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German Pages 357 Year 2019
Extremismus und Demokratie Herausgegeben von Prof. Dr. Uwe Backes Prof. em. Dr. Eckhard Jesse Band 37
Eckhard Jesse | Tom Mannewitz Isabelle-Christine Panreck (Hrsg.)
Populismus und Demokratie
Interdisziplinäre Perspektiven
Nomos
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5291-1 (Print) ISBN 978-3-8452-9477-3 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
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Eckhard Jesse, Tom Mannewitz, Isabelle-Christine Panreck 1. Populismus und Extremismus
29
Zwischen Charisma und Regierungsverantwortung?
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Alexander Akel Die Bürde der Gewinner?
53
Carina Schatten Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
73
Thomas M. Klotz Dem Volk aufs Maul geschaut?
99
Johannes Schaefer Rechtsextremismus im neuen Bundestag – Routine oder Randerscheinung?
121
Christoph Schiebel Politische Agitation, juvenile Rebellion oder rechtsextreme Erlebniswelt?
139
Maximilian Kreter 2. Demokratischer Verfassungsstaat und Parteien
165
Reicht Volkssouveränität aus?
167
Sandra Wirth
5
Inhalt
Müssen Demokraten ehrlich sein?
191
Alexander G. M. Prill Ausgeforschte Hintergrundgespräche?
215
Felix Rhein Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
233
Robin Graichen #crookedhillary versus #nevertrump?
257
Susanne Thelen Ein historisch belastetes Verhältnis?
279
Martin Hummel Blickrichtung Westen?
299
Jens Weinhold-Fumoleau Weckrufe für einen normativen Akteur?
319
Christina Forsbach Literaturverzeichnis
339
Personenverzeichnis
349
Autorenverzeichnis
357
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld Eckhard Jesse, Tom Mannewitz, Isabelle-Christine Panreck
1. Populismus Nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit befasst sich die Politikwissenschaft mit „Populismus“. In eine eindeutige Definition des schwammigen Begriffs mündeten die Überlegungen (bislang) nicht – der Vergleich von Populismus und Chamäleon wurde oft bemüht.1 Kreisen die mediale wie wissenschaftliche Debatte in Europa um populistische Parteien und Bewegungen im rechten Spektrum, zielt die südamerikanische Populismusforschung überwiegend auf den Linkspopulismus. Gründe dafür liegen einerseits in der verschiedenen empirischen Evidenz, andererseits im differierenden Demokratieverständnis. In Südamerika dominieren linkspopulistische Akteure den politischen Diskurs. Teilweise stehen sie in Regierungsverantwortung, wie der bolivianische Präsident Evo Morales. Populistischer und demokratischer Anspruch sind nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie eng verknüpft. Federführend ist dort – auch nach seinem Tod 2014 – der Politikwissenschaftler Ernesto Laclau, für den Populismus die eigentliche Logik des Politischen und das Herz des Demokratischen beschreibt.2 Wenngleich auch in Europa linkspopulistische Parteien und Bewegungen agieren, etwa Syriza in Griechenland oder die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ unter der Ägide von Sahra Wagenknecht in Deutschland,3 steht der Rechtspopulismus sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der politikwissenschaftlichen Analyse im Vordergrund. Dies fußt auf der enormen Präsenz rechtspopulistischer Parteien: Zu nennen sind hier die Alternative für Deutschland, die Freiheitliche Partei Österreichs, der französische Rassemblement National (ehemals Front National), der belgische Vlaams belang oder Geert Wilders‘ Partij voor de Vrijheid in den 1 Statt vieler Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt/M./New York 2012. 2 Vgl. Ernesto Laclau, On populist reason, London 2007; ders., Why Constructing a People Is the Main Task of Radical Politics, in: Social Inquiry, 32 (2006), S. 646-680. 3 Vgl. Eckhard Jesse, Aufstehen prend modèle sur La France insoumise, in: Le Monde vom 22. September 2018, S. 23.
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Niederlanden. Alle Parteien – mit Ausnahme der noch jungen AfD – sind seit Jahren fest in ihren nationalen Parteiensystemen verankert. In Österreich steht die FPÖ seit Dezember 2017 bereits zum dritten Mal in Regierungsverantwortung. Querverbindungen zwischen den europäischen Rechtspopulisten existierten lange Zeit kaum. Erst Anfang 2017 gelang Frauke Petry, damals Vorsitzende der AfD, ein Treffen führender Rechtspopulisten in Koblenz zu veranstalten. Mit bekannten Gesichtern, etwa Marine Le Pen und Geert Wilders, erreichte es Petry, aller Unterschiede der Parteien zum Trotz die Demonstration einer gewissen Einigkeit zwischen Europas bekanntesten Rechtspopulisten zu demonstrieren. Die Gründung und das starke Abschneiden der AfD bei den Wahlen 2016, 2017 und 2018 (sie ist nunmehr nicht nur im Bundestag und Europaparlament vertreten, sondern auch in allen 16 Landesparlamenten) verhalf dem Thema Rechtspopulismus in Deutschland zu medialer wie zu wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die weltweite Debatte um Begriffe schreitet dabei im deutschen Diskurs fort. Versuchten einige Autoren, eine griffige Definition vorzulegen,4 lenkten andere ihr Augenmerk auf die Abgrenzung zu verwandten Termini, etwa Extremismus und Radikalismus.5 Weitgehend Einigkeit besteht trotz der zahlreichen Definitionen über den Kern des Populismus: der Gegensatz von „Volk“ und Elite. Streit entzündet sich jedoch daran, wo genau die Trennlinie zwischen beiden Gruppen verläuft. Sind Bildungsstand und Schichtzugehörigkeit entscheidend? Bejaht David Van Reybrouck die Frage,6 wendet sich Jan-Werner Müller vehement gegen die Annahme, Populismus sei eine Strömung in der unteren Mittelschicht.7 Zustimmung erntet die These, zur Elite zählten meist politische Funktionsträger in Form der Regierung oder des Bundestags, mit Abstrichen auch wirtschaftliche wie kulturelle Akteure.8 Die politische Elite ist in den Augen des Rechtspopulismus grundsätzlich negativ, beispielsweise als „korrupt“ konnotiert. So müsse das „einfache Volk“ vor einer „ei4 Statt vieler Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016. 5 Vgl. Michael Minkenberg, Was ist Populismus?, in: Politische Vierteljahresschrift 59 (2018) 2, S. 337-352; Eckhard Jesse und Isabelle-Christine Panreck, Populismus und Extremismus. Terminologische Abgrenzung – das Beispiel der AfD, in: Zeitschrift für Politik 64 (2017) 1, S. 59-76; Isabelle-Christine Panreck, Rechtspopulismus – historisches Phänomen, politischer Kampfbegriff, analytisches Konzept?, in: Heinz Ulrich Brinkmann/dies. (Hrsg.), Rechtspopulismus in Einwanderungsgesellschaften, Wiesbaden 2019, S. 25-41. 6 David Van Reybrouk, Für einen anderen Populismus: Ein Plädoyer, Göttingen 2017, S. 25-29. 7 Vgl. Müller (Anm. 4), S. 29. 8 Vgl. Panreck (Anm. 5).
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
gennützigen Elite“ geschützt werden, wie das Parteiprogramm der AfD offenbart: „Es hat sich eine politische Klasse von Berufspolitikern herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt.“9 Dieser Elite müsse die politische Macht zugunsten des Volkes entzogen werden, wie der Front National im Wahljahr 2017 anprangert: „L’objectif de ce projet est d’abord de rendre sa liberté à la France et la parole au peuple.“10 Auch die österreichische FPÖ spart nicht mit Kritik an den Volksparteien SPÖ und ÖVP, für die Regieren nur noch „Selbstzweck“11 sei, denn „[e]s wurde genug blockiert, genug gestritten und die Österreicher haben genug gelitten. Den Österreicherinnen und Österreichern ist keine weitere Legislaturperiode einer schwarz-roten Proporzregierung zumutbar.“12 Erfolgt die Abgrenzung des „Volkes“ von der Elite auf vertikaler Ebene im Links- wie im Rechtspopulismus, differieren die Positionen der Populismen mit Blick auf die Abgrenzung auf der horizontalen Ebene. Die Grenzen des „Volkes“, verstanden als demos sind im linken Populismus – zumindest in der Theorie – offen. Gilt dies ebenso für die staatlichen Grenzen? Aufschlussreich ist Ernesto Laclaus Buch „On populist reason“, in dem Laclau in seiner Populismustheorie bestehende Gesellschaften und ihre Aufteilung in zwei Lager – „Volk“ gegen Elite – betrachtet.13 Dennoch erörtert Laclau, welche Konsequenzen sich für Gesellschaften ergeben, wenn es zum Beispiel zur Verschiebung staatlicher Grenzen kommt wie im Gebiet des früheren Jugoslawien. So ist Pluralität für ihn eine notwendige Bedingung für die Bildung hegemonialer Verkettungen, ergo des „Volkes“: „Everything depends on the links composing the equivalential chain, and there is no reason to suppose that they all have to belong to a homogeneous ethnic group. It is perfectly possible to constitute a 'people' in such a way that many of the demands of a more global identity are 'universal' in their content, and cut across a plurality of ethnic identities. When this happens, the signifiers unifying the equivalential chain will necessarily be 9 Alternative für Deutschland, Programm für Deutschland. Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, 2016, https://www.alternativefuer.de/wp-content /uploads/sites/7/2016/05/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf, S. 8. 10 Front National, 144 Engagements Présidentiels. Marine 2017. http://www.frontna tional.com/pdf/144-engagements.pdf. 11 Freiheitliche Partei Österreichs, Österreicher verdienen Fairness. Freiheitliches Wahlprogramm zur Nationalratswahl 2017, https://www.fpoe.at/fileadmin/user_u pload/Wahlprogramm_8_9_low.pdf, Vorwort. 12 Ebd. 13 Vgl. Laclau (Anm. 2), S. 196.
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more truly empty and less attached to particular communities — ethnic, or of any other type.“14 Welche Konsequenzen sich hieraus für die Politikpraxis ergeben, ist Gegenstand von Streit: Beim Parteitag im Juni 2018 verabschiedete die Partei Die Linke etwa ein Papier für „offene Grenzen“ und gegen Abschiebungen gemäß der Position der Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger.15 Sahra Wagenknecht proklamiert indes, es könne keine offenen staatlichen Grenzen für alle, sondern lediglich für Verfolgte geben.16 Im Gegensatz zum Linkspopulismus neigt der Rechtspopulismus zu einer Abschottung des Volkes von allem „Fremden“. Dies kann im Sinne eines ethnischen Volksverständnisses zur Diskriminierung insbesondere von Ausländern führen. Eine Nennung derer, die nicht zum „Volk“ gehören, vermeiden Rechtspopulisten meist. Eher nehmen sie eine unterschwellige Zuschreibung von Attributen an das „Volk“ vor, was in einen impliziten, weniger offensichtlichen Ausschluss mündet.17 Die Forderung nach strikten Grenzkontrollen gehört zum Standardrepertoire rechtspopulistischer Parteien. Eine zentrale Funktion bei der Organisation des „Volkes“ kommt sowohl im Links- als auch im Rechtspopulismus dem Anführer der Bewegung zu. Für den Befürworter des Linkspopulismus Ernesto Laclau ist ein Populismus ohne Anführer nicht möglich, da er das „Volk“ erst kreiere und ihm schließlich ein Gesicht gebe. Im Zweifel könne eine starke Führungsperson gar das Fehlen einer gemeinsamen inhaltlichen Basis ausgleichen, sofern sich die Mitglieder der Bewegung mit dem Anführer identifizierten.18 Diese These trifft auf den linken wie den rechten Populismus zu. Moffitt begründet dies mit dem Streben von Populisten nach Ambiguitätsreduktion: An die Stelle innerparteilicher Querelen und nach außen getragener Streitigkeiten rückt durch den Anführer die starke Stimme eines Einzelnen.19 Dessen Rolle gleicht einem Paradoxon: So stammt er selbst aus 14 Ebd., S. 198. 15 Vgl. Die Linke, Partei in Bewegung, 2018, https://www.die-linke.de/partei/parteist ruktur/parteitag/leipziger-parteitag-2018/news-default-detailseite/news/die-linke-p artei-in-bewegung-1/. 16 Vgl. Sahra Wagenknecht, Dieses Land verändern, 2018, https://www.die-linke.de/s tart/news-default-detailseite///dieses-land-veraendern/. 17 Vgl. Panreck (Anm. 5). 18 Vgl. Ernesto Laclau, Warum Populismus?, in: Oliver Marchart (Hrsg.), Ordnungen des Politischen: Einsätze und Wirkungen der Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wiesbaden 2017, S. 235. 19 Vgl. Benjamin Moffitt, The Global Rise of Populism, Stanford 2016, S. 55, Hervorhebung im Original.
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
dem Volk, urteilt nach dessen „gesundem Menschenverstand“, und ist doch so talentiert, dass er Distanz zur Masse wahrt – ein Image, das etwa Evo Morales in Bolivien perfektioniert hat. Das eigene Markenzeichen – ein Wollpullover – soll bei öffentlichen Auftritten an seine Bodenständigkeit und Volksnähe erinnern.20 Auch die rechtspopulistischen Parteien in Europa setzen auf klare Führungspersonen, etwa Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden oder Bart De Waever in Flandern. In den Niederlanden ist die gesamte Parteistruktur auf Geert Wilders zugeschnitten, gehören die Unterstützer doch formell gar nicht seiner Partei an.21 Wenngleich die Freiheitliche Partei Österreichs mit Norbert Hofer als Präsidentschaftskandidat und Heinz-Christian Strache als Parteivorsitzendem zeitweilig zwei starke Persönlichkeiten hatte, bleibt Strache das Gesicht der Partei. Sein Konterfei ziert gar das Parteilogo.22 Ein Sonderfall ist die AfD: Sie setzte zur Bundestagswahl im September 2017 mit Alice Weidel und Alexander Gauland auf eine Doppelspitze, ohne dass eine Hierarchie zwischen beiden für den Wähler erkennbar war. Auch entsprach der medial ausgetragene Konflikt zwischen dem Parteivorsitzenden Jörg Meuthen und der inzwischen aus der Partei ausgetretenen Frauke Petry im Wahljahr 2017 nicht dem Anspruch der Ambiguitätsreduktion.23 Neben der Unterscheidung in Volk und Elite sowie der Rolle des Anführers kann der Populismus laut Benjamin Moffitt nicht ohne die Klärung seines Verhältnisses zu den Medien verstanden werden. Linke und rechte Populisten seien besonders auf die Resonanz ihrer Botschaften in der massenmedialen Öffentlichkeit angewiesen. Der Grund hierfür: vor allem die zentrale Bedeutung des „Volkes“ im linken und rechten Populismus. Beide kreierten ein Bild des „Volkes“, das nur dann bei den Wählern verfange, wenn es überzeugend inszeniert und öffentlich sichtbar sei. Wie erfolgreich die Inszenierung ist, lässt sich laut Moffitt am öffentlichen Zuspruch ablesen, etwa in Form von Zustimmung bei Wahlen, der Anzahl der Parteimitglieder, der Höhe von Spenden oder der Präsenz in den sozia-
20 Vgl. ebd., S. 58, siehe auch Paula Diehl, The Body in Populism, in: Reinhard C. Heinisch/Christina Holtz-Bacha/Oscar Mazzoleni (Hrsg.), Political Populism. A Handbook, Baden-Baden 2017, S. 361-372. 21 Vgl. André Krause/Markus Wilp, Die Stimme der Unzufriedenheit: die Partij voor de Vrijheid, in: Friso Wielenga/Carla van Baalen/Markus Wilp (Hrsg.), Eine zersplitterte Landschaft: Beiträge zur Geschichte und Gegenwart niederländischer politischer Parteien, Amsterdam 2018, S. 160 f. 22 Siehe den Beitrag von Thomas M. Klotz in diesem Band. 23 Vgl. Panreck (Anm. 5); Jesse/Panreck (Anm. 5).
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len Medien (zum Beispiel Facebook). Linker wie rechter Populismus sucht folglich deutlich häufiger als eine nicht-populistische Kraft den Kontakt zum Publikum – in Lateinamerika beispielsweise in Form von Sendungen wie „Aló Presidente“ – einem venezolanischen TV-Format, das jeden Sonntag sechs Stunden aus dem Leben und Wirken Hugo Chávez‘ berichtet hatte.24 Hinzu kommt die extensive Nutzung digitaler Kommunikationsplattformen, wie Twitter, das mit der Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten zu einem zentralen Informationsdienst avancierte, selbst bei heiklen und politisch brisanten Fragen.25 Populisten gelingt es jedoch nicht nur in den digitalen Medien, ihre Botschaft massenwirksam zu platzieren. Auch in den konventionellen Printmedien erlangen sie enorme Aufmerksamkeit. Grund für den Erfolg ist die Überschneidung von populistischer Rhetorik und massenmedialer Selektionslogik. Benjamin Moffitt fasst zusammen: „Its appeal to ‘the people’ versus ‘the elite’ and associated others plays into media logic’s dramatisation, polarisation and priorisation of conflict; its ‘bad manners’ line up with media logic’s personalisation, stereotypisation and emotionalisation; while its focus on crisis plays into media logic’s tendency towards intensification and simplification.”26 Aus Moffitts Aufzählung ragt die populistische Konzentration auf Negativität und Krise hervor. In der Tat sticht die Krisenrhetorik der europäischen Rechtspopulisten ins Auge, sei es im Wahlprogramm der AfD zur Bundestagswahl 2017 („Eurokrise” und „Krise der Migration”), sei es im Wahlprogramm der FPÖ zur Nationalratswahl 2017 („Fairnesskrise”), sei es in den Thesen Marine Le Pens vor der Präsidentschaftswahl 2017 („Bankenkrise”). Zumeist werden Krisen als Ursprung populistischer Bewegungen bewertet – unabhängig davon, ob es sich um eine links- oder rechtspopulistische Bewegung handelt.27 Mit Blick auf den europäischen Rechtspopulismus betonen zahlreiche Autoren, der Populismus sei Folge einer
24 Vgl. Moffitt (Anm. 19), S. 84. 25 Heinz Ulrich Brinkmann, US-WählerInnen zwischen bürgerlichem Konservatismus und Donald Trump. Von der Bewahrung eigener (Vor-)Rechte zur Ablehnung von allem Nicht-Weißen und „Unamerikanischen“, in: ders./Panreck (Anm. 5), S. 351-398. 26 Moffitt (Anm. 19), S. 77. 27 Vgl. Laclau (Anm. 2); Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus: Unsere Gegner sind nicht Migranten, sondern die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus, o. O. 2015, http://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokra tie/artikel/fuer-einen-linken-populismus-857/; Karin Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen. Frankfurt/M. 2007, S. 27 f.; dies., Wesensmerkmale des Populismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 62/2012, S. 3-9, hier: S. 7.
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
durch die Globalisierung ausgelösten Modernisierungskrise.28 Benjamin Moffitt kritisiert diese Annahme und verweist auf die beidseitige Interdependenz von Krise und Populismus: „It is a product of a symbolically mediated performance.“29 Populismus sei keine Reaktion auf eine externe Krise, vielmehr strebe er danach, als Reaktion auf eine Krise zu wirken, um frustrierte gesellschaftliche Gruppen für sich zu gewinnen. Die Krise ist dem Populismus folglich inhärent: Er bestimme, wann ein Problem zu einem Staats- oder Marktversagen anwachse.30 Die Krise ist demnach der Antriebsmotor der populistischen Mühlen. Sie darf nicht enden, sonst verlöre der Populismus seinen Motor. Wer die einzelnen Debatten um den Populismusbegriff zusammenführt, erkennt vier zentrale Elemente: den Gegensatz von „Volk“ und Elite, die zentrale Bedeutung eines Anführers, den Umgang mit den Massenmedien als Bühne sowie die Kultivierung einer Krise.31 Welche Bedeutung der so umrissene Populismus für die Demokratie hat, ist wiederum Gegenstand der wissenschaftlichen Kontroverse: Für Ernesto Laclau ist Populismus kein Gegensatz zur Demokratie – im Gegenteil: Laclau sowie seine Co-Autorin Chantal Mouffe plädieren offensiv für einen starken Linkspopulismus als Gegenbewegung zum europäischen Rechtspopulismus.32 JanWerner Müller indes kritisiert Mouffe und Laclau scharf, sei ein demokratischer Populismus doch unmöglich, da dem Populismus stets ein antipluralistisches Moment innewohne.33 Für Verfechter der Definition von Populismus als Stil ist sowohl ein demokratischer als auch ein extremistischer Populismus möglich.34 Parallel zur grundsätzlichen Frage nach der demokratischen Qualität verläuft die Debatte, ob Populismus ein Korrektiv oder ein Totengräber der Demokratie ist.35 Kurzum: Welche Bedeutung hat die Existenz eines starken Populismus in Europa für die Parteiensysteme im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen? Was folgt für den alltäg-
28 Statt vieler Frank Decker, Die populistische Herausforderung. Theoretische und ländervergleichende Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, S. 14; Thomas Meyer, Populismus und Medien, in: ebd., S. 81; Frank Decker/Marcel Lewandowsky, Rechtspopulismus in Europa: Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien, in: Zeitschrift für Politik, 64 (2017) 1, S. 21-38, hier: S. 26. 29 Moffitt (Anm. 19), S. 119, Hervorhebung im Original. 30 Vgl. ebd., S. 118-121. 31 Vgl. Moffitt (Anm. 19); Jesse/Panreck (Anm. 5). 32 Vgl. Laclau (Anm. 2); Mouffe (Anm. 27). 33 Vgl. Müller (Anm. 4). 34 Vgl. Jesse/Panreck (Anm. 5). 35 Vgl. Decker (Anm. 28).
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lichen Umgang mit Populisten in den Parlamenten, auf den Straßen oder in der politischen Bildung? 2. Demokratie Die Auseinandersetzung um die Rolle des Populismus für die Demokratie – „Korrektiv“ oder „Gefahr“? – findet nicht zuletzt wohl deshalb auf absehbare Zeit kein Ende, weil es so etwas wie „den“ Populismus kaum geben dürfte. Zu buntscheckig sind jene Phänomene, die von der Politikwissenschaft, aber auch den Medien, der Politik und der Zivilgesellschaft als populistisch klassifiziert werden: Rechte und Linke, Demokraten und Extremisten, breite Sammlungsbewegungen und straff geführte Ein-Mann-Organisationen. Die Wirkung der Populismen auf die Demokratie hängt nicht zuletzt weniger von ihnen selbst als von dem Handeln der anderen politischen Akteure ab. Korrigierend wirken sie, wenn die Themen, die sie aufgreifen, von anderen Parteien (endlich) als relevant empfunden werden, weil so der politische Unmut in der Bevölkerung, der Frust über das (tatsächliche oder vermeintliche) Nicht-gehört-werden nachlässt. In dieser Lesart schließen populistische Parteien Repräsentationslücken in den nationalen Parteiensystemen. In Anlehnung an agonistische Demokratietheoretiker wie Chantal Mouffe erzeugen Populisten endlich gar jenen Konflikt, der einer Demokratie nicht nur zuträglich sei, sondern sie geradezu konstituiere. Zugleich: Nicht alles, was zu politischer Zufriedenheit in der Bevölkerung führt, muss der Demokratie dienen – an prominenter Stelle in der Geschichte der Demokratie, nämlich in den Weimarer Jahren, ist der Wunsch der Bevölkerung nach deren Abschaffung aufgetaucht. Zu einem „Totengräber“ wird Populismus aber nicht nur beim Verfechten antidemokratischer Forderungen, sondern auch bei seiner Ausgrenzung, sodass eine Regierungsbildung ohne ihn schwierig ist. Das schwächt langfristig das Vertrauen in die Demokratie, weil die Bevölkerung sich fragt, warum eine relevante politische Größe (populistisch hin oder her) nicht in das Machtgefüge einbezogen, als nicht satisfaktionsfähig anerkannt wird; oder weil „Große Koalitionen“ den Provisionscharakter verlieren, sich so der Eindruck mangelnder politischer Unterscheidbarkeit verfestigt und Populisten weiteren Zulauf erhalten. Außerdem: Populisten „tragen zu einer Verrohung der politischen Sitten bei, schüren Missverständnisse über die Funktionslogik von Parlamentarismus (etwa die Schattenseiten direktdemokratischer Elemente), das Misstrauen gegenüber der politischen Klasse sowie – langfristig – den Institutionen der Demokratie (durch konstantes Negative
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
Campaigning und fortwährende Krisenrhetorik).36 Selbst dem nicht-extremistischen Populismus wohnen damit zumindest latent demokratiegefährdende Momente inne – ganz gleich, ob sein Aufkommen von den anderen Parteien als Warnsignal interpretiert wird, auf das zu reagieren sei, oder eben nicht; ganz gleich, ob damit eine parteipolitische Repräsentationslücke geschlossen wird, oder nicht. Beim Populismus handelt es sich darum wohl eher um ein „Pharmakon“37 der Demokratie: in überschaubaren Dosen heilsam, ansonsten schädlich. Insofern darf die enge Verzahnung der Populismus- und der Demokratiekrisendebatte nicht verwundern. Verwundern sollte dahingegen, warum dieses Band erst jüngst geknüpft worden ist. Denn: Die Diskussion um eine „Krise“ der Demokratie ist so alt wie diese selbst – sei es im Sinne einer Auseinandersetzung mit einem etwaigen „Verfall“ real existierender Demokratien, sei es im Sinne einer Erörterung der „Fehlerhaftigkeit“ von Demokratie. Was die Verfallsrhetorik angeht, so „hat sich auch in der Politischen Theorie von Anfang an die Auffassung durchgesetzt, Demokratie sei ohne Krise nicht zu denken. Das gilt für die antiken Schriften von Platon, Aristoteles, Polybios über Thomas Hobbes zu Beginn der Neuzeit bis hin zu Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber.“38 Die Diagnose einer Postdemokratisierung durch den wohl prominentesten Kritiker der Neuzeit – Colin Crouch39 – fand weit über die politikwissenschaftlichen Kreise Resonanz und schloss ihrerseits an die Diskurse um eine Überlastung der Demokratie (die wohl eher eine Überlastung des Kapitalismus war)40 und um die Vorherrschaft von Ökonomie sowie Expertentum gegenüber Partizipation und Volkssouveränität an. Jüngst ist es das Schlagwort der „illiberalen Demokratie“, das die Politikwissenschaft umtreibt –
36 Tom Mannewitz, Der Paria unter uns. Wettbewerbsstrategien gegenüber Rechtsextremisten und -populisten, in: Sebastian Liebold/Tom Mannewitz/Madeleine Petschke/Tom Thieme (Hrsg.), Demokratie in unruhigen Zeiten. Festschrift für Eckhard Jesse. Baden-Baden 2018, S. 275-285, hier: S. 276. 37 Simon Tormey, Populism: democracy`s Pharmakon?, in: Policy Studies, 39 (2018) 3, S. 260-273. 38 Wolfgang Merkel, Die Herausforderungen der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden 2015, S. 7-42, hier: S. 7. 39 Siehe Colin Crouch, Post-Democracy. Cambridge 2004. 40 Zum Wechselverhältnis vgl. Wolfgang Merkel, Is Capitalism compatible with Democracy?, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 8 (2014) 2, S. 109-128.
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nämlich die Aushöhlung vor allem rechtsstaatlicher und konstitutioneller Regelgebäude, zumal in Osteuropa und in den USA, durch Populisten.41 Was die „Fehlerhaftigkeit“ von Demokratie angeht, so ist damit die – mindestens ebenso alte – Debatte um „strukturelle Funktionsprobleme“42 angesprochen. Winston Churchill traf in seiner Rede vor dem britischen Unterhaus am 11. November 1947 ins Schwarze, als er sagte: „No one pretends that democracy is perfect or allwise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of government except for all those other forms that have been tried from time to time.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diejenige Regierungsform, die am wenigsten mit „politischer Alternativlosigkeit“ anfangen kann – nicht zuletzt darum sah sich Margaret Thatchers und Angela Merkels TINA-Argumentation („There is no alternative.“) heftigster Kritik ausgesetzt, denn wo es an Alternativen fehlt, bleibt die Volkssouveränität auf der Strecke –, heutzutage alternativlos ist: Dem World Values Survey (2010-2014) zufolge halten es seit mehr als zwei Dekaden vier Fünftel der Menschen in den einbezogenen Ländern für „gut“ bzw. „sehr gut“, dass ihr Land demokratisch regiert wird. Dass nicht wenige Menschen fälschlicherweise vor einem fremden Interviewer ein Demokratiebekenntnis ablegen dürften, um sich nicht ins gesellschaftliche Abseits zu bringen,43 spricht nicht gegen die normative Hegemonie von Demokratie, sondern könnte einer der stärksten Indikatoren dafür sein. Demokratie ist in weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht mehr legitimierungsbedürftig, hat es zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer in normativer Hinsicht gleichsam alternativlosen Herrschaftsordnung gebracht. Die seit Jahren stagnierende Zahl der Demokratien ändert an diesem Befund wenig, denn die Menge an Regimen, die irgendwo zwischen Demokratie und Autokratie siedeln – politische Systeme also, die weder allen Ansprüchen einer voll entwickelten, liberal-konstitutionellen Demokratie
41 Siehe jüngst etwa Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018. 42 Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, 5. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 499. 43 Siehe etwa Mónica Ferrín/Hanspeter Kriesi (Hrsg.), How Europeans View and Evaluate Democracy. Oxford 2016; Mónica Ferrín Pereira, What is Democracy to Citizens? Understanding Perceptions and Evaluations of Democratic Systems in Contemporary Europe. Florenz 2012; Andreas Schedler/Rodolfo Sarsfield, Democrats with adjectives: Linking direct and indirect measures of democratic support, in: European Journal of Political Research 46 (2007) 5, S. 637-659; Christian Welzel/Alejandro Moreno Alvarez, Enlightening People: The Spark of Emancipative Values, in: Russell J. Dalton/Christian Welzel (Hrsg.), The Civic Culture Transformed. From Allegiant to Assertive Citizens, New York 2014, S. 59-88.
