaftswissenschaft am deutlichsten zu spüren. Eigentlich war der Wieser-Schüler Hans Mayer angetreten, um die exakte Theorie der subjektiven Wertlehre fortzusetzen. Doch er blieb wissenschaftlich weitgehend unproduktiv und verwickelte sich in einen jahrelangen, bitteren Streit mit Spann.47 Jene, die später international als bedeutende Köpfe der Ökonomie, aber auch der Soziologie, Sozialpsychologie und Politikwissenschaft bekannt wurden, mussten sich im »extramuralen Exil« einrichten,48 sofern sie nicht früher oder später den Gang ins Ausland antraten.49 Der autoritäre Ständestaat und die Eingliederung ins totalitäre Dritte Reich brachte dies nur zu einem bitteren Abschluss.50 Sozialwissenschaften existierten auch unter den Nazis; nominell kam es sogar zu einem Ausbau. Immerhin wurde 1940 der erste Lehrstuhl für Soziologie mit Arnold Gehlen besetzt, und die vakante Stelle von Karl Bühler am Psychologischen Institut übernahm Gunther Ipsen. Es besteht wenig Zweifel, dass damit
46 Zu Spanns Entwicklung und dem Scheitern seiner großen politischen Hoffnungen vgl. Klaus-Jörg Siegfried, Universalismus und Faschismus, Wien: Europa-Verlag 1974; zu seinem verlegerischen Werk in der Zwischenkriegszeit siehe Wiebke Wiede, Rasse im Buch: Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik, München: Oldenbourg Verlag 2011, 144 – 145; zum politischen Kontext: Janek Wassermann, Black Vienna. The Radical Right in the Red City, 1918–1938, Ithaca: Cormell University Press 2014. 47 Zu Mayers glücklosen und opportunistischen Agieren in der Zwischenkriegszeit siehe nun Klausinger, Academic Anti-Semitism. 48 Tamara Ehs, Das extramurale Exil. Vereinsleben als Reaktion auf universitären Antisemitismus, in: Evelyn Adunka/Georg Traska/Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck: Studien Verlag 2010, 15 – 29. 49 Die vollständigste Aufstellung der aus Wien in die Emigration abgewanderten SozialwissenschaftlerInnen findet sich bei Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen: zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 50 Siehe dazu insbes. Oliver Rathkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach, in: Gernot Heiss u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, 197 – 232.
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wissenschaftliche Positionen etabliert wurden, die dem nazistischen Ideologem nahestanden;51 ertragreich waren diese Besetzungen aber nicht mehr.52 In den Jahren nach 1945 herrschte an der Universität Wien ein restaurativer Geist.53 Zurückgegriffen wurde auf Personalressourcen des Austrofaschismus.54 So wurden die autoritären Doktrinen, die in den zwei Dekaden vor 1945 gelehrt worden waren, notdürftig neu verpackt. Andere Ansätze gab es zwar auch – insbesondere die von der amerikanischen Besatzungsmacht vorgelegten Konzepte zur Neuorientierung der österreichischen Wissenschaft basierten auf Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Forschung.55 Doch empirische Sozialforschung fand in den 1950er Jahren ihre Nischen in erster Linie außerhalb der Universität. Den höheren politisch-administrativen Rängen der Universität sowie im Ministerium waren diese Ansätze suspekt.56 Besser eigneten sich für das restaurative politische Klima der 1950er Jahre die nunmehr tief im Naturrecht verankerten Rechtstheorien. Adolf Julius Merkl wies nach, dass Österreich mit dem Anschluss »das willenlose Objekt« des Nationalsozialismus geworden und »geradezu in den rechtlichen Status einer Kolonie versetzt« worden sei;57 der Völkerrechtler Alfred Verdroß-Droßberg erarbeitete das Dogma der Neutralität Österreichs.58 Auch spekulative Sozialphilosophie war gern gesehen. Der vermutlich einflussreichste Gesellschaftstheoretiker jener Ära war an der Theologischen Fakultät angesiedelt: Johannes Messner hatte 51 Zu Gehlen, siehe Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich: wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2003, 176; zu Ipsen siehe Josef Ehmer, Eine »deutsche« Bevölkerungsgeschichte? Gunther Ipsens historisch-soziologische Bevölkerungstheorie, in: Demographische Informationen (1992), 60 – 70; David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig. Die wissenschaftliche Biographie eines »Deutschen Soziologen« 1919 – 1933, Frankfurt a. M.: Peter Lang Edition 2013. 52 Gehlen und Ipsen waren damals überzeugte Nationalsozialisten, die es nach 1945 mit guten Verbindungen und Geschick schafften, ihre akademische Karriere in Westdeutschland fortzusetzen. 53 Oliver Rathkolb, Die Universität Wien und die »Hohe Politik« 1945 bis 1955, in: Margarete Grandner/Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Wien: Studien Verlag 2005, 38 – 50. 54 Thomas König, Irrfahrer und Dulder, Titanen und Halbgötter. Eine empirische Analyse eines Samples von HochschullehrerInnen von 1949 bis 1964, in: Zeitgeschichte 38 (2011) 2, 109 – 129. 55 Christian H. Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration. US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941 – 1955, Wien: Böhlau 2014. 56 Thomas König, Die Frühgeschichte des Fulbright Program in Österreich: transatlantische »Fühlungsnahme auf dem Gebiet der Erziehung« (transatlantica), Innsbruck: Studien Verlag 2012. 57 Adolf Julius Merkl, War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches, in: Archiv des öffentlichen Rechts 43 (1957), 480 – 490, 489. 58 Alfred Verdroß-Droßberg, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, 2. Aufl., Wien: Bundesministerium für Unterricht 1966.
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bereits in den 1930er Jahren eine wichtige Rolle in der politischen Legitimierung des austrofaschistischen Regimes gespielt. 1949 kehrte er aus dem englischen Exil an die Universität Wien zurück und arbeitete an seinem voluminösen Werk zur Naturrechtslehre.59 Bescheiden blieb das Niveau in den Wirtschaftswissenschaften. Die nächste Generation der österreichischen Schule um Alexander Mahr und Wilhelm Weber sahen sich einer formalistischen Beschwörung der Grundwerte der subjektiven Wertlehre verpflichtet.60 Die internationalen Entwicklungen einer keynesianisch inspirierten, auf aggregierten Daten basierenden Volkswirtschaftslehre rezipierten sie nicht.61 Der Demograph Wilhelm Winkler immerhin war bemüht, internationale Trends der Ökonometrie aufzugreifen.62 In der Soziologie entwarf der ehemalige Spann-Schüler August M. Knoll eine historische Religionssoziologie. Mehr Aufmerksamkeit erregte er durch seine vehemente Kritik des vorherrschenden Naturrechtsdogmas la Messner. Dafür wurde er mit Isolierung bestraft.63 Knoll war auch der Proteg¦ von zwei jüngeren Wissenschaftlern: Ernst Topitsch griff die Naturrechtskritik produktiv auf,64 während Leopold Rosenmayr eine empirisch orientierte Sozialforschung zu etablieren versuchte.
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1965–heute: Sozialtechnik, Revolution, Normalisierung
Rosenmayrs »Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle« wäre nicht möglich gewesen ohne die massive Unterstützung amerikanischer Stiftungsgelder (in diesem Fall konkret von der Rockefeller Foundation).65 Amerikanische Stif59 Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck: Tyrolia 1950. Bis 1966 sollte das Buch in sieben Auflagen erscheinen und dabei von 951 auf über 1.300 Seiten anwachsen. 60 Wilhelm Weber, Wirtschaftswissenschaft von heute. Ein Überblick über moderne ökonomische Forschung, Wien: Springer 1953. 61 Zur Geschichte des ökonomischen Denkens siehe einprägsam David Warsh, Knowledge and the wealth of nations: a story of economic discovery, New York–London: W. W. Norton 2007, 108 – 139. 62 Alexander Pinwinkler, Wilhelm Winkler (1884 – 1984) – eine Biographie. Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 75), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 342 – 356. 63 Norbert Leser, Grenzgänger. Österreichische Geistesgeschichte in Totenbeschwörungen, Bd. 1, Wien: Böhlau 1981, 65 – 67. 64 Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien: Springer 1958. 65 Leopold Rosenmayr, Frühe Erfahrungen, späte Einsichten, in: Anton Amann/Gerhard Mayce (Hg.), Soziologie in interdisziplinären Netzwerken, Wien: Böhlau 2005, 31 – 76, 37 – 38; Christian Fleck, Wie Neues nicht entstanden ist. Die Gründung des Instituts für Höhere
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tungen hatten schon lang einen bedeutenden Einfluss auf das Gedeihen der Sozialwissenschaften in Wien. Die sozialwissenschaftliche Blüte in der frühen Zwischenkriegszeit wäre ohne Zuwendungen von amerikanischen Stiftungen wohl nicht möglich gewesen.66 Auch nach 1945 setzte sich das amerikanische Engagement in vielerlei Weise fort; ebenso blieb der Widerstand von Seiten konservativer Politiker und Wissenschaftler aufrecht. Noch das Anfang der 1960er Jahre gegründete Institut für Höhere Studien (IHS) zollte diesem Umstand Tribut – es wurde als eigenständige Einrichtung mit Mitteln der Ford Foundation gegründet.67 Nach 30 Jahren systematischer Verdrängung war der Standort Wien Provinz zweiten Grades: Die Zentren sozialwissenschaftlicher Theorie- und Methodenbildung befanden sich in den USA; aber auch innerhalb des nachgereihten deutschen Sprachraums war Wien in die Bedeutungslosigkeit abgeglitten. Als die Sozialwissenschaften in den 1960er und 1970er Jahren hierzulande ein Comeback erfuhren – nach transatlantischem Vorbild galt es rational, auf Daten gestützt, technokratisch zu regieren – traf dies die Universität entsprechend unvorbereitet. Hastige Reformen waren die Folge. Das staatswissenschaftliche Studium wurde abgeschafft und durch verschiedene »sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studienrichtungen« ersetzt.68 Wissenschaftstheoretisch geriet das Naturrechtsdenken ins Abseits, stattdessen übernahmen die neuen Studien importierte Wissensbestände: Aus Deutschland Mannheims Wissenssoziologie, Positivismuskritik und Marxismus; aus den USA – via IHS – den Behavioralismus.69 Die politischen Hoffnungen, die in sie gesteckt worden waren, konnten die disziplinierten Sozialwissenschaften aber nicht erfüllen. Erstens waren wohl diese Hoffnungen selbst überzogen und widersprüchlich.70 Dazu kamen Res-
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Studien in Wien durch Ex-Österreicher und die Ford Foundation, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (2000) 1, 129 – 178, 154 – 170. Fleck, Rund um »Marienthal«. Christian Fleck, Die gescheiterte Gründung eines Zentrums für sozialwissenschaftliche Forschung in den 30er Jahren in Wien, in: AGSÖ Newsletter 20 (2000), 15 – 28; Fleck, Wie Neues nicht entstanden ist; König, Die Frühgeschichte des Fulbright Program in Österreich, 111 – 116. Bundesgesetz vom 15. 7. 1966 über sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studienrichtungen, Bundesgesetzblatt (BGBl). 179 (1966), §2(1). Hans-Georg Zilian, Theorie und Praxis – der österreichische Weg, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 17 (1992) 1, 20 – 33; Thomas König, Vom Naturrecht zum Behavioralismus und darüber hinaus. Konzeptionelle Grundlagen der Disziplin Politikwissenschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 41 (2012) 4, 419 – 438. Karin Knorr/Max Haller/Hans-Georg Zilian, Sozialwissenschaftliche Forschung in Österreich. Produktionsbedingungen und Verwertungszusammenhänge, Wien: Jugend und Volk 1981; vergleiche auch die Beiträge in Peter Biegelbauer (Hg.), Steuerung von Wissenschaft?
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sourcenmangel und eine unklare institutionelle Zugehörigkeit: Gegenüber einer rasant wachsenden Zahl an Studierenden wurden die Lehrkräfte an der Universität zu wenig verstärkt. Die Forschungsfinanzierung erinnerte lange Zeit eher an Klientelbewirtschaftung, und das akademische Personal verstrickte sich in Konflikte verschiedener Natur. Zugleich lief die Praxis der Theorie davon, wie ein hellsichtiger Kommentator früh vermerkte: Außeruniversitäre sozialwissenschaftliche Einrichtungen, die Markt- und Meinungsforschung betrieben, blieben abgekoppelt von der eben erst wieder entstehende universitären Forschung.71 Der EU Beitritt Österreichs veränderte die Situation. Neue Förderstrukturen zwangen die sozialwissenschaftlichen AkteurInnen über den Tellerrand zu blicken und europäische Kollaborationen einzugehen. Zugleich wuchs der Bedarf für sozialwissenschaftlich generiertes Wissen in Bereichen wie etwa Migration, Rechtsvergleich, Integrationsprozesse, Partizipation und Demokratie. Eine zweite Veränderung bedeutete die Neuorganisation der Universität im Jahr 2004, die zu einer eigenständigen Fakultät für Sozialwissenschaften führte. Hier wurden nun die nach zeitgenössischem Urteil sozialwissenschaftlichen Kerndisziplinen (Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Sozialanthropologie, Soziologie, Wissenschaftsforschung) gebündelt, während die Wirtschaftswissenschaften in einer eigenen Fakultät ressortierten. Die Neuorganisation bildet den internationalen Konsens der Fächerabgrenzung ab (insbesondere, was die Abspaltung der Wirtschafts- von den restlichen Sozialwissenschaften betrifft); ihre Effekte auf die lokalen Wissenschaftspraktiken sind noch schwer zu bemessen.
Die Governance des österreichischen Innovationssystems, Innsbruck–Wien–Bozen: Studien Verlag 2010. 71 Ernst Gehmacher, Sozialwissenschaften: Die Praxis läuft der Theorie davon, in: Norbert Leser u. a., Österreich – geistige Provinz?, Wien: Forum Verlag 1965, 254 – 269.
Thomas Olechowski
Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen*
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Die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
»Jus«, das Recht, studiert, wer in Österreich oder in der Schweiz Jurist bzw. Juristin werden will, »Jura«, die Rechte, hingegen in Deutschland. Und während hierzulande der höchste akademische Grad für Rechtswissenschafterinnen und Rechtswissenschafter der des »Doctor iuris« (Dr. iur.) ist,1 das Recht also wiederum in der Einzahl genannt wird, wird bei Promotionen in Tschechien und der Slowakei noch immer der Titel eines »Juris utriusque Doctor« (JUDr.), eines Doktors beider Rechte, verliehen. Damit ist angesprochen, dass an den europäischen Universitäten jahrhundertelang eben nicht ein Recht, sondern zwei Rechte studiert wurden: »Iura Canonica et civilia«, die kanonischen und zivilen Rechte, wie es im Stiftsbrief Rudolfs IV. vom 12. März 1365 hieß.2 Andere Quellen sprechen von einer Gegenüberstellung des »jus pontificium« und des »jus caesareum«, der Rechte der Päpste und der Kaiser also, womit angesprochen ist, wer als die Quelle dieser beiden Rechtsordnungen angesehen wurde. Tatsächlich war das kanonische Recht oder Kirchenrecht in weiten Bereichen eine Schöpfung der Päpste. Die verschiedenen im Laufe des Mittelalters entstandenen Rechtssammlungen * Siehe auch den Beitrag desselben Autors in Band IV dieser Reihe. – Zur Vorbereitung beider Aufsätze führte der Autor im Dezember 2013 Interviews mit den emeritierten Professoren Manfred Burgstaller, Helmut Koziol, Werner Ogris, Theo Öhlinger und Günther Winkler, die ihm nicht nur viele nützliche Details nennen, sondern auch ein »atmosphärisches Bild« von der Entwicklung der Fakultät im 20. Jahrhundert geben konnten, wofür herzlich gedankt sei. Dank auch an Prof. Franz-Stefan Meissel für seine kritische Lektüre eines Vorentwurfes dieses Beitrages. 1 Der aktuelle Studienplan für das Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften, Mitteilungsblatt der Universität Wien 165 (2008/09), unterscheidet zwar zwischen einem »Doktor« und einer »Doktorin« der Rechtswissenschaften, die lateinische Fassung »Doctor iuris« ist jedoch für beide Geschlechter dieselbe. 2 Stiftsbrief Rudolfs IV., in: Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, I. Geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Universität bis zur Neuzeit, Theil 1. Geschichtliche Darstellung, Wien: Gerold 1854, 4.
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waren 1582 von Papst Gregor XIII. zum Corpus Iuris Canonici vereint worden, welches bis 1917 die offizielle Rechtsquelle des kanonischen Rechts war und dementsprechend auch von den Kanonisten der Universität Wien gelehrt wurde. Sein Gegenstück, das Corpus Iuris Civilis, war wesentlich älter : Unter diesem Begriff wurden seit dem 13. Jahrhundert jene Kompilationen verstanden, welche der oströmische Kaiser Justinian I. in den Jahren 533/534 erstellen hatte lassen: das als »Institutiones« bezeichnete offizielle Lehrbuch, die Sammlung der klassischen Juristenschriften in den »Digesten« oder »Pandekten« und die Sammlung der kaiserlichen Konstitutionen im »Codex«. Seit dem 12. Jahrhundert waren diese Sammlungen Vorlesungsgegenstand an den europäischen Universitäten, während die tatsächlich in den einzelnen Ländern, Territorien und Städten geltenden Rechte von den Universitätslehrern noch bis ins 17. Jahrhundert praktisch ignoriert wurden.3 Dementsprechend war auch die Fächeraufteilung unter den – seit 1533/37 – vier Professoren der Juristischen Fakultät der Universität Wien diejenige, dass je ein Professor die drei Teile des Corpus Iuris Civilis, der vierte und ranghöchste aber das Kirchenrecht las. Schied ein Professor aus, rückten die nachfolgenden jeweils eine Stufe höher, und die Lehrkanzel für die Institutionen wurde neu vergeben.4 Diese Regel wurde erst mehr als zwei Jahrhunderte später aufgegeben, als Maria Theresia 1753 die Juridische Fakultät völlig neu organisierte und mit fünf Lehrkanzeln ausstattete, die einen wesentlich erweiterten Fächerkanon zu betreuen hatten. Eine Lehrkanzel wurde dem »Jus publicum et feudale«, dem öffentlichen und dem Lehnsrecht, gewidmet, womit einem schon lange gehegten Wunsch der Fakultät Rechnung getragen wurde. Verstärkt wurde dies durch einen Professor »Historiae foederum publicorum et Historiae Germaniae«, der also vor allem eine Verfassungsgeschichte des Römisch-deutschen Reiches zu lehren hatte. Jener Professor, der die Pandekten las, sollte auch das »Jus Criminalis« betreuen (womit die theresianische Reform einen schon seit Längerem üblichen usus legalisierte). Einer besonderen Lehrkanzel blieb das »Jus Canonici« vorbehalten. Die bedeutendste Reform aber erfolgte mit der Schaffung einer Lehrkanzel »Juris naturalis, Historiae Juris et Institutionum«, womit das
3 Ilse Reiter, JuristInnenausbildung an der Wiener Universität. Ein historischer Überblick, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien 2007, URL: http://www.juridicum.at/ index.php?id=275 (abgerufen am 22. 4. 2014); Thomas Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium, in: Clemens Jabloner u. a. (Hg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, Wien: Manz 2011, 457 – 481. 4 Gunter Wesener, Die Epoche des Usus modernus pandectarum in Österreich, in: Johann Egger u. a. (Hg.), Aspekte der Rechtsgeschichte und der Gesellschaftspolitik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Kurt Ebert, Veliko Trnovo: Abagar 2013, 273 – 296, 288.
Die rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen
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Naturrecht – in der Gestalt von Karl Anton von Martini, dem ersten Lehrstuhlinhaber – seinen Einzug an der Alma mater Rudolphina hielt.5 Die Einrichtung einer naturrechtlichen Lehrkanzel an der Juristischen Fakultät war ebenso dem damals vorherrschenden Geist des aufgeklärten Absolutismus geschuldet wie die Schaffung einer Lehrkanzel für »Polizey- und Cameralwissenschaften« an der Philosophischen Fakultät 1763, auf die Joseph von Sonnenfels berufen wurde. Er hatte damit ein eigenartiges Gemenge an juristischen und ökonomischen Themen zu betreuen: Weite Bereiche des öffentlichen Rechts wie auch der Nationalökonomie und der Finanzwissenschaften können sich heute gleichermaßen auf dieses Fach zurückführen lassen.6 1784 wurde seine Lehrkanzel von der Philosophischen an die Juridische Fakultät übertragen, womit diese nun auf sechs Professuren gewachsen war. 1782 wurde Franz von Zeiller als Nachfolger von Martini an die Universität Wien berufen. Beide Namen sind untrennbar mit dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) verbunden, an dessen Entstehung beide Professoren jahrzehntelang arbeiteten, und welches am 1. Juni 1811 die kaiserliche Sanktion erfuhr.7 Zeiller war es aber auch, der 1810 einen neuen Studienplan für das Studium der Rechtswissenschaften entwarf.8 Dieses drängte das Studium des römischen und des kanonischen Rechts nun ganz an den Rand, während das Studium des Natur- und Criminalrechts sowie, darauf aufbauend, des Österreichischen Privatrechts breit im Studienplan verankert wurden. Letzteres sollte direkt nach dem ABGB vorgetragen werden.9 Aus dieser paragraphenweisen Behandlung des neuen Gesetzbuches erwuchs die später sogenannte exegetische Schule, die die österreichische Zivilrechtswissenschaft noch bis 1850 prägte. Bemerkenswert erscheint die Verbindung von Naturecht und Strafrecht zu einem gemeinsamen Fach, umso mehr, als ja auch hier eine neue Kodifikation 5 Vgl. die Aufstellung bei Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, II: Geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Universität bis zur Neuzeit, Theil 2. Urkundliche Beilagen, Wien: Gerold 1854. 273. 6 Vgl. Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, hg. von Werner Ogris, München: Beck 2003. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf das an der Universität Wien beheimatete »Joseph von Sonnenfels Center for Public Law and Economics«, URL: http://www.univie.ac.at/sonnenfels (abgerufen am 10. 7. 2014). 7 Vgl. den Beitrag von Thomas Olechowski in Band IV dieser Reihe. 8 Studien-Hofcommissions-Decret vom 13. 7. 1810, Politische Gesetzessammlung (PGS), Band 34, Wien: K.K. Hof- und Staats-Aerarial-Druckerei 1811, Nr. 25. Vgl. dazu Kurt Ebert, Der Einfluß Zeillers auf die Gestaltung des juristischen akademischen Unterrichts, in: Walter Selb/Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller, Wien–Graz–Köln: Böhlau 1980, 63 – 93; Olechowski, Rechtsstudium, 458 ff. 9 Worunter kein wortwörtliches Herunterlesen des gesamten Textes zu verstehen war; vgl. dazu Franz-Stefan Meissel, Römisches Recht im Wiener Rechtsstudium seit 1810, in: Brigitte Schinkele u. a. (Hg.), Recht Religion Kultur. Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien: facultas Verlag 2014, 501 – 517, 506.
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(das Strafgesetzbuch 1803) existierte, die als Vorlesungsunterlage diente, zusätzlich aber auch die Lehrbücher von Zeiller zum natürlichen Privatrecht, und von Martini zum Staats- und Völkerrecht gelesen werden sollten. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass – zumindest nach Ansicht Zeillers, der auch an der Redaktion des StGB 1803 beteiligt gewesen war – ein vergleichbares Lehrbuch für das Strafrecht gerade nicht existierte, er aber gerade in diesem Studienfach alle großen Rechtsgebiete vereint wissen wollte. Jedenfalls hatte die hier wurzelnde Verbindung der beiden so unterschiedlichen Fächer Völkerrecht und Strafrecht an der Wiener Fakultät noch eine lange Tradition.10 Erstaunlich war auch die Kombination von Lehensrecht und Handelsrecht in einer gemeinsamen Lehrveranstaltung. Bei ersterem handelte es sich um ein aussterbendes Fach; die politische Bedeutung hatte der Feudalismus schon vor Jahrhunderten eingebüßt, die noch bestehenden Lehnsverhältnisse manifestierten sich v. a. in gewissen Abgaben, die ähnlich einer Reallast zu leisten waren, weshalb das Lehnsrecht als ein Sonderprivatrecht und daher mit dem Handelsrecht kombinierbar erscheinen mochte; es wird aber vor allem der praktische Grund ausschlaggebend gewesen sein, dass beide Fächer jeweils für sich zu wenig umfangreich für einen eigenen Lehrstuhl und eine eigene Vorlesung erschienen. Demgegenüber erhielt das Zivilgerichtliche Verfahrensrecht einen eigenen Platz im Studium zugewiesen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Fach Statistik, welches mit der Zeiller’schen Studienordnung neu in das juristische Studium eingeführt wurde und noch bis 1978 Pflichtfach der Juristenausbildung blieb – in dieser Zeit aber einem eminenten Bedeutungswandel unterlag.11 Anfänglich war die Bedeutung des Wortes Statistik rein deskriptiv zu verstehen, und das Fach hatte eine Beschreibung des Zustandes der österreichischen Monarchie zum Inhalt – womit Lehrinhalte verbunden waren, die heute wohl eher der Geographie, der Ethnologie oder der Zeitgeschichte zugerechnet werden würden. Vor allem aber wurden im Rahmen der Statistik die Grundzüge der politischen Ordnung gelehrt, und zwar nur hier, da sich eine österreichische Verfassungsrechtswissenschaft zur Zeit der absoluten Monarchie nicht entwickeln konnte. Erst in der konstitutionellen Ära, 1850, begann Moriz von Stubenrauch mit einer einschlägigen Vorlesungstätigkeit, die er zwar zur Zeit des Neoabsolutismus einstellen musste, aber 1861 erneut aufnahm. Von ihm nimmt die moderne Verfassungsrechtslehre ihren Ausgang, während das Fach Statistik seine eigentlich politisch-verfassungsrechtliche Aufgabe verlor. Zugleich wandelten sich ihre 10 Hinzuweisen ist auf die Professoren Heinrich Lammasch und Alexander Hold-Ferneck, die jeweils beide Fächer vertraten. 11 Dazu Robert Walter, Die Lehre des Verfassungs- und Verwaltungsrechts an der Universität Wien, in: Juristische Blätter 110 (1988), 609 – 624, 610.
Die rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen
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Methoden; neben die deskriptive »Staatenkunde« trat eine stärker mathematisch orientierte, explorative Wissenschaft, deren Methoden zum unentbehrlichen Grundgerüst für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wurden. Die Statistik war es schließlich auch, die als erste die Bedeutung elektronischer Rechenmaschinen für ihr Fach erkannte, sodass sie zur Wiege der heutigen Informatik wurde.12 Gleichwohl blieb die Statistik noch bis 1975 Teil der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät. Was die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften selbst betraf, so waren auch sie schon im Studienplan 1810 vertreten, und zwar unter der Bezeichnung »Oeconomie-Wissenschaft«; Zeiller hatte ihre Wichtigkeit gerade für praktisch tätige Juristen besonders hervorgehoben.13 Zuletzt ist noch das Fach »politische Wissenschaften und Gesetzkunde« zu erwähnen, das aus den ehemaligen Polizey- und Cameralwissenschaften hervorgegangen war, noch bis 1848 nach dem Buch Sonnenfels’ vorgetragen wurde und die Wurzel der Fächer Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht darstellte.
2.
Von der Thun’schen Studienreform 1855 bis 1938
Mit der Thun’schen Studienreform 185514 wurde das juristische Studium auf völlig neue Grundlagen gestellt. Die Hauptaufgabe desselben wurde nicht mehr, wie zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus und im Vormärz, in der Ausbildung der künftigen Staatsdiener gesehen, sondern es wurde eine »Verwissenschaftlichung« der Juristenfakultät angestrebt, in dem Sinne, dass »die Lust und Freude am Studium als solchem, die Freude an jeder in die Tiefe gehenden geistigen Beschäftigung, die Neigung, sich an jedweder Erweiterung des Wissens zu betheiligen, rein um der geistigen Errungenschaft und nicht um irgend eines materiellen Genusses oder Gewinnstes willen« gehoben werden sollte.15 Daher sollten auch der schulmäßige Charakter, den das Studium im Vormärz gehabt hatte, und mit ihm die fixe Reihenfolge der Vorlesungen und Prüfungen sowie vor allem die gesetzlich geregelten Vorlesebücher beseitigt werden. Außerdem aber wurde der Fächerkanon massiv verändert. Insbesondere 12 Siehe dazu den Beitrag von Günter Haring und Karl A. Fröschl in Band IV dieser Reihe. 13 Ebert, Einfluß 66. 14 Allerhöchste Entschließung vom 25. 9. 1855, kundgemacht durch Erlass vom 2. 10. 1855, Reichsgesetzblatt (RGBl.) 172. Vgl. dazu Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Graz–Wien–Köln: Böhlau 1962; Brigitte Mazohl, Universitätsreform und Bildungspolitik, in: Klaus Müller-Salget/Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck: Innsbruck University Press 2008, 129 – 149; Olechowski, Rechtsstudium 461. 15 Karl Ernst Jarcke, Memorandum vom 5. 4. 1849, abgedruckt in: Werner Ogris, Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein (Wiener Universitätsreden, Neue Folge VIII), Wien: WUV 1999, 29 – 37, 31.
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wurde das Naturrecht 1855 so weit als möglich zurückgedrängt und dafür den – 1810 marginalisierten – rechtshistorischen Fächern breitester Raum gegeben. Das gesamte erste Jahr sollte ausschließlich der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte sowie vor allem dem römischen Recht gewidmet sein; im zweiten Jahr folgten das kanonische Recht und das Deutsche Privatrecht. Bei letzterem handelte es sich um ein Kunstprodukt des 19. Jahrhunderts, den Versuch, dem römischen Privatrecht ein paralleles, historisch gewachsenes, doch im Gegensatz zu jenem autochthones Rechtssystem ebenbürtig zur Seite zu stellen. Die »Rechtsphilosophie« – wie das Naturrecht nun genannt wurde – wurde zwar weiterhin gelesen, jedoch nur mehr alternativ zu einer Enzyklopädie der Rechtswissenschaften und hatte kaum Gewicht.16 Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass die Studenten verpflichtet wurden, auch an der Philosophischen Fakultät Vorlesungen, insbesondere aus praktischer Philosophie und aus österreichischer Geschichte, zu hören.17 Erst im dritten und vierten Jahr des juristischen Studiums wurden die Studierenden mit dem geltenden österreichischen Recht konfrontiert: Bürgerliches Recht, Handels- und Wechselrecht, Strafrecht und Strafprozess, Zivilprozess, politische Wissenschaften und Statistik. Die Politischen Wissenschaften sollten ausdrücklich sowohl die Nationalökonomie und die Finanzwissenschaften als auch »jene administrativen Aufgaben, welche weder der Justiz- noch der Finanzverwaltung angehören«,18 also das Verwaltungsrecht, umfassen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Auflistung von Wahlfächern, die im Sinne der Lehr- und Lernfreiheit nun erstmals, und zwar in relativ großer Zahl angeboten werden sollten: Hier fristete das Lehensrecht sein Ausgedinge,19 zusammen mit den »Particularrechten einzelner österreichischer Länder«. Zukunftsweisend war dagegen das Fach Völkerrecht, welches mit einer Lehre des deutschen Bundesrechts kombiniert war (zumal Österreich 1815 – 1866 dem Deutschen Bund, einem völkerrechtlichen Bund der souveränen deutschen Fürsten und Stadtstaaten, angehörte). Zum Zivil- und Strafrecht sollten »Practica und Relatoria« treten, und die verschiedenen Verwaltungs- und Finanzgesetze sollten in Spezialvorlesungen weiter vertieft werden können; einen eigenen 16 Grundlegend Werner Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, in: Nikolaus Grass/Werner Ogris (Hg.), Festschrift Hans Lentze, Innsbruck–München: Wagner 1969, 449 – 496. 17 Auch finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen immer wieder Hinweise auf einschlägige Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät (z. B. von Gustav Turba), deren Besuch auch Studierenden der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät empfohlen wurde. 18 Studienordnung 1855 (Anm. 14) Ziffer 2. 19 Es sei angemerkt, dass die Aufhebung aller Lehnsverhältnisse erst 1862 gesetzlich beschlossen wurde und sich der praktische Vollzug dieses Beschlusses noch über Jahre hinzog; vgl. dazu Sigmund Adler, Lehenwesen, in: Ernst Mischler/Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch, 2. Aufl., Bd. III, Wien: Hölder 1907, 474 – 484.
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Punkt stellte dabei das Bergrecht dar, welches 1854 erstmals eine umfassende gesetzliche Regelung erfahren hatte. An nichtjuristischen Fächern wurden eine »Statistik der europäischen Staaten«, die »gerichtliche Medizin« sowie die »Staatsrechnungswissenschaft« angeboten. Die Staats(ver)rechnungswissenschaft war die Wissenschaft von der Finanzgebarung des Staates einschließlich Staatsbuchführung und Rechnungskontrolle und eine jener Disziplinen, die aus der Kameralistik des 18. Jahrhunderts hervorgegangen waren. Es war Wahlfach im Rahmen des allgemeinen Jusstudiums, jedoch war für eine Reihe von Berufen (so etwa für eine Beamtenstellung im Rechnungshof oder auch für den Rechnungsdienst an einer Hochschule) die Ablegung einer entsprechenden Prüfung verpflichtend.20 Die Studienreform 1855 wurde begleitet von einer rigorosen Personalpolitik, mit der missliebige Professoren entfernt und neue Kräfte, die die Vorgaben Thuns umzusetzen versprachen, berufen wurden. Von den neun Professoren, die im Personalstand von 1849 angeführt wurden, scheinen 1861 nur mehr drei erneut auf: der Statistiker Johann Springer, der Zivilrechtler Ignaz Graßl und der Völkerrechtler Leopold von Neumann. Die übrigen waren verstorben, aus Altersgründen in Pension gegangen oder mussten, wie insbesondere der Strafrechtler Anton Hye, auf politischen Druck auf ihr Lehramt verzichten. Dafür wurden in diesem Zeitraum von zwölf Jahren nicht weniger als elf ordentliche und vier außerordentliche Professoren neu berufen, darunter natürlich für römisches Recht sowie für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, aber auch für Bergrecht und für ungarisches Privatrecht. Insgesamt umfasste die Fakultät 1861 also 18 Professoren. Für ein Fach »Verfassungsrecht« bestand zur Zeit der Studienreform 1855, auf dem Höhepunkt des Neoabsolutismus, kein Bedarf. Die Rückkehr Österreichs in den Kreis der konstitutionellen Staaten machte entsprechende Änderungen unumgänglich; mit der Rigorosenordnung 1872 wurden »Allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Völkerrecht und politische Ökonomie (d.i. Nationalökonomie und Finanzwissenschaft)« zum Gegenstand des dritten Rigorosums gemacht (während die rechtshistorischen Fächer im Rahmen des ersten21 und die judiziellen Fächer im Rahmen des zweiten Rigorosums geprüft wurden). 20 Vgl. Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938, Göttingen: V& R 2014, 633 – 637. 21 Im Laufe der weiteren Entwicklung wurde es üblich, dass das rechtshistorische Rigorosum, das sog. Romanum, ganz an den Schluss des juristischen Studiums gezogen wurde und so zu einer Art Abschlussprüfung mutierte. Dass man Studierende, die die rechtshistorischen Fächer ganz am Beginn des Studiums gehört und nun auch das gesamte geltende Recht gelernt hatten, zumutete, am Ende wieder an den Anfang zurückzukehren, war theoretisch von hohem didaktischen Wert, wurde aber in der Praxis nur unvollkommen verwirklicht und stieß bei den Studierenden z. T. auf große Widerstände; vgl. Olechowski, Rechtsstudium 463.
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Aber erst das – nach langen parlamentarischen Beratungen beschlossene – Rechts- und Staatswissenschaftliche Studiengesetz 189322 machte das Staatsund das Verwaltungsrecht zu Pflichtfächern auch für die (für den Eintritt in den Justizdienst notwendigen) Staatsprüfungen. 1894 wurden die ersten beiden Professoren für Staats- und Verwaltungsrecht, Wenzel Lustkandl und Edmund Bernatzik, ernannt, welche beide Fächer jeweils gemeinsam zu betreuen hatten. Angesichts der Bedeutung dieser Fächer (vereinfachend als »öffentlich-rechtliche Fächer«23 bezeichnet) war ihre Stellung im Studienplan jedoch noch sehr gering: Staatsrecht wurde über fünf Stunden, Verwaltungsrecht über sechs Stunden gelesen, selbst einschließlich der Volkswirtschaftslehre (zehn Stunden) kam man damit auf lediglich 21 Stunden, während vergleichsweise das Römische Recht alleine 20 Stunden für sich beanspruchte. So setzten erbitterte Kämpfe um eine allmähliche Aufwertung der öffentlich-rechtlichen, aber auch der wirtschaftswissenschaftlichen Fächer ein. Nur ein Etappensieg konnte es sein, als 1919 das eigene Studium der Staatswissenschaften eingeführt wurde.24 In seiner ursprünglichen Fassung konnte dieses Studium schon in sechs Semestern absolviert werden und enthielt – neben einer großen Zahl von Wahlfächern – mit einer einzigen Ausnahme nur Disziplinen, die auch im rechts- und staatswissenschaftlichen Studium unterrichtet wurden: Staats- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht, ferner Volkswirtschaftslehre und -politik, Statistik und Finanzwissenschaft, Wirtschaftsgeschichte sowie Neuere Geschichte. Das einzige Pflichtfach, das in diesem Studium hinzukam, war die Wirtschaftsgeographie, die von Professoren der Philosophischen Fakultät gelesen wurde. Erst mit der Novelle 1926 wurde das Studium der Staatswissenschaften auf acht Semester ausgedehnt und auch inhaltlich anspruchsvoller gestaltet; nun hatten die Studierenden auch Vorlesungen über Strafrecht, Privat- und Handelsrecht, Sozialpolitik und Arbeitsrecht, Privatwirtschaft, Gesellschaftslehre und sogar über Rechtsgeschichte zu hören.
22 Gesetz vom 20. 4. 1893, RGBl. 68 betreffend die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und Staatsprüfungen. 23 Die – aus rechtstheoretischer Sicht fragwürdige, jedoch bis auf das römische Recht zurückgehende – Einteilung des Rechtsstoffes in »öffentliches Recht« und »Privatrecht« rechnet regelmäßig auch das gerichtliche Strafrecht und das Prozessrecht sowie das Völkerrecht zum Bereich des öffentlichen Rechts. Gerade im Studienalltag wird der Begriff »öffentliches Recht« jedoch zumeist nur mit Verfassungs- und Verwaltungsrecht gleichgesetzt. Vgl. Klaus Zeleny, Öffentliches Recht, in: Heinz Mayer (Hg.), Fachwörterbuch zum Öffentlichen Recht, Wien: Manz 2003, 335. 24 Vollzugsanweisung des Staatsamtes für Inneres und Unterricht vom 17. 4. 1919, Staatsgesetzblatt (StGBl.) 249, mit welcher Bestimmungen über die Erlangung des Doktorates für Staatswissenschaften an den rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten der deutschösterreichischen Universitäten erlassen werden. Vgl. dazu und zum Folgenden nunmehr ausführlich Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät, 173 – 178.
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Drei dieser Fächer waren völlig neu im Kanon und zwei von ihnen sollten 1935 Aufnahme auch in das juristische Studium finden. Das erste dieser beiden Fächer, »Sozialpolitik und Arbeitsrecht«, war ein Produkt der industriellen Revolution und der (in Österreich erst sehr spät begonnenen) Sozial- und Arbeiterschutzgesetzgebung. Es hatte seine Wurzeln sowohl im privaten wie im öffentlichen Recht, weshalb auch die ersten Juristen, die sich mit dem Fach beschäftigten, aus beiden Bereichen kamen und etwa Gewerberecht gemeinsam mit Arbeitsrecht oder Sozialversicherungsrecht gemeinsam mit Privatversicherungsrecht lehrten. Hinzuweisen ist auf Adolf Menzel, der sich 1882 ursprünglich für Zivilrecht habilitiert hatte, sich dann aber mehr und mehr dem Sozialrecht zuwandte und so allmählich in den Bereich des öffentlichen Rechts »wanderte«, bis er 1894 zum Professor des Staats- und Verwaltungsrechts ernannt wurde. 1935 wurden die Fächer »Sozialrecht einschließlich der Sozialversicherung« und »Sozialpolitik« zu Pflichtfächern auch des juristischen Studiums, während das Arbeitsrecht vorläufig noch im Rahmen des Bürgerlichen Rechtes mitgelehrt und –geprüft wurde. Beim zweiten der hier zu nennenden Fächer handelte es sich um die »Gesellschaftslehre«, wie die Soziologie damals noch zumeist genannt wurde, auch wenn die zweite, heute geläufigere Bezeichnung schon vor 1918 immer wieder daneben auftauchte. Auch sie hatte verschiedene Wurzeln, wobei zumindest in Wien die politische Ökonomie und die Allgemeine Staatslehre als ihre wichtigsten angesehen werden können.25 Aus dem ersten Fachbereich kam insbesondere Othmar Spann, der 1919 zum Professor für »Nationalökonomie und Gesellschaftslehre« ernannt wurde, aus dem zweiten Bereich Hans Kelsen, seit 1918/19 Professor des Staatsrechts, der gerade in seinem Bemühen, die Rechtswissenschaft von allen nichtjuristischen Elementen zu befreien (»Reine Rechtslehre«),26 der Soziologie erhöhte Aufmerksamkeit schenkte und bereits im Wintersemester 1916/17 eine »Allgemeine Staatslehre mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie« hielt. 1919 erfolgte mit dem Austromarxisten Max Adler erstmals eine Habilitation für Gesellschaftslehre; er las dieses Fach bis 1936, ein Jahr, nachdem die Juristische Studienordnung 1935 eine »Einführung in die Gesellschaftslehre« zum Pflichtfach des ersten Abschnittes gemacht hatte. Die 1926 für das Studium der Staatswissenschaften verpflichtend vorgesehene »Privatwirtschaftslehre«, für die sich später die Bezeichnung »Betriebswirtschaftslehre« (BWL) einbürgerte, wurde 1935 noch nicht in das juristische 25 Anton Amann, Soziologie. Ein Leitfaden zu Theorien, Geschichte und Denkweisen, 4. Aufl., Wien–Köln–Weimar : Böhlau 1996, 109 – 122. 26 Vgl. zu Kelsen noch ausführlich die Beiträge von Clemens Jabloner in Band II und von Thomas Olechowski in Band IV dieser Reihe.
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Pflichtprogramm übernommen. Dieses Fach hatte sich in Wien vor allem an der 1898 gegründeten k.k. Exportakademie entwickelt, aus der 1919 die Hochschule für Welthandel und aus dieser 1975 die Wirtschaftsuniversität Wien hervorgingen. An der Universität Wien wurde das Fach dagegen lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt und vor allem von externen Lehrenden betreut; erst 1971 erfolgte mit Erich Loitlsberger (bis 1971 Professor an der Hochschule für Welthandel) die erste Berufung eines ordentlichen Professors für BWL an der Universität Wien. Schon aus dem bisher Gesagten ist klar geworden, dass die Juristische Studienordnung 1935 zu einer bis dahin noch nie dagewesenen Ausweitung des Fächerkanons führte.27 Abgesehen von den drei Einführungsvorlesungen28 waren Pflichtvorlesungen aus nicht weniger als 23 Gegenständen zu absolvieren: Gesellschaftslehre; Römisches Recht; Kirchenrecht; Deutsches Recht; Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte; Österreichisches Privatrecht; Österreichisches Handels- und Wechselrecht; Österreichisches zivilgerichtliches Verfahren; Österreichisches Strafrecht und Strafprozessrecht; Internationales Privatrecht und Internationales Strafrecht; Kriminologie; Allgemeine Staatslehre und österreichisches Verfassungsrecht; Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht; Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Sozialrecht einschließlich der Sozialversicherung; Völkerrecht; Rechtsphilosophie; Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik; Sozialpolitik; Finanzwissenschaft; Finanzrecht; Statistik; Neuere Geschichte. Aus heutiger Sicht sind an dieser Aufzählung besonders zwei Punkte bemerkenswert: die Aufnahme des internationalen Rechts und der hohe Anteil nichtjuristischer Fächer. Völkerrecht war an der Universität Wien schon 1804 – 1855 im Rahmen des Naturrechts geprüft und auch danach noch immer gelehrt worden, erlangte aber erst 1935 wieder den Rang eines Pflichtfaches.29 Der hohe Stellenwert, der ihm nun wieder zugemessen wurde, korrespondierte mit der hohen praktischen Bedeutung, die es für das klein gewordene Österreich seit 1918 hatte. Was das Internationale Privatrecht und das Internationale Strafrecht betrifft, so ist zu anzumerken, dass diese Fächer in erster Linie nicht etwa internationale Normen privat- oder strafrechtlichen Inhalts zum Gegenstand hatten (denn solche waren kaum vorhanden), sondern Kollisionsnormen des österreichischen Rechts für den Fall, dass österreichische Zivil- oder Strafgerichte einen Fall mit Auslandsbezug behandeln mussten. Nichtsdestoweniger zeigt ein Blick in die Vor27 Olechowski, Rechtsstudium 469; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät 144 – 150. 28 Philosophische Einführung, Einführung in die Grundbegriffe des Staates und des Rechts, Einführung in die Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre; vgl. § 5 A Z 1 – 3 Juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung 1935, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 378. 29 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät, 521 – 523.
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lesungsverzeichnisse jener Jahre, dass auch in hohem Maße Vorlesungen über ausländische Rechtsordnungen gehalten wurden, vom islamischen »Wakfrecht«30 (sic) über die »Grundprinzipien der Bundesverfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika«31 bis hin zu »Eherecht und Eheverfahren in Deutschland, Schweiz, Ungarn, Frankreich, Portugal und der Türkei«.32 Der hohe Anteil an Vorlesungen, die sich mit dem Recht des Deutschen Reiches beschäftigten, steht freilich auch im Zusammenhang mit den politischen Tendenzen jener Zeit.33 Der zweite Aspekt, der hohe Anteil nichtjuristischer Fächer, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer im 20. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung nahmen, aber auch, dass viele Juristen den (oft erhobenen) Vorwurf vermeiden wollten, sie würden ein praxisfernes Recht unterrichten. Teilweise kann geradezu eine Paarung diverser rechtswissenschaftlicher Disziplinen mit den korrespondierenden empirischen Wissenschaften festgestellt werden: Verwaltungsrecht – Verwaltungslehre, Sozialrecht – Sozialpolitik, Finanzrecht – Finanzpolitik sind hier zu nennen. Am stärksten machte sich diese Tendenz im Strafrecht bemerkbar, deren Vertreter (besonders Wenzel Gleispach) sich nicht nur als Rechtswissenschaftler, sondern auch als Kriminalwissenschaftler verstanden und 1923 – nach Grazer Vorbild – ein »Universitätsinstitut für die gesamte Strafrechtswissenschaft und Kriminalistik« errichteten, wo außer juristischen auch kriminologische, kriminalistische, forensische, psychologische u. a. Studien betrieben wurden. In diesem Zusammenhang ist auch die Errichtung eines »Instituts für angewandtes Recht« im Jahr 1911 zu sehen, wo der Institutsgründer, Hans Sperl, umfangreiche Sammlungen von »Rechtstatsachen«, d. h. von Verträgen, Grundbuchsauszügen, Klagsschriften, Nachlassabhandlungen und anderen Urkunden anstellte und sie in seinen Vorlesungen exemplarisch zum Einsatz kommen ließ.34
3.
NS-Zeit (1938 – 1945) und Wiederherstellung des österreichischen Studienrechts nach 1945
Dass die NS-Herrschaft auch für die Rechtswissenschaften so manche Veränderungen brachte, wird nicht überraschen. Erstaunlich ist allerdings, wie prominent ganz konkrete Reformvorhaben im nationalsozialistischen Forde-
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30 Adalbert Shek v. Vugrovec, Wintersemester 1918/19. Die Waqf ist eine Einrichtung des Scharı¯ a, die der europäischen Stiftung vergleichbar ist. 31 Josef Redlich, Sommersemester 1923. 32 Hans Sperl, Sommersemester 1920. 33 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät, 519, 760. 34 Ebd., 399 – 402, 452 – 456.
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rungsprogramm enthalten waren. Lautete doch der Punkt 19 des am 24. Februar 1920 von Adolf Hitler im Münchener Hofbräuhaus verkündeten Parteiprogramms der NSDAP folgendermaßen: »Wir fordern Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht.«35 Nun entsprach die in Programmpunkt 19 implizierte Behauptung einer damals weit verbreiteten (von der modernen rechtshistorischen Forschung relativierten bzw. revidierten) Ansicht, wonach das Römische Recht mit schuld gewesen sei für die sozialen Missstände, die seit Beginn der Neuzeit aufgetreten seien – also zeitgleich mit der Rezeption des universitär gelehrten römischen Rechts durch die weltlichen Gerichte. Denn dieses hätte die genossenschaftlichen Strukturen des älteren deutschen Rechts zugunsten einer individualistischkapitalistischen Wirtschaftsordnung verdrängt und zur Verelendung der Massen geführt. Und tatsächlich fühlten sich die Vertreter des Römischen Rechts nach der NS-Machtergreifung in einem in dieser Form unbekannten Legitimationszwang, während sich die Vertreter der Deutschen Rechtsgeschichte einen Bedeutungszuwachs für ihr Fach erhofften. Doch wurden sie schon bald darin enttäuscht: Das Parteiprogramm, von Nichtjuristen wie Anton Drexler, verfasst, griff nur ein populäres Bild auf, das sich propagandistisch ausschlachten ließ, an echter wissenschaftlich-rechtshistorischer Arbeit hatten die Nationalsozialisten kein gesteigertes Interesse. Wohl aber sollte das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ersetzt werden durch ein – noch zu schaffendes – »Volksgesetzbuch«, welches den nationalsozialistischen Vorstellungen von Gesellschaft und Wirtschaft zum Durchbruch verhelfen sollte. Dies war übrigens auch der Grund, weshalb das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch nach dem »Anschluss« 1938 nicht vom deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch verdrängt wurde, sondern vorläufig beide – unbeschadet partieller Rechtsangleichungen, wie v. a. im Eherecht – beibehalten wurden und, da das Projekt des Volksgesetzbuches bis 1945 nicht vollendet wurde, letztlich jedes für sich das »Tausendjährige Reich« überdauerte. Auf die vielfältigen Umformungen, die das Recht in der Zeit der Terrorherrschaft erfuhr, kann hier nicht eingegangen werden.36 Wie tief aber auch in den Rechtsunterricht eingegriffen wurde, wird klar, wenn man das Vorle35 Franz-Stefan Meissel/Stefan Wedrac, Strategien der Anpassung – Römisches Recht im Zeichen des Hakenkreuzes, in: Franz-Stefan Meissel/Thomas Olechowski/Ilse Reiter-Zatloukal/ Stefan Schima (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945, Wien: Manz 2012, 35 – 78; Thomas Olechowski, Rechtsgermanistik zwischen Ideologie und Wirklichkeit, in: ebd., 79 – 105. 36 Grundlegend: Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 7. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2012.
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sungsverzeichnis des Wintersemesters 1938/39 und der folgenden Semester (ab 1940: Trimester) ansieht. Der traditionelle Fächerkanon war fast völlig aufgegeben, die einzelnen Lehrveranstaltungen wurden nunmehr in die Rubriken »Geschichte«, »Volk«, »Stände«, »Staat«, »Rechtsverkehr«, »Rechtsschutz«, »Außerstaatliches Recht«, »Rechtsphilosophie« und »Wirtschaftswissenschaften« gegliedert. Diese völlige Neuordnung des Stoffes nach Lebenssachverhalten anstatt nach theoretischen Gesichtspunkten stand mit den Bemühungen um eine größere Praxisnähe des Studiums im Zusammenhang. Ob dies die Preisgabe von altbewährten Lehrgebäuden rechtfertigte, kann dahin gestellt bleiben. Denn bei aller Diskussion über die Entwicklung der Rechtswissenschaften in der NS-Zeit besteht Einigkeit darin, dass das wissenschaftliche Niveau der Juristenausbildung in jener Zeit seinen Tiefstand erreichte – woran auch die Wiedereinführung der (im 19. Jahrhundert allmählich außer Übung gekommenen und 1872 auch offiziell abgeschafften) Dissertationen nichts ändern konnte.37 Vorlesungen wie »Volksgenosse und Familie« (Rudolf Köstler) oder »Rasse und Volk« (Adolf Günther) wurden an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät letztmalig im Wintersemester 1944/45 gelehrt – bereits für das Sommersemester 1945 existiert ein maschinschriftliches Vorlesungsverzeichnis, das u. a. eine »Oesterreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte«, vorgetragen von Hans Planitz, enthält. Und dies, obwohl die Provisorische Staatsregierung erst am 20. Juni 1945 die nationalsozialistischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Hochschulwesens aufhob und zunächst die unmittelbar vor 1938 geltenden Regelungen wieder in Kraft setzte;38 am 3. September 1945 folgte eine neue Juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung.39 Dass der kommunistische Staatssekretär Ernst Fischer sich bei deren Erlassung auf das austrofaschistische Hochschulermächtigungsgesetz 1935 stützte, mag kurios erscheinen. Bedeutender war, dass die Studienordnung 1945 auch inhaltlich der Studienordnung von 1935 weitgehend folgte; die Änderungen waren im Wesentlichen eine Folge der Bestrebung, das juristische Studium wieder auf acht Semester zu reduzieren. Daher wurden u. a. die rechtshistorischen Fächer, aber auch die Volkswirtschaftslehre gekürzt; die – ideologisch verdächtige – »christliche Rechtsphilosophie« verschwand aus dem Pflichtprogramm, und natürlich mussten die Studierenden nicht mehr, wie es 1935 – 38 vorgeschrieben war, Vorlesungen zur »staatsbürgerlichen Erziehung« absolvieren. Die Grundzüge des Thun’schen Studiensystems blieben – in der Form der Studienordnung 1945 – noch bis 1981 in Geltung. 37 Ilse Reiter-Zatloukal, Juristenausbildung in Österreich unter dem NS-Regime, in: Meissel u. a., Vertriebenes Recht, 9 – 33. 38 Kundmachung der Provisorischen Staatsregierung vom 20. 6. 1945, StGBl. 75. 39 Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. 9. 1945, StGBl. 164; vgl. Olechowski, Rechtsstudium 472.
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Die Einführung der Diplomstudien 1966/78
Einen Umbruch für die gesamte österreichische Studienlandschaft brachte das Allgemeine Hochschulstudien-Gesetz (AHStG) 1966, das die Rechtsgrundlage für eine Fülle neuer Studien bildete und insbesondere bestimmte, dass die Studien in der Regel zweigliedrig sein sollten: Die Maturantinnen und Maturanten sollten zunächst in einem Diplomstudium eine »wissenschaftliche Berufsvorbildung« erhalten, erst danach sollten sie in einem Doktoratsstudium »zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit« befähigt werden.40 Noch am selben Tag, an dem der Nationalrat das AHStG beschloss, erging auch ein Bundesgesetz über die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien, die nun teils reformiert, teils neu eingerichtet wurden – und zwar an den Universitäten ebenso wie an der Hochschule für Welthandel in Wien und der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz. Dem Minister blieb allerdings die Entscheidung vorbehalten, welches Studium an welcher Hochschule gelehrt werden sollte; an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien wurden mit Wintersemester 1966/67 vorläufig nur die Studien der Volkswirtschaftslehre (im Folgenden: VWL) und der Soziologie neu eingeführt (während das Studium der Staatswissenschaften nicht mehr neu begonnen werden konnte und in den folgenden Jahren auslief).41 Die neuen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diplomstudien waren so gestaltet, dass der erste, viersemestrige Abschnitt für alle Studienrichtungen fast derselbe war und allgemein in die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften einführen sowie auch juristische Fächer enthalten sollte; auf dem Programm standen Bürgerliches Recht, Handels- und Wertpapierrecht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, allgemeine Soziologie, Statistik und Mathematik, VWL und Volkswirtschaftspolitik, allgemeine BWL sowie Wahlfächer. Im zweiten Abschnitt erfolgte dann je nach Studium eine entsprechende Spezialisierung, sodass die angehenden Soziologen Vorlesungen aus Allgemeiner Soziologie sowie aus speziellen Soziologien, zu soziologischen Methoden, Datenbehandlung und formalen Verfahren sowie weiteren Wahlfächern hörten, die künftigen Volkswirte dagegen Volkswirtschaftstheorie, Volkswirtschaftspolitik und Sozialpolitik, Finanzwissenschaft, allgemeine BWL, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Arbeitsrecht und Finanzrecht. Im Gegensatz zu den Juristen hatten die Soziologen und Volkswirte eine Diplomarbeit als Hausarbeit zu verfassen und erhielten den akademischen Grad eines »Magisters der Sozial- und Wirtschaftswissenschaf40 Bundesgesetz vom 15. 7. 1966, BGBl. 177, über die Studien an den wissenschaftlichen Hochschulen (Allgemeines Hochschul-Studiengesetz). 41 Bundesgesetz vom 15. 7. 1966, BGBl. 179 über sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studienrichtungen; Verordnungen des Bundesministers vom 6. 3. 1967, BGBl. 97 – 102.
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ten« (Mag.rer.soc.oec.); erst danach konnten sie ein Doktoratsstudium in Angriff nehmen und nach Approbation ihrer Dissertation den akademischen Grad eines Dr.rer.soc.oec. erwerben.42 Wie schon berichtet, wurde die BWL erst sehr spät an der Universität Wien eingeführt, den Anfang bildete ein Studienzweig »Öffentliche Wirtschaft und Verwaltung«, der ab 1984 von der Universität Wien gemeinsam mit der WU Wien einzurichten war ;43 erst ab 1991 konnte der Studienzweig BWL selbst an der Universität Wien inskribiert werden.44 Ebenfalls 1984 wurde das Studium der Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien eingeführt.45 Die Rechtswissenschaften verblieben noch bis 1978 in ihrer alten Studienordnung. Zu lange währte der Widerstand gegen das zweigliedrige System, das nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus standespolitischen Gründen bekämpft wurde. Der Gedanke, dass ein Richter keinen Doktorgrad besäße, sondern bloßer »Diplomjurist« sei, wurde von vielen Juristen energisch zurückgewiesen; die Wiedereinführung der Dissertationen für jene, die weiterhin den Dr.iur. erwerben wollten, wurde ebenfalls nicht mit Begeisterung gesehen.46 Erst 1978/81 wurden ein Rechtswissenschaftliches Studiengesetz, eine darauf aufbauende Studienordnung47 und schließlich für die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien ein Studienplan beschlossen, welche das Thun’sche Studiensystem vollständig beseitigten. Auf die bedeutsamen Änderungen im Prüfungswesen, die damals erfolgten, kann hier nicht eingegangen werden.48 (Nur auf den Umstand, dass für das Diplomstudium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien bis zum heutigen Tag keine Diplomarbeit im Sinne einer dissertationsähnlichen Hausarbeit geschrieben werden muss, sei hingewiesen.) Außerdem brachte die Reform aber auch einige Verschiebungen im Fächerkanon: So wurden das Kirchenrecht und die Kriminologie, aber auch das Finanzrecht und die Statistik als Pflichtfächer abgeschafft, während die beiden rechtshistorischen Fächer ihre Position noch annähernd halten konnten (bis 1999, als auch sie schrittweise 42 Verordnung des Bundesministeriums für Unterricht vom 29. 2. 1968, BGBl. 85, über eine Studienordnung zur Erwerbung des Doktorates der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. 43 Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 17. 4. 1984, BGBl. 173, über die Studienordnung für die Studienrichtung Betriebswirtschaft. 44 Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung, mit der die Studienordnung Betriebswirtschaft geändert wird, BGBl. 160/1991. 45 Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 17. 4. 1984, BGBl. 176, über die Studienordnung für die Studienrichtung Wirtschaftsinformatik. 46 Olechowski, Rechtsstudium 471. 47 Bundesgesetz vom 2. 3. 1978, BGBl. 140, über das Studium der Rechtswissenschaften; Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 12. 3. 1979, BGBl. 148, über die Studienordnung für das Studium der Rechtswissenschaften. 48 Zu diesen Olechowski, Rechtsstudium 472.
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zurückgedrängt wurden) und die VWL wieder etwas aufgewertet wurde. Gewinner der Reform war v. a. das neue Fach »Arbeits- und Sozialrecht«, das nunmehr zu einem eigenständigen Pflichtfach erhoben wurde. Vor allem aber wurde die bisherige zweistündige Einführungsvorlesung auf die dreifache Zeit ausgedehnt und entwickelte sich in weiterer Folge zu einer nicht zu unterschätzenden Hürde für Studienanfänger.
5.
Von der Teilung der Fakultät 1975 bis zur Gegenwart
Als die neue Studienordnung in Kraft trat, waren die parallel laufenden Diskussionen rund um eine der größten organisatorischen Reformen der Universität seit ihrer Gründung 1365 bereits zu ihrem Abschluss gekommen. Nach – zumindest theoretisch – 610 Jahren ihres Bestandes wurde die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät mit Beginn des Wintersemesters 1975/76 in die Rechtswissenschaftliche Fakultät einerseits und in die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät andererseits geteilt.49 Die erste umfasste 27 Lehrstühle: 2 für Kirchenrecht, 3 für Römisches Recht, 2 für Deutsches Recht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 4 für Bürgerliches Recht einschließlich des Internationalen Privatrechts, 2 für Handels- und Wertpapierrecht, 1 für Arbeits- und Sozialrecht, 2 für Zivilgerichtliches Verfahrensrecht, 2 für Strafrecht einschließlich der Kriminologie, 6 für Verfassungs- und Verwaltungsrecht einschließlich der Spezialgebiete, 1 für Finanzrecht, 2 für Völkerrecht. Die zweite war mit 13 Lehrstühlen nicht einmal halb so groß: 4 für VWL einschließlich der Finanzwissenschaft, 3 für Statistik, 3 für Soziologie, 2 für BWL und – neu! – 1 für Politikwissenschaften. Noch mussten sich die beiden Fakultäten die Räume im Südtrakt des Hauptgebäudes teilen, die 1884 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zugewiesen worden waren und schon längst nicht mehr ausreichten. Schon seit 1924 war die Kriminologie in einem Nebenhaus in der Liebiggasse untergebracht, in den Sechziger Jahren fanden auch die Institute bzw. Lehrstühle für Statistik, Arbeitsrecht, Römisches Recht und Völkerrecht neue Räume in Universitätsnähe. Noch vor der juristischen Teilung der Fakultät zeichnete sich aber ab, dass sich die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften von den Rechtswissenschaften auch räumlich trennen würden. Bemerkenswerterweise waren es dann nicht die »neuen« Fächer, sondern die Rechtswissenschaften selbst, die nach exakt 100 Jahren, 1984, das Hauptgebäude verließen und in ein eigens für sie errichtetes Gebäude, das von Ernst Hiesmayer entworfene »Juridicum« auf 49 Bundesgesetz vom 11. 4. 1975, BGBl. 258, über die Organisation der Universitäten, § 12 Abs. 1.
Die rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen
199
der Schottenbastei, einzogen.50 Trotz der Vervielfachung des Raumes konnten aber schon damals nicht alle Institute innerhalb des postmodernen Stahl-GlasBaus Platz finden; seit 2006 befinden sich das Römische Recht, die Rechtsphilosophie, das Religions- und Kulturrecht, das Arbeits- und Sozialrecht, das Zivilgerichtliche Verfahrensrecht, das Strafrecht und das Finanzrecht in einem gründerzeitlichen Gebäude in der Schenkenstraße. Die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät blieb bis zu ihrer Aufteilung im Jahr 2000 auf verschiedenste Räumlichkeiten verteilt. Mit dem Inkrafttreten des Universitäts-Organisationsgesetzes 1993 im Jahr 2000 wurde eine »Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Informatik« geschaffen, während die sozialwissenschaftlichen Fächer mit jenen der einstigen Philosophischen Fakultät zu einer »Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften« vereinigt wurden. Neuerliche Aufteilungen erfolgten mit dem Inkrafttreten des Universitätsgesetzes 2002 im Jahr 2004, nunmehr wurden eine »Fakultät für Wirtschaftswissenschaften« und eine »Fakultät für Informatik« geschaffen, erstere ist seit 2014 (gemeinsam mit der Fakultät für Mathematik) in einem neu errichteten Gebäude am Oskar-Morgenstern-Platz, die zweite seit 2012 (gemeinsam mit dem Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft) in einem ebenfalls neu geschaffenen Gebäude in der Währinger Straße untergebracht. Die räumliche Zusammenlegung mit anderen Instituten war wohlüberlegt und sollte die fachliche Nähe der jeweiligen Fächer zueinander betonen – während die einstige Nähe mit den Rechtswissenschaften mehr und mehr in Vergessenheit geriet. Deutlich wurde dies v. a. in der Gründung eines »Instituts für Recht der Wirtschaft« an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, an dem je ein Lehrstuhl für Finanzrecht und für Unternehmensrecht existiert – scheinbar ohne zu berücksichtigen, dass es sich hier um Bereiche handelt, die auch an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät erforscht und gelehrt werden. Es ist andererseits aber auch zu bemerken, dass die Rechtswissenschaftliche Fakultät die Isolation, in die sie räumlich und organisatorisch geraten war, in den folgenden Jahren noch weiter vorantrieb, indem sie 1999 einen Studienplan beschloss, der die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer generell zu Wahlfächern herabdrückte – ein viel kritisiertes Manko, dem mit einer Novellierung des Studienplans im Jahr 2006 entgegengesteuert wurde.51 Entsprechend der neuen gesetzlichen Vorgaben wurde die Rechtswissenschaftliche Fakultät nunmehr durchwegs in Institute statt Lehrkanzeln geglie-
50 Ich danke dem langjährigen Gebäudereferenten der Fakultät für die Zurverfügungstellung seines noch unveröffentlichten Buchmanuskripts: Günther Winkler, Das Juridicum. Vgl. auch neuestens Julia Rüdiger und Dieter Schweizer (Hg.), Stätten des Wissens, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 2015, 311 – 320, 331 – 333. 51 Olechowski, Rechtsstudium 476 f.
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Thomas Olechowski
dert.52 Ab 1977 bestanden an ihr elf Institute, und zwar für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, für Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, für Kirchenrecht, für Strafrecht und Kriminologie, für Zivilrecht, für Handelsund Wertpapierrecht, für Rechtsvergleichung, für Staats- und Verwaltungsrecht, für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, für Arbeits- und Sozialrecht sowie für österreichisches zivilgerichtliches Verfahren. Seitdem haben sich einige Änderungen ergeben, worin die Wandlung mancher Fächer wenigstens angedeutet werden kann: So wurde 1991 eine »besondere Universitätseinrichtung Institut für Europarecht« gegründet, die vom Völkerrechtler Peter Fischer geleitet wurde, womit die Universität Wien – spät, aber doch – auf den bevorstehenden Beitritt Österreichs zur Europäischen Union reagierte. Sie wurde 2000 zu einem regulären Institut ausgebaut, jedoch 2004 mit den Instituten für Völkerrecht und Rechtsvergleichung – trotz allgemein anerkannter Heterogenität dieser Materien – zu einem »Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung« fusioniert. Das Institut für Kirchenrecht wandelte sein Profil in den 1990ern unter Richard Potz grundlegend, was 2000 im neuen Namen »Institut für Recht und Religion« zum Ausdruck kam. Das Institut für Rechtsphilosophie, das 1985 unter dem ehemaligen Kirchenrechtler Gerhard Luf seine Eigenständigkeit erlangt hatte, wurde 2004 wieder mit dem Religionsrecht vereinigt und heißt nun »Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht«. 2000 wurde die Abteilung Finanzrecht des Instituts für Staats- und Verwaltungsrecht zu einem eigenen Institut umgewandelt. Das Institut für Handels- und Wertpapierrecht schließlich, dessen Institutsvorstand Heinz Krejci maßgeblich an der Umwandlung des Handelsgesetzbuches in das Unternehmensgesetzbuch 2007 beteiligt war, nahm diese Änderung gleichsam vorweg, indem es schon 2004 den Namen »Institut für Unternehmensrecht« annahm. So spiegeln die Personalstands- und Vorlesungsverzeichnisse die Ausdifferenzierung, Verbreiterung und Verfeinerung der Rechts- und Staatswissenschaften, die sie seit Gründung der Universität Wien erfuhren, wider – sie geben aber auch einen Einblick in verschiedenen politisch-ideologischen Konzepte, mit denen verschiedene Herrschaftssysteme diesen Disziplinen begegneten.
52 Vgl. Universitäts-Organisationsgesetz 1975 (vgl. oben Anm. 49), § 13 Abs. 4.
Wissensgesellschaft j Wissenschaftsgesellschaft
Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft
Das Verhältnis von Universität und moderner Wissensgesellschaft (knowledge society) ist seit Jahrzehnten Gegenstand einer kontroversiellen Debatte. Die theoretischen Impulse gehen zurück auf soziologische und ökonomische Arbeiten von Peter Drucker, Daniel Bell, Nico Stehr oder Helga Nowotny, die in ihren prognostischen Gesellschaftsanalysen – bei allen Unterschieden – Wissen und Wissenschaft zu den zentralen sozioökonomischen Ressourcen moderner Kultur erklären.1 Dieser Wandel von einer industriellen zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft ist bis heute unter verschiedenen Begrifflichkeiten untersucht worden. So spricht man von einem »Informationszeitalter«, einer Learning Society oder der »Wissensgesellschaft«, wobei sich letzterer Begriff mittlerweile in Politik und Öffentlichkeit durchgesetzt hat.2 Mit dem Konzept der Wissensgesellschaft werden gemeinhin verschiedene Entwicklungen verbunden. Zum einen behauptet man eine zunehmende Ausrichtung von Wissen und Wissenschaft an Kriterien der Nützlichkeit und Anwendbarkeit: Als Produktivfaktor muss Wissen praktisch verwertbar sein, sich in Informationsvorsprünge und technologische Innovationen umsetzen lassen. Zweitens sieht man eine Ökonomisierung des Wissens, dessen Produktion und Distribution immer mehr globalisierten Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt sind. Zum Dritten ist von einer »De-Institutionalisierung« und Kontextualisierung von Wissen und Wissenschaft die Rede, die sich immer stärker an ihre
1 Vgl. Peter F. Drucker, The Age of Discontinuity, London: Heinemann 1969; ders., Post-Capitalist Society, New York: Harper 1993; Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York: Basic Books 1999 [1973]; Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie der Wissensgesellschaft, Frankfurt a. M.: 1994; Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons, Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück 2004. 2 Die EU hat sich 2000 in Lissabon zwischen information society und knowledge society verortet; alternativ zur technizistischen Terminologie der Informationsgesellschaft vgl. die Webseite der Heinrich Böll Stiftung, URL: http://www.wissensgesellschaft.org (abgerufen am 1. 1. 2015).
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
jeweiligen Verwendungszusammenhänge angliedern und ihren traditionellen Funktionsrahmen verlassen. All diese Aspekte der modernen Wissensgesellschaft sind bis in die heutige Debatte – von Kritikern wie Befürwortern gleichermaßen – als Herausforderungen des klassischen Selbstverständnisses von Universität (»Idee der Universität«) gewertet worden. Durch Utilitarisierung, Ökonomisierung und Kontextualisierung von Wissen scheinen die herkömmlichen universitären Funktionsbestimmungen und Rollenmuster grundlegend in Frage gestellt. Dies gilt sowohl für die kognitiven Alleinvertretungsansprüche von Universität als auch für die Zweckfreiheit, Selbstbestimmtheit und Reflexivität akademischer Bildung und Wissenschaft.3 Im Folgenden soll diese problembeladene Beziehung zwischen Universität und Wissensgesellschaft kritisch beleuchtet werden. Der erste Teil der Arbeit widmet sich einer allgemeinen historischen Kontextualisierung: Anhand der Überlegungen von Peter Burke, Richard von Dülmen und anderen werden dabei die fortschrittsorientierten und gegenwartsbezogenen Dimensionen, die für einen Großteil der Theorien zur Wissensgesellschaft charakteristisch sind, problematisiert. Zugleich ist hiermit der wissenschaftliche Monopolanspruch von Universität in Frage gestellt. Darauf folgen drei Fallstudien aus der Wiener Universitätsgeschichte, die jeweils Schwerpunkte der Debatte zur Wissensgesellschaft in ein neues, historisch fundiertes Licht setzen: Im ersten Fall wird anhand der aufklärerischen Bildungsreformen des 18. Jahrhunderts der Frage nach universitärer Nützlichkeit nachgegangen. Im zweiten Schritt werden die ökonomischen Dimensionen der österreichischen, oftmals mit Humboldt in Verbindung gebrachten Universität des 19. Jahrhunderts behandelt. Die dritte Fallstudie widmet sich dem Problem wissenschaftlicher Einheit und Hegemonie von Universität, dem gerade um 1900 ein zentraler Stellenwert beigemessen wurde.
1.
Zur Geschichte und Theorie der Wissensgesellschaft
Es gehört zum Selbstbild und Anspruch der Universitäten im Allgemeinen und der Universität Wien im Besonderen, als exklusive Orte der Wissens- und Wissenschaftsproduktion seit dem Mittelalter zu gelten. Im Zusammenhang mit der Geschichte und Theorie der Wissensgesellschaft (knowledge society) stellt sich die Frage nach der historischen und kognitiven Angemessenheit dieses 3 Vgl. Peter Scott, Decline or Transformation? The Future of the University in a Knowledge Economy and a Post-Modern Age, in: Peter Baggen/Agnes Tellings/Wouter van Haaften (Hg.), The University and the Knowledge Society, Bemmel: Concorde Publishing House, 13 – 30.
Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft
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Alleinstellungsmerkmales im Rahmen der Moderne und der sogenannten postindustriellen Gesellschaften. Damit ist zugleich die Periodisierung und das lineare Fortschrittsdenken der Aufklärung in Frage,4 und die Rolle der Universität im Verhältnis zu außeruniversitären Institutionen zur Debatte gestellt. Geht man davon aus, dass gesamtgesellschaftliche Phänomene wie Wissen lehren, lokalisieren, klassifizieren, kontrollieren, verkaufen und erwerben spätestens seit Beginn der Neuzeit – mit und ohne Universitäten – auf der Tagesordnung standen, so wird man mit Peter Burke nicht umhin können, neben der institutionellen auch die wissenssoziologische Perspektive auf dieses Thema zu werfen und den universitären Stellenwert in diesem dynamischen Prozess von der »Geburt der Wissensgesellschaft« zur »Explosion des Wissens« zu betrachten.5 Vor dem Hintergrund der ständig wachsenden internationalen Literatur zu den Informations- und Wissensgesellschaften parallel zur Historiografie der Universitätsgeschichte erscheint es als ein Desiderat, die Entstehung, Entwicklung und besonders die Interaktion der beiden Bereiche im Hinblick auf Debatten über Modernisierung, Differenzierung und Professionalisierung genauer zu untersuchen. Dabei zeigen sich überraschende Leerstellen gegenseitiger Wahrnehmung sowie erstaunliche Defizite, diese Frage explizit zum Gegenstand der Forschung zu machen. Allein die historischen und soziologischen Untersuchungen über das wachsende Phänomen der interkulturellen Globalisierung des Wissens, die lange vor dem Computerzeitalter und der digitalen Revolution im 20. Jahrhundert eingesetzt hat,6 eröffnet einen umfassenderen thematischen Rahmen für die genannte Fragestellung. Wenn das Bild von Universitäten als gesellschaftliche Subsysteme – trotz weitgehender Autonomie und Selbststeuerung – als angemessen betrachtet wird, kann dieser neue Blick die herkömmliche Institutionen-, Disziplinen-, und Fächergeschichte einbetten und im sozio-kulturellen Gesamtzusammenhang relativieren.7 Wenn man davon ausgeht, dass Information und ihre Explosion in der »Google-Gesellschaft«8 nicht mit systematischem und begründetem Wissen 4 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1998. 5 Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin: Wagenbach 2001 und ders., Die Explosion des Wissens. Von der Encyclop¦die bis Wikipedia, Berlin: Wagenbach 2014. 6 Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, Berlin: Edition Open Access 2012. 7 Zur Rolle der Universitäten unter dem Gesichtspunkt der Systemtheorie und Selbststeuerung vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Dazu auch Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. 8 Kai Lehmann/Michael Schetsche (Hg.), Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, Bielefeld: transcript Verlag 2005. Auch hier findet sich typischerweise nur ein Beitrag
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
gleichgesetzt werden kann, so ergibt sich für beide Seiten die Frage nach einer epistemisch ausgerichteten, robusten Wissens- und Wissenschaftsproduktion in lokalen und globalen Zusammenhängen. Auf den ersten Blick erscheint die Kombination und Balance von Lehre und Forschung mit digitaler und elektronischer Ausrichtung als ein universitäres Spezifikum. Auf der anderen Seite wird durch die neueste Forschung zur Entstehung der Wissensgesellschaft seit Beginn der Neuzeit klar, dass Universitäten nur einen von mehreren Akteuren in diesem komplexen Feld von Wissensproduktion und Wissenschaftspraxis als gesellschaftliches Kapital bis zur Gegenwart ausmachen. Im letzten Vierteljahrhundert hat sich das Narrativ einer (post)modernen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft bzw. Informationsgesellschaft auch im Bereich der historischen Kulturwissenschaften und Zeitgeschichte ausgebreitet. Dabei wird der Transformationsprozess von der Feudal- und Industriegesellschaft zu den heutigen wissensbasierten Gesellschaften (Knowledge Societies) behandelt. Von der frühneuzeitlichen »wissenschaftlichen Revolution« ausgehend, ist vor allem aus zeitgeschichtlicher Perspektive der Faktor Wissen/Wissenschaft in der Phase einer »zweiten Moderne« untersucht worden.9 Ein spezielles Phänomen des 20. Jahrhunderts ist der Streit um die Wissenssoziologie10 sowie der Wissenstransformationen in Folge von Vertreibung, Exilierung und Emigration der Intellektuellen und WissenschaftlerInnen in der Epoche des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Eine kritische Betrachtung der dominierenden Wissensökonomien im Zeitalter der Globalisierung mündete in eine Geschichte und Theorie lokaler und globaler Wissensgesellschaften und Wissenskulturen.11 Das Phänomen einer Gesellschaft mit der zunehmenden Präsenz von sozialen Netzwerken und Online-Enzyklopädien wie Facebook oder Wikipedia, sowie die Etablierung einer universitären »Medienphilosophie«, markieren den quantitativen und qualitativen Wandel zur digitalen Wissens- und Weltgesellschaft. Die mit direktem Bezug zur Universität: Benjamin Wischer, Blühende Lernwelten. E-Learning in der Hochschullehre, ebd., 289 – 298. Paradoxerweise setzt der »lange Weg zur Wissensgesellschaft« im Beitrag von Kai Lehmann erst mit den 1960er Jahren ein, ebd., 33 – 39. 9 Das Konzept der »zweiten Moderne« geht zurück auf Heinrich Klotz und den kürzlich verstorbenen Soziologen Ulrich Beck und steht im Zusammenhang mit dessen Theorie der »Risikogesellschaft«. 10 Nico Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bände, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. 11 Zur unüberschaubaren Literatur über Wissensgesellschaft und Wissenskulturen als Beispiele: Nico Stehr, Eigentum und Wissen. Zur Theorie der Wissensgesellschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994; ders., Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Göttingen: Velbrück 2000; Georg Frank, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München: Hanser 2000; Andr¦ Gorz, Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich: Rotpunktverlag 2004; Karl H. Müller, Marktentfaltung und Wissensintegration. Doppelbewegungen in der Moderne, Frankfurt a. M.: Campus 1999.
Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft
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zunehmende Forderung nach open access zu alltäglichem und wissenschaftlichem Wissen manifestiert einen gewaltigen Umbruch in der gesellschaftlichen und universitären Kommunikation, die auf weite Strecken die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Dimension dieser »Wissensflut« ausblendet.12 Unter diesem gegenwartsgeschichtlichen Trend wird die tatsächliche Entstehung der modernen Wissensgesellschaft verschüttet oder ignoriert: Wie von historischer Seite verschiedentlich dargestellt, sind die Wurzeln der modernen Wissensgesellschaft nicht erst im 20. Jahrhundert zu verorten, sondern führen zurück auf die sozialen und kognitiven Transformationen von Mittelalter und Früher Neuzeit: Ein Beispiel hierfür ist der voluminöse Sammelband zur Macht des Wissens,13 der aus historischer Perspektive einerseits die Gleichung Wissen ist Macht problematisiert, andererseits Wissensformen in einen gesellschaftlichen Kontext stellt. Neues Wissen und Weltbild werden mit dem Ziel der Beherrschung der Natur in praktischer Absicht verknüpft sowie der Umgang mit Wissen über die Natur, Gesellschaft und Kultur durch Praktiken des Sammelns, Systematisierens und Überlieferns konkret gemacht. Damit figurieren Wissen und Wissenschaft als Faktoren in der Lebenswelt der Gelehrten, in der noch keine Trennung von Natur und Geschichte vollzogen wurde.14 Dementsprechend finden wir eine Gleichzeitigkeit von Vernunft und Tradition, Rationalität und Irrationalität, die das Bild einer abrupten wissenschaftlichen Revolution in Frage stellt.15 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Universitäten in der städtischen Gesellschaft neben den Höfen und Klöstern nur einen Teil der Wissenschaften, wenn auch im Anspruch einen universalen, repräsentierten. Der gesellschaftliche Rahmen von Humanismus und Renaissance ermöglichte eine neue Verbindung von Alltags- und Erfahrungswissen sowie von Handwerk 12 Z.B. in den Veröffentlichungen Anina Engelhardt/Laura Kajetzke (Hg.), Handbuch der Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld: transcript Verlag 2010; Renate Mainz/Friedhelm Neidhardt/Ulrich Wengenroth (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld: transcript Verlag 2008. 13 Richard von Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln–Weimar–Wien: Böhlau 2004. 14 Die Professionalisierung und Differenzierung wird erst im 19. Jahrhundert ausgemacht. Vgl. dazu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740 – 1890, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984. 15 Das hatte bereits Edgar Zilsel mit seiner These über die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft eindrucksvoll ausgearbeitet: Edgar Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, hg. von Wolfgang Krohn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976; ders., The Social Origins of Modern Science, Foreword by Joseph Needham. Introduction by Diederick Raven/ Wolfgang Krohn, hg. von Diederick Raven/Wolfgang Krohn/Robert S. Cohen, Dordrecht–Boston–London: Kluwer 2000. Zur Kritik der traditionellen Historiografie: Steven Shapin, Die wissenschaftliche Revolution, Frankfurt a. M.: Fischer 1998.
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
und Technik mit der Mathematik als Instrument der Rationalisierung in Natur und Gesellschaft. Es entstand ein neuer Typus des Gelehrten, der sich nun in allen Segmenten dieser frühkapitalistischen urbanen Gesellschaften von Stadt, Hof, Kirche, nicht zuletzt auch an den Universitäten und Akademien mit internationalen wissenschaftlichen Sozietäten finden lässt.16 Auch hier wird die relative Bedeutung der Universitäten bei der Entstehung der modernen Wissensgesellschaft sichtbar, die erst durch eine neue Historiografie unter Einbeziehung der historischen Epistemologie als »Science in Context« aufbereitet wurde. Eine derart erweiterte Kulturgeschichte des Wissens versteht Wissenschaft als Einheit von Theorie und Praxis, womit diese als historisch bedingte kulturelle Form rekonstruiert und interpretiert werden kann. Die konkrete wissenschaftliche Tätigkeit manifestiert sich im Experiment mit Hilfe von unterschiedlichen Instrumenten,17 im Sammeln, in der Aneignung und Speicherung, Kommunikation und Popularisierung eines Wissens, das an unterschiedlichen Orten in verschiedener Form zugänglich wird. Somit kann das Feld von (ungleichzeitigen) Wissens- und Wissenschaftskulturen im Rahmen der heutigen Kulturwissenschaften konkretisiert werden.18 Die von Dülmen und Rauschenbach in ihrem Sammelband vorgeschlagenen fünf sich überlappenden Entwicklungsphasen der Wissensgesellschaft seit dem 15. Jahrhundert sind ein heuristischer Orientierungsrahmen, in dem die europäischen Universitäten explizit im Zusammenhang mit der Repräsentation und Ordnung des neuen Wissens in der Zeit von 1660 bis 1730 sichtbar werden. Zur gleichen Zeit entsteht ein Netz von Gelehrten (»Respublica litteraria«) mit der Ausformung profaner Weltbilder,19 woraus sich bis Anfang des 19. Jahrhunderts ein Wissenschaftssystem mit neuen Disziplinen und einem wissenschaftlichen Weltbild entwickelt, das im Konkurrenzverhältnis zum Glauben in der bürgerlichen Gesellschaft steht. Eine komplementäre Darstellung zur Genese der europäischen Wissensgesellschaft liefert der Kulturhistoriker Peter Burke, der in zwei Bänden aus einer 16 Zu den Ursprüngen der »clercs« im Mittelalter : Jacques Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter, Mit einem Nachwort von Johannes Fried, Stuttgart: Klett-Cotta 1986. 17 Hier ist die wissenschaftliche Praxis samt materieller Umgebung relevant. Vgl. auch die Historiografie zur Wissenschaftsgeschichte als Geschichte ihrer technischen Instrumente: Thomas Crump, A Brief History of Science. As Seen through the Development of Scientific Instruments, London: Robinson 2001. 18 Durch Arbeiten von Ludwik Fleck, Thomas Kuhn, Gaston Bachelard bis hin zu Paul Feyerabend und Lorraine Daston/Peter Galison wurden die Wissenschaften (mit der Relativierung von Objektivität und Rationalität) als kulturelle Praxis mit einem erweiterten Methodenkanon ausgewiesen. Vgl. Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000; dazu auch Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010. 19 Dülmen/Rauschenbach, Die Macht des Wissens, 1 – 8.
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pointiert wissenssoziologischen Perspektive diesen Modernisierungsprozess von der Erfindung des Buchdrucks bis zur heutigen Informationsgesellschaft beschreibt.20 Die Lehre von der »Seinsverbundenheit« (Kontextualität) des Wissens ist Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Fragmentierung und Spezialisierung der Moderne in Zentraleuropa (u. a. durch Wilhelm Jerusalem, Max Scheler, Karl Mannheim) entwickelt worden und hat mit dem umstrittenen Konzept des Relativismus in der Wissenssoziologie Eingang in die historische Epistemologie gefunden.21 Dabei wurde der Dualismus von Entstehungs- und Begründungszusammenhang in Frage gestellt und die Korrelation von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Phänomenen vorausgesetzt.22 Die Fehlbarkeit und Pluralität des Wissens seit dem Mittelalter wird bei Burke aus Sicht der Produzenten (europäische Intellektuelle oder »Klerisei«) im Anschluss an die Studien von Jacques Le Goff im Sinne der Wissenssoziologie und der antiken Pyrrhoniker vorausgesetzt und als Kultur- und Sozialgeschichte des Wissens gesellschaftlich eingebettet. Dabei werden theoretisches und praktisches Wissen ebenso berücksichtigt wie Aspekte des systematischen wissenschaftlichen Wissens und angewandten Alltagswissens, wobei die Räume der Wissensgenerierung als wesentlich gelten. Bereits der aus der französischen Schule der Annales kommende Historiker Jacques Le Goff hatte in seinem Buch Die Intellektuellen im Mittelalter23 die kontinuierliche Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert von der »Geburt der Intellektuellen« (clercs) bis zur Konkurrenzsituation von Universitätslehrern und Humanisten beschrieben. Die mittelalterlichen Kleriker (Klerisei), »die beruflich denken und ihre Gedanken lehren«,24 standen als Geistliche und Gelehrte mit methodologischer Expertise in der Scholastik im Spannungsfeld zwischen Glaube und Vernunft. Vor dem Hintergrund städtischer Kultur und Urbanität etablierten sie mit der Zeit als machtvolle »Wortverkäufer« zwischen Kloster, Schule und Universität einen freien Wissensmarkt. Im Kräftespiel von Kirche, Monarchie und Universität wird der Beginn der europäischen Wissensgesell20 Peter Burke, Papier und Marktgeschrei; ders., Die Explosion des Wissens. 21 Als Überblick: Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2005. 22 Vgl. Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890 – 1933, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, wo die fatale Rolle der bildungsbürgerlichen Intellektuellen und Professoren im Übergang von Monarchie zur Weimarer Republik bis hin zur Machtergreifung des NS in einen geistigen und sozio-kulturellen Erklärungszusammenhang gestellt wird. Leider sind hier die Bezüge zu Österreich nur marginal, obwohl die Phänomene und deren Analysen von der Monarchie zur Republik analog – wenn auch mit Spezifizierungen – anwendbar wären. 23 Jacques Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter. Mit einem Nachwort von Johannes Fried, Stuttgart: Klett-Cotta 2001. 24 Ebd., 9.
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
schaft bereits im Mittelalter ausgemacht, wie Johannes Fried in seinem Nachwort unterstreicht.25 Mit dem Eingriff in die universitäre Selbstbestimmung und dem Übergang zu den Akademien sei die mittelalterliche Ordnung überwunden und durch die Humanisten der Zusammenhang von Wissenschaft und Leben neu hergestellt. Gleichzeitig wird damit – gegen das Narrativ von der wissenschaftlichen Revolution – die Kontinuitätsthese gestärkt.26 Die europäischen Universitäten waren ohne Zweifel wichtige, aber nicht die einzigen Akteure und Produzenten am wachsenden Wissensmarkt, wie in Bezug auf das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit ausgeführt wird: »In dieser Zeit ging man stillschweigend davon aus, dass die Universitäten sich eher auf die Vermittlung von Wissen als auf seine Entdeckung zu konzentrieren hätten. Als genauso selbstverständlich galt, dass die Auffassungen und Interpretationen der großen Gelehrten und Philosophen der Vergangenheit von der Nachwelt durch nichts Ebenbürtiges ersetzt noch widerlegt werden könnten. Das heißt, die Aufgabe des Lehrers beschränkte sich darauf, die Ansichten von Autoritäten […] zu erläutern. Welche Disziplinen man studieren konnte, war – zumindest offiziell – festgelegt: die sieben Artes liberales und die Fächer der drei höheren Fakultäten, Theologie, Recht und Medizin.«27
Durch die Kunst des Debattierens verloren die mittelalterlichen Scholastiker und damit die Kirche langsam das Wissensmonopol in den folgenden Perioden des Humanismus, der Renaissance und Aufklärung, was auch für die institutionelle Konkurrenzierung eine Rolle spielte: »Die meisten Humanisten hatten an jenen Universitäten studiert, die sie kritisierten. Auffällig ist indes, dass einige der Kreativsten unter ihnen einen Großteil des Lebens außerhalb des universitären Systems zubrachten. […] Die Humanisten entwickelten ihre Ideen in der Diskussion, doch ihre Debatten fanden weniger im Umfeld der Universitäten statt, wo neue Themen häufig auf den Widerstand seitens dort etablierter Gruppen stießen, als vielmehr in einer von ihnen selbst geschaffenen neuen Institution, der Akademie.«28
Es entstand eine intellektuelle Gegnerschaft zur Universität mit unterschiedlichen Monopolen und Hierarchien im europäischen Wissensraum, wobei die Oppositionen von Ort zu Ort variierten, als ein Mit- und Gegeneinander zwischen einzelnen Gruppierungen im Sog der Formierung neuzeitlicher Wissenschaft. Diesen Prozess hatte bereits Edgar Zilsel,29 ein 1938 aus Wien vertrie25 Johannes Fried, Nachwort, in: ebd., 177 – 192. 26 Das spiegelt sich auch in Büchern zur Wissensgeschichte, vgl. Charles Van Doren, Geschichte des Wissens, München: dtv 2000 und David C. Lindberg, Die Anfänge des abendländischen Wissens, München: dtv 2000, wo die Rolle der Universitäten nur peripher behandelt wird. 27 Burke, Papier und Marktgeschrei, 46 – 47. 28 Ebd., 49. 29 Zu Leben und Werk von Edgar Zilsel im Umfeld des Wiener Kreises und der Wiener
Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft
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bener Philosoph und Volksbildner, in seinen Studien über die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft untersucht, die als markante ZilselThese in die Historiografie eingegangen sind: »In der Epoche von 1300 bis 1600 müssen drei Ebenen der intellektuellen Tätigkeit unterschieden werden: Universitätsgelehrte, Humanisten und Künstler. Universitätsgelehrte und Humanisten waren zwar rational geschult; ihre Berufsbedingungen allerdings bestimmten Methoden, die sich substantiell von den Methoden der Wissenschaft unterschieden. Beide, Professoren wie humanistische Literaten, unterschieden liberale von mechanischen Künsten und verschmähten Handarbeit, Experiment und Sektion. Die Handwerker waren die Pioniere des kausalen Denkens dieser Epoche. Gewisse Gruppen der höheren Handarbeiter (Künstler, Ingenieure, Wundärzte, die Hersteller nautischer und musischer Instrumente, Feldmesser, Navigatoren, Schützen) experimentierten, sezierten und benutzten quantitative Methoden. Die Meßinstrumente des Navigators, Feldmessers und Schützen waren Vorläufer der späteren physikalischen Instrumente. Den Handwerkern fehlten jedoch methodische intellektuelle Schulung. So waren beide Komponenten der wissenschaftlichen Methode durch eine soziale Barriere getrennt: Logische Schulung war den Gelehrten der höheren Klasse vorbehalten; Experimentieren, Kausalinteresse und quantitative Methoden waren mehr oder weniger den plebejischen Künstlern überlassen. Die Wissenschaft wurde geboren, als mit dem Fortschritt der Technologie die experimentelle Methode schließlich die sozialen Vorurteile gegen die Handarbeit besiegte und von rational geschulten Gelehrten übernommen wurde. Dies wurde ca. 1600 erreicht […]. Zur selben Zeit wurden die scholastischen Methoden der Disputation und das humanistische Ideal des individuellen Ruhms durch die Ideale der Kontrolle der Natur und der Fortschritte des Wissens durch wissenschaftliche Zusammenarbeit überwunden. […] Der gesamte Prozeß war eingebettet in den Fortschritt der frühkapitalistischen Gesellschaft, die das Kollektivbewußtsein, magisches Denken und den Glauben an Autorität schwächte und weltliches, kausales, rationales und quantitatives Denken vorantrieb.«30
Die erhebliche Skepsis der Universitäten gegenüber der neuen Philosophie der experimentellen Wissenschaften habe letztlich zur Gründung alternativer Institutionen wie Museen oder Akademien (z. B. Royal Society in London 1660, Acad¦mie Royale in Paris 1666) geführt, auch wenn »die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen progressiven Akademien und reaktionären Universitäten vereinfachend und irreführend wäre.«31 Ohne Zweifel wird in der Epoche der Aufklärung die Rolle und Funktion der Universitäten stark verändert:
Volksbildung: Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, hg. und eingeleitet von Johann Dvorak, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. 30 Zilsel, Die sozialen Ursprünge, 49. 31 Burke, Papier und Marktgeschrei, 54.