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noch denen einer repressiv-totalitären Diktatur genügen –, steigt seit Jahren beständig. Die gewachsene Zahl an Wahlregimen unterstreicht: Auch Autokratien suchen mehr und mehr demokratische Begründungsnarrative in ihre Legitimationsstrategien einzuflechten, um die Stabilität des Systems zu wahren. Kaum ein Land – zu den Ausnahmen zählen die Vereinigten Arabischen Emirate und der Vatikan – leistet sich den Luxus eines Wahlverzichts. Die Frage nach der Imperfektabilität von Demokratie ist dennoch nicht rein akademischer oder gar nur rhetorischer Natur.44 Vielmehr berührt sie deren Grundfesten. Vorgeworfen werden der Demokratie von verschiedenen Seiten die Neigung zu mediokrem politischem Führungspersonal, ihr zu Gegenwartsfixierung führender „short-termism“ (Stichwort: Ressourcenraubbau und begrenzter Ökologismus), die tendenzielle Überlastung der Wirtschaft durch überdehnte Wohlfahrtsstaatlichkeit, Ritualisierungsentwicklungen durch die enge Wahltaktung, Kompetenzmängel bei einem Großteil der Wahlbevölkerung (damit verbunden: abstrakte politische Gleichheit ohne Würdigung der Qualifikationen), die Abhängigkeit von einem wankelmütigen, urteilsschwachen und emotionalen Volkswillen, die selektive Willensbildung durch die Ausfilterung konfliktträchtiger, organisationsschwacher und unrealistischer Ideen, die „Unbeständigkeit der Zahl“ im Sinne instabiler Mehrheitsverhältnisse, ihre Neigung zur „Tyrannei der Mehrheit“ im Sinne Alexis de Tocquevilles (Zurückdrängung von Minderheitsmeinungen) und J.S. Mills (Legitimation schädlichen sozialen Konformismus‘ durch das Mehrheitsprinzip), die Trägheit demokratischer Entscheidungen, die geringe Robustheit von Entscheidungsfindungsprozessen gegenüber minimal variierten Spielregeln, die fehlende Garantie für rationale oder gemeinwohlorientierte Entscheidungen, ihre Anfälligkeit für gesellschaftliche Polarisierung, ihre Anfälligkeit für Destabilisierung durch Komplexität, um einige zu nennen.45 Gegen derlei „Konstruktionsfehler“ haben die Sozialwissenschaften (nicht allein die Politikwissenschaftler), zumal in der jüngeren Zeit, eine Reihe von Argumenten angeführt, die Fatalismus und antidemokratische Therapievorschläge gleichermaßen unbeachtet lassen. Stattdessen haben sie die „Evolution der Struktur der modernen liberalen Demokratie“ im Blick, bei der „die Grundmerkmale der Demokratie“ unangetastet bleiben (sollen), „während wir zugleich ihre einzelnen Regeln und Muster so fein
44 Siehe etwa auch Martin Sebaldt, Pathologie der Demokratie. Defekte, Ursachen und Therapie des modernen Staates, Wiesbaden 2015. 45 Vgl. Schmidt (Anm. 42), S. 461-465, 499-504.
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einstellen, dass die negativen Effekte minimiert werden“.46 Dazu zählen weniger invasive Eingriffe wie die stärkere Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, das der Bevölkerung Anreize gebe, eigene politische Kompetenzmängel zu überwinden, weil sie von einer Entscheidung auf regionaler oder lokaler Ebene stärker betroffen sei als von einer auf nationaler Ebene.47 In eine andere Richtung weisen Vorschläge eines als „Konsultative“ bezeichneten, flächendeckenden politischen Netzes aus zufällig ausgewählten „Zukunftsräten“, die zu einzelnen Sachfragen Lösungsvorschläge erarbeiten.48 Schweres Geschütz wird wiederum dort aufgefahren, wo etwa ein „Wahlführerschein“ im Mittelpunkt der Forderungen steht, der politisch Desinformierte von der politischen Partizipation fernhalten soll.49 Verarbeitet wird damit Kritik am inkompetenten Wähler und dem „blinden“ Gleichheitsprinzip der Demokratie, das bisweilen als „demokratisches Vorurteil“50 gilt. Ob eine derartige „gemäßigte Epistokratie“ noch das Label „demokratisch“ verdient? Auch die seit langem bekannte Debatte um die (ergänzende oder ersetzende) Einführung von Losverfahren setzt die Axt an einer der institutionellen Wurzeln der Demokratie an,51 um Misstrauen, Legitimitäts- und Effektivitätsdefizite zu heilen sowie einige Schwachstellen des Systems – darunter die mit der engen Wahltaktung und dem shorttermism verbundenen Herausforderungen, die Kompetenzmängel der Bevölkerung und der politischen Elite – gänzlich außer Kraft zu setzen. Was bei all diesen – wünschenswerten, weil konstruktiven – Debatten häufig in Vergessenheit gerät: Was als „Konstruktionsfehler“ zählt, hängt hauptsächlich vom jeweiligen Demokratieverständnis ab. Wer also über Defekte der Demokratie spricht,52 darf zu dem zugrundeliegenden Demo46 Haim Harari, Technologien könnten die Demokratie gefährden, in: John Brockman (Hrsg.), Worüber müssen wir nachdenken? Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt, Frankfurt/M. 2014, S. 296-301, hier: S. 301. 47 Siehe Ilya Somin, Democracy and Political Ignorance. Why Smaller Government is Smarter, Stanford 2016. 48 Siehe Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016. 49 Siehe Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen, Berlin 2016. 50 Barbara Zehnpfennig, Die Immigrationsdebatte und die Herrschaft der Political Correctness, in: Politische Studien 62 (2011) 4, S. 84-93, hier: S. 90. 51 Siehe zuletzt etwa David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016; Hubertus Buchstein, Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Frankfurt/M. 2009. 52 Siehe jüngst Tom Mannewitz (Hrsg.), Die Demokratie und ihre Defekte. Analysen und Reformvorschläge, Wiesbaden 2018.
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
kratiemodell nicht schweigen.53 Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Das von normativen Leitplanken weitgehend befreite, ökonomische Verständnis von Demokratie im Sinne eines Wählermarktes in Schumpeter’scher und Downs‘scher Tradition zeigt sich gänzlich unbeeindruckt von vielen Kritiken an der Demokratie, solange es einen fairen Parteienwettbewerb, freie und regelmäßige Wahlen, ein allgemeines Wahlrecht und als legitim anerkannte Wahlergebnisse gibt. Beteiligungszentrierte Ansätze wiederum haben eine Blindstelle, wenn es um die – faktischen und potentiell möglichen – Kompetenzen der Bürger geht, dürften aber – ähnlich wie liberale Theoretiker im Anschluss an Tocqueville und Mill – mit einer „Tyrannei der Mehrheit“ hadern, wenngleich aus anderen Gründen: Stehen hier nämlich die Deliberationsvoraussetzungen im Fokus, ist es dort die politische Freiheit des Individuums. Die kritischen Demokratietheorien wiederum zeichnet gerade ihre skeptische Sichtweise auf Demokratie aus – sie nehmen vor allem die Mehrheitsregel und die Umformung von Individualinteressen in Kollektiventscheidungen unter Beschuss. „Die“ Demokratie schlechthin existiert nicht. Aus forschungspragmatischen Gründen kann der kleinste gemeinsame wissenschaftliche Nenner nur darin bestehen, Transparenz herzustellen: Welche theoretischen Konzeptionen und normativen Maßstäbe sind zur Beurteilung politischer Realitäten heranzuziehen? Eine Einigung auf gemeinsame Begrifflichkeiten ist wenig realistisch, da es rationale Letztbegründungen in diesem normativen Spannungsfeld (auch bei empirischen Erkundungen) nicht geben kann. Auch und gerade deshalb, weil sich die Demokratieforschung – nicht nur in Deutschland – der Demokratie verpflichtet weiß, sind „letztgültige“ definitorische Klärungsversuche nicht nur unnötig, sondern für eine Pluralität, Freiheit und Fairness verpflichtete Disziplin auch unpassend. 3. Inhalt Das Verhältnis von Populismus und Demokratie ist, wie gezeigt, ein kompliziertes. Populismus, ob extremistisch oder nicht, stellt eine Herausforderung für das demokratische Gemeinwesen dar. Populisten dieser oder jener Couleur bringen oft Themen zur Sprache, die etablierte Kräfte aus Sorge davor, die Demokratie könne gefährdet werden, herunterspielen oder ignorieren. Das ist nicht gut. Wer solche Aspekte offensiv aufgreift, muss ja nicht populistisch argumentieren. Gerade dadurch lässt sich der Populis53 Vgl. im Folgenden zum Überblick das Standardwerk von Schmidt (Anm. 42).
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mus schwächen. „In den politischen Auseinandersetzungen in Deutschland vertritt zum Beispiel die AfD Meinungen zu bestimmten Themen – etwa Europäische Union und Zuwanderung –, die zwar in der Bevölkerung von einigen Gruppen geteilt werden, von anderen Parteien jedoch bisher nicht oder nicht ausreichend artikuliert wurden. So kann der Erfolg populistischer Parteien durchaus als Reaktion auf eine Nichteinhaltung der Versprechen von Demokratie verstanden werden: des Versprechens an die Wähler zur Beteiligung am politischen Geschehen, des Versprechens zur Vertretung ihrer Interessen und zum Thematisieren ihnen wichtiger Anliegen.“54 Wer auf eine Studie aus einem Guss hofft, wird enttäuscht. Ein Band vieler Autoren ist keine Monographie. Daher ist kein Wert auf Geschlossenheit gelegt worden, da unter einem solchen Schematismus die Originalität der einzelnen Beiträge litte. Zudem würde schon aufgrund der interdisziplinären Zusammensetzung der Nachwuchswissenschaftler – neben Politikwissenschaftlern sind auch Historiker und Juristen vertreten – ein solches Unterfangen gewisse Schwierigkeiten hervorrufen. Jeder Text, der jeweils einen Eindruck von der Vorgehensweise des jeweiligen Autors vermitteln soll, steht für sich. Die einen Verfasser legen ihren Schwerpunkt eher auf den Bereich des Populismus, die anderen mehr auf den der Demokratie, wobei die Grenzen fließend sind. Gleichwohl dürfte eine Zweiteilung der Beiträge, die sich weithin auf Deutschland beziehen, zu rechtfertigen sein. Es handelt sich nicht um Kurzfassungen der Dissertationen, sondern um ausgewählte Aspekte, die nicht zentral für den Argumentationsgang der Promotion sein müssen. Im ersten Teil finden sechs Texte Aufnahme, die Populismus aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten suchen, und zwar von Alexander Akel, Carina Schatten, Thomas M. Klotz, Johannes Schaefer, Christoph Schiebel, Maximilian Kreter. Empirische Ansätze dominieren. Da einige Aufsätze auf das Verhältnis des Populismus zum Extremismus abheben, erscheint die Überschrift „Populismus und Extremismus“ angemessen. Wenn Rechtspopulismus klar überwiegt, so hängt dies zum einen mit der Stärke der AfD zusammen, zum andern mit dem Befund, dass die Partei Die Linke, der Widerpart der AfD, vielfach nicht als populistisch gilt. Die gestiegene Demokratieunzufriedenheit in Westeuropa ist eng mit dem Beginn der Eurokrise im Dezember 2009 verbunden, so Alexander Akel. Am deutlichsten spiegelte sich seither das Unbehagen gegenüber der
54 So Renata Martins, Vox populi vox Dei? – Überlegungen zu Populismus und Demokratie, in: Recht und Politik 54 (2018) 3, S. 290.
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
Leistungsfähigkeit der Demokratie in beachtlichen Erfolgen rechtspopulistischer Parteien bei westeuropäischen Parlamentswahlen wider (Deutschland, Österreich, Italien etwa). Jedoch reüssiert der parteiförmige Rechtspopulismus nicht überall in Westeuropa. In Ländern wie Spanien oder Portugal etwa existieren gegenwärtig keine rechtspopulistischen Parteien mit nennenswerten Erfolgschancen. Wie ist das zu erklären? Zur Beleuchtung seiner elektoralen Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren richtet der Beitrag den Blick auf die Angebotsstruktur des parlamentsorientierten Rechtspopulismus – er prüft dazu zwei in der Populismusforschung verbreitete Hypothesen für Erfolg (Charisma) und Misserfolg (Regierungsverantwortung) anhand von Parlamentswahlen in Westeuropa im Untersuchungszeitraum von Dezember 2009 bis April 2018. Die Befunde sind eindeutig: Beide Hypothesen konnten der empirischen Prüfung im Hinblick auf die untersuchten Fälle nicht standhalten. Globalisierung: Nationalstaatliche Grenzen verblassen zugunsten eines dichten Beziehungsgeflechts aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verbindungen, das ein rapides Wachstum der Volkswirtschaften und ein erhöhtes Maß an Wohlstand begünstigt – meint Carina Schatten. Im Glanze des Erfolgs bleiben negative Begleiterscheinungen lange im Verborgenen. Strukturelle Veränderungen innerhalb der postindustriellen, von den Modernisierungsprozessen der Globalisierung geförderten Gesellschaften manifestieren sich sodann in ihrer Kehrseite: in politischer Unzufriedenheit, Existenzängsten und Identifikationsverlusten. Hier betreten rechtspopulistische Akteure die gesellschaftliche Bühne. Als Staat mit dem höchsten Globalisierungsgrad bilden die Niederlande und damit die Partij voor de Vrijheid das Fallbeispiel des Aufsatzes. So kann zwischen zwei Ebenen – der objektiven und der subjektiven – unterschieden werden, den vorhandenen und den empfundenen negativen Effekten globaler Vernetzung mit Blick auf das Erstarken rechtspopulistischer Phänomene. Der Zuspruch für rechte Populisten dient als Seismograph gesellschaftlicher Deprivationsempfindungen. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) gilt als rechtspopulistische, seit Jahrzehnten fest im österreichischen Parteiensystem verankerte politische Kraft. Seit dem Nationalratswahlkampf 2017 und der anschließenden Regierungsverantwortung hat sich diese Partei nach Thomas M. Klotz nun offenbar gewandelt. Inhaltliche Positionen wurden geändert und relativiert, um ein breiteres Wählerspektrum anzusprechen. Besonders augenfällig wird dies beim Umgang der Partei mit dem Islam. Zudem wurden bereits Jahre zuvor die Strategien auf den Bundesparteiobmann ausgerichtet und FPÖ-nahe Organisationen gegründet, um in verschiedene Interessengruppen hineinzuwirken. Angesichts dieses Wandels stellt sich die Frage, 21
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ob die FPÖ von einer typisch rechtspopulistischen Kraft hin zu einer Catch-All Party im Sinne Otto Kirchheimers mutiert. Der Beitrag präsentiert Anhaltspunkte dafür, dass sich die FPÖ zu einer Catch-All Party entwickelt, wobei von einer abgeschlossenen Transformation aber keine Rede sein kann. Die „Sprache der Populisten“ firmiert in der einschlägigen Forschung als Besonderheit und die als populistisch geltende Alternative für Deutschland ist derzeit in aller Munde. Johannes Schaefer widmet sich der Beantwortung folgender Fragen: Was ist bei einem populistischen Sprachgebrauch zu erwarten, und wie „spricht“ diese neue Partei? Welches sind die zentralen Merkmale ihrer Sprache? Welche Begriffe und Metaphern nutzt sie? Der Beitrag will anhand von Wahlprogrammen Populismus in Sprache messen und die zentralen Begriffe der AfD herausarbeiten, indem er sie mit dem Sprachgebrauch anderer Parteien vergleicht. Um die Streitigkeiten bei der Kategorisierung von Populismus zu umschiffen, leitet Schaefer aus der Literatur drei wesentliche Merkmale ab, diese auf Sprache anwendend. Die Sprache der AfD, so scheint es, unterscheidet sich vor allem durch spezifische diskursive Elemente von anderen Parteien. Sie ist als klar populistisch zu bezeichnen, wobei ihr eine auffällig starke moralische Komponente innewohnt. Christoph Schiebel geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern rechtsextremistische Tendenzen die Kommunikation der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) im aktuellen Bundestag bis zur Wiederwahl der Bundeskanzlerin Angela Merkel 2018 geprägt haben. Der Untersuchungsrahmen basiert auf einem extremismustheoretischen Ansatz. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse stellt der Autor fest, dass die AfD in ihrer Rhetorik routiniert rechtsextremistische Elemente verwendet. Deshalb ist sie aber noch keine klassische rechtsextremistische Partei. Gleichwohl rekurrieren einzelne AfD-Abgeordnete wie Gottfried Curio häufiger als andere auf eine rechtsextremistische Rhetorik. Eine Randerscheinung in ihrer Kommunikation ist rechtsextremistisches Denken allerdings nicht. Vielmehr tritt Rechtsextremismus bei der AfD-Fraktion in Kombination mit zentralen Aspekten ihrer politischen Selbstdarstellung auf. In den 1990er Jahren war Rechtsrock „Begleitmusik“ zu den „Urszenen“ rassistischer Gewalt in Ostdeutschland. Die Musik und die sie umgebenden Vergemeinschaftungen werden bis heute oftmals mit jungen, stark alkoholisierten, Parolen grölenden rechtsextremen Skinheads in Springerstiefeln und Bomberjacken in Verbindung gebracht. Doch längst hat sich eine ausdifferenzierte subkulturelle Szene innerhalb der rechtsextremen Bewegung etabliert, die eigene soziale, politische und ökonomische Strukturen ausgebildet hat, so Maximilian Kreter. Er analysiert die Bewegungs22
Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
szene des Rechtsrocks anhand der Entwicklung der zentralen Kategorien der Bands, der Konzertveranstaltungen wie des Handels, und er verweist dabei auf die funktionalen, personellen, strukturellen und ideologischen (Dis-)Kontinuitäten zwischen den einzelnen Phasen. Abschließend wird die Szene im Spannungsfeld zwischen juveniler Rebellion und politischer Agitation eingeordnet. Im zweiten Teil kommt eine Reihe von Aspekten zur Sprache, bei denen der Komplex der Demokratie in den Vordergrund rückt. In den acht Texten von Sandra Wirth, Alexander G.M. Prill, Felix Rhein, Robin Graichen, Susanne Thelen, Martin Hummel, Jens Weinhold-Fumoleu und Christina Forsbach geht es dabei um höchst heterogene Themen, theoretischer, empirischer und historischer Natur. Da fast alle Beiträge die tragende Rolle von Parteien für den Bestand einer Demokratie erwähnen, mag es gerechtfertigt sein, dieses Kapitel unter die Überschrift „Demokratischer Verfassungsstaat und Parteien“ zu stellen. In den 1960er Jahren erlebte die Debatte um Legitimität eine unerwartete Renaissance in der politikwissenschaftlichen Zukunft. Als Ideal einer normativen Grundlegung stellten viele Kritiker die Volkssouveränität der westdeutschen Realität gegenüber. Peter Graf Kielmansegg hebt wiederum die Prämisse selbst auf den Prüfstand, verwirft deren konstitutive Annahmen und zweifelt an ihrer Anwendbarkeit. Der Beitrag Sandra Wirths referiert seine ideengeschichtlichen und systematischen Argumente sowie seinen Vorschlag einer normativen Begründung des freiheitlichen Verfassungsstaates. Im Mittelpunkt stehen dabei Kielmanseggs Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundannahmen der Volkssouveränität und seine Kritik an diesen. Ergänzend nimmt der Text die zeitgeschichtlichen Entstehungshintergründe von dessen erster politikwissenschaftlicher Monographie in den Blick, die Forschungslandschaft einordnend sowie das Gesamtwerk des Politologen und Historikers berücksichtigend. Das Vertrauen in Politiker, Parteien und Demokratie hat in den letzten Jahren immer wieder gelitten. Bekannte Beispiele sind unter anderem die Lüge des ehemaligen US-Außenministers Colin Powell vor dem Sicherheitsrat vom Februar 2003 oder selbiges Vergehen des Verteidigungsministers a. D. zu Guttenberg während seiner Plagiatsaffäre. Von einem deliberativen Standpunkt aus greift die fehlende Wahrhaftigkeit das interpersonale Vertrauen und Systemvertrauen an. Ob das normative Fundament und damit die Wahrhaftigkeit noch zeitgemäß sind, stellt Ingolfur Blühdorn infrage. Seine Argumente fußen auf der Modernisierungsthese sowie der normativen Überladung jener Begriffe. Dennoch rekurriert er auf die Vertrauenstypen. Das wirft für Alexander G.M. Prill die Frage nach der Relevanz von Wahrhaftigkeit in Blühdorns Demokratiekonzeption auf. Dies ist nicht 23
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normativ, vielmehr Bestandteil seines simulativen Demokratieansatzes. Zudem belegt Prill anhand der Kategorien Repräsentation, Partizipation und Legitimation, dass Blühdorn sein Konzept nach wie vor benötigt. Transparente Hintergrundgespräche sind ein Widerspruch in sich, meint Felix Rhein. Die seit Jahrzehnten existierende Praxis vertraulicher Gespräche zwischen Politik und Medien wird möglicherweise bald Geschichte sein. Denn die Verwaltungsgerichte verpflichten staatliche Stellen immer öfter, Auskunft über Pressekontakte zu geben. Kurioserweise klagen gerade Medienvertreter auf Zugang zu Pressekontakten. Dies erscheint kontraintuitiv, sind Journalisten durch die Pressefreiheit doch vor einer Preisgabe ihrer Kontakte geschützt. Nun werden allerdings ihre Informanten ausgeforscht und dabei – durch die Hintertür – Aufschlüsse über die Arbeit und Recherchen der Journalisten erlangt. Eine kritische Sicht der rechtlichen Hintergründe erhellt: Hintergrundgespräche müssen geschützt bleiben. Weder besteht ein Auskunftsanspruch der Presse noch eine Grundlage für Eingriffe in die Pressefreiheit der teilnehmenden Journalisten. Transparenz allein rechtfertigt keine Grundrechtseingriffe. Die Bundestagswahl 2017 führte zu einer parlamentarischen Sitzverteilung, die große Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung hervorrief: Noch nie hatten Union und SPD zusammengenommen einen so geringen Stimmenanteil bei Bundestagswahlen und keine der aus dem Wahlergebnis möglichen Mehrheitskoalitionen wurde von allen der involvierten Parteien angestrebt. Nachdem CDU/CSU, FDP und Grüne ihre Sondierungsgespräche ergebnislos abgebrochen hatten, bot nur die Fortsetzung der Großen Koalition die Chance einer mehrheitsfähigen Regierung. Der Beitrag Robin Graichens analysiert den Koalitionsbildungsprozess mittels formaler Koalitionstheorien und greift hierfür auf die Parteipositionen aus dem Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2017 zurück. Die Absage der FDP an eine Koalition mit CDU/CSU und Grünen aus Sicht der Liberalen ist als rational richtige Entscheidung zu beurteilen und die Große Koalition als die optimale Gleichgewichtslösung der beteiligten Parteien im Koalitionsspiel. Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA 2016 wird wohl aufgrund der negativen Schlagzeilen rund um die beiden Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump im Gedächtnis bleiben. Nicht nur während der drei Fernsehdebatten, sondern auch bei anderen Wahlkampfauftritten und in den sozialen Netzwerken haben die Kandidaten kein gutes Haar aneinander gelassen. Insbesondere auf „Twitter“ ließen sich die ehemalige Außenministerin und der Unternehmer ungefiltert über die Fehltritte und Skandale des Rivalen aus, wie Susanne Thelen belegt. Die Ungereimtheiten mit Blick auf Clintons Stiftung, ihre Zugehörigkeit zum Establishment so24
Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
wie die Vorwürfe der sexuellen Belästigungen gegen Trump und seine fehlende politische Expertise erklären beispielhaft die Intensität und die Unterschiedlichkeit des Negative Campaigning. Der Text analysiert, wie Clintons und Trumps Negative Campaigning bei Twitter während des Wahlkampfes funktioniert hat und welche persönlichen, fachlichen oder werteorientierten Charakteristika des Rivalen sie attackierten. Martin Hummels Abhandlung erörtert das anfänglich schwierige Verhältnis zwischen Protestantismus und Demokratie in den jungen Jahren der Bundesrepublik. Ursächlich dafür ist der historische Werdegang des Protestantismus. Die in der Reformationszeit entstandenen Grundlagen, in Form der engen Verbindung zwischen Thron und Altar, trugen über die Jahrhunderte dazu bei, ein problematisches Staatsverständnis zu verfestigen. Kaiserreich und Weimarer Republik knüpften – mehr oder weniger – an dieses reformatorisch geprägte autoritäre Staatsverständnis an, so dass kein demokratischer Erinnerungsort für den deutschen Protestantismus entstehen konnte. Mit seiner menschenverachtenden Ideologie war der Nationalsozialismus ohnehin das untauglichste Objekt für die bundesdeutsche Demokratie und deren Protestanten. Erst hier reifte ein Demokratieverständnis heran, das im Jahre 1985 mit der Demokratiedenkschrift seinen Höhepunkt fand. Der deutsche Parlamentarismus akzeptierte und respektierte die parlamentarische Demokratie nun vollumfänglich – die historischen Altlasten waren endlich überwunden. Jens Weinhold-Fumoleau behandelt in seinem zeithistorischen Beitrag jene ostdeutschen Parteigründungsinitiativen, die in der „nationalen Phase“ der Friedlichen Revolution 1989/90 dem Vorbild der bayerischen CSU nacheiferten. Ihre Führungsaktivisten traten nach dem Mauerfall im November 1989 mit der Münchner Landesleitung in Kontakt und buhlten um Unterstützung bei ihren Versuchen, eine „CSU des Ostens“ zu gründen. Welche Wahrnehmungen und Erwartungen der bundesrepublikanischen CSU und des westdeutschen Parteiensystems sie dabei leiteten, analysiert der Autor durch Rückgriff auf Presseberichte, öffentliches Parteischriftgut und interne Korrespondenzen aus den Parteiarchiven. Im Blick der ostdeutschen Konservativen auf die bayerische CSU treten länger konsolidierte Imaginationen vom bundesrepublikanischen Parteiensystem zutage. Die „bayerische Staatspartei“ erscheint dabei in mehrfacher Hinsicht idealisiert: als unmittelbar handlungsfähige Wächterin von Glaube, Traditionen und Konservativismus, als Partei wirtschaftspolitischer Vernunft und des schlanken Staates sowie als Vorkämpferin für die deutsche Einheit im Geiste von Franz Josef Strauß. Den Anspruch, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in ihrer Nachbarschaft fördern zu wollen, verfolgt die Europäische Union ins25
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besondere seit Ende des Kalten Kriegs. Diese wertepolitisch unterfütterte Praxis der EU-Demokratieförderung kann als Ausdruck eines normativen Akteurs gelesen werden, dessen Vorbildrolle und außenpolitische Identität sich aufgrund der singulären EU-Integrationsgeschichte allerdings erst graduell herausgebildet hat. Der Beitrag Christina Forsbachs untersucht diesen Normsetzungsprozess und zeichnet die Etappen auf dem Weg zur Formulierung der Demokratienorm für die EU-Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik nach. Berücksichtigung finden die Zeiträume der Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa ab 1989 und in der arabischen Welt ab 2011, die – so die These – als externe Herausforderungen in besonderer Weise einen Impuls auf den Demokratiediskurs ausgeübt haben. Anhand zentraler Dokumente wie Schlussfolgerungen des Europäischen Rats und mit Blick auf die begleitende Rhetorik der EU-Entscheidungsträger werden zudem die Inhalte der externen EU-Demokratienorm kritisch überprüft. Um auf den thematischen Ausgangspunkt zurückzukommen: die Herausforderung der Demokratie durch Populismus. Dieser kann sie nicht nur schwächen, sondern auch stärken. Und die Demokratie hat selbstkritisch nach ihrem Anteil für das Aufkommen des Populismus zu fragen. Mit den Worten der brasilianischen Wissenschaftlerin Renata Martins: „Die liberale Demokratie benötigt funktionierende Institutionen, damit den vielfältigen Interessen eines pluralistischen Gemeinwesens langfristig Rechnung getragen wird. Damit die Aufrechterhaltung demokratischer Stabilität gelingt, müssen populistische Parteien in der politischen Auseinandersetzung ernst genommen werden. Zu begrüßen wäre auch, wenn problematische Themen angesprochen werden dürften, damit bestimmte, für einen Teil der Wählerschaft wichtige Inhalte in die politische Agenda aufgenommen werden könnten. Letztlich müssen moderate Parteien zur Basis wieder zurückfinden, indem sie sowohl inhaltlich wie auch kommunikativ wieder in Kontakt mit ihr treten. Die Erfolge des Populismus sind ein Weckruf. Hören wir auf ihn!“55 Auf den Weckruf, nicht auf den Populismus! 4. Dank Unser Dank ist ein mehrfacher. Ein solcher Band, der es jungen Wissenschaftlern erneut ermöglicht, die ersten Einsichten ihrer Dissertation einer 55 Ebd., S. 295.
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Populismus und Demokratie – ein Spannungsfeld
größeren Öffentlichkeit zu präsentieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Verdienst gebührt der Hanns-Seidel-Stiftung. Einer der Herausgeber hatte bereits dreimal die Gelegenheit, jeweils in einem Rhythmus von vier Jahren, einen derartigen Band mit Texten von Doktoranden herauszugeben, gefördert jeweils durch die Hanns-Seidel-Stiftung.56 Aller guten Dinge sind nun vier. Der erste Dank richtet sich an die Hanns-Seidel-Stiftung für die finanzielle Förderung aus den Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, für die ideelle namentlich an Prof. Hans-Peter Niedermeier, den Leiter des Instituts für Begabtenförderung, und Isabel Küfer, die Referatsleiterin des „Journalistischen Förderprogramms für Stipendiaten“. Beide haben sich erneut nimmermüde um ein Promotionskolleg konstruktiv gekümmert, diesmal zum Thema „Populismus und Demokratie“, an den Treffen – zwei- bis dreimal im Jahr – „proaktiv“57 teilgenommen und uns allen mit Rat und Tat zur Seite gestanden, nach dem Motto: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg. Anders formuliert: Gutes tun, und nicht darüber reden. Die sprichwörtliche Liberalitas Bajuwaris, ein alter Schriftzug auf dem Kirchenportal des Augustinerchorherrenstiftes Polling, wurde nicht propagiert, wohl aber praktiziert. Die Leiter des Kollegs hatten freie Hand bei der Auswahl der Stipendiaten, und zwar unter der Voraussetzung, die wissenschaftliche Leistung möge stimmen. Der zweite Dank geht an die Stipendiaten des Promotionskollegs. Obwohl dieses erst zu Beginn des Jahres 2017 ins Leben gerufen wurde, war die Bereitschaft groß, zu einem solch frühen Zeitpunkt einen Text für den Sammelband beizusteuern. Einige Doktoranden sind mit ihrer Promotion fast fertig, und die Herausgeber zeigen Optimismus, dass alle ihren „Doktor bauen“. Besonders verdient gemacht um die Fertigstellung des Bandes haben sich Christina Forsbach und Maximilian Kreter, Mitglieder des Promotionskollegs, durch Organisationsgeschick und redaktionelle Hilfen, die uns das „Herausgebergeschäft“ mannigfach erleichterten. Wir danken herzlich!
56 Vgl. Eckhard Jesse/Hans-Peter Niedermeier (Hrsg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007; Eckhard Jesse/Gerd Strohmeier/Roland Sturm (Hrsg.), Europas Politik vor neuen Herausforderungen, Opladen/Farmington Hills 2011; Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Europa. Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven, Berlin 2015. 57 Solche redundanten Floskeln wurden beim Promotionskolleg gerne „aufgespießt“. Denn wir sind uns darin einig: Eine gute Arbeit ist auch durch eine gute Sprache gekennzeichnet.
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1. Populismus und Extremismus
Zwischen Charisma und Regierungsverantwortung? Zu den angebotsseitigen Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren rechtspopulistischer Parteien bei Parlamentswahlen in Westeuropa seit Beginn der Eurokrise Alexander Akel
1. Der rasante Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa nach 2009 Die gestiegene Demokratieunzufriedenheit in Westeuropa ist eng mit dem Beginn der Eurokrise am 9. Dezember 2009 verbunden.1 Am deutlichsten spiegelte sich seither das Unbehagen gegenüber der Leistungsfähigkeit der Demokratie in zahlreichen Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien wider. Die Alternative für Deutschland (AfD) etwa konnte bei der Bundestagswahl 2017 mit 12,6 Prozent als drittstärkste Kraft ihr Zweitstimmenergebnis zur vorangegangenen Wahl 2013 (4,7 Prozent) nahezu verdreifachen. Mit über 90 Abgeordneten zog im zweiten Anlauf erstmals nach 1990 eine Partei rechts der Union in den 19. Deutschen Bundestag ein; vier Jahre zuvor war die AfD noch an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Bei der österreichischen Nationalratswahl 2017 erreichte die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ein Ergebnis von 26,0 Prozent, womit die in der Alpenrepublik bereits seit Jahrzehnten etablierte Partei am rechten Rand des politischen Spektrums den dritten Rang belegte. Nach der Wahl bildeten die – als stärkste Kraft hervorgegangene – Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die FPÖ eine Koalitionsregierung. Schließlich konnte die Lega Nord (LN)2 als erfahrene Rechtsaußenpartei bei der italienischen Parlamentswahl 2018 zur drittstärksten Kraft avancieren, indem sie ihr Ergebnis von ehemals 4,1 Prozent (2013) auf 17,4 Prozent ausbaute. Nach anfängli-
1 Vgl. Falk Illing, Die Eurokrise, Analyse der europäischen Strukturkrise, 2. Auflage, Wiesbaden 2017, S. 53. Die Eurokrise ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Sie steckt lediglich den Beginn des Untersuchungszeitraums ab. 2 Da die LN nicht mehr nur im nord-, sondern auch im mittel- und süditalienischen Raum aktiv ist, tritt sie seit 2018 bei Wahlen als „Lega“ an. Allerdings umfasst der Untersuchungszeitraum die italienischen Parlamentswahlen 2013 und 2018, weswegen ich angesichts der Einheitlichkeit im Folgenden durchgehend von „Lega Nord“ beziehungsweise „LN“ spreche.
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chem Dissens gingen die Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle; M5S) – mit 32,7 Prozent ebenfalls als stärkste Kraft hervor – und die LN knapp drei Monate nach der Wahl eine Koalitionsregierung ein. Vor dem Hintergrund dieser Erfolgsbilanz stellt sich die Frage nach ihren Ursachen. Zwar mag die europäische Strukturkrise Einfluss auf den rasanten Aufstieg von Rechtspopulisten haben. Jedoch wäre es zu kurz gegriffen, diesen Erfolgsschub ausschließlich aus wirtschaftlicher Perspektive zu betrachten.3 Denn: Rechtspopulisten reüssieren sowohl in Ländern, die von der Eurokrise einigermaßen verschont worden sind (Deutschland und Österreich etwa),4 als auch in Ländern, die von der Krise stark getroffen wurden (Italien etwa). Zudem wird die Annahme, dass die Eurokrise alleiniger Verursacher für die elektoralen Erfolge rechtspopulistischer Parteien ist, von Ländern wie Spanien und Portugal konterkariert. Hier gibt es keine rechtspopulistische Partei mit nennenswerten Erfolgschancen. In Portugal erzielt die Partido Nacional Renovador (PNR) seit Jahren Wahlergebnisse im Promillebereich (2011: 0,3 Prozent; 2015: 0,5 Prozent), in Spanien existierte lange Zeit nicht einmal eine Partei, die zweifelsfrei dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet werden kann (das änderte sich freilich mit der Gründung der Partei Vox, die erstmals im Winter 2018 in ein Regionalparlament zog). Dies ist erklärungsbedürftig, sind doch beide Länder erheblich von den Folgen der Eurokrise betroffen. Zur Ermittlung der relevanten Erfolgs- (und Misserfolgs)faktoren des parlamentsorientierten Rechtspopulismus bietet es sich an, den Blick auf die ihn charakterisierende Angebotsstruktur zu richten.5 Die zentrale Forschungsfrage des Beitrags lautet demnach: Welche angebotsseitigen Faktoren verursachten die Erfolge und Misserfolge von rechtspopulistischen Parteien bei Parlamentswahlen in Westeuropa seit Beginn der Eurokrise? Die Politikwissenschaft hält auf der parteipolitischen Angebotsseite zwei Ansätze bereit, die den elektoralen Erfolg von Rechtspopulisten erklären: Zum einen sei ihr Erfolg von einzelnen charismatischen Führungspersönlichkeiten abhängig, zum anderen haben sie im Hinblick auf ihr Selbstverständnis als „Anti-Establishment“-Parteien folgelogisch immer dann Misserfolg, wenn sie als Regierungspartei in den Wahlkampf ziehen.
3 Vgl. Ernst Hillebrand, Die populistische Herausforderung – Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, 2. Auflage, Bonn 2017, S. 7-11, hier: S. 10. 4 Vgl. Ernst Hillebrand, Die Irrtümer der Linken und die Suche nach der richtigen Antwort, in: ders. (Anm. 3), S. 175-182, hier: S. 175. 5 Vgl. Tim Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden 2010, S. 68-71.
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Zwischen Charisma und Regierungsverantwortung?
Bereits in den Nullerjahren hat sich die Forschung umtriebig mit der Rolle von charismatischen Führungspersönlichkeiten6 sowie mit dem Einfluss einer Regierungsbeteiligung7 im Hinblick auf Erfolg und Misserfolg von (rechts)populistischen Parteien auseinandergesetzt. Konnten beide Ansätze in diesem Zeitraum eine nennenswerte empirische Erklärungskraft für sich beanspruchen, konstatieren Frank Decker, Bernd Henningsen und Kjetil A. Jakobsen ab 2010 deren nachlassende empirische Plausibilität: „Der europäische Vergleich zeigt z.B., dass der charismatische Typus unter den heutigen Rechtspopulisten längst nicht mehr so verbreitet ist wie vermutet. Er kennzeichnet vor allem die Entstehungsphase der Parteien. In der nachfolgenden Phase der Verstetigung haben sich diese meistens aus der Abhängigkeit von ihren Anführern befreit und ihre Organisation den [etablierten Parteien] angepasst. Auch der Zusammenhang zwischen Oppositions- oder Regierungsrolle und Wahlerfolgen ist komplizierter als angenommen. [… Dies] zeigt der anhaltende Erfolg der Schweizerischen Volkspartei (SVP), dass sich Widerstand gegen europäische Integration, Einwanderungsskepsis und Anti-Islamismus mit einer Regierungsbeteiligung sehr wohl vertragen.“8 Aktuelle Studien, die eine systematische Prüfung der beiden Ansätze zur Erklärung des elektoralen Erfolgs und Misserfolgs rechtspopulistischer Parteien durchgeführt hätten, existieren derweil nicht. Ziel des verglei-
6 Siehe etwa Paul Taggart, Populism, Buckingham-Philadelphia 2000; Florian Hartleb, Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden 2004; Florian Hartleb, Populismus und Charisma. Zur elektoralen Erfolgs- und Mißerfolgsformel anhand zweier Beispiele in der bundesdeutschen Parteiendemokratie, in: Eckhard Jesse/Hans-Peter Niedermeier (Hrsg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007, S. 147-168. 7 Siehe etwa Taggart (Anm. 6); Reinhard Heinisch, Success in Opposition – Failure in Government. Explaining the Performance of Right-Wing Populist Parties in Public Office, in: West European Politics, 26 (2003) 3, S. 91-130; Susanne FrölichSteffen/Lars Rensmann (Hrsg.), Populisten an der Macht. Populistische Regierungsparteien in West- und Osteuropa, Wien 2005; Günther Pallaver/Reinhold Gärtner, Populistische Parteien an der Regierung – zum Scheitern verdammt? Italien und Österreich im Vergleich, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, S. 99-120. 8 Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil A. Jakobsen, Revolte von rechts, in: dies. (Hrsg.), Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden 2015, S. 13-25, hier S. 14; siehe auch Daniele Albertazzi/Duncan McDonnell, Populists in Power, London 2015, insbesondere S. 165-182; Roger Eatwell, Charisma and the Radical Right, in: Jens Rydgren (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Radical Right, Oxford 2018, S. 251-268, hier: S. 263f.
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chend angelegten Beitrags ist es daher, beide Erklärungsansätze einer empirischen Prüfung entlang der Zielsetzungen sowie der Angebotsstruktur rechtspopulistischer Parteien zu unterziehen: • Parteipolitische Zielsetzungen: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine (rechtspopulistische) Partei in einem demokratischen Verfassungsstaat die Ausübung von staatlicher Macht und Herrschaft gestalten kann? Wann liegt also politischer Erfolg, wann Misserfolg vor? • Parteipolitisches Angebot: a) Können „Anti-Establishment“-Parteien nur als (außer)parlamentarische Opposition elektorale Erfolge erzielen? Werden sie in Regierungsverantwortung – nun also selbst zum „Establishment“ gehörend – bei Parlamentswahlen in Westeuropa abgestraft? b) Inwieweit haben einzelne charismatische Führungspersönlichkeiten Einfluss auf Erfolg (und Misserfolg) des parteiförmigen Rechtspopulismus in Westeuropa? Zunächst ist jedoch eine Begriffsklärung voranzustellen, zumal der Populismusbegriff mancherorts – fälschlicherweise – mit dem des politischen Extremismus gleichgesetzt wird. 2. Populismus und politischer Extremismus – eine Abgrenzung Auch wenn die Erfolgskurve rechtspopulistischer Parteien ab 2009 deutlich angestiegen ist, stellt diese keineswegs eine Neuerscheinung dar. Bereits seit Ende der 1960er Jahre ist die Politik in Westeuropa durch einen rasanten Aufstieg neuer Parteien – häufig am rechten Rand des politischen Spektrums – charakterisiert.9 Die Politikwissenschaft befasst sich seither intensiv mit diesen Parteien und klassifiziert sie gemeinhin als „(rechts)populistisch“, allerdings besteht nach wie vor Uneinigkeit darüber, was unter Populismus zu verstehen ist. Handelt es sich dabei um einen Politikstil, um eine Strategie oder um eine Ideologie? Darauf bezugnehmend sprechen Eckhard Jesse und Isabelle-Christine Panreck in einem jüngst erschienenen Beitrag dem Populismusbegriff sogar die nötige analytische Schärfe ab, da er zu viele Phänomene ein- und zu wenige ausschließe.10 Von einem
9 Vgl. Hartleb (Anm. 6), S. 15. 10 Vgl. Eckhard Jesse/Isabelle-Christine Panreck, Populismus und Extremismus. Terminologische Abgrenzung – das Beispiel der AfD, in: Zeitschrift für Politik, 64 (2017) 1, S. 59-76, hier: S. 59.
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Kampfbegriff ist die Rede, der in Politik und Medien undifferenziert als ein catch-all-term verwendet wird.11 Mit dem inflationären Gebrauch des Populismusbegriffs geht die Notwendigkeit einer Abgrenzung zum Extremismusbegriff einher. „Wer die Frage stellt: Ist die AfD noch populistisch oder schon extremistisch?, wird weder dem Populismus- noch dem Extremismusverständnis gerecht, impliziert sie doch die Einordnung beider Phänomene an den Polen ein und derselben Skala.“12 Beide Phänomene müssen allerdings auf zwei unterschiedlichen Ebenen eingeordnet werden: Populismus kann extremistisch oder demokratisch ausgerichtet sein, für den politischen Extremismus gilt dies hingegen nicht. Dieser fungiert im Gegensatz zum Populismus „als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen […], die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen.“13 Politischer Extremismus richtet sich folglich per se gegen die Grundfesten des demokratischen Verfassungsstaates – Gewaltenkontrolle, Pluralismus, Menschenrechte etwa.14 In der Populismusforschung besteht zumindest annähernd Einigkeit darüber, dass die Gegenüberstellung von Volk und Elite ein Wesensmerkmal des Populismus ist.15 Jedoch bleibt der Begriff idealtypisch, insofern er ausschließlich als „Negativabgrenzung vom jeweils typischen politischen und gesellschaftlichen Establishment“16 verstanden wird. Es müssen zusätzlich spezifizierende Bezugsfaktoren entfaltet werden, um daraus eine Populismusdefinition ableiten zu können, mit deren Hilfe reale Phänomene als „populistisch“ (oder eben „nicht-populistisch“) eingeordnet werden können.17 Florian Hartlebs mehrdimensionaler Definitionsversuch (Tabelle 1) basiert einerseits auf jenem „Volk-Elite-Antagonismus“ und wird andererseits durch spezifizierende Bezugsfaktoren ergänzt, mit denen eine Klassifizierung realer Phänomene ermöglicht wird. Seine Populismusdefinition, 11 Vgl. Florian Hartleb, Internationaler Populismus als Konzept. Zwischen Kommunikationsstil und fester Ideologie, Baden-Baden 2014, S. 37. 12 Jesse/Panreck (Anm. 10), S. 59. 13 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, Bonn 1996, S. 45. 14 Vgl. Uwe Backes, Extremismus: Konzeptionen, Definitionsprobleme und Kritik, in: ders./Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 22, Baden-Baden 2010, S. 13-31, hier: S. 22. 15 Vgl. Jesse/Panreck (Anm. 10), S. 62. 16 Hartleb (Anm. 6), S. 67. 17 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Volkes Stimme? Rechtspopulismus in Europa, Bonn 1994, S. 17.
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die für diese Untersuchung entsprechend angepasst wurde, lautet: Populismus bezeichnet „Parteien und Bewegungen, die sich – medienkompatibel, polarisierend und (angeblich) moralisch hochstehend – […] als die gegen Establishment und etablierte Parteien gerichtete Stimme des homogen verstandenen ,Volkes‘ ausgeben und spezifische Protestthemen mobilisieren.“18 Tabelle 1: Schematische Darstellung der Populismusdefinition nach Hartleb Dimension
Beschreibung
Technisch
Simplifizierender Politikstil, der sich auf direktem Wege an ein konstruiertes, „homogenes Volk“ wendet und in einer gegen das Establishment (Elite) gerichteten Haltung auftritt
Inhaltlich
„Bewegungstyp“, der sich von „rechts“ oder „links“ mit Anti-Positionen gegen den Status quo richtet, zudem Fixierung auf bestimmte, mobilisierungsfähige Themen
Medial
„Symbiose“ mit den Massenmedien
Quelle: Eigene Darstellung nach Hartleb (Anm. 6), S. 68.
Dabei ist der technischen Dimension jenes Merkmal zugeordnet, das eine als populistisch zu klassifizierende Partei aufweisen muss. Sie muss sich hierfür durch einen simplifizierenden Politikstil auszeichnen, der einen Gegensatz zwischen einem konstruierten, „homogenen Volk“ und dem Establishment (Elite) aufstellt. Populismus – verstanden als protestierender Politikstil – eignet sich hinsichtlich konkreter Inhalte gewisse „Anti-ismen“ an (inhaltliche Dimension), wodurch er in verschiedenen Varianten auftritt (Rechts-, Linkspopulismus etwa). Der parteiförmige Rechtspopulismus ist durch programmatische Kernelemente charakterisiert, mit denen er sich von anderen Populismusvarianten abgrenzt.19 Hierzu zählen mobilisierungsfähige Themen wie Euro- und Einwanderungsskepsis sowie Anti-Islamismus. Damit einhergehend treten rechtspopulistische Parteien häufig als sogenannte „Law-andorder-Parteien“ auf, die sich für mehr Sicherheit, Recht und Ordnung einsetzen.20 Die mediale Dimension ist wiederum konstitutiv für die Mobilisierung von Themen. Populisten gleich welcher Couleur benötigen ein Medium, mit dem sie ihre Programmatik an das Volk herantragen können. Schließ-
18 Hartleb (Anm. 6), S. 68f.; Hervorhebung im Original. 19 Vgl. Hartleb (Anm. 6), S. 67f. 20 Vgl. ebd., S. 142f.
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lich stellen die Massenmedien den Boden bereit, auf dem Populisten die Eliten adressieren und das „homogene Volk“ konstruieren.21 Zudem verdeutlicht die hartlebsche Definition, dass sich Populismus nicht per se gegen die Grundfesten des demokratischen Verfassungsstaates richtet. Extremistisch wird er dann, wenn er sich in einer Frontstellung gegenüber Gewaltenkontrolle, Pluralismus und Menschenrechten befindet. Wenn er diese demokratischen Grundfesten akzeptiert, dann ist ihm zumindest aus extremismus- beziehungsweise demokratietheoretischer Perspektive nichts anzulasten. Schließlich sollte der Begriff „rechtspopulistische Partei“ differenziert verwendet werden. Gerade weil Populisten als „Anti-Partei/EstablishmentPartei“22 auftreten, verzichten einige bewusst auf den Begriff „Partei“ in ihrem Namen. Sie treten eher als eine Art Bewegung auf, um sich dezidiert vom Establishment abzugrenzen („Alternative für Deutschland“, „Lega Nord“ etwa). 3. Politische Erfolgsmessung und Fallauswahl Parteien streben in einem demokratischen Verfassungsstaat zuvorderst danach, die Ausübung von staatlicher Macht und Herrschaft zu gestalten.23 Dies kann ihnen über zwei Wege gelingen: (1) Indem sie entweder als parlamentarisch-oppositionelle Kraft einen nachhaltigen Einfluss auf die Regierung ausüben oder (2) indem sie selbst an der Regierung beteiligt sind. Hierfür müssen Parteien ihren Stimmenanteil bei Wahlen maximieren (vote seeking), um die Chance – konkret über den Parlamentseinzug – zu erhalten, politische Ämter zu besetzen (office seeking) und politische Inhalte zu implementieren (policy seeking). Dabei kommt der Stimmenmaximierung die größte Bedeutung zu, weil diese instrumentale Voraussetzung für die Ämterbesetzung und Inhaltsdurchsetzung ist.24 21 Vgl. Jesse/Panreck (Anm. 10), S. 63; siehe auch Thomas Meyer, Populismus und Medien, in: Decker (Anm. 7), S. 81-96; Dirk Jörke/Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017, S. 123-126. 22 Vgl. Hartleb (Anm. 6), S. 69-77. 23 Vgl. Werner J. Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studiumbegleitende Orientierung, 7. Auflage, Passau 2013, S. 367f. 24 Analog zum Rechtsextremismus und Rechtspopulismus: Vgl. Tom Mannewitz, Linksextremistische Parteien in Europa nach 1990. Ursachen für Wahlerfolge und -misserfolge, Baden-Baden 2012, S. 58f.; siehe auch Kaare Strom, A Behavioral Theory of Competitive Political Parties, in: American Journal of Political Science, 34 (1990) 2, S. 565-598.
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Nicht maximiert, aber zumindest hinreichend erfüllt ist das Ziel der Stimmenmobilisierung dann, wenn eine rechtspopulistische Partei in der Rolle als außerparlamentarische Opposition nach einer Parlamentswahl ihr vorheriges Ergebnis derart verbessern konnte, dass ihr der Parlamentseinzug gelungen ist oder wenn sie als parlamentarische Oppositions- oder Regierungspartei einen Stimmenzuwachs erzielt hat (politischer Erfolg). Im ersten Fall erhält sie die Chance, politische Ämter zu besetzen und politische Inhalte durchzusetzen. Im zweiten Fall erweitern sich ihre bereits erzielten Möglichkeiten zur Gestaltung der Ausübung von staatlicher Macht und Herrschaft. Bei Nichteintritt beider Fälle verbucht der parteiförmige Rechtspopulismus folgelogisch politischen Misserfolg. Im Hinblick auf die Fallauswahl kommen prinzipiell alle westeuropäischen Länder in Betracht. Es sollen allerdings nur jene berücksichtigt werden, in denen rechtspopulistische Parteien bei Parlamentswahlen im Untersuchungszeitraum von Dezember 2009 (Beginn der Eurokrise) bis April 2018 angetreten sind. Da in diesem Beitrag nicht alle dafür infrage kommenden Länder in die Untersuchung einfließen können, wurde eine bewusste Länderauswahl vorgenommen, bei der sowohl „starke“ als auch „schwache“ rechtspopulistische Parteien Berücksichtigung fanden (Tabelle 2). Damit soll vor allem ein „Vorwegnehmen“ der Ergebnisse ausgeschlossen werden. Tabelle 2: Übersicht der ausgewählten Fälle und politische Erfolgsmessung25 Land
Dänemark
Wahltag
Partei
12,3% (-1,6%) Misserfolg
27.5.15
21,1% (+8,8%) Erfolg
22.9.13 Alternative für Deutschland (AfD)
Italien
25.2.13 Lega Nord (LN)
24.9.17 4.3.18
Österreich
9.6.10 Partij voor de Vrijheid (PVV)
4,7% (+4,7%) Misserfolg 12,6% (+7,9%) Erfolg 4,1% (-4,2%) Misserfolg 17,4% (+13,3%) Erfolg 15,5% (+9,6%) Erfolg
12.9.12
10,1% (-5,4%) Misserfolg
15.3.17
13,0% (+2,9%) Erfolg
29.9.13 Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ)
20,5% (+3,0%) Erfolg
15.10.17
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Politische Erfolgsmessung
15.9.11 Dansk Folkeparti (DF)
Deutschland
Niederlande
Ergebnis (Entwicklung)
26,0% (+5,5%) Erfolg
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Portugal
Wahltag
Partei
5.6.11 Partido Nacional Renovador (PNR) 4.10.15
Schweiz
Ergebnis (Entwicklung)
Politische Erfolgsmessung
0,3% (+0,1%) Misserfolg 0,5% (+0,2%) Misserfolg
23.10.11 Schweizerische Volkspartei (SVP)
26,6% (-2,3%) Misserfolg
18.10.15
29,4% (+2,8%) Erfolg
Quelle: Eigene Darstellung nach Nordsieck (Anm. 25).
Es wurden sieben rechtspopulistische Parteien ausgewählt, die im Untersuchungszeitraum bei westeuropäischen Parlamentswahlen angetreten sind. Die Fallzahl beträgt 15, wovon acht Erfolgs- und sieben Misserfolgsfälle sind. Das „beste“ Wahlergebnis erzielte die SVP bei den schweizerischen Nationalratswahlen 2015 mit 29,4 Prozent. Das „schlechteste“ Wahlergebnis verzeichnete hingegen die PNR bei der portugiesischen Parlamentswahl 2011 mit 0,3 Prozent. Durchschnittlich erreichte der parteiförmige Rechtspopulismus in Westeuropa ein Wahlergebnis von 14,3 Prozent. Die Standardabweichung beträgt für diese Fallauswahl 9,3 Prozentpunkte. Warum haben die rechtspopulistischen Parteien bei westeuropäischen Parlamentswahlen so unterschiedlich abgeschnitten? 4. Charisma und Regierungsverantwortung als angebotsseitige Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren rechtspopulistischer Parteien Die rasanten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse wie Globalisierung, Digitalisierung sowie eine subjektiv empfundene „Überfremdung“ im Zuge der Fluchtmigration der vergangenen Jahre bewirken bei einigen Teilen der Bevölkerung Ängste und Verunsicherungen, die in Verdruss und Proteststimmungen umschlagen können.26 Diese sogenannten „Modernisierungsverlierer“27 werden – spätestens seit Beginn der Eurokrise – von der (rechts)populistischen Agitation besonders effektiv angesprochen.28 Rechtspopulistische Parteien instrumentalisieren jene Ängste und Verunsicherungen der „Modernisierungs25 Daten aus: Wolfram Nordsieck, Parties and Elections in Europe, 17.7.2018, www.parties-and-elections.eu/. 26 Vgl. Tim Spier, Populismus und Modernisierung, in: Decker (Anm. 7), S. 33-58, hier: S. 33f. 27 Vgl. Spier (Anm. 5). 28 Vgl. Spier (Anm. 26), S. 36f.
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verlierer“ im Hinblick auf ihre Zielsetzung – die Ausübung von staatlicher Macht und Herrschaft zu gestalten. Hierfür spielen sie „das Volk“ gegen „die Elite“ aus, da ihrer Ansicht nach die „korrupten“ Parteipolitiker die Ursache für die genannten Herausforderungen sind. Mit scheinbar einfachen Lösungen – etwa über den eigenen Wahlerfolg jene „bestechlichen“ Machtinhaber ihrer politischen Ämter zu entheben – will der parteiförmige Rechtspopulismus die komplexen „Problemlagen“ in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beheben. Zur Umsetzung dieses Politikstils kommen einzelne Führungspersönlichkeiten zum Einsatz, die an der Spitze von rechtspopulistischen Parteien stehen. Selbst aus dem Volk stammend,29 verstehen sie sich als Sprachrohr der „kleinen Männer“, die ihre Sorgen und Nöte ohne die Hilfe dieser – zumeist – mit Charisma ausgestatteten Führungsfiguren nicht artikulieren können. Im Sinne Max Webers verstehe ich unter Charisma „eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder zumindest spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird. […] [D]arauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird, kommt es an.“30 Charismatische Führungspersönlichkeiten zeichnen sich durch bestimmte Fähigkeiten aus, mit denen sie sich von der „Masse“ abheben: Sie besitzen Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft (Kriterium der Inspiration), ein stark ausgeprägtes rhetorisches Talent (Kriterium der Motivation) sowie Qualitäten der Führung und der Eigendarstellung (Kriterium der Repräsentation).31 Als medienaffine Führungsfiguren sind sie die treibende Kraft ihrer Partei, um Wählerstimmen zu mobilisieren. Folglich müssten rechtspopulistische Parteien ausschließlich dann Erfolg bei Parlamentswahlen in Westeuropa im Untersuchungszeitraum verbucht haben, wenn charismatische Führungspersönlichkeiten an ihrer Spitze anwesend waren (Hypothese 1). Im Hinblick auf die genannten Charismakriterien sollte vorrangig der Blick auf „die Wirkung einzelner Persönlichkeiten in den Medien [gerich-
29 Vgl. Jesse/Panreck (Anm. 10), S. 63. 30 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt/M. 2010 [1922], S. 179. 31 Vgl. Mannewitz (Anm. 24), S. 185; Hartleb (Anm. 6), S. 152.
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tet] werden, um herauszufinden, ob es sich tatsächlich um charismatische Persönlichkeiten handelt. Nicht zuletzt ist es das, worauf es ankommt.“32 Bezüglich der Zielsetzungen rechtspopulistischer Parteien sind allerdings selbst die Möglichkeiten von charismatischen Führungspersönlichkeiten begrenzt. Aufgrund des Selbstverständnisses als „Anti-Establishment“-Parteien sollte es zunächst nur folgelogisch sein, dass (rechts)populistische Parteien nicht auf eine Übernahme der Regierungsverantwortung zielen. Jedoch liegt es in der Natur der Sache, dass auch der parteiförmige Rechtspopulismus bei steigenden Wahlergebnissen sein Angebot anpassen wird, indem er zunehmend mit dem Gedanken spielt, Teil der Regierung zu werden. Nur so kann er seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten erweitern. Übernehmen Rechtspopulisten tatsächlich die Regierungsgeschäfte, drohen ihnen dafür massive Stimmeneinbußen bei der nächsten Parlamentswahl.33 Denn: In Regierungsverantwortung befinden sich rechtspopulistische Parteien in einem „institutionellen Dilemma“34 aufgrund des nicht auflösbaren Spannungsfeldes zwischen (rechts)populistischer Programmatik und dem Zwang zur Kompromissbildung im Regierungsalltag. „Durch eine Anpassung […] an die Spielregeln, Verfahren und Erfordernisse liberal-demokratischer, repräsentativer Politik und Programmatik bekommt die anti-elitäre Stoßrichtung populistischer Politik und Programmatik […] ein Glaubwürdigkeitsproblem, und die Chancen nationalpopulistischer Parteien auf Wiederwahl scheinen fast folgelogisch zu sinken.“35 Demnach müssten rechtspopulistische Parteien immer dann Misserfolg bei Parlamentswahlen in Westeuropa im Untersuchungszeitraum verbucht haben, wenn sie von der Regierungsbank aus zur Wahl angetreten sind (Hypothese 2).