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
»Erstens wird das Bildungsmonopol, das die Universitäten praktisch ausüben, zu dieser Zeit in Frage gestellt. Zweitens bildet sich das Forschungsinstitut heraus, die Profession des Forschers, ja, die Idee von Forschung überhaupt. Drittens widmet sich die Klerisei, vor allem in Frankreich, intensiver denn je zuvor ökonomischen, sozialen und politischen Reformprojekten, mit anderen Worten, der Aufklärung.«32
Die alternativen Institutionen breiteten sich sukzessive aus, wie etwa die Ingenieurakademie in Wien 1717, und führten als neue Organisationen zur Förderung der Forschung zu einer Systematisierung und Professionalisierung des Wissens – eine Entwicklung, die im 19. Jahrhundert ihren Abschluss mit dem Aufkommen von »Wissenschaft als Beruf«33 (Max Weber) fand: »Unter der Perspektive der longue dur¦e betrachtet haben wir es mit Innovationszyklen zu tun, denen Phasen der, wie Max Weber es nannte, ›Verallgemeinerung‹ oder, wie Thomas Kuhn es beschrieb, der ›normalen Wissenschaft‹ folgten. In Europa setzen diese Zyklen mit dem 12. Jahrhundert ein, als neue Institutionen, die sogenannten Universitäten, die Klöster als Stätten der Gelehrsamkeit ablösten, und ziehen sich bis in die Gegenwart hinein«.34
Daraus folgert Burke, dass die Sozialgeschichte des Wissens eine Transformation darstellt, die sich immer wieder vollzogen hat, und zwar als »Geschichte der Interaktion zwischen Außenseitern und Establishments, zwischen Laien und Fachleuten, intellektuellen Unternehmern und intellektuellen Rentiers«: »Es gibt auch ein Wechselspiel zwischen Innovation und Routine, Beweglichkeit und Erstarrung, tauenden und gefrierenden Tendenzen, inoffiziellem und offiziellem Wissen. Auf der einen Seite haben wir offene Zirkel und Netzwerke, auf der anderen Institutionen mit festem Mitgliederstamm und offiziell definierten Sphären der Zuständigkeit, die sich auch gegen Nichtfachleute durch dauerhafte Barrieren abschirmen.«35
Die internationale »Gelehrtenrepublik« war ein urbanes Phänomen europäischer Städte, mit Wien als einer Adresse dieses globalisierten Netzwerkes. Dabei lässt sich mit Burke fragen, ob Wien im Vergleich mit Rom, Paris und London in diesem Spiel als »Hauptstadt des Wissens« gelten kann. Für Zentraleuropa wird der Universität Wien und der Hofbibliothek jedenfalls eine wichtige Rolle in dieser Wissenschaftskommunikation zugeschrieben, was der Funktion von Metropolen als Orte der Produktion, Systematisierung, Aufbereitung und Verbreitung von Wissen entsprach. Ein Paradebeispiel dieser neuen »Wissenspolitik« als einer aufklärerischen Gesamtschau in subversiver Absicht liefert die 32 33 34 35
Ebd., 58 – 59. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 2. Aufl., München–Leipzig: Duncker & Humblot 1921. Burke, Papier und Marktgeschrei, 63 – 64. Ebd., 67.
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große französische Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert36, die übrigens auch für die Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises im 20. Jahrhundert als Inspiration dienen sollte.37 Neben den urbanen Wissenskulturen existierten klösterliche Netzwerke, die im Zeichen katholischer Aufklärung außeruniversitäre Forschung betrieben, wie aktuelle Arbeiten über Benediktinermönche zeigen.38 Diese verschiedenen Formen wissenschaftlicher Kommunikation dokumentieren eine lebendige europäische Gelehrtenrepublik.39 Was die Zirkulation des Wissens am Markt anlangt, so finden sich bereits in der neuzeitlichen Periode die bekannten Phänomene von Monopol, Priorität und geistigem Eigentum samt Verwertung und Anwendung im öffentlichen Bereich, wo sich die Universitäten mit Druck und Verkauf auch im frühkapitalistischen Verlagswesen behaupten mussten. Auf kognitiver Ebene kann der Schlussfolgerung Burkes zugestimmt werden, dass die neuzeitliche Wissensgesellschaft angesichts des ständigen Anwachsens und Systematisierens des Wissenskorpus’ die Weichen in Richtung Skeptizismus und Relativismus gestellt hat, was eine soziologisch-historische Zugangsweise nahelegt und Konsequenzen für die universitäre Lehre und Forschung hinsichtlich Zuverlässigkeit und Robustheit des heutigen Wissensbestandes mit sich bringt.40 Das ist angesichts der »Explosion des Wissens« bis zur heutigen knowledge society nicht weiter überraschend, die ganz ähnliche Merkmale von Wissenspraktiken (Sammeln, Analysieren, Verbreiten, Anwenden) sowie von demokratischen und sozialen Zugängen zum Wissen (mit geografischen, so36 Zur französischen Enzyklopädie auch als erfolgreiches kommerzielles Unternehmen: Robert Darnton, Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Frankfurt a. M.: Fischer 1988; ders., Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclop¦die. Oder : Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin: Wagenbach 1993. 37 Die vor allem von Otto Neurath initiierte internationale Bewegung der Einheitswissenschaft/ Unity of Science hat sich immer wieder auf diese intellektuellen Wurzeln berufen, auch wenn mit diesem Konzept die Wissenschaften selbst zum Gegenstand der Darstellung wurden. Vgl. dazu Friedrich Stadler, Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a. M.: 1997, 2. Aufl. Dordrecht: Springer 2015; George Reisch, How the Cold War Transformed Philosophy of Science. To the Icy Slopes of Logic, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2005. 38 Das Projekt »Monastische Aufklärung & Benediktinische Gelehrtenrepubliken« am Institut für Geschichte der Universität Wien unter der Leitung von Thomas Wallnig: URL: http:// www.univie.ac.at/monastische_aufklaerung (abgerufen am 16. 2. 2015). 39 Dazu das Nachfolgeprojekt von Howard Hotson (Oxford) und Thomas Wallnig (Wien): »Reassembling the Republic of Letters, 1500 – 1800. A Digital Framework for Multi-lateral Collaboration on Europe’s Intellectual History«. 40 Burke endet mit dem Statement: »Die Kontinuität zwischen der Wissenssoziologie des 20. Jahrhunderts und Positionen der frühen Neuzeit ist bedenkenswert«. Burke, Papier und Marktgeschrei, 247.
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Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp
ziologischen und chronologischen Dimensionen) aufweist. Die von Burke diagnostizierten gegenläufigen Tendenzen wie Nationalisierung und Internationalisierung, Säkularisierung und Gegensäkularisierung, Professionalisierung und Laientum, Demokratisierung und Monopolisierung, sind jedenfalls lokal und global erkennbar und forcieren gleichzeitig die Frage nach Qualität, Systematisierungsgrad und Rechtfertigung von Wissen inmitten der sogenannten »Wissensflut«. Einmal mehr kommen bei diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen die Universitäten zwischen Bildung und beruflicher Ausbildung ins Spiel, denn »die Debatte über die ›Relevanz‹ akademischen Wissens, die seit den 1970er Jahren […] geführt worden ist, ist wenig mehr als die neue Variante einer alten Kontroverse.«41 Die Spannung zwischen Beratung, Anwendung und »reiner Forschung« findet sich wieder auf der universitären Tagesordnung, auch aus »betriebswirtschaftlicher Perspektive« angesichts der wachsenden Konkurrenz von Fachhochschulen, Technischen Hochschulen, Privatuniversitäten und »think tanks«. Eine Vernetzung von Universitäten mit außeruniversitären Institutionen wie Akademien, politiknahen Einrichtungen und Beratungsorganisationen scheint in Anbetracht akademischer Mobilität der Lehrenden und Forschenden nicht mehr umkehrbar. Diese Problematik kann nur im Rahmen interdisziplinärer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte untersucht werden, was eine permanente Selbstthematisierung der Institution Universität voraussetzt.42 Wenn man nun den Wissensraum Wien mit seiner Universität ins Spiel bringt, so kann man für die Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert analog von kreativen Wissenskulturen in- und außerhalb der akademischen Mauern sprechen, ein bekanntes Muster im Spannungsfeld von institutioneller Bildung, Tradition, Beharrung und außeruniversitärer Innovation einer so genannten »Caf¦haus-Wissenschaft«.43 Das betrifft auch einen anderen Aspekt der Grenzüberschreitungen, nämlich die peregrinatio akademischer Mobilität – von Lehrenden und Studierenden – im nationalen und internationalen Kontext bereits seit Gründung der Universitäten.44 Daneben gibt es die Mobilität zwischen den Universitäten, der Politik 41 Ebd., 154. 42 An der Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, existiert dementsprechend ein fakultärer Forschungsschwerpunkt »Wissenschaftsgeschichte – Wissenskulturen – Wissensgesellschaften« sowie das Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, das als Rektoratsprojekt 2006 eingerichtet wurde. 43 Friedrich Stadler, Wissenschaft und österreichische Zeitgeschichte. Methodologische und metatheoretische Untersuchungen zu einer historischen Wissenschaftsforschung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 93 – 116. 44 Für die Zeit der Habsburger-Monarchie: Mitchell Ash/Jan Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848 – 1918, Basingstoke: Palgrave
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und der Wirtschaft, die eine Gegenposition zur klassischen »Idee der Universität« ausmacht und im Spannungsfeld von Autonomie und Fremdbestimmung steht.45 Jedenfalls wurde im 20. Jahrhundert das Ideal einer »nationalen Wissenschaft« durch die Zeit des Nationalsozialismus nachhaltig in Frage gestellt und trotz aller möglichen Denkstile und geographischen Ausformungen als ein Selbstwiderspruch diskreditiert. Demgegenüber stand die Gegenwelt der erzwungenen Emigration der Intellektuellen und AkademikerInnen mit nachfolgendem Exodus samt kognitiver Transformation ihrer Forschungsprogramme.46 Seitdem ist die Nationalisierung der Wissenschaften, trotz eines innovativen »spatial turns« in den Kulturwissenschaften, als eine ambivalente Denkfigur zu betrachten, die es vor dem Hintergrund von Globalisierung und Internationalisierung zu entideologisieren gilt. Letztlich erscheint das universitäre Feld als dynamisches System zwischen Selbstorganisation und staatlicher Intervention, zwischen der Reproduktion von gesellschaftlich erforderlichen Qualifikationen und der Produktion von wissenschaftlichem Wissen als Selbstzweck eines reinen Forschungsideals. Angesichts dieser Entwicklungen kann es nicht überraschen, wenn auch die Zeitgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Verwissenschaftlichung neu konzeptualisiert wurde, was einen direkten Einfluss auf die Historiografie dieser zentralen Disziplin für die Universitätsgeschichte bedeutet.47 Der fließende Übergang von Wissens- zu Wissenschaftsgeschichte48 ermöglicht neben der klassischen Institutionsgeschichte die Berücksichtigung von Theorie und Praxis, von Räumen und Regionen des Wissens, sowie die Einbettung von Forschung und Lehre in Denkstile und Kollektiva, wie es bereits Ludwik Fleck beschrieben hat.49 Schließlich wird plausibel, warum auch für die Historiografie
45 46 47 48 49
Macmillan 2012; vgl. auch: Richard Georg Plaschka, Wegenetz europäischen Geistes: Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München: Oldenburg Wissenschaftsverlag 1983; ders./Karlheinz Mack (Hg.), Wegenetz europäischen Geistes II. Universitäten und Studenten, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1987. Vgl. den Beitrag von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler in diesem Band. Dies ist für den deutschsprachigen Bereich unter dem Titel Vertriebene Vernunft und Cultural Exodus erforscht worden: Friedrich Stadler/Peter Weibel (Hg.), Vertreibung der Vernunft – The Cultural Exodus from Austria, Wien–New York: Springer 1995. Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft, 30 (2004) 2, 277 – 313. Vgl. Philipp Sarrasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36 (2011) 1, 159 – 172. Als Klassiker: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer/Thomas Schnell, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.
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der Universitätsgeschichte eine Kombination von Geschichte, Philosophie und Soziologie der Wissenschaften fruchtbar ist, was dem allgemeinen Trend einer Kontextualisierung von Wissenschaft entspricht.50
2.
Wozu Universität? Zwei aufklärerische Nützlichkeitskonzepte
Wie der Ideenhistoriker Stefan Collini herausgearbeitet hat, drehen sich derzeit fast alle hochschulpolitischen Auseinandersetzungen um die Frage nach der Nützlichkeit der Universität als Bildungs- und Forschungsinstitution.51 Die Debatte um die Wissensgesellschaft ist hierbei keine Ausnahme. Seit führende Theoretiker der knowledge society wie Peter Drucker, Daniel Bell oder Nico Stehr Wissen und Wissenschaft zu den zentralen sozioökonomischen Ressourcen unserer heutigen, wahlweise als post-modern oder post-industriell adressierten Gesellschaft erklärt haben, ist die traditionelle Rolle der Universität zunehmend diskutabel geworden.52 »Der Trend zur Wissensgesellschaft mit einem Bedeutungsgewinn der Wissenschaft«, erklärte etwa im Jahr 2000 der damalige Wiener Universitätsrektor Georg Winckler, müsse nicht zwangsläufig ein »Trend zur Stärkung der Universität sein«.53 Für dieses paradox anmutende Phänomen lassen sich verschiedene Gründe angeben: Durch den wachsenden Stellenwert von Forschung und Wissenschaft findet sich die Universität heute mit einer Vielzahl von Nutzungsansprüchen konfrontiert, die immer schärfer in ihre ursprünglichen Autonomierechte intervenieren. Mit dem Bedeutungsgewinn ist zugleich ein Bedeutungswandel von Wissen und Wissenschaft verbunden, die immer mehr über ihren praktischen Nutzwert definiert werden,54 wodurch gerade die neuhumanistischen Ideen von zweckfreier Bildung und Forschung in Zweifel gezogen sind. Die Universität scheint somit in einer Zwickmühle: Will sie sich gegenüber den Erfordernissen der modernen Wissensgesellschaft öffnen, muss sie zwangsläufig Kernelemente ihrer Eigenwertigkeit preisgeben. Für viele Kritiker gegenwärtiger Hochschulpolitik erscheint der Begriff der Wissensgesellschaft als neoliberaler Deckmantel einer Erosion der öffentlichen und autonomen Rolle universitärer Wissenschaft. Der Bildungswissenschaftler 50 Friedrich Stadler, History and Philosophy of Science. Zwischen Deskription und Konstruktion, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte (2012) 3, 217 – 238. 51 Stefan Collini, What are Universities for? London: Penguin 2012. 52 Zu den entsprechenden Texten vgl. Fußnote 1. 53 Georg Winckler, Die Zukunft der Universität (Wiener Universitätsreden 9), Wien: Wiener Universitätsverlag 2000, 12. 54 Nico Stehr spricht etwa von Wissen als »Handlungsvermögen«: Nico Stehr, Moderne Wissensgesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 36 (2001), 7 – 13, 8.
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Daniel Schugurensky spricht in diesem Zusammenhang von einer Entwicklung hin zur »heteronomen Universität«, wobei er zwei Tendenzen unterscheidet.55 Die erste Tendenz betrifft die Kommerzialisierung der Hochschulen, die sich angesichts verschärfter Wettbewerbsbedingungen im Bildungs- und Forschungsbereich immer umfassender marktwirtschaftlichen Erwägungen unterwerfen. Die Palette ökonomischer Strategeme reicht hierbei von der Implementierung von Management-Strukturen bis hin zu Kooperationen mit Privatunternehmen. Das Resultat ist die von Sheila Slaughter und Larry Leslie diagnostizierte »unternehmerische Universität« bzw. der »akademische Kapitalismus«.56 Ein zweites Element bezieht sich vor allem auf das Verhältnis zwischen Staat und Hochschule. Mit der wachsenden sozioökonomischen Relevanz von Wissenschaft erhöht sich der Druck auf Universitäten. Anders als noch im kulturstaatlichen Modell des 19. Jahrhunderts verlangt die öffentliche Hand für ihre Aufwendungen konkrete Gegenleistungen. Die Universität wird zunehmend an ihren Bildungs- und Forschungsergebnissen gemessen, wobei die Politik in Form von science policies mit steigender Vehemenz in die einzelnen universitären Kompetenzbereiche eingreift. Im Jargon der Zeit ist von einer accountable oder responsive university die Rede.57 Schugurenskys zentrale These besteht nun darin, die beiden Elemente, die in den heutigen Debatten oft zusammengewürfelt werden, von ihren Wurzeln her als Gegensätze auszuweisen: »The heteronomous university results from the combination of two apparently contradictory dimensions: ›laissez faire‹ and ›interventionism‹«.58 Die Verbindung von markwirtschaftlichen und staatlichen Nutzungsansprüchen, die unter den Auspizien gegenwärtiger Hochschulpolitik als nahezu deckungsgleich erscheinen, beruht auf zwei verschiedenen universitären Nützlichkeitsmodellen: einer Controlled university und einer Commercial university. Auf Basis dieser These lassen sich zwei Pointen entwickeln: Die Erste betrifft eine neue Betrachtung des Zusammenhangs von Universität und moderner Wissensgesellschaft: Anstatt sich darauf zu fokussieren, die autonomistischen Prinzipien einer ehernen »Idee von Universität« gegenüber den verschiedenen Inanspruchnahmen zu verteidigen, stellt sich die Frage, inwieweit diese An55 Daniel Schugurensky, The Heteronomous University and the Question of Social Justice: In Search of a New Social Contract, in: Joseph Zajda (Hg.), Globalization, Education and Social Justice, Dordrecht: Springer 2010, 49 – 66, 53 – 57. 56 Sheila Slaughter/Larry Leslie, Academic Capitalism: politics, policies and the entrepreneurial university, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997. 57 Vgl. Drucker, Post-Capitalist Society, 194 – 209; William G. Tierney (Hg.), The responsive university : restructuring for high performance, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997. 58 Schugurensky, Heteronomous University, 54.
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sprüche und die daraus resultierenden universitären Nutzungsmodelle zu vereinbaren sind. Nicht ob und in welchem Maße Universität nützlich sein darf oder kann, steht zur Debatte, sondern die innere Kohärenz ihrer konkreten Aufgaben und Zielstellungen. Die zweite Pointe betrifft den geschichtlichen Horizont, den Schugurensky aufwirft: Die Wissensgesellschaft ist nicht erst im Zuge der postindustriellen Moderne entstanden. Gleiches gilt für die Frage nach der Nützlichkeit von Universität. Ein interessanter Reflexionspunkt sind dabei die aufklärerischen Universitätsmodelle des 18. Jahrhunderts, die in der Forschungsliteratur immer wieder als Musterstätten einer utilitaristischen Bildungs- und Wissenschaftsauffassung dargestellt wurden. Hierbei zeigen sich verschiedene Nutzungskonzepte, die Schugurenskys Unterscheidung zwischen einer »kontrollierten« und einer »kommerziellen« Universität recht nahe kommen. Ein in dieser Hinsicht besonders signifikantes Verhältnis entwickelte sich zwischen Göttingen und Wien, zwischen den Hochschulen im protestantischen Norddeutschland und dem katholischen Österreich. In Wien begannen die hochschulpolitischen Transformationen zur Mitte des 18. Jahrhunderts.59 Unter den Regierungen Maria Theresias und Joseph II. wurde das jesuitische Schul- und Hochschulwesen abgeschafft und durch ein gesamtstaatliches Bildungssystem ersetzt. Diese Umbauten vollzogen sich im Rahmen einer Reformierung des österreichischen Staatswesens. Anstelle des alten Reiches mit seinem aristokratischen Partikularismus trat der zentralistisch organisierte Beamtenstaat des aufgeklärten Absolutismus. Von hier aus definierten sich die neuen bildungspolitischen Zwecksetzungen. Als gesellschaftspolitische Vehikel sollten die Hochschulen fortan zur Nationalerziehung und Beamtenbildung dienen. Das aus Frankreich stammende Prinzip der »Nationalerziehung« wurde unter Mitwirkung heimischer Aufklärer wie Joseph von Sonnenfels mit einer spezifisch österreichischen Lesart versehen.60 In »Ermangelung einer staatstragenden
59 Vgl. zu den theresianischen und josephinischen Bildungsreformen: Grete Klingenstein, Despotismus und Wissenschaft. Zur Kritik norddeutscher Aufklärer an der österreichischen Universität 1750 – 1790, in: Friedrich Engel-Janosi/Grete Klingenstein/Heinrich Lutz (Hg.), Formen der europäischen Aufklärung (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 3), Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1976, 126 – 157; Notker Hammerstein, Besonderheiten der Österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., in: Österreich im Europa der Aufklärung, Band 2, hg. von Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Wien: Verlag der ÖAW 1985, 787 – 812; Christoph Thienen-Adlerflycht, Wandlungen des österreichischen Studiensystems im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Karsten Bahnson (Hg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jahrhundert 12), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, 27 – 46. 60 Vgl. Klingenstein, Despotismus, 42 – 44; Thienen-Adlerflycht, Wandlungen, 28 – 30.
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Nation« sollte eine verbindende Staatskultur durch Erziehungsoktroi,61 ein geschlossenes und kohärentes Bildungssystem implementiert werden. Alle Bildungsinstitutionen wurden im horizontalen Sinne nach den gleichen Lehrplänen ausgerichtet. Durch die »Gleichförmigkeit« des Unterrichts, erklärte Maria Theresia, solle »eine gleiche Denkungsart aller Unterthanen und wahrer Nationalgeist gebildet« werden.62 Wie etwa Rudolf Stichweh gezeigt hat, verband sich hiermit zugleich eine Polemik gegen das jesuitische Hochschulwesen, dessen korporative und internationalistische Eigenwertigkeit zugunsten nationaler und öffentlicher Zwecksetzungen nahezu vollständig beseitigt wurde.63 Die Universitäten wandelten sich damit zu öffentlichen Lehranstalten, deren rechtliche und finanzielle Privilegien in staatliche Hände übergingen. Neben der Nationalerziehung hatten Universitäten vor allem der akademischen Berufsausbildung von Beamten, Ärzten und Priestern zu dienen. Mit Argusaugen blickte man auch hier auf die jesuitische Ordensgelehrsamkeit, die es als Signum akademischer Nutzlosigkeit aus den Hochschulen zu vertreiben galt. Es solle den »jungen Leuten« nichts mehr gelehrt werden, was man nicht zum Besten des Staates anwenden könne, lautete das berühmte Diktum Joseph II., »da die wesentlichen Studien in Universitäten für die Bildung der Staats Beamten nur dienen, nicht aber der Erziehung Gelehrter gewidmet seyn müssen«.64 Förderten die Jesuiten vornehmlich die philosophischen und theologischen Studien, verschob sich der Fokus nun auf die medizinischen und juristischen Fakultäten. Unter dem niederländischen Leibarzt Maria Theresias, Gerard van Swieten, wurde an der medizinischen Fakultät der Wiener Universität die klinische Methode eingeführt. Im Falle der juristischen Studien etablierte man neben dem Naturrecht historische, politische und kameralistische Hilfsfächer, um den zukünftigen Beamten auf die administrativen Anforderungen des Vielvölkerstaates vorzubereiten.65 Hierdurch entstand eine neuartige universitäre Wissensdynamik: Anstatt sich wie in den Jahrhunderten zuvor auf Reproduktion und Tradierung von Wissen zu beschränken, entwickelte sich nun ein synchrones Wechselspiel von
61 Thienen-Adlerflycht, Wandlungen, 29. 62 Ebd. 63 Vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, 88 – 92. 64 Zitiert nach Peter Stachel, »Ein Kapitel der intellektuellen Entwicklung in Europa …«. Theorienbildung in der Wiener Moderne und ihre Wurzeln in der Österreichischen Tradition Philosophischen Denkens im 19. Jahrhundert, in: Sonja Rinofner-Kreidl (Hg.), Zwischen Orientierung und Krise: Zum Umgang mit Wissen in der Moderne, Wien: Böhlau 1998, 111 – 176, 120. 65 Vgl. zu den Reformen: Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Wien: Carl Gerold 1854, 448 – 527.
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Wissensproduktion und -distribution.66 Mit Einrichtungen wie dem klinischen Unterricht oder der juristischen Berufsausbildung waren Relaisstationen geschaffen, mit denen neue Erfordernisse und Erkenntnisse der administrativen Praxis in theoretische und curriculare Innovationen übersetzt wurden. Zugleich stellte man das öffentliche Aufgabenprofil von Universität durch umfassende bürokratische Maßnahmen sicher : Die Professoren wurden zu staatlich alimentierten Beamten. In den Fakultäten legte man die wissenschaftliche Verantwortung in die Hände öffentlich bestellter Studiendirektoren, denen als Letztinstanz die 1761 eingerichtete Studienhofkommission vorstand. Verschiedene Instrumente trugen diese neue dirigistische Ausrichtung in den akademischen Unterricht hinein. Professoren waren verpflichtet, in ihren Vorlesungen aus approbierten Lehrbüchern vorzutragen. Das Studium selbst war entlang eines kurz getakteten Prüfungssystems von »Semestral- und Annualprüfungen« organisiert. Derartige Kontrollmechanismen dienten dem meritokratischen Umbau der staatlichen Funktionselite: Über die gesellschaftliche Rangordnung sollte nicht die Herkunft sondern die nachgewiesene Qualifikation entscheiden.67 Ein gänzlich anderes universitäres Nützlichkeitskonzept entwickelte sich im hannoverschen Göttingen. 1737 inauguriert, stieg die Göttinger Universität in wenigen Jahrzehnten zur führenden Hochschule des protestantischen Deutschlands auf.68 Dies lag sowohl an der Freizügigkeit des Unterrichts, der libertas docendi et discendi, als auch an der Internationalität der Studien. Insbesondere junge Adelige und vermögende Auswärtige strömten jährlich an die Universität, um bei Geistesgrößen wie Johann Stephan Pütter oder August Ludwig Schlözer zu studieren. Dieser Erfolg war auf das Geschick des ersten Kurators der Universität Gerlach Adolph von Münchhausen zurückzuführen, der in Anbetracht des damals krisengebeutelten Hochschulmarktes, eine neuartige ökonomistische Bildungspolitik entwickelte. Durch Berufung renommierter Professoren sollten adelige Studenten angelockt werden, um die Hochschule zu finanzieren und mit größtmöglichem Prestige auszustatten. Es sei notwendig, erklärte Münchhausen, »dass wenn die neue Academie sich für andern herfür thun soll, die Professiones denen berühmtesten und geschicktesten Männern« anzuvertrauen. 66 Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Rudolf Stichweh, Die Universität in der Wissensgesellschaft: Wissensbegriffe und Umweltbeziehungen der modernen Universität, in: Soziale Systeme, 12 (2006) 1, 33 – 53, 3. 67 Klingenstein, Despotismus, 154. 68 Vgl. zur Göttinger Universität: Charles McClelland, State, society, and university in Germany 1700 – 1914, Cambridge University Press 1980, 34 – 57; R. Steven Turner, University Reformers and Professorial Scholarship 1760 – 1806, in: Lawrence Stone (Hg.), The University in Society, Volume II, Princeton University Press 1974, 495 – 532.
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Dazu galt es, jene auszuwählen, die »einen großen Numerum Studiosorum an sich zu ziehen« vermochten.69 Bei der Auswahl der Professoren spielten weder Herkunft noch Konfession eine Rolle, sondern vornehmlich Bekanntheitsgrad und publizistischer Erfolg: In Anbetracht eines stetig wachsenden Buch- und Zeitschriftenmarktes gewann akademische Wissensproduktion an kommerzieller Relevanz.70 Der Göttinger Unterricht fokussierte sich auf juristische und philosophische Studien. Die Rechtswissenschaften waren auf die praktischen Erfordernisse moderner Staatsadministration ausgerichtet, wobei man gerade jene Rechtsbereiche forcierte, die für adelige und internationale Studenten besonders relevant waren. Die philosophischen Studien zielten weniger auf wissenschaftliche Propädeutik als vielmehr auf humanistische Elite- und Charakterbildung. Dabei ergänzte man die klassischen Humaniora durch innovative Inhalte wie Naturgeschichte oder angewandte Mathematik sowie durch spezifisch aristokratische Disziplinen wie Fechten oder Reiten.71 Organisationsprinzip des Göttinger Unterrichts war die Lehr- und Lernfreiheit. Während in öffentlichen Vorlesungen allgemeine Grundlagenwissenschaften unentgeltlich vorgetragen wurden, konnten Professoren und andere Gelehrte in Form von Privatkollegien eigene Lehrgegenstände gegen Honorar anbieten. Auf diese Weise entstand ein System von Angebot und Nachfrage, in dem die Lehrenden um Gunst und Geld der Studenten konkurrierten. Damit etablierte sich eine marktwirtschaftliche Wissenschaftsdynamik, die als Bedarfsindikator für neue Disziplinen und Methoden diente und Professoren zu verstärkter Lehrtätigkeit antrieb.72 Ökonomie und Autonomie waren in Göttingen zwei Seiten ein und derselben Medaille. William Clark hat die Göttinger Universität als Vorläufer eines »akademischen Kapitalismus« bezeichnet.73 Ähnlich urteilten die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die Göttingen als »wissenschaftliche Fabrik« oder »Handelshaus der Wissenschaften« titulierten.74 Wie Peter Burke oder Jacques Le Goff festgestellt haben, waren Universitäten immer schon Teil eines eigenen kompetitiven internationalen Marktgeschehens. In Göttingen wurde diese wissensökonomische Eigendynamik des europäischen Universitätssystems zum hoch69 Das Zitat stammt aus einer Programmschrift Münchhausens, die sich vollständig abgedruckt findet bei: Emil Rössler, Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1855, 33 – 38. 70 William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago: University of Chicago Press 2006, 374. 71 McClelland, State, 45. 72 Clark, Academic Charisma, 152 – 153. 73 Ebd., 377 – 381. 74 Ebd.
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schulpolitischen Kerngeschäft rationalisiert. Wissen betrachtete man dabei als eine Ware, deren Produktion und Distribution in kameralistischer Weise organisiert wurde. Hierin liegt die Ursache für die Freizügigkeit der Studien und die Neutralisierung der Wissenschaften. Um Prestige und Vermögen der Hochschule zu erhöhen, war es notwendig, Unterricht und Wissenschaft von unmittelbaren staatspolitischen Zwecksetzungen zu entkoppeln. Die Universitäten der Aufklärung sind in den modernen bildungspolitischen Debatten stets als wissenschaftshistorische Marginalien behandelt worden. Dies ist vor allem auf die bis heute wirksame neuhumanistische Tradition zurückzuführen, die von Anfang an ihr Ideal einer zweckfreien Bildung und Wissenschaft in deutlicher Abgrenzung zum aufklärerischen Utilitarismus formulierte.75 Mit Blick auf die gegenwärtigen Diskussionen um die Wissensgesellschaft ist hierbei dringend ein Perspektivenwechsel erforderlich: Wie die historischen Beispiele von Wien und Göttingen zeigen, hat die Aufklärung eine Fülle von Instrumenten und Problemen aufgebracht, die heutzutage eine verblüffende Reprise erleben. Dies gilt etwa für das alte, in Zeiten der josephinischen Bildungsreformen aufgebrachte System der Semestral- und Annualprüfungen, welches kolossale Ähnlichkeiten zu den heutigen Unterrichtsreformen im Zeichen von Bologna aufweist. Eine vergleichbare Parallele zeigt sich im Falle der aufklärerischen Universität in Göttingen, die im 18. Jahrhundert ein konsequent marktwirtschaftliches Hochschulmodell etablierte, das der heutigen »unternehmerischen Universität« nicht allzu fern steht. Der von Daniel Schugurensky kritisch der heutigen Universität unterstellte Gleichklang von staatlicher Kontrolle und ökonomischem Kommerz hat somit seinen historischen Vorläufer in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Die Universitäten der Aufklärung haben jedoch nicht nur ihre Parallele in den gegenwärtigen ›Auswüchsen‹ der Wissensgesellschaft. Sie stehen zugleich für eine Reihe von Werten wie öffentliche Ausbildung und wissenschaftliche Selbstbestimmung, die für unser heutiges Idealbild von akademischer Forschung und Bildung konstitutiv sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die Aberrationen und Werte der modernen Wissenschaftsgesellschaft so einfach trennen lassen, wie dies gerade in gegenwärtigen Debatten immer wieder geschieht: Für die Wiener Aufklärer bestand zwischen der kontrollierten und öffentlichen Universität ein instrumenteller Zusammenhang. Die staatliche Nutzung von Wissenschaft und akademischer Ausbildung war allein durch eine bürokratische und intervenierende Struktur zu gewährleisten. Dies wirft ein Problem auf, welches gerade in Zeiten von Bologna schlagende Ak75 In Österreich und Wien richtete man sich dabei – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird – vor allem gegen die josephinischen Bildungsreformen, während man sich an das Göttinger Autonomiemodell bewusst anlehnte und es mit einem idealistischen Anstrich versah.
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tualität besitzt. Bei aller Kritik wird immer wieder vergessen, dass das ursprüngliche Ziel der Bologna-Reformen darin bestand, durch Annäherung der Unterrichtssysteme einen gemeinsamen europäischen Bildungs- und Kulturraum zu verwirklichen. Im Rückblick auf die österreichische Aufklärung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern die öffentlichen Ansprüche an Wissenschaft und Bildung zwangsläufig mit instrumentellen Eingriffen oder Beschränkungen ›erkauft‹ werden müssen. Wieviel Bürokratie und Kontrolle erfordert und verträgt die öffentliche Universität? Eine ähnliche Frage lässt sich anhand des Göttinger Hochschulmodells formulieren: Für die norddeutschen Aufklärer war die Lehr- und Lernfreiheit kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die kognitive und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Universität zu erhöhen. Ökonomie und Autonomie bildeten einen Funktionszusammenhang. In Österreich ist man heute mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert: Mit der Anerkennung der Vollrechtsfähigkeit durch das Universitätsgesetz von 2002 wurden die österreichischen Hochschulen nicht nur in ihren wissenschaftlichen und korporativen Selbstbestimmungsmöglichkeiten gestärkt, sondern zugleich auch ökonomisch in die Verantwortung genommen und nach den Methoden des New Public Management umstrukturiert. Von Seiten der Kritiker hat man hierbei von einem »neoliberalen Umbau« gesprochen,76 was ein grundlegendes Problem offenbart: Die moderne Universität, die seit Göttingen und der norddeutschen Aufklärung ihr Autonomieideal von sich frei entfaltender Forschung und Lehre herleitet, ist heute mehr denn je mit der Herausforderung konfrontiert, dass eben jene Bereiche in wachsendem Maße einem nationalen und internationalen Marktgeschehen unterworfen sind. Wieviel Kapitalismus und unternehmerische Handhabe erfordert und verträgt die autonome Universität?
3.
Die ökonomischen Wurzeln der modernen österreichischen Universität
Mit Blick auf die zunehmende Konkurrenz um Drittmittel und öffentliche Fördergelder ist heute vielfach von einer »Ökonomisierung« oder »Kommerzialisierung« der Hochschulen die Rede. Als Gegengift wird dabei immer wieder die humboldtsche Idee der Universität beschworen. Mit seinen Forderungen nach »Einsamkeit und Freiheit« der Forschung, nach einer zweckfreien Bildung und Wissenschaft erscheint Humboldt als Paladin gegen den kapitalistischen 76 Zitiert nach: Martin Haselwanter, Gesellschaft – Bildung – Protest: Studentischer Aktionismus in Zeiten der Instrumentalisierung von Bildung: unibrennt!, Bremen: Wiener Verlag für Sozialforschung 2014, 66.
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Zahn der Zeit. Dieser humboldtsche Reflex hat auch in Österreich seit Längerem Hochkonjunktur. So erklärte 1991 der damalige Wiener Rektor und Altgermanist Alfred Ebenbauer »die idealistischen Grundsätze der Humboldtschen Universität« zur zentralen hochschulpolitischen Orientierungsmarke: »Die Tradition des deutschen Idealismus muss mehr sein als die Begleitmusik zu wirtschaftsliberalen Imperativen, wie sie heute an die Universitäten gestellt werden«.77 Was Auffassungen wie diese problematisch macht, ist weniger der bildungsidealistische Standpunkt selbst, als vielmehr das dahinterliegende historische Narrativ. Spricht man heute von humboldtscher Universität, meint man damit eine reale Institution. Wilhelm von Humboldt gilt als Urheber der modernen deutschen Universität, wie sie von Berlin aus, am Beginn des 19. Jahrhunderts vermeintlich organisiert worden war. Humboldtsche Prinzipien wie etwa die Einheit von Forschung und Lehre sind somit mehr als utopische Ideale. Sie werden als faktisches Programm der modernen Universitätstradition verstanden. Ein Großteil der gegenwärtigen Kritiken an der Ökonomisierung der Hochschulen basiert auf diesem Narrativ : Im wachsenden Wettbewerb um symbolisches und ökonomisches Kapital sieht man eine Gefährdung der programmatischen Identität einer gut zweihundertjährigen Bildungsentwicklung. Wie Sylvia Paletschek herausgearbeitet hat, sind diese Generalisierungen historisch nicht tragfähig.78 Die humboldtsche Universität ist eine invented tradition, eine Erfindung der deutschen Bildungsphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts. Ausgehend von Repräsentanten des »Dritten Humanismus« wurden die idealistischen Programmatiken im Umfeld von Humboldt und der Berliner Universität zu einer Meistererzählung kompiliert und der modernen Hochschule in die Wiege gelegt. Als Realtypus hat es die humboldtsche Universität jedoch nie gegeben: »Die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts kannten ihn nicht, und sie sahen auch in der Gründung der Universität Berlin keine Zäsur in der Universitätsentwicklung«.79 Die Mythisierung Humboldts wies der modernen deutschen Universität einen zeitlosen Charakter zu, der ihre realhistorische
77 Die Rede von Ebenbauer findet sich in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Universität Wien für die Studienjahre 1991/92 und 1992/93 (Wiener Universitätsreden Neue Folge 2), hg. vom Archiv der Universität Wien, Wien: Selbstverlag 1992, hier 27. 78 Vgl. Sylvia Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), 183 – 205; dies., Verbreitete sich ein ›Humboldt’sches Modell‹ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt international: der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel: Schwabe 2001, 75 – 104. 79 Paletschek, Erfindung, 184.
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Entstehung überschrieb und vernebelte.80 Diese Ideenpolitik ist bis heute wirksam geblieben, wie sich am Beispiel der österreichischen Hochschulgeschichte zeigen lässt. Die moderne österreichische Universität hat ihre Wurzeln in den Bildungsreformen des mittleren 19. Jahrhunderts. Mit der Revolution von 1848 setzte ein Reformprozess ein, mit dem das alte Studienwesen des Vormärz abgeschafft und nach deutschem Vorbild reorganisiert wurde. Die Forschung hat diese Entwicklung bis heute mit Humboldt in Verbindung gebracht. So spricht etwa der renommierte Wissenschaftshistoriker Walter Höflechner von »weitgehend nach dem Humboldtschen Modell reformierten Universitäten«.81 Mit Blick auf historische Quellen führen derartige Ex-post-Zuschreibungen jedoch in die Irre. Die Anlehnung an das deutsche Universitätswesen geschah nicht aus idealistischen Motiven. Wie der Reformer der ersten Jahre Franz Exner in seinem berühmten Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Österreich (1848) beschreibt, hatten die »deutschen Universitäten zum Vorbilde gedient, sowohl weil sie die bewährtesten sind, als auch weil der künftige Wechselverkehr« es fordere.82 Mit den Reformen versuchte man, Österreich aus seiner Sonderrolle zu befreien und gegenüber dem deutschen Universitätswesen wettbewerbsfähig zu machen. Der Reorganisation lag ein dreifaches Aufgabenprofil zugrunde: Die neustrukturierte Universität sollte zur »Pflege der Wissenschaft«, zur fachwissenschaftlichen Ausbildung von Staatsdienern sowie einer allgemeinen »gelehrten Bildung« dienen.83 Übergeordnetes Prinzip der Studienorganisation war die bereits im März 1848 eingeführte Lern- und Lehrfreiheit, die als Grundlage des akademischen Bildungscharakters und als universitäres Autonomieideal begriffen wurde. Mit Blick auf die damalige Literatur findet man keinen dieser Reformaspekte mit Humboldt oder der Berliner Universität als Institution identifiziert. Die historischen Genealogien verliefen vielmehr anders: Wie bereits dargestellt, entwickelte sich das Konzept der Lernund Lehrfreiheit zunächst im Umfeld der norddeutschen Aufklärung, an der Universität Göttingen. Ähnliches gilt für ein zweites Instrument, auf welches man im Rahmen der österreichischen Unterrichtsreformen des mittleren 19. Jahrhunderts zurückgriff: das »Kollegiengeld«. Auch mit der Einführung des Kollegiengelds orientierte man sich am deut80 Vgl. Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt: Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien: Böhlau 1999. 81 Walter Höflechner, Österreich: eine verspätete Wissenschaftsnation?, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 1, Wien: Passagen Verlag 1999, 93 – 114, 96. 82 Franz Serafin Exner, Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Österreich, Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1848, 4. 83 Ebd., 11.
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schen Vorbild, wo im Zuge des 19. Jahrhunderts diesbezüglich ein allgemeines Universitätsrecht etabliert worden war.84 Die historischen Wurzeln des Kollegiengeldes lagen jedoch noch weiter zurück: In der Frühen Neuzeit waren neben den offiziellen Vorlesungen sogenannte »Privatcollegien« entstanden, in denen außerhalb des universitären Rahmens Vertiefungen der regulären Studieninhalte geboten wurden. Der Unterricht fand gegen Honorar im Haushalt des akademischen Lehrers statt.85 Im Zuge des 18. Jahrhunderts wurden die Privatkollegien in den universitären Unterricht integriert, wobei der Universität Göttingen eine Vorreiterrolle zukam.86 Den Zeitgenossen galt Göttingen nicht allein als Referenzmodell der Lern- und Lehrfreiheit, sondern zugleich als Pionier einer äußerst umtriebigen Wissenschaftsökonomie. In der Institution der Privatkollegien fanden beide Aspekte zusammen. Während die Göttinger Professoren in öffentlichen Vorlesungen die allgemeinen Lehrgegenstände unentgeltlich präsentierten, konnten sie in den Privatkollegien gegen Honorar ihren Unterricht frei gestalten. Höhe und Umfang der Kollegienhonorare orientierten sich an der studentischen Nachfrage.87 Auf diese Weise entstand ein Wettbewerbssystem, in dem Professoren und Disziplinen miteinander konkurrierten. In einem zeitgenössischen Göttinger Traktat, welches aus Sicht des Göttinger Universitätskurators Adolph von Münchhausen verfasst ist, finden sich Eigennutz und Konkurrenzdenken als zentrale psychologische Momente, um die Bedeutsamkeit und Sichtbarkeit der Hochschule zu steigern:88 »Eigenes Interesse, Aemulation, Brodneid – alles muss dazu gebraucht werden, die Akademie auf die Stufe des Ruhmes zu bringen«.89 Als entscheidenden ökonomischen Hebel berief man sich auf das Kollegiengeld: »Zum Besten der Universität« seien die Kollegien niemals »gratis zu lesen«, da ansonsten der »große Bewegungsgrund alles anzustrengen, um sich Beyfall der Zuhörer zu erwerben«, wegfiele.90 Mit seinem universitären Nachfrage-Modell stand Göttingen in Europa nicht alleine: An der Hochschule in Edinburgh etwa hatte sich ein Großteil der dor-
84 Vgl. Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte 239, 2), Wien: Böhlau 1962, 38. 85 Vgl. Jastrow, Geschichte der Kollegiengelder, 2; sowie: Die akademische Laufbahn und ihre ökonomische Regelung. Ein Wort an die Regierung und an die Volksvertretung, Berlin: Dümmlers Verlagsbuchhandlung 1895. 86 Vgl. Jastrow, Geschichte der Kollegiengelder, 4. 87 Vgl. Clark, Academic Charisma, 152. 88 Das Traktat findet sich in einer Quellensammlung des Historikers Emil Rössler unter dem Titel: Bemerkungen über Johann Jacob Mosers Rede, in: Emil F. Rössler, Die Gründung der Universität Wien. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1855, 468 – 486. 89 Ebd., 472. 90 Ebd., 476.
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tigen Professoren sogar ausschließlich aus Kollegiengeldern zu finanzieren.91 In seinem Wealth of Nations (1776) hat Adam Smith dieser Regelung ein eigenes Kapitel gewidmet.92 Für Smith war das Kollegiengeld ein ideales Instrument, um die staatlichen Bildungsausgaben niedrig zu halten sowie die Professoren zu hochwertiger Lehre anzutreiben. So plädierte er gegen eine rein staatliche Alimentierung der Professoren, da hierbei im Unterschied zum Kollegienhonorar die jeweiligen Eigeninteressen im krassen Gegensatz zu den geforderten Lehrverpflichtungen treten würden: »Denn der Mensch ist bestrebt, sich das Leben so angenehm und bequem zu machen, wie er nur kann, und sind seine Bezüge wirklich dieselben, ganz gleich, ob er sich besonders anstrengt oder nicht, so liegt es sicherlich in seinem Interesse […], seine Pflichten ganz und gar zu vernachlässigen«.93
Das Kollegiengeld war eine hochschulpolitische ›unsichtbare Hand‹, ein ökonomisches Vehikel, die egoistischen Motive des Gelehrten zum Wohle der res publica litterarum zu nutzen. Ausgehend von den protestantischen Universitäten der Aufklärung wurde das akademische Honorarwesen im Zuge der Bildungsreformen des mittleren 19. Jahrhunderts auch in Österreich eingeführt: Auf Initiative des Reformministers Leo von Thun schaffte man am 12. Juli 1850 das seit dem Vormärz geltende allgemeine Studiengeld ab und ersetzte es durch die Einrichtung des »Collegiengeldes«.94 Anstatt wie bislang eine Pauschale für jedes Semester aufzubringen, mussten die Studenten nun die von ihnen besuchten Lehrveranstaltungen einzeln bezahlen.95 In sozialen Härtefällen gab es Befreiungsmöglichkeiten. Im Unterschied zum Studiengeld war das Kollegiengeld ein Honorar, welches an die Lehrenden entrichtet werden musste. Während sich Privatdozenten und titulierte Extraordinarien allein aus den Honoraren zu finanzieren hatten, lieferte das Kollegiengeld für die weiterhin staatlich alimentierten Professoren eine lukrative Nebeneinnahme.96 Daneben waren sie verpflichtet, in jedem dritten Semester eine 91 Vgl. J. B. Morrell, Medicine and Science in the Eighteenth Century, in: Gordon Donaldson (Hg.), Four Centuries: Edinburgh University Life 1583 – 1983, Edinburgh: University of Edinburgh Press 1983, 38 – 52, 41 – 42. 92 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München: DTV 1978, 645 – 650. 93 Ebd., 646. 94 Die Verordnung ist publiziert im Reichgesetzblatt unter dem Titel: Verordnung des Ministers des Cultus und Unterrichts vom 12. 7. 1850, über die Einführung der Collegiengelder an den Universitäten Wien, Prag, Pesth, Lemberg, Krakau, Olmütz, Graz und Innsbruck, Nr. 310: URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb& datum=1850& page=1392& size=45 (abgerufen am 20. 9. 2014). 95 Das Studiengeld belief sich auf 30 Gulden pro Semester. Das Kollegiengeld betrug 1 Gulden pro Semesterwochenstunde. 96 Wie der spätere Unterrichtsminister Karl Lemayer beschreibt, konnte ein gutgestellter Ordinarius an einer großen Universität wie Wien bis zu 9.000 Gulden im Jahr an Honorar-
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unentgeltliche Vorlesung zu halten. Dies stellte die Finanzierung des Unterrichts sowie das akademische Sozialgefüge auf fundamental neue Füße. In zwei Vorträgen hatte Thun hierzu die argumentativen Grundlagen geschaffen.97 Ähnlich wie die Aufklärer in Göttingen und Edinburgh betrachtete er das Kollegiengeld als notwendige Voraussetzung einer freizügigen Unterrichtsgestaltung. Dies war auch der österreichischen Situation geschuldet. Mit der Einführung der Lehr- und Lernfreiheit hatte man fast sämtliche Prinzipien des absolutistischen Studienwesens ad acta gelegt. Sowohl die ungeliebten Semestral- und Annual-Prüfungen als auch die verhassten Studiendirektorate und Lehrbuchzwänge waren verschwunden. Dies verlangte nach einem neuen organisatorischen Rationale. Das Kollegiengeld galt hierbei als zentraler Baustein. In Bezug auf die Lernfreiheit sah Thun durch eine Unentgeltlichkeit des Unterrichts die Effizienz des Studiums gefährdet. Kostenlose Lehre verleite zur Geringschätzung des Lehrenden und zu regellosem Studieren, während der kostenpflichtige Unterricht »höher geachtet, fleißiger besucht, und ernstlicher benützt« werde.98 Gegenüber dem vormaligen Unterrichtsdirigismus fungierte das neue Honorarwesen als ökonomisches Surrogat: Während man im Vormärz den Erfolg des Studiums durch ein überbordendes Prüfungswesen kontrollierte, appellierte man nun an den wirtschaftlichen Eigensinn der Studenten. Mit der Lernfreiheit internalisierte sich der disziplinarische Zwang zur studentischen Selbstdisziplinierung. Das Kollegiengeld, so Thun, solle den Studenten dazu anleiten, »die Lernfreiheit selbst benutzen zu lernen«.99 Einer ähnlichen Argumentation folgte Thun in Hinblick auf die akademische Lehre: Eine »wirksame Lehrfreiheit« war ohne Privatdozenten nicht denkbar. Da diese sich ausschließlich aus Honoraren finanzierten, musste man das Kollegiengeld für alle Lehrenden verbindlich machen: Wenn »alle wichtigeren Collegien von den angestellten ordentlichen und außerordentlichen Professoren unentgeltlich gelesen werden, [seien] den Privatdocenten die Bedingungen ihrer Existenz entzogen«.100 Zugleich galt es, durch die Kollegienhonorare die Pro-
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einkünften erzielen, was sein reguläres Gehalt in etwa vervierfachte. Vgl. Karl Lemayer, Die Verwaltung der Österreichischen Hochschulen von 1868 – 1877, Wien: Alfred Hölder 1878, 55. Der Allerunterthänigste Vortrag über Studienordnung, Disciplinarordnung und Einführung von Collegiengeldern vom 30. 9. 1849 ist publiziert im Reichsgesetzblatt (RGBl.) (1849), als 3. Beilage zur Nr. 416, 753 – 756; online einzusehen unter : http://alex.onb.ac.at/ cgi-content/alex?aid=rgb& datum=1849& size=45& page=897 (abgerufen am 20. 9. 2014); der Allerunterthänigste Vortrag mit welchem der Entwurf einer Vorschrift über die Einführung von Collegiengeldern an den Universitäten zu Wien, Prag, Pesth, Lemberg, Krakau, Olmütz, Graz und Innsbruck zur Allerhöchsten Sanktion vorgelegt wird vom 20. Juni, findet sich abgedruckt in der Wiener Zeitung, 3. 8. 1850, 2336 – 2337. Thun, RGBl., 755. Thun, Wiener Zeitung, 2337. Thun, RGBl., 754.
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fessoren zu »gesteigerter Thätigkeit« anzuspornen.101 »Ohne die geistige Concurrenz der Universitätslehrer« sei die Lehrfreiheit sinnlos.102 Das Kollegiengeld war somit Anreiz- und Wettbewerbssystem zugleich, was der Förderung und Pflege der universitären Wissenschaft zu Gute kommen sollte: »Die pekuniäre Stellung der Professoren nach diesem mit ihrem lehrämtlichen Erfolge sich steigernden Maßstabe zu verbessern, kann nur als ein Gewinn für die Wissenschaft angesehen werden«.103 Der Konkurrenzgedanke spiegelte sich auch in internationaler Hinsicht: Zentrale Agenda der Reformen war die Angliederung an das deutsche Universitätswesen, wo das Honorarsystem seit Jahrzehnten praktiziert wurde. Wollte man den Exodus heimischer Lehrkräfte verhindern und Berufungen »ausgezeichneter Männer« aus dem Ausland fördern, musste man auch hier Schritt halten.104 Derartige Argumente zielten letztlich auf die Begründung einer neuen Personalpolitik, die von der Ebene der Privatdozenten bis zur Anwerbung von Spitzenkräften nach marktökonomischen Kriterien organisiert war. Durch Konkurrenzgeist und Eigennutz hoffte man, den hegemonialen Bildungsetatismus aus den Universitäten zu vertreiben. In den Jahrzehnten nach den Hochschulreformen wurde das Kollegiengeld immer wieder von politischer und öffentlicher Seite in Zweifel gezogen. Diese Kritik gipfelte in einer Initiative des deutschliberalen Parlamentariers Josef Kopp, der am 27. Januar 1875 im Abgeordnetenhaus den Antrag stellte,105 den »Bezug von Collegiengeldern seitens der ordentlichen und ausserordentlichen Professoren an den österreichischen Universitäten« aufzuheben und stattdessen für die weltlichen Fakultäten ein »mässiges Unterrichtsgeld« einzuführen.106 Kopp charakterisiert das Kollegiengeld als Relikt eines vormodernen »Sportelwesens«, dessen vollständige Beseitigung ein Ziel des gegenwärtigen »Staatslebens« sei. Genau wie man nicht weiter Privatzahlungen an Polizisten oder Richter dulde, sei es »Sache des Staates diejenigen zu bezahlen, welche er als Lehrer des Volkes bestellt«.107 Dahinter steckte der Versuch, Professoren zu re101 102 103 104 105
Ebd., 755. Thun, Wiener Zeitung, 2336. Ebd. Thun, RGBl., 755. Die Geschichte des Antrags von Kopp sowie den Verlauf der Debatte berichtet ausführlich die anonyme Programmschrift: Die Universitäten Österreichs und die Collegiengelderfrage, Wien: Pichlers 1889, 97 – 139; zudem finden sich einige Bemerkungen bei Lemayer, Die Verwaltung der Österreichischen Hochschulen, 91 – 94. 106 Der Antrag findet sich unter der Nummer 283 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, VIII. Session, online abrufbar über den Server der Österreichischen Nationalbibliothek, URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid= spa& datum=0008& size=45& teil=0026& page=18875 (abgerufen am 20. 9. 2014). 107 Stenographische Protokolle. Haus der Abgeordneten. VIII. Session, 106. Sitzung, am 1. 2. 1875, 3770 – 3771; http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=spa& datum=0008& si ze=45& page=4715 (abgerufen am 20. 9. 2014).
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gulären Beamten zu machen. Dies entsprach der legalistischen Emphase der damaligen liberalen Ära, unterschätzte allerdings das Standesbewusstsein der Universitäten kolossal. In den Wochen und Monaten nach dem Antrag organisierte sich unter den Wiener Professoren ein nahezu geschlossener Widerstand. Unter dem Titel Lehrfreiheit, Wissenschaft und Collegiengeld (1875) verfasste der Nationalökonom und Sozialwissenschaftler Lorenz von Stein eigens ein Verteidigungsmanifest.108 Durch den Antrag von Kopp sah er nichts weniger als »die gesammte, höchste, wissenschaftliche Bildung der Zukunft Österreichs bedroht«.109 Für Stein beruhte der Versuch, die Professoren vollends in den Beamtenstand einzugliedern, auf einem fundamentalen Missverständnis: Einerseits war der Professor ein regulärer Staatsdiener, der als Lehrer und Wissenschaftler gewisse Eignungen und Pflichten nachzuweisen hatte. Dafür wurde er staatlich alimentiert: Das »Lehrfach ist ein Amt, und weil es ein Amt ist, soll es einen Gehalt haben«.110 Andererseits erforderte gerade der wissenschaftliche Unterricht im Sinne der Lehrfreiheit den Einsatz der gesamten Persönlichkeit, um in »der Heiligkeit der Individualität« die Lehrgegenstände zum Bildungsgut zu verlebendigen.111 Derartige hermeneutische Qualitäten verlangten über das amtliche Gehalt hinaus einen eigenen wirtschaftlichen Anreiz: Durch die Kollegienhonorare wurden die Professoren angetrieben, aus ihrem Unterricht nicht »eine Amtsstunde« sondern einen »nie ganz erschöpften sittlichen Beruf« zu machen.112 Das akademische Lehramt war somit eine Doppelnatur aus staatlicher Funktion und ethischer Berufung, was in den Modalitäten der Entlohnung seine materiellen Grundlagen hatte: Das Gehalt, so Stein, sei »der Ersatz für die amtliche, das Honorar der Ersatz für die ethische Leistung des Professors«.113 In Steins Apologie des Kollegiengeldes verband sich das aus Göttingen und Edinburgh stammende Konkurrenz- und Eigennutz-Motiv mit einer neuhumanistischen und bildungsidealistischen Perspektive. Die programmatischen Ziele der modernen Universität, etwa die Einheit von Forschung und Lehre, hatten für Stein ihre Grundlagen im ökonomischen Wettbewerb. Mit dieser Auffassung stand er damals nicht allein: »Man kann sehr ideale Ziele vor Augen haben und doch daneben den lebhaften Wunsch hegen, für die besondere Qualität […] seiner Arbeitsleistung auch materielle Erfolge zu erringen«,114 108 109 110 111 112 113 114
Lorenz von Stein, Lehrfreiheit, Wissenschaft und Collegiengeld, Wien: Alfred Hölder 1875. Ebd., 3. Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 23. Ebd., 24. Theodor Billroth, Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation, Wien: Carl Gerold’s Sohn 1875, 382.
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schrieb etwa der Mediziner Theodor Billroth in seinem damaligen Lagebericht Über das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation.115 Anders als Stein ging es ihm weniger um die Förderung des humanistischen Charakters von Universität als vielmehr um deren wachsende nationale Bedeutung. In Anbetracht der hochschulpolitischen Annäherung an Deutschland sah Billroth den österreichischen Universitätslehrer im Konkurrenzkampf »mit allen Collegen seines Faches an allen deutschen Universitäten«.116 Daher sei es nur gerecht, wenn gerade Professoren, die als »Magneten für die Jugend« deutsche und ausländische Studenten an die heimischen Fakultäten lockten und damit zum Stolz ihres »engeren Vaterlandes« beitrugen, einen »persönlichen Vortheil« hätten.117 Das Kollegiengeld war im Sinne Billroths eine Prämie für die nationale und internationale Strahlkraft akademischer Lehrer. Auf Seiten der Befürworter befand sich auch der Zivilrechtler und nunmehrige Minister Joseph Unger, der als Mitbegründer der modernen österreichischen Rechtslehre die Einrichtung des Kollegiengeldes bereits in den 1850er Jahren gegenüber konservativen Anfechtungen verteidigt hatte.118 In einer damals vielbeachteten Rede im Abgeordnetenhaus nahm er den alten Faden wieder auf:119 Für Unger lag das Ideal des österreichischen Unterrichtssystems, wie es durch die Hochschulreformen entstanden war, in der »freien Concurrenz« einer sich »auch materiell lohnenden und belohnenden Lehrtätigkeit«.120 Damit war nicht so sehr der persönliche oder finanzielle Wettkampf unter den Professoren angesprochen, als vielmehr ein »Wettstreit der Meinungen«, der Lehren und Doktrinen. Im bildungsevolutionistischen Sinne bezeichnete Unger das Kollegiengeld als einen »natürliche[n] Regulator«, welcher in einer »spontanen, naturgemäßen Specialisierung der Lehrgegenstände und des gesammten Lehrstoffes« resultiere.121 Mit ihren neuhumanistischen, nationalistischen und darwinistischen Verteidigungen des akademischen Honorarwesens konnten sich die Professoren letztlich durchsetzen. Der Gesetzesantrag von Kopp wurde mit großer Mehrheit 115 Die Arbeit enthält ein ausführliches Kapitel zum Kollegiengeld, das sich klar auf die damalige Debatte bezieht: Billroth, Lehren und Lernen, 378 – 391. 116 Ebd., 383. 117 Ebd. 118 Vgl. hierzu: Joseph Unger, Die Universitätsfrage in Österreich. Beleuchtet vom Standpunkt der Lehr- und Lernfreiheit, Wien: Carl Gerold & Sohn 1853. 119 Rede und Debatte finden sich vollständig abgedruckt im Stenographischen Protokoll. Haus der Abgeordneten: VIII. Session, 176. und 177. Sitzung, vom 25. und 28. Jänner 1876, 6073 – 6097, 6102 – 6128. Die Protokolle finden sich online unter : http://alex.onb.ac.at/spa.htm (abgerufen am 20. 09. 2014). 120 Stenographisches Protokoll, 6104. 121 Ebd.
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abgelehnt. Das Kollegiengeld blieb erhalten. Nach einer Vielzahl von Modifikationen sollte es erst hundert Jahre später, im Rahmen der sozialdemokratischen Unterrichtsreformen der frühen 1970er Jahre endgültig abgeschafft werden.122 Die Kollegienhonorare galten nun als Hindernis für einen offenen Hochschulzugang. Damit war schließlich eine Institution zu Grabe getragen, der gerade in der Formationsphase der modernen österreichischen Universität eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Anders als es die heutigen, durch Humboldt geprägten Narrative nahe legen, bestand für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts zwischen Autonomie und Ökonomie ein fundamentaler Zusammenhang. Dies galt besonders für Österreich, wo man im Zuge der damaligen Hochschulreformen mit dem Problem konfrontiert war, ein effektives Unterrichtswesen ohne die vorherigen Studienzwänge zu organisieren. Für Politiker und Professoren wie Thun, Stein oder Unger war eine gelingende Lehr- und Lernfreiheit ohne ein ökonomisch fundiertes Anreiz- und Konkurrenzsystem schlichtweg undenkbar. Mit Blick auf die heutigen Debatten liefert die Universität des 19. Jahrhunderts somit weder realtypisch noch idealtypisch einen historischen Schutzraum vor den »wirtschaftsliberalen Imperativen« des gegenwärtigen akademischen Wettbewerbs. Sie hat diesen vielmehr selbst mit hervorgebracht.123 122 Die Abschaffung des Kollegiengeldes wurde durch die Regierungsvorlage vom 28. 12. 1971 in Gang gesetzt und durch das Hochschul-Taxengesetz von 1972 endgültig vollzogen. Bundesgesetz vom 15. 2. 1972 über die an wissenschaftlichen Hochschulen, Kunsthochschulen und der Akademie der bildenden Künste in Wien zu entrichtenden Taxen, Bundesgesetzblatt Nr. 76. 123 Natürlich verstehen wir heute unter »Ökonomisierung« und »Kommerzialisierung« der Universitäten vielfach etwas anderes als die Freihandelslogik der Bildungsreformer des 18. und 19. Jahrhunderts. Wo man damals mit Hilfe des Kollegiengeldes ein innerakademisches Wettbewerbssystem zu implementieren versuchte, geht es heute vor allem um die marktund volkswirtschaftliche Relevanz von Forschung und Lehre sowie den steigenden Konkurrenzkampf um Drittmittel und öffentliche Fördergelder. Diese Differenzen sollen keinesfalls unter den Tisch gekehrt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Episode über das akademische Honorarwesen zielt zum einen gegen die notorischen Idealisierungen der liberalen Universität des 19. Jahrhunderts, die sowohl eine angemessene historische Reflexion erschweren als auch mit Blick auf die gegenwärtigen Debatten um die Wissensgesellschaft ein ›wirtschaftsfernes‹ Refugium vorgaukeln, in dem ökonomische Faktoren wie Angebot und Nachfrage oder persönlicher Eigennutz keine Rolle gespielt hätten: Die moderne Hochschulautonomie, wie sie als Lern- und Lehrfreiheit im Rahmen der norddeutschen Aufklärung entwickelt wurde, basiert auf einem (wissenschafts-)ökonomischen Modell. Zum anderen offenbart sich gerade in der historischen Differenz zur gegenwärtigen Situation eine grundlegende Problematik: Die heutige Universität ist im Kern in zwei verschiedene wirtschaftliche Zusammenhänge eingespannt: Während innerhalb der Forschung mittlerweile ein internationaler Wettbewerb regiert, versucht man die ökonomische Verwertbarkeit im Bereich der Lehre vor allem auf bürokratischem Wege, durch eine stärkere Berufsorientierung und Kontrolle der Curricula herzustellen. Das bereits im Kapitel 2 über die aufklärerischen Reformen in Göttingen und Wien angedeutete Dilemma
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Einheit und Hegemonie der Universität
Ein weiterer diskursiver ›Dauerbrenner‹ der Debatte um die Wissensgesellschaft ist neben Problemen der Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit vor allem die Frage der Einheit der Universität. Seit Humboldt sind damit im Wesentlichen zwei Dinge gemeint: Zum einen bezieht man sich hierbei auf die Universität als Einheit der Wissenschaften, als sogenannte »Volluniversität«, in der sämtliche systematischen, theoretischen und experimentellen Formen der Wissensproduktion repräsentativ zusammen kommen. Zum anderen ist hiermit die Einheit von Forschung und Lehre gemeint, die als Garant wissenschaftlicher Bildung die Universität mit ihren Fakultäten und Disziplinen im Inneren zusammenhält. Hinter beiden Aspekten verbirgt sich ein gemeinsamer Monopol- und Hegemonieanspruch: Als Einheit der Wissenschaften sowie durch die Verbindung von Forschung und Lehre scheint die Universität gegenüber allen anderen Formen der Wissensproduktion und -distribution in einem exzeptionellen Sinne ausgezeichnet. In der klassischen und rezenten Literatur zur Wissensgesellschaft wurde dieser vermeintliche universitäre Monopolcharakter ausgiebig problematisiert und in Hinblick auf die sozioökonomischen und kognitiven Entwicklungen des späten 20. Jahrhunderts verstärkt in Zweifel gezogen. Mit Blick auf die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Wissen hat etwa Peter Drucker Ende der 1960er Jahre dem notorischen Alleinvertretungsanspruch von Universität eine deutliche Absage erteilt: »Similarly it is incompatible with the nature of knowledge, as well as with the demands of society, to give any knowledge institution a monopoly position«.124 Für Drucker liegen gerade die Anwendungspotentiale von Wissenschaft in der Entkopplung von ihren jeweiligen institutionellen Entstehungsbedingungen. Die moderne Wissensgesellschaft, so schreibt er, »needs people who can put knowledge to work rather than people who are prisoners of discipline or method«.125 In diesem Zusammenhang haben Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons von einer »Deinstitutionalisierung« von Wissenschaft gesprochen, deren Produktion und Reproduktion sich immer näher an ihre spezifischen Nutzungskontexte angliedert.126 Einen deutlichen Beleg sehen sie im Zuwachs außeruniversitärer Bildungs- und Forerlebt hierbei eine moderne, ins Neoliberale gewendete Reprise: Kann die Universität autonom und öffentlich zugleich sein, kann sie zugleich als unternehmerischer Akteur (im Bereich der Forschung) sowie als zentrales volkswirtschaftliches Instrument (im Bereich der Bildung) fungieren? Über derartige Fragen lohnt es sich jenseits der ausgetretenen Argumentationspfade gegenwärtiger Bildungsdebatten nachzudenken. 124 Drucker, Age of Discontinuity, 335. 125 Ebd. 334. 126 Nowotny/Scott/ Gibbons, Wissenschaft neu denken, 119 – 121.
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schungsinstitutionen, die gewissermaßen von zwei Seiten der »wissenschaftlichen Hegemonie der Universität« das Wasser abgraben:127 »Die Grenzen zwischen der Universität und anderen Bereichen des tertiären Bildungssektors wie auch anderen Teilen des Systems von Forschung und Entwicklung sind unaufhaltsam erodiert. Obwohl sich diese neue Entwicklung hinter den […] organisatorischen Kontinuitäten der Universität verbarg, sind ihre Kernaktivitäten und ihre Selbstdefinitionen möglicherweise zutiefst kompromittiert worden«.128
Mit anderen Worten: Durch die verschärfte Konkurrenz in Bildung und Forschung ist auch die Einheit der Universität und damit ihr akademischer Markenkern selbst zur Disposition gestellt: Angesichts der wachsenden Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Anwendungsorientierung von Wissenschaft und Bildung erscheinen die universitären Ideen von Einheit der Wissenschaft sowie Einheit der Forschung und Lehre als gleichermaßen fragwürdig und hinderlich. Von universitärer Seite hat man auf diese Herausforderungen der Wissensgesellschaft mit wachsender Besorgnis reagiert: »Nichts könnte für die Universitäten gefährlicher werden«, erklärte etwa der Wiener Rektor Georg Winckler in seiner Inaugurationsrede aus dem Jahre 2000, »als die gesellschaftlichen Umschichtungen in Richtung Wissensgesellschaft nicht wahrzunehmen, die mit zunehmender Konkurrenz im Forschungssektor und im tertiären Bildungssektor verbunden ist«.129 Eine ähnliche Problemlage artikulierten vor einigen Jahren die Veranstalter des Österreichischen Wissenschaftstages: »Wir wollen nicht verschweigen, dass die Universität von anderen Einrichtungen höherer Bildung sowie von privaten und industriellen Forschungsstätten zusehends unter Druck gerät«.130 Den unmittelbaren Kontext zu diesen Aussagen liefert die Entwicklung der letzten 25 Jahre: 1993 wurde per Gesetz in Österreich das Fachhochschulwesen eingeführt.131 2001 beschloss man die Möglichkeit zur Akkreditierung von Privatuniversitäten. Zudem ist seitdem eine Vielzahl an öffentlichen und industriell geförderten Forschungsinstitutionen entstanden, die im Kampf um Drittmittel und staatliche Fördergelder mit den Universitäten direkt konkurrieren.132 All dies hat zweifelsohne zu einer gewissen Resignation 127 128 129 130
Ebd., 107. Ebd., 106. Winckler, Zukunft der Universität, 15. Zitiert nach: Margret Wintermantel, Die Universität als zentraler Ort der Wissenschaften, in: Gottfried Magerl/Heinrich Schmidinger (Hg.), Einheit und Freiheit der Wissenschaft – Idee und Wirklichkeit, Wien: Böhlau 2008, 89 – 95, 89. 131 Vgl. Reinhold Popp/Elmar Schüll (Hg.), FH2030 – zur Zukunft der österreichischen Fachhochschulen, Wien: Lit-Verlag 2013. 132 Für einen Überblick über das gegenwärtige Panorama österreichischer Wissenschaft vgl. etwa die Broschüre des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft: Wis-
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und Reflexhaftigkeit geführt, welche von universitärer Seite die Debatte um die Wissensgesellschaft bis heute begleitet. Mit Blick auf die Universitätsgeschichte lassen sich derartige Ängste ein Stück weit relativieren: Betrachtet man die europäische und österreichische Hochschulentwicklung, so hat es die bis heute vielfach beschworene oder resignativ betrauerte Vorrangstellung der Universität de facto nie gegeben. Seit ihrer Entstehung im Mittelalter konnten europäische Universitäten zu keiner Zeit ein umfassendes Monopol auf Höhere Bildung und Wissenschaft beanspruchen. Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich etwa im deutschsprachigen Bereich sogenannte Militär- und Ritterakademien etabliert, die als eigenständige Bildungsinstitutionen für den Adel und das gehobene Bürgertum den Universitäten den Rang streitig machten.133 Zur gleichen Zeit entwickelten sich überall in Europa wissenschaftliche Akademien und Gesellschaften, in denen sich im Gegensatz zur scholastischen und humanistischen Universitätstradition die eigentliche empirische Forschung abspielte. In Wien, wo die Kultur einer zivilgesellschaftlichen Gelehrtenrepublik nie richtig Fuß fasste, erfüllten diese Rolle vor allem die kaiserlichen und königlichen Hofsammlungen, die weit über die Vormoderne hinaus die zentralen Forschungsinstitutionen der Monarchie waren.134 Eine konsequente Verwissenschaftlichung der Universität fand in Österreich überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert statt, als bereits parallel das technische Hochschulwesen zunehmende Bedeutung erlangte. Zudem hatte seit 1847 auch Wien eine Akademie der Wissenschaften.135 Interessanterweise ist in dieser Zeit der wachsenden akademischen Verwissenschaftlichung die Idee einer Einheit von Universität in Österreich überhaupt erst verstärkt artikuliert worden. In vielen Universitätsreden beschwor man jetzt die Universitas litterarum, die Volluniversität als Einheit der Wissenschaften, wie sie etwa im Jahre 1882 über das Hauptportal der Universität Wien in Stein gemeißelt wurde (universitas litterarum vindobonensis).136 Eine ähnliche Begrifflichkeit, die gerade um die Jahrhundertwende stetige Anwendung fand, war
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135 136
senschaft in Österreich 2014, URL: http://wissenschaft.bmwfw.gv.at/bmwfw/ministerium/ veranstaltungenpublikationen/publikationen/wissenschaft/ (abgerufen am 1.2.2015). Vgl. Norbert Conrads, Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982. Vgl. Kurt Mühlberger, Das ›Antlitz‹ der Wiener Philosophischen Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Struktur und personelle Erneuerung, in: Johannes Seidl (Hg.), Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession (Schriften des Archivs der Universität Wien 14), Wien: Vienna University Press 2009, 67 – 102, 73. Vgl. Walter Höflechner, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen auf Forschungsorientierung und Wissenschaftsorganisation, in: Acham, Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 149 – 214, 159 – 161. Vgl. Mühlberger, Das ›Antlitz‹ der Wiener Philosophischen Fakultät, 98.
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die Idee der Universität als »Organismus«, mit der man die einzelnen Disziplinen und Fakultäten als Teile und Einzelfunktionen in den universitären Gesamtzusammenhang einzugliedern versuchte.137 Mit derartigen Metaphern reagierte die Universität sowohl auf die zunehmende wissenschaftliche Ausdifferenzierung ihrer Fakultäten und Disziplinen als auch auf die wachsende gesellschaftliche Fragmentierung. Zudem wurde mit dem Verweis auf die universitäre Einheit erstmals ein wissenschaftlicher Hegemonieanspruch formuliert, den man gegen das aufblühende technische Hochschulwesen ins Feld führte.138 In einer vieldiskutierten Streitschrift aus dem Jahre 1896 hatten beispielsweise Vertreter der Medizinischen Fakultät Graz die Technischen Hochschulen scharf attackiert und ihnen jegliche Relevanz für das »wissenschaftliche Leben« abgesprochen: »Als Fachschulen leisten sie ja Ausgezeichnetes, aber als Stätten der Forschung sind sie unfruchtbar, wissenschaftlicher Geist herrscht in ihnen weder bei den Schülern noch im Lehrkörper«.139 Der technische Unterricht, so die Mediziner, sei im Grunde nicht mehr als »fachliche Hausmannskost«.140 Hinter solchen Suaden steckten zwei Motive: Die Auseinandersetzung zwischen Universitäten und Technischen Hochschulen spiegelte einen knallhart geführten Wettbewerb um ökonomisches und kulturelles Kapital, um soziale und finanzielle Anerkennung. Seit ihrer Entstehung im frühen 19. Jahrhundert hatten die Technischen Hochschulen in Österreich einen enormen Aufstieg durchlaufen, der gerade um die Jahrhundertwende eine zunehmende sozioökonomische Geltung mit sich brachte. In den zehn Jahren von 1890 bis 1900 war die Zahl aller Hörer an Technischen Hochschulen in Österreich von knapp 2.000 auf 6.000 angestiegen.141 Ähnliches galt für den Anteil des technischen Hochschulwesens am staatlichen Forschungsbudget (Universitäten und Hochschulen), der zwischen 1867 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts von 24 % auf etwa ein Drittel angewachsen war.142 Während man um 1900 an der Wiener Universität über die 137 Vgl. etwa Franz Exner, Über Gesetze in Naturwissenschaft und Humanistik, in: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1908/1909, Wien: Selbstverlag der K. K. Universität 1908, 45. 138 Vgl. zum Verhältnis von Universität und Technischen Hochschulen: Höflechner, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen, 171 – 190; ders., Zum Einfluß des deutschen Hochschulwesens auf Österreich in den Jahren 1875 – 1914, in: Bernhard vom Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das ›System Althoff‹ in historischer Perspektive, Hildesheim: Edition Bildung und Wissenschaft 1991, 155 – 183. 139 Die Professoren der Medicinischen Facultät in Graz über die Collegiengeldfrage. Eine Denkschrift, Graz: Selbstverlag der Professoren der Medicinischen Facultät 1896, 11. 140 Ebd., 11. 141 Heinrich Sequenz (Hg.), 150 Jahre Technische Hochschule in Wien, 1851 – 1961, hg. im Auftrag des Professorenkollegiums, Wien: Technische Hochschule 1965, 61. 142 Ebd., 44.
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schlechten Berufsaussichten der Absolventen klagte, erfreuten sich die ›Techniker‹ national und international einer wachsenden wirtschaftlichen Nachfrage.143 Angesichts all dieser Faktoren sahen sich die Universitäten in ökonomischer und sozialer Hinsicht in der Defensive. Zum Zweiten betrachteten viele der damaligen Universitätsvertreter das technische Hochschulwesen als Verkörperung einer neuen utilitaristischen Wissensökonomie, die immer stärker auf rein fachliche Ausbildung sowie wissenschaftliche Spezialisierung und Anwendungsorientierung zielte und damit die geistige Integrität und Einheit akademischer Bildung in Frage stellte: »Zu solchen Fachschulen werden die Universitäten nothwendig herabsinken. Der innige, seelische Zusammenhang zwischen Schüler und Lehrer, welcher den Universitäten ihr blühendes Leben verleiht, hört auf«.144 Wie hier im Falle der Grazer Mediziner wurde um die Jahrhundertwende geradezu gebetsmühlenartig das Menetekel des ›Herabsinkens‹ der Universität zur Fachschule beschworen, womit man sowohl einen Vorrang gegenüber dem Hochschulwesen behauptete, als auch die Bewahrung und Neukonstituierung der eigenen inneren Einheit anmahnte.145 So urteilte etwa der damalige Wiener Universitätsrektor Adolf Exner 1891 hinsichtlich der wachsenden Ausdifferenzierung der Universität: »Endlich […] müssen wir uns unserer alten Einheit wieder bewusst werden, von der wir den Namen Universitas tragen, und sie auch praktisch wieder verwirklichen. Denn unsere Hochschulen […] drohen innerlich auseinanderzufallen in mindestens so viele Fachschulen, als wir Facultäten zählen. Es fehlt das innerlich verknüpfende geistige Band«.146
Um die universitäre Einheit und Vorrangstellung auch für die Zukunft zu gewährleisten, hat Exners späterer Amtskollege, der Mathematiker Gustav von Escherich sogar den radikalen Vorschlag unterbreitet, Universität und Technische Hochschule zu einem gemeinsamen »vielgliedrigen Organismus« zusammenzufassen: »Die universitas litterarum wäre in zeitgemäßer, lebensvoller Form wieder aufgerichtet, die Bildung und Bildungsmittel der Zeit wären in einheitlicher Organisation kräftig zusammengefasst, die gehässige Rivalität zwischen Universität und Technik sowie der unleidliche Zwiespalt in der nationalen Bildung beseitigt«.147 143 Vgl. Die technischen Hochschulen Österreichs und ihre Zukunft, in: Academische Revue 3 (1896) 27, 164. 144 Die Professoren der Medicinischen Facultät, 11. 145 Vgl. zum Topos des ›Herabsinkens zur Fachschule‹: Margot Goeller, Hüter der Kultur: Bildungsbürgerlichkeit in den Kulturzeitschriften »Deutsche Rundschau« und »Neue Rundschau« (1890 – 1914), Wien: Lang 2010, 129. 146 Adolf Exner, Über politische Bildung, in: Die feierliche Inauguration des Rectors der Wiener Universität für das Studienjahr 1891/92, Wien: Holzhausen 1891, 53. 147 Gustav Ritter von Escherich, Reformfragen unserer Universität, in: Die feierliche Inaugu-
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An diesen Beispielen wird deutlich, wie stark sich der universitäre Alleinstellungsanspruch durch Abgrenzung oder sogar Okkupation gegenüber anderen Formen von Wissenschaft und Bildung konstituierte. Vergleicht man diese historischen Entwicklungslinien mit den gegebenen Analysen zur Wissensgesellschaft, so erscheint das ›klassische‹ Bild von Universität, wie es Drucker oder Nowotny in ihren Untersuchungen evozieren, viel zu hermetisch angelegt. Sie erliegen damit einem Mythos, den sie eigentlich zu revidieren versuchen: Die Einheit und wissenschaftliche Vorrangstellung der Universität wird nicht erst im Zuge der postindustriellen Moderne durch die Funktionalisierung und De-Institutionalisierung von Bildung und Forschung in Frage gestellt. Die Sache muss umgekehrt betrachtet werden: Die Idee universitärer Einheit und Hegemonie ist in ihrer modernen Form überhaupt erst als Reaktion auf die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmende Fragmentierung, Kontextualisierung und Vervielfältigung von Wissenschaft und Höherer Bildung entstanden. Hierin liegt einer der Gründe, warum dieses idealisierende Selbstbild so schwer aus der Welt zu bringen ist.
5.
Resümee
Betrachtet man die gegenwärtige Debatte um das Verhältnis von Universität und moderner Wissensgesellschaft von historischer Warte, so lassen sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen ist die sogenannte Wissensgesellschaft nicht erst im 20. Jahrhundert entstanden, sondern seit dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit ein Phänomen moderner europäischer Gesellschaften. Die digitale Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat zwar spezifische Merkmale der Quantifizierung und Vernetzung mit globaler Partizipation maßgeblich verstärkt, ist jedoch nur eine Dynamisierung eines lang angelegten Veränderungsprozesses. Auch die wissenschaftliche Revolution war eher eine evolutionäre Umgestaltung, die über Jahrhunderte zu einer gesellschaftlich bedingten Einheit von Theorie und Praxis sowie zur Ausdifferenzierung von Institutionen und Fächern geführt hat. Die Rolle der Universitäten in diesem Prozess der Wissensproduktion und Verbreitung ist im Vergleich zu gängigen Darstellungen nicht exklusiv, was bis zur Gegenwart die Frage nach der kognitiven Identität und der Positionierung im Konzert aller Wissens- und Wissenschaftsinstitutionen neu bestimmt. Die zweite Schlussfolgerung betrifft das Bild von Universität, welches angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Tendenzen evoziert wird. Anstatt die ration des Rectors der Wiener Universität für das Studienjahr 1903/04, Wien: Adolf Holzhausen 1903, 75.
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heutige Universität als Produkt historisch und sozial äußerst vielfältiger Bezüge zu betrachten, greift man geradezu reflexartig auf den Mythos Humboldt mit seiner »Idee der Universität« zurück. Wie sich anhand der Wiener Hochschulgeschichte zeigen lässt, verkennen derartige Rückbindungen die tatsächlichen historischen Entwicklungslinien und sozioökonomischen Verflechtungen: Die Universität Wien ist wesentlich durch die Nützlichkeitskonzepte der Aufklärung geprägt worden. Die Theresianischen und Josephinischen Hochschulreformen wandelten sie zu einer öffentlichen Bildungs- und Wissenschaftsinstitution. Mit den Reformen des 19. Jahrhunderts wurde ihr nach dem Vorbild der aufklärerischen Universität Göttingen ein ökonomisch ausgerichtetes Autonomiemodell zu Grunde gelegt. Ein mit den humboldtschen Idealen vergleichbares Hochschulkonzept ist in Wien erst um 1900 unter dem Eindruck wachsender Konkurrenz im Wissenschafts- und Forschungsbereich entstanden. Vor dem Hintergurnd der gegenwärtigen universitätspolitischen Debatten könnten diese Ergebnisse zu einer ›Entzauberung‹ von konstruierten Idealtypen und erfundenen Traditionen beitragen, auch wenn angesichts der herrschenden Wirtschafts- und Reformzwänge die romantische Sehnsucht nach einer ehernen ›Idee der Universität‹ weiterhin wirksam bleiben mag.
Petra Svatek
Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Kontinuitäten und Wandlungen einer multidisziplinären und politisch orientierten Forschungsrichtung
Einführung In den letzten Jahren erlebten raumorientierte Studien in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine Renaissance. Diese »Wiederkehr des Raumes«, die in der Literatur auch als »Spatial Turn« bezeichnet wird,1 brachte eine Fülle an neuen raumorientierten Ansätzen mit sich (Bsp. technische Räume, semiotische Räume, Raumphilosophie usw.). Allerdings werden auch im 21. Jahrhundert nach wie vor Ansätze verfolgt, die sich bereits kurz vor oder nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt haben, wie zum Beispiel die »Kulturraumforschung«, die Geopolitik und die Raumforschung im Sinne einer praxisorientierten Stadt- und Landesplanung.2 In diesem Artikel soll die Raumforschung im Sinne der Stadt- und Landesplanung näher analysiert werden. Dieser Ansatz war auch an der Universität Wien ab dem beginnenden 20. Jahrhundert völlig neu und hob sich von anderen raumorientierten Ansätzen durch seine ausgesprochene Praxisorientierung für die Siedlungs- und Landschaftsplanung ab. Daraus ergab sich eine zuvor noch nie dagewesene Kooperation mit unterschiedlichen politischen Behörden und wissenschaftlichen Institutionen. Als innovativ kann die über die Instituts-, Fakultäts- und Hochschulgrenzen hinwegreichende multidisziplinäre Ausrichtung der Forschungen bezeichnet werden, die bei anderen raumorientierten 1 Bsp. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbeck: Rowohlt 2006, 286; Julia Lossau, »Mind the gap«: Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: Transcript 2007, 56; Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010; usw. 2 Zur »Kulturraumforschung« und Geopolitik siehe unter anderem: Willi Oberkrome, Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900 – 1960), in: Hettling Manfred (Hg.), Volksgeschichte im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 65 – 95; Gearûid Tuathail, Geopolitik – zur Entstehungsgeschichte einer Disziplin, in: Geopolitik. Kritische Geographie 14 (2001), 9 – 28; usw.
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Petra Svatek
Ansätzen nicht in dieser Weise praktiziert wurde. Diese multidisziplinäre Ausrichtung gab es zuvor sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften kaum. Erst die Raumforschung ermöglichte an den österreichischen Universitäten und Hochschulen und somit auch an der Universität Wien »über Enge und Hemmungen der Fachdisziplinen und Institutsinteressen hinauszustreben und den Blick wieder frei zu machen für die Weite und Vielfältigkeit der großen Aufgaben«, damit man »zu einer wirklich von gegenseitigem Vertrauen getragenen und einander ergänzenden Gemeinschaftsarbeit«3 kommen könne. Die Institutionalisierung dieser neuen Forschungsrichtung setzte im Deutschen Reich schließlich im Jahre 1935 ein, als Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, und Hanns Kerrl, Leiter der Reichsstelle für Raumordnung, die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) gründeten. Diese neue Institution war von der Reichsstelle für Raumordnung abhängig und sollte alle »für die Neuordnung unseres Volksraumes«4 verfügbaren Kräfte sicherstellen sowie Projekte koordinieren. Die RAG organisierte an vielen deutschen Universitäten und Hochschulen Arbeitsgemeinschaften, die raumorientierte Forschungen über die nähere Umgebung und über angrenzende ausländische Gebiete durchführen sollten.5 Doch wie entwickelte sich die Raumforschung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Universität Wien und welche Kontinuitäten und Wandlungen sind dabei vor allem in Bezug auf die erforschten Themen, die multidisziplinäre Zusammenarbeit und die Verbindung zu den jeweils an der Macht befindlichen Politikern bzw. den politischen Behörden feststellbar? Dabei wird unter anderem von der These ausgegangen, dass ab 1938 eine Intensivierung der raumorientierten Forschungen »für die wissenschaftliche Vorbereitung der durchzuführenden Neuordnung des deutschen Lebensraumes«6 stattgefunden, und viele Wissenschaftler der Universität keine Bedenken hatten, ihre neu erworbenen Kenntnisse nationalsozialistischen Politikern und Behörden zur Verfügung zu stellen. Eine zentrale Person war der Wiener Geograph Hugo Hassinger, der nicht nur der Raumforschung an der Universität Wien zum Durchbruch verhalf, sondern auch diverse raumorientierte Forschungsge-
3 Konrad Meyer, Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung 1 (1937), 3. 4 Ebd., 3. 5 Zur RAG siehe: Ariane Leendertz, Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München: Saur 2008, 520 – 527, 521, 523; Michael Venhoff, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) und die reichsdeutsche Raumplanung seit ihrer Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 258), Hannover: ARL 2000. 6 Richtlinien für die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an den Wiener Hochschulen. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BABL) R 63/178.
Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert
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meinschaften leitete und Wien als Standort für die nationalsozialistische Südostforschung ausbauen wollte.7
1.
Die ersten Anfänge am Beginn des 20. Jahrhunderts
Die Anfänge der Raumforschung liegen an der Universität Wien im Jahre 1910. In einem Anfang der 1950er Jahre verfassten unveröffentlichten Bericht8 nannte Hassinger seine beiden Artikel Über Aufgaben der Städtekunde9 und Beiträge zur Siedlungs- und Verkehrsgeographie von Wien10 als eine der ersten an einer österreichischen Universität durchgeführten stadtplanerischen Studien. Hassinger wollte mit diesen Forschungen für die städtische Verkehrs- und Wohnungspolitik ein »Instrument der Baupolitik«11 schaffen, mit der eine effiziente Stadtplanung unter Rücksichtnahme alter Bauwerke praktiziert werden konnte. Im Kontext der sich zu dieser Zeit allmählich etablierenden Denkmal- und Heimatschutzbewegung entwickelte Hassinger einen neuen Forschungsansatz, in dem er die Kulturgeographie, die Stadtplanung, die Kunstgeschichte und die Geschichtswissenschaft miteinander verband. Er kartierte von 1910 bis 1912 alle noch erhaltenen Bauten vom Mittelalter bis in die 1840er Jahre12 und publizierte 1916 den Kunsthistorischen Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. In diesem Atlas wollte er »bauliches Kunstgut aller Wiener Bezirke kartographisch« darstellen und »eine historisch-geographische Analyse des Wiener Stadtbildes und ein Verzeichnis aller erhaltenswerten Kunst- und Naturdenkmale der Stadt«13 liefern. In der Tat setzte mit diesen Veröffentlichungen der Beginn der Raumforschung an der Universität Wien ein. Doch existierte zu 7 Zur Biographie Hassingers siehe unter anderem: Petra Svatek, Hugo Hassinger und Südosteuropa. Raumwissenschaftliche Forschungen in Wien (1931 – 1945), in: Carola Sachse (Hg.), »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen: Wallstein-Verlag 2010, 290 – 311; Christine Zippel, Hugo Hassinger (1877 – 1952), in: Wiener Geschichtsblätter 61 (2006), 23 – 59. 8 Bericht über Raumforschung und Raumordnung in Österreich von Hugo Hassinger. Archiv der Universität Wien (UAW) Nachlass Hugo Hassinger, Kt. 27. 9 Hugo Hassinger, Über Aufgaben der Städtekunde, in: Petermanns Mitteilungen 56 (1910), 289 – 294. 10 Hugo Hassinger, Beiträge zur Siedlungs- und Verkehrsgeographie von Wien, in: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 53 (1910), 5 – 88. 11 Bericht über Raumforschung und Raumordnung in Österreich von Hugo Hassinger. UAW, Nachlass Hassinger, Kt. 27. 12 Hugo Hassinger, Wiener Heimatschutz- und Verkehrsfragen, Wien: G. Freytag & Berndt 1912, 7, 35. 13 Hugo Hassinger, Um die Erhaltung und Neugestaltung des Wiener Stadtbildes, Reichspost, 20. 1. 1938, 7.
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dieser Zeit das Wort »Raumforschung« noch nicht. Im Sprachgebrauch österreichischer Wissenschaftler erschien es erst unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die ersten Anfänge der Raumforschung als Vorarbeit zur Stadt- und Landesplanung blieben an der Universität Wien allerdings bescheiden. Außer Hassinger widmete sich diesem Thema kein anderer Wissenschaftler. Durch Hassingers Weggang nach Basel und Freiburg verlor die Universität Wien nach 1918 schließlich ihren einzigen Protagonisten.
2.
Die 1930er Jahre: Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft und Burgenlandatlas
1931 kehrte Hassinger als Professor an die Universität Wien zurück. Seine am 28. April gehaltene Antrittsvorlesung über die landschaftsgestaltende Tätigkeit des Staates brachte nun wieder die Raumforschung an die Universität Wien zurück. Hassinger plädierte für eine staatliche Planung, welche »die Kulturlandschaft sich nicht mehr wild entwickeln« lassen, sondern »sie durch Landesplanung zielbewußt formen sollte«.14 Er führte zum Beispiel die Neugestaltung von Städten durch Fußgeherzonen, Bahnhöfe, Wohnbauten und Fabriken sowie den Bau von Schutzbauten gegen diverse Naturkatastrophen an. Mit diesem Vortrag nahm Hassinger ohne Zweifel die Entwicklung der nächsten Jahre im Deutschen Reich vorweg. Während der 1930er Jahre förderte Hassinger die Raumforschung an der Universität Wien vor allem im Rahmen von Projekten der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SODFG). Die SODFG wurde am 17. Oktober 1931 in Wien gegründet. Sie bildete zusammen mit den vor allem im Deutschen Reich beheimateten volksdeutschen Forschungsgemeinschaften eine Institution, die sich die systematische Erforschung des Grenz- und Auslandsdeutschtums zur Aufgabe gestellt hatte. Die Mitarbeiter der SODFG15 kamen vor allem von der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Sie gehörten sowohl dem Vor14 Hugo Hassinger, Der Staat als Landschaftsgestalter, in: Zeitschrift für Geopolitik IX (1932), 187. 15 Allgemeines zur SODFG, ihren Mitarbeitern und Projekten siehe: Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931 – 1945, Baden-Baden: Nomos 1999, 247 – 297. Einen Überblick zur Universität Wien siehe auch: Petra Svatek, »Wien als das Tor nach dem Südosten« – Der Beitrag Wiener Geisteswissenschaftler zur Erforschung Südosteuropas während des Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus: Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen: V& R unipress 2010, 111 – 139.
Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert
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stand, als auch dem Arbeitsausschuss und diversen Projektgruppen an. Zum ersten Leiter ernannte man Hassinger, der sich ab 1934 die Leitung mit dem Historiker Hans Hirsch teilte. Dem zunächst vierköpfigen Vorstand gehörten zudem der Wiener Physiogeograph Fritz Machatschek und der Grazer Volkskundler Viktor Geramb an. Den Arbeitsausschuss bildeten vor allem Geisteswissenschaftler der Universität Wien, wie zum Beispiel die Germanisten Josef Nadler, Walter Steinhauser und Anton Pfalz, die Historiker Rudolf Egger, Otto Brunner und Wilfried Krallert, der Archäologie Eduard Beninger und der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr. Zusammen mit Wissenschaftlern von den Universitäten Prag und München, von der Wiener Hochschule für Welthandel und von diversen Archiven sowie mit Mitarbeitern aus südosteuropäischen Staaten bauten sie ein über die Fakultäts-, Hochschul- und Staatsgrenzen hinwegreichendes Forschungsnetzwerk auf. Somit wurde die für die Raumforschung charakteristische »Gemeinschaftsarbeit« auch an der Universität Wien bereits während der 1930er Jahre praktiziert. Netzwerke wurden vor allem während der von Hassinger und Hirsch organisierten »Studienfahrten« geknüpft, die in die Grenzregionen zur Tschechoslowakei und nach Siebenbürgen führten. Vernetzungen entstanden vor allem mit reichsdeutschen Wissenschaftlern, lokalen Deutschtumsforschern und Angehörigen der deutschen Minderheit. 1936 ging die Reise zum Beispiel nach Südböhmen und ins angrenzende Mühlviertel, an der von der Universität Wien unter anderem Hans Hirsch, Otto Brunner, Anton Pfalz und Josef Nadler teilnahmen. Aus dem Deutschen Reich waren zum Beispiel Hermann Aubin, Erich Gierach, Emil Meynen und Johannes Papritz vertreten.16 Hirsch bezeichnete es als die Aufgabe der Fahrt, »die Probleme gemeinsamer Grenzziehungen zu betrachten und die blutsmäßige und geistige Verbundenheit auch in der Forschung zum Ausdruck zu bringen.«17 Auf Grund ihrer volkspolitischen Ausrichtung konnten die Aktivitäten und Vorträge auf den »Studienfahrten« vielfach nur getarnt durchgeführt werden.18 Bis 1938 wurden vor allem historische, kunsthistorische, kulturgeographische, germanistische und volkskundliche Forschungen über das Burgenland, die Sudetenländer, Ungarn und Jugoslawien durchgeführt. Mit diesen Forschungen wollten die Wissenschaftler der Universität Wien die kulturelle Abhängigkeit der untersuchten Gebiete zum deutschsprachigen Raum aufzeigen und den deutschen Volks- und Kulturboden in Südosteuropa eruieren. Als Beispiel soll hier der Geograph Egon Lendl genannt werden, der ab 1934 als Assistent am Geo16 Studienfahrt Wiener und Prager Hochschullehrer und ihrer Gäste durch das Mühlviertel und angrenzende Südböhmen 26.–29. 9. 1936. Politisches Archiv Auswärtiges Amt (PAAA) R 60278. 17 Ebd. 18 Fahlbusch, Wissenschaft, 278.
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graphischen Institut angestellt war. Er untersuchte die deutschen Sprachinseln im westlichen Slawonien und in Kroatien im Hinblick auf ihre Lage, ihre zahlenmäßigen Stärke und ihre Einflüsse auf die Natur- und Kulturlandschaft. Lendls abschließendes Resümee bestand darin, dass »der deutsche Kolonist im Verhältnis zu seiner geringen Zahl und der relativ kurzen Zeit, in der er landschaftsgestaltend wirken konnte, doch Wesentliches zur Umgestaltung des Landschaftsbildes und zu seiner Angleichung an das des mitteleuropäischen Kernraumes beigetragen«19 hatte. Für die Forschungen stellte die Universität Wien vor allem personelle Ressourcen zur Verfügung. Finanziert wurden die Projekte zum großen Teil nicht von der Universität Wien, sondern von diversen Berliner Behörden sowie vom Verein für das Deutschtum im Ausland.20 Das wichtigste landesplanerische Projekt der SODFG war vor 1938 der Burgenlandatlas. Die Anfänge dieses Atlas gehen auf eine im September 1933 durchgeführte »Studienfahrt« der SODFG in das Burgenland zurück.21 Hugo Hassinger und der aus dem südlichen Niederösterreich stammende Lehrer Fritz Bodo22 wurden zu den beiden Leitern des Projektes bestimmt. Charakteristisch war die multidisziplinäre Ausrichtung des Atlasvorhabens. Neben 19 Geistesund 14 Naturwissenschaftlern stellten sich auch einige Lehrer und Heimatforscher sowie Mitarbeiter der Burgenländischen Landesregierung in den Dienst der Sache.23 Die wissenschaftlichen Mitarbeiter kamen vor allem von der Universität Wien. Unter ihnen waren zum Beispiel die Geographen Walter Strzygowski und Egon Lendl, die Germanisten Walter Steinhauser und Anton Pfalz, der Historiker Otto Brunner, der Zoologe Wilhelm Kühnelt und der Volkskundler Arthur Haberlandt. Aber auch die Zentralanstalt für Meteorologie, die Geologische Bundesanstalt, das Naturhistorische Museum und einige Archive stellten Mitarbeiter zur Verfügung, sodass eine über die Instituts- und Institutionengrenze hinwegreichende multidisziplinäre Zusammenarbeit entstehen konnte. Den Wissenschaftlern und Lehrern fiel die Aufgabe zu, alle notwendigen Daten zu sammeln, erste Kartenentwürfe zu zeichnen und Begleittexte zu ver19 Egon Lendl, Die jungen deutschen Sprachinseln im westlichen Slawonien und den benachbarten Teilen Kroatiens, in: Hugo Hassinger/Johann Sölch (Hg.), Geographischer Jahresbericht aus Österreich XVIII (1935), 95. 20 Fahlbusch, Wissenschaft, 272. 21 Protokoll der »Studienfahrt Wiener Hochschullehrer und ihrer Gäste durch das Burgenland«, Herbst 1933. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 24. 22 Zu Bodo siehe: Petra Svatek, Fritz Bodo – Atlaskartographie in den 1930er und frühen 1940er Jahren, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 152 (2010), 323 – 338. 23 Eine Liste der Mitarbeiter befindet sich im Vorspann des Burgenlandatlas: Hugo Hassinger/ Fritz Bodo (Hg.), Burgenland. Ein deutsches Grenzland im Südosten, Wien: Österreichischer Landesverlag 1941.
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fassen. Dabei konnten sie auch auf Statistiken zurückgreifen, die von Mitarbeitern der Burgenländischen Landesregierung eruiert wurden. Fragebögen wurden ab Februar 1934 an alle burgenländischen Gemeindeämter, Schulen, Pfarrämter, Industriebetriebe und Krankenhäuser versandt. Dadurch konnten aktuelle Daten zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, zum Verkehr, zur Bildung, zur Volkskunde und zur Bevölkerungsbewegung gewonnen werden.24 Die Kartenentwürfe und Begleittexte leiteten die Wissenschaftler an Bodo weiter, der für die Reinzeichnungen der einzelnen Karten verantwortlich war. Hassinger war als oberster Überwacher des Atlasvorhabens für die Kontakte zur SODFG und für die Finanzen zuständig. Bodo betonte in einem Radiointerview vom 16. November 1936, dass der Atlas sowohl als Lehrbehelf an Schulen eingesetzt werden sollte als auch »in Ämtern, bei den Verwaltungsbehörden, Landwirtschafts-, Handels- und Arbeiterkammern, bei jenen Stellen, die sich mit Verkehrsfragen befassen, die mit Gesundheits- und sozialer Fürsorge zu tun haben.«25 Von »Raumforschungsarbeit«26 sprach er erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Der Burgenlandatlas sollte allerdings nicht nur als Planungsgrundlage und Lehrbehelf dienen. In den geheimen, nur für den Dienstgebrauch bestimmten Berichten der SODFG sind auch politische Ziele als Motiv für die Herstellung genannt. Denn mit ihm wollte man den »auftauchenden ungarischen revisionistischen Bestrebungen«27 sowie der »immer stärker werdenden wissenschaftlichen Propaganda Ungarns über Transdanubien und das Burgenland«28 entgegenwirken. Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren es vor allem politische Gründe, weshalb der Atlas erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erscheinen konnte. Er wurde nämlich als ein Projekt der SODFG bereits vor 1938 vom nationalsozialistischen Deutschland gefördert.29 Zudem suchten einige Mitarbeiter bereits während der frühen 1930er Jahre um eine Mitgliedschaft in der NSDAP an (Bsp. Egon Lendl, Walter Strzygowski, Fritz Bodo). Einer Äußerung Bodos zufolge wurden die Arbeiten häufig getarnt ausgeführt, da »viele der über vierzig Mitarbeiter als politisch unverlässlich galten.«30 Has24 Diverse Rundschreiben der Burgenländischen Landesregierung vom 20. 2. 1934, 11. 10. 1934 und vom April 1935. Burgenländisches Landesarchiv (BLA) Burgenlandatlas, Kt. Fragebogen und Arbeitsbogen Entwürfe II und III. 25 Protokoll Radiosendung vom 16. 11. 1936. BLA Burgenlandatlas, Kt. Arbeitsbogen Entwürfe IX. 26 Fritz Bodo, Burgenlandatlas und Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung (1938), 456. 27 Tätigkeitsbericht der SODFG über das Rechnungsjahr 1934/35. PAAA R 60291. 28 Kostenvoranschlag für das Rechnungsjahr 1937/38. PAAA R 60279. 29 Siehe dazu diverse Kostenvoranschläge im PAAA R 60272, 60275 und 60291. 30 Fritz Bodo, Der »Burgenlandatlas« und seine Bedeutung für die Landeskunde des Gaues Niederdonau, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich XXVII (1938), 290.
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singer betonte, dass der Atlas vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten »zeitweilig mit Misstrauen, da er der gesamtdeutschen Sache diente, betrachtet« und »seine Herausgeber und eine Anzahl Mitarbeiter wegen ihrer nationalsozialistischen Gesinnung gemaßregelt«31 wurden. Er suchte schließlich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bei diversen Politikern und Behörden um Zuschüsse für den Druck an.32 Trotz der Aufteilung des Burgenlandes auf die Gaue Niederdonau und Steiermark besaß der Burgenlandatlas aufgrund der dort getätigten Grenzlandforschung auch für die Nationalsozialisten eine Bedeutung. So interessierten sie sich beispielsweise für die Wirtschafts- und Bevölkerungsanalysen, da Teile des Burgenlandes für die Rücksiedlung deutscher Volksgruppen aus Südosteuropa vorgesehen waren. Daher konnte der Atlas schließlich noch im Jahre 1941 nur für den »Dienstgebrauch« erscheinen.33
3.
Raumforschung im Sinne der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfolgte an der Universität Wien ein Bedeutungsgewinn der Raumforschung. Dabei ist eine Intensivierung von Tendenzen erkennbar, die sich bereits vor 1938 abgezeichnet haben. Die Raumforschung wurde weiterhin als »Gemeinschaftsarbeit« zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und Institutionen verstanden. Es entstanden allerdings noch intensivere Verbindungen zwischen raumwissenschaftlich arbeitenden Wissenschaftlern und der Politik sowie der praxisorientierten Stadt- und Landesplanung. Diese Entwicklung führte auch an der Universität Wien zu neuen thematischen Schwerpunkten, zu neuen Netzwerken und zu einem Wandel im Bereich der Anwendung raumorientierter Forschungen. Standen vor 1938 vor allem Bestandsaufnahmen in grenznahen österreichischen Gebieten und in Südosteuropa im Vordergrund, so war ab nun die Raumeroberung im Sinne der nationalsozialistischen »Lebensraumpolitik« Ziel der Forschungen. An der Universität Wien kam bereits ab April 1938 eine Zusammenarbeit mit der RAG und mit der praxisorientierten Landesplanung zustande, wodurch neue Netzwerke etabliert werden konnten. Bereits am 13. April 1938 verfasste Hassinger für die RAG ein Verzeichnis, das aus zwölf Personen bestand, die für 31 Hugo Hassinger, Vorwort, in: Hugo Hassinger/Fritz Bodo (Hg.), Burgenland. Ein deutsches Grenzland im Südosten, Wien: Österreichischer Landesverlag 1941. 32 Brief Hassingers an Helmut Triska vom 13. 1. 1941. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15. 33 Tätigkeitsbericht der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung 1940/41. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 18. Zum Burgenlandatlas siehe unter anderem auch Svatek, Fritz Bodo, 329 – 334; Svatek, Geisteswissenschaftler, 116 – 117.
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die Raumforschung und angewandte Stadt- und Landesplanung wertvolle Arbeit leisten konnten. Darunter befand sich mit Walter Strzygowski auch ein Mitarbeiter der Universität Wien.34 Ungefähr zur selben Zeit setzte auch die Zusammenarbeit zwischen raumwissenschaftlich arbeitenden Wissenschaftlern der Wiener Universität und Fachleuten aus der praxisorientierten Stadt- und Landesplanung ein. Am 13. Mai 1938 fand zum Beispiel eine Sitzung statt, bei der Hugo Hassinger und Walter Strzygowski unter anderem mit Fritz Bodo, Franz Winter vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen sowie Adalbert Klaar und Andreas Tröster von der Planungsbehörde Wien eine neue Kreiseinteilung der »Ostmark« diskutierten.35 Hassinger erarbeitete zudem 1938 im Auftrag des Wiener Bürgermeisters Hermann Neubacher »ein Gutachten über das Donaugelände Wiens in Hinblick auf seine zukünftige Bebauung«,36 worin er ein Zukunftsbild mit Straßenverschönerungen, erhaltenswerten Bauten und Denkmälern, Naturschutzgebieten sowie einem neuen Straßen- und Bahnkonzept präsentierte.37 In der Septemberausgabe der Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung erschien ein eigener Teil über Raumforschungsarbeiten der »Ostmark«. Von der Universität Wien publizierten Walter Strzygowski über »Die geographischen Grundlagen einer Landesplanung in Österreich«, Otto Brunner über »Der ostmärkische Raum in der Geschichte« und Hugo Hassinger über »Die Ostmark«. Die Artikel gaben einen Überblick über die bisherigen raumorientierten Forschungen in Österreich und zeigten auch das Potential für eine Raumforschung und Landesplanung der Zukunft auf. Gegenüber der Zeit vor 1938 ist bereits eine Anpassung an die NS-Ideologie erkennbar. Brunner analysierte unter anderem die Abhängigkeit Österreichs vom Deutschen Reich im Laufe der Jahrhunderte und rühmte die »Heimkehr« Österreichs in das deutsche Staatsgebiet.38 Aber auch antisemitische Äußerungen sind bereits feststellbar. Hassinger pries die alpendeutschen Österreicher und sprach über die Juden als »Fremdkörper«.39 Strzygowski bezeichnete »die Reinigung Wiens von der Judenplage«40 als eine 34 Brief Hassingers an die RAG vom 13. 4. 1938. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15. 35 Bericht der Besprechung vom 13. 5. 1938 bezüglich der vorgeschlagenen Kreiseinteilung im Gebiete Österreichs. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA) Reichsstatthalter (RStH) Raumordnung (Z-RO) 299. 36 Brief Hassingers an Bürgermeister der Stadt Wien Dr. Ing. Hermann Neubacher vom 28. 8. 1938. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 25. 37 Vorschlag zur Planung des Wiener Donaugeländes im Rahmen der Gesamtgestaltung des Wiener Verkehrsnetzes vom Juli 1938. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 25. 38 Otto Brunner, Der ostmärkische Raum in der Geschichte, in: Raumforschung und Raumordnung 2 (1938) 9, 397 – 401. 39 Hugo Hassinger, Die Ostmark, in: Raumforschung und Raumordnung 2 (1938) 9, 394. 40 Walter Strzygowski, Die geographischen Grundlagen einer Landesplanung in Österreich, in: Raumforschung und Raumordnung 2 (1938) 9, 423.
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bevölkerungspolitische Aufgabe der Zukunft. Dass diese NS-Ideologie zwischen 1938 und 1945 auch in den Lehrveranstaltungen gelehrt wurde gilt als wahrscheinlich. Leider konnten für diese Studie allerdings nur die Titel der Lehrveranstaltungen eruiert werden, nicht aber deren Inhalt. Auffallend ist an der Universität Wien vor allem eine Zunahme an Vorlesungen und Kursen über Südosteuropa. Im Herbst 1938 wurde an der Universität Wien schließlich nach dem Vorbild vieler Universitäten des Altreiches eine Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung gegründet, die von Hassinger geleitet wurde. Damit setzte die Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung an der Wiener Universität ein. Sie wurde ein Teil der RAG und hatte wie alle anderen reichsdeutschen Arbeitsgemeinschaften das Ziel, alle verfügbaren Wissenschaftler »für die wissenschaftliche Vorbereitung der durchzuführenden Neuordnung des deutschen Lebensraumes«41 einzusetzen. Bald folgten auch Arbeitsgemeinschaften an den anderen Wiener Hochschulen, die sich zusammen mit der Universität Wien unter der Leitung Hassingers zur Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Wiener Hochschulen zusammenschlossen. Hassinger koordinierte alle Projekte, galt als Verbindungsperson zur RAG und baute die meisten Netzwerke mit anderen Behörden und Forschungseinrichtungen auf (Bsp. Kommission für Raum- und Bodenforschung der Sudetendeutschen Anstalt für Heimatforschung in Reichenberg, Arbeitsgemeinschaften für Raumforschung an den Universitäten Innsbruck und Graz, Planungsbehörden).42 Die Universität Wien stellte mit ihrer Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung somit für die praxisorientierte Stadt- und Landesplanung personelle Ressourcen zur Verfügung. Finanziert wurden die einzelnen Projekte allerdings zum großen Teil von anderen wissenschaftlichen Institutionen und politischen Behörden, wie zum Beispiel der RAG oder der Regierung des Gaues Niederdonau. Die meisten Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung kamen von der Philosophischen Fakultät, von der sich insgesamt zehn Institute von den Geowissenschaften (Geographie, Geologie, Meteorologie, Bevölkerungswissenschaften), über die Biologie (Botanik, Zoologie, Anthropologie) bis hin zu den historischen Wissenschaften (Urgeschichte, Geschichte, Kunstgeschichte) an den Forschungen beteiligten. Verhältnismäßig wenig arbeiteten 41 Richtlinien für die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an den Wiener Hochschulen. BABL R 63/178. 42 Bericht der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an der Universität Wien vom 1. November 1940; Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung vom 10. 11. 1938; zweites Rundschreiben der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung vom 8. 2. 1940. UAW, Nachlass Hassinger, Kt. 15; Aktenvermerk über die Besprechung vom 23. 1. 1942; Brief Hassinger an die RAG vom 12. 8. 1942. UAW, Nachlass Hassinger, Kt. 18; Richtlinien für die Arbeitsgemeinschaft Wiener Hochschulen. ÖStA RStH Z-RO 304.
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zum Beispiel Angehörige der Medizinischen Fakultät an den Projekten mit (Ausnahme: Hygienisches Institut).43 Wissenschaftler von der Wiener Universität beteiligten sich im geringen Ausmaß auch im Rahmen der SODFG und der Südosteuropagesellschaft (SOEG; 1940 gegründet) an raumorientierten Forschungen. Im Bereich der SODFG erhielt die Publikationsstelle unter der Leitung des Geographen, Historikers und SS-Sturmbannführers Wilfried Krallert44 eine immer größer werdende Bedeutung, wodurch die Arbeiten vor allem von ihm bzw. seinem Team koordiniert und durchgeführt wurden. Geisteswissenschaftler der Universität waren an den Forschungen demnach nicht mehr in dem Ausmaß beteiligt wie vor 1938. Zudem brachte die Machtübernahme der Nationalsozialisten eine Forcierung der ab 1937 einsetzenden Bewegung weg vom Burgenland und den Sudetenländern hin in Richtung Balkanstaaten und dem Kaukasus.45 Die raumforschungsorientierten Studien von Wissenschaftlern der Universität Wien erstreckten sich während des Zweiten Weltkrieges auf das Gebiet der östlichen »Ostmark« und auf Südosteuropa. Vor allem Hassinger und Krallert bemühten sich um den Ausbau Wiens als Standort für die Südostforschung. Hassinger plädierte, dass »alle verfügbaren Kräfte, die noch in Städten des Hinterlandes mit reichen Mitteln arbeiten und in Wien, der Stadt an der Südostfront fehlen, hierher gezogen und für eine vereinheitlichte Südostforschung und Südostplanung eingesetzt werden«46 müssten. Der Universität Wien fiele dabei die Aufgabe zu, »in ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit diesem Teil Europas ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und in der deutschen Wissenschaft sich führend bei der Pflege der Beziehungen zu dem Südosten zu betätigen«.47 Hassinger befasste sich auch in seinen eigenen Forschungen eingehend mit der Rolle Wiens in Bezug auf Südosteuropa während der Habsburgermonarchie und der Ersten Republik und schlug Maßnahmen für eine neuerliche Stärkung Wiens vor.48 Wissenschaftler der Universität Wien beteiligten sich unter anderem an pflanzengeographischen Aufnahmen im Wiener Stadtgebiet, an bevölkerungs-, 43 Eine genaue Auflistung der Mitarbeiter siehe: Brief Hassinger an die RAG vom 12. 8. 1942. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 18. Svatek, Geisteswissenschaftler, 122 – 123. 44 Zur Biographie Wilfried Krallerts siehe: Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München: Saur, 2008, 335 – 337. 45 Zur SODFG 1938 – 1945 siehe: Fahlbusch, Wissenschaft, 622 – 660. 46 Hugo Hassinger, Wiens deutsche Sendung im Donauraum, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Wien 85 (1942), 12. 47 Hugo Hassinger, Die Universität Wien und der europäische Südosten, 6. 5. 1939. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 25. 48 Svatek, Hassinger, 2010, 300 – 302; Petra Svatek, Hugo Hassinger : Wiens deutsche Sendung im Donauraum (1942), in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9 (2009) 2, 163 – 170.
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wirtschafts- und siedlungsgeographischen und ethnographischen Untersuchungen sowie an großen Atlasprojekten (Bsp. Gauatlas Niederdonau). Einige von ihnen gingen vor allem bei ihren ethnographischen und bevölkerungsgeographischen Studien eine enge Verbindung mit der NS-Politik ein und leisteten einen Beitrag zu den nationalsozialistischen Umsiedlungsvorhaben. Hassinger forderte in einem Vortrag des Jahres 1941 öffentlich eine »Flurbereinigung des deutschen Volkstums«: »Nun muss es auch einmal zu einer Flurbereinigung des deutschen Volkstums im Donauraum kommen, in dem Sinn, dass diese zersplitterten und unökonomisch geformten Sprachinseln zu einer besseren Formung kommen. Die natürlichen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen aller deutschen Sprachinseln müssen genau erforscht sein, wenn das Standortproblem des Aus- und Einsiedlungsraumes richtig gelöst werden soll.«49
Eine der ersten Studien zu diesem Thema lieferten Hassinger und Strzygowski im Rahmen der SODFG. Sie arbeiteten bereits 1939 eine Denkschrift zur Umsiedlung der Südtiroler aus. Den Auftrag dazu erhielten sie vom »Verein für das Deutschtum im Ausland«.50 Diese Umsiedlung wurde 1939 vereinbart und von der »Volksdeutschen Mittelstelle«, dem »SS-Ahnenerbe« und dem »Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums« vorbereitet. Als Folge davon wurden von reichsdeutschen Wissenschaftlern und Institutionen einige Szenarien entworfen, welche eine Umsiedlung der Südtiroler nach Burgund, auf die Krim, in die »Ostmark« oder nach Polen vorsahen. Diese Umsiedlung der Südtiroler wurde aber niemals realisiert.51 Hassinger und Strzygowski wollten in ihrer Denkschrift die Südtiroler in ein Gebiet aussiedeln, welches »einen Teil der Westbeskiden und deren Vorlande bis zur Niederung der Weichsel im Norden, der Biala-Niederung im Westen und der Wasserscheide zwischen Skawa und Raba im Osten« umfasste.52 Wie bereits Michael Fahlbusch erläuterte, verfassten die beiden Wissenschaftler nicht nur eine bevölkerungsgeographische Studie über den geplanten »Reichsgau Beskiden« und den »Generalplan Ost«, sondern akzeptierten gleichzeitig Adolf Hitlers Umsiedlungspolitik.53 In den folgenden Jahren erarbeiteten die Mitarbeiter der SODFG in Koope49 Vortrag Hassingers auf der Tagung deutscher wissenschaftlicher Ost- und Südostinstitute in Breslau 25.–27. 9. 1941 über »Die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an den Wiener Hochschulen und die Geographische Gesellschaft in Wien«. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 26. 50 Bericht der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Universität Wien vom 1. 11. 1940. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15. 51 Zur Umsiedlung der Südtiroler siehe auch: Fahlbusch, Wissenschaft, 513 – 515, Karl Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol. Zur Außenpolitik und Volkstumspolitik des deutschen Faschismus 1939 bis 1945, Habil.-Schr., Wien 1983, 628 – 632. 52 Denkschrift zur Zukunft der Südtiroler, 6. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 25. 53 Fahlbusch, Wissenschaft, 513, 515. Svatek, Hassinger, 2010, 304 – 305.
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ration mit dem Geographischen Institut der Universität Wien einige Volkstumskarten Ost- und Südosteuropas. In den meisten Karten stellte man die Ethnien durch unterschiedlich gefärbte Punkte in ihrer absoluten Zahl dar. Daher konnten sowohl über die Verbreitung als auch über die Größe der Deutschen, Slowaken, Tschechen, Magyaren, Slowenen, Rumänen, Bulgaren, Russen, Ukrainer usw. im Gegensatz zu älteren Karten detaillierte Aussagen gemacht werden. Aus den Karten konnten aber auch Informationen über die jüdische Bevölkerung entnommen werden. Daher kann man heute nicht ausschließen, dass die Karten der SODFG bei der Deportation und der Vernichtung der Juden eine Rolle gespielt haben. Quellenmäßig konnte das aber noch nicht nachgewiesen werden.54 Die Karten dienten aber auch den Truppen im jugoslawischen Raum und dem Generalstab des Heeres und der Luftwaffe als wichtige Quelle.55 Den Auftrag, Karten zu produzieren und sie diversen politischen Institutionen im Deutschen Reich und in den Südoststaaten weiterzuleiten, scheinen die Mitarbeiter der SODFG vor allem vom Auswärtigen Amt bekommen zu haben.56 Andere ethno- und bevölkerungsgeographische Studien wurden vor allem von der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Universität Wien angefertigt. Dazu wurden einige Projekte ins Leben gerufen, wie zum Beispiel die »Feststellung der Bevölkerungskapazität und zweckmäßige Bodenordnung des Grenzkreises Oberpullendorf«, die »Bestandsaufnahmen der deutschen Volksgruppen im mittleren Donauraum und geographische Untersuchung ihrer Siedlungsgeschichte« und die »Neuordnung der deutschen Volksgruppengebiete im innerkarpatischen Raum«. Umfassende Kooperationen wurden zwischen Geographen der Universität Wien und Fachleuten aus der Praxis beim Projekt »Feststellung der Bevölkerungskapazität und zweckmäßige Bodenordnung des Grenzkreises Oberpullendorf« eingegangen. Die Geographen Hugo Hassinger, Egon Lendl und Walter Strzygowski erforschten zusammen mit Mitarbeitern der Hochschule für Bodenkultur, des Statistischen Amtes, der Landesbauernschaft Donauland und dem Agrarpolitischen Gauamt Wien die wirtschaftliche Situation im Raum Oberpullendorf, um die Gründe für die dortige Landflucht besser einschätzen zu können. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die »Abwanderungsgebiete an der Ostgrenze des Reiches tatsächlich überbevölkert sind und damit als Quelle für die Wiederbesiedlung neuer Reichsgebiete in Betracht kommen, oder ob nicht eine planmäßige Verbesserung der Lebensbedingungen an der 54 Svatek, Geisteswissenschaftler, 121 – 122. 55 Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften. PAAA R 100469; Jugoslawien geheim. PAAA R 27531. 56 Tätigkeitsbericht der SODFG für das Rechnungsjahr 1939/40. PAAA R 60296.
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Ostgrenze geschehen muss, damit eine Besiedlung mit Volksdeutschen möglich wird«57.
Zudem wollten die Bearbeiter aber auch die »rassische« Struktur der Bewohner näher ergründen, da man die Majorität ungarischer und kroatischer Bauern an der Ostgrenze des Reiches verhindern wollte.58 Damit kann auch dieses Projekt als Vorarbeit für mögliche Umsiedlungsaktionen diverser Bevölkerungsgruppen angesehen werden.59 Der gleiche Befund gilt auch für das Projekt über die »Neuordnung der deutschen Volksgruppengebiete im innerkarpatischen Raum«, das vor allem von Geographen und Historikern der Universität Wien betreut wurde. Hier gab Hassinger bereits im Projektansuchen vom Jahre 1940/41 als Ziel die genaue Bestimmung der umzusiedelnden Volksgruppen an: »Es soll durch die wissenschaftliche Überprüfung der deutschen Volksgruppen im innerkarpatischen Raum (Ungarn, Slowakei, Siebenbürgen, Batschka, Banat, Kroatien, Slawonien, Bosnien) festgestellt werden, welche Volksgruppen unbedingt an ihrem Standort belassen werden müssen, welche besser durch Neugruppierung zu größeren Volksgebieten zusammenzuschließen wären.«60
Im Projekt »Bestandsaufnahmen der deutschen Volksgruppen im mittleren Donauraum und geographische Untersuchung ihrer Siedlungsgeschichte« kooperierten die Geographen der Universität Wien mit den deutschen Volksgruppen vor Ort, um noch effizienter eine »zweckmäßige Formung des deutschen Siedlungsgebietes«61 vorbereiten zu können.62 Im Gegensatz zu den Studien der SODFG wurden die einzelnen Projekte der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Universität Wien eher nicht von NS-Behörden und NS-Politikern initiiert. Die Wissenschaftler scheinen unter der Leitung Hassingers vor allem eigene Initiativen ergriffen zu haben, wodurch von einer »Indienstnahme« der Wissenschaften durch die Politik nicht immer die Rede sein kann.63 Hassinger meinte zum Beispiel im Ansuchen zum Projekt
57 Gelinek Hans, Untersuchung der Bevölkerungsprobleme an der Ostgrenze des Reiches, Erprobung der Methoden am Landkreis Oberpullendorf. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15. 58 Ebd.; Ansuchen zum Projekt »Feststellung der Bevölkerungskapazität und zweckmäßige Bodenordnung des Grenzkreises Oberpullendorf« 1941/42. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 16. 59 Svatek, Geisteswissenschaftler, 130 – 131; Svatek, Hassinger 2010, 305 – 306. 60 Ansuchen zum Projekt »Neuordnung der deutschen Volksgruppengebiete im innerkarpatischen Raum« 1940/41. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 16. 61 Ansuchen zum Projekt »Bestandsaufnahmen der deutschen Volksgruppen im mittleren Donauraum und geographische Untersuchung ihrer Siedlungsgeschichte« 1942/43. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 16. 62 Svatek, Hassinger 2010, 305. 63 Siehe dazu unter anderem: Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Be-
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über die »Neuordnung der deutschen Volksgruppengebiete im innerkarpatischen Raum«, dass »auf jeden Fall rechtzeitig die wissenschaftliche Rüstung vorbereitet sein« soll, »wenn eine dieser Umsiedlungsfragen politisch angeschnitten werden sollte.«64 Diese Aussage zeigt, dass er die politische Ausrichtung des Projektes von Beginn an geplant hatte und der Auftrag nicht von irgendwelchen Behörden oder Politikern gekommen ist. Auch die Idee zum Gauatlas Niederdonau65 scheint nicht von Politikern, sondern von Fritz Bodo ausgegangen zu sein.66 Dieser fragte am 10. Mai 1940 erstmals bei Niederdonaus Gauhauptmann Sepp Mayer um eine Unterstützung für das Atlasprojekt an. Bereits am 23. Juli wurde das Vorhaben durch Reichsstatthalter und Gauleiter Hugo Jury genehmigt.67 Bodo wurde zusammen mit Hassinger zum Gesamtleiter des Atlasprojektes ernannt, wobei Bodo die intensiveren Kontakte mit den NS-Politikern und Behörden Niederdonaus eingegangen war. Im Gegensatz zum Burgenlandatlas sollte der Atlas ausschließlich für die Raumplanung »des deutschen Lebensraumes im Sinne des Dritten Reiches«68 verwendet werden. Eine Liste, die sich heute im Niederösterreichisches Landesarchiv und im Archiv der Universität Wien befindet,69 nennt 30 Mitarbeiter unterschiedlicher Fachrichtungen und Institutionen, wobei von der Universität Wien unter anderem der Geograph Johann Sölch, die Germanisten Pfalz und Walter Steinhauser, der Archäologe Eduard Beninger, der Volkskundler Arthur Haberlandt und die Historiker Otto Brunner und Rudolf Egger beteiligt waren. Eine enge Verbindung zur Politik ergab sich durch die Mitarbeit diverser Politiker : Gauhauptmann Sepp Mayer, Landesrat Leopold Pindur, Gaupropagandaleiter Hans Groger und Gauamtsleiter Helmut Triska waren für Verwaltung, Finanzierung und Volkstumsfragen zuständig. Kooperationen ergaben sich zum Beispiel mit der SODFG, der SOEG, der Wiener Akademie der Wissenschaften, dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI), dem Statisti-
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standsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, 32 – 51. Ansuchen zum Projekt »Neuordnung der deutschen Volksgruppengebiete im innerkarpatischen Raum« 1940/41. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 16. Zum Gauatlas Niederdonau siehe unter anderem: Helmuth Feigl, Landeskundliche Bestrebungen im Reichsgau Niederdonau, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 63/ 64 (1998), 245 – 269; Svatek, Fritz Bodo, 334 – 336; Petra Svatek, Raumforschung, NS-Politik und der Gauatlas Niederdonau, in: Thomas Brandstetter/Dirk Rupnow/Christina Wessely (Hg.), Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte, Wien: Löcker-Verlag 2008, 88 – 93. Siehe diverse Dokumente im Niederösterreichischen Landesarchiv (NÖLA) G. H. 1941. Feigl, Niederdonau, 247 – 251. Schreiben Bodos und Hassingers über »Gauatlas Niederdonau – wissenschaftliche Grundlagen und Zielsetzungen« vom 17. 1. 1941. NÖLA G.H. 1941. Briefe Hassingers an Hugo Jury vom 7. 10. 1940. NÖLA G. H. 1941 und UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15.
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schen Amt für die Donau- und Alpengaue, der Hauptvermessungsabteilung XIV, der Meteorologischen Zentralanstalt, der Sudetendeutschen Anstalt für Heimatforschung in Reichenberg (Liberec) und den Planungsbehörden für die Gaue Wien und Niederdonau.70 Hassinger oblag die Aufgabe, mit diesen Institutionen zusammenzuarbeiten und alle Arbeiten zu koordinieren. Für Vorarbeiten zum Gauatlas rief man einige Projekte ins Leben, die zum Teil auch von der RAG gefördert wurden. Als Beispiele sollen hier die Untersuchungen über die Wüstungen und über die anthropologischen Merkmale der Bevölkerung Niederdonaus genannt werden. Erstgenanntes Projekt wurde am Geographischen Institut der Universität Wien in Kooperation mit der Landesbauernschaft Donauland durchgeführt. An diesen Arbeiten beteiligten sich unter anderem Heinrich Kunnert vom Archiv in Eisenstadt für das ehemalige Burgenland, der Obersulzer Gemeindearzt Heinrich Weigel für das Wein- und Waldviertel und der Brünner Lehrer Hans Reutter für Südmähren. Die Bearbeiter führten sowohl Geländebegehungen als auch Archivstudien durch.71 Das Ziel des Projektes war eine räumliche Verbreitung der Wüstungen samt ihren Ursachen zu eruieren und anschließend eine mögliche Neubesiedlung zu ergründen.72 Für die Rassekarte des Gauatlas führte Karl Tuppa vom Anthropologischen Institut der Universität Wien mit dem Rassenpolitischen Amt der Gauleitung Niederdonau anthropologische Untersuchungen durch (Bsp. Körpermaße, Augen- und Haarfarbe). Insgesamt wollte man ein Zehntel der Bevölkerung Niederdonaus für die Studie heranziehen und so Aufschlüsse über die »rassenmäßige« Zusammensetzung der Bewohner erhalten. Im März 1943 erprobte man die Methode in Kirchberg am Wagram.73 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese anthropologischen Untersuchungen nicht nur für den Gauatlas gemacht wurden, sondern auch eine wichtige Vorarbeit zu einem der Kernprojekte der Nationalsozialisten, der Schaffung eines »reinrassigen Herrenvolkes«, darstellte.
70 Brief Hassingers an Mayer vom 30. 4. 1943. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15. 71 Bericht Hassingers an Sepp Mayer vom 14. 1. 1942. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15; Brief Hassingers an die Landesbauernschaft Donauland vom 3. 5. 1943. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 14. 72 Projektansuchen »Untersuchung der Wüstungen in Niederdonau«. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 16. 73 Bericht über die anthropologische Untersuchung in Kirchberg am Wagram. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 15; Gerhard Lechner, Die »Südostforschung« an der Universität Wien 1931 – 1945, Dipl. Arb., Wien 2004, 53 – 54.
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Kontinuitäten und Wandlungen der Raumforschung ab 1945
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte an der Universität Wien ein Niedergang der Raumforschung, der allerdings nicht lange dauerte. Die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung musste 1945 ebenso aufgelöst werden wie die SOEG und die SODFG. Einige raumforschungsorientierte Wissenschaftler der Universität verloren ihre Arbeit, wie zum Beispiel die Geographen Egon Lendl und Walter Strzygowski. Hugo Hassinger durfte wegen seiner fragwürdigen Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime im Sommersemester 1945 keine Lehrveranstaltungen abhalten. Da er allerdings nie Mitglied der NSDAP gewesen war, konnte er an der Universität Wien seine Karriere ab dem Wintersemester 1945/46 ungehindert fortsetzen. Er wurde wieder der führende Raumforscher Österreichs und gründete bereits 1946 zusammen mit anderen Natur- und Geisteswissenschaftlern die »Kommission für Raumforschung und Wiederaufbau der Österreichischen Akademie der Wissenschaften«. Ihre konstituierende Sitzung fand am 31. Mai 1946 im archäologischepigraphischen Seminar der Universität Wien statt.74 Die Mitglieder setzten sich zum Ziel, die Kooperationen zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen und Institutionen sowie politischen Behörden auf dem Gebiet der Raumforschung wiederzubeleben und auszubauen. Somit war bereits 1946 abermals eine enge Zusammenarbeit aller im Bereich der Raumforschung arbeitenden Wissenschaftler, Fachleute aus der praxisorientierten Raumplanung und der Politik gewährleistet. Nun stand allerdings nicht mehr die Raumeroberung im Vordergrund, sondern die Raumplanung innerhalb eines fest definierten Territoriums. Von allen nach 1945 gegründeten raumorientierten Organisationen und Gesellschaften75 war die »Kommission für Raumforschung und Wiederaufbau« zumindest in den ersten Jahren jene Institution, in der Mitarbeiter der Universität Wien am meisten tätig waren. Neben Hassinger, der als Obmann die Kommission leitete, arbeiteten unter anderem der Althistoriker Josef Keil, der Archäologe Camillo Praschniker, der Geograph Johann Sölch und der Numismatiker August Loehr mit.76 Zudem waren Mitarbeiter der Bundesministerien für Handel und Wiederaufbau, für
74 Einladung zur konstituierenden Sitzung vom 22. 5. 1946. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (AÖAW) Raumforschung, Kt. 1, Mappe 5. 75 Bsp.: »Arbeitsgemeinschaft für Landesplaner« (Gründung 3. 2. 1948), »Österreichische Gesellschaft für Raumforschung und Raumplanung« (Gründung 6. 3. 1954) usw. 76 Zur Sitzung vom 17. 5. 1946 siehe: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien philosophisch-historischen Klasse 12 (1946), 129 – 138.
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Land- und Forstwirtschaft, für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, für Energiewirtschaft und Finanzen ein fester Bestandteil aller Sitzungen.77 Gegenüber der NS-Zeit sind bei dem Mitarbeitern und behandelten Themen mehr Wandlungen als Kontinuitäten feststellbar. Da viele Wissenschaftler wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft in den unmittelbaren Nachkriegsjahren kaum wissenschaftlich tätig waren, wurde die Raumforschung bis auf wenige Ausnahmen zumindest in den ersten Jahren von einer neuen Generation bzw. von jenen Wissenschaftlern getragen, die wegen ihrer politischen Haltung nur kurzzeitig Probleme bekamen. Von den 31 Mitgliedern der »Kommission für Raumforschung« des Jahres 1949 waren zum Beispiel lediglich acht auch während des Nationalsozialismus an raumforschungsorientierten Projekten beteiligt.78 Viele der ehemaligen Mitarbeiter der Universität Wien konnten allerdings spätestens während der 1950er Jahre ihre Universitätskarriere fortsetzen. Egon Lendl wurde 1957 zum Universitätsprofessor für Geographie an der Universität Salzburg berufen. Walter Strzygowski erhielt 1955 eine Professur an der Hochschule für Welthandel und übernahm 1958 die Leitung des dortigen Instituts für Raumordnung. Nach 1945 wurden vor allem neue raumorientierte Forschungen initiiert, wie zum Beispiel die geographische Beschreibung von Flussgebieten, die Neugliederung Österreichs in natürliche Produktionsgebiete und die Auswertung der Luftbildaufnahmen für Zwecke der Land- und Forstwirtschaft und Bodenkunde. Einige Projekte weisen aber auch Kontinuitäten zur NS-Zeit auf. Als Beispiel soll hier der Niederösterreichatlas genannt werden, der ab 1951 in mehreren Lieferungen bei der Kartographischen Anstalt Freytag & Berndt publiziert wurde und auf Vorarbeiten zum Gauatlas Niederdonau beruht. Die wissenschaftliche Leitung des Atlasprojektes hatten Hassinger und der spätere Universitätsprofessor für Kartographie der Universität Wien Erik Arnberger inne. Finanziert wurde der Atlas unter anderem von der niederösterreichischen Landesregierung und der Vereinigung Österreichischer Industrieller.79 Als multidisziplinäres Projekt konzipiert beteiligten sich auch hier viele Geistes- und NaturwissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Institutionen. Nachfolger Hassingers auf den Lehrstuhl für Kulturgeographie der Universität Wien wurde 1951 Hans Bobek. Mit Bobek erfolgte ein Generationenwechsel, der mit Wandlungen bei den Forschungsthematiken verbunden war. Er wandte sich neuen Forschungsfragen zu, die Hassinger vor ihm nicht behandelt hatte. Bobek gilt als Mitbegründer der modernen Sozialgeographie. Im Gegensatz zu 77 Siehe dazu die Sitzungsprotokolle der »Kommission für Raumforschung und Wiederaufbau der Österreichischen Akademie der Wissenschaften« im AÖAW Raumforschung, Kt. 1. 78 Mitgliederverzeichnis vom 28. Juni 1949. UAW Nachlass Hassinger, Kt. 17. 79 Siehe diverse Berichte im AÖAW Raumforschung, Kt. 1, Mappen 2 und 4.
Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert
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Hassinger widmete sich Bobek den sozialen Kräften, die nach seinen Vorstellungen die Räume gestalten.80 Aber auch seine Forschungen zur Zentralen-OrteTheorie erzielten international eine hohe Anerkennung, da er und seine KollegInnen des Geographischen Institutes (Bsp. seine Assistentin Elisabeth Lichtenberger) Christallers Theorie weiterentwickeln konnten. Die »Zentrale-OrteTheorie« wurde vom deutschen Geographen Walter Christaller im Jahre 1933 begründet und stellt ein »wirtschaftsgeographisches Erklärungsmodell für die Entstehung, Größe und Verteilung von Städten«81 dar. Im Gegensatz zu Christaller entwickelten die Wiener GeographInnen auch eine lokale Zentralitätsforschung, die eine Zentrale-Orte-Forschung innerhalb eines Stadtgebietes darstellte.82 Die Theorie wurde aber auch für geschichtliche Fragestellungen angewandt. Solche Forschungen wurden an der Universität Wien sowohl am Institut für Geographie als auch am Institut für Geschichte durchgeführt.83 Die Raumforschung und Raumordnung wurde an der Universität Wien schließlich 1972 mit der Errichtung einer eigenen Professur innerhalb des Institutes für Geographie institutionalisiert, die mit Elisabeth Lichtenberger besetzt wurde. 1975 folgte Karl Stiglbauer Hans Bobek auf den Lehrstuhl für Kulturgeographie nach. Heute heißen die beiden Professuren »Humangeographie, Sozialgeographie und Wirtschaftsgeographie« und »Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung«. Thematisch haben sie damit im Vergleich zur oben beschriebenen Zeit eine Ausweitung erfahren. Zudem existiert am Institut für Geographie und Regionalforschung auch eine Professur für »Regionalgeographie«, deren MitarbeiterInnen sich vor allem mit der »Analyse der dynamischen räumlichen und sozio-demographischen Transformationsprozesse«84 auseinandersetzen.
80 Heinz Fassmann, Geographie an der Universität Wien 1938/1945/1955, in: Margarete Grandner/Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955. Innsbruck: Studienverlag 2005, 285. 81 Karl Kegler, Walter Christaller, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München: Saur 2008, 89. 82 Bsp. Elisabeth Lichtenberger, Die Differenzierung des Geschäftslebens im zentralöstlichen System am Beispiel der österreichischen Städte, in: Deutscher Geographentag, Bad Godesberg 2. bis 5. Oktober 1967. Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen, Wiesbaden: Steiner 1969, 229 – 242. 83 Bsp. Hans Bobek/Elisabeth Lichtenberger, Wien, bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Schriften der Kommission für Raumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1), Wien: Böhlau, 1966; Michael Mitterauer, Das Problem der zentralen Orte als sozial- und wirtschaftshistorische Forschungsaufgabe, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969), 433 – 467. 84 Willkommen auf den Internetseiten der Arbeitsgruppe »Regionalgeographie und Fachdidaktik«, Institut für Geographie und Regionalforschung, Universität Wien, URL: http:// reggeo.univie.ac.at/ (abgerufen am 1. 6. 2014).
Johannes Feichtinger
Die verletzte Autonomie. Wissenschaft und ihre Struktur in Wien 1848 bis 1938
1967 schrieb der Historiker Fritz Fellner: »Es scheint mir bezeichnend, dass in all den Feiern anlässlich der 600-Jahr-Feier der Wiener Universität ausführlich die Frühgeschichte untersucht und dargestellt wurde, […], dass aber die Weiterentwicklung der Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Neuorientierung der Jahrhundertwende […] bei diesem Anlaß kaum Erwähnung fand.«1
Hinzuzufügen wäre, dass anlässlich dieser Festivitäten nicht nur das Fin-desiÀcle, sondern auch die jüngere Vergangenheit wenig, unkritisch oder aus bemerkenswert eklektizistischer Perspektive beleuchtet wurden.2 So wirft der in diesem Zusammenhang 1965 veröffentlichte Artikel Nobelpreisträger aus Österreich ein bezeichnendes Licht auf die Haltung von Universität und Öffentlichkeit zur jüngeren Vergangenheit: Der Wiener Wolfgang Pauli habe »als erster Österreicher nach der Katastrophe von 1945 den ungeteilten Nobelpreis für Physik« erhalten.3 Mag diese Sicht auf das Jahr 1945 im Jahr 2015 bizarr erscheinen, so überrascht es Historikerinnen und Historiker kaum, dass nach Wiedererlangung der institutionellen Autonomie nicht Wittgensteins Wien4 und die Vertriebene Vernunft5 an der Universität Wien offiziell erinnert wurden, sondern der Verlust der 1 Fritz Fellner, Restauration oder Fortschritt. Hochschulprobleme aus der Sicht des Historikers, in: Heinz Fischer (Hg.), Versäumnisse und Chancen. Beiträge zur Hochschulfrage in Österreich, Wien: Forum 1967, 11 – 28, 20. 2 Vgl. z. B. Aufgaben der Universität Wien in Gegenwart und Zukunft. Aufsätze zur 600-Jahrfeier, hg. von der Universität Wien, Wien: Verlag der Österreichischen Hochschulzeitung 1965. 3 Ernst Wurm, Nobelpreisträger aus Österreich, in: Wien aktuell (1965) 1, 37 – 38, 38. Im Original nicht kursiv. 4 Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München: Piper 1984. 5 Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 – 1940, 2 Bände (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 1 und 2), Wien–Berlin: Lit Verlag 2004 (Original 1987 – 1988).
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»akademischen Selbstverwaltung unserer Hochschulen«.6 Dass Richard Meister für die Rede anlässlich seiner feierlichen Inauguration zum Universitätsrektor der Jahre 1949/50 das Thema der Thun-Hohenstein’schen Universitätsreform wählte und über Selbstverwaltung sprach, verwundert keineswegs, war doch der Autonomieverlust der Universität in der Zeit des austrofaschistischen Ständestaats und des Nationalsozialismus den Anwesenden noch lebendig in Erinnerung. Dieses Kapitel ist weniger der verlorenen als vielmehr der verletzten Autonomie auf der Spur, den damit verbundenen Auswirkungen auf die Wissenschaften und ihre Struktur in Wien. Die Universität hatte auf die Sicherung der Autonomie, die ihr 1848/49 gewährt worden war, den größten Wert gelegt.7 Das Argument lautete, dass die Forschungsleistung durch freie Wissenschaftspflege verbessert würde. Später wurde das Autonomiepostulat allerdings auch zum Schutz der Universität vor Veränderungen (z. B. politischen Umfärbungen) vorgebracht und in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Thun-Hohenstein’sche Universitätsreform (1849 – 1860) zurückgegriffen. In diesem Sinne erkannte Richard Meister in der erwähnten Inaugurationsrede den »unvergänglichen Wert« dieser Reform in der – wie er es sehen musste – Immunisierung der Universität vor »politischen Triebkräften«.8 Der ein Jahrzehnt lang dienende Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (ÖVP) sprach von »liberalistischer (später sozialistischer) Kulturauffassung«, vor der die »kontinuierliche Wirkung« der Thun-Hohenstein’schen Reform schützte.9 Das von Meister und Drimmel erarbeitete Hochschul-Organisationsgesetz von 1955 stellte eine wichtige Etappe auf dem Weg der bewahrenden Erneuerung dar : Durch das erste Schulgesetz nach 1945 gewannen die Hochschulen ihre verlorene Autonomie wieder, der mit der Selbstverwaltung ursprünglich verbundene Zweck der Hebung des wissenschaftlichen Niveaus wurde nicht weiter verfolgt: »Sie [die Universitäten] zogen sich auf ein überkommenes, idealistisches Selbstverständnis zurück«, bemerkte 1995 der Wiener Politikwissenschaftler Josef Melchior, »und trachteten ihre Standesprivilegien 6 Richard Meister, Die Universitätsreform des Ministers Graf Thun-Hohenstein. Inaugurationsrede, gehalten am 23. November 1949, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1949/50, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1949, 88 – 100, 96 – 97. 7 Zur Autonomieproblematik grundlegend vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, 32 – 51. 8 Richard Meister, Die Universitätsreform des Ministers Graf Thun-Hohenstein. Wiener Inaugurationsrede 1949, in: Rektoratsbericht für das Studienjahr 1949/50, Wien: Universität Wien 1949, 87 – 100, 97. 9 Heinrich Drimmel, Die Hochschulreform von Thun-Hohenstein, in: Österreich in Geschichte und Literatur 3 (1959) Sonderheft Österreich 1848 – 1918, 1 – 7, 1.
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unter Berufung auf die universitäre ›Autonomie‹, verstanden als Abschottung gegenüber Staat, Politik und Gesellschaft, zu verteidigen.«10 Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Autonomiepostulat auf beides bezogen: die Lehr- und Lernfreiheit sowie die Befugnis, sich in gesetzlich beschränktem Rahmen selbst zu verwalten. Zwischen diesen beiden gewährten Freiheiten lag ein Begründungszusammenhang vor : Der intendierte Zweck der Selbstverwaltung war die Sicherstellung der Lehr- und Lernfreiheit.11 So bekundete es auch noch Emil Reisch in seiner Inaugurationsrede von 1916.12 1867 war die Lehr- und Lernfreiheit verfassungsmäßig proklamiert worden. Sukzessive reduzierte sich das Autonomieverständnis der Universitäten aber auf die Selbstverwaltung, die in der Zeit des Sprachen- und Kulturkampfes, zwischen 1918 und 1934 und in den Jahren nach 1945, vehement verteidigt wurde. 1907 legte Josef Redlich in einem Manuskript über die damit verbundenen Missstände, zu denen »die Universitäten ganz besonders […] hinneigen«, unverblümt offen Zeugnis ab: »jene verdammenswerte Kliquenbildung und Protektionswirtschaft, die nirgends leichter ausbricht, als in mehr oder weniger geschlossenen Korporationen mit einer gewissen Autonomie.« Die Ursache dafür erkannte Redlich darin, dass »häufig tüchtige und wissenschaftlich fruchtbare jüdische Kräfte zurückgewiesen […] weil unter dem Schlagwort der Rassenreinheit unfähige Kräfte arischer Abkunft auf Stellen gesetzt« würden. »Gelehrte[n] von geradezu europäischem Rufe« würde der Aufstieg zur ordentlichen Professur verwehrt, u. a. »angesehene[n] und hochgeschätzte[n] Aertze[n] und Schriftsteller[n] wie Sigmund Freud«. Das Ergebnis sei »das unzweifelbare Sinken unserer Universitäten als Institutionen«. Redlich zufolge bedurfte es schon zur Zeit der Monarchie einer »unangreifbare[n] Aufsichtsgewalt des Staates in Universitätsdingen, wie sie anderswo zu finden ist.«13 10 Josef Melchior, Politischer Systemwandel und Hochschulpolitik in Österreich seit 1945. Rahmenbedingungen – Politische Systemverhältnisse – Hochschulpolitische Entwicklungen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 24 (1995) 1, 83 – 109, 88. 11 Vgl. Walter Berka, Autonomie im Bildungswesen. Zur Topographie eines bildungspolitischen Schlüsselbegriffs (Studien zu Politik und Verwaltung 76), Wien–Köln–Graz: Böhlau 2002, 41. 12 Vgl. Emil Reisch, Aufgaben unserer Universitäten nach dem Kriege. Inaugurationsrede gehalten von Dr. Emil Reisch, Rektor der k.k. Universität, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1916, 57 – 96, 78 f. 13 Josef Redlich, Über die Situation für jüdische Gelehrte an den österreichischen Universitäten, abgedruckt in: Oliver Rathkolb, Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach, in: ders. (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert (Zeitgeschichte im Kontext 8), Wien: Vienna University Press 2013, 275 – 315, 300 f., 305. Das hier veröffentlichte Typoskript diente Josef Redlich als Vorlage für seine Rede im Reichsrat am 4. 12. 1907, die er im Rahmen einer dreitägigen Debatte über den Dringlichkeitsantrag Masaryks vom 22. 11. 1907 betreffend die Garantien für die Lehr- und Lernfreiheit an den Universitäten hielt.
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Auch in der Ersten Republik stand die Universität Wien vor allen anderen Hochschulen in Bezug auf ihre Auslegung der Autonomie im Kreuzfeuer der Kritik. Unter dem Schlagwort »Hochschulautonomie« stand eine politisierte Universität zur Debatte,14 die Autonomie auf Selbstverwaltung reduzierte und in Allianz mit der konservativ-national orientierten Unterrichtsverwaltung Juden und Linken vermehrt Habilitationen verweigerte, erklärungsbedürftige Berufungen vornahm, rassistische Studentenordnungen (»Volksbürgerschaftsprinzip«) erließ und kritischen Wissenschaftsfächern wie z. B. der Soziologie keine Lehrstühle widmete. 1924 wurde dieses Autonomieverständnis von den sozialdemokratischen Wiener Universitätsprofessoren Ludo Moritz Hartmann, Hans Hahn und Carl Grünberg auf den Prüfstand gestellt. Der Historiker Hartmann schrieb in der Monatsschrift Der Kampf: »Das Wort Autonomie [sei] in Verbindung mit den Universitäten zu einem Popanz geworden […], auf den man losschlägt, wenn man eine Anzahl von Vorgängen an unseren Universitäten kritisch beleuchtet.« Angelpunkt seiner Polemik war, dass an der Universität »eine kleine und im wesentlichen unkontrollierbare Clique« die Auswahl der Professoren und Privatdozenten bestimmte, »eine Clique, welche naturgemäß heute beeinflußt ist durch ihr soziales Niveau, durch gesellschaftliche und familiäre Bande, durch Beziehungen der wissenschaftlichen Schulen untereinander«.15 Die Sozialdemokratinnen und -demokraten verfolgten ihr reformpolitisches Ziel kämpferisch, nämlich »dem in mystischem Dämmerlicht thronenden Popanz der Hochschulautonomie kritisch an den Leib zu rücken.«16 Die Fronten waren verhärtet: Die Sozialdemokrat/innen sahen in der Hochschulautonomie eine »Einschränkung der voraussetzungslosen Wissenschaft«, »das Grab nicht nur unserer Universitäten und ihrer Autonomie, sondern auch der Forschung selbst«.17 Sie forderten daher wieder »Lehr- und Lernfreiheit an den Hochschulen«18 statt missverstandener Hochschulautonomie, und sie bekundeten den Willen, »mit schärfstem Mißtrauen« zu untersuchen, »welche reaktionäre Kontrebande jeweils unter ihrem Schutze eingeschmuggelt werden soll.«19 Den Mathematiker Hans Hahn, Mitglied des Wiener Stadtschulrates, bewog dieses »schändliche Treiben« zum Vergleich der Universität Wien mit 14 Vgl. Brigitte Lichtenberger-Fenz, »…Deutscher Abstammung und Muttersprache«. Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 19), Wien–Salzburg: Geyer 1990. 15 Ludo M. Hartmann, Grundlagen einer Universitätsreform. Vortrag, gehalten in der Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer, in: Der Kampf 17 (1924), 142 – 145, 142, 144. 16 Hans Fischl, Die Autonomie der Hochschulen im demokratischen Staat, in: Der Kampf 17 (1924), 321 – 329, 321. 17 Hartmann, Grundlagen, 142. 18 Hans Hahn, Lehr- und Lernfreiheit an den Hochschulen, in: Der Kampf 17 (1924), 169 – 175. 19 Fischl, Die Autonomie, 322.
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dem »deutschnationalen Parteisekretariate«.20 Als Weg aus der »angemaßten Autonomie«, durch die sich die Hochschulen »abzuschließen« und »vom lebendigen Leib der Gesellschaft ab[zu]schnüren« versuchten, wurde die Etablierung eines »Kurators«, d. h. eines politisch besetzten »Hochschulrates«, sowie eine größere Transparenz der universitären Verfahren gefordert. Die christlich-sozial und deutschnational gesinnte Kollegenschaft wies diese »Verbesserungsvorschläge«21 als Zeugnis für die »bekämpfte Autonomie« zurück. Sie erkannte in den Reformvorschlägen eine ihr Autonomieverständnis untergrabende Politisierung der Universität.22 Die Angriffe auf die »Hochschulautonomisten« wurden erfolgreich abgewehrt;23 eine Art völkisch und »rassisch« orientierter numerus clausus wurde zunächst versteckt, später, 1930, offiziell durch die »Gleispach’sche Studentenordnung« eingeführt, 1931 aber vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben. Schon 1924 hatte Hans Hahn die rassistischen Praktiken an der Universität Wien wie folgt kommentiert: »Wirklich strenge Anforderungen werden nur in einem Punkt gestellt: an die Abstammung: Wenn ein Habilitationswerber unter seinen Ahnen einen Juden aufzuweisen hat, dann hat er nichts zu lachen.«24 Die Annahme, die in diesem Kapitel geprüft wird, lautet, wie oben angedeutet, dass sich die verletzte Autonomie in die Wissenschaftspraxis an der Universität sowie in die Struktur der Wissenschaftslandschaft Wiens einschrieb. Bemerkenswert ist, dass sich Selbstverwaltung und Wissenschaftsfreiheit nicht nur auf den Wandel der Wissenschaftsstile an der Universität, sondern zusehends auch auf die Orte innovativer Forschung in Wien spezifisch auswirkten. An der Universität waren manche Wissenschaftsauffassungen nicht geduldet, sie mussten ihren Platz im 20. Jahrhundert zusehends außerhalb der Universität finden. An der Universität war die Freiheit der Forschung eine wesentliche Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt, universitäre Selbstverwaltung aber nicht hinreichend für eine voraussetzungslose, zukunftsweisende Wissenschaft. Zwischen verletzter Autonomie und verringerter Innovation liegt somit ein Wechselverhältnis vor : Selbstverwaltung konnte zwar das Innovationspotential heben, aber nur in Verbindung mit Wissenschaftsfreiheit. Diese Hypothese lässt sich anhand der Wissenschaftspraxis an der Universität Wien zwischen 1848 und 1938 verifizieren. Untersucht werden zunächst die
20 Ebd., 328. Hahn, Lehr- und Lernfreiheit an den Hochschulen, 171. 21 Fischl, Die Autonomie, 328, 321. 22 Bericht über das Studienjahr 1922/23, erstattet von Karl Diener, Prorektor der Universität, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1923/24, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1923, 6. 23 Fischl, Die Autonomie, 321. 24 Hahn, Lehr- und Lernfreiheit, 170 f.
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Wissenschaftswenden,25 danach die differenzierte Struktur der Wiener Wissenschaftslandschaft – Universität und außeruniversitäre Wissenschaftskultur sowie ihre Überschneidungen. Vornehmlich wird das Augenmerk auf die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften gelegt. Für die Fächer der Philosophischen Fakulät lassen sich auf der Grundlage neuerer Studien Schlussfolgerungen im Hinblick auf das gewählte Thema ziehen; trotz der Desiderate bezüglich der Geschichte der naturwissenschaftlichen Studienfächer. In Bezug auf Medizin und Theologie bedarf es zur Behandlung der Autonomiefrage noch weiterer Grundlagenforschung, die für vorliegende Analyse nicht zu leisten war.
1.
Wiener Wissenschaftswenden
Leo Thun-Hohenstein, 1849 bis 1860 Minister für Cultus und Unterricht, anerkannte die 1848 durch Minister Franz Sommaruga erlassene Lehr- und Lernfreiheit, nahm sie aber zugleich ein Stück zurück. Thun schwebte ein Wissenschaftssystem vor, das das Niveau deutscher Vorbilder erreichte, sich zugleich aber auch als Stütze von Staat und Kirche bewährte.26 Dafür musste er das Vorschlagsrecht der Fakultäten für Professoren verletzen und den Wissenschaftsstil der Universitäten durch die Berufung systemtreuer (häufig deutscher) Professoren zurichten. Wie Lhotsky später zu zeigen versuchte, hatte Thun damit »latenten Tendenzen zur Verleugnung und Verneinung Österreichs« und der Eroberung der Universität durch deutschnationale Parteipolitik den Weg bereitet.27 Hans Lentze ließ keinen Zweifel daran, dass unter »Thuns autoritärem Regime […] die Unterrichtsverwaltung initiativ in das wissenschaftliche Leben ein[griff] und […] eine zielstrebige Lenkung des Kultur- und Bildungslebens bis ins einzelne für ihre Aufgabe« hielt.28 Unter diesem Vorzeichen bot sich Thuns zweckmäßige Schöpfung – die Universität als selbstverwaltete 25 Vgl. dazu ausführlich Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen. Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848 – 1938, Bielefeld: Transcript 2010, 161 – 175. 26 Vgl. Johannes Feichtinger/Franz Fillafer, Thun und die Nachwelt. Der Wissenschaftsreformer in der österreichischen Geschichts- und Kulturpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Brigitte Mazohl/Christof Aichner (Hg.), »Für Geist und Licht! … das Dunkel schwand.« Die Thun-Hohensteinschen Universitätsreformen 1849 – 1860. Konzeption – Umsetzung – Nachwirkung, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 2015 [im Druck]. 27 Alphons Lhotsky, Das Ende des Josephinismus. Epilegomena zu Hans Lentzes Werk über die Reformen des Ministers Grafen Thun (Original 1962), in: ders., Gesammelte Aufsätze, hg. von Hans Wagner/Heinrich Koller, Band 3: Historiographie, Quellenkunde, Wissenschaftsgeschichte, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1972, 258 – 290, 282. 28 Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte, 239, Band 2), Graz–Wien–Köln: Böhlau 1962, 114.
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Anstalt, deren Autonomie aber beschränkt war – noch im 20. Jahrhundert dafür an, eine weltanschaulich fundierte Universität zu rechtfertigen.
Ausgangspunkte: Systemwissenschaft und Objektivismus In der Ära Thun-Hohenstein wurde die Universität mit der Aufgabe historischpositiver und wertfreier Wahrheitsfindung betraut. Vornehmliche Aufgabe der Wissenschaften sollte es sein, die ›an sich‹, d. h. objektiv und unabhängig vom erkennenden Subjekt, vorliegenden Wahrheiten zu klassifizieren, nicht aber notwendig das Wissen zu erweitern. Der Prager Logiker und ›Wissenschaftslehrer‹ Bernard Bolzano wurde als Ahnherr dieses ›Objektivismus‹ aufgebaut, durch den der idealistischen Philosophie, deren Ich- und Subjektzentrierung durch nationalistische Akteure vereinnahmt zu werden drohte, die Spitze gebrochen werden konnte. Diese Staatsphilosophie wurde insbesondere an der Wiener Universität gepflegt und durch das weitgehend politikfreie System des Antiidealisten Johann Friedrich Herbart verbreitet: Der Philosoph dürfe sich niemals anmaßen, so Herbart, »unmittelbar auf das Zeitalter einzuwirken.«29 Der Herbartianismus musste auf die durch die Revolution gebeutelte Staatspolitik befriedend wirken. Herbartianer wurden seit 1849 auf Wiener Lehrstühle berufen: zunächst Franz Karl Lott, ein Philosoph, und der Altphilologe Hermann Bonitz, 1856 Eduard Hanslick, dem die erste venia legendi für Geschichte und Ästhetik der Musik verliehen wurde, und 1865 Theodor Vogt, ein Schüler Lotts, der als erster im Fach Pädagogik habilitiert und 1871 zum ersten Pädagogikprofessor ernannt wurde. Der führende Herbartianer war der Bolzano-Schüler Robert Zimmermann, der 1861 nach Wien berufen wurde und 35 Jahre lang einen Philosophielehrstuhl besetzte, zuletzt als einziger ordentlicher Professor. Seine objektivistische Wissenschaftslehre lässt sich durch einen seiner Aussprüche knapp charakterisieren: »Die Krankheit unserer Zeit ist die Subjektivität.«30 Zimmermanns Wirkung war enorm: einerseits durch das obligatorisch verwendete Lehrbuch Philosophische Propädeutik für Obergymnasien (1852/53; 21860; 31867), anderseits durch sein Programm einer »Ästhetik als exacter Wissenschaft«.31 Ästhetik 29 Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung (Original 1813), hg. von Wolfhart Henckmann (Philosophische Bibliothek 453), Hamburg: Meiner 1993, 61 f. 30 Robert Zimmermann, Was erwarten wir von der Philosophie? Ein Vortrag beim Antritt des ordentlichen Lehramts der Philosophie an der Prager Hochschule gehalten am 26. April 1852, Prag: Credner & Kleinbub 1852, 12. 31 Vgl. Robert Zimmermann, Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 2 (1862), 309 – 358.
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wurde von Zimmermann als eine »Proportionslehre im großartigen Maßstabe« begriffen;32 der Kunstwert eines Kunstwerks war daher objektiv, d. h. unabhängig von Zeit und Raum erkennbar. Dieser objektivistische Ästhetikbegriff hinterließ auch an der Universität Wien in den sich ausdifferenzierenden Disziplinen Musik und Kunst seine Spuren. Der Musikforscher Eduard Hanslick erkannte das »Musikalisch-Schöne« im »Objekt«, das durch das »empfindende Subjekt« völlig unberührbar war : »Das Schöne hat seine Bedeutung in sich selbst, es ist zwar schön nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe.«33 Auch für die junge Wiener Kunstwissenschaft wurde das Formproblem zentral. Ihr namhaftester Vertreter Alois Riegl rückte zwar vollständig vom Konzept der normativen Ästhetik zugunsten einer empirischen Ästhetik ab,34 die formanalytische Methode sollte in der Wiener kunsthistorischen Schule aber Tradition bildend werden. Im 19. Jahrhundert prägten Objektivismus und Herbartianismus den sich ausdifferenzierenden Wissenschaften Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Musik und Kunst den Stempel auf und stärkten damit die »objektive Staatsnation«.35 Im 20. Jahrhundert stieß insbesondere die Herbart’sche Pädagogik auf heftige Kritik: als »Lern- und Drillschule«, in der die auswendige Wiedergabe »lebensfremder Stoffe« abverlangt wurde und durch die Schüler zu »passivrezeptivem Verhalten« erzogen würden.36 Der Objektivismus wurde noch im Jahr 1935 als das »Hauptcharakteristikum der ›österreichischen‹ Philosophie in ihrer Gesamtentwicklung« erkannt.37 Zu Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Wissenschaften »diszipliniert« und systemkonform zugerichtet worden. Unter diesem Vorzeichen wurde den Universitäten »ausschließlich im Sinne einer staatlichen Funktion« Autonomie ge32 Vgl. Robert Zimmermann, Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft, Band 1, Wien: Braumüller 1858. ders., Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft, Band 2, Wien: Braumüller 1865. 33 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst, historisch-kritische Ausgabe hg. von Dietmar Strauß, 2 Bände, Mainz: Schott 1990, 22, 26. In der zweiten, verbesserten Auflage (Leipzig: Rudolph Weigel 1858) heißt es: »Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird.« 34 Vgl. Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin: Siemens 1893. 35 Vgl. Andreas Hoeschen/Lothar Schneider, Herbartianismus im 19. Jahrhundert. Umriss einer intellektuellen Konfiguration, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneute Geistesgeschichte (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 20), München: Oldenbourg 2006, 447 – 477. 36 Vgl. Beitrag von Richard Olechowski in Band IV dieser Reihe. 37 Karl Siegel, Unterrichtsreform. Philosophie, in: Eduard Castle (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur in Österreich-Ungarn im Zeitalter Franz Josefs I., Band 3: 1848 – 1890 (Deutsch-österreichische Literaturgeschichte 3), Wien: Fromme 1935, 17 – 48, 48.
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währt.38 Durch Aneignung neuer Wissensformen und -inhalte konnte die Staatspolitik nicht nur ihre Regulierungstechniken optimieren, sondern auch ihr Handeln auf neue Art legitimieren: »Wenn«, wie Hans Kelsen 1934 schrieb, »die Naturwissenschaft ihre Unabhängigkeit von der Politik so gut wie durchzusetzen vermochte, so darum, weil an diesem Sieg […] ein politisches Interesse bestand: die freie Forschung versprach technischen Fortschritt«,39 und so sei mit Bezug auf die Geisteswissenschaften ergänzt: – Stabilität im national bewegten Vielvölkerstaat. Sobald sich die staatliche Funktion nicht zu erfüllen schien, wurde sie wieder ein Stück weit zurückgenommen. So wurde der von den Wiener Juristen vorübergehend eingeführte Unterricht in Verfassungsrecht nach Außerkraftsetzung der 1849er-Märzverfassung wieder aus dem Studienplan gestrichen.40
Wissenschaftswende 1: »Das ›System‹ macht allmählig der ›Forschung‹ Platz« Die erste Wissenschaftswende trat mit dem Anbruch liberaler Herrschaft und der Auflösung der Verbindung von Thron und Altar (Konkordat) ein.41 Ab den 1860er Jahren erlebte die Wiener Wissenschaft die Ankunft einer ›modernen‹ positivistischen Wissenschaftsauffassung, der zufolge Experiment und Beobachtung (Empirie) zu den Instanzen der Letztbegründung kausaler wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten erhoben wurden. Was Systematisierung war, sollte bald innovativem Handeln weichen: »Das ›System‹ macht allmählig der ›Forschung‹ Platz«,42 so bezeugte Eduard Hanslick 1858 knapp und treffend die Abkehr vom Objektivismus, der mit der Intention politischer Veränderung unvereinbar war. Diesem Reformvorhaben leistete die Verrechtlichung des autonomen Wirkungsbereichs der Universität Vorschub. 1867 wurde die Wissenschaftsfreiheit proklamiert (Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger). Anlässlich des 500-Jahr-Jubiläums der Universität Wien 1865 hatten 58 (von 91) Professoren dem für Unterricht zustän38 Robert A. Kann, Hochschule und Politik im österreichischen Verfassungsstaat (1867 – 1918), in: Gerhard Botz/Hans Hautmann/Helmut Konrad (Hg.), Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien: Europaverlag 1974, 507 – 526. 39 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die Rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig–Wien: Deuticke 1934, VII. 40 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, München: Beck 1992, 307. 41 Zur politischen Modernisierung und Konsolidierung des Erziehungssystems vgl. Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848 – 1918, West Lafayette, Ind.: Purdue University Press 1996, 36 – 54. 42 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen (2., verbesserte Aufl., Leipzig: Rudolph Weigel 1858), 23.
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digen Staatsminister Anton von Schmerling eine Adresse überreicht, in der sie die Entkonfessionalisierung der Universität Wien forderten.43 Die Universitäten waren (mit Ausnahme der Katholisch-Theologischen Fakultäten) zwar nicht in das Konkordat (1855) einbezogen worden, die Universität Wien war jedoch in einem kirchlichen Machtverband verblieben. Ihr Kanzler war der Dompropst von St. Stefan, der den Wiener Erzbischof vertrat. Als das Unterrichtswesen 1868 der Staatsaufsicht unterstellt wurde, war die Machtstellung der Kirche in diesem Bereich erheblich verringert. 1873 verstetigte die liberale Staatsverwaltung das provisorische Universitätsorganisationsgesetz (1849). Die neue Universitätsverfassung bestätigte das Thun-Hohenstein’sche System. Sie brachte »nichts Neues, sondern Definitives«,44 wodurch das universitäre Selbstverwaltungsrecht dauerhaft anerkannt wurde. In Wien und Prag wurden die Doktorenkollegien ihrer universitären Leitungsfunktion enthoben. Das Kanzleramt wurde auf die Katholisch-Theologische Fakultät beschränkt, Vertretern jeder Konfession die Wahl in akademische Ämter erlaubt. In der Zeit des Hochliberalismus (1867 – 1879) wurde der gesetzlich verankerte autonome Wirkungsbereich der Universität kaum durch Übergriffe der staatlichen Unterrichtsverwaltung verletzt. Sie beschränkte »sich auf Verwaltungsarbeit nach der Schablone« und überließ »die Initiative den Fakultäten.«45 Bezüglich der Auswahl neuer Professoren war der konfessionelle Hintergrund wenig ausschlaggebend. Die Machtstellung der Kirche war gebrochen, bezüglich der jeweiligen Handlungsspielräume waren sich Unterrichtsministerium und Universität Wien weitgehend einig; in beiden Institutionen hatte der Liberalismus eine Machtstellung errungen. Die grundrechtlich verankerte Wissenschaftsfreiheit belebte das universitäre System ungemein: Zwischen 1866/67 und 1876/77 wurden in Österreich 131 neue Lehrstühle etabliert.46 Diese signifikante Veränderung lässt sich anhand des Karrierestarts des Altphilologen Theodor Gomperz illustrieren: In der Konkordatszeit hatte ihm sein jüdisch-liberaler Hintergrund die Aussicht auf eine Universitätslaufbahn verstellt. Im Jahr 1867 wurde er – ohne promoviert zu haben – an der Universität Wien habilitiert, 1869 zum außerordentlichen und 1873 zum ordentlichen Professor ernannt. Gomperz war der erste nicht konvertierte jüdische Lehrstuhlinhaber für klassische Philologie im deutschsprachigen Raum. Sein wohl 43 Vgl. Lentze, Unterrichtsreform, 277 f. 44 Karl Lemayer, Die Verwaltung der österreichischen Hochschulen von 1868 – 1877, im Auftrage des k. k. Ministers für Cultus und Unterricht, Wien: Hölder 1878, 44. 45 Lentze, Unterrichtsreform, 114. 46 Vgl. Walter Höflechner, Zur nichtstaatlichen Wissenschaftsförderung in Österreich in der Zeit von 1848 bis 1938 am Beispiel der Akademie der Wissenschaften in Wien, in: Rüdiger vom Bruch, Rainer A. Müller (Hg.), Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 1990, 211 – 225, 212.
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wesentlichstes Verdienst bestand in der Vermittlung der positivistischen Wissenschaftslehre, durch die die Wissenschaft »die Bahn des Fortschritts betreten« konnte.47 Auf seinen intellektuellen Fährten bewegten sich zahlreiche andere Wiener Professoren, u. a. der Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Scherer, der Jurist Max Menger, der Altphilologe Wilhelm von Hartel, der Kunsthistoriker Moritz Thausing und die hervorragendsten Mediziner dieser Zeit: Carl von Rokitansky, Theodor Meynert, Ernst Wilhelm von Brücke, Hermann Nothnagel und letztlich auch der Philosoph Franz Brentano sowie deren bedeutendster Schüler Sigmund Freud. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts profilierte sich die Universität Wien als ein Zentrum der positivistischen Wissenschaftslehre,48 einer Naturwissenschaftsphilosophie, deren größte Strahlkraft durch die Berufung Ernst Machs auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« erreicht werden sollte. Theodor Gomperz hatte dafür den Weg geebnet.49 Der Altphilologe war schon in den 1860er Jahren in einen positivistischen Zirkel, das »Historische Kränzchen«, involviert, das sich der kausalgesetzlichempirischen Wissenschaftslehre widmete. Anhaltspunkte boten u. a. Werke von John Stuart Mill, Henry Thomas Buckle und George Grote. Gomperz übersetzte John Stuart Mills System der deductiven und inductiven Logik.50 Durch die Aneignung positivistischer Lehren wurde in den verschiedenen Disziplinen ein Methodenwandel stimuliert; das Handeln der Wissenschaftler spielte sich auch künftig in einem weltanschaulichen und System affinen Kontext – allerdings der anderen Art – ab: Das im Erkenntnisprozess aufgewertete Subjekt konnte als ein ›Wir‹ verstanden und politisch zugerichtet werden, diese Zurichtung aber zugleich durch den Mantel objektiv verfahrender Forschung verhüllt werden. Vor diesem Hintergrund vollzog u. a. Wilhelm Scherer den Methodenwandel in der Germanistik. 1868 war er zum ordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Wien berufen worden. Scherer betrachtete die Sprachentwicklung im Spiegel von Ursache und Wirkung und zog in Anlehnung an die Lautphysiologie Ernst Wilhelm von Brückes Schlüsse auf den historischen Lautwandel. Später etablierte er das naturwissenschaftliche Verfahren auch als literaturwissenschaftliche Methode. Mit dem Methodenwandel in den Wissenschaften verknüpfte Scherer das politische Ziel, zu den Wurzeln ›deutscher Einheit‹ vorzudringen, um dadurch den Zweck li47 Franz Palacky´, Oesterreichs Staatsidee, Prag: Kober 1866 (Original 1865), 5. 48 Vgl. Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt, 161 – 175. 49 Vgl. Josef Mayerhöfer, Ernst Machs Berufung an die Wiener Universität 1895, in: Clio Medica. Acta Academiae Internationalis Historiae Medicinae 2 (1967), 47 – 55, 52. 50 Die Mill’sche Logik, von Gomperz übersetzt, erschien 1872 – 1873 in den von ihm herausgegebenen Gesammelten Werken John Stuart Mills, 12 Bände, Leipzig: Fues 1869 – 1880.
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beraler Herrschaft – die Wahrung der deutschen Hegemonie im Staat Österreich-Ungarn durch schroffen Zentralismus – zu unterstützen.51 In der Philosophie verfolgte Franz Brentano mit seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) das Ziel, diesen breiten Fachbereich im Sinne der Naturwissenschaftsphilosophie auszurichten. Der Würzburger Philosoph wurde 1874 an die Universität Wien berufen. Seine vierte Habilitationsthese von 1866, die er als provokante Erwiderung auf die idealistische Identitätsphilosophie vorgebracht hatte, lautete: »Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaft.«52 In seiner Wiener Antrittsvorlesung verkündete er, dass es auch in der Philosophie »keine andere Lehrmeisterin geben [darf] […] als die Erfahrung«, und er begründete ihre Erkenntnis erweiternde Funktion durch Introspektion, Beobachtung und Experiment.53 In Bezug auf die Herbart’sche Philosophie vermerkte er boshaft, dass »die Stunde […] pomphaft aufgebauschter Lehrsysteme […] schon vorüber«, »das Unkraut« jedoch noch nicht »ausgerodet« wäre.54 Verbittert verließ er 1895 Wien. Seine Professur hatte er aufgrund einer unerlaubten Heirat zurückgelegt und danach mehr als ein Jahrzehnt lang unentgeltlich als Privatdozent gelehrt. Brentano hatte der empirischen Psychologie akademische Anerkennung verschafft,55 und er hatte Sigmund Freud den Weg zur Psychologie bereitet. Freud, der vier Semester lang (1874 – 1876) Brentanos Vorlesungen besucht hatte, hatte den »Hauptvorzug seiner Philosophie« in der Übertragung der »Methode der Naturwissenschaften auf die Philosophie und besonders die Psychologie« erkannt, die, wie Freud schrieb »sie allein mir erträglich macht«.56 Um 1900 sollte er schließlich mit seiner Theorie von der Macht des »Unbewussten« Brentanos empirische und Herbarts rationalistische Psychologie überwinden. Der Bewusstseinsphilosoph Brentano hatte das Unbewusste noch als »ein Unding« verworfen.57 Der Rationalist Herbart hatte zwar eine Dynamik 51 Vgl. Peter Wiesinger, Die Entwicklung der Germanistik in Wien im 19. Jahrhundert, in: Frank Fürbeth u. a. (Hg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846 – 1996), Tübingen: Niemeyer 1999, 443 – 468, 456 f. 52 Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, hg. von Oskar Kraus, Leipzig: Meiner 1929 (Original 1893), 137. 53 Franz Brentano, Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete. Ein Vortrag, gehalten beim Antritte der philosophischen Professur an der k.k. Hochschule zu Wien am 22. April 1874, in: Kurt Rudolf Fischer (Hg.), Österreichische Philosophie von Brentano bis Wittgenstein. Ein Lesebuch, Wien: WUV 1999, 3 – 14, 3. 54 Franz Brentano, Meine letzten Wünsche für Oesterreich, Stuttgart: Cotta 1895, 10, 31. 55 Vgl. Barry Smith, Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Chicago, Ill.: Open Court 1994. 56 Sigmund Freud, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871 – 1881, hg. von Walter Boehlich, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1989, 116 [Eintrag von »Montag, 15. März« 1875]. 57 Sigmund Freud, Die Widerstände gegen die Psychoanalyse (Original 1925), in: ders., Ge-
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zwischen unbewusster und bewusster Seelentätigkeit erkannt, hierfür aber keine empirischen Belege vorgebracht. Freud füllte schließlich die abstrakten philosophischen Konzepte »in seiner klinischen Theorie und Praxis mit Leben« auf.58 Den empirisch-induktiven Zugang hatte er durch seine Lehrer kennengelernt: Brentano hatte ihn mit Gomperz bekannt gemacht, für dessen Werkausgabe von Mill er im Jahr 1879 vier Essays übersetzte.59 Als Medizinstudent vertiefte sich Freud in den Laboratorien des Physiologen Ernst Wilhelm von Brücke, des Internisten Hermann Nothnagel und des Hirnforschers Theodor Meynert in die kausalgesetzliche Methode. Dem radikalen Empiriker Brücke, »der größten Autorität«, die je auf ihn gewirkt habe,60 verdankte der junge Freud eine positivistische Grundorientierung. Brücke, Nothnagel und Meynert unterstützten auch sein Habilitationsvorhaben im Fach Neuropathologie, das er 1885 erfolgreich abschloss. Der positivistische Methodenwandel ergriff schließlich auch die Staatswissenschaften im weiteren Sinne, insbesondere die politische Ökonomie. 1855 war Lorenz Stein zum Professor für politische Ökonomie an die Universität Wien berufen worden. Der Schöpfer einer »Verwaltungslehre als eigentlicher Staatswissenschaft« war Historiker, doch arbeitete er an der Universität Wien klassifizierend und deduktiv. In seiner Verwaltungslehre stellte er das Verwaltungswissen seiner Zeit systematisch und umfassend dar.61 Anlässlich seines Todes wurde in einer Würdigung der »Bedeutung Lorenz von Stein’s für die Wissenschaft« seine Methode skizziert: »Er ist nicht induktiv trotz vergleichender Behandlungsweise und Statistik, sondern arbeitet deductiv ; ihm fehlt der Sinn für die Relativität, den Lebensnerv der historischen Schule, seine Lösungen sind, jeweilig wenigstens absolute sowohl in der begrifflichen Systematik als auch in praktischen Fragen.« Steins »hauptsächliche That« auf dem Gebiet der Verwaltungslehre sei »die Schaffung eines wirklich in sich abgeschlossenen ›Systems‹.«62 Der Statistiker Karl Theodor Inama-Sternegg rief 1902 in Erinnerung, dass dieses System die Grundlage für ein »von staatswissenschaftlichem
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sammelte Werke, Band XIV. Nachdruck der Ausgabe von London 1942, hg. von Anna Freud u. a., Frankfurt a. M.: S. Fischer 1999, 97 – 110, 103. Günther Gödde, Philosophischer Kontext, in: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart–Weimar : Metzler 2006, 10 – 25, 14 f. Vgl. ders., Traditionslinien des Unbewußten. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, Gießen: Psychosozial-Verlag 2009. Vgl. John Stuart Mill, Gesammelte Werke, autorisierte Übersetzung unter Redaktion von Professor Dr. Theodor Gomperz, Band 12: Über Frauenemanzipation. Plato. Arbeiterfrage. Socialismus, Leipzig: Fues 1880. Vgl. Sigmund Freud, Nachwort zur ›Frage der Laienanalyse‹ (Original 1926), in: ders., Gesammelte Werke, Band XIV, 287 – 296, 290. Lorenz von Stein, Verwaltungslehre, 10 Bände, Stuttgart: Cotta 1865 – 1884. Gustav Marchet, Ueber die Bedeutung Lorenz von Stein’s für die Wissenschaft, in: Oesterreichische Zeitschrift für Verwaltung 52 (1890) 23, 229 – 232.
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Geiste erfülltes Facultätsstudium« geliefert habe, »in dem aber ›reine Jurisprudenz‹ überhaupt keine Stätte« gefunden habe.63 Stein habe das Verfassungs- und Verwaltungsrecht zwar integriert, aber nicht juristisch behandelt. In der Zeit des Hochliberalismus hatten sich die Staatswissenschaften zusehends aus der Umklammerung durch die als Systemwissenschaft verstandene Verwaltungswissenschaft befreit. Juristen wie z. B. Josef Ulbrich und Felix Stoerk zeigten sich vermehrt offen gegenüber positivistischen Ansätzen. An der Universität Wien war der erste selbständige Lehrstuhl zur Pflege des Verfassungsund Verwaltungsrechts 1868 mit Wenzel Lustkandl, einem führenden Kopf des deutsch-liberalen Lagers, als außerordentlichem Professor besetzt worden. 1893 wurden das österreichische Staatsrecht und das Verwaltungsrecht in Verbindung mit der österreichischen Reichsgeschichte als einer Geschichte der Staatsbildung durch eine Studienreform erheblich aufgewertet. Auf die beiden Wiener Lehrstühle wurden Wenzel Lustkandl und Edmund Bernatzik, der Lehrer Hans Kelsens, berufen. Zwischen 1883 und 1889 hatte auch Georg Jellinek das Staatsrecht an der Universität Wien vertreten, bevor er Österreich verließ und um 1900 als Heidelberger Professor zum bedeutendsten Staatsrechtslehrer Deutschlands aufstieg. Jellineks »Zwei-Seiten-Theorie« – der Staat als Herrschaftsverband und als normative Ordnung – war jene Theorie, die Hans Kelsen als Werkzeug der Herrschaftslegitimation entlarvte und mit seiner reflexivpositivistischen Reinen Rechtslehre (1934) überwand. Jellineks System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892) zeugte ebenso von der neuen Aufmerksamkeit für das Subjekt als Analyseobjekt wie die ökonomische Werttheorie Carl Mengers, des Begründers der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Carl Menger wies durch seine »subjektive Wertlehre« das Dogma des objektiv und überindividuell bestimmbaren Werts von Gütern zurück.64 In seinen Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre (1871) zeigte Menger, der 1873 an der Universität Wien zum außerordentlichen und 1879 zum ordentlichen Professor für politische Ökonomie berufen wurde, dass das Subjekt aufgrund knapper Mittel gezwungen wäre, zwischen Alternativen abzuwägen und eine rationale Entscheidung – die »unentbehrliche Grundlage«65 ökonomischen Verhaltens – zu treffen, um die subjektiven Bedürfnisse so optimal wie
63 Karl Theodor Inama-Sternegg, Die Entwickelung [sic!] der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes seit dem Tode von Lorenz von Stein, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. Organ der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte 11 (1902), 137 – 152, 138 f. 64 Vgl. Karl Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens, Band 1 (stw 1356), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, 521 – 545. 65 Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, erster, allgemeiner Theil, Wien: Braumüller 1871, 51.
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möglich zu befriedigen.66 Er erkannte, dass die Tauschwerte auf den Märkten von subjektiven Wertungen abhängig waren und die Preise nicht durch den investierten Arbeitswert, sondern durch den Nutzwert für den einzelnen bzw. durch Wertabwägung (»Grenznutzen«), d. h. nicht absolut, sondern relativ, bestimmt würden. Menger entwarf somit eine Lehre vom wirtschaftlichen Handeln, und er argumentierte darin kausal-analytisch und – auf der Grundlage »innerer Erfahrung« bzw. psychologischer Introspektion – empirisch.67 Im Zeitraum von 1867 bis 1890 war der Objektivismus langsam einer induktiv-empirischen, das Subjekt betonenden positivistischen Forschungspraxis gewichen. Dieser Wandel im wissenschaftlichen Handeln hatte sich vor dem Hintergrund der verrechtlichten Autonomie der Universität vollzogen, die kaum durch »konfessionell-religiös-dogmatische« und/oder »ideologisch-politische« Übergriffe der Staatsverwaltung verletzt wurde.68 Auffallend ist, dass sich die Universität Wien zu jener Zeit als exzellenter Wissenschaftsstandort etablierte, als die Autonomie im vollen Sinne, d. h. als Wissenschaftsfreiheit und universitäre Selbstverwaltung, praktiziert werden konnte. In postliberaler Zeit lief sie wieder Gefahr verletzt zu werden. Zum einen schien die Wissenschaftsfreiheit durch »ideologisch-politische« Übergriffe gefährdet. Am österreichischen Katholikentag 1907 hatte Karl Lueger vor dem Hintergrund der Wahlerfolge der Christlichsozialen proklamiert, die Universitäten erobern zu wollen, die angeblich »Umsturzideen, die Revolution, Vaterlands- und Religionslosigkeit« pflegten und verbreiteten. Thomas Masaryk verlangte darauf im Reichsrat von der Regierung »Garantien gegen die von der genannten Regierungspartei angedrohte Eroberung der Universitäten […], daß sie die staatsgrundgesetzlich gewährleistete Lehr- und Lernfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft, die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützen werde.«69 Zum anderen wurde die 1849 zur Sicherung der Lehr- und Lernfreiheit provisorisch gewährte und 1873 verrechtlichte Selbstverwaltung der Universitäten zunehmend sinnentfremdet eingesetzt; als Mittel »um die Verjudung hintanzuhalten«, ein Slogan, den der Abgeordnete Josef Redlich 1907 schärfstens zurückwies, weil er – wie er nachwies – jeder Grundlage entbehrte. Vielmehr waren im Ausland anerkannte Professoren, die »als Judenstämmlinge ›reprobiert‹ würden«, »durchwegs in 66 Vgl. Karl Milford, Karl Menger und die Ursprünge der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, in: Reinhard Neck (Hg.), Die Österreichische Schule der Nationalökonomie (Schriftenreihe der Karl Popper Foundation 4), Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2008, 25 – 64. 67 Vgl. Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens, Band 1, 526 f., 541 – 545. 68 Walter Höflechner, Wissenschaftsfreiheit in Österreich, in: Rainer Albert Müller/Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 9), Basel: Schwabe 2008, 263 – 275. 69 Protokolle des Hauses der Abgeordneten, 35. Sitzung der 18. Session am 22. 11. 1907, 2689 f. (Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Masaryk und Genossen).
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Österreich nach der an der Universität und auch im Unterrichtsministerium herrschenden Auffassung nicht mehr unterzubringen«.70 Vonseiten der Berufungskommissionen wurden wieder Herkunft, Konfession und Haltung der zur Auswahl stehenden Kanditaten für Professuren überprüft.71 Indiz für diese Art verletzter Autonomie war die 1888er-Habilitationsordnung, die das Professorenkollegium ermächtigte, ein Habilitationsgesuch wegen eines »in der Persönlichkeit des Bewerbers gelegenen Grundes« (§ 6) abzuweisen. Spätestens ab den 1890er Jahren war der andere Zustand an der Universität Wien erreicht. Sie war zu einer Hochburg des Antisemitismus und der rassistischen Gewalt geworden.72 Um 1900 erarbeiteten ihr Ernst Mach, Sigmund Freud und Hans Kelsen noch einen Ruf von Weltrang, indem sie der positivistischen Wissenschaftsauffassung eine subjektkritisch-reflexive Ausrichtung gaben und damit die internationale Aufmerksamkeit auf Wien lenkten.
Wissenschaftswende 2: Wissenschaft als Substanzkritik Um 1900 wurde das Subjekt als Erkenntnisobjekt aus erfahrungswissenschaftlicher Perspektive neu bewertet. Das Augenmerk fiel verstärkt auf die Art der Letztbegründung der Erkenntnis. Auf dem Prüfstand standen die landläufigen kausallogischen und normativen Methoden, die grundlegenden Zugriffe Individualismus oder Universalismus und Organizismus sowie die Art der Begriffsbildung: Was Substanzbegriffe wie z. B. Volk, Kultur und Rasse, Zeit- und Volksgeist, Ich, Seele, Staat, System, Ganzheit sowie insbesondere jene der Physik – Kraft, Materie, Atom – waren, sollten Funktionsbegriffe werden. Das ambitionierte Ziel der hervorragendsten Wiener Forscher bestand darin, durch Überprüfung und Neubewertung der wissenschaftlichen Grundbegriffe zu erkennen, wie das Individuum und seine Außenwelt strukturiert waren, wie sie miteinander in Verbindung standen und wie die Wissenschaftseinheit zurückgewonnen werden konnte. Durch die Verarbeitung von empirischem Material sollten international wegweisende Theorien zur Methode im Allgemeinen sowie zum Ich (Seele), zur Gruppe (Masse), zu Staat und Staatsform im Besonderen entwickelt werden. Die Wirklichkeit sollte dabei nicht länger in monolithische Systeme gezwängt, sondern vielmehr in ihrer irreduziblen Vielfalt durchforscht werden. Von diesen neuen Ordnungen des Wissens zeugen u. a. »Sprachspiel«
70 Protokolle des Hauses der Abgeordneten, 40. Sitzung der 18. Session am 4. 12. 1907, 2938 – 2948, 2941 f. (Rede des Abgeordneten Redlich). 71 Vgl. Höflechner, Wissenschaftsfreiheit in Österreich, 266. 72 Vgl. Rathkolb, Gewalt und Antisemitismus, 69 – 92.
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und »Enzyklopädie« als Erkenntnisform, wie sie von Ludwig Wittgenstein und Otto Neurath, dem Organisator des Wiener Kreises, entwickelt wurden. Den Takt gab Ernst Mach vor:73 1926, zehn Jahre nach seinem Tod, würdigte die Zentralfigur des Wiener Kreises Moritz Schlick den 1895 auf eine Lehrkanzel für Philosophie berufenen Physiker Mach: »Sein Name [werde] auf dem ganzen Erdball unter den allerersten Denkern seiner Zeit genannt.«74 Schon Albert Einstein hatte in seinem Nachruf daran erinnert, »daß Mach die schwachen Seiten der klassischen Mechanik klar erkannt hat und nicht weit davon entfernt war, eine allgemeine Relativitätstheorie zu fordern.« Einstein würdigte Mach insbesondere dafür, dass er die in der Physik als »Denknotwendigkeiten« vorgestellten Newton’schen Grundbegriffe des »Absoluten« von Raum und Zeit verworfen und damit den »Weg des wissenschaftlichen Fortschritts« wieder gangbar gemacht habe.75 Mach hatte erkannt, dass die Begriffe (»Ich«, »Körper«, »Gegenstände«, »Raum«, »Zeit« usw.) nur »Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke«,76 nicht aber die »Grundlagen der wirklichen Welt« waren.77 Wer sie dafür hielte, treibe nicht Physik, sondern Metaphysik. Mach investierte seine Arbeit aber nicht in Begriffsstudien, sondern in die Analyse der »Grundlagen der wirklichen Welt«, nämlich die »Analyse der Empfindungen«. Ich und Welt, Seele und Körper, Physisches und Psychisches waren für ihn keine »rätselhaften Wesen«, sondern Komplexe von Empfindungen (Elemente).78 Ein und dasselbe Element könne als physisches oder psychisches Element aufgefasst werden. Physik und Leben seien eins: »Nicht der Stoff«, schrieb Mach, »sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden.«79 Er sprach vom »Prinzip des vollständigen Parallelismus des Psychischen und Physischen«.80 Im Ich erkannte er keine »reelle«, sondern nur eine »ideelle denkökonomische« Einheit,81 »einen funktionalen Zusammenhang
73 Vgl. Friedrich Stadler, Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, in: Rudolf Haller/ Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien: Hölder–Pichler–Tempsky 1988, 11 – 57. 74 Moritz Schlick, Ernst Mach, der Philosoph (Original 1926), in: Johannes Friedl/Heiner Rutte (Hg.), Moritz Schlick. Die Wiener Zeit. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1926 – 1936 (Moritz Schlick Gesamtausgabe 1, 6), Wien–New York: Springer 2008, 61 – 68, 68. 75 Albert Einstein, Ernst Mach†, in: Physikalische Zeitschrift 17 (1916) 7, 101 – 104, 102 f. 76 Vgl. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991 (Original 1886), 10 f., 23. 77 Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung [sic!]. Historisch-kritisch dargestellt, Leipzig: Brockhaus 1883, 483. 78 Mach, Analyse der Empfindungen, 17. 79 Ebd., 14. 80 Ebd., 50 f. 81 Ebd., 19.