32 Mannewitz (Anm. 24), S. 185; siehe auch Meyer (Anm. 21). 33 Vgl. Susanne Frölich-Steffen/Lars Rensmann, Populistische Regierungsparteien in Ost- und Westeuropa: Vergleichende Perspektiven der politikwissenschaftlichen Forschung, in: dies. (Anm. 7), S. 3-34, hier: S. 19f.; siehe auch Frank Decker, Der neue Rechtspopulismus, 2. Auflage, Opladen 2004, S. 272. 34 Siehe Taggart (Anm. 6), S. 99-107. 35 Frölich-Steffen/Rensmann (Anm. 33), S. 21.
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5. Darstellung und Einordnung der untersuchten Parlamentswahlen 5.1 Dänemark: Die DF bei den Folketingwahlen 2011 und 2015 Die von Pia Kjærsgaard 1995 gegründete DF ging aus der Abspaltung von der populistischen Fremskridtpartiet (FrP) hervor, die sich in den 1970er Jahren als steuer- und migrationskritische sowie ultraliberale Partei im politischen System Dänemarks etabliert hatte. Interne Spannungen aufgrund politischer Uneinigkeiten und persönlicher Machtkämpfe führten schließlich zu jener Parteispaltung, aus der die FrP als Verlierer hervorging: Bei der Parlamentswahl 2001 fuhr sie nur noch 0,6 Prozent der Stimmen ein, wodurch sie am Parlamentseinzug scheiterte und anschließend in der Bedeutungslosigkeit versank. Anschließend ist die DF zur führenden (rechts)populistischen Partei in Dänemark avanciert.36 Nicht nur die Gründung und Etablierung der DF, sondern vor allem auch die Ablösung von der FrP Mitte der 1990er Jahre ist maßgeblich auf Kjærsgaard zurückzuführen, ihrerseits die erste weibliche Vorsitzende einer dänischen Partei sowie einer rechtspopulistischen Partei in Europa überhaupt.37 Schon zur Gründungszeit der DF „stellte sie ihr Talent zur Spaltung unter Beweis: […] Unter Kjærsgaard rückten die Populisten nach rechts. Sie gab der [DF] die nationalistische, EU- und ausländerfeindliche Prägung, für die sie bis heute berüchtigt ist.“38 Mit dieser Programmatik konnte die Partei bei den Parlamentswahlen bis 2007 durchgehend Erfolge verbuchen. Jedoch zeichnete sich bereits im Vorfeld zur Parlamentswahl 2011 ein anderes Bild ab. Umfragen wiesen darauf hin, dass die europäische Strukturkrise das „Ausländerthema“ verdrängt haben könnte.39 Tatsächlich musste Kjærsgaard bei der Wahl 2011 nun erstmals mit ihrer Partei geringe Einbußen (-1,6 Prozentpunkte) in Kauf nehmen. Kristian Thulesen Dahl, der 2012 den Parteivorsitz von Kjærsgaard übernommen hatte, konnte diese „Niederlage“ bei der Parlamentswahl im Mai 36 Vgl. Susi Meret, Die Dänische Volkspartei: Vom Steuerprotest zum Rechtspopulismus, in: Hillebrand (Anm. 3), S. 15-23, hier: S. 15-17. 37 Vgl. ebd., S. 17; siehe auch dies., Charismatic female leadership and gender: Pia Kjærsgaard and the Danish People’s Party, in: Patterns of Prejudice, 49 (2015) 1-2 (Gender and Populist Radical Right Politics), S. 81-102. 38 Gunnar Herrmann, Nach der Wahl in Dänemark. Triumph der dänischen Rechtspopulisten, in: Süddeutsche Zeitung, 3.7.2015, www.sueddeutsche.de/politik/prof il-pia-kjrsgaard-1.2547721. 39 Vgl. O.A., Rechtspopulismus in Dänemark. Dänen kontrollieren wieder an ihren Grenzen, in: Süddeutsche Zeitung, 11.5.2011, www.sueddeutsche.de/politik/daen emark-will-wieder-grenzkontrollen-ihre-papiere-bitte-1.1096149.
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2015 – also im Vorfeld des „langen Sommers der Migration“40 – mit einem beachtlichen Stimmenzuwachs (+8,8 Prozentpunkte) wieder ausbügeln. Bei dieser Wahl erhielt die DF schließlich 21,1 Prozent der Stimmen, womit sie den zweiten Platz hinter der Sozialdemokratie belegte. Seit 2012 hat Dahl die Partei fest im Griff: „Nachdem ‚Kronprinz Kristian‘ den Parteivorsitz 2012 von der damaligen DF-Chefin Pia Kjærsgaard übernommen hatte, gab der charismatische Familienvater der Dänischen Volkspartei einen neuen strategischen Anstrich: ein weniger scharfer Ton, dafür mehr Fokus auf sozialen Themen. Wenn Parteimitglieder allzu extreme Ansichten äußerten, wies er sie in die Schranken. Seitdem kennt seine Partei nur eine Richtung: nach oben.“41 Zwar formulierte die DF bereits 1997 in ihrem Grundsatzprogramm das klare Ziel der Machtausübung: Die Partei will „eine aktive Rolle im parlamentarischen Leben […] spielen“ sowie „in Zusammenarbeit mit anderen Parteien politisch etwas […] erreichen, [da] eine politische Partei kein Selbstzweck sein darf. […] Die DF hat daher das Ziel, ihr Parteiprogramm so weit wie möglich umzusetzen.“42 Jedoch verzichtete sie trotz ihrer elektoralen Stärke – insbesondere nach der Parlamentswahl 2015 – bislang auf die Übernahme von Regierungsverantwortung. Diesen Schritt begründet die DF damit, dass ihre Rolle eher darin bestehe, als Außenseiter Einfluss auf die Regierungsgeschäfte auszuüben, indem sie Minderheitsregierungen toleriert. Darin ist sie nicht unerfahren: Bereits von 2001 bis 2011 nahm die rechtspopulistische Partei jene einflussnehmende Außenseiterrolle ein, als sie eine liberal-konservative Minderheitsregierung tolerierte.43 5.2 Deutschland: Die AfD bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 Auch wenn die Forschung dem „Anführer“ eine besondere Bedeutung im Hinblick auf den Erfolg (rechts)populistischer Parteien beimisst, kann im Fall der AfD nicht von der Anwesenheit einer einzelnen charismatischen Führungspersönlichkeit gesprochen werden: „Wie die AfD als stereotypes
40 Siehe Sabine Hess/Bernd Kasparek/Stefanie Kron/Mathias Rodatz/Maria Schwertl/ Simon Sontowski (Hrsg.), Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin-Hamburg 2017. 41 O.A., Familienvater und Fußballfan. Dänemarks neuer starker Mann: Wer ist Thulesen Dahl?, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19.6.2015, www.noz.de/deutschlandwelt/politik/artikel/587128/danemarks-neuer-starker-mann-wer-ist-thulesen-dahl. 42 Dänische Volkspartei 1997, zitiert nach Meret (Anm. 36), S. 19. 43 Vgl. Meret (Anm. 36), S. 15-17.
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Beispiel für die Konstruktion von Volk und Elite steht, erfüllt sie die populistische Fixierung auf eine klare Führungsperson nicht. Mit Frauke Petry und Jörg Meuthen teil[t]en sich zwei wenig charismatische Politiker den Parteivorsitz, deren mehr personell als programmatisch bedingter Machtkampf zudem der populistischen Logik einer starken Stimme an der Spitze der Bewegung entgegenläuft.“44 Die Partei ging zu ihrer Gründungszeit sowie im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 mit mehreren Spitzenpersonen, die allesamt nicht als charismatisch eingestuft werden können, auf Wählerstimmenfang. Hierzu zählen etwa Frauke Petry, Alexander Gauland, Alice Weidel, Jörg Meuthen und Beatrix von Storch. Bereits in ihrem Gründungsjahr 2013 erfüllte die AfD alle Voraussetzungen, um an der Bundestagswahl teilzunehmen. Am Wahltag erzielte sie aus dem Stand heraus ein Zweitstimmenergebnis von 4,7 Prozent, womit sie um 0,3 Prozentpunkte den Einzug in den 18. Deutschen Bundestag verpasste.45 Sie verbuchte mithin einen „Misserfolg“, da ihr auf Bundesebene für die folgenden vier Jahre vorerst nur die Rolle der außerparlamentarischen Opposition blieb. Die AfD befand sich also bei beiden untersuchten Bundestagswahlen nicht in vorheriger Regierungsverantwortung. Bei der Bundestagswahl 2017 konnte die rechtspopulistische Partei46 mit 12,6 Prozent der Zweitstimmen ihr vorheriges Ergebnis nahezu verdreifachen (+7,9 Prozentpunkte). Mit über 90 Abgeordneten zog nun erstmals nach 1990 eine Partei rechts der Union in den Deutschen Bundestag ein, die darüber hinaus seit der Bildung der schwarz-roten großen Koalition (14. März 2018) stärkste Oppositionskraft ist. 5.3 Italien: Die LN bei den Parlamentswahlen 2013 und 2018 Der Wahlerfolg der rechtspopulistischen LN bei der italienischen Parlamentswahl 2018 fußt maßgeblich auf den Führungsqualitäten des Parteivorsitzenden Matteo Salvini. Er übernahm im Dezember 2013 das Amt als Nachfolger des charismatischen Parteigründers Umberto Bossi, der 2012 „in einen Skandal um die Veruntreuung von Mitteln aus der öffentlichen 44 Jesse/Panreck (Anm. 10), S. 71. 45 Vgl. Oskar Niedermayer/Jürgen Hofrichter, Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 47 (2016) 2, S. 267-284, hier: S. 267. 46 Zum aktuellen Forschungsstand zur AfD siehe Stefan Haußner/Arndt Leininger, Die Erfolge der AfD und die Wahlbeteiligung. Gibt es einen Zusammenhang?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49 (2018) 1, S. 69-91, hier: S. 72-76.
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Parteienfinanzierung für rein familiäre Zwecke“47 geraten war und daraufhin vom Parteivorsitz zurücktrat. Bossi führte die LN nicht nur zu Wahlerfolgen, sondern etablierte sie auch als italienische Regierungspartei. Sie war von 1994 bis 1995, von 2001 bis 2006 sowie von 2008 bis 2011 in die Regierungsgeschäfte eingebunden. Zudem steht sie im Norden Italiens auf regionaler sowie lokaler Ebene vielerorts in Regierungsverantwortung.48 Mit dem Abgang von Bossi wurden eingangs Stimmen laut, dass damit die Auflösung der LN einherginge. Dies schien sich zu bewahrheiten: Bei der Parlamentswahl 2013 erlitt die LN – unter dem zwischenzeitlichen Parteivorsitzenden Roberto Maroni – als Oppositionskraft mit 4,1 Prozent der Stimmen eine deutliche Niederlage (-4,2 Prozentpunkte). Jedoch ist dieser Misserfolg weniger mit den Personalfragen und vielmehr mit dem Finanzskandal knapp ein Jahr zuvor erklärbar.49 Von dieser Krise hat sich die LN jedoch mittlerweile erholt; zudem konnte Salvini zur Wahl 2018 die personelle Lücke vollends schließen.50 Zentrales Charakteristikum der LN ist ihr Wohlstandssezessionismus, mit dem sie insbesondere nach dem Beginn der Eurokrise auf Wählerstimmenfang ging. Aufgrund der Niederlage bei der Parlamentswahl 2013 nahm der neue Parteichef Salvini allerdings ein Jahr später einen Kurswechsel vor: Er propagierte nun einen Anti-Euro-Nationalismus, der den Nord-Süd-Konflikt innerhalb Italiens durch einen gesamteuropäischen Nord-Süd-Konflikt ersetzen sollte. Die LN will „unumwunden unter dem Slogan ,No Euro!‘ Italiens Abschied von der Gemeinschaftswährung. Mit dieser Neupositionierung einher ging zugleich die Verschärfung der Kampagne gegen die ,Invasion‘ der Ausländer. Salvini proklamiert angesichts des wachsenden Zustroms von Bootsflüchtlingen über das Mittelmeer eine Politik der geschlossenen Grenzen.“51 Hinter dieser Kehrtwende in der Programmatik stand das erklärte Ziel, die LN aus ihrer regionalen Beschränkung auf Norditalien zu lösen und sie damit auch im mittel- und süditalienischen Raum für die Wähler attraktiv zu machen.52 Dieses Ziel konnte die LN nach der Parlamentswahl 2018 mit einem Ergebnis von 17,4 Prozent sogar übertreffen, indem sie nicht nur 13,3 Prozentpunkte zulegte, sondern drei Monate nach der Wahl auch erneut von der Oppositions- zur
47 Michael Braun, Die Lega Nord: Vom Wohlstandssezessionismus zum Anti-EuroNationalismus, in: Hillebrand (Anm. 3), S. 41-49, hier: S. 45. 48 Vgl. ebd., S. 41-45. 49 Vgl. Albertazzi/McDonnell (Anm. 8), S. 37. 50 Vgl. Braun (Anm. 47), S. 41. 51 Vgl. ebd., S. 46. 52 Vgl. ebd., S. 46f.
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Regierungspartei avanciert ist: Nach anfänglichem Dissens gingen die eher linkspopulistische Partei M5S – mit 32,7 Prozent als stärkste Kraft hervorgegangen – und die LN eine Koalitionsregierung ein. Seit Juni 2018 ist Salvini italienischer Innenminister sowie stellvertretender Ministerpräsident. 5.4 Niederlande: Die PVV bei den Parlamentswahlen 2010, 2012 und 2017 Die Entwicklungs- und Erfolgsgeschichte der PVV ist ohne die Person Geert Wilders nicht zu verstehen. Dieser gründete die Partei 2006, nachdem er sich ein reichliches Jahr zuvor von der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) getrennt hatte.53 Obwohl kein politischer Outsider, gelingt es Wilders mit seinem populistischen Agitationsstil, sich glaubwürdig von der Elite zu distanzieren: „Die Verwendung einer einfachen und deutlichen Sprache, die Simplifizierung komplexer Fragen, die Formulierung klarer (und vielfach gegen Tabus verstoßender) Standpunkte, die Ablehnung von Kompromisslösungen sowie der konfrontative Umgang mit politischen KonkurentInnen tragen dazu bei, die eigene Bürgernähe und die Distanz zu den anderen Politikern und Politikerinnen zu verdeutlichen.“54 Mit Themen wie Euro- und Einwanderungsskepsis sowie Anti-Islamismus konnte Wilders mit seiner PVV, die ohne offizielle Parteimitglieder existenzfähig ist, in den letzten Jahren beachtliche Wahlerfolge verbuchen. Bei der niederländischen Parlamentswahl 2010 erhielt die PVV 15,5 Prozent der Stimmen, womit sie den größten Zuwachs im Vergleich zu allen anderen Parteien erzielen konnte. Sie zog daraufhin als drittstärkste Fraktion zum zweiten Mal in Folge in das niederländische Parlament ein und tolerierte anschließend die Minderheitsregierung der VVD und der ChristenDemocratisch Appèl (CDA).55 Als Gegenleistung für die Tolerierung durfte die PVV als Oppositionskraft einen nennenswerten Einfluss auf die Regierungspolitik ausüben. Dies betraf vor allem Themen wie die Einwanderungs- und Asylpolitik. Als Protestreaktion auf die von der EU veranlassten Sparmaßnahmen kündigte Wilders schließlich die Duldung der Minderheitsregierung nach eineinhalb Jahren auf. Daraufhin wurde die PVV von
53 Vgl. Markus Wilp, Populismus in den Niederlanden – die Freiheitspartei von Geert Wilders, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.), Populismus. Herausforderung oder Gefahr für die Demokratie?, Wien 2012, S. 75-90, hier: S. 75. 54 Ebd. S. 80. 55 Vgl. ebd., S. 75.
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allen weiteren relevanten Parteien im niederländischen Parteiensystem isoliert.56 Bei der vorgezogenen Parlamentswahl 2012 musste die PVV erstmals Verluste in Kauf nehmen. Ihr Wahlergebnis verschlechterte sich um 5,4 Prozentpunkte auf 10,1 Prozent, da sie aufgrund der Duldung der VVDCDA-Minderheitsregierung für deren teilweise „unpopuläre Regierungsmaßnahmen verantwortlich gemacht wurde und sie zudem die betonte Distanz zu den anderen Parteien nicht länger aufrechterhalten konnte.“57 Allerdings konnte Wilders bei der Parlamentswahl 2017 mit einem Ergebnis von 13,0 Prozent wieder einen Stimmenzuwachs verzeichnen (+2,9 Prozentpunkte). Auch wenn dieses Ergebnis für ihn alles andere als zufriedenstellend war, reichte es dennoch, um zweitstärkste Kraft zu werden. Gleichwohl ist die Partei – trotz dieses Wahlergebnisses – nach wie vor politisch isoliert.58 5.5 Österreich: Die FPÖ bei den Nationalratswahlen 2013 und 2017 Im April 2005 wurde Heinz-Christian Strache Nachfolger des langjährigen FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider, nachdem dieser das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) gegründet hatte. Strache war zu diesem Zeitpunkt „jung, telegen und verfügte über Redetalent, hierin dem frühen Jörg Haider nicht unähnlich.“59 Strache ist es als Nachfolger des überaus charismatischen Haider gelungen, die FPÖ allmählich wieder auf dem Niveau der 1990er Jahre zu etablieren.60 Vom Beginn seiner Amtszeit an führte Strache die Partei „auf einen konsequenten Oppositionskurs und den […] Populismus der Haider-Ära zurück. Im Zentrum der Kampagnen stand das ‚Österreichzuerst‘-Programm mit seinen ausländer- und islamfeindlichen Positionen.“61
56 Vgl. Koen Vossen, Das Ein-Mann-Orchester in den Niederlanden: Geert Wilders und die Partei für die Freiheit (PVV), in: Hillebrand (Anm. 3), S. 50-59, hier: S. 50f. 57 Wilp (Anm. 53), S. 88. 58 Vgl. Vossen (Anm. 56), S. 51. 59 Reinhard Heinisch/Kristina Hauser, Rechtspopulismus in Österreich: Die Freiheitliche Partei Österreichs, in: Decker/Henningsen/Jakobsen (Anm. 7), S. 91-109, hier: S. 103. 60 Vgl. Barbara Tóth, Am mächtigsten in der Opposition: Die FPÖ in Österreich, in: Hillebrand (Anm. 3), S. 60-69, hier: S. 60. 61 Heinisch/Hauser (Anm. 59), S. 103.
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Bei der Nationalratswahl 2013 konnte Strache die FPÖ auf hohen Kurs bringen, indem seine Partei als Oppositionskraft ein Ergebnis von 20,5 Prozent einfuhr und damit den dritten Platz hinter der ÖVP und der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) belegte. Bei der vorgezogenen Nationalratswahl 2017 gewann die FPÖ – erneut als Oppositionspartei – nicht zuletzt wegen des provokativen Auftretens von Strache hinsichtlich des die Medien beherrschenden Integrations- und Migrationsthemas weitere 5,5 Prozentpunkte hinzuund erreichte ein Wahlergebnis von 26,0 Prozent. Damit belegte die FPÖ wieder einmal den dritten Platz, diesmal hinter SPÖ und ÖVP. Nach der Nationalratswahl 2017 begab sich die FPÖ in eine Koalitionsregierung mit der ÖVP. Dabei stellt Strache den österreichischen Vizekanzler sowie den Bundesminister für öffentlichen Dienst und Sport. Im Vorfeld der untersuchten Nationalratswahlen war die FPÖ zwar in keine Regierungsgeschäfte eingebunden, jedoch ist die seit Dezember 2017 bestehende schwarz-blaue-Koalition keineswegs ein Regierungsdebüt für die rechtspopulistische Partei. Bereits in den 1980er und 2000er Jahren war sie an Regierungen beteiligt. Zwischen 1983 und 1987 etwa stellte die FPÖ mit der SPÖ die österreichische Regierung. Dieses sogenannte „sozial-liberale-Projekt“62 scheiterte schließlich an Haider, der den Parteivorsitz 1986 übernahm und die FPÖ seitdem allmählich zu einer rechtspopulistischen Partei umbaute.63 Nachdem die FPÖ und dive ÖVP bei der Nationalratswahl 1999 mit je 26,9 Prozent gemeinsam zweitstärkste Kraft wurden, begaben sich beide zwischen 2000 und 2002 in Regierungsverantwortung. Obwohl die FPÖ bei der vorgezogenen Nationalratswahl 2002 mit einem herben Verlust von 16,9 Prozentpunkten von der Wählerschaft abgestraft wurde, stieg sie zunächst von 2003 bis April 2005 erneut in eine Koalitionsregierung mit der ÖVP ein; nach der erwähnten Abspaltung Haiders im Jahr 2005 dann als ÖVP-BZÖ-Bündnis bis Januar 2007. Die Bilanz war nach insgesamt sechs Jahren Regierungsbeteiligung eher ernüchternd. Übrig blieben von massiver Korruption begleitete Privatisierungen und im Rückblick durchaus notwendige Reformen im Pensions- und Sozialwesen.64
62 Tóth (Anm. 60), S. 65. 63 Vgl. Pallaver/Gärtner (Anm. 7), S. 101; siehe auch Holger Onken, Parteiensysteme im Wandel. Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Österreich im Vergleich, Wiesbaden 2013, S. 317. 64 Vgl. Tóth (Anm. 60), S. 65f.
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5.6 Portugal: Die PNR bei den Parlamentswahlen 2011 und 2015 Alle Versuche der rechtspopulistischen PNR, sich im politischen System Portugals zu etablieren, sind gescheitert. Seit Jahren erzielt die außerparlamentarische Oppositionskraft bei Parlamentswahlen lediglich Ergebnisse im Promillebereich (2011: 0,3 Prozent; 2015: 0,5 Prozent). Sie konnte demnach keinen einzigen Wahlerfolg verbuchen, an einer Regierung war sie folgelogisch nie beteiligt. Nach Wissenschaft und Medien handelt es sich bei der PNR um eine desorganisierte Partei, der seit Juni 2005 amtierende Parteichef José Pinto Coelho gilt nicht als charismatisch.65 Sogar er selbst gesteht ein: „Die Portugiesen kennen uns nicht.“66 Die PNR pflegt seit ihrer Gründung im April 2000 einen ausländerfeindlichen Diskurs, der auf einem radikalen Nationalismus fußt.67 Damit lehnt die Partei die Würdigung der Menschenrechte und folglich mindestens eine der Grundfesten des demokratischen Verfassungsstaates ab. Darüber hinaus kommt der von ihr vertretene Nationalismus in der Verehrung des früheren portugiesischen Diktators António de Oliveira Salazar zum Ausdruck.68 Nach der Übernahme des Parteivorsitzes unterfütterte Coelho die nationalistische Programmatik der PNR mit populistischen Stilelementen.69 Etwa im Zuge der Eurokrise versuchte die Partei, mithilfe populistischer Rhetorik die ablehnende Haltung der Bevölkerung im Hinblick auf die drastischen Sparmaßnahmen der Regierung zur Mobilisierung von Wählerstimmen zu nutzen. Die Austeritätspolitik sei „‚Raub an den Portugiesen‘, die politische Klasse des Landes sei ‚voller Verräter‘ und eine ‚Bande von Parasiten.‘“70 Trotz dieser Bemühungen stieß die PNR bei der portugiesischen Bevölkerung – zumindest bislang – auf taube Ohren.
65 Vgl. Riccardo Marchi, The Extreme right in 21st-Century Portugal: the Partido Nacional Renovador, in: Ralf Melzer/Sebastian Serafin (Hrsg.), Right-Wing Extremism in Europe. Country Analyses, Counter-Strategies and Labor-Market Oriented Exit Strategies, Bonn 2013, S. 133-155, hier: S. 150. 66 Vgl. Katharina Graça Peters, Portugal, in: Spiegel Online, Interaktive Karte. Europas Feinde am rechten Rand, 24.3.2014, www.spiegel.de/politik/ausland/interakti ve-karte-rechtspopulisten-und-rechtsextreme-in-europa-a-932226.html. 67 Vgl. Carlos Jalali/Teresa Pinheiro, Extremismus in Portugal, in: Eckhard Jesse/Tom Thieme (Hrsg.), Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 299-312, hier: S. 308. 68 Vgl. Marchi (Anm. 65), S. 139. 69 Vgl. ebd., S. 138. 70 Peters (Anm. 66).
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5.7 Schweiz: Die SVP bei den Nationalratswahlen 2011 und 2015 Die 1971 gegründete SVP ist nicht nur seit 2003 die wählerstärkste Partei (damals 26,7 Prozent) in der Eidgenossenschaft, sondern sie gehört im internationalen Vergleich auch zu den größten rechtspopulistischen Parteien überhaupt. Dem schweizerischen Konkordanzsystem entsprechend ist die SVP seither mit einem respektive zwei Bundesräten in der Landesregierung vertreten.71 Maßgeblich beteiligt an diesem Aufstieg war der Charismatiker Christoph Blocher, ein erfolgreicher Geschäftsmann sowie langjähriger Präsident der Zürcher Kantonalpartei. Unter seiner Ägide transformierte sich die ehemals deutschschweizerische und protestantische sowie gewerblichbäuerliche Partei in eine – in der gesamten Schweiz – etablierte rechtskonservative Kraft. Sein rhetorisches Talent, gepaart mit einem provozierenden Agitationsstil, trug dazu bei, dass die SVP heute dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet wird.72 Der Wählerstimmenanteil der SVP stieg bis zu den Nationalratswahlen 2007 auf 28,9 Prozent an. Bei den Nationalratswahlen 2011 musste die Partei nun erstmals Verluste (-2,3 Prozentpunkte) in Kauf nehmen. Dieser „Misserfolg“ geht Beobachtern zufolge auf die 2008 erfolgte „Abspaltung des moderaten Flügels der SVP unter dem Namen ‚Bürgerlich-Demokratische Partei‘ (BDP)“73 zurück. Gleichwohl blieb die SVP nach den Nationalratswahlen 2011 stärkste Partei in der Eidgenossenschaft. Bei den Nationalratswahlen 2015 konnte die SVP wieder einen Stimmenzuwachs von 2,8 Prozentpunkten verzeichnen. Und nicht nur das: Mit einem Wahlergebnis von 29,6 Prozent erreichte sie ihren bisherigen Zenit.74 6. Charisma und Regierungsverantwortung als angebotsseitige Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren rechtspopulistischer Parteien? Der Beitrag warf eingangs dieFrage auf: Welche angebotsseitigen Faktoren verursachten die Erfolge und Misserfolge von rechtspopulistischen Parteien bei Parlamentswahlen in Westeuropa seit Beginn der Eurokrise? Daraus 71 Vgl. Andreas Ladner, Die Schweizerische Volkspartei (SVP) – Gratwanderung zwischen Nationalkonservativismus und Rechtspopulismus, in: Hillebrand (Anm. 3), S. 79-89, hier: S. 79-81; siehe auch Pallaver/Gärtner (Anm. 7), S. 100, Fn. 2. 72 Vgl. Ladner (Anm. 71), S. 79. 73 Ebd. S. 81. 74 Vgl. ebd., S. 80f.
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leiteten sich zwei Hypothesen ab, die empirisch geprüft werden sollten: (1) Rechtspopulistische Parteien verbuchten im Untersuchungszeitraum ausschließlich dann Erfolg bei Parlamentswahlen in Westeuropa, wenn einzelne charismatische Führungspersönlichkeiten an ihrer Spitze anwesend waren. (2) Rechtspopulistische Parteien verbuchten im Untersuchungszeitraum immer dann Misserfolg bei Parlamentswahlen in Westeuropa, wenn sie von der Regierungsbank aus zur Wahl angetreten sind. Beide Hypothesen hielten der empirischen Prüfung nicht stand. Denn: Der untersuchte parteiförmige Rechtspopulismus konnte in Westeuropa einerseits sowohl in An- als auch in Abwesenheit einer charismatischen Führungsperson bei Parlamentswahlen nach 2009 Erfolg beziehungsweise Misserfolg verbuchen; andererseits konnten die untersuchten rechtspopulistischen Parteien bei Parlamentswahlen in Westeuropa nach 2009 sowohl als (außer)parlamentarische Oppositions- als auch als Regierungspartei Erfolg beziehungsweise Misserfolg verzeichnen. Demnach kann die aufgestellte Forschungsfrage in diesem Beitrag nicht abschließend beantwortet werden. Zwar führte in sieben Fällen ein Charismatiker den parlamentsorientierten Rechtspopulismus zum Erfolg, jedoch konnten in vier Fällen rechtspopulistische Parteien trotz charismatischer Führungsperson an ihrer Spitze nicht reüssieren. Dementgegen nahm der parteiförmige Rechtspopulismus in drei Fällen ohne einen Charismatiker an seiner Spitze Verluste in Kauf. Lediglich in einem Fall gelang es einer rechtspopulistischen Partei, ohne eine charismatische Führungspersönlichkeit an ihrer Spitze einen Wahlerfolg zu erzielen (AfD bei der Bundestagswahl 2017). In sieben Fällen erzielte der parlamentsorientierte Rechtspopulismus als (außer)parlamentarische Oppositionskraft einen Wahlerfolg, in sechs Fällen einen -misserfolg. In Regierungsverantwortung stehend hatte der parteiförmige Rechtspopulismus lediglich in einem Fall Erfolg, aber auch Misserfolg (SVP bei den schweizerischen Nationalratswahlen 2011 – hier Verluste – und 2015 – da Gewinne). Jedoch mangelt es einerseits im Hinblick auf diesen Erklärungsfaktor an Varianz im Datensatz. Nur in zwei der insgesamt 15 untersuchten Fälle war eine rechtspopulistische Partei vor einer Parlamentswahl an der Regierung beteiligt. In den restlichen 13 Fällen trat sie als (außer)parlamentarische Oppositionskraft zur Wahl an. Andererseits sind die beiden SVP-Fälle aufgrund der Eigenheiten des schweizerischen Konkordanzsystems, dem an dieser Stelle keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden kann, gesondert zu betrachten. Für das Problem der mangelnden Heterogenität in den Daten besteht allerdings für die Anschlussforschung Hoffnung auf Besserung: Mit der LN und der FPÖ befinden sich aktuell zwei rechtspopulistische Parteien in 51
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Regierungsverantwortung. Daher kann es sich als fruchtbar erweisen, die Regierungsverantwortungs-Hypothese nach erneuter Parlamentswahl in Italien sowie in Österreich einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Abschließend: Die ermittelten Ergebnisse stehen in unmittelbarer Abhängigkeit zur politischen Erfolgsmessung. Der Erfolg beziehungsweise Misserfolg des parteiförmigen Rechtspopulismus bei einer Parlamentswahl wurde in diesem Beitrag über die Verbesserung oder Verschlechterung zum vorherigen Wahlergebnis gemessen. Wenn eine Messung etwa entlang einer länderspezifischen oder eigens festgelegten länderübergreifenden „Sperrklausel“ vorgenommen wird, dann könnte die empirische Prüfung beider Erklärungsansätze zu abweichenden Ergebnissen gelangen. Außerdem mangelt es in der (Populismus)Forschung an einem ausgereiften Messkonzept zur Erfassung von Charisma.75 Dieses ist für künftige Untersuchungen im Hinblick auf wissenschaftliche Gütekriterien notwendig, da die Entscheidung, ob eine Person als „charismatisch“ eingestuft werden kann oder nicht, ohne einen Indikatorenkatalog dem Forscher vorbehalten bleibt.