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der Elemente«,82 »so wenig absolut beständig als die Körper«. Das Ich sei – so wie Körper und Gegenstand – lediglich eine Hypothese, es habe keine Substanz: »Das Ich ist unrettbar.«83 Sinnesempfindungen waren für Mach der einzig legitime Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse und ihrer Letztbegründung. Durch die Empfindungslehre brach er mit der Tradition vorausgesetzter metaphysischer Begriffe (z. B. Kraft), mit ihr veränderte sich auch die Aufgabe der Wissenschaften, die er in der Aufgabe der Ordnung des erkannten Wissens sah. So konnten Regeln für den Zusammenhang der Elemente eruiert werden, für die Begriffe gebildet wurden, die jene umfassten und vertraten. Wissenschaft erfüllte somit eine »ökonomische« Funktion: Sie habe »Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Tatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst und diese in mancher Beziehung vertreten können.« Machs antimetaphysische Schlussfolgerung lautete: »Mit der Erkenntniss [sic!] des ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik aus der Wissenschaft.«84 Damit hatte der Naturforscher Mach zweierlei erreicht: eine Methode, durch die sich die Disziplinen zusammenführen ließen, und zugleich den definitiven Bruch mit der metaphysischen Dualitätsphilosophie der Scholastik, die Körper und Seele als unterschiedliche Wesenheiten vorstellte. Ich und Außenwelt waren nicht mehr wesensverschieden, sondern ineinander verschränkt, letztlich eins; die Trennung von an sich Seiendem und Erscheinung war eine metaphysische Verdoppelung. Herbart hatte die Seele noch als »ein einfaches Wesen« definiert, Mach jedoch schloss Allianz mit jenen, die sich in »neuester Zeit« mit einer »Psychologie ohne Seele« anzufreunden begannen.85 Psychologie dieser Art trieb Sigmund Freud, der in der Traumdeutung (1900) eine weitere Komponente einführte: das Unbewusste als das »eigentlich reale Psychische«. »Unsere [individuellen] Erinnerungen« seien »an sich unbewußt«. Die Spuren jener Eindrücke, die auf uns wirkten, könnten aber bewusst gemacht werden, so dass sie »keine sinnliche Qualität« (Symptome) mehr hatten. Denn »alle ihre Wirkungen« entfalteten sie im unbewussten Zustand.86 Ich, Es und Über-Ich seien nicht wesenhaft verschieden, die Innen- mit der Außenwelt 82 Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, 3. Aufl., Leipzig: Barth 1917, 11. 83 Mach, Analyse der Empfindungen, 19, 3, 20. 84 Mach, Mechanik, 452. 85 Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Psychologie, hg. von Margret Kaiser-El-Safti, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 (Original 1816), 108 f.; Mach, Erkenntnis und Irrtum, 12. 86 Sigmund Freud, Die Traumdeutung [Mit den Zusätzen bis 1935] (Original 1899/1900), in: ders., Gesammelte Werke, Band II/III, 545 und 617 f.
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verschränkt, letztlich eins. Das Ich, schrieb Freud 1917, sei »nicht Herr […] in seinem eigenen Haus«.87 Als Sozialpsychologe verstand Freud die »Masse« nicht – wie in der Psychologie des 19. Jahrhunderts üblich – als ein hypostasiertes Wesen, er konzipierte sie abstrakt: Sozial- und Massenpsychologie waren daher im Sinne der Individualpsychologie zu betreiben. Mit seiner schmalen Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921)88 stellte er die Sozialpsychologie auf neue Grundlagen. In seinem späteren Werk zeigte Freud, dass das Unbewusste auch für den Gruppenzusammenhalt von Bedeutung sein konnte. Den Begriff des »Gruppenunbewussten« verwendete Freud jedoch im Unterschied zu Carl Gustav Jung zeitlebens nicht. Während Jung dieser Zugang letztlich die Trennung zwischen einem »jüdischen« und einem »arischen Unbewussten« erlaubte,89 verfuhr Freud auch in seiner Sozialpsychologie individualpsychologisch und ließ eine Trennung zwischen Einzelnem und Gruppe als vermeintlich unterschiedliche Wesenheiten nicht zu: »Die Massenpsychologie«, schrieb er, »behandelt also den einzelnen Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert.«90 Das, was Freud als charakteristisch für die Masse einstufte, hatte Gustave Le Bon in seiner Psychologie der Massen (1895) nicht berücksichtigt: »das Bindemittel«, den libidinösen Aufbau der »künstlichen« Massen, deren Zusammenhalt Freud auf »Gefühlsbindungen« bzw. die Macht des »Eros« zurückführte.91 Damit entzog er älteren Vorstellungen wie der Le Bon’schen »Massen-« oder »Rassenseele« ebenso die Grundlage,92 wie er C. G. Jungs irrationale Vorstellung von einem »kollektiven« bzw. »Rassenunbewussten«, d. h. die »über die Grenzen des Individuums hinausgreifenden ›Erinnerungen der Rasse‹«,93 verwarf. Die Vorstellung von der Physik als einer »Kraftlehre – ohne Kraft« (Mach) und von der Psychologie als einer »Seelenlehre – ohne Seele« (Freud) war nicht 87 Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (Original 1917), in: ders., Gesammelte Werke, Band XII, 1 – 12, 11. 88 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (Original 1921), in: ders., Gesammelte Werke, Band XIII, 73 – 161. 89 C. G. Jung, Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie, in: Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und Psychischen Hygiene. Organ der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, hg. von C. G. Jung 7 (1934) 1, 1 – 16, 9. 90 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 74. 91 Ebd., 77, 100. 92 Gustave Le Bon, Die Psychologie der Massen, Leipzig: Klinkhardt Verlag 1908 (Original: 1895), VIII. 93 C. G. Jung, Neue Bahnen der Psychologie (Original 1912), in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Marianne Niehus-Jung u. a., Band 7, Solothurn–Düsseldorf: Walter Verlag 1995, 270.
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zuletzt auch für den Wiener Staatsrechtslehrer Hans Kelsen Ansporn, eine »Staatslehre – ohne Staat« zu konzipieren:94 »Wenn festgestellt werden kann, daß der von der Staatstheorie dem Recht gegenüber unterschiedene, ›hinter‹ dem Recht, als ›Träger‹ des Rechts gedachte Staat ebenso eine verdoppelnde, Scheinprobleme erzeugende ›Substanz‹ ist, wie die ›Seele‹ in der Psychologie, die ›Kraft‹ in der Physik«, gab sich Kelsen 1922 kämpferisch, »dann wird es ebenso eine Staatslehre ohne Staat geben, wie es schon heute eine Psychologie ohne eine ›Seele‹ […] und schon heute eine Physik ohne ›Kräfte‹ gibt.«95 Zu der Auffassung, dass der Staat nicht im Sinne Jellineks als ein »reales Wesen« definiert werden durfte,96 sondern vielmehr abstrakt, d. h. juristisch-formal verstanden werden musste, hatte ihn das Studium der Neukantianer und seine direkte Anschauung vom habsburgischen Vielvölkerstaat geführt. Die provokante Theorie des kritisch-reflexiven Positivisten Kelsen lautete: Staat sei Recht, nicht Substanz. Er habe kein Wesen, sondern sei als die Summe positiver und daher wandelbarer Verhaltensregeln zu begreifen.97 In diesem Sinne entlarvte Kelsen Jellineks »Zwei-Seiten-Theorie«, die Trennung von Staatskörper und juristischer Ordnung, als ein Werkzeug der Herrschenden zur Sicherung außerrechtlicher Machtreserven, um im Gegenzug durch seine Identitätstheorie den Weg zur parlamentarischen Demokratie zu ebnen. Zur Demokratie entwarf Kelsen 1920 bzw. 1929 eine viel beachtete Theorie, die er als einer der Verfassungsväter in das Bundesverfassungsgesetz der Republik Österreich (1920) einfließen lassen konnte.98 Im »rein rechtlich« definierten Staat ließ sich trotz »Interessensgegensätzlichkeiten«99 und irreversibler Differenzen auf unverbindliche Art und Weise Ausgleich erzielen, so dass niemandes Wertvorstellungen verletzt werden mussten. Im Unterschied zu Carl Schmitt, dessen nationaler Demokratiebegriff ein homogenes Staatsvolk voraussetzte und »nötigenfalls« auch die »Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen« vorsah, räumte Kelsen der Freiheit gegenüber der Gleichheit Priorität ein. Unter Gleichheit verstand er nicht »Artgleichheit«100 wie Schmitt, sondern Rechtsgleichheit. Daher war für Kelsen 94 Hans Kelsen, Gott und Staat (Original 1923), in: ders., Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, hg. von Ernst Topitsch, 2. Aufl., München: Fink 1989, 29 – 55, 54. 95 Hans Kelsen, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse, in: Imago 8 (1922), 97 – 141, 138 f. 96 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin–Heidelberg: Springer 1929 (Original Berlin: Häring 1900), 148 – 174. 97 Vgl. Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Tübingen: Mohr 1922. 98 Vgl. Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen. Leben –Werk – Wirkung (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32), Wien: Manz 2009. 99 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen: Mohr 1929, 22. 100 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl.,
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jeder Demokratie »Inhomogenität« zumutbar, mit der er konstruktiv verfuhr.101 Im demokratischen Rechts-Staat sicherte die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Kelsen konzipiert hatte, die Widerspruchsfreiheit im vereinbarten Regelwerk ab. Das Parlament war als das Regeln erzeugende Organ eine Plattform zur Aushandlung von Kompromissen, die Demokratie demnach – Kelsen zufolge – eine Institution zur Konfliktschlichtung. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die hier vorgestellte Wissenschaftselite Wiens um 1900 trat durch ein Handeln hervor, das – wie Lyotard schreibt – »die theoretische […] Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich ausgedehnt hat«.102 Durch die hartnäckige Zurückweisung überkommener Denk- und Begriffstraditionen wurde Wien, insbesondere die Universität, zu einem Ort, an dem Neues entstand und Neuem vorgearbeitet wurde, sei es die Psychoanalyse, die Reine Rechtslehre, die Empfindungslehre, die Einheitswissenschaft oder eine der vielen anderen bahnbrechenden Theorien, Methoden und Praktiken, auf die heute noch zurückgegriffen wird.
Wissenschaftswende 3: Affirmative und kritische Wissenschaft 1918, mit dem Zerfall der Monarchie, verlor diese kritisch-delegitimierende Wissenschaftsauffassung zwar nicht ihre Verankerung in Wien, wohl aber zusehends an der Wiener Universität. In der Republik stellten viele Professoren, Natur- und Geisteswissenschaftler, oftmals politisches vor wissenschaftliches Handeln. Substanzialistische Begriffsbildungsversuche rückten in den Vordergrund und es wurde en vogue – wie der Wissenschaftssoziologe und -historiker Edgar Zilsel treffend bemerkte – »mit möglichst vielen Gründen Leben und Physik radikal einander entgegenzustellen.«103 Dem politikaffinen, lebensfernen Handeln vieler Professoren widmete auch Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften unter der Überschrift »Das in den Bart der Wissenschaft lächeln oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen« eine die Zeitläufe ironisch kommentierende Bemerkung, in der es heißt: »Im Leben spielt sich ungefähr
München–Leipzig: Duncker & Humblot Verlag 1926 (Original 1923), 14; ders., Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit (Der deutsche Staat der Gegenwart 1), 3. Aufl., Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt 1935, 42 – 46. 101 Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, in: Zar. Zeitschrift fu¨ r Ausländerrecht und Ausländerpolitik 4 (2007), 121 – 127, 124 f. 102 Jean FranÅois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Edition Passagen 7), 4. Aufl., Wien: Passagen 1999, 121 f. 103 Edgar Zilsel, Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart, in: Der Kampf 23 (1930), 410 – 424, 412.
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von allem, was der ausgebildete Geist gewohnt ist, das Gegenteil ab.«104 An der Universität Wien entwickelte der »ausgebildete Geist« Theorien, die – wie Zilsel spitz bemerkte – weniger durch Experiment und mathematische Beweisführung als vielmehr »mit Redensarten« geprüft wurden: Gegenstandstheorie, Phänomenologie, Neovitalismus und geistesgeschichtliche Betrachtung seien hoch im Kurs, die Methoden hießen: Zirkelschluss, »Wesensschau«, »einfühlendes Verstehen« und die Unterscheidung von »Idealtypen«.105 Diesen Richtungen ordnete Zilsel u. a. die »Gesellschaftsmetaphysik«106 Othmar Spanns zu, der 1919 auf den Lehrstuhl Eugen Philippovichs, eines international anerkannten Wirtschaftswissenschaftlers, berufen worden war. Spann widmete seine Professur der Gesellschaftslehre, die er auf der organizistischen Vorstellung von »Ganzheit« begründete. Damit verfolgte er das Ziel der Überwindung des individualistischen Empirismus zugunsten eines »Universalismus«, der das Fundament für den »Abbruch und den Neuaufbau der Gesellschaft« auf ständischer und deutsch-christlicher Grundlage darstellen sollte.107 Spann zufolge existierte das Individuum nicht »auf dem Boden seiner Ichheit«, sondern als ein vom »Ganzen«, der Gesellschaft »Abgeleitetes«, das sich im »wahren [d. h. christlichen] Staat« dieser organischen Ordnung unterwarf.108 Spann war einer der schillerndsten Wiener Universitätsprofessoren der Zwischenkriegszeit, allerdings nicht der einzige, der seine wissenschaftliche Arbeit einer republik- und demokratiefeindlichen, antisemitischen und Besitzstände wahrenden deutschen Volkstumspolitik widmete. Eine Vielzahl seiner Kollegen kämpften an vorderster politischer Front: direkt als Politiker – der Theologieprofessor Ignaz Seipel war Bundeskanzler, die Historiker Heinrich Srbik und Oswald Menghin waren Minister109 – oder als politische Professoren, die für eine nationalistische, bald rassistische Politik Handlangerdienste verrichteten. Die Wissenschaft blieb dabei vielfach auf der Strecke. Kritik wurde vor allem – wie eingangs erwähnt – von sozialdemokratischer Seite laut, die an der Universität Wien völlig unterrepräsentiert vertreten war. Zielscheibe dieser Kritik war vor allem die Pädagogik, die seit 1923 vom geprüften Altphilologen 104 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Band I: Erstes und zweites Buch, hg. von Adolf Fris¦, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1978 (Original 1930), 305. 105 Zilsel, Soziologische Bemerkungen, 418 f. 106 Ebd. 107 Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft gehalten im Sommersemester 1920 an der Universität Wien, Leipzig: Quelle & Meyer 1921. 108 Othmar Spann, Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig: Quelle & Meyer 1930, 100 f. 109 Vgl. Erika Weinzierl, Hochschulleben und Hochschulpolitik zwischen den Kriegen, in: Norbert Leser (Hg.), Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit (Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1), Wien: Bundesverlag 1981, 72 – 85, 74.
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Richard Meister als ordentlichem Professor vertreten wurde.110 Seine Pädagogik habe in »der Weite kulturphilosophischer Perspektiven« »jegliche Berührung mit dem Strom lebendigen Geschehens« verloren. Er sei mit »Wesen und Funktion der Erziehung nicht vertraut« und errichte »Luftgebäude«.111 Kulturphilosophen wie Meister und Juristen wie Karl Gottfried Hugelmann erarbeiteten einen Kulturbegriff, der rein »national« definiert und auf die deutsche »Volksgruppe« zugeschnitten war sowie die Feststellung substanzieller Unterschiede erlaubte. In diesem Sinne versuchten auch Oswald Menghin, der Wiener Professor für Urgeschichte, und der Völkerkundeprofessor Wilhelm Schmidt in Abgrenzung von deutschen Rasseforschern die Vorstellung von der »Rasseverschiedenheit« der Juden nicht biologistisch, sondern völkisch-kulturell zu untermauern. Beide zogen dafür scharfe Trennlinien zwischen einem angeblich christlich(-deutschen) und einem jüdischen Wesen. Die Differenz zeigte sich für sie vor allem in einer unüberbrückbaren Kultur- und Seelenverschiedenheit, die zum Schutz des deutschen Volkscharakters verteidigt werden musste: Die Rasse sei unsicher, labil und vergänglich, das die Kultur prägende Seelisch-Geistige aber dauerhaft und stabil.112 Es sei der »Geist«, so Menghin, der »das Blut bezwingen« würde.113 Das Ziel dieser Selbstmobilisierung der universitären Elite Wiens lag auf der Hand, nämlich die wissenschaftliche Begründung des Ausschlusses der Juden aus der so genannten deutschen Volksgemeinschaft. Diesen und vielen anderen rassistisch handelnden Wiener Universitätsprofessoren stand eine Gruppe aufrechter, von Ausnahmen abgesehen nicht an der Wiener Universität verankerter Wissenschaftler gegenüber, die nicht auf die Seite des Wissenschaftsrassismus abwich, sondern weiterhin zukunftsweisende Forschung trieb: Ludwig Wittgenstein zeigte mit seinen Untersuchungen in Wien und Cambridge, dass eine Philosophie, die vor der Mannigfaltigkeit der Welt nicht resignierte, weder normativ noch kausal »nach der Art der Naturwissenschaften« vorgehen durfte. Die Aufgabe solcher Philosophie sei es nicht, das Eine auf ein Anderes zurückzuführen und durch dieses »irgendetwas zu erklären«, sondern die Vielfalt der Welt zu beschreiben: »Philosophie ist wirklich, ›rein deskriptiv‹«, formulierte er provokant.114 Durch die Denkfigur der 110 Vgl. den Beitrag von Johannes Feichtinger in Band II dieser Reihe. 111 Hans Fischl, Die Lebenslüge der wissenschaftlichen Pädagogik, in: Der Kampf 19 (1926), 280 – 285, 280 f. 112 Vgl. Wilhelm Schmidt, Rasse und Weltanschauung (Original 1935), in: ders., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze, hg. vom Anthropos-Institut, St. Augustin/Bonn: Anthropos Institut 1964, 269 – 284, 278. 113 Oswald Menghin, Geist und Blut. Zur Rassenfrage, in: Schönere Zukunft 24 (11. 3. 1934) 9, 595 – 597, 596. 114 Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch (Original 1958), in: ders., Werkausgabe, Band 5 (stw 505), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, 7 – 116, 39.
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»Sprachspiele« ebnete Wittgenstein den Wissenschaften den Weg für eine neue Art der Legitimierung, nicht durch reduktive Kausal- und Normlogik, sondern durch die sprachliche Praxis, die jeweiligen Gebrauchszusammenhänge der Sprache. Antispekulative Sprachphilosophie stand auch im Zentrum des Wiener Kreises,115 dem es u. a. auf die Ordnung der Vielzahl wissenschaftlicher Aussagen ankam und – wie ein Titel des Physikers und Philosophen Rudolf Carnap zeigt – auf die »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«.116 Die Arbeit an der Sprache war das Mittel, durch das ein zentrales Ziel des Wiener Kreises erreicht werden sollte, »die Einheitswissenschaft als wirksames Gebilde zu schaffen«.117 Die Wege, die einzelne Vertreter der »wissenschaftlichen Weltauffassung«118 zur »Einheitswissenschaft« verfolgten, waren verschieden, das zugrunde liegende Anliegen jedoch gleich: Sinnvolle Sätze »über beobachtbare Tatbestände«, die »einen einheitlichen Bereich« bildeten und sich intersubjektiv bewährten, von sinnlosen, metaphysischen Sätzen zu trennen, denn: »Wissenschaftliche Termini verbinden«, während »metaphysische Termini trennen«.119 Durch die Verwendung einer physikalistischen Sprache sollten Tatsachenaussagen verknüpfbar werden, sie stellte das »Hauptelement der ›Einheit‹« dar. Mit der Zusammenführung des Wissens durch eine »einzige wissenschaftliche Sprache« hatte die Schlüsselfigur des Wiener Kreises Otto Neurath120 aber nicht den Aufbau eines »Systems der Wissenschaft« vor Augen; denn ein solches nivellierte lokale Widersprüche und wurde den Unschärfen und Mehrdeutigkeiten in der Welt nicht gerecht. Das System sei unzureichend, die Vielfalt einzufangen, es sei »die große wissenschaftliche Lüge.«121 Der skeptische Pluralist Neurath zog dem System daher das Modell der »Enzyklopädie« als die der 115 Vgl. dazu grundlegend Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 116 Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (1931), 219 – 241. 117 Otto Neurath, Einheitswissenschaft und Psychologie (Original 1933), in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Band 2, Wien: Hölder–Pichler–Tempsky 1981, 587 – 610, 610. 118 Die »wissenschaftliche Weltauffassung« ist für den Wiener Kreis Ausgangspunkt und Ziel erfahrungswissenschaftlicher Tätigkeit und damit sein zentraler Programmpunkt. Vgl. Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, hg. vom Verein Ernst Mach [unter Federführung von Hans Hahn, Otto Neurath und Rudolf Carnap], Wien: Wolf 1929. 119 Neurath, Einheitswissenschaft, 610. 120 Vgl. dazu grundlegend Elisabeth Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch, Frankfurt a. M.–New York: Campus 1981. 121 Otto Neurath, Einheit der Wissenschaft als Aufgabe. Vortrag, gehalten bei der Vorkonferenz des Ersten Internationalen Kongresses für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31. August bis 2. September 1934, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Band 2, 625 – 629, 626.
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»wissenschaftlichen Weltauffassung« angemessene Organisationsform der Einheitswissenschaft sowie als Grundlage für die »Demokratisierung des Wissens«122 und für die »demokratische Zusammenarbeit« vor. Die »Enzyklopädie« orchestriere die Vielfalt und zerstöre sie nicht.123
2.
Forschung in und außerhalb der Universität
Mit dem Zerfall der Monarchie verlor die Universität Wien in vielen Fächern den Anschluss an die zunehmend international verflochtene Wissenschaftslandschaft. Manche der bedeutendsten Professoren verließen Wien, so z. B. die Chemiker Wilhelm Schlenk und Hans Fischer sowie der Ökonom Carl Grünberg; unter ihnen auch der Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 1914 Robert Brny. Auch die späteren Nobelpreisträger Richard Zsigmondy (Chemie 1925) und der Blutgruppenforscher Karl Landsteiner (Medizin 1930) verließen noch vor der NS-Machtübernahme Österreich. Nach dem »Anschluss« waren der Begründer der Quantenmechanik Erwin Schrödinger (Nobelpreis für Physik 1933), der Nervenforscher Otto Loewi (Medizin 1936) und der Entdecker der Höhenstrahlung Victor Franz Hess (Physik 1936) zur Emigration gezwungen. Außer Schrödinger kehrte kein Nobelpreisträger zurück, letzterer erst in hohem Alter. Durch Hyperinflation, Wirtschaftskrise und radikal gekürzte staatliche Zuwendungen hatte sich ein Missverhältnis ausgebildet zwischen den verfügbaren akademischen Stellen und der Vielzahl junger talentierter Universitätsabsolventen, die daher keine Aussicht auf eine Universitätslaufbahn in Wien hatten. Vielen Jungen stand die Option offen, das Land zu verlassen oder vorübergehend Brotberufe zu ergreifen und die akademischen Ambitionen nebenbei, außeruniversitär zu pflegen. Wer Wien nicht verließ, konnte sich zwischen 1918 und 1938 mitunter in einer höchst innovativen Wissenschaftslandschaft außerhalb der Universität wiederfinden, geprägt durch private Akademikerzirkel, Wissenschaftsvereine und außeruniversitäre Institute von Weltrang. Diese signifikante Struktur der Wiener Wissenschaftslandschaft – Forschung in und außerhalb der Universität – lag zweifelsohne in den gekürzten staatlichen Zuwendungen für die Universität begründet, aber nicht nur : Die Hauptursache lag vielmehr in der verletzten Hochschulautonomie, die sich längst vor dem 122 Günther Sandner, Demokratisierung des Wissens. Otto Neuraths politisches Projekt, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 2 (2009), 231 – 247; ders., Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien: Zsolnay 2014, 216 – 227. 123 Otto Neurath, Die Orchestrierung der Wissenschaften durch den Enzyklopädismus des Logischen Empirismus (Original 1945), in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Band 2, 997 – 1009, 1009.
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»Anschluss« im Ausschluss der talentiertesten Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler aus der Universität manifestierte.124 Ihnen haftete der ›Makel‹ nichtdeutscher und/oder nichtkonservativer Weltanschauung an, eines jüdischen Hintergrunds oder einer wissenschaftlichen Weltauffassung, die mit den an der Universität gepflegten Wissenschaftsstilen unverträglich war, wodurch ihnen – wie für die Wiener Philosophische Fakultät gezeigt – der Zugang zur Habilitation oftmals verwehrt wurde.125 Von diesen Ausschlusspraktiken legte 1934 der Physiker Franz Urbach Zeugnis ab: »Als ich meine Studien (1921) begann, war in Österreich die akademische Laufbahn für einen Juden zwar etwas erschwert, aber durchaus zugänglich; als ich sie beendete (1926, also lange vor Ausbruch des deutschen Nationalsozialismus) war sie praktisch bereits fast unmöglich, und zwei Jahre nach dem Doktorat, als ich ›habilitationsreif‹ war, war nicht mehr daran zu denken. Es war damals eine staatliche Anstellung für einen Juden so gut wie unerreichbar geworden, und besonders die Universität und technische Hochschule waren Zentren des schärfsten Antisemitismus. Ich war so dem lautlosen österreichischen Hochschulantisemitismus ausgeliefert.«126 Dieses Schicksal traf nicht allein Franz Urbach, sondern auch andere junge, als Juden angefeindete Talente, die der Reihe nach das Land verließen, so u. a. Ernst H. Gombrich (1936, England), Max F. Perutz (1936, England) und Karl Popper (1937, Neuseeland).127 Manche junge Talente mit jüdischem Hintergrund fanden als Forscher Beschäftigung in Wien, wie z. B. der später führende Islamwissenschaftler Gustav Grunebaum an der Österreichischen Nationalbibliothek, andere an staatlichen Museen. Vereinzelt bot manchen auch die Universität Unterschlupf. Im zukunftsweisenden Forschungsfeld der Kunststoffchemie zog z. B. Hermann Mark über Industrie geförderte Projekte mehrere Talente an das I. Chemische Laboratorium.128 124 Vgl. Herbert Posch, Studierende und die Universität Wien in der Dauerkrise 1918 bis 1938, in: Herbert Posch/Doris Ingrisch/Gert Dressel (Hg.), »Anschluß« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 8), Wien–Berlin: LIT Verlag 2008, 61 – 97. 125 Vgl. Klaus Taschwer, Geheimsache Bärenhöhle. Wie ein antisemitisches Professorenkartell der Universität Wien nach 1918 jüdische und linke Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Regina Fritz/Grzegorz Rossolinski-Liebe/B¦la Rsky (Hg.), Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, Wien: new academic press 2015 [im Druck]. 126 Brief von Franz Urbach an Esther Simpson, 31. 12. 1934. Bodleian Library, Oxford University, Archiv der Society for the Protection of Science and Learning MS SPSL 342/5. 127 Vgl. Johannes Feichtinger, 1918 und der Beginn des wissenschaftlichen Braindrain aus Österreich, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2 (2014) [im Druck]. 128 Vgl. Johannes Feichtinger, Hermann Mark (1895 – 1992). Viennese born ›Ambassador‹ of Macromolecular Research, in: Jos¦ Ramûn Bertomeu-Snchez/Duncan Thorburn Burns/
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Das größte Auffangbecken für als Juden angefeindete Jungforscherinnen und Jungforscher stellten außeruniversitäre Institute dar, u. a. die Biologische Versuchsanstalt und das Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften, das Psychologische Institut der Gemeinde Wien sowie das österreichische Institut für Konjunkturforschung, die zu den bedeutendsten ihrer Art zählten. Die beiden letzteren widmeten sich der empirischen Sozial- und Wirtschaftsforschung und erhielten Zuwendungen von der Rockefeller Foundation, die über das antisemitische Treiben an der Universität wohl unterrichtet war.129 Die Stiftung legte daher bald Wert darauf, an der Universität Wien nicht anzustreifen: »It is more than ever important that the Institute should be independent of the university. The majority of the professors there are frankly Nazi.«130 Von ausländischer Wissenschaftshilfe profitierte auch die Universität Wien. Sie war jedoch von einer anderen Art: Die Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe (ÖDW) verfolgte das Ziel, durch Unterstützung der Volksgenossen in Österreich einer Angleichung der wissenschaftlichen Aktivitäten zwischen den beiden nationalen Bruderstaaten vorzuarbeiten. Zu den Nutznießern der von deutscher Seite geleisteten Zahlungen zählten u. a. die Volkstumsforscher Oswald Menghin, Rudolf Much, Karl Gottfried Hugelmann, die der NSDAP nahe standen oder Mitglieder werden sollten.131 Während sich große Teile der Philosophischen Fakultät der Universität Wien mit Volkstumsfragen beschäftigten, wurde (m. E.) fernab der Universität oder in loser Verbindung mit ihr international anschlussfähige Wissenschaft gepflegt, so z. B. Radiumforschung (Stefan Meyer), experimentelle Biologie (Hans Przibram), Psychoanalyse (Sigmund Freud), Individualpsychologie (Alfred Adler), Kinder- und Jugendpsychologie (Charlotte Bühler), Marktforschung (Paul Lazarsfeld), Konjunkturforschung (Friedrich August Hayek und Oskar Morgenstern), monetäre Konjunkturtheorie (Ludwig von Mises), Bildstatistik (Otto Neurath), Sprachspieltheorie (Ludwig Wittgenstein), psychologisch-psychoanalytische Kunstwissenschaft (Ernst W. Kris) und der kritische Rationalismus (Karl Popper). Außeruniversitär wurden auch der logische Empirismus, die Reine Rechtslehre, die empirische Sozialforschung gepflegt, durch den Wiener Kreis, den Kreis um Hans Kelsen und das Psychologische Institut der Gemeinde Brigitte Van Tiggelen (Hg.), Neighbors and Territories. The Evolving Identity of Chemistry. Proceedings of the 6th International Conference of the History of Chemistry, Louvain: M¦mosciences 2008, 219 – 229. 129 Vgl. Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, 167 – 180. 130 Brief von John Van Sickle an Edmund E. Day, 10. 10. 1933. Rockefeller Archive Center, Sleepy Hallow, New York, RF, RG 1.1. 705/4/35. 131 Vgl. Silke Fengler/Günther Luxbacher, »Aufrechterhaltung der gemeinsamen Kultur«. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe in der Zwischenkriegszeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (2011), 303 – 328.
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Wien. Ihre Häupter waren noch eine Zeit lang Professoren der Universität: Hans Kelsen bis 1930, als er – aus dem Verfassungsgerichtshof verdrängt – Österreich verließ; Moritz Schlick bis 1936, als er auf der Philosophenstiege ermordet wurde; und Karl Bühler bis 1938, als er nach anderthalbmonatiger Inhaftierung über Norwegen in die USA emigrierte. Anderen wie z. B. Sigmund Freud war die bezahlte Stelle eines Universitätsprofessors zeitlebens verwehrt geblieben. Der Titel eines ordentlichen Professors, den Freud seit 1920 führte, linderte seine Verbitterung über die Universität offenbar nicht. Als er zur Universitätsfeier des 70. Geburtstags seines Freundes Alfred Francis Prˇibram eingeladen wurde, antwortete Freud, »daß er […] niemals in seinem Leben den Boden der Wiener Universität wieder betreten werde.«132 Jeder der zuletzt genannten Forscher sollte Österreich noch vor oder nach dem »Anschluss« 1938 verlassen, keiner kam dauerhaft zurück. Die größte außeruniversitär tätige Forschergruppe stellten die Wirtschaftswissenschaftler dar. In Wien hatten sich zwei ökonomische Schulen von Weltruf etabliert: die Schule des Austromarxismus (u. a. Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Otto Neurath und das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum) und eine marktwirtschaftlich orientierte Schule, die in Ludwig Mises ihren Mentor fand. Mises pflegte die Tradition Carl Mengers. Trotz vakanter Lehrstühle wurde er für eine Professur nicht in Betracht gezogen, und so blieb er hauptberuflich leitender Sekretär der Wiener Kammer für Handel-, Gewerbe und Industrie, als der er die außeruniversitäre Wirtschaftsforschung federführend organisierte: das Mises-Seminar, die Nationalökonomische Gesellschaft und das Konjunkturforschungsinstitut. Die Mitglieder seines Seminars waren im Brotberuf als Unternehmer (Fritz Machlup), Bankiers (Alfred Schütz), Geschäftsführer (Felix Kaufmann), Anwälte (Fritz Schreier), Angestellte der Arbeiterkammer (Richard Strigl), der Handelskammer (Gottfried Haberler) oder am Konjunkturforschungsinstitut (Friedrich August Hayek und Oskar Morgenstern) tätig. Weitere Mitglieder waren z. B. der Historiker Friedrich Engel-Jnosi, der Staatswissenschaftler Erich Voegelin und der Jurist und Musikwissenschaftler Emanuel Winternitz. Am Seminar nahmen auch Wissenschaftlerinnen teil wie Helene Lieser, die erste Doktorin der Sozialwissenschaften in Österreich, Martha Stephanie Braun, Marianne Herzfeld, Ilse Mintz und Gertrud Lovasy. Mises führte sein Seminar interdisziplinär, und es war ein Anziehungspunkt für auswärtige Wirtschaftsforscher. Die Mises-Seminar-Mitglieder bildeten den Grundstock der Wiener Nationalökonomischen Gesellschaft, welche die Zeitschrift für Nationalökonomie herausgab, und des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung. Das 132 Friedrich Engel-Jnosi, … aber ein stolzer Bettler. Erinnerungen aus einer verlorenen Generation, Graz– Wien–Köln: Styria 1974, 124.
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von Mises 1927 gründete außeruniversitäre Institut, das sich der Analyse der Konjunkturschwankungen widmete, war das erste in Europa, dem Zuwendungen der Rockefeller Foundation zuflossen. Friedrich August Hayek war bis zu seiner Berufung auf den Tooke Chair of Economic Science and Statistics (LSE) im Jahr 1932 sein Direktor, danach Oskar Morgenstern, der spätere Mitbegründer der Spieltheorie, der in Wien die mathematisch-statistische Wende in der Konjunkturforschung einläutete. In der Ära Morgenstern gab sich die internationale scientific community ein Stelldichein. Ihre Vertreter boten so manchem Institutsmitarbeiter wie z. B. Gottfried Haberler, Gerhard Tintner und Fritz Machlup, dem als Juden die Habilitation an der Universität Wien verweigert worden war, längst vor 1938 ein Sprungbrett nach Übersee.133 Was die Wissenschaftszirkel jenseits der Universität betrifft, ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen überschnitten sie einander in ihrer Zusammensetzung: Friedrich Engel-Jnosi, Felix Kaufmann und Erich Voegelin waren beispielsweise Mitglieder von jeweils vier Vereinigungen.134 Zum anderen war die Zahl der außeruniversitären Zirkel so groß, dass sich von einer außeruniversitären Wissenschaftskultur sprechen lässt. Zu den wichtigsten Vereinigungen zählten neben den erwähnten die außeruniversitären Kreise, die sich um Universitätsprofessoren wie Hans Kelsen, Friedrich Engel-Jnosi, Alfred Francis Prˇibram, Hans Tietze, Egon Wellesz und Karl Bühler bildeten, Vereinigungen wie z. B. der Verein Ernst Mach, der Verein für angewandte Psychologie und Psychopathologie, der Wiener Verein für Individualpsychologie, der Verein Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, die Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer, das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und das Psychologische Institut der Gemeinde Wien. In der Zwischenkriegszeit war Wien ein Mekka der Psychologie, innerhalb der Universitätspsychologie konnte jedoch nur Karl Bühler zwischen 1922 und 1938 neue Maßstäbe setzen. Außerhalb der Universität wurden die Psychoanalyse, die Individualpsychologie sowie die Kinder-, Jugend- und Wirtschaftspsychologie entwickelt und gepflegt. Mit der Gründung des Psychologischen Instituts der Gemeinde Wien hatten Karl und Charlotte Bühler – wie sich Marie Jahoda erinnerte – »ein drittes Lager neben Freud und Adler im Ideenkampf der 133 Vgl. grundlegend Earlene Craver, The Emigration of The Austrian Economists, in: History of Political Economy 18 (1986) 1, 1 – 32; Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933 – 1945, Frankfurt a. M.–New York: Campus 2001, 181 – 254; Hansjoerg Klausinger, Academic Anti-Semitism and the Austrian School. Vienna, 1918 – 1945, in: Atlantic Economic Journal 42 (2014) 2, 191 – 204. 134 Zur Überschneidung der Kreise vgl. z. B. Clemens Jabloner/Friedrich Stadler (Hg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans Kelsen-Schule (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 10), Wien–New York: Springer 2001.
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Wiener psychologischen Welt« eröffnet.135 Die Häupter der drei Schulen grenzten sich untereinander durch weitgehende Nichtwahrnehmung ab. An der Universität setzte Karl Bühler neue Akzente in der Begriffsbildung durch Die Krise der Psychologie (1927), die er durch die Zusammenführung von Behaviorismus, Introspektion und geisteswissenschaftlicher Psychologie zu überwinden versuchte. Unter Austausch mit dem Wiener Slawistikprofessor und Begründer der Phonologie Nikolai Trubetzkoy entwickelte er eine Sprachtheorie als Grundlage zur Beschreibung der Sprachfunktion. Bühlers Organon-Modell wurde später grundlegend für die Kommunikationswissenschaft. Charlotte Bühler etablierte mit Hilfe der Stadtverwaltung und der Rockefeller Foundation in Wien ein außeruniversitäres Zentrum experimentalpsychologischer Forschung. Hier wurden Untersuchungen zur Kinder- und Jugendpsychologie durchgeführt. Als Abteilungsleiter gründete Paul Lazarsfeld 1931 die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, in der er mit Marie Jahoda und Hans Zeisel die international viel beachtete Marienthal-Studie sowie Studien zur Marktforschung anfertigte. Lazarsfeld bahnte damit von Wien aus der empirischen Sozial- und Marktforschung den Weg. Wer von diesen außeruniversitär tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Österreich noch nicht verlassen hatte, wurde – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nach dem »Anschluss« vertrieben. Die Universität hatte schon im austrofaschistischen Ständestaat die 1848 gewährte Autonomie durch das Hochschul-Disziplinargesetz (1934), das Hochschul-Ermächtigungsgesetz und das Hochschul-Erziehungsgesetz (1935) eingebüßt. Seither hatte der Minister direkten Zugriff auf die Hochschulen,136 der nach dem »Anschluss« im Zuge der »Säuberung« der Universität im nationalsozialistischen Sinn von Oswald Menghin und Arthur Seyß-Inquart mit aller Härte ausgeübt wurde. Die Zahl der 1938 von der Universität Wien aus »rassischen« oder politischen Gründen entlassenen Professoren, Dozenten und Lektoren ist beträchtlich, sie wird mit ca. 45 % beziffert.137 Hinzugerechnet werden müssen jene Forscherinnen und Forscher, die längst vor 1938 aus politischen und »rassischen« Gründen aus der Universität ausgeschlossen wurden. Wiens Wissenschaftselite war nun zur Emigration gezwungen. Vielen wurde der Weg ins Ausland durch 135 Marie Jahoda, Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich, in: Zeitgeschichte 8 (1981) 4, 133 – 141, 136. Zur »Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922 – 1938« grundlegend Gerhard Benetka, Psychologie in Wien, Wien: WUV 1995. 136 Vgl. Walter Höflechner, Wissenschaft, Hochschule, Staat in Österreich bis 1938, in: Christian Brünner/Helmut Konrad (Hg.), Die Universität und 1938 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11), Wien–Köln: Böhlau 1989, 57 – 74. 137 Vgl. Kurt Mühlberger, Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945. Dokumentation, Wien: Archiv der Universität Wien 1993, 9.
Die verletzte Autonomie
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internationale Helfer (u. a. die Rockefeller Foundation) geebnet, kaum jemand kehrte zurück.138 Im April 1938 erläuterte Friedrich August Hayek den internationalen Hilfsorganisationen die für Wien spezifische Struktur der Wissenschaft. Hayek schrieb in seinem Memorandum: »The main point is that the strong anti-Semitic tendencies which have prevailed at the Austrian Universities at least since the war have had the effect that comparatively few ›non-Aryans‹ have held full-time academic positions. […] There are a great many men of very high standing as scholars who […] have never had any academic position. […] My point, which I should like to urge strongly, is that in the Austrian case the bodies which are willing to help academic people should not confine their assistance to people who actually held an academic position, but equally include people with similar qualifications who for reason of their race were excluded from an academic career.«139
3.
Ergebnis
Viele Spitzenforscher Österreichs wurden nach dem »Anschluss« verfolgt und vertrieben, manche kamen auch in NS-Konzentrationslagern zu Tode. Schon längst vor 1938 waren zahlreiche talentierte Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler aus politischen und »rassischen« Gründen aus der Universität Wien verdrängt worden. In der Zeit der Ersten Republik war die Hochschulautonomie verstärkt für eine rassistische Ausschlusspolitik missbraucht worden, das universitäre Selbstverwaltungsrecht der Universitäten hatte seine ursprüngliche Funktion – die Sicherung der Lehr- und Lernfreiheit (seit 1867 ein Grundrecht) – verloren. Der Universitätsreformer Thun-Hohenstein hatte zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der provisorischen Gewährung autonomer Wirkungsbereiche das Ziel der Verwissenschaftlichung der Universitäten verknüpft; sobald die gewährte Autonomie die ihr vom Minister zugedachte Funktion nicht erfüllte, wurde sie verletzt. In der Ära Thun (1849 – 1860) konnte Wissenschaft daher nicht voraussetzungslos praktiziert werden. Als sich der Staat in der Zeit des Hochliberalismus (1867 – 1879) auf seine Aufsichtspflicht zurückzog und den Handlungsspielraum der Fakultäten im Rahmen von Grundund Universitätsorganisationsgesetz achtete, vermochte die Universität Wien ihr Innovationspotential weitestgehend zu entfalten. In postliberaler Zeit profilierten sich die Universitäten als Vorposten nationaler Arroganz, und sie entglitten zunehmend – je nach Standpunkt – der Umklammerung oder schützenden Hand des Staates. An der Universität Wien konnte noch eine Zeit lang 138 Vgl. Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen, 2001. 139 Memorandum. Displaced Austrian Scholars. Confidential (Hayek), 28. 4. 1938. Bodleian Library, Oxford University, Archiv der Society for the Protection of Science and Learning MS SPSL 141.
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Johannes Feichtinger
– trotz zunehmend rassistischer Gewalt – innovative Wissenschaftspraxis geübt werden. Mit dem Zerfall der Monarchie verlagerte sich das innovative Handeln schließlich durch den Ausschluss der besten Köpfe, waren es als Juden oder Linke diffamierte Talente, zunehmend in den außeruniversitären Bereich. Die verletzte Autonomie – Selbstverwaltung mit verminderter Wissenschaftsfreiheit – beschwor seither eine Teilung der Wissenschaftslandschaft herauf: – in eine politisierte Universität, von der gesagt werden kann, dass sie zumindest in bestimmten Wissenschaftsbereichen Juden und Andersdenkende längst vor 1938 exkludierte, und in eine hoch innovative außeruniversitäre Wissenschaftskultur. Die Geschichte der verletzten Autonomie an der Universität Wien zeigt somit eines klar : Autonomie scheint notwendig für wissenschaftlichen Fortschritt. Sobald der autonome Wirkungsbereich der Universitäten aber zur Stabilisierung staatlicher bzw. politischer Machtverhältnisse und für Interessen geleitete Besitzstandswahrung genutzt, d. h. die Autonomie verletzt wurde, war der Weg zum Neuen verstellt.
Christian H. Stifter
Universität, Volksbildung und Moderne – die »Wiener Richtung« wissenschaftsorientierter Bildungsarbeit
1.
Einleitung
Die aktive Beteiligung an organisierter Volks- beziehungsweise Erwachsenenbildung, an Weiterbildung sowie an der Popularisierung wissenschaftlichen Wissens zählt keineswegs zum traditionellen Rollenverständnis und Aufgabenfeld der Universitäten1 – insbesondere in den deutschsprachigen Ländern. Im Gegenteil sind Exklusivität durch Zugangsbarrieren, Hierarchie, Rituale und relativ autonome Arbeits-, Verkehrs- und Kooperationsformen geradezu traditionelle Kennzeichen jener Qualifikations- und Bildungseinrichtung, die »an der Spitze der gesellschaftlichen Bildungspyramide«2 steht. Obwohl die soziale Exklusivität vergleichsweise spät gelockert wurde, und zwar in Folge der Hochschulreform 1975 und der damit vorangetriebenen demokratischen Öffnung,3 hat die Kooperation von Volksbildung und Universität auch hierzulande eine beachtliche Tradition, deren (vorläufig erste) Hochblüte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Erste Republik reichte.4 Ohne hier weder auf die facettenreiche und vielgestaltige ländliche Vorgeschichte noch auf die Aktivitäten und Vorläufereinrichtungen urbaner Wissenschaftspopularisierung in Österreich näher eingehen zu können, soll im 1 Siehe dazu: Paul Natorp, Universität und Volksbildung [1913], in: Wolfgang Krüger (Hg.), Wissenschaft, Hochschule und Erwachsenenbildung, Braunschweig: Westermann 1982, 89; weiters: Paul Steinmetz, Die deutsche Volkshochschulbewegung (Probleme der Staats- und Kultursoziologie, hg. v. Alfred Weber, 5), Karlsruhe: G. Braun 1929, 25. 2 Erich Schäfer, Historische Vorläufer der wissenschaftlichen Weiterbildung. Von der Universitätsausdehnungsbewegung bis zu den Anfängen der universitären Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Leske + Budrich 1988, 9. 3 Ulrike Felt/Elisabeth Nemeth, Universität, Demokratie und Hochschulreform im Nachkriegsösterreich. Über Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Entscheidungsstrukturen, in: Gerhard Bisovsky/Christian Stifter (Hg.), »Wissen für Alle«. Beiträge zum Stellenwert von Bildung in der Demokratie, Wien: Verband Wiener Volksbildung 1996, 48 – 49. 4 Siehe dazu: Tom Steele, Knowledge is Power! The Rise and Fall of European Popular Educational Movements, 1848 – 1939, Oxford–Bern–Berlin et al.: Peter Lang 2007, 149 – 184.
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Christian H. Stifter
Folgenden auf die vom Experimentalphysiker und Wiener Volksbildungspionier Anton Lampa als »Wiener Richtung«5 benannte wissenschaftsorientierte Volksbildung eingegangen werden.
2.
Vorläufer wissenschaftsorientierter Volksbildung und der Prototyp einer ersten Volksuniversität in Wien
Angefacht vom Universalitäts- und Gleichheitspostulat der Aufklärung und den politischen Ideen der französischen Revolution und vorangetrieben durch Industrialisierung und Urbanisierung sowie den Siegeszug der Naturwissenschaften, wurden Mitte des 19. Jahrhunderts traditionelle Bildungsbarrieren, neben den politischen Machtverhältnissen, erstmals auf breiter Basis in Frage gestellt und auf Veränderungen gedrängt. Die bekannten Schlagwörter »Wissen ist Macht« und »Bildung macht frei« erinnern eindrücklich daran. In Wien nahm die wissenschaftszentrierte Volksbildungsbewegung – neben einzelnen Vorläufereinrichtungen wie etwa dem »Gemeinnützigen Verein«6 – ihren Ausgangspunkt mit der Zweigstellengründung des »Allgemeinen Niederösterreichischen Volksbildungsvereines« 1887. Unter der Leitung des Kunsthistorikers Eduard Leisching7 – erster Obmann war der Jurist, Industrielle, liberales Reichsratsmitglied und Kurator des k.k. Österreichischen Handelsmuseums Alexander Peez – verselbstständigte sich diese Zweigstelle knapp sechs Jahre später als »Wiener Volksbildungsverein«, der die Keimzelle für die nachfolgenden »Stammhäuser« der Wiener Volkshochschulen bildete.8 Ausschlaggebend für den enormen Erfolg der unentgeltlichen Sonntagsvorträge des Wiener Volksbildungsvereins war sicherlich der besondere Reiz, den 5 Lampa sowie auch Ludo M. Hartmann unterschieden diese sowohl von der »alten« wilhelminischen Volksbildungstradition als auch von der intensiven, auf potenzielle gesellschaftliche MultiplikatorInnen zugeschnittenen »neuen« Richtung der Volksbildung in der Weimarer Zeit. Vgl. Anton Lampa, Kritisches zur Volksbildung (Volk und Geist, Schriften zur Volksbildung), Berlin: Verlag der Arbeitsgemeinschaft 1927, 29. Siehe dazu im Detail: Stephan Ganglbauer, »Neutrale« Volksbildung und die »wertungsfreie Wissenschaft«. Die »Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe« und der Richtungsstreit in der deutschsprachigen Volksbildungsbewegung der 20er Jahre, in: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 10 (1999), 1 – 4, 60 – 84. 6 Siehe dazu: Christian Stifter, Staatsmann und Volksbildner. Freiherr Wilhelm von SchwarzSenborn (1816 – 1903), in: Spurensuche 3 (1992) 4, 18 – 19. 7 Robert A. Kann/Peter Leisching (Hrsg.), Ein Leben für Kunst und Volksbildung. Eduard Leisching 1858 – 1938. Erinnerungen (Fontes rerum Austriacarum. Scriptores, Abt. 1., Bd. 11), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978. 8 Bericht über die bisherige Thätigkeit, hg. vom Allgemeinen Nieder-Österreichischen Volksbildungs-Verein, Zweigverein Wien und Umgebung, Wien: Selbstverlag 1889.
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systematischen Ausführungen von Universitätsprofessoren und -dozenten9 zu einer Vielzahl an Themen beiwohnen zu können. Die Bandbreite des breitgefächerten Bildungsangebots, das auch »Volksconzerte« und Lesungen umfasste, reichte von »gewerblicher Buchführung«, »Fortschritt und Armuth« über »Verhütung ansteckender Krankheiten«, »Magnetismus und Elektrizität«, bis zu »volkswirtschaftlicher Bildung« oder dem »Theater der Griechen«.10 Da die ehrenamtlichen Geschäfte des jungen Vereins von jüngeren, engagierten und gut vernetzten Privatdozenten wie dem bereits genannten Leisching und dem Mediävisten und Theodor Mommsen-Schüler Ludo Moritz Hartmann11 – unterstützt vom Philosophen und Privatdozenten Emil Reich12 – geführt wurden, lag es nahe, dass dieser »erste Brückenschlag zwischen Volksbildung und Universität«13 bald zu einer nachhaltigen Kooperation ausgebaut wurde. Zur Finanzierung der bald eingerichteten Vortragsserien – »Cyklen« von acht Einzelvorträgen – wurden ab 1890 versuchsweise fünf Gulden pro Stunde als bescheidene Vortragshonorare eingehoben,14 doch dem kontinuierlich ansteigenden und überraschend großen Zulauf waren die finanziellen und räumlichen Ressourcen des Wiener Volksbildungsvereins langfristig nicht gewachsen.15
9 Unter der Vielzahl an Vortragenden aus dieser Frühphase finden sich z. B. Prof. Dr. Wilhelm Neurath; Univ.-Prof. Dr. Eduard Reyer; Univ.-Dozent Dr. Alfred Francis Prˇibram; Univ.Dozent Dr. Günther von Beck-Mannagetta; Univ.-Dozent Dr. Carl Grünberg; Univ.-Prof. Dr. Albrecht Penck; Univ.-Prof. Dr. Max Gruber oder Univ.-Dozent Dr. Robert Zuckerkandl. 10 »Theseus« – Interne Datenbankauswertung des Österreichischen Volkshochschularchivs (ÖVA) zu Vorträgen und Kursen, 1887 – 1961. 11 Zu Ludo M. Hartmann siehe insbesondere: Wilhelm Filla/Michaela Judy/Ursula Knittler-Lux (Hg.), Aufklärer und Organisator. Der Wissenschaftler, Volksbildner und Politiker Ludo Moritz Hartmann (Schriftenreihe des Verbands Wiener Volksbildung 17), Wien: PicusVerlag 1992; weiters: Günter Fellner, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 15), Wien–Salzburg: Geyer-Ed. 1985. 12 Vgl. Norbert Hans Fellinger, Entwicklungsgeschichte der Wiener Volksbildung, in: Norbert Kutalek/Hans Fellinger, Zur Wiener Volksbildung, Wien–München: Verlag Jugend & Volk 1969, 129; Emil Reich, Grillparzer- und Ibsenforscher, war neben Leisching und Hartmann die zentrale Gründerfigur der österreichischen Volkshochschulbewegung. Siehe dazu: Christian Stifter, Soziale Kunst und Wissenschaftliche Volksbildung. Emil Reich 1864 – 1940, in: Spurensuche 3 (1992) 3, 16 – 19. 13 Hans Altenhuber, Universitäre Volksbildung in Österreich 1895 – 1937 (Nexus. Zur Geschichte der Erwachsenenbildung 1), Wien: ÖBV, Pädagogischer Verlag 1995, 21. 14 Ernst Schulze, Die Volksbildungsarbeit ausländischer Universitäten [1896], in: Krüger (Hg.), Wissenschaft, Hochschule und Erwachsenenbildung, 59. 15 Dies verdeutlicht der geradezu explosionsartige Anstieg der Besucher/innenzahlen in den Jahren zwischen 1887/88 und 1892/93, die sich von 6.000 auf 60.000 verzehnfachten. Siehe: Josef Luitpold Stern, Wiener Volksbildungswesen, Jena: Eugen Diederichs 1910, 16.
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3.
Christian H. Stifter
Akademisierung der Volksbildung – die Adaptierung der englischen »University Extension« in Wien
Mit der seit längerem erfolgreichen englischen »University Extension«16 bot sich den reformorientierten Privatdozenten, die ihre Vorträge bis dahin ehrenamtlich abgehalten hatten, und denen aus Eigeninteresse an einer horizontalen Öffnung der Universitäten gelegen war, ein Modell an, das auch in Wien zur organisatorischen Erweiterung der Volksbildungsaktivitäten dienen konnte. Die von James Stuart, einem Privatdozenten am Trinity-College, bereits 1873 an der Universität Cambridge eingerichteten extramuralen Vorträge für externe Teilnehmende aller sozialen Schichten, die sich über Kollegiengelder (»fees«) finanzierten und nachfolgend auch von den altkonservativen Universitäten London (1875) und Oxford (1877) übernommen wurden,17 waren bald auch in Australien, den USA und Kanada en vogue,18 bevor sie auch auf dem europäischen Festland adaptiert wurden.19 Für Emil Reich war das ein Beweis dafür, dass die Universitäten »in Wahrheit universitates seien […] das gemeinsame Band für alle jene […] die, gleichviel welchem Stand und Beruf im Leben sie angehörten, von dem redlichen Eifer erfüllt wären, Fühlung zu behalten mit den Ergebnissen der Wissenschaft.«20 Die »volkstümliche Verbreitung« beziehungsweise »Ausdehnung« des Universitätsstudiums an Orte, wo bisher noch keine Universitäten bestanden, führte in England – in Kooperation mit Gewerkschaften, industriellen Verbänden und der »Workers Educational Association« (WEA)21 – in den folgenden Jahrzehnten, anders als am europäischen Festland, zur Neugründung einer Reihe von Colleges und Universitäten wie beispielsweise Manchester, Liverpool, Leeds, Sheffield, Bristol, Nottingham oder Glasgow, die keine staatlichen Institutionen, sondern privatrechtlich organisierte Körperschaften waren.22 16 Vgl. Robert Peers, Adult Education. A Comparative Study (International Library of Sociology and Social Reconstruction), London: Routledge & Kegan Paul 1958, 50 – 59; weiters: Barry J. Hake/Stuart Marriott (Eds.), Adult Education between Cultures. Encounters and Identities in European Adult Aducation since 1890, Leeds: University of Leeds 1992. 17 Thomas Kelly, A History of Adult Education in Great Britain, Liverpool: Liverpool University Press 1970, 222 – 230; Schulze, Volksbildungsarbeit, 58. 18 So wurden volkstümliche Universitätskurse u. a. an folgenden Universitäten eingerichtet: Philadelphia (1890), New York (1892), Melbourne (1890). 19 Etwa in Gent (1892), Brüssel (1893), Oviedo (1898), Sevilla (1899), Barcelona (1901). 20 Emil Reich, Volkstümliche Universitätsbewegung (Ethisch-socialwissenschaftliche Vortragskurse 5), Bern: Steiger 1897, 8 – 9. 21 Siehe: Albert Mansbridge, An adventure in working-class Education. Being the story of the workers’ educational association 1903 – 1915, London: Longmans, Green, and Co. 1920; weiters: G. Raybould, The English Universities and Adult Education, London: WEA 1951. 22 Martin Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem in Deutschland und DeutschÖsterreich, dargestellt auf Grund der bisherigen Entwicklung, Stuttgart: Silberburg 1929, 18.
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Obwohl der Vortragsstil und die Lehrweise dem Bedürfnis der erwachsenen Hörerinnen und Hörer angepasst war, ausdrücklich »nur wirkliche Meister in ihrem Fach«23 unterrichten durften, auf ein »schulmässiges Abfragen, welches bei Erwachsenen beiden Theilen nur peinlich sein könnte«24, verzichtet wurde und zum besseren Verständnis vor jedem Vortrag eine gedruckte Inhaltsübersicht (»syllabus«) ausgeteilt wurde, konnten die Teilnehmenden nicht nur schriftliche Prüfungen ablegen, sondern darüber hinaus, nach Absolvierung von mindestens acht zusammenhängenden Vortragsreihen, die sich über drei Jahre erstreckten, auch der Universität affiliieren und schließlich ein reguläres Universitätsstudium ablegen.25 In direkter Anknüpfung an das erfolgreiche und allseits gelobte Modell der englischen University Extension26 – 1886 war die Zahl der extramuralen Studierenden auf über 10.000 angestiegen27 – und mit Hinweis auf die große Bedeutung einer Ausweitung der bisherigen wissenschaftlichen Vortragszyklen des Wiener Volksbildungsvereins, insbesondere zur Milderung der »Wucht des socialen Kampfes«, reichten die Privatdozenten der Universität Wien 1890 bei den akademischen Behörden eine Petition für die Schaffung volkstümlicher, remunerierter Universitätskurse ein. Abgesehen davon, dass der Wiener Universität durch Einrichtung einer »Oberleitung eines Universitäts-Ausschusses« für »populäre Kurse« das Verdienst zukommt, »als erste auf dem Continent das rühmliche Beispiel ihrer Schwestern in England nachgeahmt zu haben«, ging es dem akademischen Mittelbau hierbei freilich auch um »die Verbesserung der materiellen Lage dieser jungen Gelehrten […] aus denen sich großtheils die Vortragenden des Wiener Volksbildungs-Vereins (ähnlich wie in England aus den Graduierten der Universitäten) recrutieren«28. Nachdem dieser erste Versuch erfolglos verlief, unternahm Ludo M. Hartmann einen neuen Anlauf, indem er am 16. Dezember 1893 dem Akademischen Senat der Universität Wien ein von 37 ordentlichen Professoren und 16 Dozenten aller Fakultäten unterzeichnetes Gesuch samt Denkschrift überreichte. Darin wurde die Einsetzung einer Kommission zur Ausarbeitung eines Statuts für die Organisation »volkstümlicher Lehrkurse der Universität mit besonderer Rück23 Robert Peers, Die Erwachsenenbildung in England, Stuttgart: Klett 1963, 78. 24 Hans von Nostiz, Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England. Ein Beitrag zur socialen Geschichte der Gegenwart, Jena: Fischer 1900, 193. 25 Ebd., 195. Im Semester 1893/94 stieg die Zahl der extramuralen Hörerinnen und Hörer in England dann auf 63.000 an. Siehe: Reich, Volkstümliche Universitätsbewegung, 12. 26 Vgl. Christian Stifter, Knowledge, Authority and Power : The impact of university extension on popular education in Vienna 1890 – 1910, in: Barry J. Hake/Tom Steele/Alejandro Tiana (Eds.), Masters, Missionaries and Militants. Studies of Social Movements and Popular Adult Education 1890 – 1939, Leeds: University of Leeds 1996, 158 – 190. 27 Volksbildung in England [Feuilleton], Die Presse, 29. 8. 1890, 1. 28 Ebd., 2.
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sicht auf die Heranziehung von Privatdozenten und Assistenten als Lehrkräfte«29 vorgeschlagen; finanziert werden sollte dies durch eine jährliche Subvention des Unterrichtsministeriums in der Höhe von 6.000 Gulden. Begründet wurde das Gesuch mit dem Hinweis auf das »rege Bildungsbedürfnis« der erwachsenen Bevölkerung, dem durch die beschränkten Mittel des Wiener Volksbildungsvereins nicht adäquat Rechnung getragen werden könne; zudem sei weitaus mehr zu erreichen, würde die »Alma Mater Viennensis mit ihrer Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und ihrem wissenschaftlichen Ernste sich der Sache annehme[n]«.30 Schließlich, so die Denkschrift, ließe sich dadurch auch die materielle Lage der Privatdozenten verbessern. Der Vorschlag wurde im Jänner 1894 vom Akademischen Senat angenommen und ein Komitee eingesetzt, das unter Leitung des Rechtswissenschafters Anton Menger ein Statut ausarbeitete, welches nach Begutachtung des Akademischen Senats am 14. Oktober 1895 vom Unterrichtsministerium genehmigt wurde,31 nachdem zuvor Finanzminister Ernst von Plener das Vorhaben »im Interesse des allgemeinen öffentlichen Wohls […] mit Befriedigung begrüßt«32 hatte. Nachdem ein elfköpfiger »Ausschuß für volkstümliche Universitätsvorträge der k.k. Universität Wien« unter Vorsitz von Anton Menger eingesetzt worden war, des nunmehrigen neuen Rektors der Universität Wien, der sich zeitgleich auch für die Nachbesetzung des vakanten Lehrstuhls für Philosophie engagierte,33 begann am 16. November 1895 das erste Programm der »volkstümlichen Universitätsvorträge«, bei denen alle Fragen, die sich auf »die politischen, religiösen und socialen Kämpfe beziehen«34, strikt ausgeschlossen waren. Ziel der jeweils zu sechs Vorträgen zusammengefassten »Curse«, die »außerhalb des Universitätsgebäudes abgehalten und in das amtliche Vorlesungsverzeichnis nicht aufgenommen« wurden, war laut Paragraf 1 des Statuts die »Förderung der wissenschaftlichen Ausbildung jener Volkskreise, welchen bisher die akademische Bildung unzugänglich war«35. Als Auftakt zum Start der Wiener »University Extension« hielten die Universitätsprofessoren Albrecht Penck, Ludwig Boltzmann, Ludwig Mitteis und Max Gruber »vor überaus zahlreichem Publikum, das zum größten Teil aus Arbeitern beiderlei Geschlechts bestand«, wie die Arbeiter-Zeitung berichtete, Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem, 30. Ebd., 31. Ebd. Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 35. Budget-Ausschuß, Neue Freie Presse, 27. 11. 1895, 2. Den Lehrstuhl für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften übernahm 1895 schließlich Ernst Mach. 34 Volksthümliche Universitäts-Curse in Wien, Die Presse, 26. 10. 1895, 9. 35 Statut für die Einrichtung volkstümlicher Universitätsvorträge durch die Wiener Universität, abgedruckt in: Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 133.
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einleitende Sonntagsvorträge »über verschiedene wichtige Wissenschaftsgebiete«. So sprach etwa Penck im Gemeindesaal des III. Wiener Gemeindebezirks »in plastischer Weise« unter Vorführung von Bildern »durch das elektrisch beleuchtete Skioptikon« über die »Schönheit der Erde«, Boltzmann im Gemeindesaal des IX. Bezirks über »Wärme«, der Romanist Mitteis über »Römische Geschichte« und Obersanitätsrat Gruber »in seinem Hörsaal im hygienischen Institut« über »Urzeugung«.36 In seinen einleitenden Worten betonte Gruber, dass die Universität nun den Versuch machen wolle, »all denen, die nicht so glücklich sind, akademische Bildung genießen zu können, diese in Abendkursen zugänglich zu machen.« Zum Zweck einer gründlicheren Vertiefung würden auch Bücher zur Verfügung gestellt, zum Schluss der Kurse Prüfungen abgehalten und Zeugnisse erteilt. Wie Gruber resümierte, mache die Universität sich jedoch nicht aus Eigeninteresse zur »Lehrerin für breite Kreise der Bevölkerung«, sondern von einem »höheren Standpunkte« aus: »Die höchsten Güter der Kultur drohen immer d e r B e s i t z e i n e r k l e i n e n G r u p p e z u w e r d e n […], e s i s t d a h e r d a s g r ö ß t e I n t e r e s s e d e s S t a a t e s , d i e s e K lu f t z u ü b e r b r ü c ke n u n d d i e Wi s s e n s c h a f t z u m E r b t h e i l d e s g a n z e n Vo l k e s z u m a c h e n . (Stürmischer Beifall).«37
4.
Programmatik, Klientel, Didaktik und bildungspolitische Zielsetzungen der University Extension
Programmatisch war damit der Kern der spätaufklärerischen Bemühungen um eine Versöhnung der Klassen ausgesprochen, die sich von der Vergesellschaftung von Wissenschaft und Bildung eine friedliche Lösung der sozialen Frage ebenso erhoffte wie einen volkswirtschaftlichen Benefit für das Staatsganze. Dementsprechend hatte anlässlich der Einrichtung der University Extension auch der liberale Abgeordnete Armand Freiherr von Dumreicher darauf hingewiesen, die »naturwidrige Trennung von Kopf und Arm«, die »Ausschließung des Arbeiterstandes vom geistigen Inhalte seines eigenen Tuns« im Sinne des kollektiven Nutzens für das Volkswohl aufzuheben.38 Noch deutlicher brachte der Philosoph, Präsident des Monistenbundes und dritte Obmann des Wiener Volksbildungsvereins, Friedrich Jodl39 die Annahme 36 Die volksthümlichen Universitätskurse, Arbeiter-Zeitung, 11. 11. 1895, 2. 37 Ebd., 3. Sperrung im Original. 38 Zitiert nach: Josef Loos, Studenten im Dienste der Volksbildung. Ein Beitrag zur Lehrerbildungsfrage, Linz: Selbstverlag 1909, 6. 39 Friedrich Jodl folgte nach dem Tod des Historikers Alfred von Arneth als Vereinsobmann nach. Siehe: Hans Altenhuber/Aladar Pfniß (Hg.), Bildung. Freiheit. Fortschritt. Gedanken österreichischer Volksbildner, Wien: Verband Österreichischer Volkshochschulen 1965, 87.
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einer direkten sozialintegrativen Wirkung von wissenschaftsorientierter Volksbildung zur Sprache, indem er postulierte, dass »jeder Klassendünkel ein Zeichen von Unbildung« sei, da dieser in der Unfähigkeit liege, »über sich hinaus ins Allgemeine zu blicken, die eigene Person und den eigenen Lebenskreis ins Licht des großen Kulturzusammenhangs zu rücken«40 – ein sozialevolutionäres Leitmotiv, das Ludo M. Hartmann, seit 1898 geschäftsführender Sekretär der »University Extension«, mit seiner Vision einer »Verbrüderung« von Wissenschaft und Arbeit teilte. Wie Hartmann in seiner 1893 verfassten Denkschrift an den akademischen Senat programmatisch formuliert hatte, sollten ab nun von der Universität als »Brennpunkt der Wissenschaft […] Strahlen ausgehen, die auch den exoterischen Kreis der Bevölkerung«41 erleuchten sollten. Tatsächlich schienen die in der damaligen Gesellschaft sonst überall existierenden sozialen Scheidewände unter den Teilnehmenden der Volksbildungskurse zumindest ein stückweit aufgehoben.42 Das fleißig Aufzeichnungen machende Publikum – jeweils rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörer – der ersten einstündigen volkstümlichen Universitätskurse über »Bakteriologie«, »Physiologie des Menschen«, »Grundzüge des Österreichischen Rechts« und »Darstellende Geometrie«, die um acht Uhr abends begannen und anschließend die Möglichkeit zur Diskussion vorsahen, charakterisierte das Neue Wiener Journal als sozial, alters- und geschlechtermäßig »kunterbunt« zusammengesetzt: »Das weibliche Geschlecht machte die Hälfte der Hörer aus […] wir sehen Handlungsgehilfen, Arbeiter, Beamte, und Kaufleute, Lehrer und Privatiers. Wir bemerken einige Grauköpfe.«43 Die zu einer sehr günstigen Gebühr von einer Krone pro Zyklus angebotenen Kurse – die Vortragenden erhielten 180 Kronen pro Kurs plus Vergütung allfälliger Reisekosten –, die außer an Universitätsinstituten44 auch an Schulen und 40 Friedrich Jodl, Was heißt Bildung? Vortrag gehalten anlässlich der Eröffnung des vom Wiener Volksbildungsverein erbauten Volksbildungshauses, in: Altenhuber/Pfniß (Hg.), Freiheit – Bildung – Fortschritt, 82. 41 Rektoratsakten der Wiener Universität, 1893/94, Nr. 1119, Einreichungsdenkschrift zur Errichtung volkstümlicher Universitätskurse, zitiert nach: Gerhardt Kapner, Die Erwachsenenbildung um die Jahrhundertwende, dargestellt am Beispiel Wiens, Wien: Notring 1961, 9. 42 Der Anteil von Teilnehmenden mit lediglich Volksschulabschluss lag bei den ersten KursZyklen bis zum Semester 1897/98 bei 5,6 %, jener mit Bürgerschulabschluss bei 8,6 %. Der Anteil von Arbeiterinnen und Arbeitern lag bei rund 25 %, der Anteil von Frauen stieg von anfänglich rund 27 % bis 1905/06 auf 54 %. Vgl. Statistik der Hörer der Volkstümlichen Universitäts-Curse in den Jahren 1895/96 bis 1905/06. Österreichisches Volkshochschularchiv (ÖVA), B-University Extension, Kt. 130/1. 43 Die Universität für das Volk, Neues Wiener Journal, 12. 11. 1895, 4. 44 So standen etwa die Hörsäle des physikalischen, des anatomischen, des physiologischen, des hygienischen, des pathologisch-chemischen Institutes ebenso zur Verfügung wie das »Zweite chemische Universitätslaboratorium«. Siehe: Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem, 34.
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anderen kommunalen Lokalitäten, in Räumlichkeiten der industriellen Bezirkskommissionen oder jener der Gewerkschaften und Arbeiterbildungsvereine abgehalten wurden, fanden jedenfalls rasch großen Zulauf. Allein in Wien stieg die Zahl der abgehaltenen Semesterkurse bis zur Jahrhundertwende auf 77 an, mit einer Gesamtzahl an 9.500 Hörerinnen und Hörern, wobei die DropoutRate gering war – nahezu drei Viertel der Eingeschriebenen waren auch noch in den letzten Vorträgen der Kurse anwesend. Wie Hartmann festhielt, übertraf die Entwicklung »sogar die anfänglichen Erfolge der University Extension in England«,45 wobei von den ab 1900 in Wien eingeführten fakultativen Abschlussprüfungen weniger als vier % Gebrauch machten, und wenn, dann hauptsächlich im Zusammenhang beruflicher Zusatzqualifikationen in Gegenständen wie Elektrotechnik, Mechanik, Physik oder Chemie. Das Hauptinteresse der Hörerinnen und Hörer – die bald ihre Scheu vor der Diskussion überwanden und sich, »namentlich in Arbeitergegenden«, oft »sehr lebhaft«46 einbrachten – lag über viele Jahre bei den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächern, gefolgt von Geschichte, Rechtswissenschaften, Mathematik und Technik, Philosophie, Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaften sowie Geografie und Völkerkunde.47 Bereits ein Jahr nach Einführung der volkstümlichen Universitätsvorträge in Wien folgte 1896 die Universität Innsbruck diesem Beispiel, 1897 schließlich auch die Universität Graz bis es nachfolgend in rascher Folge auch in Brünn (1898), in Krakau (1899), in Budapest (1901), in Prag (1902), in Salzburg (1903) und 1905 in Czernowitz übernommen wurde.48 Neben der Organisation volkstümlicher Vorträge in einer Reihe kleinerer Städte hielt die »Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten« ab 1899 auf Anregung Hartmanns zu Fortbildungszwecken auch Ferialkurse für Mittelschul- und bald auch für Volks- und Bürgerschullehrer ab.49 Darüber hinaus übernahm die Vereinigung der Hochschuldozenten ab Oktober 1903 auch die vom Verleger Moriz Szeps drei Jahre zuvor gegründete Zeitschrift Das Wissen für Alle,50 die das bisherige Programm fortführte und sich nun als offizielles Organ der österreichischen University Extension der Aufgabe widmete, volkstümliche 45 Ludo M. Hartmann, Zur Ausgestaltung der volkstümlichen Universitätskurse, in: Zentralblatt für Volksbildungswesen 1 (1900) 1 – 2, 17. 46 Ebd., 19. 47 Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 69. 48 Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem, 49 – 50. 49 Ebd., 46. 50 Siehe dazu im Detail: Klaus Taschwer, Das Wissen für Alle. Annäherungen an das populärwissenschaftliche Zeitschriftenwesen um 1900, in: Relation. Medien/Media – Gesellschaft/ Society – Geschichte/History, Sonderdruck, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1997, 1 – 33.
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Hochschulvorträge in populärwissenschaftlichen Einzelaufsätzen möglichst weiten Kreisen zugänglich zu machen.51 Der große Erfolg der volkstümlichen Vorträge gründete – außer in der zweifellos großen »Wißbegierde« der breiten Bevölkerung und der geradezu exotischen Anziehungskraft, die öffentlich zugängliche Vorlesungen teils hochrangiger Gelehrter unter der Ägide der Universität wohl hatten – sicher auch in der besonderen fachlich-didaktischen Qualität jener Vorträge. Diese hätten sich, wie der Geologe, Schüler von Eduard Suess und Volksbildungspionier Eduard Reyer52 programmatisch forderte, von denen regulärer Universitätsvorlesungen wesentlich zu unterscheiden: »Die von Fremdwörtern strotzende Sprache des Akademikers ist ebenso verwerflich wie der hochtrabende verwickelte Satzbau mancher liberaler Rhetoren.«53 Und Reyer weiter : »Es begreift sich, daß mancher Universitätsprofessor, welcher alle Nachteile eines beschränkten Spezialisten mit jenen eines schlechten Pädagogen vereint, Mißerfolge erzielt, sobald er vor ein großes Publikum tritt. Man wird solche Kräfte übergehen und sich an jene Dozenten halten, welche als Lehrer Hervorragendes leisten.«54
Obwohl nicht wenige Universitätsangehörige der staatlich finanzierten Ausdehnung der Universitäten ablehnend gegenüberstanden und manche das Popularisieren der Wissenschaften »mit Hohn und Spott lächerlich zu machen« versuchten, indem sie dies mit »Verflachung und Seichtigkeit« gleichsetzten,55 sah Hartmann in den volkstümlichen Vorträgen die größte Herausforderung für Vortragende: Generell müssten diese aus der Forschung kommen, da nur der spezialisierte Universitätslehrer – »wenn er einmal populär vorzutragen gelernt hat« – in ausreichend engem Verhältnis mit seinem Gegenstand und – im besten Fall – »über dem Lehrstoff« stünde.56 Damit nicht genug, so Hartmann weiter, wäre »der beste Forscher, der beste Lehrer und der beste Redner gerade gut genug für die ungeheuer schwierige Aufgabe, die ihm gestellt wird. Diese Kombination ist nun allerdings selten genug […]«57. 51 Das Wissen für Alle. Volksthümliche Vorträge und populärwissenschaftliche Rundschau, in: Zentralblatt für Volksbildungswesen 4 (1903) 1 – 2, 14. 52 Reyer war Wegbereiter des öffentlichen Büchereiwesens in Wien und Gründer des »Vereins Zentralbibliothek«, der in der Zwischenkriegszeit größten Leihbücherei. Siehe: Peter Vodosek, Eduard Reyer, 1849 – 1914, Berlin: Deutscher Bibliotheksverband 1976. 53 Eduard Reyer, Handbuch des Volksbildungswesens, Stuttgart: J. G. Cotta 1896, 94. 54 Ebd., 97. 55 Wilhelm Rein, Volkshochschulen [1897], in: Krüger (Hg.), Wissenschaft, Hochschule und Erwachsenenbildung, 63. 56 Hartmann, Ausgestaltung, 19. 57 Ludo M. Hartmann, Das Volkshochschulwesen. Seine Praxis und Entwicklung nach Erfahrungen im Wiener Volksbildungswesen, hg. vom Dürer-Bund (Flugschrift zur Ausdruckskultur 66), München u. a.: Callwey 1910, 1, abgedruckt in: Altenhuber/Pfniß (Hg.), Bildung – Freiheit – Fortschritt, 117.
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Um diesem in der universitären Realität freilich selten anzutreffenden Ideal wenigstens ansatzweise näherzukommen, wurde ab dem Semester 1896/97 jedem Vortragenden der volkstümlichen Universitätsvorträge – quasi eine frühe und innovative Qualitätssicherungsmaßnahme – eine Anleitung über die »geeignetste Art des Unterrichts« in die Hand gegeben. Darin heißt es: »Der Vortragende darf keine Kenntnisse in dem von ihm vorgetragenen Wissensgebiete voraussetzen und soll namentlich auch technische Ausdrücke und Fremdworte vermeiden, bis er sie erklären konnte. Er wird gut daran tun, überall, wo es angeht, an Vorgänge anzuknüpfen, die den Hörern aus der Erfahrung des täglichen Lebens bekannt sind«58.
Darüber hinaus sollten die Vortragenden möglichst frei sprechen, da »alle Erfahrungen beweisen, dass gelesene Vorträge die Hörer abschrecken« und sich bemühen, »die anfängliche Schüchternheit der Schüler zur überwinden, indem er ihnen leichte Fragen stellt […]. Ferner soll er [der Vortragende, Anm. d. Verf.] die Hörer anfeuern, selbst Fragen zu stellen, die sich auf schwierige Teile des Gegenstandes oder auf Gegenstände beziehen, die mit dem Vortrage im Zusammenhang stehen« – methodisch-didaktische Hinweise, die, wie Hans Altenhuber zu Recht angemerkt hat, auch heute noch für Erwachsenenbildner gelten.59 Durch strikte Orientierung auf »voraussetzungslose«, »parteilose Wissenschaftlichkeit« und das Bemühen, selbständiges »Denken zu lehren«, sollte – so Ludo M. Hartmann – jeder »Dilettantismus in der Person und in der Sache« ebenso vermieden werden wie geistige Bevormundung oder ideologische Einflussnahme gegenüber den prinzipiell als »gleichwertig und gleichberechtigt« anzusehenden Teilnehmenden: »Deshalb muß von unserem volkstümlichen Unterricht alles ausgeschlossen werden, was häufig missbräuchlich noch als Wissenschaft bezeichnet wird, aber eigentlich nur die Lehre eines bestimmten politischen, religiösen, wissenschaftlichen Glaubens ist. […] Denn nur auf die Weise kann das ärgste Produkt, das auf geistigem Gebiete erzeugt wird, vermieden werden, die Halbbildung […] Unbildung ist entwicklungsfähig, Bildung ist Entwicklung, aber Halbbildung ist Starrheit, Unbeweglichkeit.«60
Herangebildet werden sollten keine Spezialisten, die »irgendein wissenschaftliches Steckenpferd reiten gelernt haben«, sondern allgemein gebildete, selbständig denkende Menschen mit Freude an der Erweiterung ihres geistigen Horizonts.61 58 Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem, 37. 59 Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 83. 60 Ludo M. Hartmann, zitiert nach: Altenhuber/Pfniß (Hg.), Bildung – Freiheit – Fortschritt, 116. 61 Reich, Volkstümliche Universitätsbewegung, 27 bzw. 28.
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Der Nutzen und Gewinn der volkstümlichen Universitätsvorträge liege aber letztlich keineswegs nur bei den Hörerinnen und Hörern, sondern auch bei der Universität selbst, wie Hartmann mit Hoffnung auf die als dringend notwendig erachtete Modernisierung und Demokratisierung der Universitäten hervorhob. Schließlich wäre die Wiener Universität »erst durch die Einrichtung der volkstümlichen Universitätskurse wirklich populär geworden« und werde nun nicht mehr als eine zur Erziehung der privilegierten Klassen, »sondern als eine gemeinsame Angelegenheit aller Volksschichten betrachtet«.62 Ja mehr noch: neben der gestiegenen »Achtung nicht nur vor der Wissenschaft im allgemeinen, sondern auch speziell vor der Forschung«63 hätten die Hochschulen durch die »Extension« einen »gewaltigen Einfluß auf das öffentliche Leben und die öffentliche Meinung«64 bekommen. Und im Hinblick auf die Herausforderungen der universitären Lehre gebe es für junge Dozenten »keine bessere Schule klaren Vortrages und klarer Anordnung, keine bessere Art, in der er zu der Erkenntnis von der Relativität unserer wissenschaftlichen Ausdrucksweisen kommen könnte, als die volkstümlichen Universitätskurse«65. Anlässlich seiner Rede zum Hochschulbudget hielt auch der Reichstagsabgeordnete Prof. Dr. Stanislaus Ritter von Starzynski vor dem Abgeordnetenhaus 1902 fest, dass sich die »Zugänglichmachung der Wissenschaft an breitere Bevölkerungskreise und eine gewisse Popularisierung derselben […] fast in allen Universitätsstädten glänzend bewährt«66 hat. Dass die volkstümlichen Universitätsvorträge im »Interesse des öffentlichen Wohles« wirkten und die sozialen »Scheidewände« »wenigstens in der gemeinsamen Liebe für Kunst und Wissenschaft« zu Fall gebracht wurden, dokumentierte sich für Emil Reich unter anderem darin, dass die Wiener Universität am 1. Mai nicht, wie andere öffentliche Gebäude, durch starke Polizeiabteilungen geschützt werden musste; im Gegenteil sei vom vorbeidefilierenden Demonstrationszug der Ruf erschallt: »Hoch die Universität! Hoch die Wissenschaft!«67
Hartmann, zitiert nach: Altenhuber/Pfniß (Hg.), Bildung – Freiheit – Fortschritt, 126. Ebd., 127. Reyer, Handbuch des Volksbildungswesens, 104. Hartmann, zitiert nach: Altenhuber/Pfniß (Hg.), Bildung – Freiheit – Fortschritt, 127. Bericht über die volkstümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Studienjahre 1901/02, in: Zentralblatt für Volksbildungswesen 3 (21. 8. 1902) 9/10, 130. 67 Reich, Volkstümliche Universitätsbewegung, 32. 62 63 64 65 66
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Institutioneller Output der volkstümlichen Universitätsvorträge – die erste »Volksuniversität« Wiens
Als größter Erfolg und nachhaltigste Auswirkung der Wiener Universitätsausdehnung – obendrein ein europaweit singuläres Ereignis68 – kann die Gründung der ersten »Volksuniversität«, der Volkshochschule Ottakring, im Jahr 1901 angesehen werden, die 1905 bereits ihr eigenes Haus bezog. Bei den besser vorgebildeten Hörerinnen und Hörern hatten die volkstümlichen Universitätsvorträge derart große Resonanz gefunden, dass 38 Teilnehmende eines volkstümlichen Philosophiekurses bei Adolf Stöhr schließlich den Wunsch äußerten, eine eigenständige Organisation zu schaffen, um noch intensivere, vertiefende Studien zu ermöglichen.69 Als Sekretäre der University Extension nahmen Hartmann und Reich diese Anregung auf und stellten Überlegungen an, zunächst »ein kleines Heim, etwa einige Zimmer in den westlichen Vororten […], in dem Lehrmittel, Bücher und Demonstrationsobjekte, konzentriert werden, als Sammelpunkt für die Lernenden und Lehrenden«70 zu schaffen. Hier sollten sich an jedem Wochentag Dozenten einfinden, um auf spezielle Fragen Auskunft zu geben, Lektürehinweise zu geben, Fortbildungskurse zu halten und auch physikalische Experimente durchzuführen, für die – im Sinne einer »gründlichen Bildung« – ein eigenes physikalisches Kabinett projektiert wurde, da die physikalischen Kurse »nicht immer in den physikalischen Hörsälen abgehalten werden« konnten und deren »gänzlich unbrauchbare« Bestuhlung und »unzureichende Raumverhältnisse« ohnehin Probleme verursachten.71 Dass diese Anregung zur Schaffung einer Volksuniversität, wie Hartmann meinte, »nicht als Utopie bezeichnet«72 werden musste, zeigte sich sehr rasch. Nachdem in den Wiener Bezirken Werbevorträge abgehalten worden waren und 65 namhafte Wissenschafter, Literaten, Künstler und Schauspieler einen Aufruf zur Konstituierung einer »Volksuniversität« unterschrieben hatten,73 kam es im 68 Bereits die frühen Schriften über die University Extension in Wien verwiesen darauf, dass die Universitätsausdehnung in Deutschland nicht Fuß fassen konnte – wohl auch wegen der ablehnenden Haltung der deutschen Professorenschaft sowie der besseren Besoldung der Dozenten; die Gründung einer »Volksuniversität« als direkter institutioneller Output der University Extension stellt zumindest unter europäischen Ländern einen Sonderfall dar. Vgl. dazu: Schäfer, Historische Vorläufer, 22. 69 Klaus Taschwer, Wissenschaft für viele. Zur Wissenschaftsvermittlung im Rahmen der Wiener Volksbildung um 1900, phil. Diss., Wien 2002, 154. 70 Hartmann, Ausgestaltung, 21. 71 Anton Lampa, Über Anlage und Nutzen einer physikalischen Sammlung für die Zwecke der volkstümlichen Universitätskurse, in: Zentralblatt für Volksbildungswesen 1 (1900) 1 – 2, 23. 72 Hartmann, Ausgestaltung, 21. 73 So etwa die Universitätsprofessoren Edmund Bernatzik, Adolf Stöhr, Gustav Seidler, Al-
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Ballsaal des Ronacher am 24. Februar 1901 zur konstituierenden Gründungssitzung des neuen Vereins, dem die Vereinsbehörde (niederösterreichische Statthalterei) allerdings die Führung des Namens »Volkshochschule« untersagte, sodass die Vereinsleitung den weniger revolutionär anmutenden Vereinsnamen »Volksheim« wählen musste.74 Nach Anmietung verkehrstechnisch gut gelegener Souterrain-Räumlichkeiten im XV. Bezirk am Urban Loritz-Platz 1 erwarb der Verein, unterstützt durch zahlreiche private Spenden, 1903 ein Grundstück in Ottakring, Ecke Koflerpark (heute Ludo Hartmann-Platz), wo bereits am 5. November 1905 in Gegenwart von »Sr. Magnificenz des Herrn Rektors« das nach den Plänen des Architekten Ludwig Faigl fertig gestellte Gebäude – der ersten Abend-Volkshochschule Europas – feierlich eröffnet werden konnte. Sowohl die räumlichen Gegebenheiten – neben Hörsälen, einem im Vergleich zur Universität modern eingerichteten physikalischen und chemischen Labor, einem experimentalpsychologischen Labor, einem naturhistorischen und mineralogischen Kabinett, gab es eine umfangreiche Bibliothek samt großem Zeitschriftenlesesaal und gut ausgestattete Fachbibliotheken mit Handapparaten – als auch die verwendete Begrifflichkeit (»Dozenten«, »Hörerinnen« und »Hörer«, »Experimente«, ein eigener »Gaudeamus« etc.) verweisen auf das idealtypische Vorbild eines demokratisch organisierten, nicht-autoritären universitären Lehrbetriebs, bei dem die prinzipiell als gleichrangig angesehenen Teilnehmenden ihre Interessen und Wünsche über gewählte »Hörervertrauensleute« einbringen konnten;75 eine Konstitution, die sich programmatisch auch im Wortlaut jener Urkunde findet, die in den Grundstein des Gebäudes eingebracht wurde, worin es heißt: »Arbeiter, Bürger und Hochschullehrer gründeten den Verein Volksheim als eine Stätte höherer wissenschaftlicher
brecht Penck, Ernst Mach, Eduard Reyer, Max Gruber, Eduard Suess, Eugen von Philippovich, Karl Toldt, Heinrich Swoboda, Richard Wallaschek, Richard von Wettstein, Emil Zuckerkandl, Friedrich Jodl, die Dozenten Julius Tandler, Karl Brockhausen, Ludo M. Hartmann, Anton Lampa, Emil Reich, Walter Schiff, Wilhelm Jerusalem, Eduard Leisching, die Schriftsteller Ferdinand von Saar, »Doctor« Marie von Ebner-Eschenbach und Marie Eugenie delle Gracie sowie Rosa Mayreder, Marianne Hainisch, Isidor Himmelbauer, Else Federn oder die Reichsratsabgeordneten Julius Ofner, Engelbert Pernerstorfer, Gustav Marchet und Karl Seitz, die k. u. k. Hofschauspieler Georg Reimers und Josef Lewinsky, der Fabrikant Albert Schwab oder der Obmann des Arbeiter-Bildungsvereines »Apollo«, Karl Zwirner. Siehe: Wilhelm Bründl, Eigenart und Entwicklung der Wiener Volkshochschulen (Schriften zur Volksbildung 1), Wien: Bundesministerium für Unterricht o. J. [1962], 110 – 111. 74 Ebd. 75 Christian H. Stifter, Geistige Stadterweiterung. Eine kurze Geschichte der Wiener Volkshochschulen 1887 – 2005, Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz – edition seidengasse o. J. [2005], 54.
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Ausbildung und reichen künstlerischen Genusses für die breiten Schichten des werktätigen Volkes.«76 Neben elementaren Fächern wie Lesen, Schreiben oder Rechnen und einem weiten Spektrum kreativer, musisch-künstlerischer sowie gesundheitsbezogener Kurse bildete denn auch das wissenschaftszentrierte Bildungsangebot den Hauptteil und inhaltlichen Schwerpunkt des systematisch aufbauenden Veranstaltungsprogramms dieser ersten »Volksuniversität«, an dessen Spitze wissenschaftliche Fachseminare als methodische Innovation standen – die sogenannten »Fachgruppen«,77 die für einen bis dahin völlig unbekannten Maßstab wissenschaftsorientierter Erwachsenenbildung sorgten. Dabei handelte es sich um intensive fachliche Arbeitszusammenschlüsse von Experten und Laien, die interaktiv und egalitär zum Teil über viele Jahre hinweg forschten und deren Ergebnisse in Einzelfällen sogar publiziert wurden. Da die Gründung der neugeschaffenen »Volkshochschule« Ottakring wenn auch nicht organisatorisch-institutionell, so doch konzeptionell und ideell in direktem Zusammenhang mit der University Extension stand, wurden gleich von Beginn an neben geisteswissenschaftlichen insbesondere naturwissenschaftliche Kurs-Zyklen zu Übungs- und Demonstrationszwecken am neuen Standort abgehalten.78 Immerhin hatte der akademische Senat der Universität gestattet, dass eine Lieferung von Büchern und Apparaten für die Zwecke des Volksheims als »Sammelpunkt für das Stammpublicum der volksthümlichen Universitätscurse« zur Verfügung gestellt wurde, um »das in den Universitätskursen gebotene Wissen noch zu vertiefen und zu ergänzen.«79 Abgesehen von Universitätsinstituten und Schulen wurden die volkstümlichen Universitätskurse in den folgenden Jahren auch weiterhin in einer Vielzahl unterschiedlicher Räumlichkeiten und Lokalitäten abgehalten, die von der Gemeinde Wien, der Südbahngesellschaft, dem Technischen Gewerbemuseum oder der Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden, weil die Mittel stets knapp waren. Trotz Anhebung der staatlichen Subvention auf 17.000 Gulden im Jahr 1912, gerieten die volkstümlichen Kurse, die in den Jahren zwischen 1906 und 1910
76 Bründl, Eigenart und Entwicklung, 112. 77 Siehe im Detail dazu: Wilhelm Filla, Wissenschaft für alle – ein Widerspruch? Bevölkerungsnaher Wissenstransfer in der Wiener Moderne. Ein historisches Volkshochschulmodell, Innsbruck–Wien–München: Studien-Verlag 2001. 78 So z. B. Fortsetzungskurse in Biologie, chemische, experimentell-psychologische oder psychophysikalische Übungen. Siehe: Bericht über die volksthümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Studienjahr 1901/02, in: Zentralblatt für Volksbildungswesen 2/3 (21. 8. 1902) 9/10, 138 – 139. 79 Bericht über die volksthümlichen Universitätsvorträge im Studienjahre 1900/01. Statistik für die Jahre 1898/99 – 1900/01, Wien: Universität Wien 1901, 13.
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mit rund 18.000 Teilnehmenden ihren quantitativen Höhepunkt erreichten,80 unter anderem auch durch Ausweitung der Wander- und Lehrer-Ferialkurse an weiter entfernt liegende Orte wie Bielitz, Troppau, Mährisch-Ostrau oder Teschen, wiederholt in eine schwierige finanzielle Lage,81 die aber durch Privatspenden immer wieder bereinigt werden konnte.
6.
Veränderungen während des Ersten Weltkrieges
Neben der idealtypischen Orientierung der Bildungsarbeit an wissenschaftlicher Objektivität und »voraussetzungsloser« Rationalität war die weltanschaulichpolitische »Neutralität« das zweite zentrale Prinzip der wissenschaftszentrierten »Wiener Richtung« der Volksbildung. Diese gab – im Unterschied zur Entwicklung in Deutschland – bis in die Erste Republik der »Schulung durch das wissenschaftliche Denken«82 den klaren Vorzug gegenüber einer deutsch-völkischen Gefühls- und Gemeinschaftsbildung (»Formung durch Volkheit«83) und der hier präferierten sittlich-seelischen und bodenständigen Synthese des deutschen »Volksganzen« (Walter Hofmann). Auch wenn das 1897 nach dem Berliner Vorbild ins Leben gerufene »Volksbildungshaus Wiener Urania« als drittes »Stammhaus« der Wiener Volkshochschulen nicht im selben Maße strikt wissenschaftsorientiert agierte wie die volkstümlichen Universitätskurse oder die Volkshochschule Ottakring, blieb der Lehrbetrieb hier, wie auch im Wiener Volksbildungsverein, frei von parteipolitischer Programmatik und ideologischer Beeinflussung;84 ohne Zweifel war die zentral gelegene Wiener Urania, die früh auf die mediale Anziehungskraft von »Sensationsfilmen« und anschaulichen Lichtbildervorträgen setzte, die von einem Massenpublikum frequentiert wurden,85 ein weitaus interessanteres Objekt für politische Überformungsversuche.86
80 Taschwer, Wissenschaft für viele, 114. 81 Bericht über die volkstümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Studienjahr 1911/12, Wien: Universität Wien 1912, 107. 82 Lampa, Kritisches zur Volksbildung, 13. 83 Ebd., 38 – 39. 84 Dessen ungeachtet sah die Sozialdemokratie – trotz Kritik an der »Neutralität« in den Volkshochschulen »geistige Rüstkammern« für die eigene politische Klientel. Zitiert nach: Vorwärts, 28. 10. 1910. ÖVA, Zeitungsausschnittesammlung, B-Volksheim Ottakring. 85 Siehe: Christian H. Stifter, Der Urania-Kulturfilm, die Exotik des Fremden und die Völkerversöhnung. Veränderungen und Kontinuitäten: vom Austrofaschismus, über den Nationalsozialismus zur Zweiten Republik, in: Spurensuche 13 (2002) 1 – 4, 114 – 148. 86 So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Wiener Urania zunächst zu einer Filmbühne des Austrofaschismus und nach dem »Anschluss« zum Sitz des »Gauvolksbildungsamtes« wurde. Siehe dazu: Walter Göhring, Volksbildung in Ständestaat und Ostmark.
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Bis zum Ersten Weltkrieg war das Hartmannsche Diktum, diese Form von Volksbildung habe »fern aller und jeder Politik« zu stehen, wie er dies 1905 anlässlich der Eröffnung der Volkshochschule Ottakring formuliert hatte,87 trotz einer Vielzahl an politischen Angriffen, Rekatholisierungsversuchen und Subventionskürzungen unter Bürgermeister Karl Lueger,88 keinen schweren patriotischen beziehungsweise staatspolitischen Belastungsproben ausgesetzt. Die »absolute Unparteilichkeit«, wie Hartmann dies zu einem späteren Zeitpunkt formulieren sollte, richtete sich zwar primär gegen direkte politische Instrumentalisierung der Bildungsarbeit, ließ dabei aber auch keinen Spielraum für offenen Antisemitismus, Rassismus, Militarismus, Autoritätsgehorsam oder Nationalitätenhass.89 Unter Ausklammerung der genannten Elemente steht allerdings außer Frage, dass das Hochhalten deutscher Kultur sowie deutschnationale Einstellungen auch innerhalb der Pioniergeneration der wissenschaftsorientierten Volksbildung fest verankert waren, wenn auch zumeist, wie zum Beispiel bei Ludo M. Hartmann, auf Basis des Selbstbestimmungsrechtes der Völker noch auf dem Boden der Monarchie und in grundsätzlich liberalrepublikanischer Ausprägung.90 Obwohl Hartmann sich nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht an dem grassierenden Chauvinismus und der Kriegshysterie beteiligte, sondern »gegen die zügellose Kriegspropaganda schrieb« und das Ultimatum an Serbien als »verbrecherischen Leichtsinn« verurteilte,91 nahm er doch als Sekretär der volkstümlichen Universitätsvorträge bereits in den ersten Kriegsmonaten einen Kurswechsel vor, indem er das Programm an der »Vaterlandsverteidigungspolitik« ausrichtete und dabei fallweise auch bellizistische Töne anschlug, etwa wenn er in der Arbeiter-Zeitung den Krieg als Kampf »gegen Unkultur« und den »geistigen Stumpfsinn des russischen Muschiks« bezeichnete.92 Wie bei dem staatlich finanzierten Programm der University Extension nicht weiter verwunderlich, führten die »ausserordentlichen Verhältnisse des Kriegsjahres« dazu, dass nun Vorträge und Kurse abgehalten wurden, »welche
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Österreich 1934 – 45 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Schule und Erwachsenenbildung 2), Mattersburg 1985, 151 – 154. [Manuskript im ÖVA]. Ludo Moritz Hartmann, Der Morgen, 25. 12. 1910. ÖVA, B-Volksheim Ottakring, K 9, Geschichte des Volksheims in Zeitungsausschnitten, 1901 – 1912. Siehe: Wilhelm Filla, Protest gegen finanzielle Pressionen. Der Kampf des Wiener Volksbildungsvereines gegen Subventionskürzungen vor 100 Jahren, in: Spurensuche 7 (1996) 1, 46 – 55. Christian Stifter, Rassismus und populäre Wissenschaft. Vorläufige Anmerkungen zur Position der neutralen Volksbildung, 1890 – 1930, in: Spurensuche 11 (2000) 3 – 4, 36 – 66. Oliver Rathkolb, Ludo Moritz Hartmann – Sozialdemokratischer Politiker und Diplomat: Republikaner und Deutschnationaler, in: Filla/Judy/Knittler-Lux (Hg.), Aufklärer und Organisator, 54. Fellner, Ludo Moritz Hartmann, 265, zitiert nach: Rathkolb, Ludo Moritz Hartmann, 54. Ludo M. Hartmann, Die Volksbildung im Kriege, Arbeiter-Zeitung, Nr. 270, 29. 9. 1914, 6.
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sich ihrem Inhalte und ihren Einrichtungen nach den besonderen Bedürfnissen des Kriegsjahres anzupassen suchten.«93 So lauteten die Themen der Vorträge jetzt »Die feindlichen Länder I.: Russisches Reich inkl. Sibirien, Turan, Kaukasus (mit Demonstrationen und Lichtbildern)«, »Die Wirtschaft in Kriegszeiten«, »Die Physik im Kriege (mit Demonstrationen und Experimenten)« oder »Wie verhüten wir die Invalidität unserer Kriegsverwundeten? (mit Demonstrationen und Lichtbildern)«, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese direkte »Berücksichtigung der Kriegsgegenstände«94 veränderte sich jedoch, als die staatliche Subvention halbiert wurde und die Besucherzahlen deutlich zurückgingen und sich somit – so der offizielle Wortlaut – herausstellte, »dass es weiten Kreisen der Bevölkerung ein Bedürfnis ist, wenigstens an Abenden sich in geistige Gebiete zurückzuziehen, die von dem Kriege nicht unmittelbar berührt sind, um sich dadurch von den Spannungen und Aufregungen des Tages zu erholen.«95 Anders als bei den anderen der genannten Wiener Volksbildungseinrichtungen, die keineswegs so deutlich auf nationalen »Kriegskurs« einschwenkten, blieb die Leitung der volkstümlichen Universitätskurse bis Kriegsende sichtlich darum bemüht, sich dem »k.k. Heere in erhöhtem Maße dienstbar« zu machen und schlug dabei – so der Professor für Geografie und damalige Obmann Eduard Brückner – auch »unmittelbar nützliche Kurse« zu Feld-Hygiene oder Kriegsgeografie vor sowie »Vorträge an der Front oder in der Etappe«96. Infolge des dann baldigen Kriegsendes blieb die im Juli 1918 erfolgte Zustimmung des k.k. Armeeoberkommandos in Baden, die University Extension zum Zweck der Feindpropaganda-Abwehr einzusetzen, ohne Folgen.97
7.
Langsames Ende in der Ersten Republik
Knapp vor dem sich abzeichnenden Ende des Ersten Weltkrieges berief die Universität Wien – allem Anschein nach im weiteren Kontext der Überlegungen zur Einrichtung eines Volksbildungsamtes im Unterrichtsministerium nach Kriegsende98 – eine »Volksbildungstagung« ein, die vom 1. bis 2. November 1918 93 Bericht über die volkstümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Studienjahr 1914/15, Wien: Universität Wien 1915, 1. 94 Bericht über die volkstümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Studienjahr 1915/16, Wien: Universität Wien 1916, 2. 95 Ebd. 96 Taschwer, Wissenschaft für viele, 205. 97 Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 62. 98 Lorenz Mikoletzky, »Es wäre gewiß erstaunlich zu erfahren, wie viele Menschen … sich unter dem Namen … Urania … überhaupt nichts vorstellen können«. Einer von vielen Beiträgen der Wiener Urania zum gesamtösterreichischen Volksbildungswesen, in: Wilhelm Petrasch
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im kleinen Festsaal der Universität Wien stattfand und an der Vertreter verschiedener Körperschaften, Vereine und Institutionen teilnahmen. Die Zurverfügungstellung der Lokalität verdankte sich, wie Rektor Friedrich Becke eigens hervorhob, keineswegs bloß einer Gefälligkeit, sondern war der »vollen Aufmerksamkeit«, welche die Universität dem Volksbildungswesen »seit langer Zeit« entgegenbrachte, geschuldet. Die bisherige gute Zusammenarbeit des Ausschusses der volkstümlichen Universitätskurse mit den »freien« (d. h. wissenschaftsorientierten) Volksbildungsvereinen wie dem Wiener Volksbildungsverein, dem Volksheim Ottakring oder dem Verein Zentralbibliothek – außer durch die »Gleichheit der Ziele« auch »vielfach durch Personalunion verbunden«99 – sollte als »bewußte Gegenwehr gegen die schmutzige Welle von Haß, Lüge und schnöder Selbstsucht« in den Kriegsjahren neu belebt werden. Unter Führung der Wiener Universität, welcher »Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und wissenschaftlicher Ernst in gleicher Weise zur Seite« stünden, sollte – so Becke – »durch planvolles Zusammenarbeiten mit allen Korporationen, die sich um Volksbildung bekümmern«, nun in losem Zusammenhang ein »Volksbildungsausschuß für den Sprengel der Wiener Universität« als neues »Zentrum« geschaffen werden, wobei an die nachfolgende Einrichtung analoger Ausschüsse »an den anderen Universitäten Deutschösterreichs« gedacht war.100 Als Aufgaben dieser neu zu schaffenden universitären »Volksbildungszentren« wurden, neben der künftigen Supervision der lokal-regionalen volksbildnerischen Agenden, die Zentralisierung des Volksbüchereiwesens, die »Heranbildung« qualifizierter Volksbildner – Hartmann hatte sich bereits 1908 für die Einrichtung von »Volksprofessuren«101 ausgesprochen –, der Ausbau der Lehrerfortbildung, die Einrichtung von Regionalversammlungen sowie die Gründung weiterer Volksbildungshäuser, auch in ländlichen Gebieten, debattiert. Insbesondere in Wien sollten in Kooperation mit der Stadt Wien neben den bereits erfolgreich etablierten Institutionen weitere Volksbildungshäuser errichtet werden102 – eine Dezentralisierungsidee, die allerdings erst Mitte der
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(Hg.), 100 Jahre Wiener Urania. Festschrift, Wien: Verein Volksbildungshaus Wiener Urania o. J. [1997], 31 – 35. Friedrich Becke, Tagung für Volksbildungswesen, Neue Freie Presse, 2. 11. 1918, 7. Neben Graz, Innsbruck und Salzburg bezog der Rektor der Universität Wien zu diesem Zeitpunkt hier nur mehr Prag bzw. »Deutschböhmen« mit ein. Ludo Moritz Hartmann, Volksprofessuren, in: Bericht über die Verhandlungen des III. Deutschen Volkshochschultages am 27. April 1908 in Dresden in der Technischen Hochschule (veranstaltet vom Verbande für volkstümliche Kurse von Hochschullehrern des deutschen Reiches und vom Ausschusse für volkstümliche Universitätsvorträge an der Wiener Universität), Leipzig: Teubner 1908, 69 – 71. Als erstes Projekt eines ländlichen Bildungsheimes dachte man an die Einrichtung eines »Landvolksheimes« in Niederösterreich, und zwar in einem der nach Kriegsende freiwerdenden militärischen oder hofärarischen Gebäude. Trotz der bis ins letzte Detail ausgearbeiteten Pläne für eine ländliche Volkshochschule in Hainburg an der Donau – die im
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1920-er Jahre durch eigenständige Zweigstellengründungen der Stammhäuser Realität wurde. Die zentral administrierte Gliederung auf regionaler Ebene, wie dies dann im »Glöckel-Regulativ« in Form bundesstaatlicher »Orts-, Kreis- und Landvolksbildungsräte« konzipiert wurde,103 sah für die Universitäten eine führende Rolle vor, als die Landesvolksbildungsräte nach Universitätsprengeln zusammengesetzt sein sollten – so etwa sollten Wien, Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg den Sprengel der Wiener Universität bilden. Aufgrund des Widerstands der Volksbildungsvereine gegen eine bürokratische Zentralisierung sowie aufgrund föderaler politischer Gegenkräfte kamen diese Pläne allerdings nie zur Ausführung.104 In den Jahren der Ersten Republik nahm die Entwicklung der volkstümlichen Universitätsvorträge einen entgegengesetzten Verlauf zu jenem der Wiener Volkshochschulen, die durch finanzielle Unterstützung des »Roten Wien« expandierten und die Hochblüte ihrer weiterhin wissenschaftszentrierten Bildungsarbeit erlebten. Die schwierige materielle und finanzielle Situation der Universitäten nach Kriegsende, die Kürzung der staatlichen Subvention für die University Extension, die – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung der finanziellen Absicherung des universitären Mittelbaus sowie der ungeheure Aufwind deutschnational-antisemitischer, völkisch-autoritärer sowie schließlich nationalsozialistischer Kräfte an den Universitäten führten letztlich zu einem drastischen Rückgang der Teilnahmezahlen um rund 80 %.105 Obwohl bis Mitte der 1920-er Jahre – anders als an der Universität selbst – weder im Programm noch unter den Vortragenden eine klare Tendenz zu deutschnationalantisemitischer Ideologie erkennbar war,106 wandte sich insbesondere die Arbeiterschaft von den volkstümlichen Universitätsvorträgen ab, die gegenüber den hochstrebenden und bald europaweit bewunderten Wiener Volkshochschulen zunehmend an Bedeutung verloren.
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Sommer auch als Urlaubsheim für städtische Teilnehmende der University Extension dienen sollte –, scheiterte dieses Projekt 1923 schließlich aus finanziellen Gründen. Siehe: Thomas Dostal, Bildung im Herrgottswinkel. Zu den ideellen und pädagogischen Grundlagen von Architektur und Raumgestaltung ländlicher Heimvolkshochschulen am Beispiel des bäuerlichen Volksbildungsheims Hubertendorf 1928 bis 1938, in: Spurensuche 20/21 (2012) 1 – 4, 155. Vgl. Regulativ für die Organisation des Volksbildungswesens in Deutschösterreich. Genehmigt mit Erlaß vom 30. Juli 1919, Z. 16.450, in: Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich 1 (1919) 1, 8. Altenhuber, Universitäre Volksbildung, 111. Und zwar von immerhin 11.274 im Wintersemester 1918/19 auf lediglich 2.400 im Wintersemester 1928/29. Siehe: Klaus Taschwer, Ende der Aufklärung? Die Entwicklung der volkstümlichen Universitätskurse in Wien zwischen 1918 und 1937, in: Spurensuche 10 (1999) 1 – 4, 110 – 111 bzw. 117. Ebd., 112 – 113.
Universität, Volksbildung und Moderne
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Unter der Leitung des ersten Gründungsobmanns und Mineralogen Friedrich Becke107 sowie seinem Stellvertreter Ludo M. Hartmann entwickelte sich insbesondere die Volkshochschule Ottakring in der Zwischenkriegszeit trotz der europaweiten »Krise der Wissenschaft« nach den Erfahrungen des Giftgaskrieges und der Weltwirtschaftskrise zu einer veritablen »Schattenuniversität«. In der konservativ-katholischen Presse und in antisemitischen Hetzblättern verunglimpft,108 avancierte diese auf das Ideal »voraussetzungsloser Wissenschaftlichkeit« orientierte Volksuniversität aufgrund ihrer organisatorischen Flexibilität, ihrer demokratischen Struktur und zahlreicher inhaltlicher und methodisch-didaktischer Innovationen sowie der im Vergleich zur Universität besseren Ausstattung der Labors potenziell zu einer Institution mit bildungspolitischer Schrittmacherfunktion und Vorreiterrolle.109 Nicht nur fand hier eine Vielzahl linker Intellektueller, Künstler und jüdischer Wissenschafter, für die sich aufgrund antisemitischer Diskriminierung eine Karriere in staatlichen Bildungsinstitutionen zunehmend schwieriger gestaltete, ein alternatives Betätigungsfeld, sondern die Offenheit gegenüber Wissenschaft, Künsten und Fragen der Alltagspraxis schuf ein Forum für progressive pädagogische Methoden und wissenschaftliche Ansätze, die an der Universität jener Zeit, wenn überhaupt, dann marginal Platz fanden. Als Beispiele sei auf die Entwicklung der Experimentalpsychologie oder auf die Individualpsychologie,110 auf Ansätze einer modernen Kunstsoziologie, auf den Logischen Empirismus des Wiener Kreises,111 auf prototypische Anläufe zu einer pro107 Friedrich K. Becke, international geachteter Professor für Mineralogie und Petrographie, von 1911 – 1929 Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften, Vorstandsmitglied des Wiener Volksbildungsvereins, übte seine ehrenamtliche Funktion als Obmann der Volkshochschule Ottakring bis 1929 aus. Wilhelm Filla, Weltbekannter Mineraloge und Volksbildner. Ein Kurzportrait Friedrich Beckes (1855 – 1931), in: Spurensuche 4 (1993) 1, 17 – 23. 108 Außer der Reichspost, die sogleich über das neue »Etablissement« herzog (siehe: Ein »Volksheim«, Reichspost, 7. 11. 1905, 9), waren dies u. a.: Die Deutsche Volkswehr, die Deutsche Zeitung oder das Deutsche Volksblatt. 109 Christian Stifter, Wissen und Macht. Anmerkungen zur Rolle und Funktion der Akademisierung der »freien« Volksbildung in Österreich um die Jahrhundertwende, in: Spurensuche NF 9 (1998) 1 – 2, 19. 110 Vgl. Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922 – 1938, Wien: WUV-Universitäts-Verlag 1995; weiters: ders., Volksbildung und »Akademische Psychologie« oder : Wie ein relativ unbedeutendes Fach »populär« zu werden versuchte, in: Mitteilungen des Vereins zur Geschichte der Volkshochschulen 4 (1993) 3 – 4, 14 – 19. 111 Siehe dazu: Friedrich Stadler, Wissenschaft ins Volk! Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis und »Verein Ernst Mach« von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Ersten Republik, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Neuere Studien zur Arbeitergeschichte. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereines für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 3: Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte (Materialien zur Arbeiterbewegung 35/3), Wien: Europaverlag 1984, 619 – 646; weiters: Wilhelm Filla, Die Volks-
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funden Politischen Bildung112 sowie auf einzelne, bisher völlig unbeachtet gebliebene Modelle einer experimentell-heuristischen Vermittlung moderner Mathematik verwiesen.113 In den Hörsälen und Studierzimmern der Wiener Volkshochschulen kreuzten sich nicht nur die Ideen, Theorien und Konzepte der Moderne, sondern des Abends oft auch die Wege von deren Urhebern – die Veranstaltungsprogramme lesen sich heute wie das geistig-kulturelle »Who is who« der Monarchie und Ersten Republik.114 Durch das wissenschaftsfeindliche, auf reaktionär-vormoderne »Persönlichkeitsprägung«115 setzende autoritäre Dollfuß-Schuschnigg-Regime sowie schließlich und final durch die rassistische Indoktrinierung der nach dem »Anschluss« dem »NS-Gauvolksbildungswerk« unterstellten Volkshochschulen wurde der Entwicklung der wissenschaftszentrierten Wiener Volksbildung sowohl personell als auch organisatorisch ein vernichtendes Ende gesetzt. Die Vertreibung der künstlerischen, literarischen, und wissenschaftlichen Intelligenz des Landes hatte für die Volkshochschulen schwerwiegende Folgen. Neben den ehrenamtlichen Funktionären und den Hörerinnen und Hörern hatten viele der zur Emigration gezwungenen oder in Konzentrationslagern ermordeten (jüdischen) Intellektuellen, Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Musikerinnen und Musiker durch ihr volksbildnerisches Engagement entscheidend zur Qualität und zum intellektuellen Flair der damaligen Volksbildungshäuser beigetragen.
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hochschule Volksheim in den zwanziger Jahren zwischen Austromarxismus und Wiener Kreis, in: Erwachsenenbildung durch Volkshochschulen in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts, 17. Konferenz des Arbeitskreises Historische Quellen der Erwachsenenbildung Deutschland–Österreich–Schweiz. Jena, 8.–11. Oktober 1997, Bonn: Deutscher Volkshochschul-Verband 1998, 35 – 48. Tamara Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat. Vorträge in der Wiener Volksbildung. Schriften zu Kritikfähigkeit und Rationalismus (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 29), Wien: Manz 2007. Filla, Wissenschaft für alle, 277 – 228. Siehe dazu die online gestellte Kurs- und Vortragsdatenbank der Wiener Volkshochschulen 1887 – 1960 (inklusive der Programme der University Extension) auf dem Webportal des ÖVA, URL: http://www.vhs.at/vhsarchiv (abgerufen am 30. 1. 2015). Das Volksbildungswesen der Stadt Wien unter Bürgermeister Richard Schmitz in den Jahren 1934 – 1936, Wien: Magistrat der Stadt Wien 1937, 7.
Universität, Volksbildung und Moderne
8.
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Späte Zusammenarbeit mit veränderter Zielrichtung ab 1998
Vor dem Hintergrund der 50-Jahr-Feier der »Volkstümlichen Universitätsvorträge«,116 die am 13. Oktober 1945 im Auditorium Maximum festlich begangen wurde und bei der Staatssekretär Ernst Fischer und Rektor Ludwig Adamovich sr. Festreden hielten, plante die Rektorenkonferenz, »möglichst viele Hochschullehrer« für Veranstaltungen »im Rahmen der Volksbildungsstätten« zu gewinnen, um dadurch zur »Hebung des allgemeinen kulturellen Niveaus«117 beizutragen. An jeder der Wiener Universitäten sollten Listen aufliegen, in die sich alle Professoren, Dozenten und Assistenten mit Namen und Wohnadresse eintragen sollten, die zur Übernahme eines Vortrages oder einer sonstigen Mitwirkung bereit seien. Diese Initiative verlief allerdings bald im Sand. Obwohl die »Volkstümlichen Universitätsvorträge« als vereinzelte Semestervorlesungen für »Hörer aller Fakultäten« nominell noch viele Jahrzehnte im offiziellen Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien aufschienen, handelte es sich dabei lediglich um eine fahle Reminiszenz an eine große Tradition, von der bald niemand mehr wusste.118 Erst 1998 wurde – freilich auf Grundlage völlig veränderter gesellschaftspolitischer, sozialökonomischer und medialer Bedingungen – unter dem Namen »University Meets Public« auf Initiative des Dachverbands der Wiener Volkshochschulen eine vertraglich geregelte Kooperation mit der Universität Wien ins Leben gerufen, die als Teil einer Wissenschaftsstrategie der öffentlichen Hand die »traditionsreiche Zusammenarbeit in Form einer weitreichenden Kooperation neu zu beleben« beabsichtigte.119 Diese Kooperation – bei der die Universitäten Partner sind und nicht, wie zuvor, Träger – hat sich bis heute auf eine Reihe weiterer Universitäten zu einem »Science«-Programm ausgeweitet, unterscheidet sich allerdings von dem früheren Modell der wissenschaftszentrierten »Wiener Volksbildung« in mehrfacher Hinsicht. So verfügt die Initiative »über keine vergleichbare gesellschaftliche Basis«, was sich auch in den deutlich niedrigeren Teilnahmezahlen niederschlägt. Darüber hinaus umfasst das Programmangebot keine Kurse beziehungsweise Kursserien, sondern bei116 Die Wiener volkstümlichen Universitätskurse. Ansprache anlässlich der Fünfzigjahrfeier im Auditorium Maximum am 13. Oktober 1945 von Rektor Adamovich, in: Akademische Rundschau 1 (1945) 3, 8. 117 Protokoll der 17. Sitzung des Akademischen Senats der Universität Wien, 2. 10. 1945, 3. Archiv der Universität Wien (UAW), Rektoratsakten, Akademischer Senat, 455 – 1944/45. 118 Hans Altenhuber, 100 Jahre universitäre Volksbildung. Kein Jubiläum zum Feiern, wohl aber zum Erinnern, in: Spurensuche 6 (1995) 3, 7. 119 Wilhelm Filla, Volkstümliche Universitätskurse – ein historisches wie aktuelles Modell der Wissenschaftsverbreitung, in: Peter Faulstich (Hg.), Öffentliche Wissenschaft. Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung, Bielefeld: transcript 2006, 64.
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nahe ausschließlich Einzelvorträge und wenige Vortragsreihen, und die Zielsetzung liegt unter anderem in einer besseren Information von Studienanfängerinnen und Studienanfängern.120 Ob und inwiefern die Universität Wien im 21. Jahrhundert noch einmal an ihre im Vergleich zu den deutschen Universitäten weitaus progressivere Position121 einer engagiert betriebenen, methodisch-ambitionierten Wissenschaftsvermittlung anschließen wird können, wird sich wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt beurteilen lassen.
120 Ebd., 65. 121 Schäfer, Historische Vorläufer, 22.
Katharina Kniefacz und Herbert Posch
Akademische Grade und Berufsberechtigung – Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung an der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert«
1.
Einleitung
Eng verbunden mit dem Hauptgegenstand dieses Bandes – Forschung und Lehre – sind jene Fragen, um die sich dieser Beitrag dreht. Thematisiert werden hier Grundfragen zur Funktion der Universität: Während der Begriff »Ausbildung« eng an Fragen der berufsorientierten Lehre, der Spezialisierung und Professionalisierung gekoppelt ist (Reproduktion von anerkanntem und anwendbarem Wissen), verbindet sich mit der Idee der »Bildung« die Persönlichkeitsentwicklung, der Gedanke der freien wissenschaftlichen Forschung und deren Verbindung mit der Lehre (Produktion von neuem Wissen). Diese beiden gegensätzlichen Aufgaben, die die Universität für Staat und Gesellschaft erfüllt, stellen auch die Grundlage für den von Immanuel Kant beschriebenen Streit der Fakultäten (1798) dar, in dem die drei »oberen« Fakultäten (Theologie, Medizin, Jus) mit ihrer staatstragenden und sozialtechnischen Funktion einer der kritischen Vernunft und der wissenschaftlichen Grundausbildung dienenden »unteren« Fakultät (Philosophie) gegenüberstehen. Wie Kant hebt auch Pierre Bourdieu in seiner wissenssoziologischen Arbeit Homo academicus (1984) diesen institutionalisierten Spannungszustand als wesentlichen Charakter der Universität und der Rahmenbedingungen der darin wirkenden Fächer, Gruppen und Personen hervor.1 Aus universitätshistorischer Sicht stellt z. B. für Walter Rüegg das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und Bildung (sowie die Einführung in das wissenschaftliche Lehramt) die Hauptaufgaben der Universität dar, er ordnet sie dem bios theoretikos zu. Wenngleich er diese »Wahrheitssuche« eindeutig als Primärfunktion identifiziert, beschreibt auch er ähnlich wie Kant und Bourdieu diese schon seit dem Mittelalter in einem »Spannungsverhältnis zu ihrer wichtigsten latenten Funktion, der Ausbildung akademischer Berufe des praktischen 1 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler in diesem Band.
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Katharina Kniefacz und Herbert Posch
Lebens«,2 die er dem bios praktikos zuordnet. Laut Rüegg bewirkte der Humanismus in Europa vom 15. bis zum 18. Jahrhundert eine allmähliche Verschiebung »vom bios theoretikos zum bios praktikos« – die Ausbildung vor allem für den öffentlichen Dienst sowie im weiteren Sinne die Erziehung der gesellschaftlichen Eliten Europas wurde zur Hauptaufgabe.3 An der Wiener Universität war die mittelalterliche »Artistenfakultät« – später Philosophische Fakultät – durch die Einschränkung auf zugelassene Lehrbücher (»libri admissi«) sowie ihren »dienenden Charakter« als Vorbildungseinrichtung für jene reduziert, welche an einer der drei »höheren« Fakultäten studieren wollten.4 Nach einer Phase der Katholisierung5 unter den Jesuiten brachten die Reformen des aufgeklärten Absolutismus im ausgehenden 18. Jahrhundert unter Maria Theresia und Joseph II. als Gegenbewegung eine Säkularisierung und Modernisierung bei gleichzeitiger Zentralisierung des Bildungswesens mit sich. Das Hochschulwesen wurde nun vorwiegend funktional ausgerichtet und zur Ausbildungsstätte für Staatsdiener (Geistliche, Staatsbeamte, Ärzte). Mit Ausnahme des Gesundheitswesens, das mit dem wachsenden Praxisbezug der universitären Ausbildung unter Gerard van Swieten intensiv gefördert wurde,6 führten die Reformen zu mehreren Einschränkungen für die wissenschaftliche Tätigkeit: Die Lehre wurde zunehmend reglementiert, normiert und verschult sowie auf Lehrbücher beschränkt, an die sich die Professoren streng halten mussten, und man führte Semestral/Annualprüfungen ein.7 Die Philosophische Fakultät diente weiterhin nur dem vorbereitenden Grundstudium für die anderen Fakultäten.8 Erst eine Studienreform 1805 ermöglichte den philosophi2 Walter Rüegg, Was lehrt die Geschichte der Universität? (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Band XXXII, Nr. 6), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1994, 18. 3 Ebd., 15 – 20. 4 Richard Meister, Das Werden der philosophischen Fakultät. Sonderabdruck aus dem Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien, Wien: Akademie der Wissenschaften 1936, 4. 5 In dieser Zeit agierte die Universität Wien, bzw. ihre Katholisch-Theologische Fakultät, im kaiserlichen Auftrag auch als Zensurbehörde gegen »unerwünschte Bildung« und zog die Schriften von Protestanten wegen »ihres gemeinschädlichen, gefährlichen oder bedenklichen Inhalts« aus dem Verkehr, durchsuchte Bibliotheken und Buchhandlungen, zog unerwünschte Literatur ein und unterband ihren weiteren Vertrieb mit Androhung drankonischer Strafen, vgl. dazu die sehr kirchenkritischen Ausführungen bei Rochus Perkmann, Zur Geschichte der Wiener Universität. Auch ein Beitrag zur halbtausendjährigen Jubelfeier, Leipzig: Verlag Otto Wigand 1865, 154 – 161. 6 Zur Etablierung des praktischen Unterrichts an den PatientInnen wurde unter Joseph II., auch das Allgemeine Krankenhaus gegründet sowie das Josephinum als Ausbildungsstätte für Militärärzte. 7 Christoph Charle, Grundlagen, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Band III: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg 1800 – 1945, München: Beck 2004, 58. 8 1786 wurde der abschließende Magistergrad abgeschafft – für die Zulassung zu den juristischen und medizinischen Studien genügte die Ablegung der Semestral- und Jahresprüfungen
Akademische Grade und Berufsberechtigung
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schen Fächern allmählich eine freiere Entwicklung und differenzierte das Lehrangebot in 1. stark reglementierte Pflichtvorlesungen für alle Studien, 2. Pflichtvorlesungen nur für bestimmte Studienrichtungen und 3. freie Wahlgegenstände je nach beruflichem und fachlichem Interesse, in deren Rahmen relative wissenschaftliche Freiheit herrschte.9 Im Gegensatz zum französischen Modell der Spezialhochschulen zur Ausbildung staatlicher akademischer Berufe unter direkter Kontrolle und zentralistischer Organisation des Staates (dieses Modell fand in Österreich in den eben erwähnten Reformen ihren Ausdruck) mit seiner zunehmenden Entfremdung der Fakultäten durch unterschiedliche Ausbildungswege, stand das deutsche Universitätsmodell. Dieses betonte das Ideal einer ganzheitlichen und von wirtschaftlichen Interessen unabhängigen wissenschaftlichen (nicht berufsbezogenen) Bildung (Lehr- und Lernfreiheit). Die Idee einer humboldtschen Universität als Ideal der modernen Universität entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der damals hochaktuellen Debatten um Überfüllung, »akademisches Proletariat« und numerus clausus.10 In Österreich erschwerte der andauernde Absolutismus die Einführung dieses Universitätsmodells. Erst nach der März-Revolution 1848 war auch die österreichische Monarchie zu weitreichenden Bildungsreformen bereit bzw. gezwungen. Schon 1848/49 wurde die Liberalisierung der Lehre, die Abschaffung der Annual-/Semestralprüfungen verwirklicht sowie die Habilitation als neue Professionalisierungsstufe für das Amt der Hochschullehrer eingeführt. Eine wesentliche Rolle spielte hier die Hierarchisierung der Lehrenden in drei Statusgruppen: Zusätzlich zu den ordentlichen Professoren, die mit einem Lehrstuhl auf Lebenszeit die oberste Stufe darstellten, und den nachgereihten außerordentlichen Professoren wurde mit der Habilitationsordnung als unterste Stufe das Amt des (jüngeren und schlecht bzw. nicht honorierten) Privatdozenten eingeführt.11 – für die wenigen, an der Fakultät selbst weiter Studierenden an der Philosophischen Fakultät der Doktorgrad eröffnet (nach Rigorosen aus Philosophie, Mathematik und Physik sowie Universal- und Landesgeschichte. Meister, Das Werden der philosophischen Fakultät, 12. 9 Ebd., 13 – 14. 10 Vgl. u. a. Walter Rüegg, Der Mythos der Humboldt’schen Universität, in: Universitas in theologica. Theologica in universitatae. Festschrift für Hans Henrich Schmit zum 60. Geburtstag, Zürich: Theologischer Verlag, 1997, 155 – 175; Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien u. a.: Böhlau 1999; Sylvia Paletschek, Verbreitet sich ein »Humboldt’sches Modell« an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, 75 – 104; Rüegg, Einleitung, in: ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa III, 18 f., 32 f.; Peter Josephson/Thomas Karlsohn/Johan Östling (Hg.), The Humboldtian Tradition: Origins and Legacies, Leiden: Koninklijke Brill NV 2014. 11 Vgl. aktuell zu den Thun-Hohenstein’schen Reformen das Forschungsprojekt »Die Korre-
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Katharina Kniefacz und Herbert Posch
Unter Leo Thun-Hohenstein als Minister für Cultus und Unterricht erfolgte schließlich ab 1849 der Hauptteil des Reformprozesses nach dem Vorbild, aber gleichzeitig in bewusster Abgrenzung zum preußisch-protestantischen Hochschulmodell. Die Thun-Hohensteinsche Reform entwickelte ein Gegenprogramm, dessen katholische Ausrichtung durch das österreichische Konkordat 1855 besiegelt wurde und dessen national-politischer Auftrag, loyale Bürger heranzubilden (und damit eine weitere Revolution zu verhindern). Dieses Ziel sollte an den Universitäten etwa durch die Institutionalisierung der Nationalgeschichte und die Förderung der Rechtsgeschichte umgesetzt werden. Diesem Modell nach sollte die Universität als wissenschaftliche Institution, zur fachlichen Ausbildung von Staatsdienern und zur allgemeinen Bildung im Sinne des Neo-Absolutismus dienen. In Anlehnung an die deutsche Idee erfolgte eine grundlegende Reform des österreichischen Bildungssystems: Die Gymnasien wurden von sechs auf acht Jahre verlängert und übernahmen nun die philosophische Vorbildung für das Universitätsstudium.12 Der Aufwertung der Philosophischen Fakultät folgte 1872 die Reform des wissenschaftlichen Doktorates mit der Anforderung von Dissertationen für den Abschluss des Studiums an der Philosophischen und an der Theologischen Fakultät (zusätzlich zu den Rigorosenprüfungen).13 Die Einrichtung von Seminaren – ausgehend von den schon zuvor existierenden Privatcollegien (oft im Haus des Professors) – als neue Unterrichtsform beförderte die Integration der Forschung in die Universität. Neben der Vorlesung als »Urtypus der Lehre«, der Inhaltskontrolle über Zensur und Normierung der Lehrbücher zulässt – damit eng verbunden der Raumtypus des Hörsaals mit Katheder –, führten die stärker diskursiv angelegten Seminare sowie die Doktorarbeiten zum Aufblühen des forschungsgeleiteten Lernens und der studentischen Forschungsarbeit, aber auch zu wachsenden Anforderungen. Mit Verzögerung kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer »Gründerzeit« für neue Institute, Seminare, Kliniken und Lehrstühle an der Universität Wien, was mit dem gleichzeitigen Anstieg der Hörer(Innen)zahlen zu einem stark wachsenden Raumbedarf führte.
spondenz von Leo von Thun-Hohenstein« (Leitung: Brigitte Mazohl), URL: http://thunkorrespondenz.uibk.ac.at/ (abgerufen am 16 .2. 2015); sowie im europäischen Kontext: Charle, Grundlagen, 58. 12 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Bastian Stoppelkamp und Friedrich Stadler in diesem Band. 13 Vgl. Richard Meister, Geschichte des Doktorates der Philosophie an der Universität Wien, Wien: Rohrer 1958.
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Ausgehend von dieser theoretischen und historischen Annäherung beschäftigt sich der Beitrag mit dem Wandel zweier ausgewählter Aspekte dieses breiten Themenspektrums an der Universität Wien im Laufe des »langen 20. Jahrhunderts«: die akademischen Abschlüsse und die Berufsberechtigung, also das Verhältnis von Bildung und Ausbildung. Welche politisch-gesellschaftlichen oder hochschulpolitischen Brüche wirkten sich dabei aus? Welche Neuerungen, Reorganisationen, Neufundierungen fanden statt? Wie wurden Ziele und Aufgaben im Zusammenhang des gesamten Bildungswesens definiert, was waren die jeweiligen relevanten Umfelder und Bezugsgrößen? Welchen Stellenwert hatte ein Hochschulabschluss für den Zugang zu akademischen Berufen und anderen höheren Positionen, was waren die Berufserwartungen der Studierenden? Diese Fragen führen uns zunächst zum Bereich des Promotionsrechts: Der Begriff des akademischen »Grades«, semantisch abgeleitet aus dem lateinischen Begriff »gradus« – Schritt –, spiegelt noch die ursprüngliche Bedeutung wider, nämlich den Schritt in die nächst höhere akademische Ebene, den Aufstieg vom Scholaren, über Baccalaureat und Licentiat, zum Magister oder Doktor. Er ist die gängige gesetzliche Bezeichnung, wie sie auch in den heutigen Satzungen der Universität Wien verwendet wird. Der Begriff »Titel«, der sich vom anredefähigen Namenszusatz her ableiten lässt, verweist vielfach auf eine staatliche Herkunft.14 Zwar hat der »Doktortitel« im staatlichen Recht seinen Ursprung oder Bestätigung – in Österreich durch Verordnungen mit Gesetzescharakter –, seine Vergabe bleibt aber uneingeschränkt den Universitäten in deren autonomen Wirkungskreis überlassen. Eng damit verbunden ist die Frage der Professionalisierung und des Berechtigungswesens für akademische Berufe und für den höheren Staatsdienst. Dieser wichtige Angelpunkt zwischen Theorie und Praxis knüpft sich damit auch eng an Probleme des akademischen Arbeitsmarktes und ist gekoppelt an den Wechsel von Überfüllungs- und Mangeldebatten in Verbindung mit ständigem Wachstum und chronischer Unterdotierung.
14 Vgl. Walter Oberleitner, Das Recht der akademischen Grade, Wien/Berlin: Koska 1965, 14 f.; Alfred Wretschko, Die akademischen Grade namentlich an den Österreichischen Universitäten, Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universitätsbuchhandlung 1910, 25, 53.
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2.
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Graduierungsrecht und akademische Grade als Refugium der Hochschulautonomie15
Das Promotionsrecht, das Recht DoktorInnen und andere AkademikerInnen zu graduieren, ist eines der ältesten autonomen Rechte der Universitäten und zentral für ihre gesellschaftliche Bedeutung.16 In diesem Bereich steht den Universitäten selbst gegenüber dem Staat ein hohes Ausmaß an Autonomie zu, die auch immer wieder heftig verteidigt wurde. Wesentlich dafür ist die Trennung von Rigorosen (»strenge Prüfungen«) – die in Verordnungen und Gesetzen geregelt sind und in den staatlichen Bereich fallen –, und dem Akt der Promotion selbst, der in die Autorität und Autonomie der Universität fällt. Die Universitäten haben stets auf den Unterschied hingewiesen, dass der Doktorgrad nach dem Universitätsgesetz von 1873 »von der Facultät unter der Autorität der Universität«17 durch den feierlichen Rechtsakt der Promotion verliehen wird, nicht durch den Staat, der die akademischen Grade dann gesetzlich schützt und ihren TrägerInnen gewisse Privilegien einräumt.18 Der zentrale akademische Grad im »langen 20. Jahrhundert« ist in Österreich das Doktorat. Voraussetzung für die Zulassung zur Promotion war und ist der Abschluss der Studien, die Approbation der Dissertation – wo diese vorgeschrieben ist19 – und die positive Beurteilung bei den Rigorosenprüfungen. Das Promotionsverfahren vollzieht sich nach einer von der Fakultät erlassenen, vom Staat genehmigten Promotionsordnung und endet mit dem eigentlichen Promotionsakt. Seit 1899 findet der Promotionsakt an der Universität Wien in annähernd gleicher Weise statt. Der Wortlaut der Promotionsformel war und ist in Latein (als der universellen Wissenschaftssprache des Mittelalters) – allein in 15 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Herbert Posch, Akademische »Würde«. Aberkennung und Wiederverleihung akademischer Grade an der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Diss., Universität Wien 2009. 16 Vgl. dazu Alois Kernbauer, Hochschulabschlüsse in der Habsburgermonarchie in der Zeit der Professionalisierung akademischer Berufe, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotion. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen 13. – 21. Jh., Basel: Schwalbe 2007, 89 – 168 aber auch ältere Literatur wie: Alfred Fischer, Das österreichische Doktorat der Rechtswissenschaften und die Rechtsanwaltschaft, Innsbruck–München: Universitäts-Verlag Wagner 1974; Meister, Geschichte des Doktorates; Wretschko, Die akademischen Grade; Leo Beck von Mannagetta/Carl von Kelle (Hg.), Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsordnungen (etc.), Wien: Manz 1904 – 1906. 17 Reichsgesetzblatt (RGBl.) 63/1873 vom 27. 4. 1873 (UOG 1873), § 14 Z. 4. 18 Hans Sperl, Gutachten der Rechts- und staatswissenschaftlichen Facultät der Karl-FranzensUniv. in Graz über Verlust und Wiedererwerbung der Doctorswürde nach strafgerichtlicher Verurtheilung, Graz: Styria 1900. 19 Der juristische und medizinische Doktorgrad wird/wurde – mit Ausnahme der NS-Zeit – ohne Dissertation nach drei Rigorosen verliehen.
Akademische Grade und Berufsberechtigung
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der Zeit des Nationalsozialismus wurde er in deutsche Sprache übersetzt und ideologisch angepasst, was 1945 umgehend rückgängig gemacht wurde –, der Wortlaut des Diploms war bis ans Ende des 20. Jahrhunderts Latein, jener des rechtskräftigen Bescheides ist aber heute Deutsch und Englisch (als gegenwärtige universelle Wissenschaftssprache). Da der Doktorgrad als subjektive öffentlich-rechtliche Berechtigung vom Staat geschützt ist, wird die unberechtigte Führung bestraft.20 Juristisch-dogmatisch ist die Verleihung (Promotion) ein begünstigender Verwaltungsakt einer Verwaltungsbehörde – der Fakultät – mit Dauerwirkung, da der Doktorgrad grundsätzlich lebenslänglich gilt und seine TrägerInnen als Personen ausweist, die eine eigene wissenschaftliche Leistung vollbracht haben. Der Doktorgrad ist und war Voraussetzung zur Ausübung bestimmter Berufe, darüber hinaus ist seine rechtliche Bedeutung eher gering, im Gegensatz zu der in Österreich bislang eher hohen gesellschaftlichen Wertschätzung.21 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts differenzierte sich der Doktor aus, bis hin zum heutigen Verständnis als ein Absolvent von Universitätsstudien ohne Lehrberechtigung an der Universität. Das Doktorat erlangte damit die heute bekannte Stellung zwischen Staatsprüfungen oder Diplomgraden und den Habilitationen. Unter Joseph II. kam es an der Universität Wien zur Ablösung der ursprünglichen kirchlichen Form der feierlichen Promotion. Auch Protestanten und Juden konnten nunmehr an den weltlichen Fakultäten (Juridische, Medizinische und Philosophische Fakultät) diesen Titel erlangen. Der Doktorgrad wurde eine staatliche Auszeichnung, die ohne Rücksicht auf Stand und Religion jedem Mann zugänglich war, der die staatlich verordneten Bedingungen erfüllt hatte. An die Stelle des bis dahin üblichen Doktoreides trat 1785 die Promotion als säkularer Akt, eine Angelobung, deren Bezugspunkt nunmehr die Universität als Wissenschaftsinstitution war.22 Eine weitere große Änderung bei den akademischen Graden fand mit den Universitätsreformen 1848/49 und 1872/73 statt.23 Mit der sukzessiven Abschaffung der Doktorenkollegien – dessen Dekanen stand bis 1848 das Promotionsrecht unter der Autorität der Universität zu –, ging das Recht der Doktorgradverleihung 1873 endgültig an die Professorenkollegien der Fakultä20 RGBl. I S. 985 vom 7. 6. 1939; Staatsgesetzblatt (StGBl.) 78/1945 vom 9. 7. 1945; Bundesgesetzblatt BGBl. 177/196 vom 15. 7. 1966. 21 Umfassende Diskussion, ob der akademische Grad im 20. Jahrhundert lediglich wissenschaftliche Qualifikation ausdrückt oder darüber hinaus auch eine ehrenvolle Auszeichnung darstellt, in: Oberleitner, Das Recht der akademischen Grade. 22 Der bis dahin bei der Promotion verpflichtende Eid auf die unbefleckte Empfängnis Marias wurde 1782 abgeschafft, die Ablegung des katholischen Glaubensbekenntnisses samt Gehorsamseides für den Papst 1785, vgl. Meister, Geschichte des Doktorates, 38; Wretschko, Die akademischen Grade, 19 f. 23 RGBl. 401/1849 vom 27. 9. 1849; UOG 1873.
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ten über (also von der Korporation der Absolventen auf jene der Lehrenden) und wurde eine neue Sponsions-/Promotionsformel für alle Fakultäten in Österreich eingeführt, die weitgehend bis heute verwendet wird.24 Nach der Thun-Hohensteinschen Universitätsreform von 1848/49 gab es an der Universität Wien neben dem Doktor der katholischen Theologie (Doctor theologiae/Dr. theol.) die 1872 für die weltlichen Fakultäten einheitlich verordneten und bis Anfang des 21. Jahrhunderts üblichen Grade25 : Doktor der Rechte (Doctor iuris/Dr. iur.), Doktor der gesamten Heilkunde (Doctor medicinae universae/Dr. med. univ.) und Doktor der Philosophie (Doctor philosophiae/ Dr. phil.), sowie den Grad Magister der Pharmazie (Magister Pharmaciae/ Mr. pharm. seit 1971: Mag. pharm.26) an der Medizinischen, seit 1922 an der Philosophischen Fakultät.27 Die Zulassung von Frauen zum Studium bzw. zur Verleihung von akademischen Graden28 hatte keine Auswirkung auf die Bezeichnung: Auch Frauen erhielten den Grad in seiner männlichen Form »Doktor« verliehen. Zu den bisherigen akademischen Graden kam 1919 das Doktorat der Staatswissenschaften (Doctor rerum politicarum/Dr. rer.pol.)29 hinzu (bis 1966).30 Mit der Eingliederung der Fakultät für evangelische Theologie 192231 wurden die akademischen Grade Lizentiat und Doktorat der Evangelischen Theologie (Doctor theologiae/Dr. theol.) an der Universität Wien eingeführt. Zwischen 1938 bis 1945 – die österreichischen Studienvorschriften wurden durch die reichsdeutschen Normen ersetzt – wurden zahlreiche, bis dahin an der Universität Wien nicht existente akademische Grade verliehen wie z. B. DiplomChemiker, Diplom-Physiker, Diplom-Mathematiker usw., die mit Ende des Nationalsozialismus jedoch nicht weiter verliehen wurden. Die bestehenden 24 Beck/Kelle, Die österreichischen Universitätsgesetze; Formeln des 19. und 20. Jahrhunderts abgedruckt in: Posch, Akademische »Würde«, 335 – 339. 25 RGBl. 57/1872 vom 15. 4. 1872. 26 BGBl. 326/1971 vom 30. 6. 1971, § 15 Abs. 3, § 18 Abs. 9. Vgl. Nomenklatur der österreichischen akademischen Grade und Berufsbezeichnungen (Stand: 1. März 1987), hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMWF), Wien: BMWF 1987, 4. 27 Weiters wurden im 19. Jahrhundert folgende, heute nicht mehr gebräuchliche akademische Grade an der Medizinischen Fakultät verliehen: Doktor der Chemie (Dr. chem.), Magister der Chirurgie (Mag. chir.), Magister der Geburtshilfe (Magister obstestriciae/Mr. obst.), Magister der Zahnheilkunde (Mag. artis dentinae), Magister der Augenheilkunde (Mag. artis oculisticae), sowie universitäre Diplome für Hebammen, Patron der Chirurgie (Patronus chirurgiae) und Operateur, der den Frequentanten des Operationsinstituts in Wien zwischen 1871 und 1898 verliehen wurde. 28 Seit 1878/79 waren Frauen an der Philosophischen Fakultät als Hospitantinnen, seit 1897 als o. und ao. Hörerinnen zugelassen, vgl. Beck/Kelle, Die österreichischen Universitätsgesetze, Nr 458 und 461. 29 StGBl. 249/1919. 30 BGBl. 179/1966 vom 15. 7. 1966. 31 BGBl. 546/1922 vom 20. 7. 1922.
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Doktorgrade blieben, abgesehen von Änderungen der Studienvorschriften, unberührt. Das damals an der Philosophischen Fakultät eingeführte Doktorat der Naturwissenschaften (Doctor rerum naturalium/Dr. rer.nat.) wurde 1945 nicht übernommen, aber 1971 erneut eingeführt.32 1945 kam als neuer akademischer Grad lediglich jener des Diplom-Dolmetschers33 hinzu. Das Allgemeine Hochschul-Studiengesetz (AHStG) von 1966 brachte grundlegende Änderungen.34 Der neue Grundgedanke war, dass alle AbsolventInnen akademischer Studien auch mit einem akademischen Grad abschließen sollten, was z. B. für Lehramtsstudien bisher nicht gegeben war. Eine Reihe von Studien und die Magistergrade wurden neu geschaffen und in verschiedenen Studiengesetzen geregelt.35 Nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union kam es ab 1999 zur Implementierung des »Bologna-Prozesses«. Der Bologna-Beschluss, dessen Ziel die Schaffung einer gemeinsamen Architektur der Hochschulbildung im europäischen Forschungsraum bis 2010 war, und die Förderung der Mobilität in der EU, hatte radikale Veränderung der bisherigen Strukturen der Studien zur Folge. In Orientierung am angelsächsischen Modell erfolgte auch an der Universität Wien seither die Einführung der dreigliedrigen Struktur der Abschlüsse in Bachelor- (BA), Master- (MA) und Doktor-/(Ph.D-)/Grade, sowie die Anwendung des European Credit Transfer System (ECTS) u.v.m. in allen Studien, ein Prozess der mittlerweile als weitgehend abgeschlossen angesehen werden kann.36 Ein Überblick über den Umfang und die Verteilung von akademischen Abschlüssen in Österreich zeigt einen sehr hohen Anteil der Universität Wien an den Studierenden sowie Promotionen und Sponsionen: Zwischen 1850 und 1880 lag der Anteil der Promotionen der Universität Wien kontinuierlich um die 50 % aller Promotionen der cisleithanischen Monarchie,37 danach bis 1918 bei rund 32 33 34 35
StGBl. 165/1945vom 3. 9. 1945, BGBl. 326/1971 vom 30. 6. 1971, § 16 Abs. 2. BGBl. 76/1946 vom 4. 12. 1945, § 1 Abs. 7. BGBl. 177/1966 vom 15 7. 1966, besonders: V. Abschnitt. Z. B. BGBl. 179/1966 vom 15. 7. 1966 (Sozial- und Wirtschaftswissenschaften); BGBl. 293/ 1969 vom 10. 7. 1969 (Katholische Theologie); BGBl. 326/1971 vom 30. 6. 1971 (Geistes- und Naturwissenschaften); BGBl. 123/1973 vom 14. 2. 1973 (Medizin); BGBl. 140/1978 vom 2. 3. 1978 (Rechtswissenschaften). 36 Der Europäische Hochschulraum, Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister am 19. 6. 1999 in Bologna, abgedruckt in: Bericht über den Stand der Umsetzung der Bologna-Erklärung in Österreich (Berichtszeitraum 2000 – 2004), hg. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK), Wien: BMBWK 2005, 10 – 14; vgl. dazu auch Mitchell G. Ash, Bachelor of What, Master of Whom? The Humboldt Myth and Historical Transformations of Higher Education in German-Speaking Europe and the US, in: European Journal of Education 41 (2006), 245 – 267. 37 Österreichisch-ungarische Monarchie (bzw. Cisleithanien) gesamt: 1855 – 1918: Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Theologische Fakultät Salzburg (ab 1871), sowie deutsche und
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40 %. Der Anteil der Universität Wien an den österreichischen Promotionen (Universitäten Graz, Innsbruck und Katholische Fakultät Salzburg) lag ab 1918 kontinuierlich um die 70 %, sank in der NS-Zeit auf 65 % und am Beginn der sowjetischen bzw. interalliierten Besatzung 1945 auf 50 %, hielt sich ab 1948 für die nächsten 20 Jahre um die 60 % und sank dann ab den 1970er Jahren, nicht zuletzt durch die Abschlüsse der neugegründeten Universitäten Salzburg, Linz und Klagenfurt. Die Entwicklung der Anzahl der Promotionen der Universität Wien steigt im langen 20. Jahrhundert tendenziell an, unterbrochen von den beiden Weltkriegen mit je starken Rückgängen während des Krieges und einem je starken Ansteigen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Zwei weitere Abweichungen der generellen Anstiegstendenz sind noch festzuhalten: Zum einen der Höchststand an Promotionen im Jahr 1938 – 1.655 Promotionen –, als schlagartig zahlreiche Studierende binnen weniger Monate versuchen, ihre offenen Promotionsverfahren angesichts der Bedrohung durch die NS-Herrschaft zu einem raschen Abschluss zu bringen.38 Zum anderen das Jahrzehnt zwischen 1950 und 1960, als die Zahl der Promotionen nach dem Nachkriegshoch auf ein Niveau absank, das in Friedenzeiten zuletzt 1887 so niedrig war : 493 Promotionen (1958/59). Hinter dem exponentiell starken Anstieg der Studierendenzahlen ab 1970 bleibt die Zahl der Promotionen dann jahrzehntelang weit zurück (bedingt u. a. durch die Einführung des Magistergrades als neuem »Standardabschluss«, die stark ansteigende Verweildauer der Studierenden an der Universität und die jahrzehntelang erfolglos bekämpfte hohe Dropout-Rate). Auch die Zahl der Promotionen an den einzelnen Fakultäten der Universität Wien schwankte im Laufe der Zeit stark: Während die theologischen Fakultäten auf einem niedrigen aber relativ konstanten Niveau blieben, übernahm die Medizinische Fakultät bis 1900 die führende Rolle bei der Anzahl der Abschlüsse, wurde darin aber bis 1920 von der Juridischen Fakultät abgelöst. Daraufhin wechselte die Position der Fakultät mit den meisten Abschlüssen in 6 – 10 Jahres-Zyklen zwischen den beiden Fakultäten. Die Promotionen an der Philosophischen Fakultät stiegen im 20. Jahrhundert relativ kontinuierlich an, vom Einbruch durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg abgesehen.39 tschechische (getrennt ab 1882/83) Universität Prag, Theologische Fakultät Olmütz, Universitäten Krakau, Lemberg und Czernowitz (ab 1877). 38 In diesem Zeitraum war auch der höchste Stand an eröffneten, aber (aufgrund der NSVerfolgungsmaßnahmen der Betroffenen) unabgeschlossenen Promotionsverfahren zu verzeichnen. Als Sonderfall wurden in sogenannten »Nichtarierpromotionen« im Juni und Oktober 1938 noch rund 200 jüdische Studierende promoviert, allerdings wurde gleichzeitig auf dem Doktordiplom ein Berufsverbot im gesamten Deutschen Reich vermerkt. Vgl. Posch, Akademische »Würde«. 39 Ebd.
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Nach der Schaffung des freien Hochschulzugangs unter der Regierung Bruno Kreisky 1970/71 stiegen die Studierendenzahlen stetig und rasant an. Österreichweit nahmen spätestens jetzt vor allem die Geisteswissenschaften, Sozialund Wirtschaftswissenschaften sowie die Technik als Hauptstudienfächer ordentlicher Studierender die quanitativ dominante Rolle ein, Medizin und Jus stiegen dagegen weitaus weniger stark an. Über einen Doktorgrad als akademischen Zweitabschluss verfügte um die Wende zum 21. Jahrhundert nicht einmal 1 % der österreichischen Bevölkerung (etwa 17 % der AbsolventInnen eines Diplomstudiums).40 Im noch jungen 21. Jahrhundert fand rund ein Viertel bis ein Drittel aller Studienabschlüsse an der Universität Wien statt. Seit dem Studienjahr 2008/09 sind die weiblichen AbsolventInnen bei allen Abschlüssen – BA, MA, Mag., Dr. – an der Universität Wien in der Überzahl (im Studienjahr 2012/13: 71 % aller Abschlüsse bzw. 51 % der Doktoratsabschlüsse). Im Vergleich dazu ist die Geschlechterparität bei den Doktoratsabschlüssen an allen österreichischen Universitäten mit einer durchschnittlichen Frauenquote von 44 % im Abschlussjahrgang 2012/13 noch nicht erreicht.41
3.
Berechtigungswesen für akademische Berufe j Akademischer Arbeitsmarkt und Überfüllungsdebatten
Die akademischen Grade entwickelten sich bereits während Mittelalter und Neuzeit auch allmählich zu einem wichtigen Kriterium für die Berufsausübung, z. B. als Voraussetzung für die Erteilung der venia docendi an den Universitäten, für die Erlangung der Advokatur und höherer Stellen der Finanzprokuraturen, der ärztlichen Praxis, höherer kirchlicher Ämter und allgemein im öffentlichen Dienst. Wie der vorausgegangenen Übersicht über die Verteilung der Graduierungen auf die Fakultäten abzulesen ist, spielten die beiden betont berufspraktisch orientierten Fakultäten Jus und Medizin quantitativ gesehen lange Zeit die 40 Ausgeblendet bleiben hier weitgehend die AbsolventInnen medizinischer Studien, da sie bis heute das Doktorat als primär als Erstabschluss erhalten; Markus Schwabe/Friedrich Nitsch, Promovieren in Österreich – Aktuelle Trends des Doktoratsstudiums, in: Statistische Nachrichten NF 61 (2006) 10, 886 – 893, URL: https://www.statistik.at/web_de/static/pro movieren_in_oesterreich_-_aktuelle_trends_des_doktoratsstudiums_statist_035593.pdf (abgerufen am 16. 2. 2015). 41 Vgl. Angaben für die Studienjahre 2000/01 bis 2012/13 in: Auswertungen zu den zentralen Datenbereichen der Hochschulstatistik (AbsolventInnen/Universitäten), Datawarehouse Hochschulbereich des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, URL: https://oravm13.noc-science.at/apex/f ?p=103:36:0::NO::: (abgerufen am 16. 2. 2015).
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größte Rolle innerhalb der Wiener Universität. Grundsätzliche Fragen der akademischen Ausbildung und Graduierung im Verhältnis zur Berufsberechtigung und -ausübung werden von der Professionalisierungstheorie aufgegriffen. Diese sieht die zunehmende Spezialisierung, Normierung (und Verwissenschaftlichung) von Berufswissen als wesentliches Element einer funktional differenzierten Gesellschaft (meist teilautonom, aber unter staatlichem Einfluss). Dieser Prozess steht im Zusammenhang mit der Differenzierung von Schule und Universität vor allem im 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Verschiebung der grundlegenden Allgemeinbildung auf das Gymnasium.42 Als Folge dessen konnten sich die europäischen Universitäten nun verstärkt auf die Vermittlung wissenschaftlichen »Fachwissens« konzentrieren. Unter den akademischen Abschlüssen sollten der pharmazeutische Magistergrad und das Staatsexamen den Weg in die berufliche Praxis öffnen und das Doktorat zu einer wissenschaftlichen Laufbahn führen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bezeichnung »Doktor« aber zunehmend auch ein begehrter Berufstitel für ÄrztInnen und JuristInnen. Bei der Feststellung und Normierung des »Berufswissens« durch akademische Qualifizierungen und Staatsprüfungen übten neben Universität und Staat auch die Berufsverbände einen wesentlichen Einfluss aus. Als Interessens- und Standesvertretung der akademischen Professionen – und damit der Absolventen (später auch Absolventinnen) – kontrollierten sie zunehmend den Zugang zu diesen Arbeitsmärkten und übernahmen darin gewissermaßen die Funktion der infolge der Thun-Hohenstein’schen Reformen entmachteten und ausgegliederten Doktorenkollegien. Sowohl die Hochschulen, der Staat, als auch die Standesvertretungen befürworteten meist die Verstärkung des wissenschaftlichen Charakters der Berufsausbildung durch Verlängerung der Studienzeiten und Verschärfung der Prüfungen. Diese Formalisierung und Professionalisierung bewirkte sowohl eine Modernisierung als auch einen Prestigegewinn der akademischen Berufe. Das Prüfungswesen wurde zunehmend zum Scharnier zwischen Ausbildung und Beruf. Durch strenge Staatsprüfungen wurde schließlich der Berufszugang für Juristen, Ärzte, Geistliche und schließlich auch Lehrer staatlich geregelt.43 Nach den Thun-Hohenstein’schen Reformen erlebte die »Wiener Medizinische Schule« eine neue Blüte, geprägt von Spezialisierung und Verwissenschaftlichung durch Einfluss der Naturwissenschaften sowie die praktische Ausbildung am 42 Vgl. Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, Neuaufl. Bielefeld: Transcript-Verl. 2013; ders., Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert, in: Schubring (Hg.), Einsamkeit und Freiheit, 38 – 49. 43 Konrad H. Jarausch, Der Lebensweg der Studierenden, in: Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa III, 303 – 307, 316.
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Krankenbett und im Labor. In den Reformen der rechtswissenschaftlichen Studien manifestierte sich ein Trend zu Nationalisierung und Historisierung (rechtshistorische Fächer machen fast die Hälfte des Studiums aus). Die bei Juristen schon länger unüblich gewordenen Dissertationen wurden 1872 ganz abgeschafft.44 Die Ausbildung von Gymnasiallehrern erfuhr durch die Reformen ab 1848 eine Säkularisierung und Professionalisierung und das höhere Lehramt fand allmählich Anerkennung als akademischer Beruf. Die AbsolventInnen der »emanzipierten« Philosophischen Fakultät erhielten generell nicht nur die Möglichkeit eines vollwertigen wissenschaftlichen Doktorates in den Geistes- und Naturwissenschaften, sondern auch Orientierungen im Bereich der praktischen Berufsvorbildung. Ab 1849 etablierte sich an der Universität Wien die Ausbildung von Gymnasiallehrern (und später auch -lehrerinnen), welche v. a. von dem Fach Philosophie in Verbindung mit den zunehmend eigenständigen Disziplinen Pädagogik und Psychologie getragen wurde. In der Zwischenkriegszeit wurde unter Karl Bühler, Ordinarius für Philosophie »mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik«, schließlich das Pädagogische Institut der Stadt Wien eingerichtet, dem die LehrerInnenausbildung oblag. Mindestens bis in die 1970er bzw. 1980er Jahre wirkte diese Fächerverbindung prägend auf die LehrerInnenausbildung.45 Aufgrund der engen Bindung der akademischen Ausbildung an die Berufspraxis – und damit den Arbeitsmarkt – wurde die AbsolventInnenanzahl je unterschiedlich bewertet. Hohe AbsolventInnenzahlen, die gleichzeitig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen wurden zeitübergreifend in biologistischen Metaphern wie »Schwemme«, »Lawine«, »Explosion« beschrieben. Oft wurde darauf mit Verschärfung des Studienzugangs und Exklusion weiterer Studierender reagiert. Auf geringe AbsolventInnenzahlen – »AkademikerInnenmangel« – folgte oft die Herabsetzung der Studienanforderungen.46 Die Nachfrage nach Akademikern nahm im ausgehenden 19. Jahrhundert im öffentlichen Dienst, bei den freien Berufen und der Wirtschaft generell zu, parallel dazu stiegen aber auch die Studentenzahlen. Insgesamt kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. um die Jahrhundertwende zu einer Vermehrung der akademischen Konkurrenz: Einerseits durch die Vermehrung der 44 Thomas Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium. Rückblicke und Ausblicke, in: Clemens Jabloner/Gabriele Kuscko-Stadlmayer/Gerhard Muzak/Bettina Perthold-Stoitzner/Karl Stöger (Hg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, Wien: Manz 2011, 459 – 462. 45 Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Joachim Dahms und Friedrich Stadler in diesem Band sowie ausführlich: Wolfgang Brezinka, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, Band 1, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) 2000. 46 Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchung über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen: V& R 1990.
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Hochschulen allgemein – zu den anfangs sechs österreichischen Universitäten mit Promotionsrecht (Prag, Krakau, Wien, Graz, Lemberg, Innsbruck) zuzüglich der Universität (Buda-)Pest als einziger in Ungarn kamen zum Ende der Monarchie sechs weitere hinzu.47 Auch die zahlreichen »Fachhochschulen« wie Technische Hochschulen und die 1898 in Wien gegründete »Exportakademie« (später Hochschule für Welthandel, heute Wirtschaftsuniversität) traten im Bereich der Hochschulbildung zunehmend als stärker berufspraktisch ausgerichtete Konkurrenz auf und erhielten nach und nach auch das Promotionsrecht.48 Zunehmend differenzierte sich das akademische Feld auch dadurch, dass die Universitäten in den einzelnen Kronländern der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch das Recht erhielten, in ihren regionalen Sprache zu unterrichten, wodurch sie zu Vorreitern nationaler Bewegungen wurden.49 Andererseits äußerte sich der Kontext der Konkurrenz und »Überfüllung« auch durch den Zugang neuer sozialer Gruppen zum Universitätsstudium und damit zu akademischen Berufen (sozialer Aufstieg durch akademische Bildung). Die Überfüllungsdebatten, die immer wieder das Schreckgespenst des »akademischen Proletariats« heraufbeschworen, führten nicht selten zu Forderungen, diese neue Konkurrenz von der Berufsausübung auszuschließen.50 So spielte etwa auch bei der zögerlichen Zulassung der Frauen zum Studium im ausgehenden 19. Jahrhundert das Berechtigungswesen und damit das berufsausbildende Element der Universität eine zentrale Rolle. Das »Horrorszenario« des (konkurrierenden) weiblichen Arztes oder Anwalts wurde als Argument gegen die Studienzulassung ins Treffen geführt. Umgekehrt veranschaulicht dies auch die Schaffung des staatswissenschaftlichen Studiums für Studierende, die keine Karriere in einem juristischen Beruf oder dem höheren Staatsdienst anstrebten, das 1919 nicht zufällig zeitgleich mit der Zulassung von Frauen an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät eingeführt wurde.51 Gerade an der Uni47 1875 Czernowitz, 1882 Teilung deutsche-tschechische Universität Prag; in Ungarn 1872 Klausenburg, 1874 Agram, 1912 Pressburg, 1914 Debrecen. 48 1901 erhielt die Technische Hochschule das Promotionsrecht; 1904 die Montanistische Hochschule; 1905 die Hochschule für Bodenkultur ; 1908 die Tierärztliche (Veterinärmedizinische) Hochschule. 49 Vgl. Charle, Grundlagen, 49 f., 69. 50 Jarausch, Lebensweg der Studierenden, 312 – 318. 51 Das staatswissenschaftliche Studium sollte der wissenschaftlichen Ausbildung von Geschäftsleuten, JournalistInnen und PolitikerInnen dienen. Das Doktorat gab keine Berechtigung für eine staatliche Anstellung; 1966 wurde das Studium der Staatswissenschaften abgeschafft, vgl. dazu auch: Tamara Ehs, Die Staatswissenschaften. Historische Fakten zum Thema »Billigdoktorate« und »Frauen- und Ausländerstudien«, in: Zeitgeschichte 37 (2010), 238 – 256; dies., Das Studium der Staatswissenschaften, in: Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Maria Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1918 – 1938, Göttingen u. a.: Vienna University Press 2014, 173 – 224.
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versität Wien wurde im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert wiederholt auch die Einschränkung bzw. der Ausschluss jüdischer Studierender durch einen rassistisch motivierten Numerus clausus gefordert, der im Nationalsozialismus nach dem »Anschluss« 1938 auch radikal vollzogen wurde. Als Folge der Vertreibung ging die Zahl der Studierenden der Universität Wien 1938 stark zurück. In Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden (Ärztekammer, Rechtsanwaltskammer) wurde Jüdinnen und Juden gleichzeitig jeglicher Zugang zum Arzt-/Juristenberuf verwehrt und bereits zugelassenen Fachleuten die Berufsberechtigung entzogen. Dadurch, verstärkt durch den Zweiten Weltkrieg, wurde der Mangel an Fachleuten besonders im Hinblick auf die Kriegserfordernisse immer spürbarer. Um dem entgegenzuwirken, wurden ab 1939 Ausbildungszeiten verkürzt, Vergünstigungen und Prüfungserleichterungen für Kriegsteilnehmer erlassen, insbesondere naturwissenschaftliche Fächer gefördert und Studienpläne zunehmend praxisorientiert ausgerichtet, um AbsolventInnen sofort nach Ende der Ausbildung einsetzen zu können. Studenten an der Front wurden zunehmend über Fernbetreuung mit Unterrichtsmaterial in Form von »Soldatenbriefen« postalisch betreut. Insgesamt führten die Änderungen im Allgemeinen zu einer deutlichen Qualitätsminderung der Studien und der ins Berufsleben entlassenen AbsolventInnen. In der Zweiten Republik folgte nach der Aufhebung der reichsdeutschen Gesetze 1945 die nächste substanzielle Reformwelle mit dem Allgemeinen Hochschul-Studiengesetz (AHStG) 1966, das die Einführung von Diplomstudien mit zunehmend reglementierten (verschulten) Studienplänen zur Folge hatte. Während im Diplomstudium, das mit dem Magistergrad als Erstabschluss endete, meist grundlegende wissenschaftliche, aber auch berufsorientierte Kompetenz vermittelt werden sollte, war das Doktoratsstudium mit der Dissertation primär als Vorbereitung für die wissenschaftliche Laufbahn angelegt. Dies hatte teils direkten Einfluss auf die akademische Berufsberechtigung: Im Bereich der Rechtswissenschaften war der Magistertitel ab 1978 an die Abfassung einer Diplomarbeit gekoppelt und befähigte zu Richter-, Anwalts- und Notarausbildung. Im Zuge des Bologna-Prozesses wurde das Jus-Studium schließlich durch Novellen der entsprechenden Berufsgesetze für Richter usw. geregelt.52 Nur noch das Medizinstudium kann bis heute mit dem Erstabschluss Doktorat beendet werden. Ab 2004 wurden die medizinische Ausbildung, Forschung und Versorgungsaufgaben aus den Universitäten ausgegliedert und an eigene Medizinische Universitäten mit Promotionsrecht ausgelagert. Die große Universitätsreform 1975 dekretierte demokratischere Strukturen der Ordinarien-Universität, strebte die Öffnung der Universitäten auch für bisher vom Bildungswesen kaum erreichte Personen an – was jedoch nur zum 52 Olechowski, Zweihundert Jahre, 471 – 477.
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Teil gelang. Kinder mit diesem sozialen Hintergrund blieben weiterhin unterrepräsentiert, Bildung »vererbt« sich bis heute. Mögen sich durch den Ausbau und die soziale Öffnung der Sekundarschulen und der Universitäten die allgemeinen Bildungschancen erhöht haben, so gilt dies nicht im gleichen Maße auch für die Erwerbschancen. Den exponentiell ansteigenden Studierendenzahlen stand keine entsprechende Öffnung neuer akademischer Arbeitsmärkte gegenüber bzw. entsprach die Studienwahl (stärkster Anstieg an der Universität Wien in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften) vielfach mehr den persönlichen Interessen als den Chancen am Arbeitsmarkt. Wie Elisabeth Nemeth ausführt, spielten bei den Protesten 1996 und 2009/10 an der Universität Wien die vom Ministerium geplante Orientierung der Studienpläne an Ausbildungszielen (»Verwendungsprofil«, Anwendungsorientierung) und wirtschaftlichen Verwertungsinteressen eine zentrale Rolle.53 Wesentlichen Einfluss auf diese Debatten hatten in Österreich auch die Mitte der 1990-er Jahre eingeführten Fachhochschulen (FH), die sich explizit einer »wissenschaftlich fundierten Berufsausbildung« widmen sollten.54 Der in Folge der Bologna-Reform an den Universitäten eingeführte Bachelor-Titel war auch als Qualifikationsniveau für den europäischen Arbeitsmarkt gedacht. Der Einfluss von Universitätsrankings, die den Schwerpunkt vielfach auf (messbare) Forschungsqualität legen, hatte Rückwirkungen auf das Studienangebot und die Bewertung unter dem Kriterium »Beschäftigungsfähigkeit«.55 Die heutige Universität Wien deklariert sowohl Lehre als auch Forschung als ihre Kern-Aufgaben. Während die 15 Fakultäten beide Aufgaben gleichermaßen zu erfüllen haben, sind die vier Zentren überwiegend auf einen der beiden Aufgabenbereiche fokussiert oder übernehmen zusätzlich »besondere Aufgaben für die Universität«.56 Zumindest zwei der alten »oberen« Fakultäten – die Rechtswissenschaftliche sowie die frühere (2004 in eine eigene Universität transformierte) Medizinische Fakultät – erfüllen bis heute ihre traditionelle staats- und gesellschaftstragende Funktion, RechtsanwältInnen und RichterInnen sowie ÄrztInnen auszubilden (und in den entsprechenden Feldern zu forschen), wobei auch diese Fachbereiche sich zunehmend spezialisieren und differenzieren. Auch die beiden Theologischen Fakultäten bilden nach wie vor PriesterInnen aus, haben aber im Laufe des »langen 20. Jahrhunderts« quanitativ stark an Bedeutung eingebüßt. Die Ausbildung von GymnasiallehrerInnen war dagegen organisatorisch gesehen in den letzten Jahrzehnten größeren Ände53 Siehe dazu den Beitrag von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler in diesem Band. 54 Bundesgesetz über Fachhochschul-Studiengänge (Fachhochschul-Studiengesetz, FHStG) vom 28 5. 1993, BGBl. 340, 2847 – 2854. 55 Teichler, Berufsweg der Studierenden, 323 – 324. 56 Fakultäten & Zentren, Universität Wien, URL: http://www.univie.ac.at/ueber-uns/leitungorganisation/fakultaeten-zentren/ (abgerufen am 16. 2. 2015).
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rungen unterworfen. Während bis in die 1970er/80er Jahre die studienbegleitende pädagogisch-didaktische Ausbildung v. a. durch die Fachbereiche Pädagogik, Philosophie und Psychologie organisiert wurde, werden die derzeit etwa 12.000 Lehramtsstudierenden der Universität Wien – aufgeteilt auf 27 Unterrichtsfächer – seit 2013 durch das neugegründete Zentrum für LehrerInnenbildung koordiniert. Neue Bachelorstudien entsprechend der Bologna-Studienarchitektur wurden im Wintersemester 2014/15 eingeführt, ein Masterstudium ist aktuell in Entwicklung. Das Zentrum zielt auf eine »Verbindung von Fachwissenschaft, Fachdidaktik, Bildungswissenschaft und pädagogisch-praktischen Studien. Damit bekräftigt die Universität Wien ihr Bekenntnis zur Einheit von Forschung und Lehre in allen vier Elementen der LehrerInnenbildung.«57 Die zunehmende Verwissenschaftlichung und Professionalisierung bisher nicht akademischer Berufe zeigte sich nicht zuletzt auch am Beispiel der Pflegewissenschaft, die 2005 als eigenes Institut in die Universität Wien (Fakultät für Sozialwissenschaften) aufgenommen wurde.58 Ungeklärte – bzw. stets neu zu klärende – Fragen in der Positionierung der Universität Wien als Wissenschaftsinstitution betreffen etwa die Rolle des Erziehungsmythos, der den Gebildeten eine glänzendere Zukunft verheißt. Neben den Fachstudien wurde im »langen 20. Jahrhundert« an der Universität Wien auch die Vermittlung von Allgemeinwissen an breitere Kreise angestrebt, etwa durch die »Volkstümlichen Universitätskurse« (gegründet 1895) und generell durch personelle Verbindungen mit der Volkshochschulbewegung.59 Im ausgehenden 20. Jahrhundert scheint der österreichischen Gesellschaft angesichts der ökonomischen Arbeits- und Einkommensrealität des akademischen Sektors (WerksstudentInnentum, AkademikerInnenarbeitslosigkeit, Prekariatsdebatte) und den Auswirkungen der letzten Wirtschaftskrisen langsam der »Glaube an die wundertätige Kraft der Bildung« abhanden zu kommen. In der Geschichte der Universität gab es mehrere Versuche, Bildung (Problemlösungskompentenz, Schlüsselqualifikationen) bzw. den Bildungszugang zu demokratisieren und damit den elitären Charakter von Universität als Reproduktionsstätte sozialer Ungleichheit zu durchbrechen.60 Beispiele dafür sind etwa die Einführung der Studienberechtigungsprüfung als österreichisches Spezifikum des Studienzu57 Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien, URL: http://lehrerinnenbildung. univie.ac.at/zentrum-fuer-lehrerinnenbildung-zlb/ (abgerufen am 16. 2. 2015). 58 Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien, URL: https://pflegewissenschaft.uni vie.ac.at/ (abgerufen am 16. 2. 2015). 59 Vgl. den Beitrag von Christian Stifter in diesem Band. 60 Adolf Kozlik, Wie wird wer Akademiker? Zum österreichischen Schul- und Hochschulwesen, Wien u. a.: Europa Verlag 1965.
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gangs ohne Reifeprüfung (1985) oder die Ansätze der Fernstudien für bisher vom Bildungswesen kaum erreichte Personen (Mitbegründung des Instituts für Fernstudien (IFF) 1979) und deren digitales Revival (Konzeption von Massive Open Online Courses (MOOCs) im Internet), die mit ihrem Konzept des Not for Profit61 gegenwärtigen Ökonomisierungs- und Verwertbarkeitsdebatten gegenüberstehen. Unter dem Eindruck der »Massenuniversität« kamen im 20. sowie 21. Jahrhundert scheinbar neue Debatten um die Funktion der Universität auf. Die Expansion von »Forschungsuniversitäten« und anderen Forschungsinstitutionen sowie die Spezialisierung und Zersplitterung der Forschungsgebiete stellte die mit Humboldt etikettierte »Einheit von Lehre und Forschung« in Frage. Ein Beispiel hierfür ist etwa die wachsende Kommerzialisierung der Universitäten, die mittlerweile neben Lehre und Forschung eine Reihe von Dienstleistungen anbieten, welche wiederum diese Kernaufgaben unter Druck bringen.62 Die zentralen und gestaltgebenden Begriffe wie »Wettbewerb«, »Konkurrenz« und »Leistung« sind jedoch nicht erst durch die neoliberale Bildungspolitik unserer Tage (Universitätsgesetze 1993 und 2002) aufgebracht worden, sondern waren das gesamte »lange 20. Jahrhundert« hindurch zentrale Schlagworte akademischer Selbst- und Fremdbestimmung. Dass ein Wissenschaftsmonopol der Universitäten tatsächlich niemals existierte und ebenso, dass Ökonomisierung und Konkurrenz bereits im 19. Jahrhundert nicht nur an der Universität Wien, sondern im gesamten deutschen Sprachraum ein brandaktuelles Thema waren, haben am Beispiel der Kollegiengeldfrage ausführlich Bastian Stoppelkamp und Friedrich Stadler herausgearbeitet.63 Die erwähnten Kampfbegriffe wurden während des »langen 20. Jahrhunderts« für verschiedenste politische Zwecke vereinnahmt. So formulierte ein Rektor der Universität Wien schon Mitte des 20. Jahrhunderts, dass auch Studierende »untereinander in einen freiwilligen Wettkampf treten« sollten und strich die zentrale Bedeutung dieses Prinzips hervor : »so stellen wir noch einmal die Leistung an die Spitze aller unserer gemeinsamen Bemühungen, in denen Schüler und Lehrer an der Hochschule miteinander verbunden sind. […] [Es] muß alles leistungsfähig sein, was zur Hochschule gehört: die Einrichtungen der Gebäude, der Laboratorien und Seminare, die Schreibstuben der Hochschulämter, ihre Kassen und was es sonst noch in dem verwickelten Getriebe einer Hochschule gibt.« 61 Martha C. Nussbaum, Not for profit. Why Democracy needs the humanities, Princeton: Princeton University Press 2010. 62 Einer der Kritikpunkte der studentischen Protestbewegungen »unibrennt« 2009/10 war u. a. die sinkende Qualität der Lehre, vgl. Stefan Heissenberger u. a. (Hg.), Uni brennt. Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches, Wien/Berlin: Turia+Kant 2010. 63 Vgl. den Beitrag von Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp in diesem Band.
Akademische Grade und Berufsberechtigung
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An die Stelle des heute gestellten Endziels der Konkurrenz- und Marktfähigkeit im internationalen Wettbewerb war damals – 1940 – von Rektor Fritz Knoll allerdings ganz ein anderes politisches Ziel gestellt worden: »Wenn wir alle, die wir hier versammelt sind, an dem heutigen Tage unserem Führer geloben, in allen Belangen der Hochschule jede Leistung auf das Höchste zu steigern, um dabei die größte Menge hochwertiger Leistungen in kürzester Zeit zu erzielen, dann ist das das schönste Geburtstagsgeschenk, das eine Hochschule unserem Führer darbringen kann.«64
In gegenwärtigen Bildungsdebatten scheinen die Leitthemen Wettbewerb, (Forschungs-)Exzellenz und Produktivität (Publikationen, Patente, Preise sowie bibliometrische Kennzahlen und Platzierungen in Rankings) als neue – neu entdeckte – Werte, die eine zunehmend polarisierte Positionierung der Universität zwischen »Massenstudium« und »Forschungsexzellenz« (Lehranstalt vs. Forschungsuniversität) evozieren und die wichtige gesellschaftliche Funktion der »third mission«,65 der staatsbürgerlichen Bildung im Sinne demokratiestärkender Kritikfähigkeit zunehmend außer Acht zu lassen scheinen. Ein für das Verständnis der den Universitäten zugedachten Funktionen wichtiges Forschungsdesiderat66 wäre eine Analyse unterschiedlicher bildungspolitischer Leitbilder seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und deren temporäre Dominanz in der österreichischen Hochschulpolitik. Dabei sollten spezifisch österreichische Zäsuren sichtbar gemacht und mit zeitgleich oder zeitversetzt auftretenden internationalen politischen wie sozioökonomischen Trends kontrastiert werden.67 Ob zwischen dem Abbau von Zugangsbarrieren zu höherer, tertiärer Bildung 64 Fritz Knoll, Über Wesen und Ausmaß unserer Leistung im Kriege, in: Die Universität Wien im Kriege, drei Reden, gehalten beim Appell der Wiener Universität am 20. April 1940, dem Geburtstage des Führers, anläßlich der Eröffnung des neuen Trimesters, hg. vom Akademischen Senat der Universität Wien, Wien: Verlag Adolf Holzhausen 1940, 13 – 15. Hervorhebungen im Original. 65 Lorenz Lassnigg/Michaela Trippl/Tanja Sinozic, Wien und die »Third Mission« der Hochschulen. IHS-Projekt-Endbericht, Wien 2012, URL: http://www.equi.at/dateien/3FFF-Endb. pdf (abgerufen am 16 .2. 2015). 66 Margit Szöllösi-Janze, »Der Geist des Wettbewerbs ist aus der Flasche!« Der Exzellenzwettbewerb zwischen den deutschen Universitäten in historischer Perspektive, in: Alte Universität – neue Universität?, Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), 49 – 73; dies., Konkurrenz um Exzellenz: Universitäten im Wettbewerb, in: Reinhold Reith/Emmanuel J. Bauer (Hg.), Die Paris Lodron Universität Salzburg. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, Salzburg–Wien: Müry Salzmann Verlag 2012, 247 – 259; dies., Eine Art pole position im Kampf um die Futtertröge. Thesen zum Wettbewerb zwischen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ralph Jessen (Hg.), Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt a. M.–New York: Campus 2014, 317 – 351. 67 Karl H. Müller, Kritische Massen. Vier Etappen in der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft in Österreich seit 1918, in: Johann Dvorˇak (Hg.), Staat, Universität, Forschung und Hochbürokratie in England und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang Verlag 2008, 115 – 172.
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und good governance im Sinne der »third mission« ein Zusammenhang besteht,68 wäre ebenso zu untersuchen wie der Frage nachzugehen, ob akademische (Aus-)Bildung vor Arbeitslosigkeit schützt und ob die Zunahme solcher Bildungsabschlüsse auch Demokratie fördert, was nationale69 wie internationale70 Bildungsberichte betonen.71
68 David E. Bloom/Matthew Hartley/Henry Rosovsky, Beyond Private Gain: The Public Benefits of Higher Education, in: James J. F. Forest/Philip G. Altbach (Hg.), International Handbook of Higher Education 1: Global Themes and Contemporary Challenges, Dordrecht u. a.: Springer Verlag 2006, 293 – 309. 69 Z. B.: Bildungsplanung in Österreich, Band 1: Erziehungsplanung und Wirtschaftswachstum 1965 – 1975: Bericht auf Grund des Abkommens zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom 30. Dezember 1963, hg vom Bundesministerium für Unterricht, Wien: ÖBV 1967; Berufliche Situation und soziale Stellung von Akademikern. Ergebnisse aus der Auftragsforschung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMWF), 2. verb. Auflage, Wien: BMWF 1985. 70 Z. B. Education at a Glance. OECD indicators, hg von der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD), Paris: OECD Publishing house 1992 ff. 71 Vgl. dazu Robert J. Barro, Determinants of democracy, in: Journal of Political Economy 107 (1999) 6, 158 – 183; Daron Acemoglu/Simon Johnson/James A. Robinson/Pierre Yared, From education to democracy?, in: American Economic Review Papers and Proceedings 95 (2005) 2, 44 – 49; Edward L. Glaeser/Giacomo A. M. Ponzetto/Andrei Shleifer, Why does democracy need education?, in: Journal of Economic Growth (2007), 77 – 99; Nussbaum, profit.
Doris Ingrisch
Gender-Dimensionen
Wenn im Kontext des 650-jährigen Bestehens der Universität Wien der epistemisch wissenschaftsimmanente Blick besonders ins Zentrum gerückt wird, so bietet Gender als Wissenskategorie wesentliche Einblicke auf diversen Ebenen. Ausgehend von der engen Wechselwirkung von Wissens- und Geschlechterordnungen erheben sich Fragen nach der Historie und der Aktualität der Denkverhältnisse, auf denen die Wissenschaften wie die auf ihnen begründeten Institutionen beruhen. Dazu in der Folge einige Reflexionsvignetten, die es ermöglichen mögen, das Verständnis von Universität um diese Dimensionen zu erweitern und als Inspiration für den Weg ins neue Jahrhundert zu nutzen.
1. Mitte der 1990er Jahre wiesen Ulrike Felt, Helga Nowotny und Klaus Taschwer aus der Perspektive der neueren Wissenschaftsforschung, welche die Wissenschaft auf ihre eigenen Produktions- und Erkenntnisprozesse hin befragte, auf die »eigentümliche Doppelgestalt« von Frauen in den Wissenschaften hin. Einerseits seien sie als Objekte wissenschaftlicher Fragestellungen, andererseits als in der Wissenschaft tätige Subjekte in der Wissenschaftsgeschichte vertreten.1 Wissenschaftliche Theorien über Frauen, vielmehr sogar in der Reduktion auf das »Wesen der Frau«, nach Aristoteles als das eines unvollständigen Mannes zu begreifen, resultierten aus dem Verständnis der Arbeiten männlicher Wissenschafter, die bis heute ihre Wirkmächtigkeit nicht verloren haben. Freilich hatte es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gelehrte Frauen gegeben, an den Fürstenhöfen der Renaissance wie in der Frühphase moderner Wissenschaft, wo sie, wie Londa Schiebinger ausführte, in den familiären Zusammenhängen der 1 Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer, Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt a. M.–New York: Campus-Verlag 1995, 87.
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handwerklich organisierten Struktur von Wissenschaft tätig werden konnten,2 bevor sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Professionalisierung der Wissenschaft aus den Institutionen ausgeschlossen wurden. Die in den Theorien ein- und festgeschriebenen, auf Über- und Unterordnung basierenden Vorstellungen über Frauen änderten sich auch nicht, als diese vermehrt als Subjekte bzw. Akteurinnen in den Wissenschaften in Erscheinung traten. Sie erfuhren erst mit der Reflexion, vor allem der über den Konstruktionscharakter der Geschlechter, einen dezidierten Anstoß zur Re-Vision. Die feministische Forschung ab den 1970er Jahren, in Bezug auf die Konstruktion der Geschlechter vermehrt ab den 1990er Jahren, zeichnete dafür verantwortlich. So wesentlich also einerseits das Einwirken auf Strukturen und Organisationsformen mit allen sozialen Implikationen war, das dazu führte, Frauen den Weg in die Institutionen der Wissenschaft zu ermöglichen, so unablässig war es andererseits, auch die Ebene der Denkverhältnisse und Erkenntnisinteressen dekonstruierend zu hinterfragen. Dies zeigt, wie eng die Ebene der Akteurinnen mit jener der Episteme in Wechselwirkung steht. Blicken wir zunächst auf die 650-jährige Geschichte der Universität, so finden sich Frauen als Subjekte und Akteurinnen erst ab dem Ende des 19., bzw. ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts, also kaum mehr als etwa 100 Jahre. Es ist für das Verständnis der Institution und der Bedeutung der Gender-Dimension ganz und gar nicht unwesentlich, sich zu vergegenwärtigen, dass bis zur Öffnung der Philosophischen Fakultät für weibliche Studierende im Jahr 1897/98, der Medizinischen Fakultät im Jahr 1900 sowie der Juridischen Fakultät 1918/1919,3 dem Jahr, in dem Frauen in der eben ausgerufenen Republik Österreich auch das allgemeine Wahlrecht erhielten, Frauen der Zugang zu dieser für die Gesellschaft so zentralen Bildungs- und Forschungsinstitution versagt war – auf der sozialen Ebene und auf der epistemischen. Und um die Daten der Zulassung zu vervollständigen, die Evangelisch-Theologische Fakultät gestattete Frauen den Zugang im Jahr 1923, die Katholische Fakultät im Jahr 1945. Aus den unter dem Ausschluss von Frauen über sie produzierten Erkenntnissen hatte der Widerstand dagegen, Frauen zum Studium zuzulassen, seine Argumente bezogen. Noch in den 1880er Jahren wurde die zerebrale Unterkapazität von Frauen als wissenschaftlich ausgewiesenes Faktum gegen ihre Zulassung zum Studium hingestellt und davor gewarnt, die Leistungsfähigkeit einzelner Frauen auf die Allgemeinheit zu übertragen.4 Derartige von in ihrer 2 Vgl. Londa Schiebinger, Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 1993. 3 Tamara Ehs, Die Staatswissenschaften. Historische Fakten zum Thema »Billigdoktorate« und »Frauen- und Ausländerstudien«, in: Zeitgeschichte 37 (2010) 4, 238 – 256. 4 Vgl. Marina Tichy, Die geschlechtliche Un-Ordnung. Facetten des Widerstands gegen das Frauenstudium von 1870 bis zur Jahrhundertwende, in: Waltraud Heindl/Marina Tichy (Hg.),
Gender-Dimensionen
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Zeit renommierten Wissenschaftern getätigte Aussagen fungierten später als Parade-Beispiele über historische Ausformungen eines von Androzentrismus geprägten Weltbildes und Wissenschaftsverständnisses. Heute wissen wir um die enge Verschränkung von Wissens- und Geschlechterordnungen, ein differenziertes Verständnis über die Wechselwirkungen zwischen den Ausformungen von Wissenschaft (und Kunst) entsprechend bipolarer Denkverhältnisse und analog zu den bürgerlichen Geschlechterverhältnissen liegt vor und erlaubt, bewusst gesellschaftlich innovative Impulse zu setzen.
2. Im Jahr 1897 immatrikulierten also die ersten ordentlichen Studentinnen an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, es waren drei an der Zahl. Im selben Jahr fand auch die erste Promotion einer Frau zur Doktorin der Medizin statt. Gabriele Possanner von Ehrenthal hatte in Zürich und Genf studiert und bereits im Jahr 1894 promoviert, bevor sie – Frauen waren an der Universität Wien zum Medizinstudium noch nicht zugelassen – ab 1896 erneut alle Prüfungen zu den Rigorosen ablegte und als erste an der Universität Wien promovierte Frau und damit als erste Doktorin in der österreichisch-ungarischen Monarchie in die Geschichte einging.5 Die erste Habilitation einer Frau an der Universität Wien erfolgte im Jahr 1907, als die Romanistin Elise Richter, eine der ersten Studentinnen und Dissertantinnen, die Bedenken ausräumend, ob es Männern zumutbar sei, von einer Frau unterrichtet zu werden, die venia docendi erhielt. Diese Pionierinnen als Akteurinnen in der Universität und in der Wissenschaft waren um eine besondere Qualität ihrer wissenschaftlichen Leistungen bemüht, um ihren Platz und ihre Berechtigung an diesem Ort zu rechtfertigen. Sie hatten dementsprechend den Erfordernissen des Systems zu folgen und versuchten, die durch die biologischen Zuschreibungen gesetzten Unterschiede zu neutralisieren und den Freiraum, der sich dadurch öffnete, dass »Ausnahmen« eine gewisse Akzeptanz erfuhren, zu nützen. Elise Richter reflektierte dies in ihrer Autobiographie: »Als Frau habe ich jedenfalls so viel gegeben als empfangen. Ich empfing den Weg, was gewiß nicht gering zu schätzen ist, aber ich ging ihn, und hier darf ich wohl sagen, in »Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück…« Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien: WUV-Universitäts-Verlag 1990, 27 – 48 oder Wilhelm Svetlin, Die Frauenfrage und der ärztliche Beruf, Leipzig–Wien: F. Deuticke 1895. 5 Marcella Stern, Gabriele Possanner von Ehrenthal, die erste an der Universität Wien promovierte Frau, in: Heindl/Tichy, Erkenntnis, 189 – 219.