75 Siehe zu den konzeptionellen Grundlagen etwa Roger Eatwell, The Concept and Theory of Charisma, in: Totalitarian Movements and Political Religions, 7 (2006) 2, S. 141-156; siehe auch ders. (Anm. 8).
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Die Bürde der Gewinner? Das Erstarken des Rechtspopulismus im Zeitalter transnationaler Verflechtung Carina Schatten
1. Globalisierung als Melodie von Agitation, Demagogie und Propaganda Freihandel, Deregulierung und Outsourcing: Die Welt ist nie zuvor enger zusammengerückt, die ökonomischen, politischen und sozialen Verflechtungen waren nie zuvor intensiver als im 21. Jahrhundert. Was für die westlichen Industrienationen zum Sinnbild wirtschaftlichen Aufstiegs und gesellschaftlichen Wohlstands wurde, manifestiert sich im ökonomischen Paradigma der Entwicklungsländer zu einem Dilemma zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit. Es scheint, als sei Globalisierung zum einen ein Prozess mit zweierlei Geschwindigkeiten und zum anderen ein Gegenwartsbefund mit antagonistischem Gepräge, wirft das helle Licht der Gewinner doch seinen Schatten auf die verbleibende Welt. Indes sind auch die Staaten ihrer Dirigentschaft nicht gefeit vor negativen Begleiterscheinungen mondialer Interdependenz: Soziale Implikationen manifestieren sich im Aufstieg rechter Populisten. Es sind die Auslagerung von Arbeitsplätzen und die kumulative wirtschaftliche Marginalisierung des Einzelhandels sowie der Arbeiterschaft, die zu einem Verlust von Sozialprestige sowie zu gesellschaftlicher Exklusion führen. All dies mündet in Angst und Ohnmacht. Demgemäß präsentieren sich die Forderungen nach Transparenz politischer Entscheidungsprozesse und Partizipation in zunehmendem Maß ausgeprägter. Es entsteht der Eindruck, als sei die politische Elite nicht imstande ein Gefühl von Obhut zu generieren. In der Folge klafft eine Lücke, die das rechte politische Spektrum zu instrumentalisieren versucht: Medienwirksame Begebenheiten wie Bürgerkriege, Flüchtlingsströme und Akte des Terrorismus sowie essenzielle Fragen um integrative, interkulturelle und logistische Probleme werden zu Schreckensszenarien stilisiert. Dort, wo der Nationalstaat zunehmend verblasst, ertönt die Melodie von Agitation, Demagogie und Propaganda. Mithin widmet sich dieser Beitrag der Frage: Auf welche Weise begünstigen Empfindungen sozialer Deprivation in den Gewinnerstaaten der Globalisierung den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien? 53
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Das Kapitel Globalisierung: Das Phänomen der weltweiten Verflechtung bildet die erste Säule dieser Unterschung. Ihr inbegriffen sind die Erklärung der Begrifflichkeit wie auch die Erörterung des Globalisierungsindex der Konjunkturforschungsstelle (KOF) an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Unter Bezugnahme auf die Veröffentlichungen des Schweizer Wirtschaftsforschungsinstituts werden die am stärksten globalisierten Staaten der Welt benannt. Die Ausführungen im Kapitel Rechtspopulismus: Die neue Blüte der Demagogie bilden die zweite Säule der Abhandlung. Auf Grundlage von Frank Deckers Der neue Rechtspopulismus, Hans-Gerd Jaschkes Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sowie Stijn van Kessels’ Right-wing populism in contemporary Dutch politics erfolgen eine definitorische Eingrenzung und die Beschreibung von Kennzeichen rechtspopulistischer Parteien. In Rechtspopulismus in den Niederlanden: Partij voor de Vrijheid werden die vorherigen Erkenntnisse zusammengetragen: Als Staat mit dem höchsten Globalisierungsgrad bilden die Niederlande und damit die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid das Fallbeispiel des Aufsatzes. Eingebettet in nationale Spezifika werden zugleich die Entstehung und die Struktur sowie das politische Profil der Partei erörtert und auf ihr rechtspopulistisches Gepräge hin analysiert. Das Kapitel Rechter Populismus – eine Bürde der Globalisierungsgewinner? untersucht schließlich den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Deprivationsängsten in stark vernetzten Staaten und dem Zuspruch zu rechtspopulistischen Akteuren. Mit Rekurs auf Catherine de Vries’ und Isabell Hoffmanns Studie Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? werden Erklärungsmuster für das Erstarken1 rechtspopulistischer Erscheinungen mit den spezifischen Gegebenheiten in den Niederlanden zusammengeführt. 2. Das Phänomen der weltweiten Verflechtung Fernsehen, Hörfunk und Presse berichten fortwährend von Globalisierung: Sie schreite voran, stagniere, habe positive wie negative Effekte. Zweifellos präsentiert sie sich als „Signatur des gegenwärtigen Zeitalters“2. Doch was zeichnet die globalisierte Welt aus? Ein grundlegendes Verständ-
1 In dem vorliegenden Aufsatz wird das Erstarken des Rechtspopulismus mit einem an Wahlergebnissen gemessenen Erfolg gleichgesetzt. 2 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2007, S. 7.
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nis bezieht der vorliegende Aufsatz aus Joseph Stiglitz’ Beschreibung von Globalisierung. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank definiert diese als „engere Verflechtung von Ländern und Völkern, die durch die enorme Senkung der Transportkosten herbeigeführt wurde, und die Beseitigung künstlicher Schranken für den ungehinderten grenzüberschreitenden Strom von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und (in geringem Grad) Menschen“3. Die dem Bretton-Woods-System entsprungenen Organisationen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sowie die aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen resultierende Welthandelsorganisation identifiziert er als wesentliche Institutionen transnationaler Handels- wie Wirtschaftspolitik und somit als Sinnbild von Globalisierung.4 Den Vorgang der universalen Vernetzung sieht Stiglitz „durch internationale zwischenstaatliche Institutionen moderiert, wie die Vereinten Nationen [...], die internationale Arbeitsorganisation [...] und die Weltgesundheitsorganisation“5. Global agierende Unternehmen, „die nicht nur Kapital und Güter, sondern auch Technologien über Grenzen hinweg bewegen“, deklariert er darüber hinaus als „mächtige Triebkraft der Globalisierung“6. Dem Anspruch einer möglichst akkuraten Begriffsbestimmung entsprechend muss die Stiglitz’sche Definition zum einen um die Ebene der individuellen wie der institutionellen Verflechtung und zum anderen um nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders, insbesondere um die politische, soziale und kulturelle Sphäre, ergänzt werden. Weiterhin fehlen ihr Ausführungen zum Hergang mondialer Verbindungen. Dieser Makel kann mit Rekurs auf Osterhammels und Peterssons Authentifikation von Globalisierung als „Gegenwartsdiagnose und historischer Prozessbegriff“7 nivelliert werden. Die beiden Historiker manifestieren die Entwicklung hin zu einer globalisierten Welt am Imperialismus, an der Industrialisierung und am Freihandel, an diversen internationalen Krisen und der zunehmenden Institutionalisierung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.8 So kann Globalisierung als Prozess beschrieben werden, der die zwischen Staaten vereinbarten Grenzlinien unterminiert und Ökonomien, Technologien, Legislativen wie Kulturen assimiliert. Es entsteht ein System
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Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, München 2004, S. 6. Vgl. ebd., S. 1. Ebd., S. 6. Ebd. Osterhammel/Petersson (Anm. 2), S. 7. Vgl. ebd.
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internationaler Interdependenzen.9 Die Auswirkungen der Vernetzung werden von den ungleichen Akteuren alsdann auch ungleich bewertet: Für die Gewinner implizieren sie Chancen und Prosperität, für die Verlierer Risiken und Pauperität. Ihre wissenschaftliche Untersuchung bedarf mithin zunächst der Messung von Globalisierung. 2.1 Der KOF Globalisierungsindex Es ist das Jahr 2000, als das amerikanische Beratungsunternehmen A. T. Kearney in Zusammenarbeit mit dem Foreign Policy Magazine einen Index zur Messung von Globalisierung konzipiert. Bis 2007 wird der Grad der Verflechtung von 72 Ländern unter Zuhilfenahme der vier Kategorien wirtschaftliche Integration, soziale Integration, technologische Vernetzung und globales politisches Engagement berechnet. Mit Bezugnahme auf den A.T. Kearney/Foreign Policy Globalization Index entwickelte der Ökonom Axel Dreher an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich zwei Jahre später den KOF Globalisierungsindex. Dieser dokumentiert die Ausgestaltung internationaler Verflechtung von 207 Staaten über den Zeitraum von 1970 bis 2014,10 gemessen am arithmetischen Mittel der Länderindizes. Der Zeitraum von mittlerweile 43 Jahren erlaubt eine vergleichende Betrachtung über mehrere Jahre hinweg. Während der Kearney Index zwölf Variablen zur Bestimmung des Grades der Vernetzung vorweist, gehen in die Berechnungen der Schweizer Forschungsstelle 2017 23 Variablen ein. Sie spiegeln neben dem wirtschaftlichen auch das soziale wie das politische Ausmaß von Globalisierung wider und erfassen hiernach eine größere Breite als andere Globalisierungsindizes. Die ökonomische Globalisierung umfasst die beiden Kategorien Gegenwärtige Kapitalflüsse und Restriktionen. Kern der sozialen Globalisierung sind die drei Kategorien Daten über persönliche Kontakte, Informationsströmungen und kulturelle Nähe. Die politische Globalisierung inkludiert die Zahl internationaler Organisationen, in denen ein Staat über eine Mit-
9 Vgl. Axel Dreher/Andreas Fuchs, Ist Globalisierung messbar?, in: Die Volkwirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik, 83 (2010) 10, S. 9-13. 10 Der Globalisierungsindex von 2017 basiert auf der Vernetzung des Jahres 2014, da die statistischen Datensätze ob der Schwierigkeit ihrer Zusammenstellung gewöhnlich erst mit drei Jahren Verzug publiziert werden können. Zwischenzeitlich hat die KOF den Globalisierungsindex 2018 veröffentlicht. Der vorliegende Aufsatz wurde allerdings zuvor fertiggestellt und bezieht sich daher ausschließlich auf die Ergebnisse des Jahres 2017.
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gliedschaft verfügt, die Anzahl bilateraler und multilateraler Verträge, die er seit Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 ratifiziert hat, die Zahl von Botschaften in einem Staatsgebiet wie auch die Summe der Friedensmissionen der Vereinten Nationen, an denen er partizipierte.11 Jede der Variablen wird zu einem Index mit einer Skala von 1 bis 100 transformiert: Je höher der Wert, desto stärker ist die Verflechtung. Die Variablen werden den Perzentilen der Originalverteilung entsprechend transformiert, um die Wirkung von Extremwerten zu verringern und folglich Abweichungen im Zeitverlauf möglichst gering zu halten. Ihre Berechnung vollzieht sich auf Basis eines Jahres. Existieren nicht alle erforderlichen Daten für jeden Staat und für jedes Jahr, wird die Gesamtzahl der Variablen zunächst linear interpoliert. Die letzte vorhandene Zahl ersetzt nicht verfügbare Werte am Ende einer Reihe. Mangelt es der ganzen Datenreihe an Angaben, werden die Gewichte angeglichen. Eine Gewichtung von null erfasst Erkenntnisse mit einem Wert von null. Sind mindestens 40 Prozent der relevanten Daten nicht zugänglich oder zwei der drei Subindizes nicht zu ermitteln, werden die Werte für den jeweiligen Index nicht ausgegeben.12 Die Gewichte zur Berechnung der Teilindizes werden mittels Hauptkomponentenanalyse definiert. „Sie dient dazu, umfangreiche Datensätze zu strukturieren, zu vereinfachen und zu veranschaulichen, indem eine Mehrzahl statistischer Variablen durch eine geringere Zahl möglichst aussagekräftiger Linearkombinationen erklärt wird.“13 Mithin wird der Verlust von Informationen minimiert, die Strukturierung voluminöser Datensätze erleichtert. Der KOF Index sowie die ökonomische, soziale und politische Dimension von Globalisierung werden also mittels gewichteter Datenserien errechnet.14
11 Vgl. Axel Dreher, Does Globalization Affect Growth? Evidence from a new Index of Globalization, in: Applied Economics, 38 (2006) 10, S. 1091-1110; Axel Dreher/ Noel Gaston/Pim Martens, Measuring Globalisation - Gauging its Consequences, New York 2008; Anja Rohwer, Kann man Globalisierung messen? Ein Vergleich zweier unterschiedlicher Indizes zur Messung der Globalisierung, 61 (2008) 10, S. 31-37; Dreher/Fuchs (Anm. 9), S. 11. 12 Vgl. Rohwer (Anm. 11), S. 35; Dreher/Fuchs (Anm. 9), S. 10. 13 A. Rohwer (Anm. 11), S. 35. 14 Vgl. ebd.
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2.2 Ergebnisse: Die am stärksten globalisierten Staaten der Welt Dem Index der Schweizer Konjunkturforschungsstelle entsprechend waren die Niederlande im Jahr 2014 der Staat mit dem höchsten Globalisierungsgrad. Die zweite Position wird von Irland, die dritte von Belgien belegt. Nachfolgend ordnen sich Österreich, die Schweiz, Dänemark, Schweden, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Ungarn in absteigender Reihenfolge ein. Damit setzt sich das Feld der ersten zehn Ränge aus europäischen Staaten zusammen. Die Länder mit dem größten Bruttoinlandsprodukt sind aufgrund ihrer Marktgröße eher nach innen gerichtet. Folglich rangieren sie vergleichsweise weit hinten: Die USA nehmen Platz 27 ein, China besetzt Position 71, Japan reserviert sich Rang 39 und Deutschland platziert sich an 16. Stelle.15 Als am stärksten globalisierter Staat des genannten veröffentlichten Erhebungszeitraumes stehen die Niederlande und damit die Partij voor de Vrijheid im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes.16 Sie versinnbildlichen die vermeintlich helle Seite des weltweiten Beziehungsgeflechts und dienen daher als Fallbeispiel, um das Erstarken des Rechtspopulismus im Zeitalter transnationaler Verflechtung zu analysieren. 3. Die neue Blüte der Demagogie Partij voor de Vrijheid, Vlaams Belang (VB), Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und Schweizerische Volkspartei (SVP): Die Gesellschaften von vier der fünf Länder mit dem gegenwärtig höchsten Globalisierungsgrad erleben seit einigen Jahren die Renaissance von Agitation, Demagogie und Propaganda. Über Dekaden nahm Europa eine ablehnende Haltung ein, versuchte sich Indoktrinationen zu erwehren und populistische Tendenzen zu 15 KOF a, KOF Globalisierungsindex 2017: Die Niederlande sind das am stärksten globalisierte Land, 20.4.2017,www.kof.ethz.ch/news-und-veranstaltungen/medien /medienmitteilungen/2017/04/kof-globalisierungsindex-2017-die-niederlande-sind -das-am-staerksten-globalisierte-land.html; KOF b, 2017 KOF Index of Globalization, 20.4.2017, www.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/dual/kof-dam/docu ments/Globalization/2018/Globalisationindex2017.zip. 16 Interessant ist: Die Niederlande belegen in den Teilindizes nicht die führenden, sondern nur vordere Ränge. Im Subindex der wirtschaftlichen Dimension liegen sie auf Position vier, ebenso in dem der sozialen Dimension und im Subindex der politischen Dimension auf Position 5. Siehe hierzu: KOF, 2017, KOF Index of Globalization, www.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/dual/kof-dam/docume nts/Globalization/2018/Globalisationindex2017.zip.
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negieren. Gleichwohl hielt rechter Populismus ab Mitte der 1980er Jahre sukzessiv Einzug in die westeuropäische Sphäre.17 Der gesellschaftliche wie wissenschaftliche Diskurs um diesen ist dabei durch diffuse Begriffsbestimmungen, fehlende Differenzierung zu rechtem Extremismus und emotionale Debatten charakterisiert. Einige Wissenschaftler, wie Frank Decker, werten ihn als Ideologie, andere, wie Armin Pfahl-Traughber, zuweilen als politisches Schlagwort und wieder andere, wie Martin Reisigl, als Stilmittel.18 Demzufolge widmet sich dieses Kapitel der definitorischen Ein- wie Abgrenzung von Rechtspopulismus sowie der Ausarbeitung seiner Kennzeichen. Der Fokus liegt auf dem europäischen Verständnis von populistischen Erscheinungen, da dieses sich trotz länderspezifischer Ausprägungen in einer negativen Konnotation eint und damit stark von der nord- oder der lateinamerikanischen Interpretation divergiert.19 Die Historie eines Landes, das politische System, Traditionen und Werte sowie das Wohlstandsniveau und die soziale Konstitution der Bevölkerung begründen die mannigfaltigen Ausprägungen von Populismus und infolgedessen die Schwierigkeit einer kongruenten Definition. Indes offenbart sich im Füllhorn der Deutungsangebote eine konstitutive Eigenschaft, die allen gemein ist: das identitätsstiftende Wir-Gefühl einer als das Volk bezeichneten Gruppe. „Im Zentrum populistischer Ideologie steht das Volk, das als weitgehend homogene Einheit aufgefasst, mit moralisch aufgeladenen Chiffren besetzt [...] und von der machtgierigen, abgehobenen, korrupten Elite [...] abgegrenzt wird“20. Entscheidend ist zum einen die „vertikale Dichotomie“21 zwischen dem Volk und der Elite, dem politischen Establishment oder wirtschaftlichen Großkonzernen, die das Wohl der kleinen Leute zu bedrohen scheinen. Zum anderen ist die horizontale „Ab-
17 Vgl. Frank Decker, Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Opladen 2000, S. 13 f. 18 Vgl. Decker (Anm. 17); Armin Pfahl-Traughber, Populismus - politisches Schlagwort oder wissenschaftlicher Terminus?, 4.2.2016, https://hpd.de/artikel/12694; Martin Reisigl, Oppositioneller und regierender Rechtspopulismus: Rhetorische Strategien und diskursive Dynamiken in der Demokratie, in: Susanne FrölichSteffen/Lars Rensmann/Cas Mudde (Hrsg.), Populisten an der Macht: Populistische Regierungsparteien in West- und Osteuropa, Wien 2005. 19 Vgl. Decker (Anm. 17), S. 30-32. 20 Werner T. Bauer, Rechtspopulismus in Europa: Vergängliches Phänomen oder auf dem Weg zum politischen Mainstream?, Juni 2010, http://library.fes.de/pdf-files/id /ipa/07293.pdf, S. 5. 21 Ebd.
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grenzung von den Anderen, den Fremden“22 wesentlich.23 Über das allen Definitionen gemeinsame Herzstück des identitätsstiftenden Wir-Gefühls eines Volkes hinaus nimmt Frank Decker in seiner Dreiteilung des Populismus weitere allgemein anerkannte Attribute auf.24 In seiner Begriffsbestimmung konzentriert sich Decker zunächst auf die gesellschaftlichen Entstehungshintergründe. Den Übergang in das ökonomische Paradigma der Globalisierung deklariert er als Ausgangspunkt eines Strukturwandels, in dessen Folge sich die Gesellschaften neuen Begebenheiten anpassen müssen. Veränderungen inkludieren jedoch immer auch Verlustängste, seien sie materieller Art oder auf die Orientierung bezogen, objektiv existierend oder subjektiv empfunden. Ebendiese fördern die Empfänglichkeit für rechtspopulistische Propaganda.25 Die zweite Komponente der Decker’schen Interpretation bilden die ideologischen Inhalte und Widersprüche. Im Mittelpunkt dieser steht die „prekäre Synthese von Personalismus und Gemeinschaftsdenken“26. Abschließend richtet der Politologe sein Augenmerk auf die Organisation und das Auftreten von Populismus. Charakteristisch für populistische Phänomene sind ihr Bewegungscharakter und das Führerprinzip. Dabei bezieht Decker sich auf die Kriterien einer sozialen Bewegung, die Joachim Raschke 1985 in seiner Monografie Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss konstruiert hat: Mobilisierung, eine gewisse Kontinuität, hohe symbolische Integration, geringe Rollenspezifikation, variable Organisations- und Aktionsformen und Ziele.27 Im Allgemeinen weisen populistische Erscheinungen einen niedrigen Organisationsgrad auf, verfügen sie doch über ein autoritäres Gefüge, an dessen Spitze ein charismatischer Führer steht. Meist hat dieser die Partei alleine gegründet und ihr Profil modelliert. Nicht selten sind dies Personen, deren Biografie (partei-)politisch geprägt ist, die sich aber von ihrer bisherigen Vereinigung losgesagt haben.28 Mit Rekurs auf Max Weber soll Charisma „eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwil22 Ebd. 23 Die Freund-Feind-Dichotomie wie auch die Förderung des Gemeinschaftsgefühls durch ein gemeinsames Feindbild haben ihren Ursprung in Carl Schmitts Werk Der Begriff des Politischen. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 2009, S. 27-29. 24 Vgl. Decker (Anm. 17), S. 28 f. 25 Vgl. ebd., S. 28, 35. 26 Ebd., S. 28. 27 Vgl. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, Frankfurt/M. 1985, S. 77 f. 28 Vgl. Decker (Anm. 17), S. 50.
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len sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen [...] Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird“29. Charisma ist sohin elementar, begünstigt es eine große Anhängerschaft und damit den Erfolg der Partei. Zur Verführung der Massen bedienen sich Vorsitzender und Partei weiterhin agitatorischer Stilmittel, wie common sense-Argumenten, radikalen Lösungen, Verschwörungstheorien und Denken in Feindbildern, Provokationen und Tabubrüchen, biologistischen und Gewaltmetaphern sowie Emotionalisierungen und Angstmacherei.30 In der Zusammenfassung können verschiedene Kriterien für die Evaluierung einer Partei als rechtspopulistisch extrahiert werden. Ihr Entstehungsmoment sind die Modernisierungskrisen, die sich in Orientierungslosigkeit und Abstiegsangst bekunden. Nicht weniger charakteristisch sind Antipositionen und Protestthemen, die ob der nur geringfügig vorhandenen Struktur innerhalb der Partei von einer charismatischen Führerpersönlichkeit festgelegt werden. Diese bedient sich mit Vorliebe agitatorischer Stilmittel. Im Zentrum steht hierbei immer das als Volk betitelte Kollektiv, welches das identitätsstiftende Wir-Gefühl einer homogenen Gruppe konstituiert, die sich durch ihre Unterscheidung zwischen Freund und Feind von den Anderen abgrenzt und legitimiert. 4. Rechtspopulismus in den Niederlanden: Partij voor de Vrijheid Populismus ist populär. Es sind Phänomene, denen große Aufmerksamkeit zuteilwird. Doch wie gründet sich eine rechtspopulistische Partei? Was begünstigt ihre Entstehung? Sind die Motive der einzelnen Akteure gewiss nur schwerlich zu eruieren, können nationale Spezifika bei der Ermittlung möglicher Auslöser für den Erfolg rechtspopulistischer Propaganda zuträglich sein. In den Niederlanden gibt es wenigstens drei strukturelle Rahmenbedingungen, die dem rechten Populismus den Weg ebnen. Zunächst bietet der staatliche Umgang mit Multikulturalität eine Brutstätte für allgemein rechte Gesinnungen: Mit der Veröffentlichung der Minderhedennota, den Minderheitenberichten der achtziger Jahre, bekannten sich die Niederlande zu ihrem Status als Einwanderungsland und demgemäß zu einem
29 Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik. III. Abteilung Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Tübingen 1925, S. 140. 30 Vgl. Decker (Anm. 17), S. 50-53; Frank Decker, Der neue Rechtspopulismus, Opladen 2004, S. 35-38.
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harmonischen Miteinander von Majoritäten und Minoritäten sowie zu kultureller Vielfalt.31 Migration und Integration sollten miteinander einhergehen. Aus der stetig wachsenden Anzahl an Flüchtlingen resultierende Schwierigkeiten interkultureller Zusammenkünfte fanden keine Erwähnung, ihr Konfliktpotenzial wurde bagatellisiert.32 Wo die niederländische Regierung Zweifel und Ängste ihrer Bevölkerung ob der zunehmend großen Migrationsströme tabuisiert hatte, entstand ein Vakuum, das rechte Demagogen als verständnisvolle Kümmerer besetzen konnten. Der Erfolg der rechten Populisten liegt sohin in einem durch Massenmigration geprägten Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und in den aus diesem entstehenden sozialen wie auch ökonomischen Zukunftsängsten begründet. Als zweiter Faktor kann die Zentrumsorientierung der etablierten niederländischen Parteien aufgeführt werden. Diese siedeln sich verstärkt in der politischen Mitte an und vertreten immer öfter übereinstimmende Meinungen wie Themen. Am linken wie rechten Rand entsteht mithin eine Leere, die durch populistische Parteien wieder gefüllt werden kann.33 Die dritte länderspezifische Gegebenheit schließt das Wahlsystem ein. Die Mitglieder der zweiten Parlamentskammer werden nach dem Verhältniswahlsystem gewählt. In den Niederlanden existiert keine Sperrklausel, nur eine im europäischen Vergleich überaus niedrige, natürliche Hürde von 0,67 Prozent für ein Abgeordnetenmandat. Abhängig von der Anzahl sowie der Beteiligung der wahlberechtigten Bürger sind das circa 60.000 Stimmen. Diese entsprechen einem der 150 Sitze der Zweiten Kammer. Kleine, weniger bekannte oder gar neu gegründete Parteien erhalten daher leicht Zugang ins Parlament.34 Im Jahr 2006 gründete der niederländische Politiker Geert Wilders die fortan erfolgreichste rechtspopulistische Partei in den Niederlanden: die Partij voor de Vrijheid.35 Wilders war einst Abgeordneter der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, bis er diese aufgrund ihrer positiven Einstellung zum türkischen Beitritt in die Europäische Union verließ. So
31 Vgl. Tanja Klein, Rechtspopulistische Parteien in Regierungsbildungsprozessen. Die Niederlande, Belgien und Schweden im Vergleich, Potsdam 2012; Robert Carle, Demise of Dutch Multiculturalism, in: Society, 43 (2006) 3, S. 68-74. 32 Vgl. ebd., S. 50. 33 Vgl. ebd., S. 51 f. 34 Vgl. Markus Wilp, Das politische System der Niederlande. Eine Einführung, Wiesbaden 2012, S. 162. 35 Die zweite relevante Erscheinung rechtspopulistischer Natur in den Niederlanden, die Partei Lijst Pim Fortuyn findet ob ihrer kurzen fünfjährigen Existenz sowie ihrer Auflösung im Jahre 2007 keine Anführung.
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hatte er zwei Jahre als Ein-Mann-Fraktion Groep Wilders in der Zweiten Kammer verweilt, bevor er seine eigene politische Organisation formierte. Dabei ist diese keine Partei traditionellen Gefüges: Ob des Fehlens von Mitgliedern besitzt sie weder eine Struktur noch eine Hierarchie. Geert Wilders ist alleiniges Mitglied wie Vorsitzender der Stiftung Partij voor de Vrijheid.36 Er allein wählt die Personen für die Abgeordnetenmandate aus und bittet diese um die Wahrnehmung eines Sitzes im Parlament. Demokratische Strukturen innerhalb der politischen Organisation lehnt Wilders ebenso ab wie die Anwesenheit medialer Vertreter bei Parteiversammlungen. Zudem ist er auf die Verschwiegenheit der Teilnehmer dieser Veranstaltungen bedacht. Hier offenbart sich die Wilders’sche Philosophie absoluter Autorität und grundlegender Kontrolle.37 Folglich manifestieren sich in der Genese und in der Architektur der Partij voor de Vrijheid dem rechten Populismus eigentümliche Kennzeichen: Die PVV zeichnet sich als EinMann-Partei über ein auf der Autorität Geert Wilders‘ beruhendes Gefüge aus. Er hat die Stiftung allein gegründet und sie seiner Geisteshaltung entsprechend geformt. Das ungewöhnliche Konzept Geert Wilders’ scheint bisher ein Erfolgsformat zu sein: Schon im Jahr 2006 gewann die Partij voor de Vrijheid 5,9 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit neun Sitze im Parlament.38 Vier Jahre später erzielte sie bereits 15,4 Prozent (24 Sitze) und wurde damit drittstärkste Partei der Zweiten Kammer.39 Waren die Ergebnisse der Neuwahlen des Jahres 2012 auch von einem deutlichen Verlust von 5,3 Prozent der Stimmen und neun Sitzen geprägt, blieb die PVV dennoch
36 Vgl. Roland Eissens/Suzette Bronkhorst, Rechtsextremismus und -populismus in den Niederlanden: Nichts gelernt, in: Nora Langenbacher/Britta Schellenberg (Hrsg.), Europa auf dem „rechten“ Weg? Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa, Bonn 2011; Klein (Anm. 31), S. 52. 37 Vgl. Eissens/Bronkhorst (Anm. 36), S. 139; Stijn van Kessel, Right-wing populism in contemporary Dutch politics, in: Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil Jakobsen (Hrsg.), Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden 2015, S. 212. 38 Vgl. Election Resources on the Internet a, Elections to the Dutch Tweede Kamer (House of Representatives) – Results Lookup, 22.11.2006 www.electionresources.org/nl/house.php?election=2006&province=. 39 Vgl. Election Resources on the Internet b, Elections to the Dutch Tweede Kamer (House of Representatives) – Results Lookup, 9.6.2010, http://electionresources.org/nl/house.php?election=2010.
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weiterhin die drittstärkste Partei.40 Seit März 2017 ist sie mit 13,1 Prozent und 20 Sitzen als zweitstärkste Kraft im niederländischen Parlament vertreten.41 In der Zusammenfassung sind die Wahlerfolge der PVV von durchschnittlich 11,1 Prozent der Stimmen ein Beleg für die charismatische Ausstrahlung ihres Vorsitzenden. Ihm obliegt es, der Wählerschaft Vertrauenswürdigkeit zu suggerieren und diese zur Stimmabgabe zu mobilisieren.42 Außerdem ist die Partij voor de Vrijheid seit 2015 Mitglied in der neuen rechten Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) im Europäischen Parlament.4344 Das politische Profil einer Partei lässt sich am einfachsten mit Blick auf das Parteiprogramm analysieren. Es enthält subjektive Bestandsaufnahmen der Wirklichkeit und Anregungen, wie diese gestaltet werden kann. Indes die Grundsatzerklärung von 2012 auf 56 Seiten und in zehn Kapiteln Angelegenheiten der Wirtschaft, Gesundheit und Pflege, Bildung und Kultur, Umwelt und Infrastruktur, inneren Sicherheit und Einwanderung sowie Themen der Europäischen Union enthält, umfasst diejenige für die Wahlen im Jahr 2017 gerade einmal eine Seite.45 Der relevante Themenkreis und die Prioritäten haben sich gleichwohl nicht merklich verändert. Vielmehr mussten detaillierte Ausführungen imperativen Postulaten weichen. Auch zukünftig liegt der Fokus auf Massenimmigration sowie Islamisierung. Die Partij voor de Vrijheid betrachtet den Islam als totalitäre politische Ideologie und daher als Bedrohung der inneren Sicherheit wie auch der niederländischen Kultur.46 Ein Feindbild ist damit konstruiert. Agitatorische Stilmittel wie die Reduktion von Komplexität und die Forderung radikaler Lösungen kennzeichnen überdies Wilders Politikstil. Unter dem
40 Vgl. Election Resources on the Internet c, Elections to the Dutch Tweede Kamer (House of Representatives) – Results Lookup, 1209.2012, http://electionresources.org/nl/house.php?election=2012&province=. 41 Vgl. Election Resources on the Internet d, Elections to the Dutch Tweede Kamer (House of Representatives) – Results Lookup, 15.3.2017, www.electionresources.org/nl/house.php?election=2017. 42 Vgl. Kessel (Anm. 37), S. 214. 43 Vgl. Tobias Müller, Rudelkuscheln auf Rechtsaußen, 17.6.2015, www.zeit.de/polit ik/ausland/2015-06/eu-parlament-rechtspopulismus-marine-le-pen-geert-wilders. 44 Die Wahlergebnisse der Europawahlen finden aufgrund des Fokus auf den nationalen Kontext keine Erwähnung. 45 Vgl. Partij voor de Vrijheid a, Hún Brussel, óns Nederland, www.pvv.nl/images/st ories/verkiezingen2012/VerkiezingsProgramma-PVV-2012-final-web.pdf; Partij voor de Vrijheid b, NEDERLAND WEER VAN ONS! www.pvv.nl/images/Conce ptverkiezingsprogrammma.pdf. 46 Vgl. Partij voor de Vrijheid a (Anm. 45), S. 26, 35; Kessel (Anm. 37), S. 208.
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Kernpunkt Nederland de-islamiseren führt das aktuelle Programm gleichfalls denunzierende und allgemein repressive Maßnahmen wie auch Einschränkungen zur Ausübung des muslimischen Glaubens auf.47 Anders als vor fünf Jahren legt es jedoch keinen Schwerpunkt auf europäische Themen. Geblieben ist lediglich die mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit verknüpfte Forderung des Austritts aus der Europäischen Union. Zeugnis dieser Entwicklung ist der von Hún Brussel, óns Nederland48 in Nederland weer van ons49 geänderte Titel. Beide Dokumente weisen Eigenarten rechtspopulistischer Ideologien auf. Im Mittelpunkt steht zu jeder Zeit das niederländische Volk, das sich zum einen gegen die politische Elite und zum anderen gegen äußere Feinde wie den Islam behaupten muss. 5. Rechter Populismus – eine Bürde der Globalisierungsgewinner? Das Netz transnationaler Verflechtungen war nie größer als im 21. Jahrhundert. Nationalstaatliche Grenzen verblassen zugunsten dichter wirtschaftlicher, sozialer sowie politischer Beziehungsgeflechte, die ein rapides Wachstum der Volkswirtschaften, Prosperität und ein erhöhtes Maß an Wohlstand begünstigen sollen. Darüber hinaus geht Globalisierung mit Modernisierungsprozessen wie Automatisierung, Digitalisierung und Technisierung einher.50 An dieser Stelle erhält das Kunstwerk mondialer Verflechtung tiefgreifende Risse gesellschaftlicher Deprivationsängste. Auf der ökonomischen Ebene lösen die Expansion wirtschaftlicher Anstrengungen sowie das Ausmaß globaler Waren- und Kapitalströme eine Priorisierung des Dienstleistungssektors aus. Die Aufwertung höherqualifizierter Tätigkeiten und die damit verbundene Herabwürdigung niedriger qualifizierter Beschäftigungen in postindustriellen Gesellschaften teilen die Bevölkerungen in Gewinner und Verlierer auf. Während die einen von den Entwicklungen profitieren, leiden die anderen ob zunehmender Arbeitslosigkeit sowie Marginalisierungstendenzen unter dem Verlust von Sozialprestige und gesellschaftlichen Zukunftsängsten.51 Die soziale Ebene ist geprägt von über Staatsgrenzen hinausgehenden Interaktionen. Ihnen 47 48 49 50 51
Vgl. Partij voor de Vrijheid b (Anm. 45), S. 1. Wörtlich übersetzt bedeutet dies: Deren Brüssel, unsere Niederlande. Inhaltlich übersetzt bedeutet dies: Die Niederlande sollen wieder uns gehören. Vgl. KOF a (Anm. 15). Vgl. Decker (Anm. 17), S. 28; Hans-Georg Betz, Rechtspopulismus in Westeuropa. Aktuelle Entwicklungen und politische Bedeutung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 31 (2002) 3, S. 251-264; Stiglitz (Anm. 3), S. 7; Tim Spier,
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inhärent ist die Mehrung von (irregulären) Migrationsbewegungen. Diese umfassen eine Reihe von integrativen, interkulturellen und logistischen Herausforderungen für die Gesellschaften der Einwanderungsländer. In der Folge nährt das „Aufbrechen des traditionellen Zusammenklangs von Territorialität und kultureller Identität“52 Empfindungen von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Dabei ist es vor allem das Bewusstsein der eigenen Identität, das in einer Zeit raschen Wandels von elementarer Bedeutung für das Wohlbefinden der Menschen scheint: So stellt der verblassende Nationalstaat ein weiteres Dilemma der Globalisierung dar, basiert er doch auf einer Nation, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Historie und Traditionen auszeichnet und damit den Raum für Identifikationen bietet.53 Zuletzt ist auch die politische Ebene von negativen Implikationen beeinflusst. Die Verlagerung politischer Zuständigkeiten von der nationalen in die internationale Dimension geht mit der Abnahme innerstaatlicher Steuerungsfähigkeit und mit unklaren Zuständigkeiten einher. Beides mündet in einem Gefühl verminderter Optionen der Einflussnahme wie Kontrolle und folglich in Frustration.54 Mithin hat jede der drei primären Ebenen von Globalisierung negative Auswirkungen für einen Teil der Bevölkerungen: „In den Reihen dieser Modernisierungsverlierer finden sich [daher Empfindungen wie] politische Unzufriedenheit, Statusängste, materielle Not sowie Orientierungs- und Identitätslosigkeit.“55 Es ist die Zeit der Existenzängste und Identifikationsverluste, der Fragen nach der Gestaltung des Zusammenlebens in multikulturellen Räumen, in der rechtspopulistische Phänomene die gesellschaftliche Bühne betreten.56 Ihr Emporstieg ist demnach in den wirtschaftlichen, sozialen sowie politischen und allgemein strukturellen Veränderungen innerhalb der postindustriellen, von den Modernisierungsprozessen der Globalisierung geförderten Gesellschaften begründet.57 Indessen kann dieses Gefühl von
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Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden 2010, S. 64. Spier (Anm. 51), S. 64. Alexander Grau, Die Rückkehr des Nationalismus: Der Preis der Globalisierung, 5.2.2016, www.cicero.de/weltbuehne/die-rueckkehr-des-nationendenkens-rettungs anker-nationalismus/60467. Vgl. Spier (Anm. 51), S. 64. Tim Spier, Populismus und Modernisierung, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus: Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, S. 33-58, hier S. 50. Vgl. Decker (Anm. 17), S. 28. Vgl. Betz (Anm. 51), S. 257 f.
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Furcht auch von Individuen geteilt werden, die nicht von nachteiligen Effekten transnationaler Vernetzung betroffen sind. Ob diese realer oder empfundener Natur sind, ist nahezu unerheblich. Beide steigern die Empfänglichkeit für rechte Propaganda, die Indoktrination ganzer Gruppierungen. So schweben rechtspopulistische Erscheinungen wie ein Damoklesschwert über den Staaten Europas, derweil sie zu einem alltäglichen Objekt des politischen Diskurses geworden sind. Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde kreierte hierfür den prägnanten Ausdruck: „the populist Zeitgeist“58. Es ist dieser Zeitgeist, die neue Blüte rechter Demagogie, dem die Schattenseiten universaler Verflechtung einen Nährboden bieten. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien kann sohin als „Aufstand der Modernisierungsverlierer“59 evaluiert werden. Mit einem vertieften Blick auf die Niederlande, ihren den Aufstieg rechter Phänomene protegierenden gesellschaftlichen Begebenheiten wie auch die als rechtspopulistisch klassifizierte Partij voor de Vrijheid wird der kausale Zusammenhang der negativen Implikationen von Globalisierung und dem Emporstieg rechter Populisten nachfolgend dargestellt. Der KOF Globalisierungsindex der ETH Zürich hat die Niederlande als am stärksten globalisierten Staat des Jahres 2014 identifiziert. Zudem verfügen sie mit der Partij voor de Vrijheid über eine erfolgreiche rechtspopulistische Partei. Der Decker’schen Definition von rechtem Populismus zufolge besitzen politische Organisationen dieser Gattung, insbesondere im Kontext von Modernisierungskrisen, eine hohe Anziehungskraft – also dann, wenn Menschen das Gefühl haben, infolge eines zu raschen Wandels keine Zeit zur Anpassung zu haben und zurückgelassen zu werden. Anders als in anderen Staaten, wie ihrem belgischen Nachbarn, existiert in den Niederlanden keine Historie kulturellen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichts, die den Aufstieg rechter Phänomene begünstigt.60 Es sind das Bekenntnis zum Status als Einwanderungsland und die damit einhergehende staatliche Ignoranz der interkulturellen Problematiken zunehmender Migration, die ein Vakuum für rechte Demagogen haben entstehen lassen. Diese instrumentalisieren die emotionale Thematik um kulturelle Vielfalt – und insbesondere die zahlreichen Einwanderer aus muslimisch dominierten Ländern – zur Inszenierung des Feindbildes Islam. Hier wird vor allem auf die soziale Ebene der Globalisierung rekurriert. Auf der politi58 Cas Mudde, The populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 4, S. 542-563. 59 Betz (Anm. 51), S. 258. 60 Vgl. Marion Schmitz-Reiners, Die belgische Krise oder: Ein zerrissenes Land, Thema aus Brüssel 12/2007, http://library.fes.de/pdf-files/bueros/bruessel/05054.pdf.
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schen Ebene fördert die Konsensorientierung der etablierten Parteien den Unmut der Wähler. Zudem empfinden die Anhänger der Partij voor de Vrijheid die Verlagerung politischer Zuständigkeiten auf die Ebene der Europäischen Union als Beschränkung ihres Einfluss- und Kontrollpotenzials. Die länderspezifischen Folgen der politischen Globalisierung zeigen sich in den Ergebnissen der im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von Catherine de Vries und Isabell Hoffmann durchgeführten Studie Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? aus dem Jahr 2016. Im Rahmen ihres Forschungsvorhabens widmeten sich de Vries und Hoffmann Erklärungsmustern für den Aufstieg rechtspopulistischer Phänomene. Sie analysierten, ob „die weitreichenden Folgen der Globalisierung und die Ängste jener, die durch sie verloren haben oder sich sorgen in Zukunft zu den Verlierern zu gehören“61, die Unterstützung populistischer Parteien fördern. Grundlage der Studie bildete einerseits die europaweite Stichprobe zu traditionellen Werten wie Globalisierungsängsten und andererseits die tiefgreifende Untersuchung von neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, wie der Niederlande, welche die verschiedenen Gefilde Europas repräsentieren sollten.62 Die Unterstützer der PVV zeichneten sich dabei im Vergleich zu den Wählern anderer politischer Organisationen mit 37 Prozent durch große wirtschaftliche Ängste aus. Weiterhin waren 57 Prozent vom Bedrohungspotenzial der Globalisierung überzeugt. Furcht vor den negativen Folgen transnationaler Vernetzung war damit bei den Anhängern rechter Populisten am stärksten ausgeprägt.63 In den Ergebnissen der Studie manifestierte sich sodann das ambivalente Bild der öffentlichen Meinung in Bezug auf Globalisierung: Die eine Hälfte ist bange, die andere Hälfte ist optimistisch und konzentriert sich auf die Chancen weltweiter Verflechtung n.64 Die „Globalisierungsängstlichen“ wählen Nonkonformisten, welche ihre Sorgen „im Kontext ihrer wirtschaftlichen Situation und ihres Kompetenzwettstreits mit Einwanderern geschickt artikulieren“65. Zudem verweisen die Resultate auf den hohen Stellenwert der Globalisierungsfurcht bei der
61 Catherine de Vries/Isabell Hoffmann, Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? Wer in Europa populistische Parteien wählt und warum, November 2016, www.bertelsmannstiftung.de/fileadmin/files/user_upload/EZ_eupinions_Fear_St udie_2016_DT.pdf. 62 Vgl. ebd., S. 3. 63 Vgl. ebd., S. 25. 64 Vgl. ebd., S. 9. 65 Ebd., S. 8.
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Stimmabgabe für eine (rechts-)populistische Partei.66 Dabei gilt: „Je niedriger das Bildungsniveau, je geringer das Einkommen und je älter die Menschen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Globalisierung als Bedrohung wahrnehmen.“67 Nahezu kongruent zu den Aussagen Deckers verorten auch die Verfasserinnen der Studie das Entstehungsmoment rechtspopulistischer Erscheinungen in sozialen wie finanziellen Ängsten und mit Globalisierung einhergehenden Modernisierungskrisen. Der Erfolg rechter Populisten dient somit als Seismograf gesellschaftlicher Deprivationsempfindungen. Schließlich kann zwischen vorhandenen oder empfundenen negativen Effekten mondialer Vernetzung und dem Erstarken rechtspopulistischer Phänomene eine Kausalität aufgezeigt werden. 6. Melodie der Globalisierung: Ein Resümee Wohl kaum ein Phänomen prägt das gegenwärtige Zeitalter ähnlich intensiv wie das der Globalisierung. Die globale Verflechtung unterminiert nationalstaatliche Grenzen und erzeugt ein dichtes System internationaler Interdependenzen. Für die Gewinner impliziert sie Chancen und Prosperität, für die Verlierer Risiken und Pauperität. Indes ist die transnationale Vernetzung auch für die eher profitierenden Staaten mit negativen Auswirkungen verbunden. Es sind die Krisen der Modernisierung, die Folgen von Automatisierung, Digitalisierung und Technisierung, welche die Auslagerung von Arbeitsplätzen und die kumulative wirtschaftliche Marginalisierung des Einzelhandels sowie der Arbeiterschaft begünstigen. Dies führt neben aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen um die erfolgreiche Integration einer Vielzahl von Flüchtlingen und die Bekämpfung von internationalem Terrorismus zu Zukunftsangst und Ohnmachtsgefühlen. An dieser Stelle entsteht ein Spielraum für die Demagogie rechter Populisten. Die Motivation der Abhandlung bestand mithin in der Untersuchung gesellschaftlicher Empfindungen sozialer Deprivation in gut vernetzen Staaten und dem dortigen Erstarken rechtspopulistischer Akteure. Die erste Säule dieser Unterschung boten die Definition von „Globalisierung“ wie auch die Darstellung des Globalisierungsindex des Schweizer Wirtschaftsforschungsinstituts der ETH Zürich. Der Definition als Prozess wie Gegenwartsdiagnose zunehmender internationaler Verflechtungen
66 Vgl. ebd., S. 3. 67 Ebd.
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zwischen Akteuren der Mikro-, Meso- und Makroebene folgten allgemeine Erläuterungen zum KOF Index. Sodann wurden die Ergebnisse präsentiert: Im Jahr 2014 waren die Niederlande das Land mit dem höchsten Globalisierungsgrad. Darüber hinaus war die europäische Dominanz auf den ersten zehn Plätzen des Index signifikant. Die begriffliche Eingrenzung von rechtem Populismus und die Benennung kennzeichnender Attribute stellten die zweite Säule des theoretischen Gerüsts dar. Anschließend lag das Augenmerk auf der Partij voor de Vrijheid. Es erfolgte die Deskription länderspezifischer Gegebenheiten, welche die Genese eines rechtspopulistischen Phänomens fördern. In den Niederlanden sind dies vor allem der staatliche Umgang mit Multikulturalität, die Zentrumsnähe etablierter Parteien und die niedrige Hürde des Wahlsystems. Darüber hinaus widmete sich das vierte Kapitel den konstitutiven Gegebenheiten sowie der Architektur der 2006 von Geert Wilders gegründeten politischen Organisation, deren Spezifik vor allem in der Nichtexistenz von Mitgliedern liegt. Die Analyse des vergangenen und des aktuellen Parteiprogramms informierte zudem über die inhaltliche Ausrichtung auf Massenimmigration und Islamisierung. Auf Grundlage der im vorherigen Kapitel erörterten Analysekriterien wird die Partij voor de Vrijheid als rechtspopulistisch klassifiziert. Der letzte Schritt eruierte zunächst die mit den drei Ebenen des KOF Globalisierungsindex verbundenen subjektiven Empfindungen einer Deprivation, die den Einzelnen für die Postulate eines Charismatikers empfänglich machen. Hierzu wurden die Erkenntnisse aller vorangegangenen Textabschnitte zusammengeführt: unter anderem durch Arbeitslosigkeit und Marginalisierungstendenzen hervorgerufene soziale wie finanzielle Ängste begründen im Ergebnis das Entstehungsmoment rechtspopulistischer Erscheinungen innerhalb postindustrieller Gesellschaften. Mit Rekurs auf die Bertelsmann Studie Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? konnte schließlich ein Zusammenhang zwischen den objektiv vorhandenen oder subjektiv empfundenen nachteiligen Begleiterscheinungen weltweiter Verflechtung und dem Erstarken des Rechtspopulismus nachgewiesen werden. Freilich kann nur eine empirische Studie zum Wahlverhalten der rechtspopulistischen Wählerschaft die Richtigkeit der Annahmen nachweisen. Eine solche besäße das Potenzial, den bekundeten Zusammenhang und dessen Wahrheitsgehalt zu belegen und vorläufig zu verifizieren. Darüber hinaus könnte eine Erörterung der am schwächsten globalisierten Staaten und ihrer Verbindung zu rechtem Populismus als weitere Möglichkeit der Verifikation des postulierten Zusammenhangs dienen. Gleichwohl verlangt die Untersuchung nach einem interdisziplinären Blick: Neben den
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länderspezifischen Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten müssen psychologische und soziale Mechanismen berücksichtigt werden.
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Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party? Wie die Rechtspopulisten versuchen, alle Österreicher anzusprechen Thomas M. Klotz
1. Parteien in der „Modernisierungsphase“ Populisten und politische Bewegungen sind auf dem Vormarsch. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gelangte durch seine als Bewegung deklarierte Partei La République en Marche an die Spitze der Politik – ein Jahr nach deren Gründung. Konservative wie Sozialisten hatten das Nachsehen. Ebenso schnitt die italienische Bewegung Movimento 5 Stelle bei den Parlamentswahlen 2013 und 2018 jeweils als erfolgreichste Partei ab. In anderen europäischen Ländern sind es dennoch bislang die etablierten Parteien, die Regierungsverantwortung tragen. Das österreichische Parteiensystem hat sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend verändert, im parteipolitischen Duktus „modernisiert“. Die Parteien gerieren sich immer mehr wie Bewegungen. Exemplarisch ist dies nachzuvollziehen an der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der als rechtspopulistisch eingestuften Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Sie durchlebten trotz ihrer Jahrzehnte währenden festen Verankerung im Parteiensystem einen strukturellen und – gemessen an den Wahlergebnissen – erfolgreichen Wandel. 2017 wurde der damalige Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz mit knapp 99 Prozent der ÖVP-Delegierten zum Bundesparteiobmann gewählt. Zuvor hatte er allerdings einige Bedingungen an seine Partei gestellt, die umgehend umgesetzt wurden. Es folgten eine Namensänderung (Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei), eine Farbveränderung vom gewohnten Schwarz zu einem hellen Türkis und eine Erweiterung der Befugnisse des Bundesparteiobmanns. Dieser entscheidet seither alleine über die Zusammenstellung der Wahllisten, hat freie Hand bei Koalitionsverhandlungen und gibt die inhaltliche Ausrichtung der Partei vor.1 Diese
1 Vgl. O.A., Eigene Liste für die Wahl: Die sieben Bedingungen des Sebastian Kurz, 14.6.2018, www.tt.com/politik/innenpolitik/12975837-91/die-sieben-bedingungendes-sebastian-kurz.csp.
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strukturelle Ausrichtung auf den Parteivorsitzenden hatte die FPÖ bereits Jahre zuvor absolviert. Seinerzeit konzentrierte sich die Partei auf den ehemaligen Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider. Nach einer Parteispaltung gelangte schließlich Heinz-Christian Strache 2005 an die Spitze der Partei, die er bis heute führt. Seit den Nationalratswahlen 2017 bilden die beiden Parteien die Bundesregierungskoalition mit Kurz als Bundeskanzler und Strache als Vizekanzler und Bundesminister für den öffentlichen Dienst und Sport. Im Wahlkampf wetteiferten beide Parteien mit ihrem modernisierten Profil darum, wer mehr österreichische Wähler anzusprechen vermag. Die ÖVP versteht sich allein schon durch ihren Namen als konservative Volkspartei und vertritt nach wie vor eine erkennbar konservative Ausrichtung. Dies ist wohl einer gewissen Pfadabhängigkeit durch die Politik der vergangenen Jahrzehnte geschuldet, in denen die ÖVP nahezu ständig in Regierungsverantwortung war. Dagegen liest sich das Wahlprogramm der FPÖ anders. Es erscheint als Sammelsurium verschiedenster politischer Inhalte und entspricht damit – wird Populismus in erster Linie als Vorgehensweise und weniger als programmatische Ausrichtung definiert2 – dem gängigen Auftreten rechtspopulistischer Parteien,3 aber auch Catch-All Parties. Wie ist also die rechtspopulistische Partei einzustufen, die sich bei der jüngsten Nationalratswahl mit „100 FPÖ-Forderungen zur Beseitigung der Fairness-Krise“ bewarb? Galt die FPÖ unter Haider noch als „eine rechtspopulistische Partei neuen Typs“4, stellt sich heute die Frage: Hat sich die FPÖ seit den vergangenen beiden österreichweiten Wahlen zur Catch-All Party gewandelt? Um dieser Frage nachzugehen, wird im Folgenden zunächst der Begriff der Catch-All Party definiert. Darauffolgend werden die verschiedenen Indikatoren einer klassischen Parteienanalyse dargestellt und insbesondere die Nationalratswahl 2017, die Bundespräsidentenwahl 2016 sowie die Wirkung des Parteivorsitzenden Heinz-Christian Strache betrachtet. Abschließend erfolgt eine Bewertung.
2 Vgl. Karin Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62 (2012) 5/6, S. 3 f. 3 Vgl. Werner T. Bauer, Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Europa, Wien 2015, S. 20. 4 Holger Onken, Parteiensysteme im Wandel. Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Österreich im Vergleich, Wiesbaden 2013, S. 317.
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2. Was ist eine Catch-All Party? In der Entwicklungsgeschichte der europäischen Parteien gab es unterschiedliche Erscheinungsformen mit verschiedenen Vorherrschaften. Nach Eliteparteien im 19. Jahrhundert und Massenparteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Volksparteien und schließlich die professionalisierten Wählerparteien. Nach wie vor können die meisten Parteien bestimmten politischen, weniger strukturellen, Familien zugeordnet werden: So gibt es liberale, sozialdemokratische, konservative, regionale, kommunistische und rechtspopulistische Parteien. Bei dieser Typologisierung wird die FPÖ zumeist der letztgenannten Parteienfamilie zugeordnet.5 Um eine strukturelle Unterscheidung zwischen einer Volkspartei und einer Catch-All Party treffen zu können, werden zunächst die von Peter Lösche beschriebenen Kennzeichen einer Volkspartei aufgezeigt:6 Die Wählerschaft ist keiner bestimmten gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen, gleichwohl ist sie auch nicht beliebig. Ein bestimmtes soziales Profil bleibt erhalten. „Die Volkspartei ist eine Massenwähler-, Mitgliederund Funktionärspartei. Um dieses Kriterium zu erfüllen, muss sie im Prinzip und auf Dauer 35 Prozent der Wähler für sich gewinnen, ein Prozent der Wahlberechtigten als Mitglieder überzeugen und davon wiederum zehn Prozent als Funktionäre motivieren.“7 Daran anknüpfend, sind Volksparteien getragen von einer großen Bevölkerungsgruppe, die sich über bestimmte sozialmoralische Werte und Zielvorstellungen definiert. Volksparteien sind willens und bereit dazu, Macht und damit Verantwortung zu übernehmen, gegebenenfalls auch in Koalitionen. Dies bedeutet auch, dass sie keinen absoluten Herrschaftsanspruch stellen und zumindest in manchen Politikfeldern kompromissfähig auftreten.
5 Vgl. exemplarisch Reinhard Heinisch/Kristina Hauser, Rechtspopulismus in Österreich: Die Freiheitliche Partei Österreichs, in: Frank Decker/Bernd Henningsen/ Kjetil Jakobsen (Hrsg.), Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa, Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden 2015, S. 91-110. 6 Vgl. Peter Lösche, Ende der Volksparteien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 59 (2009) 51, S. 6-8. 7 Ebd., S. 7.
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Otto Kirchheimer brachte 1965 den Begriff der Catch-All Party, der in der deutschsprachigen Literatur als „Allerweltspartei“ auftaucht,8 in den politikwissenschaftlichen Diskurs. Die folgende Darstellung der Strukturen einer Catch-All Party nach Kirchheimer ist als schematisch zu verstehen. Die Kennzeichen einer Catch-All Party unterscheiden sich von denen einer Volkspartei. Sie bestehen aus • einer weitreichenden Entideologisierung des Parteiprogramms, • einer Parteiführung mit umfassenden Kompetenzen, • dem Bestreben, die gesamte Bevölkerung und nicht nur bestimmte Schichten anzusprechen, sowie • dem Bemühen, in verschiedene Interessengruppen hineinzuwirken.9 Zu diesen Definitionen kommen noch die Stellungen zum demokratischen Verfassungsstaat und den politischen Institutionen hinzu. Volksparteien bekennen sich zu beidem. Bei Catch-All Parties hingegen ist der Stimmenerwerb vorrangiges Ziel, weshalb sich auch kritische Positionen gegenüber den existierenden Institutionen finden können. Eine entideologisierte Partei verfolgt nicht a priori eine bestimmte Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Einer solchen Partei geht es nicht darum, vorformulierte Werte und Überzeugungen zu repräsentieren und innerhalb der Gesellschaft zu verankern. Vielmehr zeigt sie sich offen für den gesellschaftlichen Zeitgeist und nimmt diesen in ihr politisches Handeln und ihre Programmatik auf. Damit geht der Anspruch einher, nicht auf eine bestimmte Wählergruppe zu zielen, wie es bei Parteien der Fall ist, die bestimmte Partikularinteressen der Gesellschaft abzudecken versuchen. Anders als in basisdemokratischen Parteien, die vor allem im sozialdemokratischen, linken und grünen Spektrum der Parteienlandschaft zu finden sind, richten sich Catch-All Parties auf das Führungspersonal aus. Die innerparteiliche Demokratie wird dadurch zwar nicht zwingend abgeschafft, hat aber keinen so großen Stellenwert wie in anderen Parteiorganisationsformen. Wichtig hingegen sind für Catch-All Parties die Verankerung in der Gesellschaft und das Hineinwirken in Interessensverbände. Zu diesen zählen etwa Gewerkschaften und Berufsverbände. Aus diesen genannten Eigenschaften entstehen Folgen für die Partei selbst, für deren naheste-
8 Vgl. Manfred G. Schmidt, Allerweltsparteien in Westeuropa?, in: Leviathan, 13 (1985) 3, S. 376-397. 9 Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6 (1965) 1, S. 32.