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vorbildlicher Weise. Denn ich war mir bewusst, daß von dem ersten Eindruck der Maturantin, der Studentin, der Dozentin, viel abhing. Ich gab den Frauenrechtlerinnen das erste Beweisstück […]«.6
Betrachten wir die ersten habilitierten Frauen an der Universität Wien weiter – bis zum Jahr 1938 folgten zwölf weitere Habilitationen von Wissenschafterinnen – so ist vor allem durch den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich eine vehemente Zäsur dieser Entwicklung zu beschreiben. Elise Richter wurde nach Theresienstadt deportiert und kam dort im Jahr 1942 ums Leben. Charlotte Bühler, die dritte, 1923 habilitierte Frau, die bereits an der Technischen Hochschule Dresden 1920 die Habilitation erhalten hatte, bevor sie mit ihrem Mann Karl Bühler an die Universität Wien kam, befand sich zur Zeit des »Anschlusses« im Ausland, wo sie entschied, nicht mehr zurückzukehren.7 Mehr als die Hälfte der habilitierten Frauen und damit des hoch qualifizierten weiblichen Nachwuchses aller Fakultäten sah sich durch das NS-Regime zur Emigration genötigt.8 Denn auch auf der Ebene der Dozentinnen und ao. Professorinnen hatte sich das Charakteristikum fortgesetzt, das bereits bei den ersten Studentinnen an der Universität Wien sichtbar wurde, dass Frauen mit mosaischem Glaubensbekenntnis überdimensional zu ihrem Anteil in der Bevölkerung vertreten waren.9 Von den insgesamt von der Universität vertriebenen Studierenden betrug der Anteil der als Jüdinnen verfolgten Studentinnen 24,4 %, jedoch schwanken die Prozentanteile je nach Fakultät. An der Juridischen Fakultät waren 11,8 % der vertriebenen Studierenden weiblich, an der Medizinischen Fakultät 24 %, an der Philosophischen Fakultät sogar 46,3 %.10 Zahlreiche Studierende fielen der Shoa zum Opfer.11 Gleichzeitig stieg der Frauenanteil der Studierenden in der Zeit des Nationalsozialismus relativ und absolut.12 Zusammen mit diesen Menschen wurde ein kulturelles und geistiges Potential 6 Elise Richter, Summe des Lebens. Lebensfreud. Lebensleid (ungedrucktes Manuskript), Wien 1940, zitiert nach: Elisabeth Andraschko, Elise Richter – eine Skizze ihres Lebens, in: Heindl/ Tichy, Erkenntnis, 221 – 231, 231. 7 Charlotte Bühler, Selbstdarstellung, in: Ludwig Pongratz u. a. (Hg.), Psychologie in Selbstdarstellungen, Band 1, Bern–Wien: Huber 1972, 9 – 42. 8 Anna Lind, Das Frauenstudium in Österreich, Deutschland und der Schweiz, phil. Diss., Wien 1961 sowie eigene Berechnungen. 9 Vgl. Waltraud Heindl, Die konfessionellen Verhältnisse. Jüdische und katholische Studentinnen, in dies./Tichy, Erkenntnis, 139 – 149. 10 Herbert Posch/Doris Ingrisch/Gert Dressel, »Anschluß« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien u. a.: LIT Verlag 2008, 157 – 158. 11 Doris Ingrisch, Weibliche Exzellenz und Nationalsozialismus an der Universität Wien, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen: V& R unipress 2010, 141 – 164, 162. 12 U. a. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich. Geschichte der deutschen Studentenschaft 1933 – 1945, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1995 sowie Posch/Ingrisch/Dressel, »Anschluß« und Ausschluss 1938.
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ermordet bzw. vertrieben.13 Heute wissen wir, welch tiefe Spuren dies bei den Generationen danach hinterließ. Elise Richter war 1938 aus der Position einer außerordentlichen Professorin entlassen worden. Die erste ordentliche Professur einer Frau an der Universität wurde dann erst im Jahr 1956 an die Physikerin Berta Karlik verliehen. Sie hatte im Jahr 1937 die venia legendi erhalten und war 1940 zur Assistentin, 1942 zur Dozentin ernannt worden.14 Die Zeit des Nationalsozialismus unterbrach die Entwicklungen der Pionierinnen seit der Zulassung von Frauen an die Universität vehement, barg aber gleichzeitig auch Gelegenheiten für andere Studentinnen, die akademische Karriereleiter in Angriff zu nehmen.15 Die Chancen, wissenschaftliche Hilfskraft oder Assistentin zu werden, stiegen. Die Anordnungen des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung führten im Jahr 1943, als die Verluste durch Gefallene deutlich wurden, dazu, weitere Ausnahmeregelungen für Frauen zu schaffen. Zum wissenschaftlichen Nachwuchs wurden sie in der Zeit des NS-Regimes, dem Ausnahmestatus gemäß, jedoch nicht gerechnet.16 Zudem wurde 1940 das Institut für Lebenswirtschaftskunde, das 1942 in Institut für Fächer des Frauenschaffens umbenannt werden sollte, in die Universität eingegliedert.17 Allerdings waren einer kleinen Reihe von Studentinnen weitere Qualifikationsschritte möglich. Das, was durch die Vertreibung nicht möglich gewesen war, die erste ordentliche Professur einer der Pionierinnen, wurde später durch nicht-vertriebene in der Wissenschaft tätige Frauen Realität. Sie bildeten dann die ersten ordentlichen Professorinnen an der Universität Wien und schrieben in diesem hoch re13 Vgl. Doris Ingrisch, Der dis/kontinuierliche Status des Seins. Über vom Nationalsozialismus vertriebene (und verbliebene) intellektuelle Kulturen in lebensgeschichtlichen Kontexten, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2004 sowie dies., Weibliche intellektuelle Kulturen in Wien und ihre Vertreibung 1938, in: Inge Hansen-Schaberg/Hiltrud Häntzschel (Hg.), Alma Maters Töchter im Exil. Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der NS-Zeit, München: edition text und kritik 2011, 226 – 236. 14 Vgl. Brigitte Bischof, Berta Karlik, in: Brigitte Keinzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 2002, 353 – 356. 15 Vgl. Doris Ingrisch, »Alles war das Institut!« Eine lebensgeschichtliche Untersuchung über die erste Generation von Professorinnen an der Universität Wien, Wien: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 1993, sowie Ingrid Bauer, Eine frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung des Nationalsozialismus, in: Emmerich Tlos u. a. (Hg.), NSHerrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien: öbv & hpt 2000, 409 – 443 und Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck: Studien-Verlag 2007, 21 – 36. 16 Vgl. Edith Saurer, Institutsneugründungen 1938 – 1945, in: Gernot Heiß u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, 303 – 329. 17 Ebd., 308.
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nommierten gesellschaftlichen Feld als die Ersten in der jeweiligen Disziplin die Geschichte auf der Ebene der Akteurinnen fort. Wie zentral der Bezug zu den ersten Wissenschafterinnen an der Universität Wien für die weiteren Generationen ist, zeigt, als kleines Beispiel im Bereich des Symbolischen, die Übernahme ihrer Namen als Signalwirkung in Bezug auf Fördermaßnahmen für Frauen in diesem Bereich. Das Charlotte-Bühler-Habilitations-Stipendium für Frauen wurde 1992, da auch dort angesiedelt, vom FWF der Öffentlichkeit vorgestellt. Sein Nachfolger, das Elise-Richter-Programm, ein Senior Post-Doc-Programm, das seit dem Jahr 2006 läuft, verfolgt ebenfalls das Ziel, hervorragend qualifizierte Wissenschafterinnen beim Aufbau einer Universitätslaufbahn durch das Erreichen einer weiteren Qualifikationsstufe zu unterstützen.18 Anfang März 2012 wurden die ersten Berta-Karlik-Professuren von der Universität Wien vergeben, auf drei Jahre befristete Professuren für hoch qualifizierte Wissenschafterinnen.19 Mit der Geschichte der Frauen an der Universität sind, um nun auf die weitere Ebene, das Schaffen von Wissen zu kommen, die Episteme engstens verbunden. In der Tradition und der Geschichte der Frauen an der Universität verdeutlicht sich die Tragweite der Vertreibung in der Dimension wissenschaftlichen Denkens in paradigmatischer Weise. Wir wissen aus einer Reihe von Forschungsarbeiten darum, dass das NS-Regime mit den WissenschafterInnen, Intellektuellen und KünstlerInnen tendenziell innovative, demokratische und freidenkerische Ansätze vertrieb.20 Doch mit der Vertreibung dieser Menschen sowie der Erinnerung an sie war auch ihr Denken aus dem Bewusstsein über intellektuelle Traditionen dem Blick entzogen. Die »Kultur des Vergessens«, wie Mario Erdheim sie nannte,21 hatte die Vertreibung und Vernichtung nach 1945 fortgeführt. Die »Normalitätsdiskurse« der Verbliebenen prägten die intellek18 Wissenschafterinnen der Universität waren durchwegs prominent als Stelleninhaberinnen vertreten. Vgl. Elise-Richter-Programm, Uni:view Magazin, URL: http://medienportal.uni vie.ac.at/uniview/dossiers/dossiers-liste/artikel/elise-richter-programm/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 19 Berta-Karlik-Programm, Abteilung Personalwesen und Frauenförderung (heute: Gleichstellung und Diversität), Universität Wien, URL: http://frauenfoerderung.univie.ac.at/ gleichstellung-und-diversitaet/karrierefoerderung/berta-karlik-programm/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 20 Vgl. u. a. Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 – 1940, 2 Bände, Wien–München: Jugend & Volk 1987 – 1988; sowie ders./ Peter Weibel (Hg.), The Cultural Exodus from Austria, Wien–New York: Springer 1993 oder Evelyn Adunka/Peter Roessler (Hg.), Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung, Wien: Mandelbaum 2003. 21 Mario Erdheim, »I hab manchmal furchtbare Träume… Man vergißts Gott sei Dank immer glei…(Herr Karl), in: Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster (Hg.), Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 1993, 9 – 20.
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tuelle Landschaft.22 Erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre begann sich die Vergangenheit in Hinsicht auf den vertriebenen Teil unserer Geschichte – bruchstückartig zuerst – zu öffnen. Seither wurde viel Erinnerungsarbeit geleistet, zu Ende ist sie noch nicht – nicht zuletzt weil sie symbolisch in xenophobischen, rassistischen, sexistischen etc. Äußerungs- und Verhaltungsmustern auf ’s Neue aktualisiert wird. In den Post-Holocaust-Generationen wurde immer wieder um Neudefinitionen, um eine die lingua tertii imperii23 reflektierende Sprache, um einen neuen Möglichkeitsraum der Begriffe gerungen.24 Die Auseinandersetzung mit und Anknüpfung an innovative Ansätze der 1920er und 1930er Jahre, war, wie auch Marjorie Perloff25 für die Kunst feststellte, schließlich erst an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert wieder möglich geworden.26
3. In der Auseinandersetzung mit dieser durch den Nationalsozialismus verursachten Zäsur steht freilich nicht nur das Wissenschaftsverständnis der NS-Zeit auf dem Prüfstand, auch unser gegenwärtiges ist herausgefordert. Eine solche Auseinandersetzung muss auf die Grundlagen wie Bezugsräume wissenschaftlichen Handelns im Speziellen und wissenschaftlicher Praxis im Allgemeinen Bezug nehmen und sie hinterfragen – nicht nur für damals, sondern auch für heute.27 Dass Welt- und Menschenbilder sowie die darin enthaltenen Werte und Paradigmen Wissenschaft konstituieren, ist evident. Wie eine unsichtbare Matrix sind sie wie auch die eng mit ihnen in Verbindung stehenden Geschlechterbilder der jeweiligen historischen Epoche den Denkverhältnissen unterlegt. Zentral ist dabei der Aspekt, wie bipolar und trennend, dem Modus des Entweder-Oder verpflichtet – Natur versus Kultur, Subjekt versus Objekt, Öffentlichkeit versus Privatheit – oder aber auch wie den Fokus auf das Verbindende legend, die Modi des Denkens ausgerichtet sind. Wie sehr wird die eigene Situiertheit reflektiert? Es zu tun entspräche dem Verbindenden, dem Modus des Sowohl-als-auch, des 22 Vgl. im Detail Ingrisch, Der dis/kontinuierliche Status. 23 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig: Reklam 1998 (Original 1947). 24 Elisabeth Beck-Gernsheim, Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. 25 Die Amerikanistin und bedeutende Literaturkritikerin in den USA, deren Mutter, die Nationalökonomin Ilse Mintz, eine der ersten Studentinnen und Assistentinnen dieses Faches an der Universität Wien war, musste 1938, noch ein Kind, aus Österreich flüchten. 26 Marjorie Perloff, 21st Century Modernism. The »New« Poetics, Oxford: Wiley-Blackwell 2002. 27 Vgl. Götz Aly, Macht – Geist – Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Frankfurt a. M.: Fischer 1997.
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Und. Oder wie sehr steht das Denken, den traditionelleren Modus repräsentierend, unter der Prämisse der aperspektivischen Objektivität, die sich über das Trennende definiert? Unter anderem war es diese vom Mitgefühl getrennte Haltung in den Wissenschaften, die es gestattete, menschenverachtende, inhumane Handlungen zu setzen, die, den traditionellen Vorstellungen gemäß, als wissenschaftlich befunden wurden. Da hier Verbindungslinien zur Tötungsmaschinerie des NS-Regimes zu ziehen sind, mögen diese Beispiele drastisch klingen. Doch sie sprechen Paradigmen von Wissenschaftlichkeit an, die nach wie vor zum Tragen kommen. Lenken wir den Blick nun nochmals zurück auf die Akteurinnen-Ebene in den unterschiedlichen Fakultäten und ihre Entwicklung nach 1945. Die klassische Archäologin Hedwig Kenner, um mit der Philosophischen Fakultät zu beginnen, wurde im Jahr 1942 habilitiert und 1961 zur Ordinaria der Lehrkanzel für Archäologie an der Universität Wien ernannt. Sylvia Bayr-Klimpfinger, Psychologin, nachweislich in der NSDAP engagiert, übernahm 1967 das neu geschaffene Ordinariat für Pädagogische Psychologie. Margret Dietrich folgte dem im Jahr 1945 suspendierten und von 1955 bis 1966 erneut als Vorstand des in der NS-Zeit neu gegründeten Instituts für Theaterwissenschaft ernannten Heinz Kindermann nach. Sie erhielt im Jahr 1966 das Ordinariat an diesem Institut. Sibylle Bolla-Kotek wurde im Jahr 1958 als erster Frau an der Juridischen Fakultät ein Ordinariat zuteil. Sie hatte 1947 die venia legendi erhalten.28 Die erste Ordinaria in der Medizin wurde im Jahr 1965 ernannt. Carmen CoroniniKronberg wurde 1930 habilitiert, 1945 wurde ihr als belasteter Nationalsozialistin im Sinne des »Verbotsgesetzes« der Titel der außerordentlichen Professorin aberkannt, im Jahr 1948 erfolgte ihre Entregistrierung als »Belastete«.29 Die erste Ordinaria an der Evangelischen Fakultät, tit.o.Prof., war Margarethe Mecenseffy. Sie hatte sowohl in Philosophie als auch in Theologie promoviert und erhielt im Jahr 1965 den Titel einer ordentlichen Professorin. Im Jahr 1996 übernahm Susanne Heine, sie hatte bereits eine ordentliche Professur in Zürich inne, das Ordinariat für Praktische Theologie und Religionspsychologie. Damit war sie die erste Frau, die als Professorin an die Evangelische Fakultät berufen wurde. Die Juristin Charlotte Leitmaier hatte von 1932 bis 1936 als erste Frau mit einer Sondererlaubnis von Kardinal Theodor Innitzer katholische Theologie an 28 Ursula Floßmann, Sibylle Bolla-Kotek, die erste Rechtsprofessorin an der Universität Wien, in Heindl/Tichy, Erkenntnis, 247 – 256. 29 Sonia Horn/Gabriele Dorffner, »…männliches Geschlecht ist für die Zulassung zur Habilitation nicht vorgesehen.« Die ersten an der medizinischen Fakultät der Universität Wien habilitierten Frauen, in: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller/Sonia Horn (Hg.), Töchter des Hippokrates, 100 Jahre akademische Ärztinnen in Österreich, Wien: ÖÄK-Verlag 2000, 117 – 139.
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der Universität Wien studiert und die Lehramtsprüfung abgelegt, jedoch wurde ihr der Studienabschluss vom Dekanat nicht bestätigt und dementsprechend wurde sie nicht zu den Rigorosen zugelassen. Als erste Frau promovierte dann Anna Bolschwing im Jahr 1946 in Wien zur Doktorin der Katholischen Theologie,30 die erste habilitierte Frau war Martha Zechmeister-Machhart, die im Jahr 1997 am Institut für Zentraltheologie habilitiert wurde. Die erste ordentliche Professur, die an eine Frau an der Katholisch-Theologischen Fakultät ging, datiert ebenfalls aus dem Jahr 1997 und wurde an Ingeborg Gabriel verliehen.31 2012 folgte an dieser Fakultät die erste Dekanin, die Moraltheologin Sigrid Müller.
4. Diese Situation in Hinsicht auf Professorinnen war es, welche die an der Universität Wien studierenden Post-Holocaust-Generationen vorfanden. Die nach Ende des NS-Regimes beginnende Zukunft mit Altlasten,32 gekennzeichnet durch eine katholisch-konservative Kontinuität, war damit beschäftigt gewesen, Zusammenbrüche des Systems zu verhindern, welche eine strenge Durchsetzung der Entnazifizierungsmaßnahmen zur Folge gehabt hätten. Immerhin waren 80 % der Professorenschaft an der Universität davon betroffen gewesen. Die Minderbelasteten-Amnesie kam im Jahr 1948 zum Tragen. Sie spielte, wie an den biographischen Eckdaten einiger der ersten Professorinnen paradigmatisch zu erkennen ist, eine wesentliche Rolle für die Situation zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für die 1960er und 1970er Jahre bietet sich dann ein Bild, das durch die Bildungsexplosion eine neue Einfärbung erhielt, die »Verhältnisse zum Tanzen bringt«.33 Durch einen erleichterten Zugang für bis dahin (universitäts-)bildungsfernere soziale Schichten stieg der Anteil an weiblichen Studierenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts exponentiell. Waren es im Wintersemester 1955/56 4.206 männliche und 1.786 weibliche Studierende, so erreichten die Zahlen im Wintersemester 1980/81 mit 21.111 männlichen und 20.237 30 Lucie Teufl, Das theologische Universitätsstudium der Frau in Österreich, phil. Diss., Wien 1971, 19. 31 Schriftliche Auskunft des Fachbereichs Kirchengeschichte am Institut für Historische Theologie vom März 2014. Dank an Rupert Klieber. 32 Margarete Grandner/Gernot Heiß/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 – 1955, Innsbruck: Studien Verlag 2005. 33 Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, Rückwärts in die Zukunft? Zum Geschlechterverhältnis in den Wissenschaften, in: Quo vadis Universität? Perspektiven aus der Sicht der feministischen Theorie und Gender Studies, hg. von der Universität Wien, Innsbruck u. a.: Studien Verlag 2002, 51 – 62.
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weiblichen Studierenden bereits eine Annäherung.34 Im Studienjahr 2000/01 waren es nun deutlich mehr weibliche Studierende, die ein Studium begannen, in absoluten Zahlen 15.718 zu 10.438 männlichen Kollegen. Dies setzte sich auch auf der Ebene der AbsolventInnen fort. 2.231 männliche standen hier 3.640 weiblichen gegenüber.35 Auf der Ebene der Lehrenden stellt sich diese Entwicklung wesentlich gebremster dar. Im Jahr 2000, am Übergang zum 21. Jahrhundert war der Anteil an studierenden Frauen und Männern relativ ausgewogen. Doch nur rund 25 % aller AssistentInnen und 6 % aller ProfessorInnen waren Frauen.36 Im Jahr 2013 bewegte sich der Prozentsatz auf der ProfessorInnen-Ebene an der Universität Wien allerdings bei rund 25 %.37 Mit der in den 1970er und 1980er Jahren aktiven StudentInnenbewegung sowie der neuen Frauenbewegung waren auch die Paradigmen in Bewegung geraten. Der quantitative Aufbruch der Frauen im tertiären Bildungssektor war auch der Anstoß zu einem qualitativen und hatte Veränderungen in den Wissenschaften zur Folge.38 Eine expansive Hochschulpolitik, Erhöhungen des Hochschulbudgets, Studien- und Strukturreformen bewirkten einen Modernisierungsschub und trieben die Demokratisierung der Universitäten voran.39 Dem Internationalen Jahr der Frau 1975 folgte im Jahr 1981 die Publikation Das ewige Klischee der Autorinnengruppe Uni Wien, die hier ein erstes wichtiges Zeichen im Bereich der Frauenforschung setzte.40 Mit – in alphabetischer Reihenfolge – Neda Bei, Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Gertraud Diem-Wille, 34 Renate Tuma, Studienwahl – Fächerwahl – Studienabschlüsse, in: Heindl/Tichy, Erkenntnis, 79 – 92, 83. 35 Karoline Iber/Martin Fieder/Gabriele Moser, Universität Wien im Blickpunkt – Zahlen und Daten. Frauen an der Universität Wien, Wien: Universität Wien 2002, 6 – 7. 36 Statistisches Taschenbuch, hg. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2000. 37 Gender im Fokus 4 – Frauen und Männer an der Universität Wien, hg. von der Universität Wien Frauenförderung und Gleichstellung, Wien: Selbstverlag 2013, URL: http://frauen foerderung.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/personalwesen/pers_frauen/aktuelles/WEB _gender_im_fokus_2013.pdf (abgerufem am 30. 1. 2015), 38 – 39 f. 38 Vgl. Ulrich Teichler, Europäische Hochschulsysteme. Die Beharrlichkeit vielfältiger Modelle, Frankfurt a. M.–New York: Campus 1990 sowie Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, Einleitende Bemerkungen, in: dies., Hinter den Fassaden des Wissens – Frauen, Feminismus und Wissenschaft – eine aktuelle Debatte, Wien: Milena 1999, 9 – 24. 39 Vgl. auch: Eva Cyba, Modernisierung im Patriarchat? Zur Situation der Frauen in Arbeit, Bildung und privater Sphäre 1945 bis 1995, in: Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich Talos (Hg.), Österreich 1945 – 1995, Gesellschaft – Politik – Kultur, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1995, 435 – 457. 40 Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis von Männern und Frauen, hg. von Autorinnengruppe Uni Wien, Wien–Köln–Graz: Böhlau 1981; Vgl. auch Gabriella Hauch, »Wir, die viele Geschichten haben« Zur Genese der historischen Frauenforschung im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext, in: Johanna Gehmacher/Maria Mesner (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen, Perspektiven, Innsbruck: Studien Verlag 2003, 21 – 36.
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Ulla Ernst, Waltraud Heindl, Inge Pronay, Hanna Schnedl-Bubenicek, Ingeborg Schwarz, Edith Specht, Mary Tyler, Elisabeth Wiesmayr und Ruth Wodak, die spätere erste Wittgenstein-Preisträgerin, fanden Wissenschafterinnen aus den unterschiedlichsten, wenn auch zunächst primär geisteswissenschaftlichen Disziplinen in dem Anliegen zusammen, traditionelle Vorstellungen über Frauen zu hinterfragen und eine davon, nämlich, alles Weibliche und weiblich Konnotierte wäre eines wissenschaftlichen Blickes nicht wert, als wesentliche Fragestellung in die akademischen Diskurse einzuschreiben. Frauen in unterschiedlichen historischen Perioden wurden in diesem Sammelband ebenso thematisiert wie ihr Stellenwert in der Philosophie. Die Geschlechterrollenverteilung in der Gegenwart wurde ebenso unter die Lupe genommen, wie die Bedingungen, unter denen Frauen – und Männer – sich in der Gesellschaft zu bewegen hatten, seien es nun Ausbildungsbedingungen, Fragen der Identität, der Repräsentation oder der Sprache. Die Naturwissenschaften sollten in der Biochemikerin Ren¦e Schroeder, seit 1995 ao. Professorin, – 2003 erhielt auch sie den renommierten Wittgenstein-Preis –, eine erste für die Förderung von Frauen in der Wissenschaft engagierte Professorin haben.41 Frauen waren in universitären Bereichen zwar immer noch die Ausnahme, doch ihr Selbstverständnis war – analog zum und in Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Aufbruch – vielfach ein anderes geworden. Entsprechend den ersten Generationen in der Frauenbewegung kann bei den in der Frauenforschung bzw. den feministisch tätigen Wissenschafterinnen von den Gründerinnen gesprochen werden. Sie hatten in den 1960er Jahren studiert und in den 1970er Jahren diese Forschungsrichtung an der Universität Wien mitbegründet.42 Bezeichnenderweise waren sie in vielfacher Hinsicht immer noch Pionierinnen. In etlichen Fächern bestand dies darin, die ersten weiblichen Professorinnen zu sein, in Bezug auf Organisationsstrukturen bedeutete es das Erklimmen der höheren Hierarchie-Ebenen, also die ersten Prodekaninnen, Dekaninnen, Vizerektorinnen – im Jahr 2000 nahm Gabriele Moser als erste Frau diese Position an der Universität Wien ein – oder Rektorinnen zu sein.43 An der Universität Wien ist dieser letzte Schritt allerdings noch ausständig.
41 Seit dem Jahr 1985 als Assistentin am Institut für Mikrobiologie und Genetik tätig, wurde sie 1993 habilitiert und im Jahr 1995 Assistenz-Professorin. 42 Brigitte Lichtenberger-Fenz/Doris Ingrisch, Lust am Denken – Lust am Leben. Wissenschaft (erinnen) im Selbstportrait, Strasshof: Vierviertel 2000. 43 2008 wurde Ingela Bruner – sie hatte als erste Frau in Österreich im Jahr 1979 ein Studium für Maschinenbau an der Technischen Universität Wien abgeschlossen – als Rektorin der Universität für Bodenkultur bestellt, beendete diese Funktion allerdings 2009 aufgrund widriger Umstände.
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5. Dieses Hineingehen in die Institution, die Frauen von den höheren Ämtern und Positionen so lange Zeit ausgeschlossen hatte, setzte eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Dispositiv Wissenschaft44 in Gang. Wie männlich ist die Wissenschaft?,45 fragten Karin Hausen und Helga Nowotny als Herausgeberinnen stellvertretend für viele andere Wissenschafterinnen und setzten damit Mitte der 1980er Jahre einen Metalog in Bewegung.46 Fragen nach der Bedeutung differenter Menschen-, Sachen-, Raum- und Zeiterfahrungen fanden hier ebenso ihren Platz wie die der Wissenschaftsproduktion mit dem Sinnbild des zerstreuten, von den Dingen des Alltags entkoppelten und nur für seine Wissenschaft lebenden Professors. Helga Nowotny sprach in diesem Zusammenhang vom Mythos der Unvereinbarkeit der Wissenschaft. Er besagt, dass Wissenschaft eine so einzigartige Berufung sei, dass sie nur unter Ausschluss aller anderen Lebensbereiche betrieben werden könne. Wer der Wissenschaft angehören wolle, habe immer eine Wahl zu treffen.47 Wie also bzw. unter welchen Voraussetzungen wird es Frauen möglich, denen in traditionellen Geschlechtervorstellungen eine ganz andere Sphäre zugeschrieben wird, mit derartigen Berufsanforderungen zurechtkommen? Wollen sie sowohl den Normen der Wissenschaft wie denen der Gesellschaft genügen, sind sie immensen Herausforderungen ausgesetzt. Frauen, die beide Dimensionen zu leben in Angriff nehmen wollten, die Wissenschaft betreiben und ein sogenanntes Privat- oder Familienleben zu führen anstrebten, hatten diese Existenzform erst zu schaffen – im Widerstand gegen den Mythos einerseits und die gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen andererseits. Im Detail waren dazu die Funktionsmechanismen der Institutionen zu erforschen, sowohl um in ihnen bestehen zu können als auch Maßnahmen zur Veränderung anzuregen. Fragen nach den Rekrutierungsmechanismen drängten sich hier ebenso auf wie die Übertragbarkeit bisheriger Traditionen, z. B. von Beziehungsstrukturen, wie sie im Verhältnis der Lehrenden zu den Studierenden zum Tragen kommen. All diese Fragen implizierten eine Reihe von Lernanstößen: der Frauen mit den Institutionen, aber auch der Institutionen in Bezug auf die Gleichstellungsforderungen der Frauen. Das neue Bewusstsein von Frauen in der Gesellschaft äußerte sich neben der strukturellen Ebene freilich auch auf der epistemischen. Peu peu erfolgte die 44 Vgl. Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin: Merve 1978. 45 Karin Hausen/Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. 46 Nach Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, 31. 47 Helga Nowotny, Über die Schwierigkeiten des Umgangs von Frauen mit der Institution Wissenschaft, in: Hausen/Nowotny, Wissenschaft, 17 – 30, 22.
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Durchforstung dessen, was als Wissenschaft galt. Ein spezifischer, in höchstem Maße androzentrischer Blick, der das Erkenntnisinteresse bisher geleitet hatte und als objektiv galt, enthüllte sich mit jeder weiteren Forschungsleistung der ersten feministischen Wissenschafterinnen. Feministisch wurde hier vor allem als hochschul-, wissenschafts- und frauenpolitisches Bekenntnis eines emanzipatorischen Anspruchs verstanden.48 Inhalte und Logiken wurden genauen Analysen unterzogen und auf die Definitionsmächte hin untersucht, die der Ausschluss der Frauen impliziert hatte. Dieser war die Folge der Annahme der Überlegenheit eines männlich konnotierten Geistes, der weiblich Konnotiertes wie Natur zu beherrschen trachtete und mit Weiblichkeit konnotierte Erfahrungsräume wie Alltag etc. aus den wissenschaftlichen Interessen und Fragestellungen herauszuhalten trachtete. Mit diesen neuen Perspektiven wurde nichts Geringeres als die Fraglosigkeit bisheriger Wissensgenerierung zum Thema und eine in wissenstheoretischen, -soziologischen wie -philosophischen Ansätzen bislang unbeachtete, doch absolut zentrale Kategorie in den Fokus gestellt, die Kategorie Geschlecht.
6. Ausgegangen wurde in den Anfängen der in enger Wechselwirkung zur Gesellschaftskritik stehenden feministischen Wissenschaftskritik vom Zweigeschlechtmodell, ein im 18. Jahrhundert entstandenes Phänomen, Frauen und Männer als grundsätzlich unterschiedliche Wesen zu betrachten.49 Diese Vorstellungen zeitigten immense soziale Implikationen. In Referenz auf dieses Modell manifestierte sich die uns nach wie vor bekannte Polarisierung in die weiblich konnotierte private Sphäre, mit all den darin zu erfüllenden Aufgabenbereichen, wie den Zuständigkeiten für die Hausarbeit und die Kinder, sowie in eine männlich konnotierte Öffentlichkeit, charakterisiert durch den zur Erwerbstätigkeit das Haus verlassenden Mann. Die Dichotomisierung der sogenannten Geschlechtscharaktere spiegelte sich in den unterschiedlichen Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit, die nun als historisches Phänomen und ge48 Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, Wissenschaft in Bewegung. Anstelle eines Resümees, in: dies., Fassaden des Wissens, 256 – 264. 49 Beim davor herrschenden Eingeschlechtmodell wurde die Vorstellungen eines Geschlechts vertreten, das beim Mann nach außen, bei der Frau nach innen gerichtet sei. Vgl. Thomas Laquer, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge, Mass: Harvard University Press 1990 sowie weitere Differenzierungen dieser These bei Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld: transcript 2010.
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sellschaftliches Konstrukt sichtbar gemacht wurden.50 Die Konstruiertheit der Argumentationen, welche die besondere Eignung für Haus und Nachwuchs über die »Natur der Frau« erklärte, wurde sichtbar und damit das Geschlecht in seiner Funktion als Platzanweiser im gesellschaftlichen Gefüge. Anfang der 1990er Jahre fanden wesentliche Weiterentwicklungen statt. Frauen Männern gegenüberzustellen stellte sich als zu vereinfachend heraus und regte einen differenzierteren Blick auf Machtverhältnisse an. Die reduzierte Vorstellung von zwei Geschlechtern weitete sich, brach den Universalisierungsanspruch auf51 und wich der Einsicht, dass Frauen und Männer nicht als homogene Gruppen angesehen werden konnten. Geschlecht sozial konstruiert und nicht essentialistisch zu betrachten, führte zu der Neuformulierung, dass Geschlecht nicht etwas sei, was Personen an sich hatten und also an spezifische Ausformungen von Körperteilen gebunden war, sondern etwas, das im Tun entsteht. Die Vorstellungen von sex und gender, oder vielmehr die aus dem angelsächsischen Bereich kommenden begrifflichen Instrumente, die das biologische und das soziale Geschlecht, also die kulturelle Überformung, beschrieben, entwickelten sich – vom disziplinären Hintergrund auf der Ethnomethodologie basierend – zur These des doing gender weiter.52 Ein doing gender entsprach dem Prozess der Konstruktion von Geschlecht und Geschlecht wurde demzufolge als etwas – immer wieder – Herzustellendes verstanden. Um der Gefahr zu entkommen, die gesellschaftlichen Vorgaben über Geschlechter, auch bei einem noch so kritischen Blick zu reproduzieren, verlagerte sich der Fokus von Forschung auf das Sichtbarmachen der Prozesse der Differenzierungen und Hierarchisierung, durch die Geschlecht entstehen. Es ging nun darum, Differenz nicht vorauszusetzen, sondern zu hinterfragen, wie sie produziert wird. In diesem Zusammenhang trat nicht zuletzt das realitätsstiftende Moment von Sprache und Kultur hervor, wodurch sich der Fokus verstärkt auf die Realitätsmächtigkeit von Sprache zu richten begann. Das Konzept des 50 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976, 363 – 393. 51 Vgl. u. a. Joan Acker, Gendering Organizational Theory, in: Albert J. Mills/Petra Tancred, Gendering Organizational Analysis, New York: Sage Publications 1992, 248 – 260; Regine Gildemeister/Angelika Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und deren Reifizierung in der Frauenforschung, in: GudrunAxeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg: Kore Verlag 1992, 201 – 254. In Bezug auf die Dominanz weißer, heterosexuell orientierter Frauen z. B. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, London–New York: Routledge 1991 sowie Monique Wittig, The Straight Mind and Other Essays, Boston: Beacon Press 1992. 52 Candance West/Don Zimmermann, Doing Gender, in: Gender and Society 1 (1987), 125 – 151.
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doing gender wiederum erfuhr gegen Ende des 20. Jahrhunderts im doing difference53 eine Weiterentwicklung. Dies bedeutete, weitere Kategorien wie »race« und »class« als unabdingbar in der Analyse der Prozesse sozialer Interaktion und der Herstellung sozialer Wirklichkeiten zu berücksichtigen. Die sich Ende der 1980er Jahre im angloamerikanischen Raum und in Australien entwickelnden Men’s Studies, im deutschsprachigen Bereich kritische Männerforschung genannt, brachten weitere neue Perspektiven in die Betrachtung der Geschlechter. Denn so wie Frauen erst zu Frauen in der Definition der spezifischen Gesellschaft, in der sie lebten, gemacht wurden, so standen auch Männer nicht außerhalb dieser Dynamiken, sich die gesellschaftlichen Vorgaben von Geschlecht anzueignen bzw. herzustellen. Dies zu reflektieren, sich nicht außerhalb dieser Fragestellungen zu betrachten, nahmen nun die Men’s Studies in den Fokus. Da Frauen lange als le deuxiÀme sexe,54 das Deviante angesehen wurde, war das männliche Geschlecht nicht als etwas betrachtet worden, das ebenfalls zu hinterfragen hätte sein können. Ausgehend von der Männerbewegung, von Männern, die sich mit den diesbezüglichen gesellschaftlichen Normen und mit den damit einhergehenden Zuschreibungen von Männlichkeit ebenso auseinanderzusetzen wünschten wie Frauen mit denen von Weiblichkeit, entstand ein Studienfeld, das sich intensiv mit Praxen und Theorien in Bezug auf Geschlechteridentitäten auseinandersetze.55 Robert Connell, nunmehr Raewyn Connell, SoziologIn, prägte das Modell der hegemonialen sowie der nicht-hegemonialen Männlichkeiten und leitete eine an gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen orientierte und diese perpetuierende Analyse dessen ein, was Männlichkeit seit der frühen Moderne bedeutete. Er/Sie beschrieb sie als ein aus Dominanzverhältnissen zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Männern und Männern hervorgebrachtes Phänomen. Von Männlichkeiten im Plural und also sozialen Konstrukten auszugehen sowie sich ihrer historischen Geformtheit bewusst zu werden, wie nicht zuletzt auch die von Wolfgang Schmale vorgelegte Geschichte der Männlichkeit in Europa im Zeitraum 1450 – 200056 nachzuvollziehen erlaubt, erweitert/e nicht nur unser Bewusstsein über die Krise der Identität, sehr wohl auch der männlichen Identität, wie sie Jacques Le
53 Candance West/Sarah Fenstermaker, Doing Difference, in: Gender and Society 9 (1995) 1, 8 – 37; dies., ›Doing difference‹ revisited, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53 (2001) Sonderheft 41: Geschlechtersoziologie, 236 – 249. 54 Simone de Beauvoir, Le deuxiÀme sexe, Paris: Gallimard 1949. 55 Robert Connell, Masculinities, Cambridge: Polity Press 1995 sowie Michael S. Kimmel/Jeff Hearn/Robert W. Connell (Hg.), Handbook of Studies on Men and Masculinities, Thousend Oaks u. a.: Sage Publications 2005. 56 Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa, 1450 – 2000, Wien–Köln–Weimar : Böhlau 2003.
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Rider in der Wiener Moderne diagnostizierte.57 Sie regte zudem dazu an, neue Ausformungen der Geschlechter in die Zukunft zu denken. Diese in das Zukünftige sich erstreckenden Möglichkeitsräume sind es auch, die in den Gender Studies und den Fachrichtungen, zu denen sie, abgesehen von den klassischen Disziplinen, in denen sie verankert sind, Schnittstellen bilden – den Cultural Studies, den Postcolonial Studies, der Rassismusforschung, den Black Studies, der Kritischen Weißseinsforschung etc. – eine wesentliche Rolle als Denk-Inspirationen oder, in einer anderen Diktion, als Räume der Innovation spielen. Prominent und mitunter durchaus kontroversiell diskutiert wurde zu Beginn der 1990er Jahre auch das Konzept der Performativität von Geschlecht. In Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity58 hatte die Philosophin und Philologin Judith Butler die diskursive Erzeugung von Geschlecht postuliert und damit angeregt, die Annahmen über die Geschlechter als Effekte diskursiver Prozesse zu betrachten. Die disziplinäre Ausrichtung der Wissenschafterin ließ nun die Dimension der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit hervortreten und rückte den Hervorbringungscharakter von Sprache ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Anlehnung an John Austins Sprechakttheorie59 und Michel Foucaults Zugänge60 untersuchte Judith Butler die Performativität von Sprache, den Handlungscharakter performativer Sprechakte sowie diskursive Wirkmächtigkeiten, die unsere Vorstellungen von den Geschlechtern prägen. Diese Prozesse finden innerhalb der jeweiligen sozialen und kulturellen Ordnungen statt. Durch ihre Kritik am Subjekt- und Identitätsbegriff wie ihre sprachphilosophische und diskursanalytische Herangehenswiese sensibilisierte sie verstärkt für die Komplexität, in der sich feministische Wissenschaft bewegte. Geschlecht erschien nun als paradoxe Kategorie. Von unschätzbarem Wert für die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse einerseits, beinhaltet sie permanent die Gefahr, mit dem zu operieren, was sie untersucht und kritisiert – die Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Aus dieser Charakteristik erhoben sich Fragen von größter Tragweite. Denn welche Begriffe, welche Terminologie ermöglichen eine wissenschafts- und gesellschaftskritische Haltung ohne den bestehenden Denkverhältnissen verhaftet bleiben zu müssen und traditionelle Geschlechter/Ordnungen dadurch erneut zu stabilisieren und zu perpetuieren. In diesen Kontexten entwickelte sich, philosophisch verankert in Judith 57 Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1990. 58 Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York u. a.: Routledge 1990. 59 Vgl. John Austin, How to do things with words, Cambridge: Oxford University Press 1962. 60 Vgl. Michel Foucault, L’ordre du discurs. LeÅon inaugurale au CollÀge de France prononc¦e le 2 d¦cembre 1970, Paris: Gallimard 1972.
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Butlers Politik des Subversiven,61 die Queer Theory. Sie enthielt die Anregung, Geschlechts/Identitäten zu destabilisieren und in Bewegung zu bringen sowie anders und neu zu entdecken und damit eine Resignifikation des Symbolischen in Gang zu setzen.
7. Durch diese Entwicklungen sowie die Veränderungen der Vorstellungen vom bipolaren Zweigeschlechtermodell hin zu einem queering, einer Beschreitung des zwischen den Dichotomien sich befindlichen Raums wurde sowohl auf der handlungspraktischen und identitären Ebene als auch auf der epistemischen Ebene einiges an Veränderung in Gang gesetzt. In Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives62 hatte Sandra Harding, davon ausgehend, dass Frauen andere Erfahrungen als Männer in die Wissensproduktion einbringen würden, die Wichtigkeit der Positioniertheit angesprochen. Das bedeutete, das positivistische Objektivitätspostulat in Frage zu stellen und dezidiert danach zu fragen, aus welcher Perspektive heraus Wissen produziert wird. Es bedeutete zudem zu explizieren, auf welchen Grundlagen unser Wissen basiert. Sandra Hardings Ausführungen trugen auch von Seiten der feministischen Forschung dazu bei, wissenschaftliche Wissensproduktion nicht mehr in einem gesellschaftsfreien Raum zu betrachten, sie forderten vielmehr dazu auf, ihre Positioniertheit und ihren Kontext unter die Lupe zu nehmen. Die Positioniertheit auszuweisen wurde für feministische Wissenschafterinnen zum state of the art. Von wo aus stelle ich als WissenschafterIn Fragen? Wie ist meine Herkunft und kulturelle Eingebundenheit? Auf welchem Erdteil? Welcher geschlechtlichen Zuordnung fühle ich mich nahe und welchen Begehren? Welcher Generation gehöre ich an? Kurz, von welchem Standpunkt aus spreche ich?63 Frauenforschung, feministische Forschung hatte sich in ihren Anfängen dezidiert als Wissenschaft von Frauen für Frauen verstanden. Betroffenheit war als eine ebenso legitime Basis des Erkenntnisinteresses erschienen wie der Bewusstwerdungsprozess, der durch den Forschungsprozess initiiert werden 61 Vgl. Paula-Irene Villa, Judith Butler. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Campus 2010, 99. 62 Sandra Harding, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, New York: Open University Press 1991. 63 Sandra Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg: Argument-Verlag 1989; Elisabeth List/Herlinde Studer (Hg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, sowie später Sandra Harding, The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies. New York–London: Routledge 2003.
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sollte, und zwar für die Forschenden ebenso wie für die Beforschten.64 Ohne die ausführlichen Debatten nun nachzuzeichnen, die, wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen üblich, jeweils Teil der Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung von Thesen ist, bewirkte dieses Um- und Neudenken im feministischen Kontext eine neue Aufmerksamkeit für die Beziehung zwischen der Wissensproduktion und ihren Akteur_innen. Hatte Francis Bacon im Jahr 1620 postuliert »de nobis ipsis silemus«, »von uns selbst schweigen wir«,65 und damit die Trennung von Person und Sache postuliert, die zum Paradigma neuzeitlicher Wissenschaft erhoben wurde, so legte feministische Forschung offen, was dieses wissenschaftstheoretisch so wichtige Postulat bedeutet hatte. Das »Walten einer überpersönlichen Instanz«66 und dessen Ergebnisse wurden in Frage gestellt. Erhellend für den die neuzeitliche Wissenschaft prägenden Anspruch der Objektivität sind wissenschaftshistorische Arbeiten wie die von Lorraine Daston, die den Begriff der Objektivität in seinen historischen Wandlungen darstellte und vor Auge führte, dass zu Beginn der Neuzeit andere Qualitäten wie z. B. Staunen, das nach Aristoteles am Beginn des Philosophierens steht, und Neugier67 in der Wissenschaft von Bedeutung waren. Sie dienten vor allem dazu, Aufmerksamkeit, die als Grundlage wissenschaftlichen Tuns begriffen wurde, zu erzeugen. Auch Imagination hatte in diesen Vorstellungen von Wissenschaft eine wesentliche Rolle gespielt. Fakt und Fiktion, Fakt und Artefakt gingen, was heute kaum mehr in unserem Bewusstsein ist, ursprünglich auf dieselbe sprachliche Wurzel zurück und begannen sich erst langsam auseinander zu entwickeln. Damit wurden erst die Voraussetzungen für die zu dieser Zeit ebenfalls stattfindende Trennung von Wissenschaft und Kunst geschaffen. Die sich in der 2. Hälfe des 18. Jahrhunderts zunächst in der Moralphilosophie und Ästhetik etablierende und dann für die Wissenschaften so zentrale aperspektivische Objektivität richtete sich gegen Subjektivität, eliminierte Eigenheiten und forderte emotionale Distanz. Doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sie sich auch in den Naturwissenschaften gezeigt und sich als Ideal wissenschaftlicher Praxis schlechthin realisiert.68 Das die Epistemologie über die Jahrhunderte interessierende Entstehen von 64 Maria Mies, Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 7 (1984) 11, 7 – 23. 65 Francis Bacon, Instauratio magna. Novum Organum, hg. von Rolf Nölle, Norderstedt: Books on Demand 2008 (Original 1620), 184. 66 Rolf Lindner, Lived Experience. Über die kulturale Wende in den Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner/Gotthard Wunberg/Christina Lutter (Hg.), Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Wien: Turia + Kant 2001, 11 – 19. 67 Vgl. auch Lorraine Daston, Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2000, 24. 68 Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001, 110.
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Erkenntnis wie die daran beteiligten Richtlinien epochaler Wissensformationen und ihre Wechselwirkung mit den Konzepten von Welt gewannen durch das Miteinbeziehen von Gender-Dimensionen in das Denken immer mehr an Aktualität und Brisanz. Die Erkenntnis über die Situiertheit des Wissens, die gerade über die marginalisierte Position, in der sich Frauen in den Wissenschaften bewegten, anders als zuvor möglich geworden war, stellte eine Gegenposition zum Postulat der Objektivität dar. Donna Haraway thematisierte in Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, das 1988 erschien, die Begrenztheit des Wissens und die Relativität ihres Universalitätsanspruches.69 Das trug zur Veränderung dieses Ideals bei. Sandra Harding, Philosophin und Wissenschaftskritikerin, prägte den Begriff der starken Objektivität für das Einbeziehen geschlechtlicher Herrschaftsverhältnisse, die Entscheidung für den ›Blick von unten‹ sowie das Berücksichtigen einer Vielzahl an Perspektiven. Donna Haraway, Naturwissenschaftshistorikerin und Biologin, sprach von verkörperter Objektivität, womit sie die Beziehung von Forschung, gesehen als sozialen Prozess, und die Konstruktion von Wirklichkeit ansprach. Der Zentralperspektive stellte sie partielle Perspektiven gegenüber, deren Zusammenfassung auf eine neue Qualität von Objektivität abzielte. Evelyn Fox Keller, Physikerin, Molekularbiologin und Philosophin, plädierte für dynamische Objektivität und den Einbezug der psychosozialen Dimension, durch die sie von der statischen Objektivität zu unterscheiden sei.70 Es war ihr Anliegen, auf ein Wissen zu rekurrieren, das um die Verbundenheit mit der Welt weiß. Nicht die Trennung, die sie im Begriff der statischen Objektivität beschrieben fand, sondern die Gemeinsamkeit von Subjekt und Objekt, von Geist und Natur war zu betonen ihr wichtig. Macht und epistemische Autorität waren in diesem Kontext zentrale zu hinterfragende Themen.71 Was um den Begriff der Objektivität – unter vielem anderen – verhandelt 69 Donna Haraway, Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (1988) 3, 575 – 599. 70 Evelyn Fox Keller, Liebe, Macht, Erkenntnis. Männliche und weibliche Wissenschaft, München: Carl Hanser 1986. 71 Vgl. u. a. Lorraine Code, What Can She Know?, Ithaca, New York: Cornell University Press 1991, oder Verona Diotima, Jenseits der Gleichheit. Über Macht und die weiblichen Wurzeln der Autorität, Königstein: Ulrike-Helmer-Verlag 1999, oder auch Lisa Bergin, Testimony, epistemic difference, and privilege. How feminist epistemology can improve our understanding of the communication of knowledge, in: Social Epistemology 16 (2002), 197 – 213. Vgl. zudem Mona Singer, Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie. Voraussetzungen, Positionen, Perspektiven, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Frankfurt a. M.: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, 292 – 301, sowie Mona Singer, Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies, Wien: Löcker 2005; Herta Nagel, Feministische Vernunftkritik, in: Karl-Otto Apel/Mathias Kettner (Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 166 – 205.
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wurde, waren die sich in den Paradigmen der Wissenschaften präsentierenden Denkverhältnisse, die in Wechselwirkung mit den Wissenschaften gleichzeitig hergestellt wurden. Die Grundlage, das bipolare, dichotome Denken in Inkompatibilitäten, mit anderen Worten das Denken im Entweder-Oder, wurde vehement in Frage gestellt und die Erprobung neuer Grundlagen wie z. B. Verbundenheit angeregt.
8. Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts erfuhr die Universität eine auf der Ebene von Forschung und Lehre ebenso wie auf der Ebene der Hochschul- und Wissenschaftspolitik auf die feministische Forschung sowie die Gender Studies zurückgehende Reformierung. Dem inter- sowie transdisziplinären Charakter der Gender Studies entsprechend wurde im Jahr 1993 die Interuniversitäre Koordinationsstelle für Frauenforschung Wien installiert, die bis 1999 agierte. Seit 2002 bildet das Projektzentrum Frauenförderung, gegründet im Jahr 2000, gemeinsam mit dem Projektzentrum Genderforschung eine eigene Dienststelle.72 Im Jahr 1994 regte eine Gruppe ProfessorInnen – die Sozialwissenschafterin Irmgard Eisenbach-Stangl, der Ethnologe und Anthropologe Andre Gingrich, die Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, die Romanistin Friederike Hassauer, die Philosophin Cornelia Klinger, die Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny, die Historikerin Edith Saurer, die Althistorikerin Edith Specht sowie die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak – die Etablierung eines Wissenschaftskollegs »Frauen- und Geschlechterforschung (Gender Studies)« an, ein gemeinsam mit NachwuchswissenschafterInnen mono- und transdisziplinär ausgerichtetes, für die Profilentwicklung der Universität Wien wesentliches Projekt zur überfakultären Graduiertenförderung. Sowohl an den an diesen Bemühungen beteiligen Personen wie an den Inhalten lassen sich bezeichnende Tendenzen ablesen, die Disponiertheit der RepräsentantInnen dieser Forschungsausrichtung ebenso betreffend wie die Ziele. Weitere profilierte Wissenschafterinnen aus dem Bereich der Gender Forschung wie die Historikerin Gabriella Hauch, die Physikerin und Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt, die Philosophin Alice Pechriegel, die Sprachwissenschafterin Helga Kotthoff, die Soziologin Christine Goldberg sowie die Politikwissenschafterin Eva Kreisky waren in der Folge involviert. Die intensive Auseinandersetzung mit Theorie und Methoden der Geschlechterforschung sowie Fragen des Praxisbe72 Sylwia Bukowska/Eva Genetti, Frauenförderung an der Universität Wien. Einblicke in die Arbeit und Tätigkeiten des Projektzentrums Frauenförderung, in: Quo vadis?, 343 – 356.
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zugs – Frauenförderung, Gendermainstreaming, anwendungsbezogene Theorie- und Begriffsentwicklung, Wissenschaftskritik an den Schnittstelle zwischen Natur- und Kultur-/Sozialwissenschaften sowie zwischen gesellschaftlicher Praxis und Wissensgesellschaft – charakterisierte die inhaltliche Ausrichtung des Kollegs.73 Doch auch ein weiterer wesentlicher Aspekt, der für die Frage der Gender-Dimensionen an Institutionen wie der Universität Wien von besonderem Wert ist, doch vielfach wenig Erwähnung findet, war die Etablierung einer neuen Form kollektiver inter- und transdisziplinärer Betreuung, die neue Maßstäbe und Inspiration für die Wissenschaftskultur bieten sollte. Dass noch Jahre bis zu einer Realisierung dieses Projekts vergehen sollten, erzählt die Geschichte der Gender-Dimensionen an der Universität Wien auf eine andere Art und Weise im Spannungsfeld von Etablierung und Widerstand, Innovation und Restriktion. Im Jahr 2001 wurde das Gender Kolleg in der Kategorie »Besonders hohes Innovationspotential« mit dem Anerkennungspreis für Innovation in der Lehre, einem von der Universität vergebenen Preis, ausgezeichnet. Seit dem Jahr 2010 lief ein Initiativkolleg zum Thema »Gender, Violence and Agency in the Era of Globalization«, ein dreijähriger Doktorats-Studiengang unter der Leitung der Politikwissenschafterin Birgit Sauer.74 Eine sechs Semester umfassende Studie75 zum Ausmaß der sich mit Genderaspekten beschäftigenden Lehrveranstaltung an der Universität Wien, die 2004 ihre Ergebnisse präsentierte, zeigte die Universität als die mit dem größten Lehrangebot in diesem Bereich europaweit. Dabei stellten die Human- und Sozialwissenschaftliche sowie die Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät das größte Angebot bereit. Im Jahr 2002wurde das Referat Genderforschung an der Universität Wien ins Leben gerufen, deren Genese jedoch bereits auf die späten 1980er Jahre und die Gründung interuniversitärer Koordinationsstellen in Wien (1993), Graz und Linz sowie deren Umwandlung in das Projektzentrum Frauen- und Geschlechterforschung zurück geht. Zu den Akteurinnen in diesem Bereich zählen u.v.a.m. Anette Baldauf, Marlen Bidwell-Steiner, Ingvild Birkhan, Sylwia Bukowska, Waltraud Ernst, Therese Garstenauer, Evi Genetti, Michaela Hafner, Brigitta Keintzel, Sabine Kock und Sabine Strasser.76 Auf diese Art und Weise erhielten die in den unterschiedlichen Disziplinen angesiedelten Gender 73 Marlen Bidwell-Steiner, Das Gender Kolleg der Universität Wien, in: Quo vadis?, 367 – 371. 74 Gender Initiativkolleg, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, URL: http://gik. univie.ac.at/ (abgerufen am 30. 1. 2015), sowie Gewalt und Handlungsmacht. Queer_Feministische Perspektiven, hg. vom Gender Initiativkolleg, Frankfurt–New York: Campus 2012. 75 Sabine Kock/Gabriele Moser (Hg.), Gender Studies – Perspektiven von Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien, Wien: Verlag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK) 2005. 76 Schriftliche Auskunft des Referats Genderforschung vom März 2014. Dank an Sushila Mesquita.
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Studies eine Plattform, die organisatorischen Support bietet. Das Referat unterstützt Veranstaltungen, Forschungsinitiativen und Vernetzungen, ist Herausgeber von Fach-Publikationen, unterhält eine umfangreiche Fach-Bibliothek und zeichnet last but not least für die Organisation des ebenfalls neu installierten Master- und Erweiterungscurriculums Gender Studies verantwortlich.77 Denn ab dem Studienjahr 2006/07 bot die Universität Wien österreichweit als erste Universität ein Masterstudium für Gender Studies an. Mit dem Ziel, historische und aktuelle Wirkmächte von Geschlechterkonstruktionen in Wissenschaft und Gesellschaft verstehen zu lernen, stehen die Entfaltung von Kritikfähigkeit, Perspektivenentwicklung und Praxisbezug in dieser Studienrichtung besonders auf dem Plan.78 Was aus dem Curriculum an Schlüsselqualifikationen erworben werden kann, ist die auf interdisziplinärem Hintergrundwissen basierende Fähigkeit zur kritischen Analyse und Reflexion, die tools zur Gestaltung von sozialen Organisationsformen, Netzwerken und Teamstrukturen sowie geschlechterdemokratisch organisierten Gesellschaftsprozessen bereitstellt.79 Auf der Ebene der Professorinnen wurde im Jahr 2010 eine Professur für Gender Studies geschaffen, die mit der Biologin und Wissenschaftsforscherin Sigrid Schmitz besetzt und an der Fakultät für Sozialwissenschaften am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie angesiedelt ist. Die wissenschaftliche Leitung des Referats Genderforschung liegt seither in ihren Händen. Mit all diesen Aktivitäten bekennt sich die Universität Wien, in der nunmehr die weiblichen Studierenden die männlichen überwiegen, betont zur dezidiert im Entwicklungsplan festgehaltenen Antidiskriminierung und Geschlechtergleichstellung.80 Seit dem Jahr 2003 dokumentiert die Broschüre Gender im Fokus. Frauen und Männer an der Universität Wien alle zwei Jahre Geschlechterverhältnisse auf allen hierarchischen Ebenen.81 Obgleich die Universität
77 Profil des Referats Genderforschung, Referat Genderforschung der Universität Wien, URL: http://gender.univie.ac.at/profil/ (abgerufen am 30. 1. 2015), sowie zur Forschungsförderung vgl. Forschungsförderung für Women’s Studies und Gender Research, hg. von der Universität Wien, Wien–München–Innsbruck: Studien Verlag 2001. 78 Masterstudium Gender Studies (Curriculum 2013), Referat Genderforschung, Universität Wien, URL: http://gender.univie.ac.at/gender-studies-studium/ma-gender-studies-curricu lum-2013/masterstudium-gender-studies-curriculum-2013 (abgerufen am 30. 1. 2015). 79 Curriculum für das Masterstudium Gender Studies, Universität Wien, URL: http://senat. univie.ac.at/fileadmin/user_upload/senat/Konsolidierte_Curricula(Master/MA_GenderStu dies_Juni2011.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015). 80 Vorwort des Rektors, in: Gender im Fokus 3. Frauen und Männer an der Universität Wien, hg. vom Referat Frauenförderung und Gleichstellung der Universität Wien, Wien: Selbstverlag 2011, 3 URL: http://frauenfoerderung.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/personalwesen/ 05_gender_im_fokus_kern_homepage.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015). 81 Hinter den Kulissen. Frauen und Männer an der Universität, hg. vom Referat Frauenförderung und Gleichstellung an der Universität Wien, Wien: Selbstverlag 2004, URL: http://
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österreichweit zu denjenigen mit dem höchstmöglichen Prozentsatz an Frauen in Professorinnen-Positionen zählt, dokumentiert die Geschlechterverteilung trotz allem das Phänomen der leaky pipeline, das Abnehmen des Frauenanteils in höheren Hierarchie-Ebenen. Während Frauen bei den Doktoratsstudierenden und -absolventinnen die 50 % Marke im Jahr 2010 bereits überschritten haben und bei den Prae Doc-Assistentinnen noch auf 56, 5 % stehen, finden sie sich bei den Habilitationen jedoch bereits bei 37 %, bei den Berufungen bei 27 % und den Professorinnen im Jahr 2011 bei 21,6 %.82 Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Vielfalt sind damit die neuen und in die Realität zu überführenden Schlagworte, welche die Entwicklung der Wissenschaftskulturen und die auf sie einwirkenden Lebens- und Arbeitsbedingungen zu Beginn des neuen Jahrtausends herausfordern. All diese Entwicklungen spiegelten und spiegeln sich auch auf der symbolischen Ebene.83 Die künstlerische Intervention mit dem Titel »Der Muse reicht’s« von Iris Andraschek-Holzer, die im Jahr 2009 im von männlichen Büsten bedeutender Wissenschafter gesäumten Arkadenhof – als einzige Frau war Marie von Ebner-Eschenbach hier mit einer Gedenktafel vertreten – gesetzt wurde, kommentiert sie in der ihr eigenen Sprache. Ausgehend von der Skulptur des Kastalia-Brunnens, markiert die Schattenintarsie, deren Umrisse aus Referenzen historischer und zeitgenössischer Frauenfiguren entstand, die aus traditionellen Geschlechterrollen und Repräsentationssystemen entstandene Leerstelle, die gleichzeitig den Anspruch von Frauen an der Universität symbolisiert.84 Teil des Projekts sind auch zwei Sokel, von denen der eine folgende Inschrift trägt: ERINNERUNG AN DIE NICHT STATTGEFUNDENEN EHRUNGEN VON WISSENSCHAFTERINNEN UND AN DAS VERSÄUMNIS, DEREN LEISTUNGEN AN DER UNIVERSITÄT WIEN ZU WÜRDIGEN. Auf dem zweiten ist zu lesen: AUS DEM SCHATTEN TRETEN DIE, DIE KEINEN NAMEN HABEN. Auch die im Jahr 2006 eröffnete Installation »Nobelpreis und Universität Wien«, mit der die bislang neun Wissenschafter geehrt werden, denen der Nobelpreis bislang verliehen wurde, kann in diesem Sinne gelesen werden. Eine der Stelen ist mit einem Fragezeichen versehen, eine gewollte Assoziation mit der Vertreibung durch den Nationalsozialismus ist beabsichtigt. Diese Leerstelle jedoch auch vor dem Hintergrund des Jahrhunderte langen Ausschlusses von frauenfoerderung.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/personalwesen/pers_frauen/univie Women200811/DatenbroschuereHinterdenKulissen.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015). 82 Vgl. Gender im Fokus 3. 83 Vgl. auch den Beitrag von Katharina Kniefacz/Herbert Posch zur Memorialkultur in diesem Band. 84 Iris Andraschek, Der Muse reicht’s, URL: http://www.dermusereichts.at/home/ (abgerufen am 30. 1. 2015), sowie dies., MUSE HITS/ THE MUSE HAS HAD IT, Wien: Christian Brandstätter Verlag 2009.
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Frauen zu lesen, ist ebenfalls und nicht im Widerspruch zur intendierten Lesart möglich.85 Die strukturelle Ebene, die epistemische und die symbolische sind untrennbar miteinander verwoben. Eine moderne, sich auf dem Kenntnisstand der Wissenschaft befindliche Ausbildung ist ohne den Wissensstand der GenderAspekte nicht mehr zeitgemäß. Sie bildet, neben der ersten Säule einer geschlechtergerechten Gestaltung von Universität und Wissenschaft, der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die zweite Säule, die den Standard betrifft, auf dem gelehrt wird.86 Ab den 1990er Jahren wurde Frauenförderung klar als Hochschulreform diagnostiziert. Die sich als Wissenschafts- und Gesellschaftskritik verstehende Frauenforschung stellt herrschende Machtverhältnisse in Frage, sie zielt auf eine grundlegende Demokratisierung und Modernisierung im Hinblick auf die Herausforderungen des neuen Jahrtausends.87 Ada Pellert und Barbara Hey formulierten es paradigmatisch: Frauenförderung=Hochschulreform!88. Sie traten mit dieser Formulierung für den Anspruch ein, dass eine Modernisierung der Hochschulen nur gelingen könne, wenn die Leistungen und Potentiale der Frauen adäquat zum Ausdruck gebracht würden. Gender Mainstreaming und Gender Budgeting sollten als geschlechtersensibilisierende Instrumente eingesetzt werden, um diesem Prozess Vorschub zu leisten. Wenn Andrea Maihofer das innovative Potential, das von den Gender Studies ausgeht, beschreibt, wird einmal mehr deutlich, dass, wie sie feststellt, hier Kompetenzen und Wissenspraxen bereit gestellt werden, denen in der Wissenschaft zunehmend eine wesentliche Rolle zukommen wird.89 Dies auch im Sinne der Europäischen Union, 85 Herbert Posch, Installation »Nobelpreis und Universität Wien«, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/ge denkkultur/nobelpreistraeger/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 86 Vgl. u. a. Meike Hilgemann/Beate Kortendiek/Anne Knauf, Geschlechtergerechte Akkreditierung und Qualitätssicherung. Ein Handreichung (Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW 14), Essen: Netzwerk Frauen- u. Geschlechterforschung NRW 2012. 87 Karin Hausen, Frauenforschung als Wissenschaftsreform, in: Sabine Lang/Birgit Sauer (Hg.), Wissenschaft als Arbeit – Arbeit als Wissenschaftlerin, Frankfurt a. M.–New York: Campus 1997, 203 – 210, sowie zwanzig Jahre danach: Sigrid Metz-Göckel/Christa Schmalzhaf-Larsen/Eszter Belinszki (Hg.), Hochschulreform und Geschlecht. Neue Bündnisse und Dialoge, Opladen: Leske + Budrich 2000, sowie Karin Zimmermann/Marion Kamphans/Sigrid Metz-Göckel (Hg.), Perspektiven der Hochschulforschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 88 Barbara Hey/Ada Pellert (Hg.), Frauenförderung=Hochschulreform! Dokumentation der gleichnamigen Tagung vom 28. Februar bis 2. März 2001 in Graz, Graz: Koordinationsstelle für Geschlechterstudien, Frauenforschung und Frauenförderung der Universität Graz 2001. 89 Andrea Maihofer, Geschlechterforschung als innovative Wissenspraxis, in: Brigitte Liebig u. a. (Hg.), Gender Studies in Ausbildung und Arbeitswelt. Das Beispiel Schweiz, Zürich: Seismo 2009, 44 – 64.
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die den Zusammenhang von Excellence und Gender-Kompetenz immer stärker betont.90 Diesen Weg gilt es nun bewusst weiter zu gestalten.
90 Structural change in research institutions. Enhancing excellence, gender equality and efficiency in research and innovation, hg. von der European Commission, Luxembourg: Publications Office of the European Union 2012, sowie Gender and Excellence in the Making, hg. von der European Commission, Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities 2004.
Karl Anton Fröschl
Scientia digitalis. Exemplarische Skizzen zur Informatisierung der Wissenschaften an der Universität Wien
Elektronische Rechenanlagen sind an der Universität Wien Ende der 1950er verfügbar geworden.1 Anhand zweier Beispielskizzen pionierhafter Computeranwendungen dieser »Anfangszeit« wird nachfolgend exemplarisch versucht, methodische und paradigmatische Wirkungen der Computerisierung von Wissenschaft anzudeuten. Bei aller Willkürlichkeit der Auswahl dieser Aufrisse wurde bewusst als gemeinsamer Bezugspunkt der Mensch als Betrachtungsgegenstand gewählt: die medizinische Informatik als Feld der Informatisierung des Körpers sowie eine empirisch-quantifizierende Form der Geschichtsschreibung am Beispiel der historischen Familienforschung als Feld der Informatisierung des Sozialen. Beide Skizzen greifen historisch gesehen denkstilistische2 »Wendepunkte« in dem Sinne auf, als jeweils erstmalig – im Kontext der Universität Wien, wohlverstanden – ein computationaler, datenverarbeitender Problemzugang in den disziplinären Diskurs eingeführt wird. Methodisch gilt dabei unterstellt, dass diese »frühen« Phasen der disziplinären Informatisierung als Zäsuren die paradigmatischen Verschiebungen und Reorientierungen der Denk- und Erkenntnisweise besonders prägnant illustrieren. Der fragmentarische Charakter der vorgestellten Skizzen disziplinärer Informatisierung ist offensichtlich.
1 Bzgl. dieser Entwicklung siehe den Beitrag von Karl A. Fröschl und Günter Haring in Band IV dieser Reihe. Eine breitere Kontextualisierung der Informatisierung der Wissenschaften (»computational sciences«) und ihrer inneruniversitären und -wissenschaftlichen Konsequenzen überhaupt muss hier aus Raumgründen unterbleiben. 2 Ludwik Fleck/Lothar Schäfer/Thomas Schnelle (Hg.), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.
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1.
Karl Anton Fröschl
Medizinische Informationssysteme
Das »Medizinische Rechenzentrum« war in der Nutzung von Rechentechnologie in der Universität Wien an vorderster Front; bereits 1967 wurde ein programmierbarer Digitalrechner – eine IBM 360 – 30 – an der II. Medizinischen Universitätsklinik bei Karl Fellinger aufgestellt, nachdem dort schon vorher Simulationsmodelle (zur Wirkdynamik verschiedener Therapeutika) mit einem eigens entwickelten Analogrechner analysiert worden waren.3 Die Anschaffung dieser Digitalrechenanlage wurde teilweise aus den Mitteln der 1965 durchgeführten »Rundfunkspende der österreichischen Bevölkerung – Kampf dem Krebs« finanziert.4 Um diesen Nukleus herum entfaltete sich – unter tatkräftiger Koordination des Gastroenterologen und Hepatologen Georg Grabner – eine Fülle an alsbald weit über die Krebsforschung hinausgehenden medizinischen und klinischen Computeranwendungen von Simulationen über die Diagnostik bis hin zu Patientendaten- und Laborauswertungssystemen, die über eine breite Palette an Instituten und Kliniken der Medizinischen Fakultät streuten und schon in kurzer Zeit einen bedeutenden wissenschaftlichen (Publikations-)Ertrag zeitigten. Die Medizinische Informatik konnte sich auch institutionell rasch an der Fakultät etablieren; 1969 wurde ein neugeschaffenes Extraordinariat für Medizinische Computerwissenschaften mit Grabner besetzt, 1973 ein eigenes Institut für Medizinische Computerwissenschaften mit ihm als Vorstand eingerichtet.5 Eine angemessene Darstellung der Entwicklung der Medizinischen Informatik an der Universität Wien würde wohl einen umfangreichen eigenen Beitrag erforderlich machen; hier soll stattdessen episodisch und synoptisch einem speziellen Langzeitprojekt mit markanten Folgewirkungen – dem Wiener Allgemeinen Medizinischen Informationssystem WAMIS – Augenmerk gewid3 Alfred Gangl, In memoriam Georg Grabner, in: Wiener Klinische Wochenschrift 118 (2006) 23 – 24, 782 – 784, 783. 4 Die Emphase auf Krebsforschung entspringt einer programmatischen Verbindung von biomedizinischer Forschung mit gesellschaftlichen Anliegen, wie sie insb. durch Präsident Richard M. Nixons »war on cancer«-Parole von 1971 zum Ausdruck kam (Donald E. Stokes, Pasteur’s Quadrant – Basic Science and Technological Innovation, Washingon, DC: Brookings Institution Press 1997, 138); in dieser Forschungsprogrammatik spielte auch der Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen eine wesentliche Rolle. »Es lag daher nahe, auch im Bereich der Medizinischen Fakultät Wien den gleichen Weg zu gehen[.]« (F. Windisch, Ausbau und Planung eines klinischen Rechenzentrums, in: Karl Fellinger (Hg.), Computer in der Medizin – Probleme, Erfahrungen, Projekte. Sonderschrift zur Eröffnung der Computerstation der Medizinischen Fakultät Wien, Wien: Verlag Brüder Hollinek 1968, 1 – 9, 6), auch wenn die Rechenanlagen damals (Schilling-)Millionen kosteten. 5 Grabner blieb aber auch Kliniker (Ordinariat für Medizinische Computerwissenschaften und Gastroenterologie am 28. Februar 1974) und war dann gleichzeitig auch Vorstand der II. Universitätsklinik für Gastroenterologie und Hepatologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien.
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met werden.6 Allgemein kann – ohne jede Überraschung – festgehalten werden, dass im Einkang mit inner- und außermedizinischen Entwicklungen eine beständige Intensivierung der klinischen Computeranwendungen stattgefunden hat, die eine immer größere Annäherung der digitalen Artefakte an den Patienten – mitunter bis in diesen hinein7 – mit sich brachte. Einen ersten Eindruck über die »Probleme, Erfahrungen, Projekte« gibt eine von Karl Fellinger herausgegebene »Sonderschrift« zur Eröffnung der Computerstation im November 1966 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien.8 Im Geleitwort drückt Prof. Fellinger seine Einschätzung der Perspektive folgendermaßen aus:9 »Es kann heute kein Zweifel mehr sein, daß elektronische Datenverarbeitungsanlagen dem Arzt in Wissenschaft, Diagnostik und Therapie, aber auch bei größeren Aufgabenkreisen (wie Kontrolle volksgesundheitlicher Entwicklungen) eine Hilfestellung geben können, wie es bisher nicht vorstellbar war ; und ich bin überzeugt, daß in wenigen Jahren ein moderner wissenschaftlich-klinischer Betrieb ohne die Hilfe derartiger Anlagen kaum mehr denkbar sein wird.«
Bei allem Enthusiasmus ist Prof. Fellinger allerdings keineswegs eine gewisse Skepsis gegenüber einer »automatisierten« Medizin entgangen; denn:10 »Gerade deswegen scheint es besonders notwendig, die Ärzteschaft mit den bisher, besonders im europäischen Raum, noch sehr knappen Erfahrungen im Betrieb einer elektronischen Datenverarbeitungsanlage innerhalb des medizinischen Bereichs vertraut zu machen und vor allem zu zeigen, daß der Computer, richtig verstanden und richtig eingesetzt, in der Lage ist, den ärztlichen Dienst, besonders in größeren Organisationsbereichen wie Krankenhäusern, ganz gewaltig von Routinearbeiten zu entlasten, diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu erleichtern und präzise zu kontrollieren, die so wichtige Dokumentation enorm zu vereinfachen, wobei dann das Material klinisch und wissenschaftlich in einer bisher kaum vorstellbaren Weise jederzeit zur Auswertung zur Verfügung steht; weiters wird er selbstverständlich in ganz besonderer Weise für wissenschaftliche Zwecke rechnerische und sonstige technische Hilfestellung leisten können und vieles andere.«
6 Georg Grabner (Hg.), WAMIS – Wiener Allgemeines Medizinisches Informationssystem (Medizinische Informatik und Statistik 59), Berlin: Springer 1985. Die gesamte Darstellung dieses Abschnitts orientiert sich – soweit nicht anders angeführt – an dieser Sammelpublikation sowie einer aus Anlass des 15-jährigen Bestands des Medizinischen Rechenzentrums vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (1982) herausgegebenen Broschüre. 7 Vgl. etwa Chris Hables Gray/Heidi J. Figueroa-Sarriera/Steven Mentor (Hg.), The Cyborg Handbook, New York: Routledge 1995. 8 Fellinger (Hg.), Computer. 9 Ebd., x. 10 Ebd. Hervorhebungen d. Verf.
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Das Spannungsverhältnis zwischen »ärztlicher Kunst« und formalisiertem Behandlungsregime als Resultat – und Ziel – rationalisierter Medizin sei nicht zu leugnen: »Es imponiert selbst uns, die wir täglich mit diesen Problemen befasst sind, der Computer als ein Koloß, dessen Schritte noch sehr unbeholfen sind; dennoch zwingt das Fortschreiten der Medizin in der Fülle der neuen Methoden, sich des Computers zu bedienen[.]«;11 offensichtlich impliziert die Rationalisierungsabsicht das Rationalisierungswerkzeug mit geradezu unerbittlicher Konsequenz. Die in der Sonderschrift dokumentierten Projekte und »Erfahrungen« fassen die Aktivitäten an der Computerstation in den ersten eineinhalb Jahren ihres Bestehens – durchaus im Sinne eines Rechenschaftsberichts über die Verwendung der eingesetzten Spendenmittel – zusammen und können für die weitere Entwicklung der Medizinischen Informatik an der Universität Wien als richtungsweisend bezeichnet werden; unbeschadet der späteren Ausdifferenzierungen und der generellen Verbreiterung der Anwendungsszenarien und Einsatzgebiete der Computertechnik in den Kliniken und Instituten der Medizinischen Fakukltät finden sich grundlegende Ansätze und Konzepte in nuce also bereits 1968 formuliert. Hervorgehoben werden deren fünf, nämlich (i) die Dokumentation von Patientendaten, (ii) Spitalinformationssysteme, (iii) Laborautomation und (iv) Unterstützung für Diagnose und Therapie sowie generell (v) der Bereich der medizinischen Forschungsanwendungen. Eine zentrale Stellung im Geschehen nahmen die Anstrengungen ein, Patientendaten zuallererst einmal computergerecht zu erheben und zu organisieren. In der genannten Sonderschrift 1968 ist diesem Aspekt breiter Raum gewidmet, indem ein buntes Spektrum unterschiedlicher Erhebungsanforderungen aus Bereichen wie der Hepatologie, internen Medizin, Herz- und Lungenkrankheiten, Lungenfunktionsdaten, Leberbiopsie, Kinderkardiologie, EKG-Befundungen, Gerinnungsbefunde, HNO, Tumorstatistik usw. bis hin zur Gewinnung »psychischer« Daten diskutiert wird. Dabei stand von Anfang an ein durchgängiger Systematisierungsgedanke – die Zusammenführung aller patientenbezogenen Daten in einer zentralen Krankengeschichte – als Leitidee im Mittelpunkt der Informationsorganisation, sowie die Prämisse einer möglichst entstehungsnahen Erfassung aller Daten am besten direkt im Klinik- oder Laborgeschehen, ohne dabei aber den wissenschaftlichen Nutzungsfokus als übergeordnete Zielsetzung aus dem Auge zu verlieren. Dank der engen organisatorischen Verzahnung der Datenerfassung mit den Arbeitsabläufen in den Stationen und Labors ergab sich als – durchaus erwünschter – Nebeneffekt eine Integration in die klinische Praxis, sodass sich aus diesem Experiment auch wichtige Erfahrungen für die Gestaltung funktioneller, am operativen Kran11 Ebd., xii.
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kenhausbetrieb orientierter Spitalinformationssysteme ableiten ließen. Zugleich bewahrte die Fokussierung auf das medizinische Behandlungsgeschehen und den klinischen Kontext die Systementwicklung vor den Gefahren einer informationstechnischen »Verselbständigung« ebenso wie vor der Schaffung funktionsloser »Datenfriedhöfe«, »[…] so daß die gespeicherten medizinischen Informationen primär für wissenschaftliche Berichte, Analysen und Studien zur Verfügung stehen […]«.12 Auch Fragen des Datenschutzes – als Erweiterung der ärztlichen Schweigepflicht – flossen aus dieser Perspektive naturgemäß früh in die Systemüberlegungen ein.13 Es bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung, dass die EDV-Infrastruktur seit ihrer erstmaligen Installation laufend erweitert und ausgebaut wurde.14 Die (elektronische) Krankengeschichte als Dreh- und Angelpunkt der medizinischen Datenorganisation führt folgende patientenbezogenen Informationselemente zusammen bzw. besteht:15 »(I.) aus den Angaben über die Personalien des Kranken, (II.) aus der Anamnese, (III.) aus dem physikalischen Status, (IV.) aus den erhobenen Befunden, (V.) aus der durchgeführten Therapie, (VI.) aus dem täglichen Dekurs (Veränderungen der Beschwerden, der Befunde, des physikalischen Status etc.), (VII.) aus der endgültigen Stellungnahme bei der Entlassung des Patienten (Enddiagnosen, Erfolg der Therapie etc.).«
Schon daraus ergibt sich, bei allem Bemühen um Vereinheitlichung, eine Vielfalt an Daten- und Dokumentationsstrukturen, denen eine formale Repräsentation 12 Medizinisches Rechenzentrum der Universität Wien – 15 Jahre angewandte medizinische Informatik, hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien: Selbstverlag 1982, 22. 13 Grabner (Hg.), WAMIS, 3. 14 Zur Datenerhebung wurden teils äußerst umfangreiche Erhebungs- und Codierungsschemata entworfen, die über Datenerfassungsbögen und Beleglesegeräte (später dann Computer-Terminals und vernetzte Personal Computer) ein umfangreiches klinisches Patientenbild – mit wohl insgesamt mehr als 1.000 definierten und speicherbaren medizinischen Merkmalen – erzeugen konnten. Dieser – nicht zuletzt auch personalintensive – Aufwand der Datenerhebung rechtfertigte sich durch die erreichbare Integrierbarkeit und multiple Nutzbarkeit der aus unterschiedlichen Bereichen (Kliniken, Labore usw.) entspringenden Patienteninformation und wurde überdies von den Klinikern generell als nutzbringende Vorleistung für sowohl verbesserte Forschungsbedingungen als auch Patientenversorgung gewürdigt. Im Zuge der Errichtung des Neuen Allgemeinen Krankenhauses Wien (offizielle Eröffnung am 7. Juni 1994), das auch weiterhin die Rolle des Universitätsspitals erfüllt, erfolgte allerdings eine funktionale Trennung der Haltung von Patientendaten für den behandlungsbezogenen Krankenanstaltenbetrieb einerseits und für medizinische Forschungszwecke andererseits, wodurch das ehemals nahtlose Ineinandergreifen beider Hemisphären der klinischen Datenbewirtschaftung organisatorisch aufgebrochen wurde. 15 H. Brunner/G. Paumgartner/G. Grabner/H. Grabner/A. Marksteiner/Ch. Wolf, Erfahrungen mit der Dokumentation von Krankengeschichten einer internen Klinik, in: Fellinger (Hg.), Computer, 10 – 48, 14.
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gerecht werden muss. Darüber hinaus sind die gesammelten Datenbestände eingewoben in ein komplexes Geflecht informationeller Abhängigkeiten entlang multipler, einander oft kreuzender und gelegentlich auch zu synchronisierender Behandlungsabläufe, die zu einer überaus reichhaltigen Verdichtungs-, Speicherungs- und Verteilungslogik der Patientendaten führen. Aus Gründen der Konsistenz ergibt sich eine wesentliche Herausforderung in der Organisation bzw. im Betrieb eines solchen formalen Datensystems aus der Sicherstellung der fortwährenden Korrespondenz zwischen dem aktuell an Patienten ablaufenden medizinischen Geschehen und dessen digital-symbolischen Kodifikat, das letztlich direkt über die Diagnose- und Therapiepraxis oder indirekt über (patienten-)datengestützte Schlussfolgerungen (im Wege medizinischer Forschung) in die klinische Wirklichkeit zurückgespiegelt wird. Entscheidende Erfolgsfaktoren für die Erreichung dieser Konsistenz sind, naheliegend, die Einführung eindeutiger Patientenidentifikationen sowie, zunächst weniger naheliegend, die Nutzung standardisierter Nomenklaturen – eine geordnete Objektwelt und ein geregelter Sprachgebrauch also. Ob gewünschter oder auch nur kollateraler Effekt, zwischen Arzt und Patient tritt jedenfalls eine Ebene rationaler Vermittlung, die – in der Intention des ab 1975 schrittweise unter Federführung Georg Grabners auf- und ausgebauten Klinikinformationssystems WAMIS – primär der systematischen Datengewinnung geschuldet war, während mit zunehmender Informatisierung des Krankenhausbetriebs – etwa in Form der Automatisierung der Laborabläufe (durch die Systemkomponente WIELAB), schematisierter Diagnoseverfahren, Therapiepläne (klinische Algorithmen) usw. – sich der Patient zunehmend in ein digitalisiertes Behandlungshabitat eingebettet findet, dessen Komplexität sich allmählich der Durchschaubarkeit aller Beteiligten zu entziehen beginnt; der Computer mutiert vom Hilfsmittel zur systemprägenden Kraft – ohne Verfügbarkeit der elektronischen Infrastruktur findet in der gedanklichen Verlängerung – aber teilweise auch bereits schon praktisch – letztlich gar kein Klinikoder Laborbetrieb mehr statt.16 Vom Standpunkt der Informationsnutzung stellt ein Datensystem wie WAMIS eine Ressource dar, deren Wert und Effektivität davon abhängt, wie mächtig und flexibel der Zugriff auf und die Selektion von Speicherinhalten organisiert sind. Das WAMIS-Konzept umfasste folglich von Anfang an dedizierte Auswertungskomponenten. Einerseits betrifft dies routinisierte Auswertungen speziellen Zuschnitts, die für einzelne Kliniken aus Patientendatenkollektiven software-technisch abgeleitet werden; in (Grabner 1985)17 werden dazu beispielsweise genannt: Auswertung bakteriologischer Befunde einer Intensiv16 Vgl. Grabner (Hg.), WAMIS, 121 ff. und insb. 125 – 127. 17 Ebd., 146 – 161.
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station, Dokumentation von Gerinnungsbefunden (mit dem Zweck, die Frage von Blutungskomplikationen abzuklären), Erfassung der Therapieeffizienz bei Diabetes mellitus, Clusteranalysen als klinische Entscheidungshilfe in der Hepatologie, Dokumentation epidemiologischer Studien und kontrollierter Therapieversuche in der Rheumatologie, Patientennachsorge (Verlaufsstudien) bei Karzinomkranken, Dokumentation von Larynx-Karzinomen und Karzinomen des Urogenitaltraktes, Befunddokumentation in der Zytologie (Früherkennung des Gebärmutterhalskrebses; statistische Auswertungen, Qualitätskontrolle, Patientinnen follow-up), Dokumentation geburtshilflicher Krankengeschichten und in der Kinderkardiologie sowie schließlich die Erfassung pathomorphologischer Befunde (Obduktionsdaten, Biopsiebefunde, Mortalitätsstatistik). Andererseits erfordert der medizinische Forschungsbetrieb eine Vielzahl singulärer quantitativer Untersuchungen über Patientenkollektive (experimentelle, epidemiologische, pro- und retrospektive Studien), die auf einen flexiblen Zugriff zur Auswahl verfügbarer Patientendaten aus dem Klinikbereich bzw. eine effiziente Verwaltung ebensolcher angewiesen sind. Für diese Zwecke wurden am Institut für Medizinische Computerwissenschaften mit den an WAMIS angekoppelten Auswertekomponenten WAMAS und WAMASTAT maßgeschneiderte Werkzeuge entwickelt,18 die – seit 1979/80 auch online und somit »interaktiv« – eine statistische Untersuchung empirischer Patientendaten EDV-gestützt ermöglichen. Essentielle Funktionen einer Auswertungskomponente betreffen den Vorgang der Datenauswahl (Patientenkollektiv, Zähleinheit, Datenbereich pro Zähleinheit, relevante Merkmale des Krankheitsverlaufs), die Auswertungsfestlegung (Vortransformationen der Datensätze, Art der Aggregation, Methodenwahl) sowie die Ergebnisdarstellung (numerisch, tabellarisch, graphisch). WAMAS konnte mit einem recht ausgefeilten »Operatoren-Konzept« sehr komplexe Auswahlbedingungen, auch unter Einbeziehung temporaler Kriterien (»Komplikation […] innerhalb von […] Tagen nach Ereignis […]« u. ä.)19 kalkülisieren; die Festlegung der Abfrageformeln konnte schrittweise über eine kontextabhängig gesteuerte Bildschirmabfolge von Auswahl- und Eingabemasken sehr elegant durchgeführt werden. Komplexere statistische Datenauswertungen und Visualisierungsaufgaben wurden ihrerseits an eine an WAMAS angegliederte Funktionskomponente, WAMASTAT, ausgelagert; diese führte in WAMAS vorbereitete bzw. verwaltete Datenbestände der eigentlichen Analyse unter Rückgriff auf darunterliegende Fremdsysteme großer Leistungsfähigkeit zu, wobei der Komfort einerseits durch 18 Ebd., 251 – 291. 19 Wolfgang Dorda/Walter Gall/Georg Duftschmid, Clinical Data Retrieval: 25 Years of Temporal Query Management at the University of Vienna Medical School, in: Methods of Information in Medicine 41 (2002) 2, 89 – 97.
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eine einheitliche Bedienungsoberfläche zur Nutzung der vielfältigen Auswertefunktionen sowie eine integrierte Methodenanleitung (im Sinne eines »statistischen Expertensystems«20) zumindest im Bereich routinisierter klinischer Auswertungen beträchtlich gesteigert wurde; bei darüber hinausgehenden Anforderungen an die Analytik stand selbstverständlich die Möglichkeit eines Datenexports an die eingebundenen Fremdsysteme direkt offen. Schon an der Computerstation fanden erste Überlegungen auch zur formalen Modellierung medizinischer Diagnostik mit Anwendungen in der Hepatologie und der Rheumatologie statt,21 die in der (differential-)diagnostischen Methodik – anders als die damals bevorzugt auf probabilistischen Symptom/KrankheitRelationen aufbauenden Vorschläge – von einer (modal-)logischen Analyse des Auftretens von Symptomen oder Symptomkombinationen relativ zu einzelnen Krankheitsbildern ausgingen,22 was insb. auch seltene Symptome und Diagnosen nicht aus dem Betrachtungshorizont ausschließt. Die Erfassung von Symptomen und Krankheiten sowie deren Verknüpfung bilden den Kern des diagnostischen Expertenwissens, das im Sinne einer normativen Logik die Basis einer automatisierten Diagnosestellung bildet; die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich allerdings hinsichtlich der Repräsentation insb. der modellierten Symptom/Krankheit-Relationen und der Inferenzmodi, mittels derer anhand von Implikationen (Inklusions-, Exklusionsregeln) oder Plausibilitäten aus einer gegebenen Symptom-Menge abduktiv auf eine diese bestmöglich erklärende Diagnose(-menge) geschlossen wird. Aus den frühen Ansätzen gingen am Institut für Medizinische Computerwissenschaften unter Federführung von Klaus-Peter Adlassnig praxisorientierte Systeme zur Computerdiagnostik – CADIAG-1 und -2 – hervor.23 Während CADIAG-1 im wesentlichen eine Operationalisierung der schon vorgängigen Modellüberlegungen im Kontext des WAMIS implementierte, verfeinerte CADIAG-2 seine »Wissensbasis« durch fuzzifizierte Relationen, also eine numerische Repräsentation »unscharfer« linguistischer Konzepte (wie »selten auftretend«, »hohes Fieber« usw.) in der Absicht einer Überwindung der allzu rigiden Dichotomisierung aussagenlogischer (»schwarz/weiß«) Argumentationsmuster.24 Wie praktisch immer in sol20 Siehe Grabner (Hg.), WAMIS, 281 – 282. 21 W. Spindelberger/G. Grabner, Ein Computerverfahren zur diagnostischen Hilfestellung, in: Fellinger (Hg.), Computer, 189 – 221. 22 Robert S. Ledley/Lee B. Lusted, Reasoning Foundations of Medical Diagnosis, in: Science 130 (1959) 3366, 9 – 21. 23 Medizinisches Rechenzentrum, 115 – 146; Grabner (Hg.), WAMIS, 303 – 336. 24 Klaus-Peter Adlassnig, Ein einfaches Modell zur medizinischen Diagnostik mittels fuzzy Teilmengen, in: EDV in Medizin und Biologie 13 (1982) 1, 12 – 16. Ein historischer Abriss der »Fuzzifizierung«, der sich auch konkret mit den in Wien verfolgten Ansätzen zur formalen Diagnose-Unterstützung auseinandersetzt, findet sich in Rudolf Seising, Die Fuzzifizierung der Systeme, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
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chen Bemühungen, erweist sich der mit einer Verfeinerung der Abbildung einhergehende Wissensbedarf als kaum befriedigbar und stellt die (im Sinne des Patientenwohls unverzichtbaren) Qualitätsansprüche vor ein schwer auflösbares Dilemma, das sich bislang in großen Vorbehalten gegenüber einem praktischen klinischen Einsatz derartiger Entscheidungshilfen – allerdings auch aufgrund anderer, methodologischer Bedenken (Struktur des Entscheidungsprozesses, ontologische und metamedizinische Modelldefizite) – äußert. Immerhin ist beiden Systemen, wie Prof. Adlassnig feststellt,25 »[…] gemeinsam, daß sie den mitarbeitenden Arzt zur eingehenden Analyse des medizinischen Wissens und zu schärferen Definitionen unklarer Darstellung bekannter Zusammenhänge zwingen. Dadurch wird nicht nur ein positiver individuelldidaktischer Effekt erzielt, sondern es wird auch allmählich und langsam eine weitere Art naturwissenschaftlicher Denkweise in die Medizin eingeführt, was sicherlich immer gerechtfertigt bleiben wird, auch wenn das Unmeßbare des Menschen in der diagnostischen Beurteilung eines Individuums letztendlich entscheidend bleibt.«
Computerisierte Diagnosesysteme sind – als Pendant zur »Objektivierung« des Patienten nach den aufgeklärten Vorstellungen einer sich naturwissenschaftlich verstehenden, somatisch-funktionalen Medizin26 – ein erster markanter Schritt auf dem Weg zu einer Formalisierung auch der ärztlichen Seite des klinischen Geschehens. Eine effektive Operationalisierung medizinischen (Be-)Handelns setzt allerdings nicht nur eine weitgehende mechanistische Simulation des Konzepts »Arzt« voraus, sondern muss auch die wohl noch um eine Dimension komplexere Interaktion zwischen Arzt (vulgo »Behandlungssystem«) und Patient formalisiert inkludieren, wofür eine fundierte klinische Theorie – von ersten, zweifellos unzureichenden Ansätzen einmal abgesehen – allerdings bislang nicht in Sicht ist.27 Nichtsdestotrotz zeigt sich Prof. Grabner ungebrochen optimistisch, wenn er 1985 ohne erkennbare Techno-Skepsis formuliert:28 »Es gab in Wien kaum ernstliche Bedenken, daß Maschinen den Arzt oder die Krankenschwester aus ihren wesentlichen Funktionen verdrängen könnten; allerdings dort, wo ein Computer den Menschen ersetzen kann, dort sollte er es auch tun, um die ungeheure Ausweitung der klinischen Medizin auf ein beherrschbares Ausmaß zu 25 In: Grabner (Hg.), WAMIS, 330; Hervorhebung d. Verf. Anzumerken bliebe, dass sich die computer-gestützte Diagnostik in diesem Anspruch nicht als Ersatz, sondern als Hilfsinstrument des klinischen Diagnostikers versteht; in jüngerer Zeit ist aber eine Tendenz weg von einer den gesamten Patienten erfassenden Diagnostik hin zu einer an physiologischen Funktionssystemen und Pathologien ausgerichteten Diagnoseformalisierung wohl erkennbar. 26 Vgl. Thomas Junker, Geschichte der Biologie, München: Beck 2004. 27 Hermann Mannebach, Die Struktur des ärztlichen Denkens und Handelns, Weinheim: Chapman & Hall, 1997, 22. 28 Grabner (Hg.), WAMIS, 2.
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reduzieren. Dies ist der Informationsverarbeitung auch in der Medizin schon teilweise gelungen.«
Die akademische Etablierung der Medizinischen Informatik am Standort Wien wird nicht zuletzt durch die Ausrichtung großer und erfolgreicher wissenschaftlicher Veranstaltungen belegt, von denen hier stellvertretend lediglich zwei angeführt seien: einerseits ein erstes deutschsprachiges, im November 1981 in Wien anberaumtes Symposium »Medizinische Informatik«,29 das als Forum dieser Thematik damals weit über Österreichs Grenzen hinaus Beachtung fand; andererseits die internationale Konferenz »Medical Informatics Europe 1991« als 10. Kongress einer in Cambridge (UK) 1978 gestarteten Serie, die so gut wie alle – und 1991 schon nahezu unüberblickbare Vielfalt an – aktuellen Themen der Medizin-Informatik abdeckte; der unmittelbare Ertrag dieser Konferenz – mit einem auch erklecklichen Anteil heimischer Beiträge – fand im über 1000 Seiten umfassenden Tagungsband30 seinen Niederschlag.
2.
Historische Familienforschung
Die zweite untersuchte Skizze zur Informatisierung widmet sich dem Bereich der historischen Sozialstatistik unter Bezugnahme auf eine Reihe konkreter Forschungsprojekte zur sozialgeschichtlichen Entwicklung der Familienstruktur, die beginnend mit Untersuchungen des »Strukturwandels der Familie in Österreich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert« ab 1974 unter Leitung von Michael Mitterauer am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien durchgeführt wurden. Das von der britischen »Cambridge Group for the History of Population and Social Structure«31 um Peter Laslett und Richard Wall bereits Anfang der 1970er Jahre etablierte Forschungsprogramm (Laslett hatte sich schon ab den frühen 1960ern mit systematischen Studien zur historischen Demographie – insb. der Auswertung von Personenstandslisten aus dem 17. Jhdt. – befasst) forcierte das Konzept einer quantifizierenden Sozialgeschichte,32 deren Anspruch eine durch »exakte Daten« fundierte hard science war. Programmatisches Ziel dieser Forschungslinie waren die Analyse und der Vergleich über Raum und Zeit von 29 Klaus-Peter Adlassnig/Wolfgang Dorda/Georg Grabner (Hg.), Medizinische Informatik. Tagungsband, Wien–München: Oldenbourg 1981. 30 Klaus-Peter Adlassnig/Georg Grabner/Stellan Bengtsson/Rolf Hansen (Hg.), Medical Informatics Europe 1991 (Lecture Notes in Medical Informatics 45), Berlin: Springer 1991. 31 Die Homepage der Gruppe nennt 1964 als ihr Gründungsjahr ; siehe URL: http://www.geog. cam.ac.uk/research/centres/campop/ (abgerufen am 2. 1. 2014). 32 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time, Cambridge: Cambridge University Press 1972.