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henden Institutionen und die Wählerschaft, wie im Folgenden gezeigt wird. Durch die breitere Fassung des Parteiprogramms als bei anderen (Interessen-)Parteien erscheint eine Catch-All Party grundsätzlich für eine breitere Wählerschicht als Alternative. Es geht darum, jegliche Schichten entlang der klassischen und neu definierten cleavages, also Konfliktlinien, einer Gesellschaft anzusprechen.10 Hierbei befinden sich die Parteien – anders als klassische Volksparteien – allerdings auf einem schmalen Grat zwischen der Einbindung sämtlicher gesellschaftlicher und konfessioneller Klassen und einer gewissen thematischen Beliebigkeit, die wiederum eine abschreckende Wirkung auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen und eigene Parteimitglieder haben kann. „Um möglichst viele Wähler aus unterschiedlichen Milieus zu gewinnen, ist die Catch-All Party auf Interessenausgleich inner- und außerhalb der Partei hin orientiert. Kompromisslösungen und konsensfähige Inhalte sollen integrierend wirken und bestimmen die sachlichen Auseinandersetzungen, stets mit Blick auf die Chance zur Regierungsbeteiligung. Prinzipiell haben bei der Catch-All Party taktische Überlegungen zur Stimmenmaximierung Vorrang vor ideologischer Grundsatztreue.“11 Um diese Widersprüche zwischen Grundsatztreue und Stimmenmaximierung wenn schon nicht aufzulösen, so doch zumindest „verkaufen“ zu können, stellt die Kommunikation mitunter den wichtigsten Parameter für den Parteierfolg dar. Dazu zählen die parteiinterne Kommunikation, aber insbesondere auch das Verhalten gegenüber Medien und Öffentlichkeit. Die Strategien dieser Parteien hierfür sind professionalisiert, setzen also auf moderne Kommunikationswege und immer weniger auf die Mitglieder als Multiplikatoren des Parteiprogramms.12
10 Allerdings war es Kirchheimer seinerzeit nicht möglich, alle aktuellen cleavages vorherzusehen. Vgl. William Safran, The Catch-All Party revisited, in: Party Politics, 15 (2009) 5, S. 548-551 sowie Frank Decker, Parteiendemokratie im Wandel, Baden-Baden 2015, S. 58. 11 Uwe Jun, Typen und Funktionen von Parteien, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 132. 12 Vgl. ebd., S. 134.
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3. Binnenanalyse: die FPÖ-Parteimitglieder, -organisationen und der Parteivorsitzende Die FPÖ konnte im Jahr 2017 rund 60.000 Parteimitglieder verzeichnen.13 Bei einer Einwohnerzahl von 8,5 Millionen sind damit rund 0,7 Prozent der Österreicher Mitglied der FPÖ. Zum Vergleich: Die SPÖ gab an, rund 180.000 Mitglieder zu haben, was 2,1 Prozent der österreichischen Bevölkerung entspricht. Doch während die SPÖ in den vergangenen Jahren einen Mitgliederrückgang verzeichnete, konnte die FPÖ ihre Mitgliederzahl deutlich erhöhen. Dieser Befund spiegelt sich auch in der Parteienförderung durch die Republik Österreich wider: Hatte die FPÖ im Jahr 2005 (vor der Abspaltung des Bündnis Zukunft Österreich) rund 1,6 Millionen Euro bekommen, waren es 2017 6,3 Millionen, was etwa dem Vierfachen entspricht.14 1985 hatte die FPÖ 37.057 Mitglieder, 1994 waren es 43.764.15 Diese Entwicklung ist wohl auf die Popularität des damaligen Vorsitzenden Haider zurückzuführen. Der FPÖ nahestehende Organisationen, wie die „freiheitliche Bauernschaft“, die „freiheitlichen Arbeitnehmer“, der „Freiheitliche österreichische Lehrerverband“ und der „Ring freiheitlicher Studenten“ sind ein Beleg dafür, dass die FPÖ in die unterschiedlichen sozialen und berufsspezifischen Institutionen, Organisationen und Interessengruppen hineinzuwirken versucht. Allerdings sollte diese Organisationsdichte nicht überbewertet werden, sondern mehr als Anpassung an das von SPÖ und ÖVP eingenommene intermediäre System Österreichs, genannt Sozialpartnerschaft, verstanden werden. Denn es waren diese beiden Parteien, die in den vergangenen Jahrzehnten eine hohe Organisationsdichte aufwiesen und großen Einfluss auf die Besetzung der Leitungsfunktionen in Ämtern hatten. Zunehmend institutionell verfestigt hat sich indes die Parteiführung der FPÖ. Waren es von 2000 bis 2005 fünf Bundesparteiobleute, bekleidet seitdem Strache dieses Amt. Er ist in der österreichischen Bevölkerung als das Gesicht der FPÖ bekannt. Im „Ö“ des Logos seiner Partei erscheint seine Silhouette. Dabei übernahm Strache den Parteivorsitz in schlechten Zeiten für österreichische Rechtspopulisten. 13 Vgl. Johanna Hager, Parteimitglieder: SP legt zu, ÖVP konstant, 14.6.2018, https:/ /kurier.at/politik/inland/parteimitglieder-sp-legt-zu-oevp-konstant/252.381.785. 14 Vgl. Bundeskanzleramt Österreich, Parteienförderung (2005 - 2017), 14.6.2018, http://archiv.bka.gv.at/DocView.axd?cobId=64791. 15 Vgl. Anton Pelinka, Das politische System Österreichs, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Wiesbaden 2010, S. 627.
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Nach den turbulenten Jahren in der schwarz-blauen Koalition, Wahlergebnissen im Sturzflug, internen Differenzen und der Abspaltung von Haiders Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) gelangte Strache 2005 an die Spitze der Partei. Er wollte nicht, dass sich die FPÖ in Koalitionsregierungen abarbeitet, weshalb die Oppositionsbank zunächst das Ziel war. Um sich auch inhaltlich neu zu positionieren, wurde 2011 das Parteiprogramm „Österreich zuerst“ beschlossen.16 Strache gilt als modern auftretend, telegen und ausdrucksstark. Doch seitdem er in der Politik ist, wird ihm eine rechte bis rechtsextreme Vergangenheit unterstellt, wie das Beispiel eines Fotos aus dem Jahr 1989 zeigt. Darauf ist zu sehen, wie er angeblich mit dem „Kühnengruß“ posiert, einem in Deutschland verbotenen, unter Neonazis verbreiteten Gruß, bei dem man Daumen, Zeige- und Mittelfinger streckt. In der ZiB2-Sendung des Österreichischen Rundfunks erklärt Strache: „Das ist eine ganz lustige simple Darstellung, was auch immer das sein mag. Wahrscheinlich wird man gefragt: ‚Wie viel Bier oder wie viel weiße Spritzer [Österreichisch für Weißweinschorle] willst du noch?‘ Und der lächelnde Herr neben mir sagt: ‚Ich will keines mehr.‘ Und ich sag dann: ‚Drei!‘“17 Dabei ist diese Episode kein „Ausrutscher“. Nicht nur das Bild mit dem „Kühnengruß“ lässt eine rechte Vergangenheit vermuten. Es existieren auch Fotos, die Strache mit „der damaligen Elite der neonazistischen Nachwuchs-Szene“18 bei der Durchführung „wehrsportähnlicher“ Übungen zeigen. Zudem war Strache als Jugendlicher Mitglied der schlagenden, deutschnationalen Schülerverbindung „Vandalia“ und verkehrt nach wie vor in den Kreisen der Burschenschaften. Immer wieder hatte der aktuelle Vizekanzler mit Rechtsextremisten zu tun, wohnte er beispielsweise der Beisetzung des 1992 verstorbenen Rechtsextremisten und Begründers der
16 Vgl. Reinhard Heinisch/Kristina Hauser, Rechtspopulismus in Österreich: Die Freiheitliche Partei Österreichs, in: Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetiel Jakobsen (Hrsg.), Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden 2015, S. 103. 17 Zitiert nach Nina Horaczek/Claudia Reiterer, HC Strache. Sein Aufstieg. Seine Hintermänner. Seine Feinde, Wien 2009, S. 66. 18 Hans-Henning Scharsach, Strache. Im braunen Sumpf, Wien 2012, S. 24.
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österreichischen Nationaldemokratischen Partei (NDP) Norbert Burger bei.19 Zugleich: Diese Nähe zum Rechtsextremismus mag für die Anfangszeiten Straches als Parteichef gelten, weshalb er bis heute das deutschnationale Wählerpublikum „rechts“ der ÖVP anspricht. Nach und nach hat er allerdings die Partei thematisch und personell für ein breiteres Wählerpublikum geöffnet. In Norbert Hofer als Kandidaten im Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten findet sich das beste Beispiel für das gemäßigtere Auftreten. „Hofer ist wie eine Inkarnation dieser Politik. Er trat im Wahlkampf umgänglich auf, vertrat aber in der wichtigsten Sachfrage, der Migration, ohne Abstriche die migrationsabwehrende Politik der FPÖ.“20 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wunderte sich sogar über Hofers Kandidatur: „Norbert Hofers Kandidatur war schon deshalb eine leichte Überraschung, weil die FPÖ sonst eigentlich nur ein Gesicht hat, das ihres Vorsitzenden Strache.“21 Dies mag daran liegen, dass Strache bereits eine Wiener Bürgermeisterwahl verloren, bei den Nationalratswahlen 2013 nicht den Sprung in die Regierung oder gar ins Bundeskanzleramt geschafft hatte und sich für die Nationalratswahlen 2017 als Spitzenkandidat positionierte, was aussichtsreicher erschien als die Kandidatur um das Bundespräsidentenamt. So wurde Strache nun Vizekanzler. Dieses Amt verfestigt seinen Anspruch auf den Posten des Bundesparteiobmanns nachhaltig. Diese besonders starke Stellung innerhalb der Partei spricht ihm auch deren Satzung zu: „Der Aufgabenbereich eines geschäftsführenden Bundesparteiobmannes wird ausschließlich vom Bundesparteiobmann festgelegt, worüber der Bundesparteileitung zu berichten ist.“ § 17 (6) Satzung der Freiheitlichen Partei Österreichs Der Parteichef kann auf Grundlage der Satzung selbst über seinen eigenen Zuständigkeitsbereich entscheiden. Somit hat er weitreichenden Einfluss auf die inhaltlich-programmatische, aber auch personell-strukturelle Ausrichtung der FPÖ. Die anderen Mitglieder der Parteispitze muss er ledig-
19 Vgl. Martin Pollack, Burschenschafter in Österreich: Festcommers beim Führer, 20.6.2018, http://diepresse.com/home/politik/neuwahlen/wahlchat/411596/DiePr essecomChat_Heinz-Christian-Strache-im-Portraet. 20 Stephan Löwenstein, Neues Zeitalter?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.2016, S. 2. 21 Ders., Österreichs neue Farbenlehre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.4.2016, S. 6.
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lich über den Zuschnitt seines Einflussbereichs informieren. Ein Mitbestimmungsrecht über die Kompetenzen des Bundesparteiobmanns sieht die Satzung der Partei nicht vor. 4. Die FPÖ und die Medien Die zunehmende Konzentration auf den Vorsitzenden findet man unter anderem bei Merchandisingartikeln der Partei: So gab es schon HC-Fanschals, T-Shirts, Strache-Sonnencreme („Damit Sie nicht rot werden. Schutzfaktor hc strache“) und sogar eine eigene Strache-Hymne. Komponiert hat diese die John Otti Band, ein Ensemble, das seit Jahren das Publikum aufputscht, bevor Strache mit seinen bissig-scharfen Reden auftritt. In „Liebe ist der Weg“ singt Werner Otti, Frontmann der Band, eine Lobeshymne auf den Politiker: „Liebe ist der Weg, Gerechtigkeit sein Ziel./Respekt und Wahrheit bedeuten ihm sehr viel./Sein Herz schlägt rot-weiß-rot – ooh, tut das gut./In dieser schweren Zeit macht er uns Mut./[…] Für ihn kommt Österreich zuerst, das ist gut./Er deckt die Lügen auf, ihm fehlt es nicht an Mut./Er geht den klaren Weg für unser Land./Gemeinsam sind wir stark, wir gehen Hand in Hand./HC, HC, für Österreich. Er will Zukunft für unsere Kinder. Aufbruch in eine neue Zeit./HC, HC, für Österreich. Gemeinsam machen wir es besser. Wir nehmen die Zukunft in die Hand./Mit Euch werden wir den Weg der Freiheit gehen, unsrer Kraft kann niemand widerstehen./Damit die Wahrheit siegt, die Zeit ist reif – für ein neues, bessres Österreich.“22 Dieses Lied ist ein Paradebeispiel für das Benutzen von Surface Frames und Deep Seated Frames, also jener Sprache und jene durch die persönliche Sozialisation geprägten Inhalte der Weltanschauung, die den persönlichen Common Sense bilden.23 In dem Lied geht es kaum um rechtspopulistische „Anti-Argumentationen“, also gegen Einwanderung, die Europäische Union etc. Vielmehr wird auf recht kleine gemeinsame Nenner verwiesen, also auf die gemeinsame Nation Österreich, darauf, dass jeder Mensch zähle,
22 Werner Otti, Song für HC Strache Liebe ist der Weg, 14.6.2018, www.youtube.co m/watch?v=eMenb0BJrXI&list=PLybCFn 4f6zeXycONjYTX4YkNdCpYb8tte&ind ex=8. 23 Zur Verwendung von Sprache als Instrument der Politik vgl. George Lakoff/Elisabeth Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2016, S. 73f.
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dass Gerechtigkeit walten müsse und, dass den Kindern eine gute Zukunft bereitet werde. Dieses Lied verdeutlicht sowohl die Konzentration auf die Person Strache als auch die taktische Vorgehensweise, möglichst wenig Konkretes zu sagen, um keine potenziellen Wähler abzuschrecken. Niemand wird sich wohl dagegen aussprechen, den Kindern eine gute Zukunft bieten zu wollen. Ebenso wenig ist die Forderung nach weniger Gerechtigkeit in der österreichischen Gesellschaft vertreten. Betrachtet man diese beiden exemplarischen Aspekte aus der Hymne auf Strache, so könnten diese Textzeilen auch von nahezu jeder anderen österreichischen Partei stammen, wenngleich die Personalisierung wohl nicht derart in den Vordergrund träte. Strache hat mit seinen Auftritten und der Werbung für seine Person Haiders Politainment sogar noch übertroffen. In ihm gipfelt die mediale Personalisierung und Modernisierung der rechtspopulistischen Politik in Österreich. 2016 nutzte Strache seinen Facebookauftritt vor allem, um Werbung für Norbert Hofer zu machen. Außerdem verwies er immer wieder auf ihm gefällige Berichterstattung. Harsche Kritik am politischen Gegner schloss er oftmals mit einem lachenden Smiley ab. Dafür bekam er viel Zuspruch in Form von „Likes“, aber auch Kommentaren. Was an den Facebook-Postings ebenso klar wird wie auf den FPÖ-Wahlplakaten: (Rechts-)Populisten verstehen es, eine einfache Sprache zu verwenden. Sie können die politischen Umstände so benennen (wenn auch in ihrer eigenen Interpretation), dass sie von den Bürgern leicht verstanden werden. Damit heben sich FPÖ-Politiker und andere Populisten von der sonst oftmals abstrakten, diplomatischen Politikersprache ab.24 Doch so leicht die FPÖ undifferenzierte Ausdrücke und Sprache verwendet, so leicht tun sich manche Journalisten, die FPÖ als rechte Partei zu überzeichnen. Dies geschieht durch eine Wortwahl, die bei anderen Parteien wohl nicht verwendet werden würde. So schreibt Florian Klenk, Chefredakteur der tendenziell linksliberalen Wiener Wochenzeitung „Der Falter“25, im Politikteil der „Zeit“ (ohne Hinweis darauf, dass es sich um einen meinungsbildenden Text handelt): „Das Land ist längst nicht so von Angst und Ressentiments zerfressen, wie es Hofers Blitzsieg suggerieren
24 Vgl. Heike Hausensteiner, Novize versus Klüngel, in: Wiener Zeitung, 5.8.2016, S. 21. 25 Vgl. Demokratiezentrum Wien: Falter, 18.10.2018, http://www.demokratiezentru m.org/wissen/wissenslexikon/falter.html.
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könnte.“26 Noch weiter geht Simon Shuster vom „Time Magazine“. Er rückte die FPÖ in einem Artikel in die Nähe von Adolf Hitler und des Nationalsozialismus‘: „[FPÖ’s] presidential candidate, Norbert Hofer, is well positioned to win a runoff election in December, which would make Austria the first country in Western Europe to elect a far-right head of state since the fall of Nazi Germany.“27 Die Erwähnung dieser Zitate soll nicht als Nachweis der FPÖ-Verschwörungstheorien über eine „linke Establishment-Presse“ verstanden werden. Jedoch stellt sich die Frage, warum Hofers gutes Abschneiden als „Blitzsieg“ betitelt wurde. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf NaziJargon. Und warum wird Hofer im „Time Magazine“ in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt? Anders als Parteichef Strache wird dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und heutigen Infrastrukturminister keine direkte Sympathie für die NS-Vergangenheit unterstellt.28 In den vergangenen Jahren hat sich vor allem im rechtspopulistischen Milieu der Trend entwickelt, den „Establishment-Medien“ äußerst kritisch gegenüberzutreten. Im deutschsprachigen Raum gipfelte das im Wort „Lügenpresse“. Bei seinem Wahlkampfauftritt am Wiener Prater am 13.9.2016 schimpfte Hofer: „Im Jahr 2016 sind ORF-Zwangsgebühren nicht mehr zeitgemäß. […] Die Zeiten der Zwangsgebühren sind vorbei! […] Ich werde nicht aufhören, gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen!“29 Während Hofers Rede skandierten einige Dutzend Zuschauer: „Lügenpresse! Auf die Fresse!“ Dieses Misstrauen gegenüber den privaten und insbesondere den öffentlich-rechtlichen Medien spiegelt sich auch in der Entstehung von parteinahen Internetseiten wie www.unzensuriert.at und der professionell gestalteten Partei-TV-Seite www.fpoe.at/medien/fpoe-tv wider. Ebenso bietet die FPÖ an, Nachrichten an Interessierte über WhatsApp zu verbreiten – so, wie es auch klassische Medien tun, beispielsweise die Sendung „ZIB100“ des ORF.
26 Florian Klenk, Ungenießbar. Steht Österreich vor der Machtübernahme durch europafeindliche Rechtspopulisten?, in: Die Zeit, 28.4.2016, S. 6. Hervorhebung durch den Autor. 27 Simon Shuster, Europe swings right, in: Time Magazine, 3.10.2016, S. 26. 28 Vgl. Scharsach (Anm. 18), S. 50 f. 29 Der Autor war als beobachtender Teilnehmer vor Ort. Dieses Zitat beruht auf persönlichen Mitschriften.
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5. Der Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten 2016 Hofers Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten war noch geprägt von rechtspopulistischen Inhalten. Der Flyer für die Wahl am 2. Oktober 2016 liest sich wie die Blaupause einer populistischen Werbestrategie: „Wir Österreicher vertrauen Norbert Hofer, weil nur er… 1. …uns Österreichern gegen die Gefahren einer falschen Zuwanderungspolitik verteidigt. Wir Österreicher haben ein Recht auf unsere Heimat und auf Schutz vor Islamismus und Gewalt. 2. …Österreich respektvoll und selbstbewusst in der Welt vertritt. Österreich muss souverän sowie selbstbestimmt handeln und soll Partner statt reiner Befehlsempfänger der EU-Kommission sein. (…) 3. …nicht zulässt, dass unser Sozialsystem missbraucht und zerstört wird. Die Grünen wollen noch mehr Menschen aus dem Ausland nach Österreich holen, die keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben und von der Mindestsicherung leben. 4. …unsere Arbeitsplätze und unsere Betriebe gegen Verdrängung und Lohndumping schützt. Unsere Betriebe sind erstklassig und unsere Arbeitnehmer leisten echte Wertarbeit. (…) 5. …dafür sorgt, dass unser Bundesheer wieder gestärkt wird und unsere Polizisten bei ihrer gefährlichen Arbeit mehr Unterstützung erfahren. Unsere Straßen und Plätze sollen wieder sicherer werden. 6. …Frauen und Kinder besonderen Schutz zukommen lassen will. (…) 7. …für eine Senkung von Steuern plädiert, anstatt neue Steuern zu fordern. 8. …weiß, dass in einer Demokratie die Menschen die höchste Instanz sind. Politiker folgen erst danach. Deshalb steht er auch für mehr direkte Demokratie und gibt den Österreichern damit ihre Stimme zurück.“30 Schon der einleitende Halbsatz zeigt, wie Hofer die Österreicher – typisch rechtspopulistisch31 – als Volksgemeinschaft sieht. Es ist offensichtlich, wie Hofer in seinem Wahlkampf 2016 eine In-Group und mehrere Out-Groups
30 Freiheitliche Partei Österreichs, Wahlkampfflyer „Stimme der Vernunft. Norbert Hofer“, Wien 2016. Hervorhebungen im Original. 31 Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien/Hamburg 2016, S. 54 ff.
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konstruierte.32 Betrachtet man den ersten und den dritten Punkt, sind Migranten das klare Angriffsziel Hofers – in welcher Form auch immer (Flüchtlinge, Zuwanderer, Ausländer, die in Österreich leben wollen etc.). Zum einen wird unterstellt, mehr Zuwanderung bringe automatisch „Islamismus und Gewalt“33 mit sich, zum anderen suggeriert die Aussage, Einwanderer nähmen den Österreichern die Heimat „weg“. Damit geht die Unterstellung einher, alle Einwanderer missbrauchten und zerstörten das Sozialsystem. Um den ehemaligen Chef der Grünen und Gegenkandidaten (der allerdings als „Unabhängiger“ auftrat), Alexander Van der Bellen, anzugreifen, wird unterstellt, die Grünen wollten „noch mehr Menschen aus dem Ausland nach Österreich holen“. Damit soll der In-Group, den Österreichern, Angst vor der Out-Group gemacht werden, vor allen Dingen in Sachen sozialer Absicherung und Sicherheit. Hier wird deutlich, dass die FPÖ im Wahlkampf um das Bundespräsidentenamt als rechtspopulistische Partei im politikwissenschaftlichen Verständnis auftrat. Wie ist das in Verbindung zu bringen mit einer Catch-All Party? Zunächst ist an diesem Punkt eine definitorische Eingrenzung des Parteityps unablässig. In erster Linie zielen Catch-All Parties auf die wahlberechtigten Staatsbürger eines Landes ab, denn es sind nur ebenjene, die sie in politische Ämter bringen können. Die Wahlkampfinhalte sind für jene Parteien sekundär, können also auch eine gewisse, bereits gesellschaftliche Skepsis gegenüber Einwanderung aufgreifen. Zudem ist die Out-Group der Ausländer nicht wahlberechtigt und somit aus wahltaktischer Sicht für die FPÖ irrelevant. Deswegen schließen eine rechtspopulistische Propaganda gegen konstruierte und gesellschaftlich vorhandene Feindbilder, in diesem Fall Ausländer, und eine Entwicklung zu einer Catch-All Party einander nicht grundsätzlich aus. Doch nicht nur durch die Konstruktion von Feindbildern machte Hofer Wahlwerbung. Er sprach auch das Thema Sicherheit an, insbesondere für Frauen und Kinder, und wollte ein stärkeres Bundesheer und die Polizeiarbeit unterstützen. Er warb mit dem Wahlslogan, er werde auf „unser Österreich“ aufpassen. Ebenso argumentierte Hofer auf dem Flyer gegen die Europäische Union, als es hieß, „Österreich soll Partner statt reiner Befehlsempfänger der EU-Kommission sein“. Der Kandidat hat inzwischen mehrmals bekräftigt, dass er nicht für einen Austritts Österreichs aus der EU wirbt, was ihm sein Gegenkandidat immer wieder vorgeworfen hatte.
32 Felix Heidenreich, Gefühle ins Recht setzen: Wann sind politische Emotionen (noch) demokratisch? in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 23 (2013) 4, S. 578. 33 Vgl. Freiheitliche Partei Österreichs (Anm. 30).
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Stattdessen forderte er, bei einer weiteren Zentralisierung und Ausdehnung der Kompetenzen der EU-Kommission, die Bevölkerung in einem Votum über den Verbleib entscheiden zu lassen.34 Dieses Schwanken zwischen einer Maximalforderung (EU-Austritt) und einer relativierenden Haltung findet sich auch in anderen Debatten, wie beim Thema Islam (s. unten), und kann als Anzeichen für die Entwicklung hin zu einer Catch-All Party gewertet werden. Überhaupt wollte Hofer mehr direkte Demokratie fördern, um den Österreichern „ihre Stimme“ zurückzugeben: eine klare Infragestellung des sogenannten politischen Establishments und der repräsentativen Demokratie. Möchte man zu einer Catch-All Party in Österreich werden, erscheint diese Argumentationsweise zielführend, ist doch die Große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP ein immer wiederkehrendes Phänomen österreichischer Politik. „Seit Gründung der Zweiten Republik hatten vor allem diese beiden Parteien einen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Insgesamt über 40 Jahre lang regierte seit 1949 ein Bündnis aus Christ- und Sozialdemokraten, zuletzt unter Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ). (…) [Inzwischen sind es aber] nicht mehr nur zwei Parteien, die den Nationalrat dominieren, sondern neben SPÖ und ÖVP auch die FPÖ.“35 Dies gelang vor allem durch eine Emotionalisierung von politischen Themen. Politik ist bei Hofer-Wählern ohnehin ein mit Gefühlen aufgeladenes Wort: 89 Prozent bezeichnen sich als von der Politik „enttäuscht“ oder „verärgert“. Zwei Drittel erwarten eine Verschlechterung ihrer Situation in den kommenden Jahren. Bei den Wählern Van der Bellens sind es weniger als halb so viele. Zudem bezeichnet sich nur ein Drittel dessen Wähler als von der Politik „enttäuscht“ oder „verärgert“ über sie.36 Mit seiner breiten Themensetzungen im Wahlkampf war Hofer nicht alleine. Im Hinblick auf die bevorstehenden Nationalratswahlen hatten sich auch andere Politiker insbesondere der Themen Zuwanderung, Steuersenkungen, Verhältnis zur Europäischen Union etc. angenommen.
34 Vgl. Oliver Pink/Wolfgang Böhm, Norbert Hofer sagt den Öxit ab, 14.6.2018, http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/5046595/Norbert-Hofer-sagt-denOxit-ab. 35 Thomas Klotz, Quo vadis, tu felix Austria?, in: Politische Studien, 69 (2018) 1, S. 56-66, hier S. 56 f. 36 Vgl. Johannes Huber, An den Ausländern liegt es nicht, in: Tiroler Tageszeitung, 27.8.2016, S. 20.
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Kurzum lässt sich festhalten: Die FPÖ hat sich in diesem Wahlkampf nicht als Single-Issue Party positioniert, sondern versucht, ein möglichst breites Themenspektrum abzubilden, auch wenn viele der angesprochenen Politikbereiche gar nicht im Aufgabenspektrum eines österreichischen Bundespräsidenten zu finden sind. Traditionell konzentriert er sich auf repräsentative Aufgaben. Hofer wollte dies ändern und sorgte für Irritationen als er über sein Amtsverständnis des Bundespräsidenten sagte: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist!“37 Dies spricht für die Einordnung der FPÖ als Catch-All Party, denn Volksparteien möchten die bestehenden politischen Institutionen und Rollenverständnisse tendenziell weniger reformieren. Allerdings gab es auch im Bundespräsidentenwahlkampf eindeutige Situationen, die gegen eine solche Kategorisierung sprechen. So versuchte Hofer erst gar nicht, jene Menschen für seine Wahl zu begeistern, die die FPÖ von vornherein aufgrund ihrer Anti-Islam-Haltung kritisierten. Bei einer Diskussion in Graz fragte ein muslimischer wehrdienstleistender Österreicher, warum er die FPÖ wählen solle, wenn diese doch immer gegen den Islam hetze. Hofers Antwort: „Wenn Sie der Meinung sind, dass die FPÖ gegen Muslime hetzt, sollten Sie uns nicht wählen. […] Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun, aber der Islam gehört nicht zu Österreich.“38 Hier argumentierte Hofer wiederum zwiespältig: Einerseits suggerierte er, die FPÖ hetze nicht gegen den Islam und kanzelte die Frage damit ab. Andererseits sagte er kurz darauf, der Islam gehöre nicht zu Österreich. Damit versuchte er wohl wählbar für diejenigen zu wirken, die nicht „rechts“ sein, aber auch nicht Van der Bellen als ihren Bundespräsidenten haben wollten. Gleichzeitig bediente er die xenophobe, antipluralistische Haltung vieler FPÖ-Wähler. Jedoch ist die parteipolitische Positionierung zu diesem Thema innerhalb der FPÖ nicht unumstritten. So sagte die von der FPÖ eingesetzte Außenministerin Karin Kneissl, selbst nicht Mitglied der Partei, in einem Interview mit der ORF-Sendung „ZiB2“ im Januar 2018: „Muslime gehören zu Österreich.“39 Noch weiter ging der österreichische Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ). Er sagte in einem Interview mit der Tageszei-
37 Zitiert nach Alfred J. Noll, „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist“, 14.6.2018, www.zeit.de/2016/50/norbert-hofer-bundespraesident-amt-veraenderun g-mittel. 38 Zitiert nach Angela Köckritz, Heimatgefühle, in: Die Zeit, 19.5.2016, S. 3. 39 Vgl. o.A., Kneissl: „Muslime gehören zu Österreich“, 14.6.2018, https://kurier.at/po litik/inland/aussenministerin-karin-kneissl-muslime-gehoeren-zu-oesterreich/305. 837.342.
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Thomas M. Klotz
tung „Die Presse“ Anfang März 2018: „Wir alle wissen, dass der Islam selbstverständlich zu Österreich gehört.“40 Der Bundesparteiobmann Strache widersprach seinem Parteikollegen prompt und bestärkte die Aussage der Außenministerin: „Nein! Der Islam ist kein Teil Österreichs. Wir haben eine christlich-jüdische Prägung in Mitteleuropa. Bürger mit islamischem Glauben sind aber heute Teil der Gesellschaft.“41 Noch wenige Jahre zuvor machte Strache von sich reden, als er sich bei einem Wahlkampfauftritt als Bewahrer des christlichen Abendlandes ausgab und auf dem Rednerpult ein Holzkreuz zeigte. Die FPÖ warb mit Sprüchen wie „Daham statt Islam“ und „Pummerin statt Muezzin“. Diese neue Argumentationsweise der FPÖ-Politiker deutet auf ein inzwischen zunehmend relativierendes Verhältnis der FPÖ zur islamischen Religion hin – und auf eine zunehmend geringere Rolle der Abgrenzung gegen den Islam, was für die Entwicklung hin zu einer Catch-All Party spricht, da nicht mehr nur Islamgegner angesprochen werden sollen. Durch diese „Sowohl-als-auch-Haltung“ können zum einen jene als rechtskonservativ geltenden Kreise angesprochen werden, die grundsätzlich weniger muslimischen Einfluss in Österreich wollen. Andererseits werden durch die Aussage, dass Muslime sehr wohl zu Österreich gehörten, manche FPÖ-Kritiker besänftigt und die Debatte, die bis vor wenigen Jahren noch zentral diskutiert wurde, in den Hintergrund gerückt. 6. Nationalratswahlkampf 2017 Der konservative Kandidat Sebastian Kurz stand im Mittelpunkt des Wahlkampfs, weil er seine Partei der oben beschriebenen „Modernisierung“ unterzogen und auf seine Person ausgerichtet hatte. Just diese Fixierung der ÖVP auf den damals 31 Jahre alten Hoffnungsträger war immer wieder Angriffspunkt der anderen Parteien. Dabei fiel auf, dass die FPÖ in diesem Wahlkampf für eine rechtspopulistische Partei relativ zurückhaltend agier-
40 Hans Winkler, Faktum ist: Der Islam ist da in Österreich, 14.6.2018, https://diepre sse.com/home/meinung/dejavu/5399054/Deja-vu_Faktum-ist_Der-Islam-ist-da-inOesterreich?from=suche.intern.portal. 41 o.A., „Selbstverständlich gehört der Islam zu Österreich“, 14.6.2018, www.heute.at /politik/news/story/FP--Minister-Kunasek-widerspricht-Strache-Selbstverstaendlich -gehoert-Islam-zu--sterreich-Widerspruch-57869593.
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Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
te. Sie musste auch gar keinen schmutzigen Wahlkampf führen – das übernahm die SPÖ für sie.42 Der israelische Wahlkampfberater der Sozialdemokraten, Tal Silberstein, hatte eine Dirty-Campaigning-Affäre zu verantworten, die dem Ansehen der eigenen Partei schadete. Silbersteins Initiative zielte darauf ab, mit Hilfe von zwei Facebookseiten potentielle ÖVP-Wähler abzuschrecken. Auf „Die Wahrheit über Sebastian Kurz“ wurde der ÖVP-Mann angegriffen, zu wenig für die Sicherheit und gegen unkontrollierte Zuwanderung zu unternehmen. Auf „Wir für Sebastian Kurz“ hingegen offenbarten sich vermeintliche Unterstützer mit teils rechtsextremen Parolen. Somit sollten ebenso gemäßigtere wie rechtskonservative Wähler von einer Stimme für die ÖVP abgehalten werden. Nach wachsender öffentlicher Kritik bezeichnete Bundeskanzler Kern, Spitzenkandidat der SPÖ, das Engagement Silbersteins als „Fehler“ und versprach „volle Aufklärung“.43 Unterdessen wurde vermutet, dass Kurz‘ Wahlkampfteam einen „Maulwurf“ in das DirtyCampaigning-Team von Silberstein eingeschleust hatte.44 Eine umfassende Aufklärung der Affäre steht aus. Die starken Personalisierungen der Parteien auf Kern, Kurz und Strache – in Kombination mit den von ihnen inszenierten Schlammschlachten in den sozialen Medien – rückten die jeweiligen Wahlprogramme in den Hintergrund, wenn auch in den TV-Duellen mehr über Inhalte gesprochen wurde, als so mancher Zuschauer erwartete. Das Wahlprogramm der FPÖ zur Nationalratswahl 2017 glich indes einem Süßwarenladen, in dem jeder sich jene Leckereien, die er bevorzugt, herauspicken konnte. In den 100 Forderungen, welche die rechtspopulistische Partei in Regierungsverantwortung umzusetzen gedachte, fand sich ein derart breites Themenspektrum, dass sie in 25 Themengebiete geordnet wurden, auch wenn es dabei immer wieder inhaltliche Überschneidungen gab. Die Argumentationsweise im Wahlprogramm war in weiten Teilen rechtspopulistisch angelegt, sprich: Es wurden In- und Out-Groups kon-
42 Vgl. Hasnain Kazim, Intrigantenstadl Österreich, 18.10.2018, http://www.spiegel. de/politik/ausland/wahlkampf-in-oesterreich-schlammschlacht-um-gefaelschte-fac ebookseiten-a-1170947.html. 43 Vgl. Stephan Löwenstein, SPÖ-Wahlkampfleiter tritt zurück, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.2017, S. 4. 44 Vgl. o.A., Was wir über die Causa Silberstein wissen, 14.6.2018, https://kurier.at/p olitik/inland/wahl/dirty-campaigning-auf-facebook-was-wir-ueber-die-causa-silbers tein-wissen/289.605.048; Michael Nikbakhsh, Affäre Silberstein: SMS-Nachricht belastet Kurz-Sprecher, 14.6.2018, www.profil.at/oesterreich/affaere-silberstein-sm s-nachricht-kurz-sprecher-8353797.
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Thomas M. Klotz
struiert (z.B. Österreicher vs. Ausländer), es wurde gegen das sogenannte politische Establishment und die Europäische Union gestachelt und schließlich die Rolle des österreichischen Volkes betont. Im Folgenden werden exemplarische Forderungen aus dem Wahlprogramm wiedergegeben:45 • Stärkere Einbindung der Jugend in direktdemokratische Entscheidungen • Massive Erhöhung des Landesverteidigungsbudgets auf mindestens ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts • Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern durch Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen und ein eigenes Berufsbild für Tagesmütter • Anhebung der Forschungsfinanzierung und Schaffung eines Forschungsförderungsgesetzes • Tatsächliche Gleichberechtigung statt heuchlerischer Gleichmacherei • Eine Mindest-Alterspension von 1.200 Euro monatlich ab 40 Versicherungsjahren bei besserer Anrechnung von Kindererziehungszeiten • Einführung eines Mindestlohnes von 1.500 Euro brutto monatlich, ohne die Arbeitgeber mehr zu belasten • Bessere Bezahlung und Aufwertung aller Berufe im medizinischen und im Pflegebereich • Nein zu den Freihandelsabkommen CETA, TTIP und TiSA • Naturschutz in einer Partnerschaft von Landwirtschaft, Wirtschaft, Jagd und Fischerei • Klares Nein zum EU-Beitritt der Türkei, sofortiger Abbruch der Beitrittsverhandlungen und Stopp jeglicher Zahlungen an die Türkei Wer nach der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“ unter den Parteiprogrammen sucht, findet sie bei der FPÖ. Die Themen reichen von klassisch sozialdemokratischen Positionen, wie bessere Bezahlung des Pflegepersonals, höhere Rentensätze und günstige ÖPNV-Tickets, bis hin zu klassisch konservativen Standpunkten wie der Rücknahme „wirtschaftsfeindlicher“ Maßnahmen, der kritischen Haltung gegenüber dem möglichen EU-Beitritt der Türkei und einer Ausweitung der Ausgaben für die Landesverteidigung. Zugleich werden Themen aufgegriffen, die in anderen (single issue) Parteien46 im besonderen Maße diskutiert werden; hierzu
45 FPÖ, Österreicher verdienen Fairness, 14.6.2018, www.fpoe.at/fileadmin/user_upl oad/Wahlprogramm_8_9_low.pdf. 46 Ein Beispiel für eine österreichische Single-Issue-Partei ist die EU-Austrittspartei.
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Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
zählen der Einsatz für mehr Naturschutz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Anhebung der Forschungsfinanzierung. Mit diesem Wahlprogramm hat die FPÖ ihr inhaltliches Angebot an die Wähler vergrößert im Vergleich zu früheren Wahlprogrammen. Die Partei verschrieb sich nicht mehr nur einem Wahlkampfthema, sondern es wurde das gesamte gesellschaftliche Leben aufgenommen – auch wenn sich die Forderungen aufgrund verschiedener Zielkonflikte wohl kaum alle gleichzeitig umsetzen lassen. 7. Wer wählt die FPÖ? Bemerkenswert sind die Wählergruppen, die bei der Nationalratswahl 2017 ihr Kreuz bei der FPÖ gemacht haben. So konnten die Rechtspopulisten, wie Tabelle 1 zeigt, insbesondere bei Wählern unter 29 Jahren punkten. Auch die Wählergruppe der 30- bis 59-Jährigen wählte im Vergleich zum Gesamtergebnis überdurchschnittlich häufig die FPÖ. Lediglich die Altersgruppe der über 60-jährigen zeigte sich bei der Stimmabgabe für die Rechtspopulisten deutlich zurückhaltend. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Berufsständen wider. So haben nur 16 Prozent der Pensionisten die Rechtspopulisten gewählt. Die mit Abstand größte Berufsgruppe der FPÖ-Wähler machten die Arbeiter aus. 59 Prozent dieser eigentlich klassischen SPÖ-Klientel machten ihr Kreuz bei den Freiheitlichen. Somit stellt sich die Frage, ob die FPÖ inzwischen zur Arbeiterpartei Österreichs geworden ist. Die Wahlergebnisse der Bundespräsidentenwahl deuten darauf noch stärker hin (Tabelle 2). Auffällig ist auch: Je höher gebildet der Wähler ist, desto weniger wahrscheinlich fällt sein Votum auf die FPÖ. Die meisten Stimmen erhielt die Partei von Österreichern, die die Pflichtschule und eine Lehre absolviert haben. Die Wahlmotive der FPÖ-Wähler waren vor allem die klassisch rechtspopulistischen Themen. Die drei Kernpunkte waren, dass die FPÖ das beste Programm für Österreich biete, dass die FPÖ die besten Vorschläge für mehr Gerechtigkeit in Österreich unterbreite, und dass die FPÖ die größte Glaubwürdigkeit besitze, Missstände zu beseitigen. Nur zehn Prozent der FPÖ-Wähler gaben an, sich zu Wahlkampfzeiten intensiv mit der umweltpolitischen Programmatik der Partei befasst zu haben. Stattdessen waren die wichtigsten Themen Asyl und Integration, Sicherheit und Sozialleistungen. Sogar das immerwährende Thema Steuern war lediglich für 28 Prozent der FPÖ-Wähler von Belang.
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Thomas M. Klotz
Tabelle 1: Das sozio-demographische Profil der FPÖ-Wähler bei den Nationalratswahlen 2017 und 201347 (Angaben in Prozent) FPÖ-Wähler bei den Nationalratswahlen
2013
2017
Insgesamt
20,4
26,0
Geschlecht männlich weiblich
28 16
29 22
Alter bis 29 30-59 60 und älter
22 24 18
30 28 19
Beruf Selbstständige Angestellte Arbeiter Pensionisten
18 25 33 17
23 26 59 16
Bildung Pflichtschule Lehre BMS (Berufsbildende mittlere Schule) Matura (Abitur) Studium
15 35 21 19 4
33 37 21 10 7
Wahlmotive der FPÖ-Wähler bester Spitzenkandidat (Strache) bestes Programm für Österreich bisher beste Arbeit geleistet größte Glaubwürdigkeit, Missstände zu beseitigen beste Vorschläge für mehr Gerechtigkeit in Österreich fairster Wahlkampf
64 64 32 53 k.A. k.A.
80 96 92 94 96 80
Diskutierte Wahlkampfthemen der FPÖ-Wähler (Auswahl) Sicherheit Umweltschutz Asyl und Integration Arbeitsplätze Steuern Sozialleistungen
k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
69 10 88 48 28 60
Quelle: Eigene Darstellung nach SORA/ISA (Anm. 47).
Bemerkenswert ist außerdem die Entwicklung der Wählerschaft im Vergleich zu den Nationalratswahlen 2013. So schaffte es die FPÖ in der Legis-
47 Nach SORA/ISA, Wahlanalyse Nationalratswahl 2017 im Auftrag des ORF, 14.6.2018, www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2017_NRW_Wahlanalyse.p d f und SORA/ISA: Wahlanalyse Nationalratswahl 2013 im Auftrag des ORF, 14.6.2018, http://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2013_NRW_Wahlan alyse.pdf.
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Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
laturperiode 2013 bis 2017, mehr Frauen zu überzeugen. Von 16 Prozent steigerte die FPÖ hier ihren Wert auf 22 Prozent. Ähnliches gelang bei den unter 29-jährigen Wählern. Hier steigerten die Rechtspopulisten ihren Zuspruch von 22 auf 30 Prozent, wohingegen bei den anderen Altersgruppen ein geringerer Zuwachs zu verzeichnen war. Kurzum: Die Wählerschaft der FPÖ wird ein Stück weit jünger und weiblicher. Außerdem votierten mehr Selbstständige für die FPÖ und insbesondere mehr Arbeiter. In dieser Wählergruppe konnte die Partei einen Zuwachs von 26 Prozentpunkten auf insgesamt 59 Prozent verzeichnen. Dies geht mit einem Stimmenzuwachs von 18 Prozentpunkten von jenen Österreichern einher, die eine Pflichtschule besucht haben. Einbußen hatte die FPÖ hier ausschließlich in der Gruppe derjenigen, die mit der Matura abgeschlossen haben. Doch selbst unter jenen Österreichern mit abgeschlossenem Hochschulstudium konnte die rechtspopulistische Partei ihren Zuspruch von vier auf sieben Prozent fast verdoppeln, wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau. Betrachtet man die Wahlmotive der FPÖ-Wähler, so hat sich auch hier eine für die Partei positive Entwicklung ergeben. Hatte 2013 Strache nur für rund zwei Drittel der Wählerschaft als bester Kandidat gegolten, so waren es 2017 80 Prozent. Deutlicher noch waren die Steigerungen bei den Angaben „bestes Programm für Österreich“ (von 64 auf 96 Prozent), „bisher beste Arbeit geleistet“ (von 32 auf 92 Prozent) und „größte Glaubwürdigkeit, Missstände zu beseitigen“ (von 53 auf 94 Prozent). Dies lässt darauf schließen, dass die FPÖ nicht nur ein größeres Wählerspektrum anzusprechen vermochte, sondern auch den Eindruck erweckte, die Anliegen der Wähler besser vertreten zu können als andere Parteien. Tabelle 2: Das sozio-demographische Profil der Wähler bei den Bundespräsidentenwahlen 201648 (Angaben in Prozent) Van der Bellen 49
50
Wahlgänge (1. Wahlgang (1. WG) ; Stichwahl (SW) )
1. WG
SW
Hofer 1. WG
SW
48 Nach SORA/ISA, Wahlanalyse Bundespräsidentschaftswahl 2016 im Auftrag des ORF, 14.6.2018, http://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2016_BP-Wahl_ Wahlanalyse.pdf; SORA/ISA, Wahlanalyse Wiederholung Stichwahl Bundespräsidentschaft 2016 im Auftrag des ORF, 14.6.2018, http://www.sora.at/fileadmin/do wnloads/wahlen/2016_BP-Wahl_Wahlanalyse.pdf. 49 Am 24.4.2016, weitere Bewerber Irmgard Griss (unabhängig), Andreas Khol (ÖVP), Rudolf Hundstorfer (SPÖ), Richard Lugner (unabhängig). 50 Am 4.12.2016.
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Thomas M. Klotz Insgesamt
50,35
53,8
49,65
46,2
Geschlecht männlich weiblich
17 22
44 62
45 27
56 38
Alter bis 29 30-59 60 und älter
29 20 10
58 51 55
38 38 33
42 49 45
Beruf Selbstständige Angestellte Arbeiter Pensionisten
30 23 5 11
51 60 15 56
24 37 72 34
49 40 85 44
Bildung Pflichtschule Lehre BMS (Berufsbildende mittlere Schule) Matura (Abitur) Studium
12 11 18 39 35
47 36 49 74 83
43 51 34 13 15
53 64 51 26 17
Wahlmotive der Wähler kann Österreich am besten im Ausland vertreten kann bei innenpolitischen Konflikten am besten vermitteln kann überparteilich handeln und keine Partei bevorzugen versteht die Sorgen von Menschen hat das richtige Amtsverständnis für das Amt des Bundespräsidenten ist kompetent/glaubwürdig ist sympathisch
55 43 k.A. 32 k.A. 73 59
67 k.A. 36 28 59 50 37
27 28 k.A. 67 k.A. 62 61
36 k.A. 31 55 46 51 46
Quelle: Eigene Darstellung nach SORA/ISA (Anm. 48).
Ähnlich – und in mancher Hinsicht noch deutlicher – ist das sozio-demographische Profil der FPÖ-Wähler bei den Bundespräsidentenwahlen 2016. Bei diesen Wahlen waren es ebenfalls vor allem Männer, die für den FPÖKandidaten Hofer stimmten. Eine eindeutige Altersgruppe, die Hofer bevorzugte, ist aber – anders als bei den Nationalratswahlen 2017 – nicht zu erkennen. Wiederum deutlicher zeigt sich das Bild bei der Einteilung nach Berufen. Mit einer großen Mehrheit von 86 Prozent im direkten Vergleich waren es vor allem Arbeiter, die Hofer lieber als ihren Bundespräsidenten gesehen hätten als Van der Bellen. Bei Selbstständigen und Pensionisten war die Stimmenverteilung relativ ausgeglichen. Lediglich bei Angestellten war Van der Bellen deutlicher Favorit. Und wiederum galt: Je höher der Bildungsgrad eines Wählers, desto weniger wahrscheinlich war, dass er Hofer wählte.
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Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
Im Hinblick auf die Ausgangsfrage gilt es Folgendes festzuhalten: • Grundsätzlich wählten eher Männer als Frauen die FPÖ. • Strache konnte 2017 vor allem bei jungen Wählern bis 29 Stimmen holen, Hofer hingegen erhielt 2016 die meisten Stimmen von den 30bis 59-Jährigen. Österreicher jenseits der 60 bevorzugen andere Parteien als die FPÖ. • Eine besonders starke Wählergruppe rekrutiert sich aus der Arbeiterschicht. Sowohl ein nicht zu unterschätzender Teil der Angestellten als auch der Selbstständigen votierten für die rechtspopulistische Partei. Bei den Pensionisten schneidet die FPÖ besonders schlecht ab. • Für Wählergruppen mit einem Bildungsabschluss der Matura oder höher erscheint die FPÖ nur in wenigen Fällen als Wahlalternative. • Aus dem breiten Themenspektrum, das die FPÖ insbesondere bei den Nationalratswahlen 2017 angesprochen hatte, waren es vor allem die klassischen Themen rechtspopulistischer Parteien (Sicherheit, Zuwanderung), die die FPÖ-Wähler zu ihrem Votum veranlassten. 8. Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party Gab es bisher in der Zweiten Republik bereits eine Catch-All Party? Gordon Smith unterstellte mit Blick auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland, dass aus der Umsetzung von „Catch-All Politics“ letztlich ein Zweiparteiensystem entstehe.51 Das österreichische Parteiensystem, insbesondere nach der Nationalratswahl 2017, besteht aus einer zunehmenden Zahl an Parteien, die sich bei Wahlen bewerben, aber einer abnehmenden Anzahl der im Nationalrat vertretenen Wählergruppierungen. Nimmt man Smiths Annahme als Grundlage für eine Interpretation, lässt sich feststellen, dass es derzeit keine dominierenden Catch-All Parties in Österreich gibt, schließlich schnitten die drei stärksten Parteien relativ ähnlich ab, wenn auch die „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“ einen Vorsprung von gut viereinhalb Prozent vor der zweitplatzierten SPÖ verzeichnen konnte (ÖVP: 31,5 Prozent, SPÖ 26,9 Prozent, FPÖ 26 Prozent). Dabei ist die ÖVP wohl eher als Volkspartei denn als Catch-All Party zu bezeichnen. Legt man hingegen die eingangs aufgeführten Eigenschaften einer Catch-All Party (Entideologisierung, starke Parteiführung, Anspruch, die 51 Vgl. Gordon R. Smith, Democracy in Western Germany: Parties and Politics in the Federal Republic, New York 1982, S. 64.
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Thomas M. Klotz
gesamte Bevölkerung anzusprechen sowie Hineinwirkung in verschiedene Interessengruppen) an, lassen sich bei der FPÖ durchaus Tendenzen einer Entwicklung zu einer Catch-All Party beobachten. Dazu zählt etwa die starke Stellung des Parteiobmanns Strache, die ihm auch durch die Satzung der FPÖ zugesprochen wird. Ebenso spricht für die Einordnung als Catch-All Party die Tatsache, dass sich die FPÖ thematisch zunehmend breiter aufstellt. Alleine der Umfang des Wahlprogramms mit 100 Forderungen, die auch klassisch linke, grüne, sozialdemokratische und konservative Anliegen abdeckten, ist ein Zeichen dafür. Ob sie diese Ziele auch umsetzen kann, wird sich noch zeigen. Zugleich argumentiert und agiert die FPÖ zumeist rechtspopulistisch, greift also auf die Konstruktion von In- und Out-groups sowie „Anti-Haltungen“ gegen das sogenannte politische Establishment, Zuwanderung etc. zurück. Dieser Sachverhalt verhindert eine Einordnung als Catch-All Party nicht. Darüber hinaus zeigt die Debatte über die Zugehörigkeit des Islams zur Republik Österreich die zunehmende Entideologisierung der Partei. Dies alles hat zum Ziel, eine breite österreichische Öffentlichkeit anzusprechen, was auch – mit Abstrichen – gelingt. Das Wählerprofil der FPÖWähler zeigt dies deutlich. Insbesondere Arbeiter und Mittelständer votieren für die Freiheitlichen. Außerdem besitzt die Partei eine gute Vernetzung in die Szene der Burschenschaften und sie rekrutiert hieraus sowohl politisches Personal als auch Wähler. Allerdings vermag es ihr offenbar nicht zu gelingen, Akademiker jenseits dieses nationalliberalen Lagers anzusprechen. Die Fixierung auf den Parteivorsitzenden, die breite thematische Aufstellung, die Größe der verschiedenen Interessengruppen sowie eine schleichende Entideologisierung führen zu dem Schluss, dass sich die FPÖ auf dem Weg zu einer rechtspopulistischen Catch-All Party befindet. Ein gewichtiger Einflussfaktor ist die Entwicklung der anderen Parteien. Derzeit sieht sich vor allem die Volkspartei im Aufwind, während hingegen die Sozialdemokraten mit schwindenden Mitgliederzahlen und weniger Wählerstimmen zu kämpfen haben. Über kurz oder lang stellt sich hier die Frage, insbesondere im Hinblick auf die vielen Arbeiter, die die FPÖ wählten, ob die Freiheitlichen die SPÖ als Arbeiterpartei abzulösen vermögen. Im konservativen Lager wird es hingegen für die FPÖ auf unabsehbare Zeit schwierig, Stimmen zu bekommen. Der Grund dafür liegt in der anhaltenden Popularität des Bundeskanzlers Kurz. Jedenfalls gilt: Die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung der FPÖ hin zu einer Catch-All Party nach der genannten Definition sind derzeit gegeben. Verfolgt sie weiterhin den Weg der inhaltlichen Entideologisierung und das Ziel, alle Österreicher politisch ansprechen zu wollen, könnte sich 96
Die FPÖ auf dem Weg zur Catch-All Party?
die FPÖ dorthin entwickeln. Der Grundstein dafür wurde in den vergangenen beiden Wahlen gelegt.
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Dem Volk aufs Maul geschaut? Eine Analyse des Sprachgebrauchs der AfD im Bundestagswahlkampf 2017 Johannes Schaefer
1. Die Sprache der AfD – eine populistische Sprache? Die „Sprache der Populisten“1 gilt in der Bevölkerung wie in der einschlägigen Forschung als Besonderheit: „So neigen Populisten zu vereinfachender Sprache, mittels derer sie komplexe politische Fragestellungen auf die Verantwortlichkeit ‚Schuldiger‘ und den politischen Wettbewerb auf das Gegenüber von Freund und Feind reduzieren“.2 Sprache ist Ausdruck des Denkens und Instrument der Überzeugung. Das heißt: Der Sprachgebrauch von Populisten kann uns sowohl etwas über ihr Denken als auch über ihren Erfolg verraten. In ihm manifestiert sich zum einen Populismus, zum anderen die Art und Weise, wie Populisten für sich werben. Ein Beispiel für eine populistische Partei ist die Alternative für Deutschland.3 Nach ihrer Gründung 2013 etablierte sie sich in allen16 deutschen Landesparlamenten und 2017 schließlich auch im Bundestag. Diese Erfolgsgeschichte ist im Nachkriegsdeutschland beispiellos. Daher überrascht wenig, dass die AfD – gemessen an ihrer erst kurzen Existenz – bereits Gegenstand vieler Studien war.4 Auch ihre Sprache wurde bereits untersucht: Joachim Scharloth leitet etwa aus verschiedenen Merkmalen von Populismus sprachliche Korrelate ab und misst diese im Wahlprogramm
1 Der Titel des Beitrags ist angelehnt an ein Lutherwort, stammt in diesem Zusammenhang aber aus einem Aufsatz: Vgl. Martin Reisigl, Dem Volk aufs Maul schauen, nach dem Mund reden und Angst und Bange machen. Von populistischen Anrufungen, Anbiederungen und Agitationsweisen in der Sprache österreichischer PolitikerInnen, in: Wolfgang Eismann (Hrsg.), Rechtspopulismus, Österreichische Krankheit oder europäische Normalität?, Wien 2002, S. 149-198. 2 Marcel Lewandowsky, Eine rechtspopulistische Protestpartei?. Die AfD in der öffentlichen und politikwissenschaftlichen Debatte, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 25 (2015) 1, S. 119-134, hier: S. 122. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd.
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Johannes Schaefer
der AfD Rheinland-Pfalz.5 Sein Fazit: „Die AfD skandalisiert und polarisiert wie keine andere Partei.“6 Michael Kranert 7 wählt einen anderen Weg. Er stützt sich auf eine „corpus-driven“ Diskursanalyse statt auf eine deduktiv-testende, quantitative Untersuchung. Er untersucht das Bundestagswahlprogramm 2017 auf seine horizontale und vertikale Trennung zwischen Volk und Eliten einerseits sowie zwischen „Dazugehörenden“ und „nicht Dazugehörenden“ andererseits. Er zeigt damit: Der europäische Rechtspopulismus hat, entgegen mancher Erwartung8, inklusive wie exklusive Elemente. Einen etwas anderen Betrachtungswinkel möchte ich mit diesem Beitrag einschlagen. Wenn die AfD eine populistische Partei ist – äußert sich das in ihrem Sprachgebrauch? Welches sind ihre wichtigsten Begriffe und Metaphern? Wie passt das zu den gängigen Populismustheorien? Was verrät der Sprachgebrauch der AfD über die „Sprache der Populisten“? Wie also spricht die AfD? Erstens, manifestiert sich ihr Populismus in ihrem Sprachgebrauch? Zweitens, welche Begriffe und Metaphern oder sprachlichen Bilder sind im Sprachgebrauch der AfD zentral? 2. Populismus – Streit um ein Phantom Ohne von Populismus zu sprechen, lassen sich die aktuelle Parteienlandschaft und jüngste Ereignisse wie die Wahl von Donald Trump oder der Brexit kaum erklären. Das zeigen sowohl die mediale Berichterstattung als auch die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen.9 Spätestens seit den 1980er Jahren steht die Politikwissenschaft vor dieser Herausforderung: Einige Parteien und Politiker, zum Beispiel der französische Front National, die italienische Lega Nord oder die Freiheitliche Partei Österreichs, passen nicht in die vorhandenen Kategorien und 5 Vgl. Joachim Scharloth, Ist die AfD eine populistische Partei?, Eine Analyse am Beispiel des Landesverbandes Rheinland-Pfalz, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 13 (2017) 1 , S. 1-15. 6 Ebd. S. 13. 7 Vgl. Michael Kranert, Populistische Elemente in den Wahlprogrammen von AfD und UKIP, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 14 (2018) 1, S. 61-77. 8 Vgl. Cas Mudde/Cristóbal Rovira Kaltwasser, Exclusionary vs. Inclusionary Populism, Comparing Contemporary