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Familienstrukturen auf der Grundlage demographischer Massendaten, wobei von Anfang an auch der Methodenreflexion Aufmerksamkeit gewidmet wurde.33 Die Verwendung von Computern erfuhr in den Geschichtswissenschaften (bzw. den Sozial- und Geisteswissenschaften ganz generell) zu dieser Zeit einen beachtlichen Aufschwung, ausgehend von den USA, England und auch Frankreich,34 wurde in der deutschsprachigen Geschichtsforschung damals jedoch noch kaum rezipiert. Die zum Einsatz vorgeschlagenen und angewandten Computerverfahren bezogen sich einesteils auf die maschinelle Textverarbeitung und Dokumentation, andernteils aber auch auf »serielle«, einer statistischquantitativen Analyse zugängliche Daten. Die quantifizierende Geschichtsforschung entstand zudem einigermaßen synchron auch zur Kliometrie, einer auf der neoinstitutionellen ökonomischen Analyse aufbauenden quantitativ-statistischen Variante der Wirtschaftsgeschichte.35 Mitterauer knüpfte in seiner familienhistorischen Forschungsprogrammatik allerdings nicht unmittelbar an die Arbeiten der zitierten Cambridge Group um Peter Laslett an, sondern entwickelte seinen Ansatz mit expliziten Bezügen zur sozialhistorischen Tradition Otto Brunners unter Einbeziehung sowohl quantitativer als auch qualitativer Innovationen.36 Entscheidende Impulse kamen zudem aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem veränderten gesellschaftlichen Umfeld und einer akademischen Reflexion insb. der Wandlungsprozesse familiärer Strukturen sowie deren Thematisierung im Schul- und Hochschulkontext. Mitterauer, der 1971 auf ein Extraordinariat für Sozialgeschichte an der Universität Wien berufen worden war,37 entdeckte 1972 »[…] eher zufällig im Archiv der Pfarre Berndorf […] einen ›Liber status animarum‹ aus dem Jahr 33 Siehe etwa Lutz K. Berkner, The Use and Misuse of Census Data for the Historical Analysis of Family Structure: A Review of Household and Family in Past Time, in: Journal of Interdisciplinary History 7 (1975), 721 – 738. 34 Peter Haber, Digital Past – Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München: Oldenbourg 2011. 35 Vgl. Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, Berlin–Heidelberg: Springer 1999, insb. 169 ff. Zum historischen Hintergrund siehe auch Klaus Hamberger/Harald Katzmair, Zur Mathematisierung der Sozialwissenschaften in England 1800 – 1900, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996) 2: »Die Formalisierung der Welt«, 219 – 246, 229. 36 Die qualitativen Neuerungen bezogen sich insb. auf die »oral history«, der hier aber weiter keine Aufmerksamkeit gewidmet wird; bzgl. des Kontexts für den quantitativen familienhistorischen Zugang Mitterauers siehe insb. Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München: Beck 1977, ein Buch, das übrigens auf Anregung Lasletts auch ins Englische übersetzt und von ihm um ein kommentierendes Vorwort ergänzt wurde. 37 Die Umwandlung auf ein Ordinariat erfolgte dann 1973, wobei das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung die venia docendi im Sinne der Institutsbezeichnung auf »Wirtschafts- und Sozialgeschichte« ausweitete.
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1649«38 mit einer Auflistung der in der Pfarre registrierten Haushalte samt deren Angehörigen unter Anführung verschiedener Personenmerkmale. Einen wichtigen Anstoß zu dieser Episode bildete die Einladung des Demographen und Amtsstatistikers Heimold Helczmanovszkis an Mitterauer, einen Beitrag zu einem fächerübergreifenden Tagungsband zur in Wien anberaumten 39. Sitzung des Internationalen Statistischen Instituts39 zu verfassen.40 Dem Anlass entsprechend war eine quantitativ-statistische Orientierung des Beitrags geboten, wofür sich die – im Übrigen in größerer Zahl und vielen Regionen verfügbaren – »Seelenbücher« als familiengeschichtliche Datenquellen augenscheinlich bestens eigneten; die Datenauswertung für den Tagungsbeitrag41 erfolgte allerdings vorerst noch per Hand, obwohl sofort die Perspektive einer maschinellen, computerisierten Analytik – insbesonders unter Einbeziehung weiterer Massendatenquellen wie Census-Erhebungen und dergleichen – klar war. In der Folge führte Mitterauer, parallel zur französischen und englischen Sozialgeschichteforschung,42 eigene familienhistorische Untersuchungen quantifizierender Orientierung43 durch, einschließlich der damit – in den Sozialwissenschaften obligat – begleitenden statistisch-computationalen Methodenreflexion. Ein Grundproblem der Quantifizierung des Sozialen bildet schon die Frage der konzeptuellen Modellierung des Gegenstandsbereichs. Liegt sowohl in der Medizin als auch in der (physiologischen) Psychologie – im Sinne eines (methodo-)logischen Individualismus – die Wahl des menschlichen Individuums als 38 Josef Ehmer, Historische Einleitung zur Wiener Datenbank der Europäischen Familiengeschichte, Wien o. J., URL: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/famdat/ index-gr.html (abgerufen am 31. 12. 2013); siehe auch Michael Mitterauer, Historisch-anthropologische Familienforschung, Wien: Böhlau 1990, 10. Ehmer hat den quantitativen Zugang Mitterauers zur Sozialstrukturforschung sehr rasch aufgenommen und selbst umfangreiche Datenbestände veschiedener Quellen aufbereitet bzw. in maschinell verarbeitbare Form übergeführt. 39 Das International Statistical Institute war seinerseits auf Anregung des Wiener Volkswirts und Statistikers Franz Xaver von Neumann-Spallart 1885 gegründet worden, der bis zu seinem Tod (1888) auch Vizepräsident des Instituts war. 40 Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1973. 41 Michael Mitterauer, Zur Familienstruktur in ländlichen Gebieten Österreichs im 17. Jahrhundert, in: Helczmanovszki (Hg.), Beiträge, 167 – 224. 42 In Deutschland erfolgte die Gründung einer »Arbeitsgemeinschaft für Quantifizierung und Methoden in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung e.V.« – kurz: QUANTUM – 1975 erst etwas später (die Herausgabe der Fachzeitschrift Historische Sozialforschung/ Historical Social Research folgte ab 1976); es scheint zu keiner Zeit engere Kontakte zu den oder Einflüsse auf die Wiener Aktivitäten gegeben zu haben. 43 Michael Mitterauer, Untersuchungen zum Strukturwandel der Familie in Österreich – Probleme der Anwendung quantifizierender Forschungsmethoden, in: Bericht über den 13. österreichischen Historikertag, hg. vom Verband österreichischer Geschichtsvereine, Wien: Selbstverlag 1977, 148.
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Objekt der Analyse durchaus nahe und ist mit guten – wenn auch nicht immer zwingenden – Argumenten vertretbar, so sind die Prämissen einer solchen Modellhypothese im Sozialen deutlich prekärer. Ganz augenscheinlich entwickelt sich die Analyse einer Sozialgeschichte der Familie anders, je nachdem, ob die Einzelperson in ihrer jeweiligen »Rolle« oder die Familie als Sozialverbund (d. h. als letztlich rollendefinierende Struktur) insgesamt ins Zentrum der Modellierung gerückt wird. Die Komplexität dieser Modellierung wird nicht geringer, wenn darüberhinaus auch die Frage der sozialgeschichtlichen Entwicklung miteinbezogen wird: der Modellaufbau muss dann auch in der Lage sein, die erwarteten oder möglichen Veränderungen der Sozialstruktur (zumindest den Aussagezeitraum hindurch) adäquat darstellen zu können; das Modell muss also auch Sozialdynamik strukturell zu repräsentieren im Stande sein. Dies bedeutet eine doppelte Rationalisierungsaufgabe: neben der Algebraisierung und arithmetischen Symbolisierung der gesellschaftlichen Strukturbeziehungen sind diese selbst erst einmal im Sinne eines formalen Objektsystems zu fassen. Auf diese diffizilen methodischen Aspekte, gegliedert in Überlegungen zu (i) »Problemen des Erkenntniswerts statistischer Analysen«, (ii) »Probleme der Quellenauswahl und der Quellenkritik«, (iii) »Probleme des Formalisierens und Klassifizierens« sowie (iv) »Probleme der EDV«, ging Mitterauer sehr ausführlich ein.44 Die Problematik des »Diktats der Quelle« ist offenkundig – ein quantifizierender Ansatz ist auf die Verfügbarkeit geeigneter Daten, die diesfalls ja nicht nach Belieben experimentell hervorbringbar sind, in ausreichendem Umfang und tauglicher Qualität angewiesen; der Beschaffung und Pflege organisierter Datensammlungen kommt daher ein hoher Stellenwert zu. Die methodische Schwierigkeit ergibt sich hier daraus, dass die Nützlichkeit an sich verfügbarer Datenquellen ex ante kaum beurteilbar ist; Daten bezeugen ihre Brauchbarkeit generell erst im Lichte konkreter Fragestellungen, sodass die Verlockungen einer »datengetriebenen Forschung« zweifellos groß sind. Dem wäre entgegenzuwirken durch eine zurückgenommene epistemische Relevanz der historischen Empirie: »Das numerische Material hat in erster Linie Indikatorfunktion für erklärungsbedürftige Sachverhalte[.]«45, dient also zuvorderst einer heuristischen Exploration – Kausalitäten hingegen lassen sich allein durch Hinzunahme weiterer (nicht-quantitativer) Quellen ableiten. Der Forschungsimperativ habe sich also aus inhaltlichen Fragestellungen zu speisen, deren Erfordernissen entsprechend die Datenquellen gewählt und genutzt werden müssen. Gemäß der induktiven Logik empirischer Analyse setzt die Herleitung verallgemeinerbarer Zusammenhänge voraus, dass die elementaren Beobachtun44 Ebd. 45 Ebd.; Hervorhebung i. Original.
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gen für den untersuchten Gegenstandsbereich und die darin vermuteten Strukturbeziehungen repräsentativ sind. Dies betrifft sowohl die räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Überdeckung als auch die Frage der Datenqualität (Granularität, Messfehler, Homoskedastizität usw.) als Voraussetzung für valide Komparatistik und Längsschnitte (d. h. diachrone Vergleiche). Als noch tiefergehend stellen sich Fragen der Konzeptualisierung und Konstanz der Erhebungseinheiten dar, die im konkreten Fall Anlass geben zu einer »[…] weit über Probleme des Quantifizierens hinausgehende[n] Grundsatzdiskussion über die jeweils historisch adäquate Bestimmung von Familie und damit über entscheidende Veränderungsprozesse in der Struktur der Primärgruppe […]«.46 Zusammen mit Fragen der Klassifikation der Erhebungseinheiten nach vorausbestimmten Gliederungskriterien führt die (Schwierigkeit bzw. Intentionalität einer) Standardisierung der Beobachtungseinheiten zu einer Rasterung der Daten, die durch die Daten selbst gar nicht erklär- oder begründbar ist und damit potenziell die Analyse präjudiziert: die Kategorisierungen schaffen gerade jene Realität, die analysiert werden soll.47 Als Forderung ergab sich daraus für die »Datenaufnahme […] ein möglichst offenes und quellennahes Codierungsschema, das dann freilich auch sehr kompliziert ist. Selbst bei der Anwendung eines solchen Codes sind aber von vornherein in hohem Maße Formalisierungen und Typisierungen vorzunehmen.«48 Die konzeptuellen Probleme erfuhren schließlich in der (EDV-)technischen Auswertung ihre spiegelbildlichen Schwierigkeiten; einerseits rufen Massendaten nach einer effizienten Auswertungsmaschinerie, andererseits bedingen spezifische Analysen eine Auswertungslogik, die mit standardisierten SoftwareWerkzeugen oft nicht umsetzbar ist. Technisch anspruchsvollere Auswertungen, etwa solche betreffend die Einbeziehung zeitlicher Aspekte oder relationaler Merkmale zwischen strukturell verschiedenen Merkmalsträgern, wurden daher weiterhin traditionell händisch realisiert,49 da bspw. geeignete graphen46 Ebd., 156. 47 Geoffrey Bowker/Susan Leigh Star, Sorting Things Out – Classification and its Consequences, Cambridge, Mass.–London: MIT Press 1999. 48 Mitterauer, Untersuchungen, 158. Hervorhebung i. Original. In der Praxis erfolgte etwa die Rekonstruktion des Familienverbands über einerseits die Namensgleichheit und andererseits die sozialen Positionen der Haushaltsmitglieder – nicht ohne Probleme in erweiterten Familien- oder Haushaltsstrukturen (Zunftfamilien, Bettgeher, Untermieter, illegitime Familienmitglieder usw.). In den formalisierten Datenbeständen selbst wurde auf die Speicherung der Namen verzichtet; eine Re-Identifikation scheint aber infolge der beibehaltenen Isomorphie zwischen der Datenanordnung in den Originalquellen und den Kodifikaten grundsätzlich auch nachträglich möglich. Selbstverständlich sind – vor allem für vergleichende Studien – inhärente Heterogenitäten in den Datenquellen (wie Seelenzählungen, Steuerkataster usw.) im Zuge ihrer »Computerisierung« zu überbrücken: ein seit jeher unvermeidliches Problem formaler Quellenharmonisierung. 49 Ebd., 158 – 159.
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theoretische Analyseverfahren – wie sie mittlerweile für die Soziale Netzwerkanalyse charakteristisch sind50 – damals nicht zur Verfügung standen. Insgesamt sah Mitterauer aber trotz dieser operationalen Einschränkungen ein angemessenes Verhältnis zwischen Aufwand der (elektronischen) Datenaufbereitung und dem Erkenntnisertrag der quantitativen Betrachtung gewährleistet, ohne damit einer Beschränkung »auf die mit EDV-Verfahren bearbeitbaren Themen«51 das Wort zu reden. Als Michael Mitterauer seine ersten Strichlisten zur familiengeschichtlichen Statistik aus den aufgefundenen »Seelenbüchern« manuell erstellte, vollzog sich eine recht stürmische Durchdringung der humanities mit computer-gestützten Methoden. »Die Impulse, die von der internationalen Familienforschung und Computeranwendung ausgingen, fielen in Wien auf fruchtbaren Boden[.]«52 und führten hier, auch als Resultat von Mitterauers Projekten, zu einem anwachsenden, weitgehend vereinheitlicht strukturierten elektronisierten Datenbestand, der – in Kooperation mit dem Max Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und dem Institut für Geschichte der Universität Salzburg – in die »Wiener Datenbank zur Europäischen Familiengeschichte« einmündete,53 die in weiterer Folge die Grundlage einer Fülle von Auswertungsprojekten zu unterschiedlichen familiengeschichtlichen Fragestellungen – etwa zur Rolle der »Kleinfamilie«, regionale Varianten von Haushaltsstrukturen, oder Erbschaftsverhältnisse – bildete. Wichtige Beiträge zu diesem Datenarchiv leistete auch Manfred Thaller, der in seiner Zeit am Wiener Institut für Höhere Studien erweiterte und verbesserte Datenstrukturen erarbeitete, die eine wesentlich flexiblere Repräsentation und Verarbeitung sozialgeschichtlicher Massendaten ermöglichten.54 50 Vgl. Stanley Wasserman/Katherine Faust, Social Network Analysis: Methods and Applications, Cambridge: Cambridge University Press 1994; Tom A. B. Snijders, The Statistical Evaluation of Social Network Dynamics, in: Sociological Methodology 31 (2001) 1, 361 – 395. 51 Mitterauer, Untersuchungen, 159. Gleichwohl ist anzumerken, dass infolge der Technisierung der Datenorganisation erheblich umfangreichere Datenbestände auswertbar und erstmals auch deutlich komplexere Fragestellungen unter Einbeziehung einer Vielzahl an Attributen der modellierten Merkmalsträger der quantitativen Untersuchung zugänglich wurden; Portabilität und flexibilisierte Nutzbarkeit elektronischer Datenbestände waren offensichtlich ebenfalls einer breiteren wirtschafts- und sozialstrukturellen Familiengeschichtsforschung förderlich. 52 Ehmer, Historische Einleitung. 53 Annemarie Steidl/Heinrich Berger, Wiener Datenbank zur Europäischen Familiengeschichte, Wien o. J., URL: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/famdat/indexgr.html (abgerufen am 31. 12. 2013). Aus informatischer Sicht enthält die »Datenbank« eine Sammlung verschiedener Registerdatenbestände, die zu einem dokumentierten Archiv zusammengefasst sind; eine für Datenbanken im technischen Sinn konstitutive Abfrage- und Selektionslogik ist darin nicht implementiert. 54 Thaller ging 1978 nach Göttingen und entwickelte am Max Planck-Institut für Geschichte die für historische Anwendungen konzipierten Datenverwaltungssysteme Clio bzw. jkeiy und
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Am Wiener Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat Mitterauers Ambition neben einem dedizierten quantitativen Zugang zur Geschichtsforschung ihren Niederschlag nicht zuletzt in verschiedenen Lehrveranstaltungen über computationale Methoden in den Geschichtswissenschaften gefunden, die einen breiten Bogen von quellenorientierter Datenverarbeitung über Datenbanken und statistische Auswertungen bis hin zu einschlägigen Internet-Anwendungen spannen. Mittlerweile findet sich diese Wiener Entwicklungslinie der informatisierten Geschichtsforschung in einem breiten Umfeld der digital humanities wieder, in dem die maschinelle Datenverarbeitung von einem Vehikel der Quellenorganisation dank Mikroelektronik und Internet zu einem allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsinstrument geworden ist.55
Danksagung Für die fortwährende und umsichtige Unterstützung der Arbeiten am Beitrag sei Dr. Herbert Posch und Mag.a Katharina Kniefacz (Forum Zeitgeschichte/Univ. Wien) ganz herzlich gedankt; nicht zuletzt ihre Ermunterungen waren es, die den Beitrag haben entstehen lassen. Ausdrücklicher Dank auch an Dr.in Barbara Pitlik und DIin Andrea Rappelsberger (Medizinische Universität Wien, CeMSIIS) für die Kooperationsbereitschaft in den Recherchen zur Medizinischen Informatik, die Univ.-Prof. Dr. Klaus-Peter Adlassnig durch großzügigste Zurverfügungstellung seiner Archivmaterialen erheblich erleichtert und beschleunigt sowie durch ein Zeitzeugen-Interview (21. Oktober 2014) in wesentlichen Punkten ergänzt hat. Professor emeritus Dr. Michael Mitterauer, mit dem leider aus gesundheitlichen Gründen ein Zeitzeugen-Interview nicht zustande kam, ist für die rasche, präzise und aufschlussreiche elektronisch vermittelte Kommunikation aufrichtig zu danken. Univ.-Prof. Dr. Josef Ehmer sowie Mag. Heinrich Berger verdanke ich wichtige Hinweise zu den Anfängen der Wiener Historischen Familienforschung und zur »Wiener Datenbank«.
war später auch maßgeblich am Historical Workstation Project beteiligt. Manfred Thaller, The Historical Workstation Project, in: Computers and the Humanities 25 (1991) 2 – 3, 149 – 162. 55 Jakob Krameritsch, Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung (Medien in der Wissenschaft 43), Münster : Waxmann Verlag 2007; Haber, Digital Past.
Universität & Öffentlichkeit
Katharina Kniefacz und Herbert Posch
Selbstdarstellung mit Geschichte. Traditionen, Memorialund Jubiläumskultur der Universität Wien
Das Feiern des Gründungsdatums der Universität Wien als alljährlicher universitärer Gedenktag (Anniversarium) ist erst sehr jungen Datums. Traditionell steht dem Rektor das Recht zu, einen Tag zum vorlesungsfreien Feiertag zu erklären.1 Erst 1993 wurde der Rektorstag an das Datum des 12. März als Gründungstag der Universität Wien gekoppelt und erst seit dem Studienjahr 2000/01 als Dies Academicus mit einem umfangreichen Programm gefeiert.2 Aleida Assmann beschreibt solche Jahrestage als »Denkmäler in der Zeit«.3 Sie hält drei Bedingung für ihr Funktionieren fest: Dem Ereignis muss eine sinnstiftende Kraft zugeschrieben werden können, die es in einen weiteren Bedeutungshorizont stellt. Eine Erinnerungsgemeinschaft muss sich bilden, die diese Erinnerung mit ihrer Identität als Gruppe verknüpft. Mit dem Datum muss sich eine überindividuelle verallgemeinerte Botschaft verbinden und institutionell verankern lassen. In diesem Sinne hat sich der Akademische Senat 1993 als dieses Erinnerungskollektiv verstanden und den Rektorstag samt Gründungstag bzw. Dies Academicus zum zentralen Feiertag der Universität Wien erklärt.4 Die Forderung Assmanns nach der sinnstiftenden Kraft kann ebenfalls als gegeben angenommen werden, da die Gründung und damit Existenz von Universitäten 1 1779 erhielten die Rektoren offiziell das Recht, über die Ferien und freien Tage zu entscheiden (Hofentschließung vom 24. 9. 1779, Maria-Theresianisches Gesetzbuch 2109), 1818 wurde ihnen das Recht eingeräumt, einen besonderen Ferientag frei bestimmen zu dürfen (Studienhofdekret vom 17. 10. 1818, in: Politische Gesetzessammlung (PGS), Nr. 106, Punkt 5), und 1935 festgehalten, dass ein vom Rektor zu bestimmender Tag (Rektorstag) unterrichts- und prüfungsfrei sei (Universitätsstudienjahresordnung, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 323 v. 30. 7. 1935, § 4). 2 Dieser Begriff wurde ab 1969 auch schon bei der Abschaffung der alljährlichen feierlichen Rektors-Inaugurationsfeiern infolge der Tumulte 1968 als alternativer und neutral besetzter Begriff für einen weniger repräsentativ und mehr diskursiv definierten Feiertag universitärer Selbstbestimmung gewählt, vgl. Archiv der Universität Wien (AUW), Rektoratsakten (RA) GZ 4/1 ex 1969/70 und GZ 7 ex 1969/70. 3 Aleida Assmann, Jahrestage – Denkmäler in der Zeit, in: Paul Münch (Hg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen: Klartext 2005, 305 – 315. 4 Beschluss des Akademischen Senats vom 21. 10. 1993. AUW, RA, GZ 80 ex 1993/94.
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auch in der modernen Gesellschaft nicht in Frage gestellt wird und ihrer Bildungs- und Forschungsfunktion vielmehr sehr hohe Bedeutung zur Weiterentwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft zugeschrieben wird. Drittens scheint mit dem Datum eine überindividuelle verallgemeinerte Botschaft verbunden und institutionell verankert zu sein, verstärkt und teilweise überlagert dadurch, dass sich in der österreichischen Geschichte mit der bürgerlichen März-Revolution von 1848 (13. März) und dem sogenannten »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland 1938 (12. März) zwei andere zentrale Ereignisse mit dem Gründungstag der Universität treffen. Neben den traditionellen Inaugurationsreden, die anlässlich der Amtseinführung eines neuen Rektors öffentlich gehalten werden, ist der Dies Academicus zum alljährlichen Anlass geworden, sich als Universität öffentlich und feierlich zu Wort zu melden, Spitzenleistungen sichtbar zu machen, akademische Auszeichnungen und Wissenschafts-Preise zu verleihen und aktuelle universitäre Fragen inneruniversitär und medial-öffentlich zu thematisieren. Der größte Teil der Veranstaltung wird nach innen wie außen breit beworben und steht allen Interessierten offen. Der traditionelle Teil wird aber nur eingeschränkt öffentlich kommuniziert. Der Weg an den Ursprung, zum Grab des Gründers, bildet jeweils den Auftakt des Dies Academicus im Stephansdom. Dort treffen sich Rektor, Vize-RektorInnen und DekanInnen der staatlichen Universität mit Vertretern der Katholischen Kirche im jeweiligen Amtskleid und mit den Symbolen ihrer Macht/ Tradition und ziehen gemeinsam zum Altar über der Herzogsgruft. Am leeren Kenotaph Herzog Rudolfs IV., des Stifters wird von der Universität ein Kranz niedergelegt – er hat 1365 sowohl die Universität als auch das Domkapitel St. Stephan gegründet –, dann verkünden vor dem Altar Rektor und Erzbischof oder ihre VertreterInnen aus der jeweiligen Perspektive Grundsätzliches (teilweise Gegensätzliches) zu Geschichte und Gegenwart von Universität und Kirche bzw. Glauben und Wissen. Abschließend schreiten die Spitzen der Universität und Kirche, gefolgt von einigen wenigen BesucherInnen, in die Gruft hinunter zum gemeinsamen Gebet am Sarg mit den Gebeinen des Gründers. Einerseits gibt es für diesen Ursprungsbezug rituelle Vorläufer – bereits ab 1387 wurde am 12. März der akademische Feiertag des Hl. Gregorius begangen, seit 1396 gehörte eine jährliche Gedenkmesse für den Universitätsstifter zum akademischen Festprogramm5 – doch wurden diese im 18./19. Jahrhundert nicht mehr praktiziert. In diesem Sinne handelte es sich um eine »re-invention of tradition«: Der als AbsolventInnen- und Unterstützungsorganisation entstan5 Franz Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten, hg. von der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien, Wien: Verlag Austria Press 1965, 106, 111.
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dene Verein »Universitätsbund Alma Mater Rudolphina« übernahm dabei die Scharnierfunktion zwischen offiziellen Stellen, der Universität und interessierten Teilen der Gesellschaft, und erfand vor dem Hintergrund der unmittelbaren Vergangenheit der NS-Zeit mit Rückgriff auf »unbelastete« Zeiten die Tradition der Kranzniederlegung, die von der Universitätsleitung mitgetragen wird. In der restaurativen Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre6 wurde in Österreich auch die Tradition der »promotio sub auspiciis imperatoris« als »promotio sub auspiciis praesidentis«7 wiederbelebt, die seit 1994 an der Universität Wien auch alljährlich am 12. März stattfindet und nach der Kranzniederlegung in der Universität stattfindet. Der Bezugsrahmen dieser ebenfalls sehr ritualisierten und symbolisch aufgeladenen akademischen Feier ist jedoch kein religiöser, sondern ein staatlicher, in Anwesenheit des Bundespräsidenten. Dieser Teil der Veranstaltung setzt den Fokus auf eine zukunftsorientierte Selbstrepräsentation als moderne, internationale Forschungseinrichtung mit Traditionen und inszeniert die geehrten NachwuchswissenschafterInnen als einen universitären Beitrag zur Forschungsexzellenz. Diese Leistungsschau setzt sich mit zahlreichen Preisverleihungen fort. Die universitären VertreterInnen erscheinen hierzu nicht mehr im Talar. Stattdessen stellt man Modernität und Offenheit zur Schau, was etwa anhand der Werbebanner von SponsorInnen deutlich wird, welche die Bedeutung der Drittmitteleinwerbung für die wissenschaftliche Forschung sowie die enge Bindung an die Wirtschaft offenkundig machen. Der Verankerung in der Zeit entspricht auch die doppelte Verankerung im Raum. Die Feierlichkeiten beginnen im Stephansdom– als Referenz an die kirchlichen Ursprünge – und enden in den Festsälen des Hauptgebäudes, dem Zentrum der Universität. Mit diesen stark kontrastierenden, ritualisierten Erinnerungsformen wird alljährlich zwischen traditionsorientierter Rückbesinnung und wissenschaftli-
6 Vgl. Franz Gall, 25 Jahre Universitätsbund Alma Mater Rudolphina, Wien: Holzwarth & Berger 1977, 13. 7 Als Auszeichnung für besondere Leistungen gab es ab dem 17. Jahrhundert die »promotio sub auspiciis imperatoris« für jene AbsolventInnen, die sowohl ihre Gymnasial- als auch Universitätsstudien, Rigorosensprüfungen sowie Dissertation mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert hatten. Erstmals 1661 verliehen, blühte diese Tradition unter Kaiser Franz Joseph I. wieder auf, wurde nach dem Ende der Monarchie 1918 abgeschafft und erst 1952 als »promotio sub auspiciis praesidentis rei publicae« wieder geschaffen. Siehe Bundesgesetz vom 5. 3. 1952 über die Verleihung des Doktorates unter den Auspizien des Bundespräsidenten, BGBl. 58/1952; vgl. dazu: Walter Höflechner, Die Promotio sub auspiciis Imperatoris beziehungsweise Praesidentis rei publicae, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotion. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel: Schwabe 2007, 731 – 738; Zeichen der Ringe. 60 Jahre Promotion unter den Auspizien des Bundespräsidenten, hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 2012.
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cher Innovation und Exzellenz der Dies Academicus begangen.8 Gemessen an der Beteiligung gehen diese Veranstaltungen an den ca. 92.000 Studierenden und über 9.700 MitarbeiterInnen eher spurlos vorbei. Sie werden von dieser universitären Festkultur nicht erreicht bzw. empfinden sich nicht als partizipativer Teil davon. Für sie bleibt die relevanteste Botschaft der universitären Selbstinszenierung zwischen Ursprung und Zukunft, dass der Dies Academicus vorlesungsfrei ist. Die Universität Wien entwickelte seit ihrer Gründung 1365 verschiedenste Symbole und Rituale, die sie nach innen wie außen als soziale und wissenschaftliche Körperschaft repräsentierten. Neben der Gründungsurkunde sowie Regeln des akademischen Lebens, die dort und in Matrikel und Statuten festgelegt wurden, gehörten dazu zahlreiche Insignien9 wie Siegel, Szepter, Kleidungsstücke, Denkmäler, sowie später auch das Universitätsbanner (1892). Bereits im Mittelalter sah der Festkalender der Universität Wien Feierlichkeiten an bestimmten Heiligenfesten vor. Im Zuge der Säkularisierung rückten in der Neuzeit auch zunehmend profane Anlässe ins Zentrum, monarchische Feiertage ebenso wie inneruniversitäre Feiern, darunter das Gedenken an Universitätsgründer und Fakultätspatrone oder Totengedenken und Dienstjubiläen zu Ehren Universitätsangehöriger.10 Heute begeht die Universität Wien aus unterschiedlichen Anlässen akademische Feiern: die Inaugurationsfeier des Rektors, die Verleihung von Ehrentiteln und -diplomen sowie Graduierungsfeiern (Promotionen, Sponsionen, Bachelorfeiern) sowie Gedenkfeiern. Hier kommen genaue Regelungen für das Zeremoniell sowie Insignien und Symbole aus früheren Jahrhunderten zum Einsatz,11 die den akademischen Ritualen symbolisch An8 Vgl. Gertrud Regner, Protokoll und akademische Tradition. Akademische Feiern, Ehrungen und Symbole der Universität Wien 1365 – 2005, Wien: Holzhausen 2006, 89 – 92. Die Fest- und Traditionsdichte des 650. Jubiläumsjahres erfordert 2015 einige Adaptierungen, so wird der religiös-konnotierte Teil mit Kranzniederlegung am Grab Rudolf des Stifters am 12. März zu einer ökumenischen Vesper ausgebaut, mit Fürbitten für die Universität, die Lehrenden, die Studierenden, den Staat, die Freiheit der Wissenschaften und für Verstorbene, die u. a. von Universitätsratsvorsitzender, Senatsvorsitzender, DekanInnen, WissenschafterInnen und Studierenden der Universität Wien an Gott gerichtet wurden; alle Ehrungen werden an einem eigenen dies honorum am 13. Mai gefeiert werden. 9 Vgl. u. a. Franz Gall, Die Insignien der Universität Wien, Graz: Böhlau 1965 sowie aktuell Heidrun Rosenberg/Michael Viktor Schwarz (Hg.), Wien 1365. Eine Universität entsteht, Wien: Brandstätter 2015. 10 Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965, 111 f.; s. dazu auch die Tagung anlässlich des 650. Jubiläums der Universität Wien: Tagung der GUW: Akademische Festkulturen, 9.–11. 9. 2015, Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, URL: http://guwonline.net/veranstaltungen/guw/20/ (abgerufen am 15. 2. 2015). 11 Vgl. Regner, Protokoll und akademische Tradition; Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898, als Huldigungsschrift zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum seiner k. u. k. apostolischen Majestät des Kaisers Franz Josef I., hg. vom Akademischen Senat der Universität Wien, Wien: Alfred Hölder 1898, VIf.
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ciennität verleihen, Macht und Würde demonstrieren, für den universitären Alltag aber keine Rolle spielen.12 Die akademische Fest-, Memorial- und Jubiläumskultur ist also kein starres Gebilde, sondern befindet sich in einem ständigen Wandel. Es werden alte Formen weitertradiert, hinterfragt, transformiert oder auch beendet bzw. durch neue Traditionen ersetzt. Dieser Beitrag soll darstellen, wie sich diese Symbole und Rituale und damit die Jubiläums-, Gedenk- und Erinnerungskultur der Universität Wien im Laufe des »langen 20. Jahrhunderts« – mit allen Brüchen und Kontinuitäten – veränderten und/oder erhielten. Insbesondere im Hinblick auf die Universitätsjubiläen sollen die Selbstinszenierung und bewusste Traditionsbildung der Universität, deren Verhältnis zur Öffentlichkeit sowie die Frage der Inklusion/Exklusion von Personengruppen in/aus der Memorialkultur betrachtet werden. Jubiläen, besonders jene von Universitäten, wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt zum Gegenstand historischer Forschung gemacht.13 Das historische Jubiläum, das Erinnern in bestimmten Zeitintervallen, gilt als allseits praktizierte und selten hinterfragte, populäre Konvention und dient als Instrument der Erinnerungspolitik mit starkem öffentlichen Einfluss. So »[…] löst eine anstehende jubiläumszyklische Wiederkehr der Geburts- oder Todestage von Gründerpersönlichkeiten oder von Gründungsakten fast schon reflexartig den Impuls aus, dass da ›etwas gemacht werden muss‹.«14 Die Erinnerungskultur wird in Berufung auf eine langjährige (25-, 50-, 100-, 500- oder gar 1.000-jährige) Tradition angestoßen und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Mit der Referenz auf eine lange Eigengeschichte wird eine Beziehung zwischen Ver12 Das Renaissancesiegel aus dem 16. Jahrhundert – es zeigt die Allegorie der Sapientia mit einem Buch in der linken und einem Lilienszepter in der rechten Hand – mutierte dementsprechend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Authentifizierungszeichen zum Icon, zuletzt 2004/05 marketingtauglich vereinfacht und zusammen mit dem Schriftzug »Universität Wien« als heutiges Logo der Universität genutzt, um Tradition und Moderne der Universität zu vermitteln. 13 Vgl. u. a. Thomas P. Becker, Jubiläen als Orte universitärer Selbstdarstellung. Entwicklungslinien des Universitätsjubiläums von der Reformationszeit bis zur Weimarer Republik, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität im öffentlichen Raum, Basel: Schwabe 2008, 77 ff.; Michael Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien: Böhlau 1997, 23 – 90; Winfried Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: ders. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster : LIT 2004, 1 – 75; Anton Staudinger, »Durch Gedenkfeiern gelegentlich zur Vergessenheit emporgehoben…« – Anmerkungen zur Funktion von Gedenktagen und zu grassierender Jubiläumshistorie, in: Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.), Der literarische Umgang der Österreicher mit Jahres- und Gedenktagen, Wien: ÖBV 1994, 17 – 24. 14 Müller, Das historische Jubiläum, 1.
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gangenheit und Gegenwart (und Zukunft) hergestellt, Traditionsbewusstsein inszeniert sowie Identitätsbildung betrieben. Jubiläen informieren daher weniger über die Geschichte als über die Erinnerungssituation sowie bewusste und unbewusste programmatische Botschaften.15 Die Wiener Universitätsjubiläen 1865, 1915, 1940, 1965 und 1990 – ob gefeiert oder »entfallen« – werden als Ausgangspunkt und Forschungsgegenstand für den Wandel der Gesellschaft und der Rolle der Universität darin betrachtet. Die Jubiläen werden aus wissenschafts-, zeit- und sozialhistorischer Perspektive untersucht, die Narrative und Selbstinszenierungen der Institution (u. a. in der Universitätshistoriographie), deren Schwerpunktsetzungen sowie öffentliche Aufbereitung und Resonanz verglichen.
1.
Neue Traditionen des 19. Jahrhunderts j Professorales Gedenken
Nach der großen Universitätsreform und -reorganisation der österreichischungarischen Universitäten 1848/49, der Einführung der Lehr- und Lernfreiheit, der Ausgliederung des Propädeutikums an die neue Oberstufe der Gymnasien und dem Ausbau der Philosophischen Fakultät zur Wissenschaftseinrichtung, blieben an der Universität Wien noch bis 1873 alte ständische Strukturen (Doktorenkollegien) neben den neu geschaffenen (Professorenkollegien) bestehen. In diese Zeit fiel nun der Auftrag des neugeschaffenen Unterrichtsministeriums – Minister Graf Leo von Thun-Hohenstein – an den geschichtswissenschaftlich interessierten Verwaltungsjuristen des Ministeriums Rudolf Kink, eine erste gesammelte Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien zu verfassen, die 1854 in zwei Bänden erschien. Erklärtes Ziel der Publikation war es, sowohl für wissenschaftliche als auch staatliche Interessen »die reichhaltigen Materialien ihrer Geschichte zusammen gefasst, gesichtet und gegeneinander gehalten« bereitzustellen: »Denn erst dann war es möglich, zu antworten, wenn man fragte: worin bestehen die althergebrachten Privilegien, Gerechtsamen und Statuten der Wiener Universität? wie sind sie entstanden? in wie weit haben sie noch Geltung?«16 Während Band 2 als »Statutenbuch« die relevanten Dokumente geordnet präsentierte, lieferte Band 1 die Hintergrundinformationen zur 15 Ebd., 2 f.; Winfried Müller, Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998) 2 – 3, 79 – 102, 80. 16 Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, im Auftrage des k. k. Ministers für Cultus und Unterricht, Leo Grafen von Thun, Band1: Geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Universität bis zur Neuzeit Sammt urkundlichen Beilagen, Wien: Carl Gerold & Sohn 1854, X.
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organisatorischen Entwicklung der Universität sowie die inhaltliche Verbindung zwischen den Urkunden.17
500-Jahr Universitätsjubiläum 1865 Nur elf Jahre später – 1865 – fanden an der Universität Wien anlässlich der 500. Gründungsfeier die ersten größeren Jubiläumsfeiern statt; zu einem vergleichsweise sehr späten Zeitpunkt, hatte sich die zunächst kirchliche Jubiläumskultur in Deutschland doch bereits im Spätmittelalter über die Universitäten auf den profanen Raum ausgebreitet. Bereits in der frühen Neuzeit hatte sich mit dem zunehmend etablierten Phänomen des Jubiläums auch die Disziplin der Universitätsgeschichtsschreibung verbunden. Im 19. Jahrhundert, als die Wiener Universität ihre ersten größeren Jubiläumsfeiern beging, hatte die Dichte der Jubiläumsschriften bereits stark zugenommen. Neben einer sich stetig erweiternden Produktpalette der Erinnerungszeichen verknüpften sich damit auch Denkmalsetzungen sowie die Ausstellung historischer Dokumente (Musealisierung). Die Anlässe wurden zudem als Plattform für oppositionelle Forderungen und Strömungen genutzt, die sich etwa in Gegenveranstaltungen und -festschriften äußerten und später im 20. Jahrhundert den Gestaltungs- und Veränderungswillen besonders der Studierenden ausdrückten.18 Die äußeren Bedingungen waren für das Jubiläum der Universität Wien sehr ungünstig, da sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal über ein repräsentatives Gebäude verfügte. Da die Universitätsleitung Ausschreitungen unter den Studenten befürchtete, wurde die offizielle Feier vom Gründungstag am 12. März in die Ferienzeit verlegt (29. Juli bis 2. August). Zudem sorgten hohe Eintrittspreise dafür, die Studenten von den Feierlichkeiten fernzuhalten. Ein studentischer Festausschuss, der bereits mit den Vorbereitungen für die Feiern begonnen hatte, trat von der Teilnahme zurück und einige Studentenverbindungen feierten stattdessen am 12. März 1865 einen Jubelkommers im Hütteldorfer Brauhaus.19 Aber auch ideologisch und organisatorisch war die Universität zerrissen: zahlreiche Professoren forderten die Abschaffung der Doktorenkollegien und der konfessionellen Bindung und auch wissenschaftlich war die Universität gespalten, was nicht zuletzt durch die kontroverse Rede des Jubiläumsrektors Joseph Hyrtl sichtbar wurde. Joseph Aschbach, Ordinarius für Geschichte der Universität Wien, erarbeitete das Werk Geschichte der Wiener Universität als Festschrift, wobei Band 1 recht17 Ebd., XI. 18 Müller, Erinnern an die Gründung, 80 – 92; Müller, Das historische Jubiläum, 20 – 30, 55 f. 19 Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965, 177.
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zeitig zum Jubiläum 1865 erschien, das erste Jahrhundert 1365 – 1465 behandelte und damit stark auf den Gründungsakt der Universität fokussierte.20 Doch auch von nicht-offizieller Seite wurden die Feierlichkeiten zum Anlass für eine Publikation genommen, die man dem Typus der »Gegenfestschrift« zuordnen kann. Im Vorwort seiner Studien zur Jubelfeier der Wiener Universität im Jahre 1865 wünschte Gerson Wolf den Jubiläumsfeierlichkeiten gutes Gelingen, ließ jedoch auch heftige Kritik anklingen. Wolf war 1843 nach Wien gekommen, um hier Pädagogik, Philosophie und Sprachen zu studieren. Die Universität hatte er als einen Ort erlebt, an dem Schüler aus reichem Hause bevorzugt behandelt wurden. Nach seinem Studium betätigte er sich als Schriftsteller, wurde nach der Veröffentlichung seines Werkes Die Democratie und der Sozialismus 1849 des Landes verwiesen und widmete sich nach seiner Rückkehr nach Wien vor allem seinem Beruf als Religionslehrer im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde. In seinem Werk zur Wiener Universitätsgeschichte behandelte er Aspekte, die sonst in der Geschichtsschreibung kaum zur Sprache kamen: Er stellte zunächst die Datierung der Gründung auf das Jahr 1365 in Frage und verwies auf Quellen, die auf eine erste, und damit eigentliche Gründung bereits 1237 hindeuten würden, behandelte anschließend das Verhältnis der Juden zur Universität und übte Kritik am katholischen Charakter der Universität.21
50-jähriges Thronjubiläum Kaiser Franz Joseph I. 1898 Doch nicht nur die Jubiläen der eigenen Institution22, sondern auch jene der Monarchie wirkten in den Bereich der Universität und ihrer Geschichtsschreibung hinein. Die »k.u.k. Universität zu Wien« verstand sich als die ranghöchste 20 Joseph Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, hg. von der Universität Wien, 3 Bände (Band 1: Geschichte der Wiener Universität im ersten Jahrhunderte ihres Bestehens. Festschrift zu ihrer fünfhundertjährigen Gründungsfeier, Wien: Verlag der k. k. Universität 1865; Band 2: Die Wiener Universität und ihre Humanisten im Zeitalter Kaiser Maximilians I., Wien: Wilhelm Braumüller 1877; Band 3: Die Wiener Universität und ihre Gelehrten 1520 bis 1565, hg. von Adalbert Horawitz, Wien: Alfred Hölder 1888; Supplement: Wenzel Hartl/Karl Schrauf, Nachträge zum dritten Bande von Joseph Ritter von Aschbach’s Geschichte der Wiener Universität, Band 1, Wien: Alfred Hölder 1899). Vgl. zur Geschichtsschreibung im Jubiläumsjahr auch: Rochus Perkmann, Zur Geschichte der Wiener Universität, auch ein Beitrag zur halbtausendjährigen Jubelfeier, Leipzig: Wigand 1865. 21 Gerson Wolf, Studien zur Jubelfeier der Wiener Universität im Jahre 1865, Wien: Herzfeld & Bauer 1865; s. auch: ders., Zur Geschichte der Wiener Universität, Wien: Hölder 1883. 22 Generell feiert(e) die Katholisch-Theologische Fakultät, die erst 1384 als letzte Fakultät an der Universität im Mittelalter errichtet wurde, ihr Gründungsjubiläum konsequent 19 Jahre zeitversetzt zum Rest der Universität so etwa 1884 oder 1984. Vgl. u. a. Anton Wappler, Geschichte der theologischen Facultät der K. K. Universität zu Wien. Festschrift zur Jubelfeier ihres fünfhundertjährigen Bestehens, Wien: Braumüller 1884.
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Universität unter dem direkten Patronat des Kaisers: 1898 wurde daher ein patriotisches (Doppel-)Jubiläum jenseits der Gründung eingeschoben: das 50jährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph I. fiel schließlich mit 50 Jahren bürgerlicher Revolution von 1848 zusammen und mit dem Beginn der Universitätsreformen unter Thun-Hohenstein. So mischten sich revolutionäre Nostalgie mit Loyalitätsbekundungen an den Kaiser als Financier und Förderer der Universität, wobei seine Rolle bei der Niederschlagung der bürgerlichen Revolution geflissentlich übergangen wurde. Der Akademische Senat beschloss relativ kurzfristig im März 1898, die Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898 in Form einer »Huldigungsschrift« herauszugeben, um zu zeigen, wie viel die Universität Wien dem Kaiser zu verdanken habe.23 Diese sollte »die Ausgestaltung der Universitätsverfassung im allgemeinen und der einzelnen Facultäten im besonderen behandeln und zugleich die Rückwirkung derselben auf Wissenschaft und Unterricht, auf staatliche und öffentliche Interessen und auf das Volkswohl zur Darstellung bringen«.24 Verbunden wurde diese selbstbewusste wissenschaftliche Standortbestimmung mit einer nach Fakultäten gegliederten Leistungsschau und der Selbstdefinition als »Habsburgische Hausuniversität«.25 Mit der Ausarbeitung wurde ein Komitee aus Vertretern der verschiedenen Fakultäten beauftragt. Auffallend und möglicherweise ein Grund für die nachfolgende Rezession universitätshistorischer Schriften ist, dass ein Großteil der hier zentral aktiven Personen wenige Jahre später verstorben war.26
Professorendenkmäler In Folge der Thun-Hohenstein’schen Reformen war die Macht innerhalb der Universitäten von den 1873 endgültig ausgegliederten Doktoren- auf die Professorenkollegien übergegangen. Seit der Eröffnung des repräsentativen Hauptgebäudes der Universität Wien an der Ringstraße 1884 nahm auch die 23 Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898, III. 24 Ebd., IV. Die Universität Wien setzt im Jubiläumsjahr 2015 einen ähnlich gelagerten Schwerpunkt auf die Vermittlung der »Relevanz von Forschung und Lehre für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und die Bildung künftiger Generationen«. Grußworte des Rektors Heinz W. Engl, 650 Jahre Universität Wien, URL: http://www.univie.ac.at/650/ak tuelles-ueberblick/grussworte-des-rektors/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 25 Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898, 55. 26 Neben Historiker Alfons Huber, der als Obmann dem Comite vorstand, verstarb noch im Jahr der Herausgabe Robert von Zimmermann, der als emeritierter Philosophieprofessor die Ausarbeitung übernommen hatte, 1899 der Medizinhistoriker Theodor Puschmann und 1904 Universitätsarchivar Karl Schrauf, der bis zu seinem Tod noch zwei weitere Werke zur Universitätsgeschichte publizieren konnte: Karl Schrauf, Die Geschichte der Wiener Universität in ihren Grundzügen, Wien: Holzhausen 1901; ders., Studien zur Geschichte der Wiener Universität im Mittelalter, Wien: Gilhofer & Ranschburg 1904.
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ikonische Symbolisierung des Gedenkens an verstorbene Gelehrte zunehmend Raum ein. Bereits kurz nach Abschluss der Bauarbeiten gründete der Akademische Senat eine ständige Artistische Kommission zur künstlerischen Ausgestaltung des Gebäudes. Ausgewählte Angehörige der Universität wurden nach ihrem Tod in Form von Gedenktafeln und Büsten in den universitären Memorialraum integriert. Diese klassische Form des – posthumen –Gedenkens wurde ausgiebig zelebriert, wobei sich der Arkadenhof mit seiner wachsenden Anzahl an »Professorendenkmälern« zum zentralen Ort der wissenschaftshistorischen Erinnerung in Österreich entwickelte. Dieser Ort war vom Architekten Heinrich von Ferstel bereits als »campo santo« bzw. »Ruhmeshalle«27 der Universität konzipiert worden. Um dort geehrt zu werden, mussten die verstorbenen Wissenschafter neben den entsprechenden wissenschaftlichen Verdiensten auch über eine erinnerungspolitische Lobby verfügen, die für die Finanzierung sorgte. In den Arkaden wurden vom ersten Denkmal 1888 (Jurist Julius Glaser) bis zum – vorerst – letzten 2002 (Philosoph Karl Popper) insgesamt 154 Denkmäler errichtet.28 Jenseits der Professoren im Arkadenhof wurden auch andere Denkmäler an repräsentativen Stellen des Hauptgebäudes errichtet, primär für das Herrscherhaus, wie etwa die Statuen von Rudolf IV. und Maria Theresia im Festsaal, jene von Franz Joseph I. auf der Juristen-Feststiege und jene von Joseph II. in der Universitätsbibliothek.29 Das Gedenken an große WissenschafterInnen fand auch in den Ehrentafeln der Fakultäten für die »berühmten Schüler der Universität« seinen Ausdruck. Diese wurden 1893 in den Aufgängen von der Aula zu den Seitenaulen und Feststiegen angebracht und seither nur fallweise erweitert.30 Gleichzeitig mit deren Errichtung wurde 1890 auch beschlossen, die Namen aller Rektoren seit der Gründung der Universität Wien 1365 in latinisierter Form in eine Seitennische der Aula in Marmor einzumeißeln.31 Die lange, kontinuierliche Na27 Vgl. Richard Meister, Ruhmeshalle der Wiener Universität, Donauwörth–Wien: Auer 1934. 28 Vgl. dazu zuletzt: Thomas Maisel, Gelehrte in Stein und Bronze. Die Denkmäler im Arkadenhof der Universität Wien, Wien: Böhlau 2007; Kurt Mühlberger, Palast der Wissenschaft. Ein historischer Spaziergang durch das Hauptgebäude der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, Wien: Böhlau 2007, 97 – 104, sowie aktuell die Wiki-Plattform zur Dokumentation und Erforschung der Denkmäler der Universität Wien: u:monuments, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, URL: https://monuments.univie.ac.at/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 29 Vgl. zu Plänen von Habsburgergalerien statt Gelehrtendenkmälern demnächst Beitrag von Ingeborg Schemper, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte (2015). 30 Mühlberger, Palast der Wissenschaft, 88 – 95. 31 Die Rektorenfasten stützten sich auf eine vom Universitätsarchivar Karl Schrauf erarbeitete Namensliste: 1892/93 waren 783 Namen seit Gründung bekannt – mittlerweile gibt es 872 Einträge, zuletzt 2011 Georg Winckler, wobei mittlerweile auch mindestens zwei Namen mittelalterlicher Rektoren bekannt sind, die noch nicht eingetragen sind: Luderus de Palude
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mensreihe suggeriert eine viele Jahrhunderte währende Kontinuität und Beständigkeit, über alle realen Brüche hinweg sollte sie ein Symbol der ungebrochenen Selbständigkeit der Universität darstellen, deren – reale oder idealisierte – Autonomie in der freien Wahl des Leiters ausdrücken. Parallel zu den Rektorentafeln wurde um die Jahrhundertwende auch die Idee der barocken Rektorengalerie wieder aufgegriffen – eine Tradition, die bis heute mit einem zeitgenössischen Porträt jedes Rektors fortgesetzt wird.32 Weiters wurde im 19. Jahrhundert die individuelle Ehrung noch lebender Personen innerhalb der universitären Festkultur etabliert bzw. normiert. Bei den akademischen Ehrenwürden handelt es sich um Auszeichnungen auf primär symbolischer Ebene, aber mit hohem Statuswert. Ziel der Ehrungen war es zum einen, die Geehrten auszuzeichnen, zum anderen sollte die Bindung der Personen an die verleihende Universität deren gesellschaftliches und wissenschaftliches Renommee steigern.33 Erste Hinweise zur Verleihung von Ehrentiteln durch die Universität Wien führen in das 15. Jahrhundert zurück, mit den Hochschulorganisationsgesetzen von 1849 und 1873 wurde schließlich das bis heute verliehene Ehrendoktorat – Doktorat honoris causa – als außerordentliche Ehrung geschaffen.34
2.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts j Politische Brüche und universitäre Memorialkultur
Das »geopferte« 550. Gründungsjubiläum 1915 Nach dem konflikthaften 500. Gründungsjubiläum der Universität Wien entfiel das 550. Jubiläum im Jahr 1915 sang- und klanglos infolge des wenige Monate davor begonnenen Ersten Weltkriegs. Als Vorarbeit war bereits 1913 eine Publikation zur regen Neubautätigkeit für die Wiener Hochschulen erschienen,35
32
33
34 35
(1368) und Bertholdus de Wehingen (vor 1377). Vgl. Mühlberger, Palast der Wissenschaft, 68 – 73, 69. Günter Natter, Icones rectorum. Werden und Eigenart der Rektorengalerie an der Universität Wien, phil. Diss., Innsbruck 1988. Einige Bilder, darunter die Porträts der Rektoren der NSZeit und des Austrofaschismus, sind nicht mehr öffentlich sichtbar ausgestellt, sondern werden als historische Zeitdokumente im Depot des Universitätsarchivs verwahrt, jene des Austrofaschismus schmücken immer noch die offiziellen Räume. Ausführlich zu den politischen Hintergründen und zur Bildung nationaler und internationaler Netzwerke über die Verleihungen von Ehrendoktoraten: Michael Heffernan/Heike Jöns, Degrees of influence: the politics of honorary degrees in the universities of Oxford and Cambridge 1900 – 2000, in: Minerva 45 (2007), 389 – 416. Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965, 107. Neubauten für Zwecke des naturwissenschaftlichen, medizinischen, technischen und land-
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außerdem hatte sich die Universität Wien an der Ausstellung Der Student beteiligt, die 1914 in der »Bugra«, der großangelegten Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig gezeigt wurde.36 Die dafür zusammengetragenen Ausstellungsobjekte sollten den Grundstock für ein Museum der Universität Wien im bevorstehenden Jubiläumsjahr bilden, das aber nach Kriegsausbruch nicht mehr zustande kam. In seinem Rektoratsbericht vom Oktober 1914 assoziierte der scheidende Rektor Richard von Wettstein vielmehr über die Neuausrichtung des Jubiläumsgedankens: die Universität feiere nicht mehr sich, ihre Idee und ihre Funktion in der Gesellschaft, sondern ordne sich in den »nationalen Schulterschluss« der Kriegseuphorie ein, bis zur räumlichen Selbstaufgabe. Die Universität beschloss einen Monat nach der Kriegserklärung, ihr Hauptgebäude in ein Lazarett umzubauen und sich so am Kriegswerk zu beteiligen.37 »Die Kriegshilfsleistung der Gesamtuniversität, die Widmung eines großen Teiles der Räume ihres Hauptgebäudes für den Kriegshilfedienst drückt auch dem Studienjahre, an dessen Schwelle wir stehen, seine Signatur auf. Es ist das Jahr, in dem die Wiener Universität das 550jährige Jubiläum ihres Bestandes zu feiern hätte. Ihre Aktion bildet daher zugleich ihr Jubiläumswerk. Die Universität, die Lehr- und Pflegestätte philosophischer und ethischer Ideale, stellt sich als Ganzes in den Dienst der praktischen Humanität. Wir glauben, indem wir dadurch unsere Theorien zur Verwirklichung bringen und ihnen gerecht werden, unser Jubiläum würdig zu begehen. Siegeszuversichtlich und hoffnungsfreudig blicken wir in diesen Tagen der Zukunft entgegen.«38
Hinweise auf das Jubiläum finden sich in keinen weiteren Berichten der Universität, ebenso wenig in der zeitgenössischen Presse. Im Sinne einer »Jubiläumskonkurrenz« der Wiener Hochschulen ist es jedoch bemerkenswert, dass die stets parallel mit der Universität Wien feiernde Technische Universität (damals
wirtschaftlichen Unterrichtes an den Hochschulen in Wien, 1894 – 1913, Wien: Hof- und Staatsdruckerei 1913, 1 – 34. 36 J. v. Blumauer (Hg.), Sonder-Ausstellung »Der Student« auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914. Katalog der Abteilung der österreichischen Hochschulen, Wien: Holzhausen 1914. 37 Wie auch andere Hochschulen, etwa jene für Bodenkultur, vgl. Paulus Ebner, Geschichte der Hochschule für Bodenkultur von den Anfängen bis 1934, Wien: Institut für Wirtschaft, Politik und Recht 1995. Zur Universität Wien im Ersten Weltkrieg vgl. aktuell: Klaus Taschwer, »Ein seltsamer Körper war diese Universität im Krieg«. Über die Alma Mater Rudolphina in den Jahren 1914 bis 1918 – und danach, in: Alfred Pfoser/Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien: Metro 2013, 386 – 393. 38 Richard Wettstein, Bericht über das Studienjahr 1913/14, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1914/15 am 26. Oktober 1914, hg. von der Universität Wien, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1914, 3 – 35, 33 f.; dies wird auch unmittelbar in den Medien kommuniziert, z. B. Die Rektorsinauguration an der Wiener Universität, Neue Freie Presse, 26. 10. 1914, 6.
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noch Hochschule) ihr 100. Gründungsjubiläum 1915 trotz des Weltkrieges mit der Herausgabe eines umfassenden Prachtbandes feierte.39
Ende der Monarchie j Erste Republik An der Universität Wien gab es am Übergang von der Monarchie zur Republik keinen Denkmalsturm, die meisten Traditionen, Rituale und Insignien wurden ungebrochen fortgeführt, nur die Promotionen »sub auspiciis imperatoris« wurden mit dem Wegfall des Kaisers als Protektor der Wissenschaft aufgegeben. Es wurden keine demokratisch-republikanischen Formen neu entwickelt, vielmehr wurden 1926/27 die Talare für universitäre Amtsträger (Rektoren, Dekane, Senatoren) nach fast 150 Jahren wieder eingeführt und vorhandene Brüche an der Oberfläche in neu konstruierte Kontinuitäten gekleidet. Die Universität entwickelte sich nicht zu einer Stütze der Demokratie, die meisten ihrer Angehörigen engagierten sich vielmehr darin, sie zu untergraben. In der Traditionsund Feierkultur wurde zum Ausdruck gebracht, dass man sich eher als erste deutsche Universität in einem »kleingewordenen Österreich« verstand, denn als größte österreichische Universität. So wurden Feiern der Republik – etwa zum ersten und zum 10. Jahrestag als »zu politisch« abgelehnt, hingegen die Gründung des Deutschen Kaiserreiches aus Anlass des 50. Jubiläums 1921 an der Universität Wien groß gefeiert, verbrämt als apolitisch-kulturelle Veranstaltung, trotz aller offensichtlichen politischen Agitation.40 Eine zentrale Neuerung in der Memorialkultur der Universität war hingegen die Erinnerung an die Kriegstoten, die dabei von »Kanonenfutter« zu »Helden« hochstilisiert wurden. Schon während man 1914 in der ersten Kriegseuphorie die Universität in ein Lazarett umbaute, startete eine erste Initiative für die Errichtung eines Gefallenendenkmals mit Namenslisten aller gefallener Studenten und Professoren. Das Spital wurde bald wieder rückgebaut und das Gedenkprojekt erst nach Kriegsende neu aufgenommen und 1923 realisiert, mit finanzieller Unterstützung durch die Professorenschaft und die Deutsche Studentenschaft (DSt). Diese exkludierte allerdings jüdische, slawische, sozialistische, pazifistische und liberale Studierende und Lehrende sowie Frauen – fast die Hälfte der Universitätsangehörigen – aus dem Gedenkprojekt. Josef Müllner, Professor für bildende Kunst an der Kunstakademie und Mitglied der Artistischen Kommission der Universität, platzierte seinen »Siegfriedskopf« mit der 39 Joseph Neuwirth (Hg.), Die k.k. Technische Hochschule in Wien 1815 – 1915. Gedenkschrift, Wien: Verlag Gerold 1915. 40 Helge Zoitl, Akademische Festkultur, in: Franz Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien–München–Zürich: Europa-Verlag 1981, 167 – 204.
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Inschrift »Errichtet von der Deutschen Studentenschaft und ihren Lehrern« prominent in der Aula. Konzeptionell spielt das Denkmal auf den Brudermord des Nibelungenstoffes und v. a. die »Dolchstoßlegende« an und lässt sich ideologisch auch in die Tradition sogenannter Langemarck-Denkmäler stellen, die den Heldentod der »deutschen Jugend« als »kämpfende Studenten« glorifizierten. Eröffnet wurde das Denkmal unter Rektor Karl Diener, einem Befürworter dieses Gedankengutes, der den »Abbau der Ostjuden« an der Universität Wien forderte und überzeugt war, dass nur eine deutsch-national gesinnte Studentenschaft die »fortschreitende Levantisierung Wiens« aufhalten könne.41
Austrofaschismus Obwohl in den fünf Jahren des Austrofaschismus stark in die Organisation der Universität eingegriffen wurde, Lehrende und Studierende diszipliniert und entlassen wurden, die Lehrpläne neu ausgerichtet und ideologische Pflichtvorlesungen samt paramilitärischen Übungen und Hochschullagern eingeführt und die Staatspolizei in den Universitätsgebäuden stationiert wurde, konnte das neue Regime gegen die mehrheitlich deutschnational gesinnten UniversitätsvertreterInnen wenig an neuen Formen und Ritualen einführen. Es gelang nur beim Neubau des schon lange geforderten Auditorium Maximum: Um die neuen verpflichtenden Vorlesungen und Prüfungen für alle Studierende durchführen zu können, wurde der lange gehegte Wunsch 1936 umgesetzt. Zuvor hatte die Universität schon symbolträchtig versucht, sich das Parlamentsgebäude anzueignen, wäre es doch nach der Abschaffung der Republik und Auflösung des Parlaments durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ein günstig gelegener Hörsaalbau gewesen.42 Auch das stattdessen errichtete AudiMax war nicht nur ein reiner Zweckbau, sondern sollte auch neuen Wind in die Universität bringen, wie die Eröffnungszeremonie erkennen ließ. Zum einen wurde erstmals seit Eröffnung des Hauptgebäudes der Wiener Erzbischof eingeladen, um den Hörsaal kirchlich zu weihen. Weihe und anschließende Rede von KardinalErzbischof Theodor Innitzer wurden live im Radio übertragen.43 Die Redner41 Vgl. Zur deutschen Ausrichtung und ihren gewalttätigen Auswüchsen und Traditionen vgl. den Beitrag von Klaus Taschwer in Band III dieser Reihe; Margarete Grandner/Gernot Heiß/ Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 – 1955, Innsbruck: Studienverlag 2005, oder Ulrike Davy/Thomas Vasˇek, Der »Siegfried-Kopf«. Eine Auseinandersetzung um ein Denkmal in der Universität Wien. Dokumentation, Wien: WUV Universitätsverlag 1991. 42 AUW, Protokoll der 5. Senatssitzung (Studienjahr 1933/34) vom 4. 5. 1934, Pkt. 14. 43 Auditorium maximum, Neue Freie Presse, 15. 12. 1936, 7; Feierliche Weihe des Auditorium maximum an der Wiener Universität, Neuigkeits-Weltblatt, 15. 12. 1936, 4.
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tribüne war kurz vor der Eröffnung noch entsprechend neu ausgestattet worden: zur Rechten ein großes Kruzifix und zur Linken das neue Staatswappen des austrofaschistischen Österreich, der Doppeladler mit den zwei Heiligenscheinen.44 So eingerahmt sollten die Professoren die ideologischen Pflichtlehrveranstaltungen auf geweihtem Boden abhalten und die Studierenden neben dem Vortrag auch die entscheidenden Symbole des neuen Regimes rezipieren. Gleichzeitig war es der größte und modernste Veranstaltungssaal im damaligen Wien mit Film-, Ton-, und Projektionsanlage, Großkinoleinwand und mobilem Labortisch. Da nur 15 Monate später bereits die Machtübernahme des Nationalsozialismus diese Inszenierung wieder zum Verschwinden brachte bzw. durch Hakenkreuze ersetzte, war dieser neuen Ausrichtung keine nachhaltige Wirkung in der universitären Erinnerungs- und Gedenkkultur beschieden.
Nationalsozialismus: »Damnatio memoriae« und neue Ehrungsformen Der Nationalsozialismus brachte grundlegende Änderungen an der Universität mit sich, über 2.200 jüdische und/oder politisch andersdenkende Studierende wurden vertrieben, fast die Hälfte der Professoren und DozentInnen entlassen, die Universität nach dem Führerprinzip umgebaut – eine Übernahme von innen und außen, von oben und unten in kürzester Zeit. Neben diesen umfassenden Eingriffen wurde zudem massive Symbolpolitik betrieben, um die neuen Wertvorstellungen zum Ausdruck zu bringen und den Kreis derer neu zu definieren, die zur Institution gehörten oder aus ihr ausgeschlossen werden sollten.45 So wurden nach dem »Anschluss« die Druckfahnen des noch davor erstellten jährlichen Rektoratsberichtes für das Studienjahr 1937/38 intensiv »gesäubert« und zahlreiche Nachrufe mit Hinweisen wie: »Jude« oder auch »Politisch sehr zweifelhaft« gestrichen.46 Unliebsame Denkmäler, besonders im Arkadenhof, wurden im Sinne einer damnatio memoriae47 gestürzt: Ferstels Konzept des »campo santo« wurde in 44 Vgl. AUW, RA GZ 913 ex 1934/35. Der bronzene Adler (von Bildhauer Wilhelm Bormann) befindet sich heute im Depot des Universitätsarchivs. Ob das Kruzifix (von Architekt Karl Holey) mit einem in den Hörsälen der Katholisch-Theologischen Fakultät ident ist, konnte bislang noch nicht verifiziert werden. 45 Herbert Posch, Akademische »Würde«, 251 – 266. 46 Bemerkung zur Streichung der Nachrufe für die 1937/38 verstorbenen Professoren Gustav Gärtner, Alfred Fischel, Max Eisler, Wilhelm Figdor, Emanuel Löwy und Robert Franz Arnold sowie Nikolaus Trubetzkoy. Letztendlich wurde dieser Rektoratsbericht nie gedruckt, die korrigierten Druckfahnen befinden sich im Universitätsarchiv : AUW, RA GZ 4 ex 1941/42. 47 Vgl. Peter Voswinckel, Damnatio memoriae: Kanonisierung, Willkür und Fälschung in der ärztlichen Biografik, in: Karen Bayer/Frank Sparing/Wolfgang Woelk (Hg.), Universitäten und Hochschulen im NS und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, 249 – 270.
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Richtung »Walhalla deutscher Wissenschaft« uminterpretiert und wenige Tage vor der sogenannten »Reichskristallnacht« wurden am 5. November 1938 die Denkmäler vermeintlich jüdischer Professoren von NS-Studenten beschädigt, beschmiert und umgeworfen. Bis 1939 wurden systematisch alle Statuen verdienter jüdischer Wissenschafter entfernt und eingelagert.48 Wesentliche Eingriffe führte das NS-Regime auch im Bereich der verschiedenen Ehrentitel durch, die größtenteils noch bis heute an herausragende Persönlichkeiten verliehen werden.49 Sehr rasch nach dem »Anschluss«, am 22. März 1938, erging die Weisung des Berliner Reichserziehungsministeriums, dass die Ehrendoktorwürde als »höchste zu verleihende Würde einer deutschen Fakultät« sorgfältigster Prüfung unterliege. Obwohl es sich offiziell nach wie vor um eine wissenschaftliche Auszeichnung handelte, sollte die Leistung erst nach Vorliegen der »rassisch-politischen Eignung« geprüft werden. Die Ehrendiplome mussten von nun an in deutscher Sprache verfasst werden, das bis dahin übliche Latein wurde abgeschafft, und erstmals hatte der Minister ein unbedingtes Einspruchsrecht für jede universitäre Entscheidung,50 – ein zentraler Eingriff in die bisher allein der Fakultät bzw. Universität zustehenden Entscheidungsfreiheit. Die Verordnung galt analog im Wesentlichen auch für die neuen Ehrungsformen Ehrensenator, Ehrenmitglieder und Ehrenbürger.51 Die aus Deutschland übernommene Ehrensenatorwürde bot eine gewisse Ausweichmöglichkeit für die zahlenmäßig enge Begrenzung der Ehrendoktorate. Deren Verleihung fand jedoch nur ein einziges Mal – 1941– statt, doch gleich an sechs ehemalige Professoren der Universität und an Baron Takaharu Mitsui (er hatte der Universität Wien 1938/39 ein japanologisches Institut gestiftet). Die Professoren erhielten die Auszeichnung »für ihr mannhaftes Einstehen für die nationalsozialistische Idee, das unter Hintansetzung ihrer Existenz und ihrer
48 Vgl. AUW, RA GZ 184 ex 1938/39 und GZ 1250 ex 1938/39. 49 Richtlinien für die verschiedenen Ehrungsformen sind in den Satzungen fixiert, zuletzt modifiziert 2013: Mitteilungsblatt der Universität Wien 35 (27. 6. 2013), URL: https://www. univie.ac.at/mtbl02/02_pdf/20130627.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015. Zwischen 1900 und 2014 wurden an der Universität Wien insgesamt 226 Ehrendoktorate (darunter an zwölf Frauen), 65 EhrensenatorInnentitel, 70 Ehrenbürgerschaften, 14 Ehrenmitgliedschaften (darunter keine Frauen) sowie Ehrenzeichen und -medaillen verliehen. Siehe dazu die Listen der Geehrten unter : Gedenkkultur, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http://www.forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/gedenkkultur/ (abgerufen am 30. 1. 2015 bzw. ab 22. April 2015: http://geschichte.univie.ac.at/de/personen/ehrungen). 50 Runderlass Reichserziehungsminister Bernhard Rust vom 22. 3. 1938, WA 420, WU Z II a(a). AUW, RA GZ 863 ex 1937/38, sowie Schreiben Unterrichtsminister Menghin an die Hochschulen vom 30. 4. 1938, Zl. 19723-II/4. Ebd. 51 Über die Ehrungen entschied allerdings der Rektor nach Anhörung des Senats, eine Genehmigung des Reichserziehungsministeriums war bei deutschen Staatsbürgern nicht mehr erforderlich. Punkt II derselben Verordnung.
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persönlichen Freiheit geschah«.52 Sie wurden nicht umsonst als ausgewiesene Kämpfer für den Nationalsozialismus gefeiert: Unter ihnen hatten sich Othenio Abel, Wenzel Gleispach und Hans Uebersberger auch als ehemalige Rektoren der Universität Wien sehr um die Durchsetzung des »rassischen« Prinzips bemüht. Während des Nationalsozialismus wurden einige Bräuche wie die Eintragung in die Rektorentafeln unterbrochen, umgekehrt aber die Rektorengalerie von Fritz Knoll nicht nur fortgeführt. Indem er sich lebensgroß als Ganzkörperporträt in Talar malen ließ, schloss er direkt an die Tradition der barocken Rektoren an, der Bildhintergrund zeigt einen Vorhang aus Hakenkreuzen. Das 575. Universitätsjubiläum 1940 scheint keine Aufmerksamkeit erregt zu haben,53 im Vergleich wiederum zur Technischen Hochschule, die mit ihrem 125. Jubiläum im selben Jahr großes Interesse auf sich ziehen konnte.54
1945 j Symbolische »Säuberungen« j Wiederaufgreifen alter Traditionen j Leerstellen Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühte man sich, von der realen Involvierung der Universitätsangehörigen in den Nationalsozialismus abzulenken, die Entnazifizierung möglichst schonend zu gestalten, umgekehrt in der Festkultur alte Traditionen wieder aufzugreifen und sich somit in symbolischer Weise auch von der jüngeren Vergangenheit zu distanzieren. Bereits im Mai 1945 beschloss der neue akademische Senat – gleichzeitig mit der Überprüfung des Personals auf politische Tragbarkeit und der Wiedereinstellung abgesetzter Lehrender –, die 1938 entfernten Denkmäler im teilweise stark kriegszerstörten und großteils nicht benutzbaren Hauptgebäude wieder an ihrem alten Platz im Arkadenhof aufzustellen, was im Juni erfolgte (die Sanierung des Gebäudes dauerte noch bis 1951). Das Tempo bzw. die Prioritäten überraschen. So konnte rasch und einfach umsetzbar eine Geste politischen Umdenkens und symbolischer Distanzierung vom Nationalsozialismus gesetzt werden, die im Lehrkörper selbst weniger rasch und einfach belegbar war. Gleichzeitig wurde beschlossen, explizit nationalsozialistische Literatur si52 Zitiert nach dem Eintrag in der Chronik für das Studienjahr 1941/42. AUW, RA GZ 4 ex 1939/ 40. 53 Allein der Germanist Eduard Castle widmete dem Jubiläum einen Zeitungsartikel: Eduard Castle, Geburtstag unserer Alma mater. Aus der Vorzeit der Wiener Universität, Neues Wiener Tagblatt, 10. 3. 1940, 7. 54 Vgl. Die Technische Hochschule in Wien zur Feier des 125jährigen Bestandes am 7. November 1940, Wien: Technische Hochschule in Wien 1940; Alfred Lechner (Hg.), Technische Hochschule Wien: Ehrenvorträge zur Feier des 125jährigen Bestandes der Technischen Hochschule in Wien, Wien: Technische Hochschule in Wien 1941.
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cherzustellen sowie andererseits die Bücher jüdischer AutorInnen wieder in den Bibliotheken aufzustellen. Das Geschehene war damit auf einen ersten Blick hin wieder ungeschehen gemacht.55 Ebenfalls im Mai 1945 versuchte der Senat, sich der nunmehr politisch unangenehmen Ehrung des Ehrensenators rein bürokratisch und ohne inhaltliches oder mediales Aufhebens zu entledigen. Er beschloss kurzerhand diese Ernennungen aufzuheben, diesen Beschluss aber nicht nach außen zu kommunizieren, auch nicht gegenüber den Betroffenen.56 Besonders die großaufgezogene Ehrendoktorats-Verleihung an den Dichter Josef Weinheber wurde nun zum Problem. Er war bereits 1931 NSDAP-Mitglied gewesen und unter den Nationalsozialisten zum staatlich geförderten Paradedichter aufgestiegen. Weinheber hatte aber angesichts der heranrückenden Roten Armee den Freitod gewählt und da mit dem Tod die akademische Ehre erlosch, hatte sich das Problem auf diesem Wege gelöst, ohne dass die Universität sich weiter kompromittiert hätte. Bereits im Oktober 1945 wurde der erste Ehrentitel nach dem Krieg – ein Ehrendoktorat an den Bundespräsidenten Karl Renner – vergeben, im Februar 1946 folgte symbolträchtig die Verleihung von Ehrenbürgerschaften an alliierte Offiziere.57 Insgesamt 14 Personen, großteils Militärs der alliierten Truppen, erhielten außerdem bis 1955 die akademische Ehrung des Ehrenmitglieds. Schwierig war auch der Umgang mit der Rektorentafel, da sie auf lange Kontinuität ausgelegt war und sich die Brüche der jüngsten Vergangenheit nicht einfach einbinden ließen. Seit 1892 wurde der Name des jeweiligen Rektors nach Ende seiner Amtszeit in latinisierter Form in Marmor gemeißelt. In der NS-Zeit wurde dieses Ritual nicht fortgesetzt, weshalb sowohl die letzten beiden Rektoren aus der Zeit des Austrofaschismus als auch die Rektoren der NS-Zeit nicht eingetragen wurden. Der erste Rektor der Nachkriegszeit Ludwig Adamovich verfügte bereits im Mai 1945, dass seine austrofaschistischen Vorgänger umgehend einzutragen seien, die nationalsozialistischen, da sie nicht von der Universität gewählt, sondern vom Reichserziehungsministerium Berlin ernannt worden waren, weggelassen werden könnten. Sein Nachfolger Johann Sölch entschied 1948 aus Rücksicht auf die alliierte Besatzung Österreichs, die NSRektoren – noch – nicht einzutragen, sondern zwei Zeilen für sie freizuhalten und Adamovichs Namen unterhalb dieser Leerstelle einzumeißeln.58 Ein Jahr55 AUW, RA GZ 454 ex 1944/45. 56 3. Sitzung vom 19. 5. 1945, 3, 5, und 6. Sitzung vom 9. 6. 1945, 6. AUW, Sitzungsprotokolle des Akademischen Senats, Studienjahr 1944/45. Dennoch wurde Takaharu Mitsui als Ehrenwürdenträger der Universität Wien 1965 zum 600-Jahr-Jubiläum eingeladen. AUW, S 199.10, ONr. 1, 91 – 95. 57 Ludwig Adamovich, Festrede aus Anlaß der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an zwei amerikanische Offiziere am 19. Juli 1946, in: Wiener Klinische Wochenschrift, 1946. 58 AUW, RA GZ 6 ex 1945/46 und GZ 6 ex 1947/48.
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zehnt später wurde diese sprechende Lücke auf Initiative der Vereinigung Freiheitlicher Akademiker 1959 gefüllt und die Namen der Rektoren Knoll und Pernkopf nachgetragen. Der damals amtierende Rektor Erwin Schneider reagierte auf eine Notiz in der deutschnationalen Zeitschrift Eckartbote.59 Er distanzierte sich zwar von einigen Argumenten, formulierte in seiner Entgegnung aber ausführlich, wie eine solche Forderung legitimiert werden müsse, um erfolgreich zu sein. Ein formelles Ansuchen mit genau diesen Argumenten und Formulierungen wurde von den so instruierten Antragstellern umgehend eingebracht60 – unter den Unterzeichnern exponierte Nationalsozialisten, die zu diesem Zeitpunkt schon wieder in die Gesellschaft integriert waren.61 Formal beschloss der Senat, nicht aufgrund der Forderung dieser »Kulturträger«, sondern »vollkommen getrennt von dieser Angelegenheit« am 27. Juni 1959 einstimmig, die Namen nachzutragen – in den Sommerferien, ohne Anwesenheit von Studierenden und explizit unter Vermeidung medialer Aufmerksamkeit.
3.
Von 1965 bis zu den 1980er Jahren j 600-Jahr Jubiläum – Tradition, Repräsentation und Protest
Für das große 600-Jahr-Jubiläum war die störende Leerstelle jedenfalls rechtzeitig geschlossen worden und ein potenzieller Anlass für unangenehme Fragen der Festgäste nach dem Hintergrund dieser Leerstelle beseitigt. Aufbauend auf umfassenden Vorarbeiten des Universitätsarchivs konnte sich die Universität bei den Feierlichkeiten auf viele Rituale, historische Bezüge und Traditionen stützen. Die Feierlichkeiten fügten sich gut in die auslaufende restaurative Nachkriegszeit mit Wirtschaftswunder, der These von Österreich als erstem Opfer Hitlers und dem Wunsch nach einer besseren Zukunft auf Grundlage von Kultur, Bildung und boomender Wirtschaft ein. 1951 waren schon die alten »sub auspiciis«-Promotionen wieder eingeführt worden – nunmehr unter den Auspizien des Bundespräsidenten –, gleichzeitig wurde der Universitätsbund Alma Mater Rudolphina gegründet, Gesellschaftsformen wie der Universitätsball (1966) wieder ins Leben gerufen, eine »Collatio Academica« als Mischform zwischen 59 Robert Hampel, Die Erinnerungslücke in der Aula, in: Eckartbote – Deutscher Kultur- und Schutzarbeit 7 (1959), 4, 11. 60 AUW, RA GZ 6 ex 1958/59. 61 Unter den Unterzeichnern waren der Chirurg Leopold Schönbauer, für den der »Minderbelasteten«-Paragraf im NS-Verbotsgesetz erlassen wurde und an dessen Klinik in der NSZeit Zwangssterilisationen stattfanden, der Univ.-Prof. für Leibesübungen Erwin Mehl, aber auch als Nationalsozialisten von der Universität Wien Entlassene wie Helfried Pfeifer, 1949 – 1959 Nationalratsabgeordneter von WdU/FPÖ, sowie der NS-Rektor der Technischen Hochschule, der Elektrotechniker Heinrich Sequenz.
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Alumniverband und burschenschaftlichem Altherrenbund eingeführt und begonnen 1964 kollektiv im Stephansdom am Grab des Stifters Kränze nieder zu legen. Neben diesen eher elitären Formen akademischer Öffentlichkeitsarbeit wurde von diesem Verein auch die Hochschulzeitung als Organ für die Interessen der Universitäten herausgegeben. Universitätsarchivar Franz Gall wurde zum Wissens- und Traditionszentrum der Jubiläumsfeiern. Auf seiner Arbeit bauten zahlreiche Publikationen, Aktivitäten und Ausstellungen im Jubiläumsjahr 1965 auf.62 Für diesen Anlass wurden für ein einheitliches Auftreten der Universität Wien eigens Talare für alle ProfessorInnen als neue Tradition erfunden.63 Während der öffentlichen Auftritte im Jubiläumsjahr wurden sie tatsächlich getragen, um dann vor dem Hintergrund des von Hamburg kommenden Slogans »Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren« und massiver Proteste bei der Rektorsinauguration 1968 wieder zu verschwinden, und die Rektoren- und Dekanstalare bis zum nächsten Jubiläum 1990 gleich mit.64 In Abgrenzung zu 1865 bemühte sich die Universität Wien 1965, auch die Studierenden – bzw. einen bestimmten Teil davon – in der Öffentlichkeit als Teil der Universität zu inszenieren. Das von Gall verfasste Werk zur Geschichte der Wiener Universität und ihrer Studenten65 wurde von der Österreichischen Hochschülerschaft herausgegeben und von dieser mit einem Fackelzug zur Universität dem dort – ohne Studierende – feiernden Rektor übergeben und passte sich gut in die offiziellen Feierlichkeiten ein. In seinem Werk hielt Gall ein Plädoyer für die farbentragenden und schlagenden Studentenverbindungen, boten diese doch bei den Feierlichkeiten 1965 u. a. als traditionelle Träger der Universitätsfahne66 ein korporatives und buntes Auftreten: 62 Franz Gall, 600 Jahre Universität Wien, Wien: Bundeskanzleramt/Bundespressedienst 1965; ders., Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965; ders., Die große Tat. 600 Jahre Alma Mater Rudolphina, Salzburg: Verlag Bergland 1965; ders., Die Insignien; Ders., Jubiläumsausstellung 600 Jahre Universität Wien 1365 – 1965, Wien: Universität Wien 1965 u. a. m. 63 Mario Wimmer, Unter den Talaren. Bemerkungen zur Wiedereinführung der Amtstracht (1926) und der Einführung des Professorentalars (1965) an der Universität Wien, in: Historia Magistra Vitae?, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (2005), 130. 64 Ebd., 134 – 137. Die feierliche Inauguration wurde nach Tumulten 1969 abgeschafft, hatte sie doch den Dissens über Form und Inhalt von Universität drastisch vor Augen geführt, den Funktionären der Universität selbst wie auch den hochrangigen Vertretern von Staat, Regierung, Kirche, diplomatischen Corps, die üblicherweise die Festgäste dieser Zeremonie darstellten. Eine solche Blöße wollte sich die Universität nicht mehr geben und mangels kurzfristig verfügbarer Tradition wurde schlicht der Anlass abgeschafft (vgl. die Zeitungsberichterstattung zur Rektorswahl 1969/70, u. a.: Arbeiterzeitung und Volksblatt, 11. 10. 1969; Wiener Zeitung und Die Presse, 22. 10. 1969). Erst 1992 unter Rektor Ebenbauer wurde diese wieder eingeführt. 65 Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965. 66 Gall, Die große Tat, 42.
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»Im Rektorat Wilhelm Czermak (1953) erhielten der ÖCV, die im ›Wiener Korporationsring‹ zusammengeschlossenen Waffenstudenten und der liberale ›Wiener Seniorenconvent‹ wieder das Farbenrecht auf der Universität. Chargieren wird seither auf Ansuchen bewilligt, jeden Mittwoch versammeln sich die Farbstudenten zum ›Stehbummel‹ in der Aula. […] Es war dies ein guter, ein österreichischer Weg, der die Teilnahme aller Studenten an den Jubiläumsfeierlichkeiten im Mai 1965 ermöglichte.«67
Das offizielle Jubiläumsprogramm, die Selbstinszenierung der Universität Wien im Jahr 1965 stieß in der inner- und außeruniversitären Öffentlichkeit jedoch nicht nur auf positive Resonanz, insbesondere, da hier aktuelle Streifragen, die die Universität betrafen, ausgeblendet wurden. Proteste gegen das Universitätsjubiläum äußerten sich deutlich in einer Gegenveranstaltung der ÖH »Symposium 600 – Gestaltung der Wirklichkeit«, die einen Aktualitätsbezug forcierte.68 Die Jubiläumsfeierlichkeiten der Universität Wien 1965 sowie die Proteste dagegen wurden besonders im politischen Kontext dieses Jahres gesehen. Die Wahrnehmung war besonders geschärft durch die wenige Wochen zuvor eskalierte Affäre um den offenen Antisemitismus des Professors für Wirtschaftsgeschichte Taras Borodajkewycz und den Totschlag des ehemaligen antifaschistischen Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger durch einen rechtsextremistischen Studenten der Universität Wien und Burschenschafter.69 Hans Kelsen, der aus Österreich emigrierte Autor der österreichischen Verfassung von 1920, wies daraufhin die Einladung der Universität zu den Feierlichkeiten zurück, beteiligte sich aber an einer Festschrift der Summer-School of the University of Vienna zum 600. Jubiläum. Diese stellt sich auch als eine Art Gegenfestschrift dar, besteht ihr zweiter Teil doch aus 15 autobiografischen Berichten größtenteils emigrierter Wissenschafter über ihre Zeit an Universität Wien.70 Kontroversielle Diskussion an der Universität, in den Medien und sogar im österreichischen Parlament verursachte im Jubiläumsjahr auch die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Rechtsprofessor Ernst Forsthoff,71 Autor des Buches »Der totale Staat« (1933) und ehemaliges NSDAP-Mitglied, die aber von 67 Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965, 192 68 Rudolf Augstein/Peter Pliem, (Hg.), Bericht 600. Beitrag der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien zur 600-Jahr-Feier der Alma Mater Rudolphina, Wien 1965. 69 Vgl. u. a. Heinz Fischer (Hg.), Einer im Vordergrund: Taras Borodajkewycz. Eine Dokumentation, Wien u. a. 1966; G¦rard E. Kasemir, Die Borodajkewycz-Affäre 1965. Spätes Ende für »wissenschaftlich« vorgetragenen Rassismus, phil. Dipl., Wien 1994. 70 Fünf Autoren – Albert A. Ehrenzweig, Julius Bauer, Emil Fröschels, Hans Popper und Otto Porges – waren 1938 aus »rassischen« Gründen als Lehrende von der Universität Wien entlassen worden. Norbert Tschulik (Hg.), University of Vienna 1365 – 1965 (Yearbook, Special issue published for the 600th anniversary of the foundation of the University of Vienna), Wien: Verein der Freunde der Sommerhochschule der Universität Wien 1965. 71 AUW S 199, Dekanatsakten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät (DA IUR) Cur. 393.
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der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät unter Androhung der Amtsniederlegung des Dekans trotzdem durchgesetzt wurde.72 Zehn Jahre später erweiterte die große Reform mit dem Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975 den Kreis der universitären AkteurInnen sowie die Aufgabe und gesellschaftliche Funktion der Universität grundlegend und verordnete dem Hochschulsystem und damit auch der Universität Wien demokratischere Strukturen.
4.
Von den 1980er Jahren bis heute j Verantwortung und Erinnern
Nachdem 1984 an der Universität Wien gleichzeitig zwei größere »Teiljubiläen« – 600 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät73 sowie »100 Jahre Hauptgebäude« an der prestigereichen Ringstraße74 – mit mehreren Festschriften gefeiert wurden, stand 1990 der nächste »runde« Geburtstag der Gesamtuniversität an. Das Universitätsjubiläum fand im kleinen Rahmen statt. Als UniPräsent 1990 veröffentlichte die Universität Wien vier Schriften zum Thema »625 Jahre Universität Wien«, darunter die Dokumentation der vom Universitätsarchiv gestalteten Jubiläumsausstellung Historische Spuren. Die Anfänge der Universität Wien75 sowie erstmals zentral ein Werk zur Vertreibung 1938.76 Beim offiziellen 72 Parlamentarische Anfragen vom 28. 4. 1965 (1030/M und 257/J) an Unterrichtsminister PifflPercevic wegen Verleihung des Ehrendoktorates an Ernst Forsthoff, Beantwortungen vom 6. und 8. 7. 1965 (278/AB und 281/AB). Stenographische Protokolle des Nationalrats, X. GP. Vgl. zu Forsthoff auch: Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. 73 Vgl. u. a. 600 Jahre Theologische Fakultät an der Universität Wien 1384 – 1984, hg. von der Katholisch-Theologischen Fakultät, Wien: Universitätsverlag für Wissenschaft und Forschung 1985. Auch dem 625. Universitätsjubiläum 1990 folgte traditionell 19 Jahre später jenes der Katholischen Theologie: Johann Reikerstorfer (Hg.), Vorwärtserinnerungen. 625 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, hg. von der Katholisch-Theologischen Fakultät, Göttingen: V& R unipress 2009. 74 Hermann Fillitz (Hg.), Die Universität am Ring 1884 – 1984, Wien–München: Brandstätter 1984; Günther Hamann/Kurt Mühlberger/Franz Skacel (Hg.), 100 Jahre Universität am Ring. Wissenschaft und Forschung an der Universität Wien seit 1884, Wien: Universitätsverlag 1986. 75 Pläne zur Einrichtung eines dauerhaften Universitätsmuseums, die schon in den 1980-er Jahren gestartet wurden, wurden nach dem Jubiläum wieder abgebrochen. Bis heute übernimmt das Universitätsarchiv – das seinen Sitz im Gebäude der Alten Universität hat – die Rolle als Geschichtsspeicher der Universität. 76 Historische Spuren. Die Anfänge der Universität Wien. Sonderausstellung im Senatssaal der Universität Wien 7 – 18. Mai 1990, hg. vom Archiv der Universität, Wien: Archiv der Universität Wien 1990; Kurt Mühlberger, Dokumentation »Vertriebene Intelligenz 1938«. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945, Wien:
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Festakt in Anwesenheit staatlicher Würdenträger führten am 7. Mai 1990 Proteste der Studierenden zu einer Unterbrechung, ein ad-hoc-Komitee aus Studierenden konnte die weiteren Störungen im Gegenzug für die Möglichkeit, dort öffentlich zu sprechen, aber gering halten. Viktor Frankl – Ehrendoktor der Universität Wien – wurde als Festredner geladen, Hermann Mark als Festredner in der begleitend im Rathaus stattfindenden Leistungsschau der Forschung.77 An diesen Jubiläumsfeiern wurden verschiedene gesellschaftliche Veränderungen, die auch in die Universität hineinwirkten, augenscheinlich, vor allem die bewusste Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die sich etwa in der Publikation Vertriebene Intelligenz aber auch in der Einladung der Ehrengäste Frankl und Mark – beide während des Nationalsozialismus aus Wien vertrieben – ausdrückte. Die verstärkte Beschäftigung mit der Rolle der Universität Wien in den totalitären Regimes von Austrofaschismus und Nationalsozialismus war rund um das Gedenkjahr 198878 erstmals breit thematisiert worden. Andererseits wurde bei den Feiern 1990 auch der seit den letzten großen Jubiläen veränderte Umgang mit Studierenden(-protesten) deutlich. Die Audimax-Besetzung 1987 lag zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre zurück. Als Schwerpunkte einer kritischen Gedenkkultur der Universität rückten die Themen Nationalsozialismus und Diskriminierung von Frauen erstmals in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das Konzept der »Männer in Stein und Bronze« – die Verkörperung des Heroenkults des 19. Jahrhunderts – sollte nicht mehr weitergeführt werden. So wurden im Zuge des Erwerbs des Campus der Universität Wien 1998 ephemere, weniger gegenständliche Formen gewählt, etwa die 24 Durchgänge als »Tore der Erinnerung« gewidmet.79 Explizit wurden die beiden bis dahin unterrepräsentierte Gruppen, Frauen und die im Nationalsozialismus vertriebenen Lehrenden, verstärkt in den Gedenkraum der Universität aufgenommen. Im Anschluss daran wurde das Spektrum der uni-
Archiv der Universität Wien 1990; Thomas Maisel, Kopfprojekte. Die Denkmäler im Arkadenhof der Universität Wien, Wien: Archiv der Universität Wien 1990. 77 625 Jahre Universität Wien: Mißtöne beim Festakt, Die Presse, 8. 5. 1990, 18. 78 Wichtige frühe Initiativen waren z. B. die Ringvorlesung »Die Universität Wien 1938 – 1945« (1988), vgl. Gernot Heiß u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien 1989, oder die Gedenkinschrift für den im Austrofaschismus in der Universität ermordeten Philosophen Moritz Schlick (1993), beide noch nicht gesamtuniversitäre Anliegen, sondern noch dem Engagement einzelner HistorikerInnen zu verdanken. Vgl. Philipp Selim, Wissenschaft, Philosophie und Intoleranz. Ein Gespräch mit Prof. Gernot Heiss über die Moritz-Schlick-Inschrift an der Universität Wien, in: Gedenkdienst 3 (2011), 3 – 4. URL: http://www.gedenkdienst.at/fileadmin/zeitung/gd2011-3.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015). 79 Alfred Ebenbauer/Wolfgang Greisenegger/Kurt Mühlberger (Hg.), Historie und Geist. Universitätscampus Wien, Bd. 2, Wien: Holzhausen 1988, 165 – 184.
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versitären Erinnerungsformen um die Namensgebung von Räumen und Gebäudeteilen zur Erinnerung an große WissenschafterInnen erweitert.80
Nationalsozialismus j Gedenken und Erinnerung Rund um die Jahrtausendwende kam es zunehmend zur aktiven Auseinandersetzung der Universität mit ihrer NS-Vergangenheit, wie etwa 1998 beim Senatsprojekt »Untersuchungen zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938 – 1945«81 und bei der im Arkadenhof enthüllten Gedenktafel der Medizinischen Fakultät, die erstmals neben den Lehrenden auch der Studierenden gedachte, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt, vertrieben, ermordet wurden, und erstmals explizit die Mitverantwortung der Universität benennt. Zu den Aktivitäten zählen auch mehrere wissenschaftliche Symposien, Aufarbeitungsprojekte zur Vertreibung der Studierenden und Lehrenden 1938 sowie Provenienzforschung, Lehrveranstaltungen sowie Publikationen82 und nicht zuletzt die Etablierung des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« als Koordinationsstelle von Aktivitäten zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (2006 – 2015) unter Leitung von Friedrich Stadler.83 Mit der Schenkung des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien an die Universität – als neuer Campus – ging auch das ehemalige jüdische Bethaus in den Besitz der Universität Wien über. 1903 war es nach den Plänen des Architekten Max Fleischer für PatientInnen jüdischen Glaubens errichtet worden 80 U. a. 2003 Elise Richter-Saal und 2005 Marietta Blau-Saal im Hauptgebäude sowie 2009 – 2011 Hörsäle an der Fakultät für Physik, an der Fakultät für Chemie, sowie am Institut für Astronomie. 81 Gustav Spann (Hg.), Untersuchungen zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938 – 1945. Senatsprojekt der Universität Wien. Endbericht, 2. korr. Aufl., Wien 1998. 82 Vgl. u. a. Mitchell G. Ash, Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus und danach. Aktuelle Forschungen und Projekte, CD-ROM, Wien 2003; Friedrich Stadler u. a. (Hg.), Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Lehre, Wien–New York: Springer 2004; Herbert Posch/Friedrich Stadler (Hg.), »… eines akademischen Grades unwürdig«. Nichtigerklärung von Aberkennungen akademischer Grade zur Zeit des Nationalsozialismus an der Universität Wien, Wien 2004; Herbert Posch/Doris Ingrisch/Gert Dressel, »Anschluß« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien–Münster : LIT-Verlag 2008; Grandner/Heiß/Rathkolb, Zukunft mit Altlasten; Franz Stefan Meissel/Thomas Olechowski/ Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Vertriebenes Recht – vertreibendes Recht. Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1938 – 1945, Wien: Manz 2012; Stefan Alker/Christina Köstner/Markus Stumpf (Hg.), Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Göttingen: V& R unipress 2008. 83 Katharina Kniefacz/Herbert Posch/Friedrich Stadler, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http://www.forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/ (abgerufen am 30. 1. 2015).
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und überstand auch die Reichpogromnacht 1938 trotz Schändung unzerstört. Die Bausubstanz wurde erst in der Nachkriegszeit zwecks Nutzung als Transformatorstation beschädigt.84 Die Künstlerin Minna Antova gestaltete das ehemalige Bethaus bis 2005 in einen Gedenk- und Begegnungsort DENK-MAL Marpe Lanefesch (Hebräisch: »Heilung für die Seele«) um. Die wenigen Originalbauteile wurden erhalten und renoviert, die Zerstörungen in der NS- und Nachkriegszeit als historische Nutzungsspuren und Zeitschichten lesbar gemacht, zerstörte Elemente aus Glas ergänzt.85 Der Siegfriedskopf, 1923 zur Ehrung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in der Aula der Universität aufgestellt, blieb nach 1945 eine Ikone der deutschnationalen Studentenverbindungen und wurde zum Symbol für politischen Extremismus, Faschismus und Antisemitismus. Die sich über mehrere Dekaden hinziehende Kontroverse um das Gefallenendenkmal mit mehreren »Interventionen« linker Gruppierungen führten 1990 zum Beschluss des Akademischen Senats, den »Siegfriedskopf« von seinem zentralen Standort in den Arkadenhof zu verlegen.86 Vollzogen wurde dieser aber erst im Zuge der Sanierung des Hauptgebäudes 2005/06. Die künstlerische Neukonzeption von Bele Marx und Gilles Mussard (»atelier photoglas«) erfüllte die Forderung des Bundesdenkmalamtes nach Witterungsschutz und transformierte die gläserne »Schutzhülle« gleichzeitig, um das Denkmal und seine Geschichte zu kontextualisieren und den Blick zu lenken. Die historische Aufarbeitung erfolgte am Institut für Zeitgeschichte und floss in eine neben dem Denkmal platzierte Informationsstation ein. Die Leerstelle, die der »Siegfriedskopf« in der Aula hinterließ, besetzte die Universität mit Statements, für die sie heute steht: Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, »Für die Freiheit der Wissenschaften und die Achtung der Menschenrechte« und »gegen Krieg und Gewalt«. Ein Bekenntnis zur Mitverantwortung der Universität ist diesem Text jedoch nicht zu entnehmen. Im Zuge der Umgestaltung der Aula wurde 2006 auch die von denselben KünstlerInnen gestaltete Installation Nobelpreis und Universität – ein Gruppenbild mit Fragezeichen87 eröffnet, in dem die neun Nobelpreisträger präsen84 Ines Müller, Die ehemalige Synagoge im alten Allgemeinen Krankenhaus in Wien – Ein trauriger 100. Jahrestag, in: Wiener Klinische Wochenschrift 116 (2004), 55 – 60. 85 Herbert Posch, Kunst & Zeitgeschichte j Erinnerung – Gedenken – Universität, in: Linda Erker u. a. (Hg.), Update! Perspektiven der Zeitgeschichte, Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck u. Wien: Studienverlag 2012, 708 – 733, 721 – 723. 86 Davy/Vasˇek, »Siegfried-Kopf«. 87 Eine leere Glasstele mit Fragezeichen steht ebenso stellvertretend für alle WissenschafterInnen, deren Forschungen an der Universität Wien durch die Vertreibung im Nationalsozialismus unterbrochen wurden, aber auch als Verkörperung dieser Leerstelle, die bis in die Gegenwart reicht. Vgl. Pressetext, atelier photoglas, URL: http://www.photoglas.com/ upload/bildordnernobelpreis/presse.pdf (abgerufen am 30. 1. 2015).
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tiert werden, mit denen die Universität durch Forschung oder Lehre verbunden war. Wenn im allgemeinen die nachträgliche Vereinnahmung von NobelpreisträgerInnen zu problematisieren ist – der Preis wird für herausragende wissenschaftliche Leistungen vergeben, nicht für die Institution, an der die Personen zum Zeitpunkt der Leistung oder Auszeichnung tätig war – sind jene neun Wissenschafter besonders auch im Kontext des Nationalsozialismus zu thematisieren. So finden sich darunter neben einem großen Anteil von Vertriebenen wie z. B. Erwin Schrödinger mit Julius Wagner-Jauregg und Konrad Lorenz auch zwei Preisträger, die in den Nationalsozialismus involviert waren, worauf ein begleitender Text kurz eingeht.88 Neben diesen gesamtuniversitären gedenk- und erinnerungspolitischen Setzungen fallen in diese Zeit auch Projekte einzelner Disziplinen wie das dezentral organisierte »Denkmal für Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien 1933/34 j 1938 j 1945« (2008). Dazu wurden mit Studierenden der Kunstgeschichte zwei Ausstellungen über die weiteren Lebenswege der Vertriebenen erarbeitet.89 Als Neuerung sind im Kontext Gedenken aber auch virtuelle Formen zu nennen, wie das Online-Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, das seit 2009 als »work in progress« im Internet präsentiert und laufend ausgebaut wird.90
Frauen in der Wissenschaft und in der Gedenkkultur der Universität Wien Unter den schon angesprochenen 154 Denkmälern, mit denen die Universität Wien im Arkadenhof an herausragende Persönlichkeiten erinnert, befindet sich nur eine einzige Ehrentafel für eine Frau, jene für Marie von Ebner-Eschenbach (1925 errichtet), die weder hier studiert noch gelehrt, aber 1900 als erste Frau ein Ehrendoktorat erhalten hatte. Dieser Umstand wurde seit vielen Jahren kritisch 88 Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Nobelpreisträger im Zwielicht. Zur historisch-politischen Beurteilung von Julius Wagner-Jauregg (1857 – 1940), in: Erinnerungskultur. Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 2006; Benedikt Föger/Klaus Taschwer, Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, Wien: Czernin 2001. 89 Posch, Kunst & Zeitgeschichte, 726 – 728; Catharina Kahane/Nina Schedlmayer, »Ausgegrenzt – Vertrieben – Ermordet«. Das Wiener Institut für Kunstgeschichte gedenkt der Opfer des Austrofaschismus und Nationalsozialismus, in: Kunstgeschichte aktuell 25 (2008), 3; Wiener Kunstgeschichte gesichtet, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, 2008/ 2010, URL: http://www.univie.ac.at/geschichtegesichtet/ (abgerufen am 30. 1. 2015). 90 Herbert Posch/Katharina Kniefacz, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, URL: http:// gedenkbuch.univie.ac.at (abgerufen am 30. 1. 2015).
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reflektiert, aber nicht verändert. Sowohl WissenschafterInnen als auch Studierende haben immer wieder Initiativen gestartet und interventionistisch darauf aufmerksam gemacht.91 2007 wurde die Wanderausstellung Frauen Leben Wissenschaft. 110 Jahre Wissenschafterinnen an der Universität Wien im Arkadenhof gezeigt, in der das Referat Frauenforschung und Gleichstellung anhand historischer Informationen wie auch mit exemplarischen Biografien den Weg von Wissenschafterinnen vom Studium bis zur Professur thematisierte.92 Die Universität Wien schrieb 2008 gemeinsam mit der Bundesimmobiliengesellschaft einen geladenen künstlerischen Wettbewerb für ein entsprechendes Denkmal aus. Das prämierte Projekt von Iris Andraschek wurde 2009 umgesetzt und war als erinnerungspolitischer Schlussstein in den Arkadenhof geplant. Ausgehend von der Basis der Statue der Nymphe Kastalia konzipierte die Künstlerin eine in den Boden eingelegte, fast 30 Meter große Schattensilhouette einer weiblichen Figur in kämpferischer Haltung, als unübersehbares Zeichen der Präsenz von Frauen in der Wissenschaft und der versäumten öffentlichen Anerkennung. Sowohl der Entwurf der Schattenfigur, als auch die Entwicklung der begleitenden Inschrift erfolgte in einem partizipativen Prozess, zu dessen Beteiligung alle Universitätsangehörigen eingeladen wurden.93 2010 setzte sich eine wissenschaftliche Tagung mit den universitären Leistungen von Frauen und dem Denkmal auseinander.94 Für 2015 ist eine temporäre Kunstinstallation »radical busts« geplant – ohne näheren Bezug zum Denkmal und nur losen Bezügen zur Universität Wien –, 91 So initiierten Studierende ungenehmigt 1991/92 die Anbringung von Klebeetiketten mit den Aufschriften »Hier ist ein Mann zuviel«, sowie »… und eine Frau zuwenig!« und 2003 die Ergänzung einzelner gegenderter Attribute wie geschminkter Mund oder Perücken und das Anbringen von Schildern wie »Ehefrau von …«, »Haushälterin von …« »Mitarbeiterin von …«. Ebenfalls 2003 wurde ein künstlerischer Wettbewerb unter Studierenden der Akademie der Bildenden Künste ausgeschrieben mit dem Angebot, in den Arkadenhof Interventionen zu setzen. Das Projekt von Frank Gassner wurde zwar prämiert, aber nicht umgesetzt: Er plante durch Anbringung von Fotografien männlicher Geschlechtsteile bei den 153 Büsten von Männern deren Geschlechtlichkeit biologisch explizit sichtbar zu machen. Von der Universität genehmigt wurde auch die temporäre Aufstellung der Büste Anonymisierte Wissenschafterinnen 1700 – 2005 von Elisabeth Penker 2005/06. Die Bronzebüste sollte als Kollektivdenkmal dienen und auf strukturelle Bedingungen hinweisen. Vgl. Posch, Kunst & Zeitgeschichte. 92 Sylwia Bukowska (Hg.), Frauen – Leben – Wissenschaft. 110 Jahre Wissenschafterinnen an der Universität Wien (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), Wien: Universität Wien 2007, URL: http://personalwesen.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/personalwesen/pers_frau en/virtuelle-ausstellung/ (abgerufen am 30. 1. 2015), 2. 93 Der Muse reicht’s j The Muse has had it. Iris Andraschek, Universität Wien, Arkadenhof, hg. von der Bundesimmobiliengesellschaft, Wien 2009, URL: http://www.dermusereichts.at (abgerufen am 30. 1. 2015). 94 Tagung Geschlecht und Wissenschaft, 17.–19. 6. 2010, Universität Wien, URL: http://www. forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/events/2010-gendertagung/ (abgerufen am 30. 1. 2015).
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sowie ein abschließendes Symposium »Representation – Revisited« zu Relevanz und Aktualität feministischer Repräsentationsdiskurse im Kontext von Wissenschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus laufen Planungen zur permanenten Errichtung von sechs Büsten von Wissenschafterinnen im Bereich von Arkadenhof, Aula und Seitenaulen.
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Status quo – ein kritischer Blick
Erst seit 2012 – rund 130 Jahre nach Eröffnung – hat das Hauptgebäude der Universität Wien auch die Adresse »Universitätsring«, wofür sie sich in den letzten Jahren stark eingesetzt hat. Ursprünglich errichtet am »Franzensring« – benannt nach Kaiser Franz I., dem Begründer der österreichischen Erbmonarchie – änderte sich die Anschrift 1919 in »Ring-des-12.–November« zur Erinnerung an den Tag der Ausrufung der Republik. Seit dem Austrofaschismus lag die Universität am »Dr.-Karl-Lueger-Ring«, 1934 gewidmet dem antisemitischen und antiintellektuellen Gründer der Christlichsozialen Partei, Bürgermeister Karl Lueger. Diese Benennung war dann ebenso NS-tauglich und wurde auch in der Zweiten Republik nicht zurückgenommen. Ab den 1980er Jahren, als mit dem Bundespräsidentschaftswahlkampf von Kurt Waldheim die These von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus gesamtgesellschaftlich nicht mehr haltbar war, versuchten nun Studierende, einzelne UniversitätsvertreterInnen bzw. die Zivilgesellschaft immer wieder eine Umbenennung anzuregen. Der Name Luegers, von Adolf Hitler in Mein Kampf als »gewaltigster Deutscher Bürgermeister aller Zeiten« gewürdigt, wurde zunehmend als unpassend empfunden. Es dauerte aber noch Jahrzehnte, ehe der Wiener Gemeinderat 2012 die Umbenennung in Universitätsring beschloss – als Beitrag der Stadt Wien zum kommenden 650. Gründungsjubiläum der Universität. Die universitäre Memorial- und Festkultur erscheint mit Blick auf das »lange 20. Jahrhundert« weniger eine »Konstante der gegenwärtigen Universität« zu sein als vielmehr ein stetiger Wandel, ein Verwerfen und wieder Neu-Erinnern. Ältere Formen werden oft auch trotz Bedeutungsverlust fortgeführt. Die Verbundenheit mit der Monarchie als ursprünglicher Förderer der Universität hat bis heute sichtbare Spuren hinterlassen und ist symbolisch den zentralen Räumen, Zeremonien und AkteurInnen eingeschrieben: Die überlebensgroße Statue Franz Josephs I. – als einst oberster Gerichtsherr – thront bis heute über der »Juristenstiege« des Hauptgebäudes, sein Bild hängt eingeprägt in die Rektorsund Dekansketten am Hals der universitären AmtsträgerInnen. Seine Initialen zieren noch heute die Decke des repräsentativen großen Festsaals, in dem die Statuen von Rudolf IV. und Maria Theresia die Rednerkanzel einrahmen. Obwohl der Souverän seit 1918 mehrfach wechselte, haben keine neuen Symbole
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diesen Platz eingenommen oder sich dazugesellt (sieht man von den ephemeren Fahnen der Republik Österreich und der EU ab). Das AudiMax der Universität Wien wurde nach Entfernung des Hakenkreuzadlers 1945 – dieser hatte sieben Jahre zuvor Kruzifix und austrofaschistischen Doppeladler ersetzt – nicht mehr von »oben« mit politischen Symbolen besetzt. Im späten 20. Jahrhundert entfaltete gerade dieser Raum aber als Ort studentischer Proteste – Besetzungen 1987, 1992, 1996, 2000 und zuletzt monatelang 2009 – eine widerständige Symbolkraft bzw. wurde sogar namensgebend für die Protestkultur des »Audimaxismus«.95 Ein wichtiges Anliegen des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« ist es, die Reflexion des gegenwärtigen Standes der Memorialkultur konsequent weiterzuführen, bereits existierende Gedenkformen (bzw. die darin geehrten Personen) kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu kontextualisieren bzw. zu kommentieren sowie zu versuchen, neue zeitgemäße Formen für zukünftige Ehrungen zu finden. Auch in Bezug auf das diesjährige 650. Jubiläum werden die Selbstinszenierungen (Repräsentation des kollektiven Gedächtnisses) der Universität Wien zu untersuchen sein. Welche Phasen der Universitätsgeschichte in Zukunft identitätsstiftend sein werden, aber auch wie sich die größte organisatorische Veränderung des noch jungen 21. Jahrhunderts – die Ausgliederung der einstigen Medizinischen Fakultät in einer eigenen Medizinischen Universität – langfristig auf die universitären Kulturen auswirken wird, ist derzeit noch eine offene Frage.
95 Stefan Heissenberger u. a. (Hg.), Uni brennt. Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches, Wien–Berlin: Turia+Kant 2010. »Audimaxismus« wurde 2009 zum österreichischen Wort des Jahres gewählt. Der Standard, 10. 12. 2009, URL http://derstandard.at/1259281595757 (abgerufen am 30. 1. 2015).
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Hans-Joachim Dahms und Friedrich Stadler: Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart. Seit Gründung der Universität Wien existierte als Vorläuferin der Philosophischen Fakultät eine »Artistische Facultät«, aber nur in Ansätzen ein eigenes Fach Philosophie. Das änderte sich seit den Reformen in der Folge von 1848: die Philosophie professionalisierte sich bis hin zur Möglichkeit der Erlangung eines Doktorats 1872 und der Habilitation für Nachwuchskräfte und profitierte zudem von der eingeführten Freiheit von Forschung und Lehre. Von ihrer wechselvollen Geschichte in diesem »langen Jahrhundert« von 1848 bis zur Gegenwart können hier nur die Langzeitentwicklungen angedeutet werden: 1) die Ausdifferenzierung des Faches, die zur allmählichen Abspaltung der Pädagogik und Psychologie führte, 2) die Veränderungen des Selbstverständnisses der Disziplin, die nicht immer mit den Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft Schritt hielten. 3) die Verflechtungen der Philosophie mit der politischen und gesellschaftlichen Umgebung, die vielfache personelle, organisatorische und auch inhaltliche Umbrüche erzeugten. Es brauchte diesen langen Zeitraum, bis die Philosophie bei dem Selbstverständnis ankam, das wir heute vorfinden: eine wissenschaftliche Disziplin unter vielen zu sein.
Irene Ranzmaier: Die Philosophische Fakultät um 1900. Die Verhandlungen der Professoren der Wiener Philosophischen Fakultät über Berufungsangelegenheiten und über die Entwicklung der Disziplinen waren um 1900 vor allem durch die limitierte Zuteilung finanzieller Mittel geprägt. Trotz
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der schwierigen Voraussetzungen kam es zwar kaum zu Konflikten an der Fakultät, doch der geringe Spielraum hemmte die Etablierung neuer Fächer und die personelle Erneuerung. Das hauptsächliche Interesse der Regierung galt der Ausbildung von Gymnasiallehrern, während die Funktion der Fakultät als Forschungsinstitution eine untergeordnete Rolle spielte. The Viennese Philosophical Faculty’s ability to purposefully plan the development of disciplines and to name suitable candidates for chairs was sharply limited around 1900 by lack of government funding. The shortage of resources did not lead to conflict among the professors, though it hemmed the Faculty’s ability to establish new fields or new disciplines. Little support for scientific research was forthcoming since the government considered the training of school teachers to be the Faculty’s most important task. Keywords: Philosophische Fakultät, Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Etablierung und Innendifferenzierung von Disziplinen. Philosophical Faculty, humanities, sciences, establishment and differentiation of disciplines.
Wolfgang L. Reiter: Institution und Forschung: Physik im Wandel 1850 – 1900 – eine kaleidoskopische Annäherung. Im Zuge der Thun-Hohenstein’schen Reform der höheren Bildung erfolgte mit der Gründung des Physikalischen Instituts, zu dessen erstem Direktor Christian Doppler ernannt wurde, der entscheidende Schritt einer erfolgreichen Entwicklung der Physik an der Universität Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die physikalische Forschung der Zeit von 1850 bis 1900 sowie die mit den prägenden Persönlichkeiten verbundenen disziplinären Entwicklungen in den Naturwissenschaften werden hier an Beispielen der Schnittflächen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und institutioneller Innovationen beschrieben. The Thun-Hohenstein Reform of higher education resulted among others in the foundation of the Physikalisches Institut in 1850, the decisive step in fostering the further development of physics at the University of Vienna. This development is signified by outstanding personalities in the natural sciences, among them Christian Doppler, Ernst Mach, Josef Stefan, Josef Loschmidt, Franz S. Exner and Ludwig Boltzmann. These men of science between 1850 and 1900 (no
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women at that time!) not only contributed important results to contemporary science but had been active innovators regarding the institutional setup of the natural sciences in the second half of the 19th century. Keywords: Ludwig Boltzmann, Andreas Baumgartner, Ernst Wilhelm von Brücke, Andreas Ettingshausen, Josef Loschmidt, Ernst Mach, Johann Gregor Mendel, Josef Petzval, Josef Stefan, Eduard Suess, Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnatismus, Dopplerprinzip, Doppler-Petzval-Kontroverse, K. k. Geologische Reichsanstalt, Geschichte der Physik, Physiologie, Polytechnisches Institut, Thun-Hohenstein’sche Reform der höheren Bildung, Wiener Akademie der Wissenschaften. Ludwig Boltzmann, Andreas Baumgartner, Ernst Wilhelm von Brücke, Andreas Ettingshausen, Josef Loschmidt, Johann Gregor Mendel, Ernst Mach, Josef Petzval, Josef Stefan, Eduard Suess, Meteorological Service, Doppler’s principle, Doppler-Petzval controversy, Geological Survey, history of physics, physiology, Polytechnical Institute, Thun-Hohenstein Reform of higher education, Vienna Academy of the Sciences.
Thomas König: Aufsteigen, Verdrängen, Nachholen: Sozialwissenschaft(en) an der Universität Wien. In dem vorliegenden Text wird beleuchtet, wie das uneinheitliche Disziplinenbündel der Sozialwissenschaften an der Universität Wien zunächst rasch Fuß gefasst hat, dann über mehrere Jahrzehnte faktisch ausgeschlossen wurde, und erst spät wiederangesiedelt werden konnte. This contribution looks at the difficult process of institutionalization of the heterogeneous assembly of disciplines commonly referred to as social sciences at the University of Vienna, which, for a long period, rested adverse to this sort of innovation. Keywords: Geschichte der Sozialwissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaft, Staatswissenschaft, politische Ökonomie, Wirtschaftswissenschaft. history of social sciences, sociology, political science, political economy, economics.
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Thomas Olechowski: Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der rechts- und staatswissenschaftlichen Disziplinen. Der Artikel behandelt die Entwicklung der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, die bis zur Gründung der Universität Wien 1365 zurückreicht, an der zunächst aber nur das kanonische und das römische Recht gelehrt wurden. Seit Maria Theresia wurde die Zahl der Disziplinen beständig vermehrt, und es entstand ein breites Spektrum an juristischen wie auch nichtjuristischen Disziplinen: Strafrecht, Zivilrecht, Prozessrecht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Steuerrecht, Handels- bzw. Unternehmensrecht, Arbeits- und Sozialrecht sowie Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, aber auch Wirtschaftswissenschaften, Statistik, Finanzwissenschaften, Rechnungslegung, Kriminologie, Soziologie und viele andere Fächer sind hier zu nennen. 1975 wurde die Fakultät geteilt; weitere Teilungen folgten. Heute stehen sowohl die Rechtswissenschaftliche Fakultät als auch die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, die Fakultät für Informatik und Teile der Fakultät für Sozialwissenschaften in der Tradition der ehemaligen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. The article deals with the development of the Viennese Faculty of Law, where canon and Roman law were taught from the Middle Ages onward. Beginning with the age of Maria Theresia, the number of subjects was gradually increased, and there was a wide range of legal as well as of non-legal disciplines: criminal law, civil law, procedural law, constitutional and administrative law, international law, tax law, business law, labour law and law of social security as well as legal history and legal philosophy, but also economics, statistics, public finance, accounting, criminology, sociology and many others, together forming what was known as the Faculty for Law and State. In 1975, the faculty was divided; other divisions followed. Today, there are the Faculty of Law, the Faculty for Business, Economics and Statistics, the Faculty of Computer Science and also some parts of the Faculty of Social Sciences, which are all successors of the former Faculty of Law and State. Keywords: Arbeitsrecht, Finanzwissenschaften, Kanonisches Recht, Kriminologie, Prozessrecht, Rechnungslegung, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Römisches Recht, Sozialrecht, Soziologie, Statistik, Steuerrecht, Strafrecht, Unternehmensrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Wirtschaftswissenschaften, Zivilrecht.
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labour law, public finance, canon law, criminology, procedural law, accounting, legal history, legal philosophy, roman law, law of social security, sociology, statistics, tax law, criminal law, business law, constitutional law, administrative law, international law, economics, civil law.
Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp: Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft. Mit dem Konzept der modernen Wissensgesellschaft (knowledge society) wird gewöhnlich eine zunehmende Ökonomisierung, Utilitarisierung und Kontextualisierung von Wissen verbunden. Hierdurch scheint die traditionelle Rolle von Universität mit ihren Idealen einer zweckfreien und selbstbestimmten Bildung und Forschung in Frage gestellt. Diese Auffassung soll in einem zweifachen Sinne kritisch beleuchtet werden: Zum einen wird vor dem Hintergrund einer Geschichte und Theorie der Wissensgesellschaft seit Beginn der Neuzeit die Funktion europäischer Universitäten auf dem Markt der konkurrierenden wissenschaftlichen Institutionen neu bestimmt. Die Periodisierung der modernen Wissensgesellschaft mit ihrer Fokussierung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erweist sich hierbei als ebenso wenig haltbar wie der noch immer vorherrschende wissenschaftliche Monopolanspruch der Universität. Zum Zweiten wird mit Blick auf die Wiener Universität und unter Rückgriff auf Konzepte der Wissensgesellschaft das dominierende universitäre Selbstbild als Humboltsches Modell problematisiert: Universitäre Ideale wie wissenschaftliche Einheit und Freiheit sind unter instrumentellen und historischen Bedingungen entstanden, die der modernen Wissensgesellschaft überraschend ähnlich sehen. The concept of knowledge society is usually related to an economization, utilization and contextualization of science and knowledge. Through this the traditional role of university with the ideals of free and pure research and education seems to be called into question. In the following this opinion will be critically discussed from two different points of view. Firstly the function of European university as agent in a competitive trans-institutional knowledge market since early modern times will be reassessed, with two main conclusions: The knowledge society is not an exclusive phenomenon of the second half of the 20th Century but was rather a continuous aspect of the evolvement of modern science. The same applies to the alleged monopoly position of academic knowledge. Secondly, referring to key concepts of the knowledge society and with the view to historical episodes of the Vienna University the still dominating academic self-
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image as »Humboldt University« will be criticized: Academic principles and values as scientific unity and autonomy resulted from historical and instrumental conditions, which were not only different from the common humboldtian narrative but also quite similar to our experiences with the present conditions of knowledge society. Keywords: Wissensgesellschaft, Humboldt Mythos, Kollegiengeld, Ökonomisierung, Lehrund Lernfreiheit, Autonomie, »unternehmerische Universität«, Einheit der Wissenschaft, Wissenschaftliche Revolutionen, Aufklärung, Gelehrtenrepublik, Universität Wien, Informationsgesellschaft, reine Forschung, Peter Burke, Leo von Thun-Hohenstein, Edgar Zilsel, Lorenz von Stein. Knowledge society, Humboldt myth, lecture-fee, economisation, freedom of teaching and learning, autonomy, academic capitalism, unity of science, scientific revolutions, enlightenment, »republic of the scholars«, Vienna University, information society, pure research, Peter Burke, Leo von Thun-Hohenstein, Edgar Zilsel, Lorenz von Stein.
Petra Svatek: Raumforschung an der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Kontinuitäten und Wandlungen einer multidisziplinären und politisch orientierten Forschungsrichtung. Nach den ersten bescheidenen Anfängen am Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Raumforschung an der Universität Wien ab der Gründung der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (1931) einen Aufschwung. Während der NSHerrschaft erfolgte nicht nur ein Bedeutungsgewinn der Raumforschung, sondern es kam auch zu neuen thematischen Schwerpunkten, zu einer noch intensiveren Verbindung zwischen Raumforschung und Politik sowie zur Etablierung neuer Netzwerke. Die aufgezeigten Beispiele verdeutlichen, dass Wissenschaftler der Universität Wien auf jeden Fall einen Beitrag zum Kernprojekt der Nationalsozialisten, der Erringung der Herrschaft in Europa, geleistet hatten. Dabei können sie als bewusst handelnde Subjekte angesehen werden, die auch freiwillig ihre Forschungsergebnisse den nationalsozialistischen Politikern ohne Aufforderungen zur Verfügung gestellt hatten. In den ersten Nachkriegsjahren wurde diese Verbindung zwischen WissenschaftlerInnen der Universität Wien und der Politik unter anderen politischen Rahmenbedingungen fortgesetzt, und die Raumforschung erlebte bereits 1946 abermals einen Aufschwung.
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After the first modest beginnings at the start of the 20th century, spatial research experienced an upswing at the University of Vienna, especially after the foundation of the »South-East German Research Association« (1931). Developments under the National Socialist regime included an intensification of the linkage between spatial research and politics, the formation of new thematic focuses, and the establishment of new collaborative networks. The described examples show that scientists at the University of Vienna explicitly supported one of the central projects of National Socialism – the military domination of Europe. Thus they can be viewed as consciously acting subjects who submitted their research findings to National Socialist politicians of their own accord, without having been constrained in any way to do so. In the early post-war years, this affiliation between scientists at the University of Vienna and politics was continued within other political conditions, and spatial research already showed an improvement in 1946. Keywords: Raumforschung, Hugo Hassinger, Multidisziplinarität, Verbindung Wissenschaft und Politik. Spatial Research, Hugo Hassinger, Multidisciplinarity, connecting science and politics.
Johannes Feichtinger: Die verletzte Autonomie. Wissenschaft und ihre Struktur in Wien 1848 bis 1938. In diesem Kapitel werden im Überblick Wissenschaft und Forschung analysiert, wie sie zwischen 1848 und 1938 an der Universität Wien praktiziert wurden. Ausgehend von ihren hervorragendsten Vertretern werden Wechselwirkungen zwischen der Autonomiefrage – Wissenschaftsfreiheit und Selbstverwaltung – und einer innovativen Wissenschaftspraxis untersucht. Die These lautet: Freie Forschung war eine wesentliche Voraussetzung für den wissenschaftlichen Fortschritt, die universitäre Selbstverwaltung aber nicht hinreichend für eine voraussetzungslose, zukunftsweisende Wissenschaft. Oder in anderen Worten: Die verletzte Autonomie – Selbstverwaltung mit eingeschränkter Wissenschaftsfreiheit – war für die Wandlungsprozesse in den Wissenschaftsauffassungen sowie für die nach 1918 zunehmend außeruniversitäre Verortung der innovativen Forschung in Wien bestimmend. This chapter provides an overview of science and research as they were practiced between 1848 and 1938 at the University of Vienna. Starting from its most
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outstanding representatives, interaction effects are investigated between the question of autonomy – academic freedom and self-administration – and an innovative academic praxis. The thesis is as follows: Autonomy is needed to realize progress, self-administration however did not at all entail progressive research without presuppositions. Or in other words: The infringed autonomy – self-administration with reduced academic freedom – strongly determined both the processes of change in the conceptions of science and the relocation of innovative research increasingly in non-university contexts. Keywords: Universität Wien und außeruniversitäre Wissenschaftskultur, Autonomie, Verletzte Autonomie, Wissenschaftsstile (Objektivismus, Positivismus, Wissenschaftliche Weltauffassung), Ernst Mach, Psychoanalyse/Freud, Nationalökonomie/Mises, Hayek und Morgenstern, Psychologische Schulen/Bühler und Adler, Reine Rechtslehre/Kelsen, Wiener Kreis/Schlick, Carnap und Neurath, Wittgenstein. University of Vienna and the non-university Academic Culture, Autonomy, Infringed Autonomy, Styles of Scholarship and Science (Objectivism, Positivism, Scientific World-Conception), Ernst Mach, Psychoanalysis/Freud, Economics/Mises, Hayek and Morgenstern, Schools of Psychology/Bühler und Adler, Pure Theory of Law/Kelsen, Vienna Circle/Schlick, Carnap and Neurath, Wittgenstein.
Christian H. Stifter: Universität, Volksbildung und Moderne – die »Wiener Richtung« wissenschaftsorientierter Bildungsarbeit. Der Beitrag umfasst die ideen- und institutionsgeschichtlichen Entwicklungsund Veränderungsprozesse wissenchaftsorientierter Volks- bzw. Erwachsenenbildung in Österreich im Zeitraum von 1890 bis zur Gegenwart. Der Fokus liegt dabei auf der Institution der sogenannten »University Extension« und deren Verhältnis zur Ausbreitung der Volkshochschulen zur Zeit der Habsburgermonarchie und Ersten Republik. The article deals with processes of development and change in the history of ideas and of institutions in science-based popular adult education in Austria from 1890 up to the present. The focus is on what is called »university extension« and its relation to the spread of adult education centres at the time of the Habsburg Monarchy and the First Republic.
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Keywords: University Extension, Volksbildung, Volkshochschule, populäre Wissenschaft, Wissenschaftspopularisierung. University Extension, popular universities, popular science, adult education, popularization of science.
Katharina Kniefacz und Herbert Posch: Akademische Grade und Berufsberechtigung – Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung an der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert«. An das Spannungsverhältnis von Bildung und berufsorienterter Ausbildung – als traditionelle Kernfunktionen der Universität – knüpft sich ein breites Spektrum an Fragen. Der Beitrag legt den Fokus auf zwei ausgewählte Aspekte: Das staatlich geschützte Graduierungsrecht als autonomes Recht der Universitäten und andererseits das damit verbundene Berechtigungswesen für akademische Berufe, das sich im Kontext von Verwissenschaftlichung und Professionalisierung etablierte und eng an Überfüllungs- und Konkurrenzdebatten des Arbeitsmarkts gekoppelt ist. Die Entwicklung beider Aspekte wird im historischen Längsschnitt über das »lange 20. Jahrhundert« betrachtet– von den ThunHohenstein’schen Reformen ab 1849 bis zum aktuellen »Bologna-Prozess«. A wide range of questions is linked to the tension between education and professional training – as the traditional core functions of the university. This paper focuses on two specific aspects, first the state-protected right to award graduations as an autonomous right of universities and second the associated authorization system for academic professions, established in the context of scientification and professionalization and closely related to debates of overcrowding and competition in the labor market. Both aspects are discussed in a longitudinal perspective on the »long 20th century« – from the reforms under Thun-Hohenstein from 1849 on, that resulted in an integration of research into teaching and their precursors to currently important »Bologna process«. Keywords: Bildung, Ausbildung, Forschung, Lehre, Studium, Universität Wien, Doktorat, Graduierung, Promotionsrecht, österreichische Geschichte, Professionalisierung, Verwissenschaftlichung, Berufsberechtigung, Berufsverbände, Ökonomie, Leo Thun-Hohenstein, Wilhelm von Humboldt, Universitätsgesetze, Demokratie.
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Education, training, research, teaching, university studies, University of Vienna, Ph.D, doctorate, graduation, Austrian history, professionalization, scientification, professional qualification, professional associations, economics, Leo Thun-Hohenstein, Wilhelm von Humboldt, University laws, democracy, third mission.
Doris Ingrisch: Gender-Dimensionen. Der Beitrag zeichnet skizzenartig die historischen, strukturellen, epistemischen, hochschulpolitischen und symbolischen Ebenen nach, in denen sich die Gender Dimensionen an der Universität Wien manifestieren. Die von einer adäquaten Beteiligung von Frauen wie von feministischer Wissenschaft bzw. Gender Studies, Queer Studies, Men’s Studies etc. ausgehenden gesellschafts- und wissenschaftskritischen Impulse sind für eine grundlegende Demokratisierung wie für einen zeitgemäßen state of the art von Wissenschaft heute unverzichtbar. Wissenspraxen, -kulturen und Episteme gender- bzw. diversitysensibler Forschung und Lehre bieten ein innovatives und zukunftsweisendes Potential, mit dem im 21. Jahrhundert umzugehen eine Herausforderung und Chance für die Universität liegt. The article outlines the historical, structural, epistemic, university-political and symbolic levels at which gender dimensions manifest at the University of Vienna. Impulses critical of society and science that take an adequate involvement of women, as well as of feminist science and gender studies, queer studies, men’s studies etc. as a starting point, are indispensable for fundamental democratization and for a contemporary scientific state of the art. Scientific practices and cultures, as well as epistemes of gender- and diversity-sensitive research and teaching offer innovative and future-oriented potential. Handling this potential in the 21st century presents challenges, but also opportunities for the university. Keywords: Gender, Universität (Wien), feministische Wissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsforschung, Epistemologie, Wissenskategorien, Wissenspraxen, Wissenskulturen, Gender Studies, Men’s Studies, Queer Studies. Gender, University (of Vienna), feminist science, history of science, scientific research, epistemology, knowledge categories, knowledge, practices, knowledge cultures, Gender Studies, Men’s Studies, Queer Studies.
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Karl Anton Fröschl: Scientia digitalis. Exemplarische Skizzen zur Informatisierung der Wissenschaften an der Universität Wien. Elektronische Digitalrechner und computerisierte Forschungsmethodologien haben seit dem Zweiten Weltkrieg so gut wie alle Wissenschaftsfelder und -disziplinen durchdrungen. Dieser Beitrag untersucht anhand zweier ausgewählter Beispiele früher Computeranwendungen – Medizinische Informatik und Historische Familienforschung – die Effekte der »Informatisierung« im spezifischen Kontext der Universität Wien. Digital computers and computational methodologies have penetrated virtually every science or scholarly endeavour since World War II. This chapter comprises two micro-studies sketching the introduction of digital computing into selected fields of science and humanities at the University of Vienna: medical informatics and historical family research. In doing so, a first step in exploring the advent of electronic data processing and its particular effects on academic disciplines at this university is undertaken. Keywords: Informatisierung, Medizinische Informatik, Historische Familienforschung, Fallstudien zur Computerisierung an der Universität Wien. digital computers in science and humanities, medical informatics, historical family research, case studies of early computing at the University of Vienna.
Katharina Kniefacz und Herbert Posch: Selbstdarstellung mit Geschichte. Traditionen, Memorial- und Jubiläumskultur der Universität Wien. Die Universität Wien greift in ihrer Repräsentation bis heute auf zahlreiche alte Symbole, akademische Rituale und Traditionen zurück, um sich in der Gegenwart mächtig und würdig, erkennbar und unterscheidbar zu machen. Dieser Beitrag stellt dar, wie sich alte und neue Symbole, Bräuche und Feiern sowie die Jubiläums-, Gedenk- und Erinnerungskultur der Universität Wien im Laufe des »langen 20. Jahrhunderts« – mit allen Brüchen und Kontinuitäten – veränderten und/oder erhielten. Die bisherigen Jubiläen werden im Hinblick auf Impulse für die Universitätsgeschichtsforschung aber auch die Selbstinszenierung und Traditionsbildung der Universität analysiert, sowie deren Verhältnis zur Öffentlichkeit und Fragen der Inklusion/Exklusion von Personengruppen in/aus der Memorialkultur bearbeitet.
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Today the University of Vienna refers to numerous ancient symbols and academic rituals to symbolize seniority, power and dignity and to be distinct and unique. The article describes how these symbols, customs and celebrations (some from earlier centuries, some re-invented and/or newly created) and the anniversary, memorial and commemorative culture of the University of Vienna was modified and / or received during the »long 20th century« – including all the breaks and continuities. Particularly looking at University’s jubilees the article deals with the self-promotion and tradition-building of the university. Last but not least we thematize the University’s relation to the public and the question of inclusion / exclusion of people within / from of the memorial culture. Keywords: Universität Wien, Jubiläum, Jubiläumsfeiern, Anniversarium, Memorialkultur, Gedenken, Gedenkkultur, Denkmäler, akademische Feiern, Dies Academicus, Universitätsgeschichtsschreibung, Universitätsgeschichte, Insignien, Rituale, Ehrungen, Ehrendoktor, Tradition. University of Vienna, Anniversary, jubilee, memorial culture, commemoration, commemorative culture, monuments, academic celebrations, Dies Academicus, historiography of University, History of University, insignia, rituals, ceremonies, honorary doctorates, tradition.
Anhang
Abkürzungen
ABGB AGSÖ AHS AHStG ao. AÖAW AUW AVA BA BABL BGBl. BHS BLA BMBWK BMWF BUGRA BWL CADIAG CIAM DA DAI Dr. iur. Dr. med. univ.
Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz Allgemein bildende höhere Schule Allgemeines Hochschulstudien-Gesetz (1966) außerordentlich/e/r Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Archiv der Universität Wien Allgemeines Verwaltungsarchiv Bachelor Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich Berufsbildende Höhere Schulen Burgenländisches Landesarchiv Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik, Leipzig 1914 Betriebswirtschaftslehre Computer-aided Diagnostics [computergestützte Diagnostik] CongrÀs Internationaux d’Architecture Moderne Dekanatsakten Deutsches Archäologisches Institut Doctor iuris (DoktorIn der Rechte) Doctor medicinae universae (DoktorIn der gesamten Heilkunde)
426 Dr. phil. Dr. rer.nat. Dr. rer.pol. Dr. theol. Dr. chem. Dr. rer.soc.oec. DSt ECTS EDV EKG ERC ESF ETH EU FH FHStG FPÖ FWF GEWI GRUWI GZ HNO IBM IFF IHS IUR Cur. IWK JUDr. LSE MA Mag. pharm./Mr. pharm. Mag. artis dentinae Mag. artis oculisticae
Anhang
Doctor philosophiae (DoktorIn der Philosophie) Doctor rerum naturalium (DoktorIn der Naturwissenschaften) Doctor rerum politicarum (DoktorIn der Staatswissenschaften) Doctor theologiae (DoktorIn der Katholischen bzw. Evangelischen Theologie) Doktor der Chemie Doctor rerum socialium oeconomicarumque (DoktorIn der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften) Deutsche Studentenschaft European Credit Transfer System Elektronische Datenverarbeitung Elektrokardiogramm Advanced Research Grant European Science Foundation Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich Europäische Union Fachhochschule Fachhochschul-Studiengesetz 1993 Freiheitliche Partei Österreichs Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Geisteswissenschaftliche Fakultät Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät Geschäftszahl Hals-Nasen-Ohren International Business Machines Corporation Institut für Fernstudien, heute: Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung Institut für Höhere Studien Sachakten-Reihe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Institut für Wissenschaft und Kunst Juris utriusque Doctor London School of Economics and Political Science Master Magister/Magistra Pharmaciae (Magister/Magistra der Pharmazie) Magister der Zahnheilkunde Magister der Augenheilkunde
Abkürzungen
Mag. chir. Mag. Mag. rer.soc.oec.
MIT MOOC Mr. obst. NAWI NÖLA NRW NS NSDAP o. ÖAW ÖCV ÖDW OECD
ÖH ÖStA ÖVA ÖVP ÖZP PA PAAA PD PGS Ph.D QUANTUM
RA RAG RGBl. RStH SA Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien SODFG SOEG
427 Magister der Chirurgie Magister/Magistra Magister/Magistra rerum socialium oeconomicarumque (Magister/Magistra der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften) Massachusetts Institute of Technology Massive Open Online Course Magister obstestriciae (Magister der Geburtshilfe) Formal- und Naturwissenschaftliche Fakultät Niederösterreichischen Landesarchiv Nordrhein-Westfalen nationalsozialistische/r/s Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ordentlich/e/r/s Österreichische Akademie der Wissenschaften Österreichischer Cartellverband Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe Organisation for Economic Co-operation and Development Österreichische Hochschülerschaft Österreichisches Staatsarchiv Österreichisches Volkshochschularchiv Österreichische Volkspartei Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft Personalakt Politisches Archiv Auswärtiges Amt Privatdozent Politische Gesetzessammlung philosophiae doctor (Doctor of Philosophy) Arbeitsgemeinschaft für Quantifizierung und Methoden in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung e.V. Rektoratsakten Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung Deutsches Reichsgesetzblatt Reichsstatthalter Sturmabteilung der NSDAP Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft Südosteuropagesellschaft
428 SPÖ SS StGB. StGBl. UG UK UKUG
UMin. UniStG UOG 1873 UOG USA VWL WAMAS WAMASTAT WAMIS WdU WEA WIELAB WS WU
Anhang
Sozialdemokratische Partei Österreichs Schutzstaffel der NSDAP Strafgesetzbuch Staatsgesetzblatt Universitätsgesetz (2002) United Kingdom »Universitäre Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« Unterrichtsministerium Universitäts-Studiengesetz (1997) Universitätsorganisationsgesetz 1873 Universitäts-Organisationsgesetz (1975) Vereinigte Staaten von Amerika Volkswirtschaftslehre Wiener Allgemeines Medizinisches Auswertungs-System Wiener Allgemeines Medizinisches Auswertungs- und Statistiksystem Wiener Allgemeines Medizinisches Informationssystem Wahlpartei der Unabhängigen, auch Verband der Unabhängigen (VdU) Workers Educational Association Wiener Laborsystem Wintersemester Wirtschaftsuniversität Wien (früher : Hochschule für Welthandel)
AutorInnen dieses Bandes
Pd. Dr. Hans-Joachim Dahms, Berlin, Prof. Dipl.-Ing. Dr. Dr. h.c. Heinz W. Engl, Rektor der Universität Wien Doz. Dr. Johannes Feichtinger, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien,
Prof. Mag. Dr. Karl Anton Fröschl, Forschungsgruppe Data Analytics and Computing der Universität Wien, Univ.-Prof. Dr. Doris Ingrisch, Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien,
Mag. Katharina Kniefacz, Mitarbeiterin des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien«, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien,
Mag. Dr. Thomas König, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien,
Prof. Dr. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Vorsitzende des Senats, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Elisabeth Nemeth, Institut für Philosophie der Universität Wien, derzeit Dekanin der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, Dr. Eva Nowotny, Vorsitzende des Universitätsrats
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ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Olechowski, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, Mag. Dr. Herbert Posch, Mitarbeiter des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien«, senior scientist am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Lektor an der IFF der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt,
Mag. Dr. Irene Ranzmaier, Wien, Hon. Prof. Dr. Wolfgang Reiter, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien,
em. Univ.-Prof. Dr. Walter Rüegg, Ehrenvorsitzender des International Scientific Board der Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im Rahmen des 650-jährigen Jubiläums Univ.-Prof. Mag. Dr. Friedrich Stadler, Leiter des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien«, Professor für »History and Philosophy of Science« am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Philosophie der Universität Wien sowie Vorstand des Instituts Wiener Kreis, Dr. Christian Stifter, Leiter des Österreichischen Volkshochschularchivs, Wien,
Bastian Stoppelkamp MA, Institut für Philosophie der Universität Wien,
Dr. Petra Svatek, Institut für Geschichte der Universität Wien,
Universitäre Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im Rahmen des 650-jährigen Jubiläums (UKUG, 2010 – 2015)
Ordentliche Mitglieder Prof. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Forum Zeitgeschichte der Universität Wien, Institut für Zeitgeschichte und Institut für Philosophie) (Vorsitz) Prof. Dr. Mitchell G. Ash (Arbeitsgruppe für Wissenschaftsgeschichte, Institut für Geschichte) Prof. Dr. Josef Ehmer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) Prof. Dr. Margarete Grandner (Institut für Internationale Entwicklung) Dekan/Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät (ex officio), Prof. Dr. Michael Viktor Schwarz, Prof. Dr. Claudia Theune-Vogt
Kooptierte Mitglieder Prof. Mag. Dr. Karl Anton Fröschl (ab 2012, Co-Herausgeber Band IV, Forschungsgruppe Data Analytics and Computing) Mag. Katharina Kniefacz (Co-Herausgeberin Band I, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, Institut für Zeitgeschichte) Mag. Dr. Thomas König (Co-Herausgeber Band III) HR Doz. i.R. Dr. Kurt Mühlberger (bis 2010 Direktor des Universitätsarchivs) HR Mag. Thomas Maisel, MAS (ab 2010 Direktor des Universitätsarchivs)
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Prof. DDr. Gerd B. Müller (ab 2012, Co-Herausgeber Band IV, Department für Theoretische Biologie) Prof. Dr. Elisabeth Nemeth (ab 2012, Co-Herausgeberin Band I, Institut für Philosophie) Prof. Dr. Thomas Olechowski (ab 2012, Co-Herausgeber Band IV, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte) Mag. Dr. Herbert Posch (Co-Herausgeber Band I, Forum »Zeitgeschichte der Universität Wien«, Institut für Zeitgeschichte) Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (ab 2012, Co-Herausgeberin Band IV, Institut für Europäische Ethnologie) Mag. Markus Stumpf, MSc (ab 2012, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte)
Wissenschaftlicher Beirat (VertreterInnen der Fakultäten und Zentren der Universität Wien)
Universitätsarchiv HR Doz. i.R. Dr. Kurt Mühlberger (ehemals Leiter des Universitätsarchivs)
Evangelisch-Theologische Fakultät MinR Prof. Dr. Karl Schwarz (Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie)
Fakultät für Chemie Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lindner (Institut für Analytische Chemie)
Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie Ass.-Prof. Mag. Dr. Walter Matznetter (Institut für Geographie und Regionalforschung) Mag. DDr. Thomas Posch (Institut für Astronomie)
Fakultät für Informatik Prof. Mag. Dr. Karl Anton Fröschl (Forschungsgruppe Data Analytics and Computing)
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Anhang
Fakultät für Lebenswissenschaften Prof. Dr. Irene Lichtscheidl-Schultz (Cell Imaging and Ultrastructure Research) Prof. DDr. Gerd B. Müller (Department für Theoretische Biologie) Prof. Dr. Wolfram Weckwerth (Department für Molekulare Systembiologie) Prof. Dr. Harald Wilfing (Department für Anthropologie)
Fakultät für Mathematik Prof. Dr. Karl Sigmund (Institut für Mathematik)
Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft Prof. Dr. Stefan Hopmann, M.A. (Institut für Bildungswissenschaft) Prof. Dr. Elisabeth Nemeth (Institut für Philosophie)
Fakultät für Physik Hon.-Prof. MinR i. R. Dr. Wolfgang Reiter (Isotopenforschung; Institut für Zeitgeschichte) Prof. Dr. Jakob Yngvason (Mathematische Physik)
Fakultät für Psychologie Prof. Dr. Thomas Slunecko (Institut für Psychologische Grundlagenforschung)
Fakultät für Sozialwissenschaften Prof. Dr. Ulrike Felt (Institut für Wissenschaftsforschung)
Wissenschaftlicher Beirat
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Prof. Dr. Andre Gingrich (Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie) Prof. Dr. Fritz Hausjell (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft) Prof. Dr. Walter Manoschek (Institut für Staatswissenschaft)
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Prof. Mag. Dr. Karl Milford (Institut für Volkswirtschaftslehre) Prof. Mag. Dr. Peter Rosner (Institut für Volkswirtschaftslehre)
Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät Prof. Mag. Dr. Christina Lutter (Institut für Österreichische Geschichtsforschung) Prof. Mag. DDr. Oliver Rathkolb (Institut für Zeitgeschichte) Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (Institut für Europäische Ethnologie)
Katholisch-Theologische Fakultät Prof. MMag. DDr. Rupert Klieber (Institut für Kirchengeschichte)
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät Prof. Mag. Dr. Stefan-Michael Newerkla (Institut für Slawistik) Prof. Dr. Franz Römer (Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein) Prof. Mag. Dr. Robert Tanzmeister (Institut für Romanistik)
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Anhang
Rechtswissenschaftliche Fakultät Prof. Dr. Thomas Olechowski (Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte)
Zentrum für LehrerInnenbildung (gegründet 2013) Zentrum für Molekulare Biologie Prof. Mag. Dr. Andrea Leodolter-Barta (Department für Biochemie und Zellbiologie)
Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport Mag. Dr. Rudolf Müllner (Institut für Sportwissenschaft)
Zentrum für Translationswissenschaft Prof. Mag. Dr. Gerhard Budin (Zentrum für Translationswissenschaft)
International Scientific Board
Ehrenvorsitz em. Prof. Dr. Walter Rüegg (Institut für Soziologie, Universität Bern, Schweiz)
Mitglieder Prof. PhD. Gary B. Cohen (Department of History j Center for Austrian Studies, Universität Minnesota, USA) Prof. Dr. Pieter Dhondt (Department of Geographical and Historical Studies, University of Eastern Finland, Kuopio, Finnland) Prof. Dr. Mordechai Feingold (International Commission for the History of Universities; Division of the Humanities and Social Sciences, California Institute of Technology, USA) Prof. Dr. Tibor Frank (Institut für Anglistik und Amerikanistik, Eötvös-LorndUniversität, Budapest, Ungarn) Prof. Dr. Maria Carla Galavotti (Institut für Philosophie, Universität Bologna, Italien) Prof. Dr. Michael Grüttner (Institut für Kunstwissenschaft & Historische Urbanistik, Technische Universität Berlin, Deutschland) Prof. Dr. Konrad H. Jarausch (Department of History, Universität North Carolina, Chapel Hill, USA)
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apl. Prof. Dr. Trude Maurer (Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen, Deutschland) Prof. Dr. Brigitte Mazohl (Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck, Österreich) Prof. Dr. Sylvia Paletschek (Historisches Seminar j Neuere und Neueste Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland) Prof. Dr. Ada Pellert (Präsidium, Deutsche Universität für Weiterbildung, Berlin, Deutschland) Prof. PhDr. CSc. Jirˇ Pesˇek (Institute of International Studies j Department of German and Austrian Studies, Karls-Universität Prag, Tschechische Republik) em. Prof. Sheldon Rothblatt (Department of History j Center for Studies in Higher Education, Universität California, Berkeley, USA) Prof. Dr. Rudolf Stichweh (Soziologisches Seminar, Universität Luzern, Schweiz) Prof. RNDr. Doc. CSc. Sonˇa Sˇtrbn´ov (European Society for the History of Science, Zentrum für Wissenschaftsgeschichte j Institut für Zeitgeschichte, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Tschechische Republik) Prof. Dr. Lszlû Szögi (Universitätsbibliothek j Universitätsarchiv, EötvösLornd-Universität, Budapest, Ungarn) Prof. i. R. Dr. Heinz-Elmar Tenorth (Institut für Erziehungswissenschaften j Abteilung Historische Erziehungswissenschaft, Philosophische Fakultät IV j Humboldt Universität Berlin, Deutschland)
Personenregister
Abel, Othenio (1875 – 1946) 397 Adamovich, Ludwig sr. (1890 – 1955) 315, 398 Adlassnig, Klaus-Peter 370 – 372, 378 Adler, Alfred (1870 – 1937) 287, 289, 418 Adler, Guido (1855 – 1941) 144 Adler, Max (1873 – 1937) 191 Adler, Sigmund (1853 – 1920) 172, 188 Am¦ry, Jean (1912 – 1978) 124 Anders, Günther (1902 – 1992) 124 Andraschek-Holzer, Iris 359, 407 ængström, Anders (1814 – 1874) 156 Antova, Minna 405 Aquin, Thomas von (1225 – 1274) 79 Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) 79, 85 f., 337, 354 Arnberger, Erik (1917 – 1987) 258 Arneth, Alfred von (1819 – 1897) 299 Arnim, Hans von (1859 – 1931) 144 Arnold, Robert Franz (1872 – 1938) 395 Aschbach, Joseph (1801 – 1882) 11, 387 Assmann, Aleida 381 Aubin, Hermann (1885 – 1969) 245 Austin, John (1911 – 1960) 352 Ayer, Alfred J. (1910 – 1989) 103, 124 Bachelard, Gaston (1884 – 1962) 208 Bachmann, Ingeborg (1926 – 1973) 125 Bacon, Francis (1561 – 1626) 354 Bahr, Hans-Dieter 126 Baier, Kurt (1917 – 2010) 122 Bar-Hillel, Yehoshua (1915 – 1975) 122 Barach-Rappaport, Karl Sigmund (1834 – 1885) 82
Brny, Robert (1876 – 1936) 285 Bauer, Julius (1887 – 1979) 401 Bauer, Otto (1881 – 1938) 288 Baumgartner, Andreas Freiherr von (1793 – 1865) 155, 162 – 165, 413 Bayr-Klimpfinger, Sylvia (1907 – 1980) 344 Becher, Erich (1882 – 1929) 92 f. Beck, Ulrich (1944 – 2015) 206 Beck-Mannagetta, Günther von (1856 – 1931) 295 Becke, Friedrich K. (1855 – 1931) 92, 145, 311, 313 Bei, Neda 346 Bell, Daniel (1919 – 2011) 203, 216 Benedikt, Michael (1928 – 2012) 127 Beninger, Eduard (1897 – 1963) 245, 255 Benndorf, Otto (1838 – 1907) 141 Berger, Alfred von (1853 – 1912) 90 Bernatzik, Edmund (1854 – 1919) 190, 274, 305 Bernecker, Sven 129 Billicsich, Friedrich (1883 – 1975) 117 Billroth, Theodor (1829 – 1894) 231 Blau, Marietta (1894 – 1970) 404 Blaukopf, Kurt (1914 – 1999) 124 Bloch, Ernst (1885 – 1977) 123 Blumberg, Albert (1906 – 1997) 104 Bobek, Hans (1903 – 1990) 258 f. Bodo, Fritz (1893 – 1978) 246 f., 249, 255 Böhm-Bawerk, Eugen von (1851 – 1914) 173 f. Bolla-Kotek, Sibylle (1913 – 1969) 344 Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit 346
440 Bolschwing, Anna 345 Bolterauer, Lambert (1903 – 2000) 119 Boltzmann, Ludwig (1844 – 1906) 145, 147, 152, 155 f., 159, 165 f., 298 f., 412 f. Bolzano, Bernard (1781 – 1848) 80, 82, 90, 267 Bonitz, Hermann (1814 – 1888) 81, 150 f., 159, 267 Bormann, Eugen (1842 – 1917) 144 Bormann, Wilhelm (1885 – 1938) 395 Borodajkewycz, Taras (1902 – 1984) 123, 401 Bourdieu, Pierre (1930 – 2002) 27, 33, 37, 42 – 45, 52 f., 55, 57, 59 – 62, 65 f., 69 – 71, 74, 317 Brauer, Friedrich (1832 – 1904) 143 Braun, Martha Stephanie (1898 – 1990) 288 Brentano, Bernhard (1781 – 1848) 150 Brentano, Franz Clemens (1838 – 1917) 73, 78, 82 – 90, 105, 130, 271 – 273 Broch, Hermann (1886 – 1951) 125 Brockhausen, Karl (1859 – 1951) 306 Brücke, Ernst Wilhelm von (1819v1892) 159 f., 164, 271, 273, 413 Brückner, Eduard (1862 – 1927) 310 Brühl, Karl (1820 – 1899) 136 Bruner, Ingela 347 Brunner, Otto (1989 – 1982) 245 f., 249, 255, 373 Brunswig, Alfred (1877 – 1929) 93 Brunswik, Egon (1903 – 1955) 97, 112, 123 Buckle, Henry Thomas (1821 – 1862) 271 Bühler, geb. Malachowski, Charlotte (1893 – 1974) 94 f., 97, 112 f., 123, 175, 287, 289 f., 340, 342, 418 Bühler, Karl (1879 – 1963) 78, 91, 93 f., 97, 99, 104, 107, 110, 112 – 114, 123, 125, 175, 177, 288 – 290, 329, 340, 418 Bukowska, Sylwia 357 Bunge, Mario 124 Burke, Peter 204 f., 208 f., 212 – 214, 221, 416 Butler, Judith 352 f.
Personenregister
Buys Ballot, Christophorus (1817 – 1890) 149 Canguilhem, Georges (1904 – 1995) 174 Carnap, Rudolf (1891 – 1970) 98 f., 101 – 103, 107, 119, 284, 418 Cassirer, Ernst (1874 – 1945) 94 f. Christaller, Walter (1893 – 1969) 259 Christian, Curt (1920 – 2010) 121, 128 Christian, Viktor (1885 – 1963) 115 Clark, William 221 Claus, Carl (1835 – 1899) 146 Collini, Stefan 216 Connell, Robert, nunmehr Connell, Raewyn 351 Coronini-Kronberg, Carmen (1885 – 1968) 344 Czermak, Wilhelm (1889 – 1953) 401 D’Alembert, Jean Baptiste le Rond (1717 – 1783) 213 Daston, Lorraine 354 Dempf, Alois (1891 – 1982) 109 – 112, 117 Derrida, Jacques (1930 – 2004) 37, 50, 60, 63, 74 Dewey, John (1859 – 1952) 40 Diderot, Denis (1713 – 1784) 213 Diem-Wille, Gertraud 346 Diener, Karl (1862 – 1928) 394 Dietrich, Margret (1920 – 2004) 344 Dingler, Hugo (1881 – 1954) 120 Dollfuß, Engelbert (1892 – 1934) 98, 109, 314, 394 Doppler, Christian (1803 – 1853) 149 – 162, 164 f., 412 f. Dopsch, Alfons (1868 – 1953) 142 Drexler, Anton (1884 – 1942) 194 Drimmel, Heinrich (1912 – 1991) 118 f., 122, 126, 262 Drucker, Peter (1909 – 2005) 203, 216, 233, 238 Du Bois-Reymond, Emil (1818 – 1896) 159 f. Dülmen, Richard von (1937 – 2004) 204, 208
441
Personenregister
Dumreicher, Armand Freiherr von (1845 – 1908) 299 Duns Scotus, Johannes (1266 – 1308) Dyroff, Adolf (1866 – 1943) 95
79
Ebenbauer, Alfred (1945 – 2007) 224, 400 Eberle, Josef (1901 – 1986) 109, 111 Ebner-Eschenbach, Marie von (1830 – 1916) 306, 359, 406 Edwards, Paul (1923 – 2004) 122 Egger, Rudolf (1882 – 1969) 245, 255 Ehrenfels, Christian von (1859 – 1932) 90 Ehrenzweig, Albert Armin jun. (1906 – 1974) 401 Eibl, Hans (1882 – 1958) 96, 98, 104, 108 – 112, 115, 117 Einstein, Albert (1879 – 1955) 92 f., 99, 277 Eisenbach-Stangl, Irmgard 356 Eisler, Max (1881 – 1937) 395 Eitelberger, Rudolf (1817 – 1885) 136 Ekstein, Rudolf (1912 – 2005) 123 Elkana, Yehuda (1934 – 2012) 39, 74, 122 Engel-Jnosi, Friedrich (1893 – 1978) 288 f. Erdheim, Mario 342 Ernst, Ulla 347 Ernst, Waltraud 357 Escherich, Gustav von (1849 – 1935) 237 Ettingshausen, Andreas von (1796 – 1878) 150, 154 f., 158, 161, 163 f., 413 Exner, Adolf (1841 – 1894) 153, 237 Exner, Franz Serafin jr. (1849 – 1926) 147, 153, 166 Exner, Franz Serafin sr. (1802 – 1853) 80 f., 150 – 153, 155, 159, 166, 225, 412 Exner, Karl E. (1842 – 1914) 153 Exner, verheiratete von Frisch, Marie (1844 – 1925) 153 Exner Ritter von Ewarten, Christof (1915 – 2007) 153 Exner Ritter von Ewarten, Felix Maria (1876 – 1930) 153 Exner Ritter von Ewarten, Sigmund (1846 – 1926) 153
Faigl, Ludwig (1874 – 1914) 306 Federn, Else (1874 – 1946) 306 Feigl, Herbert (1902 – 1988) 99, 104, 119, 124 Fellinger, Karl (1904 – 2000) 364 f. Fellner, Fritz (1922 – 2012) 261 Felt, Ulrike 129, 337, 356 Ferstel, Heinrich von (1828 – 1883) 390, 395 Feyerabend, Paul (1924 – 1994) 120, 122 f., 208 Figdor, Wilhelm (1866 – 1938) 395 Fischel, Alfred (1868 – 1938) 395 Fischer, Ernst (1899 – 1972) 195, 315 Fischer, Hans (1881 – 1945) 285 Fischer, Heinz 121 Fischer, Kurt Rudolf (1922 – 2014) 123, 128 Fischer, Peter 200 Fleck, Ludwik (1896 – 1971) 208, 215 Fleischer, Max (1841 – 1905) 404 Flexner, Abraham (1866 – 1959) 40 Foerster, Friedrich Wilhelm (1869 – 1966) 90 Foerster, Heinz von (1911 – 2002) 122 Forsthoff, Ernst (1902 – 1974) 401 f. Foucault, Michel (1926 – 1984) 352 Fournier, August (1850 – 1920) 146 Fox Keller, Evelyn 355 Frank, Josef (1885 – 1867) 102 Frank, Philipp (1884 – 1966) 99, 102, 119 Frankl, Viktor (1905 – 1997) 403 Franz I., Kaiser (1768 – 1835) 163, 408 Franz Joseph I., Kaiser (1830 – 1916) 150, 162, 383, 388 – 390, 408 Frege, Gottlob (1848 – 1925) 121 Frenkel-Brunswik, Else (1908 – 1958) 97, 104, 123 Fresnel, Augustin (1788 – 1827) 163 Freud, Sigmund (1856 – 1939) 263, 271 – 273, 276, 278 f., 287 – 289, 418 Freundlich, Rudolf (1911 – 1988) 122 Fried, Johannes 210 Friedman, Sy-David 128 Frisch, Karl von (1886 – 1982) 153 Frisch, Wolfgang 153
442
Personenregister
Fröschels, Emil (1884 – 1972) 401 Fuchs, Albert (1905 – 1946) 124
Grunebaum, Gustav (1909 – 1972) 286 Günther, Adolf (1881 – 1958) 195
Gabriel, Ingeborg 345 Gabriel, Leo (1902 – 1987) 70, 106, 117 – 119, 122 – 124, 126 Galison, Peter 208 Gall, Franz (1926 – 1982) 11, 400 Garstenauer, Therese 357 Gärtner, Gustav (1855 – 1937) 395 Gauss, Carl Friedrich (1777 – 1855) 159 Gehlen, Arnold (1904 – 1976) 114 f., 117, 177 f. Genetti, Evi 357 Geramb, Viktor (1884 – 1958) 245 Gibbons, Michael 233 Gierach, Erich (1881 – 1943) 245 Gingrich, Andre 356 Gitlbauer, Michael (1847 – 1903) 143 Glaise-Horstenau, Edmund (1882 – 1946) 111 Glaser, Julius (1831 – 1885) 390 Gleispach, Wenzel (1876 – 1944) 193, 265, 397 Gödel, Kurt (1906 – 1978) 121, 128 Goldberg, Christine 356 Goldschmiedt, Guido (1850 – 1915) 144 Gombrich, Ernst H. (1909 – 2001) 286 Gomperz, Heinrich (1873 – 1942) 89, 91, 94 – 96, 98, 107 – 110, 120 Gomperz, Theodor (1832 – 1912) 89, 94, 144, 270 f., 273 Grabner, Georg (1923 – 2006) 364, 368, 371 Gracie, Marie Eugenie delle (1864 – 1931) 306 Grailich, Wilhelm Josef (1829 – 1859) 159, 161 Graßl, Ignaz (1795 – 1889) 189 Gregor XIII., Papst (1502 – 1585) 184 Groger, Hans 255 Grote, George (1794 – 1871) 271 Gruber, Max (1853 – 1927) 295, 298 f., 306 Grünberg, Carl (1861 – 1940) 172, 174, 264, 285, 295
Haberlandt, Arthur (1889 – 1964) 246, 255 Haberler, Gottfried (1900 – 1995) 288 f. Hafner, Michaela 357 Hahn, Hans (1879 – 1934) 93 f., 99 f., 102 f., 264 f. Haidinger, Wilhelm (1795 – 1871) 162 Hainisch, Marianne (1839 – 1936) 306 Hammer, Franz (1758 – 1825) 79 Hammer-Tugendhat, Daniela 356 Hann, Julius (1839 – 1921) 143, 147 Hanslick, Eduard (1825 – 1904) 267 – 269 Haraway, Donna 355 Harding, Sandra 353, 355 Hartel, Wilhelm von (1839 – 1907) 271 Hartmann, Ludo Moritz (1865 – 1924) 264, 294 f., 297, 300 – 306, 309, 311, 313 Hasenöhrl, Friedrich (1874 – 1915) 166 Hasner, Ritter von Artha Leopold (1818 – 1891) 151 Hassauer, Friederike 356 Hassinger, Hugo (1877 – 1952) 242 – 259, 417 Hatschek, Berthold (1854 – 1941) 144 Hauch, Gabriella 356 Hausen, Karin 348 Hayek, Friedrich August (1899 – 1992) 287 – 289, 291, 418 Heidegger, Martin (1889 – 1976) 85 Heindl, Waltraud 347 Heinrich, Richard 128 Heintel, Erich (1912 – 2000) 70, 116, 118 f., 123 – 127 Heinzel, Richard (1838 – 1905) 145 Helczmanovszki, Heimold (1923 – 1992) 374 Herbart, Johann Friedrich (1776 – 1841) 80 – 83, 90, 159, 267 f., 272, 278 Herzfeld, Marianne (1868 – 1930) 288 Herzig, Josef (1853 – 1924) 144 Hess, Franz Viktor (1883 – 1964) 285 Hey, Barbara 360 Hiesmayer, Ernst (1920 – 2006) 198
Personenregister
Hilbert, David (1862 – 1943) 88 Hildebrand, Dietrich von (1889 – 1977) 103, 109 f., 113 Hilferding, Rudolf (1877 – 1941) 288 Himmelbauer, Isidor (1858 – 1919) 306 Hintikka, Jaakko 124 Hirn, Josef (1848 – 1917) 146 Hirsch, Hans (1878 – 1940) 245 Hitler, Adolf (1889 – 1945) 103, 111, 194, 252, 399, 408 Hobsbawm, Eric John Ernest (1917 – 2012) 20, 41 Hoernes, Moriz (1852 – 1917) 140 f. Höflechner, Walter 225 Höfler, Alois (1853 – 1922) 82, 97, 112 Hofmann, Walter (1879 – 1952) 308 Hold-Ferneck, Alexander (1875 – 1955) 186 Holey, Karl (1879 – 1955) 395 Holton, Gerald 122 Hrachovec, Herbert 128 Huber, Alfons (1834 – 1898) 389 Hudal, Alois (1885 – 1963) 109, 111 Hugelmann, Karl Gottfried (1879 – 1959) 108, 111, 283, 287 Humboldt, Wilhelm von (1767 – 1835) 21, 28, 33 f., 39 f., 42, 74 f., 133, 204, 223 – 225, 232 f., 239, 319, 334, 416, 419 f. Hung, Tscha (1909 – 1992) 99 Hurdes, Felix (1901 – 1974) 126 Husserl, Edmund (1859 – 1938) 87 f., 102 Hye, Anton (1807 – 1894) 189 Hyrtl, Josef (1810 – 1894) 160, 387 Inama-Sternegg, Karl Theodor (1843 – 1908) 273 Innitzer, Theodor Kardinal (1875 – 1955) 344, 394 Ipsen, Gunther (1899 – 1984) 114, 117, 177 f. Jaensch, Erich (1883 – 1940) 93 f. Jäger, Gustav (1832 – 1917) 162 Jagic´, Vatroslav (1838 – 1923) 147
443 Jahoda, Marie (1907 – 2001) 97, 113, 123, 289 f. Jellinek, Georg (1851 – 1911) 274, 280 Jellinek, Max Hermann (1868 – 1938) 144 Jerusalem, Wilhelm (1854 – 1923) 90, 96, 209, 306 Jodl, Friedrich (1849 – 1914) 89, 91, 93, 146, 299, 306 Joseph II., Kaiser (1741 – 1790) 218 f., 318, 323, 390 Juhos, Bela (1901 – 1971) 118 f., 121, 123 f. Jung, Carl Gustav (1865 – 1961) 279 Jury, Hugo (1887 – 1945) 255 Justinian I., oström. Kaiser (~482 – 565) 184 Kainz, Friedrich (1897 – 1977) 110, 113 f., 116 – 119, 126 Kallhoff, Angela 129 Kammel, Willibald (1879 – 1953) 98, 112, 117 Kampits, Peter 126 Kant, Immanuel (1724 – 1804) 21, 27 – 29, 33 – 40, 42 – 43, 52, 54 – 57, 60 – 62, 65, 69 – 71, 74, 80 f., 90, 115, 130, 317 Karlik, Berta (1904 – 1990) 341 f. Karpe, Samuel (1747 – 1806) 79 Kastil, Alfred (1874 – 1950) 87 Kaufmann, Felix (1895 – 1949) 88, 100, 288 f. Keil, Josef (1878 – 1963) 257 Keintzel, Brigitta 357 Kelsen, Hans (1881 – 1973) 120, 175 f., 191, 269, 274, 276, 280 f., 287 – 289, 401, 418 Kenner, Hedwig (1910 – 1993) 344 Kerrl, Hanns (1887 – 1941) 242 Kindermann, Heinz (1894 – 1985) 344 Kink, Rudolf (1822 – 1864) 386 Kirchweger, Ernst (1898 – 1965) 401 Klaar, Adalbert (1900 – 1981) 249 Klaus, Josef (1910 – 2001) 117 Klein, Hans Dieter 126 Kleiner, Heinrich 122 Klimpfinger, Sylvia (1907 – 1980) 119
444 Klinger, Cornelia 356 Klotz, Heinrich (1935 – 1999) 206 Knauer, Vincenz (1828 – 1894) 90 Knoll, August Maria (1900 – 1963) 119 f., 179 Knoll, Fritz (1883 – 1981) 110, 335, 397, 399 Kock, Sabine 357 Köhler, Eckehart 124 Kohn, Gustav (1859 – 1921) 143 Kolb, Ernst (1912 – 1978) 126 Kopp, Josef (1827 – 1907) 229 – 231 Koppers, Wilhelm (1886 – 1961) 110 Kornfeld, Sigmund (1859 – 1927) 98, 112 Köstler, Rudolf (1878 – 1952) 195 Kotthoff, Helga 356 Kraft, Viktor (1880 – 1975) 90, 96, 107, 109 f., 112 f., 117, 119 – 121, 124 f., 128 Krallert, Wilfried (1912 – 1969) 245, 251 Kraus, Oskar (1872 – 1942) 87 Kreibig, Josef Klemens (1863 – 1917) 90 Kreil, Karl (1798 – 1862) 162 Kreisky, Bruno (1911 – 1990) 327 Kreisky, Eva 356 Krejci, Heinz 200 Kris, Ernst W. (1900 – 1957) 287 Kuhn, Thomas S. (1922 – 1996) 208, 212 Kühnelt, Wilhelm (1905 – 1988) 246 Külpe, Oskar (1862 – 1915) 86 Kunnert, Heinrich (1904 – 1979) 256 Kunzek, August von (1795 – 1865) 159, 161 Kusch, Martin 129 Lammasch, Heinrich (1853 – 1920) 186 Lampa, Anton (1868 – 1938) 294, 306 Landsteiner, Karl (1868 – 1943) 285 Lang, Viktor von (1838 – 1921) 165 Lange, Friedrich Albert (1828 – 1875) 83, 90 Laslett, Thomas Peter Ruffell (1915 – 2001) 372 f. Lazarsfeld, Paul (1901 – 1976) 97, 113, 123 f., 287, 290 Le Bon, Gustave (1841 – 1931) 279 Le Goff, Jacques (1924 – 2014) 209, 221
Personenregister
Le Rider, Jacques 352 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 – 1716) 79 Leinfellner, Werner (1921 – 2010) 122 Leisching, Eduard (1858 – 1938) 294 f., 306 Leitmaier, Charlotte (1910 – 1997) 344 Lendl, Egon (1906 – 1989) 245 – 247, 253, 257 f. Lenk, Hans 124 Lentze, Hans (1909 – 1970) 266 Leser, Norbert (1933 – 2014) 126 Leslie, Larrie 217 Lewinsky, Josef (1835 – 1907) 306 Lichtenberger, Elisabeth 259 Lieben, Adolf (1836 – 1914) 144, 147 Lieben, Ida von (1852 – 1894) 87 Lieser, Helene (1898 – 1962) 288 Liessmann, Konrad Paul 129 Likawetz, Josef C. (1773 – 1850) 80 Littrow, Karl Ludwig von (1811 – 1877) 159 Loehr, August (1882 – 1965) 257 Loewi, Otto (1873 – 1961) 285 Loitlsberger, Erich (1921 – 2003) 192 Lombardus, Petrus (1100 – 1160) 79 Lorenz, Konrad (1903 – 1989) 406 Loschmidt, Josef (1821 – 1895) 150, 155, 165, 412 f. Lott, Franz Karl (1807 – 1874) 81 – 84, 90, 159, 267 Lotze, Herrmann (1817 – 1881) 84 Lovasy, Gertrud (1900 – 1974) 288 Löwy, Emanuel (1857 – 1938) 395 Ludwig, Carl (1816 – 1895) 164 Lueger, Karl (1844 – 1910) 275, 309, 408 Luf, Gerhard 200 Lustkandl, Wenzel (1832 – 1906) 190, 274 Mach, Ernst Waldfried Josef Wenzel (1838 – 1916) 73, 78, 81, 88 – 90, 100 f., 103, 105, 109 f., 146 f., 152, 155 – 160, 271, 276 – 279, 289, 298, 306, 412 f., 418 Machatschek, Fritz (1876 – 1957) 245 Machlup, Fritz (1902 – 1983) 288 f. Mader, Johann 127
Personenregister
Madeyski-Poraj, Stanislaus von (1841 – 1910) 89 Magnus, Heinrich Gustav (1802 – 1870) 159 Mahr, Alexander (1896 – 1972) 179 Maihofer, Andrea 360 Mannheim, Karl (1893 – 1947) 180, 209 Marcel, Gabriel (1889 – 1973) 123 Marchet, Gustav (1846 – 1916) 306 Maria Theresia, röm.-dt. Kaiserin (1717 – 1780) 184, 218 f., 318, 390, 408, 414 Mark, Hermann (1895 – 1992) 286, 403 Martini, Karl Anton von (1726 – 1800) 185 f. Marty, Anton (1847 – 1914) 89 Marx, Bele 405 Masaryk, Thomas G. (1850 – 1937) 87, 263, 275 Mayer, Hans (1879 – 1955) 177 Mayer, Sepp 255 f. Mayreder, Rosa (1858 – 1938) 306 Mecenseffy, Margarethe (1898 – 1985) 344 Mehl, Erwin (1903 – 1993) 399 Meinong, Alexius (1853 – 1920) 87 Meister, Richard (1881 – 1964) 95, 97, 110, 112, 114, 117, 119, 262, 283 Mendel, Johann Gregor (1822 – 1884) 152 f., 413 Menger, Anton (1841 – 1906) 298 Menger, Carl (1840 – 1921) 169 – 175, 274 f., 288 Menger, Karl (1902 – 1985) 99, 124 Menger, Max (1838 – 1911) 271 Menghin, Oswald (1888 – 1973) 111, 282 f., 287, 290 Menzel, Adolf (1857 – 1938) 191 Merkl, Adolf Julius (1890 – 1970) 178 Messner, Johannes (1891 – 1984) 120, 178 f. Meyer, Hannes (1889 – 1954) 103 Meyer, Stefan (1872 – 1949) 287 Meyer-Lübke, Wilhelm (1861 – 1936) 144, 147 Meynen, Emil (1902 – 1994) 245
445 Meynert, Theodor (1833 – 1892) 271, 273 Mill, John Stuart (1806 – 1873) 271, 273 Mintz, Ilse (1904 – 1978) 288, 343 Mises, Ludwig (von) (1881 – 1973) 287 – 289, 418 Mitsui, Takaharu (1900 – 1983) 396, 398 Mitteis, Ludwig (1859 – 1921) 298 f. Mittenecker, Erich (1922 – ) 119 Mitterauer, Michael 372 – 378 Mohs, Friedrich (1773 – 1839) 161 Mommsen, Theodor (1817 – 1903) 295 Morgenstern, Oskar (1902 – 1977) 124, 199, 287 – 289, 418 Moser, Gabriele 347 Much, Rudolf (1862 – 1936) 287 Mühlbacher, Engelbert (1843 – 1903) 143 Müller, David Heinrich (1846 – 1912) 144 Müller, Friedrich (1834 – 1898) 140 Müller, Georg Elias (1850 – 1934) 86 Müller, Sigrid 345 Müllner, Josef (1879 – 1968) 393 Müllner, Laurenz (1848 – 1911) 89 f., 146 Münchhausen, Gerhard Adolph von (1688 – 1770) 220 f., 226 Musil, Robert (1880 – 1942) 125, 281 Mussard, Gilles 405 Nadler, Josef (1884 – 1963) 108, 245 Nagl, Ludwig 128 Nagl-Docekal, Herta 126 Natkin, Marcel (1904 – 1962) 99 Nemeth, Elisabeth 29, 33, 128 f., 332 Neubacher, Hermann (1893 – 1960) 249 Neumann, Leopold von (1811 – 1888) 189 Neumann-Spallart, Franz Xaver von (1837 – 1888) 374 Neurath, Otto (1882 – 1945) 99 – 103, 213, 277, 284, 287 f., 418 Neurath, Wilhelm (1840 – 1901) 295 Newman, John Henry Kardinal (1801 – 1890) 40 Nixon, Richard M. (1913 – 1994) 364 Nothnagel, Hermann (1841 – 1905) 271, 273 Nowotny, Helga 128 f., 203, 233, 238, 337, 348, 356
446 Nussbaum, Martha 63 f., 74
Personenregister
37, 51 f., 55 f., 60,
Oberhummer, Eugen (1859 – 1944) 144 Oeser, Erhard 127 – 129 Ofner, Julius (1845 – 1924) 306
92,
Paletschek, Sylvia 224 Palude, Luderus de 390 Pap, Arthur (1921 – 1959) 120 Papen, Franz von (1879 – 1969) 111 Papritz, Johannes (1898 – 1992) 245 Pauer-Studer, Herlinde 129 Pauli, Wolfgang (1900 – 1958) 261 Pechriegel, Alice 356 Peez, Alexander (1829 – 1912) 294 Peithner von Lichtenfels, Johann (1793 – 1866) 80 Pekrek, Franz 155 Pellert, Ada 360, Penck, Albrecht (1858 – 1945) 140, 143 – 145, 295, 298 f., 306 Perloff, Marjorie 343 Pernerstorfer, Engelbert (1850 – 1918) 306 Pernkopf, Eduard (1888 – 1955) 399 Perutz, Max F. (1914 – 2002) 286 Peschl, Markus 129 Petzval, Josef (1807 – 1891) 153 – 157, 159, 413 Pfalz, Anton (1885 – 1958) 245 f., 255 Pfeifer, Helfried (1896 – 1970) 399 Philippovich, Eugen von (1858 – 1917) 172, 176, 282, 306 Pichler, Hans (1882 – 1958) 93 Piffl-Percevic, Theodor (1911 – 1994) 121, 402 Pindur, Leopold 255 Planck, Max (1858 – 1947) 93, 377 Planitz, Hans (1882 – 1954) 195 Plener, Ernst von (1841 – 1923) 298 Pöch, Rudolf (1870 – 1921) 140 Poggendorff, Johann Christian (1796 – 1877) 164 Pöltner, Günther 127
Popper, Karl R. (1902 – 1994) 77, 119, 121, 124, 286 f., 390 Popper, Hans (1903 – 1988) 401 Porges, Otto (1879 – 1968) 401 Possanner von Ehrenthal, Gabriele (1860 – 1940) 339 Potz, Richard 200 Praschniker, Camillo (1884 – 1949) 110, 257 Prˇibram, Alfred Francis (1859 – 1942) 144, 288 f., 295 Pronay, Inge 347 Przibram, Hans (1874 – 1944) 287 Puschmann, Theodor 389 Pütter, Johann Stephan (1725 – 1807) 220 Quine, Willard Van Orman (1908 – 2000) 124 Ramharter, Esther 128 Raphael, Lutz 170 f. Ratcliffe, Matthew 129 Rauschenbach, Sina 208 Redlich, Josef (1869 – 1936) 193, 263, 275 f. Redtenbacher, Josef (1810 – 1870) 159 f. Reich, Emil (1864 – 1940) 90, 96, 107, 295 f., 304 – 306 Reidemeister, Kurt (1893 – 1971) 99 – 101 Reimers, Georg (1860 – 1936) 306 Reininger, Robert (1869 – 1955) 90 – 96, 98, 104, 110, 112, 115, 118 Reisch, Emil (1863 – 1933) 263 Rembold, Leopold (1787 – 1844) 80 Renner, Karl (1870 – 1950) 398 Reutter, Hans (1884 – 1950) 256 Reyer, Eduard (1849 – 1914) 295, 302, 306 Richter, Elise (1865 – 1943) 135, 339 – 342, 404 Riegl, Alois (1858 – 1905) 268 Rohracher, Hubert (1903 – 1972) 114, 117, 119 Rokitansky, Carl von (1804 – 1878) 271 Roretz, Karl (1881 – 1967) 96, 98, 107, 109 f., 112, 117 Rosenblüth, Amalie (1892 – 1979) 104
Personenregister
Rosenmayr, Leopold 119, 179 Rudolf, Kronprinz (1858 – 1889) 174 Rudolf IV., »der Stifter«, Herzog von Österreich (1339 – 1365) 183, 382, 384, 390, 408 Rüegg, Walter (1918 – 2015) 24, 317 f. Russell, Bertrand (1872 – 1970) 100, 121 Rust, Bernhard (1883 – 1945) 242, 396 Ryle, Gilbert (1900 – 1976) 124 Saar, Ferdinand von (1833 – 1906) 306 Sauer, Birgit 357 Saurer, Edith (1942 – 2011) 356 Sauter, Johann (1891 – 1945) 107 Scheler, Max (1874 – 1928) 209 Schenach, Georg (1810 – 1859) 81 Scherer, Wilhelm (1841 – 1886) 271 Schiebinger, Londa 337 Schiff, Walter (1866 – 1950) 306 Schiffner, Viktor (1862 – 1944) 143 Schleichert, Hubert 122 Schlenk, Wilhelm (1879 – 1943) 285 Schlick, Moritz (1882 – 1936) 78, 91 – 99, 101 – 105, 107, 110 f., 113, 117, 125, 130, 277, 288, 403, 418 Schlözer, August Ludwig (1735 – 1809) 220 Schmale, Wolfgang 351 Schmerling, Anton Ritter von (1805 – 1893) 270 Schmid, Hans Bernhard 129 Schmidt, Wilhelm (1868 – 1954) 283 Schmied-Kowarzik, Walther (1885 – 1958) 90 Schmitz, Sigrid 358 Schnedl-Bubenicek, Hanna 347 Schneider, Erwin Eugen (1892 – 1969) 399 Scholz, Heinrich (1884 – 1956) 95 Schönbauer, Leopold (1888 – 1963) 399 Schöndorfer, Ulrich 119 Schrauf, Karl (1835 – 1904) 388 – 390 Schreier, Fritz (1897 – 1981) 288 Schrödinger, Erwin (1887 – 1961) 285, 406 Schroeder, Ren¦e 347
447 Schugurensky, Daniel 217 f., 222 Schuschnigg, Kurt (1897 – 1977) 98, 110 f., 115, 314 Schütz, Alfred (1899 – 1959) 288 Schwab, Albert 306 Schwarz, Ingeborg 347 Scott, Peter 233 Sedlmayr, Hans (1896 – 1984) 245 Seidler, Gustav (1858 – 1933) 305 Seipel, Ignaz (1876 – 1932) 152, 282 Seitz, Karl (1869 – 1950) 306 Sequenz, Heinrich (1895 – 1987) 399 Seyß-Inquart, Arthur (1892 – 1946) 115, 290 Shils, Edward (1910 – 1995) 170 Siegel, Carl (1872 – 1943) 90 Sieger, Robert (1864 – 1926) 143 Singer, Mona 129 Slaughter, Sheila 217 Smith, Adam (1723 – 1790) 227 Snow, Charles Percy (1905 – 1980) 71 Sölch, Johann (1883 – 1951) 255, 257, 398 Sommaruga, Franz Seraph (1780 – 1860) 266 Sonnenfels, Joseph von (1733 – 1817) 185, 187, 218 Spann, Othmar (1878 – 1950) 107 – 109, 111, 117, 176 f., 179, 191, 282 Specht, Edith 347, 356 Sperl, Hans (1861 – 1959) 193 Spiel, Hilde (1911 – 1990) 125 Springer, Johann (1789 – 1869) 189 Srbik, Heinrich (1878 – 1951) 109 f., 282 Stadler, Friedrich 29, 129 f., 334, 404 Stampfer, Simon (1790 – 1864) 150 Stark, Johannes (1874 – 1957) 158 Starzynski, Stanislaus Ritter von (1853 – 1935) 304 Stefan, Josef (1835 – 1893) 152, 155, 164 – 166, 412 f. Stegmüller, Wolfgang (1923 – 1991) 122 Stehr, Nico 203, 216 Stein, Lorenz von (1815 – 1890) 172 f., 230 – 232, 273 f., 416 Steinhauser, Walter (1880 – 1980) 245 f., 255
448 Stenger, Georg 129 Stevenson, Charles L. (1908 – 1979) 103 Stichweh, Rudolf 219 f. Stiglbauer, Karl (1927 – 2013) 259 Stoerk, Felix (1851 – 1908) 274 Stöhr, Adolf (1855 – 1921) 92, 143, 305 Stoppelkamp, Bastian 29, 334 Strasser, Sabine 357 Stremayr, Karl von (1832 – 1904) 83 – 86 Strigl, Richard (1891 – 1942) 288 Strzygowski, Walter (1908 – 1970) 246 f., 249, 252 f., 257 f. Stuart, James (1843 – 1913) 296 Stubenrauch, Moriz von (1811 – 1865) 186 Stumpf, Carl (1848 – 1936) 83 f., 89 Suess, Eduard (1831 – 1914) 147, 161 f., 166 f., 302, 306, 413 Swieten, Gerard van (1700 – 1772) 219, 318 Swoboda, Heinrich (1861 – 1923) 306 Swoboda, Hermann (1873 – 1963) 90 Szanto, Emil (1857 – 1904) 142 Szeps, Moriz (1835 – 1902) 301 Taaffe, Eduard von (1833 – 1895) 89 Tandler, Julius (1869 – 1936) 306 Taschwer, Klaus 337 Thaller, Manfred 377 f. Thausing, Moritz (1838 – 1884) 271 Thun-Hohenstein, Leo Graf von (1811 – 1888) 74, 80 f., 133 f., 143, 150 – 152, 154 f., 159, 162 f., 187, 189, 195, 197, 227 f., 232 262, 266 f., 270, 291, 319 f., 324, 328, 386, 389, 412 f., 416, 419 f. Tietze, Hans (1880 – 1954) 289 Tintner, Gerhard (1907 – 1983) 289 Toldt, Karl (1840 – 1920) 306 Topitsch, Ernst (1919 – 2003) 119 – 122, 128, 179 Toulmin, Stephen (1922 – 2009) 40 Triska, Helmut (1912 – 1973) 248, 255 Tröster, Andreas (1903 – 1971) 249 Trubetzkoy, Nikolai (1890 – 1938) 290, 395
Personenregister
Tuppa, Karl (1899 – 1981) 256 Turba, Gustav (1864 – 1935) 188 Twardowski, Kazimierz (1866 – 1938) Tyler, Mary 347
88
Uebersberger, Hans (1877 – 1962) 397 Ulbrich, Josef (1843 – 1910) 274 Ulmer, Karl (1915 – 1981) 126 Unger, Franz (1800 – 1870) 153 Unger, Joseph (1828 – 1903) 231 f. Urbach, Franz (1902 – 1969) 286 Verdroß-Droßberg, Alfred (1890 – 1980) 178 Verkauf-Verlon, Willy (1917 – 1994) 124 Vetter, Helmut 127 Voegelin, Erich (1901 – 1985) 288 f. Vogel, Hermann Carl (1841 – 1907) 158 Vogt, Theodor (1835 – 1906) 82, 267 Voigtländer, Peter Wilhelm Friedrich von (1812 – 1878) 154 Volkmann, Wilhelm Fridolin (1821 – 1877) 84 Wagner-Jauregg, Julius (1857 – 1940) 406 Wahle, Richard (1857 – 1935) 90 Waibel, Violetta 129 Waismann, Friedrich (1896 – 1959) 98 f., 104, 107, 118 Waldheim, Kurt (1918 – 2007) 408 Wall, Richard (1944 – 2011) 372 Wallaschek, Richard (1860 – 1917) 306 Wallner, Friedrich 128 Weber, Max (1864 – 1920) 173, 175, 212 Weber, Wilhelm (1916 – 2005) 179 Wegscheider, Rudolf (1859 – 1935) 143 Wehingen, Bertholdus de 391 Weidel, Hugo (1849 – 1899) 143 Weigel, Heinrich 256 Weinheber, Josef (1892 – 1945) 398 Wellesz, Egon (1885 – 1974) 289 Wettstein, Richard von (1863 – 1931) 306, 392 Whitehead, Alfred North (1861 – 1947) 100, 121 Wichmann, Ottomar (1890 – 1973) 114
Personenregister
Wieser, Friedrich (1851 – 1926) 173, 175, 177 Wiesmayr, Elisabeth 347 Wilde, Franz Xaver (1751 – 1828) 79 Wilholt, Torsten 75 Wimmer, Franz Martin 127 Winckler, Georg 19, 216, 234, 390 Windelband, Wilhelm (1848 – 1915) 89, 102 Windischgrätz, Alfred III. von (1851 – 1927) 89 Winkler, Wilhelm (1884 – 1984) 110, 179 Winter, Franz (geb. 1877) 249 Winternitz, Emanuel (1898 – 1983) 288 Wittgenstein, Ludwig (1889 – 1951) 77, 98, 100 f., 120 f., 123, 125, 127 f., 261, 277, 283 f., 287, 347, 418 Wodak, Ruth 347, 356 Wöhler, Friedrich (1800 – 1882) 159
449 Wolf, Gerson (1823 – 1892) 388 Wolff, Christian (1679 – 1754) 79 Wright, Georg Henrik von (1916 – 2003) 124 Wundt, Wilhelm (1832 – 1920) 86 Zechmeister-Machhart, Martha 345 Zeidler, Walter 126 Zeiller, Franz von (1751 – 1828) 185 – 187 Zeisel, Hans (1905 – 1992) 290 Zilsel, Edgar (1891 – 1944) 91, 95, 99 f., 207, 210 f., 281 f., 416 Zimmermann, Robert von (1824 – 1898) 82 f., 89 f., 267 f., 389 Zsigmondy, Richard (1865 – 1929) 285 Zuckerkandl, Emil (1849 – 1910) 306 Zuckerkandl, Robert (1856 – 1926) 295 Zwirner, Karl 306
650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert
4 Bände Hrsg. von Friedrich Stadler im Namen der »Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« und des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« (Katharina Kniefacz und Herbert Posch) Band 1: Katharina Kniefacz / Elisabeth Nemeth / Herbert Posch / Friedrich Stadler (Hg.) Universität – Forschung – Lehre Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert Band 2: Mitchell G. Ash / Josef Ehmer (Hg.) Universität – Politik – Gesellschaft 2.1: Universität – Politik 2.2: Universität – Gesellschaft Band 3: Margarete Grandner / Thomas König (Hg.) Reichweiten und Außensichten Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche Band 4: Karl Anton Fröschl / Gerd B. Müller / Thomas Olechowski / Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.) Reflexive Innensichten aus der Universität Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik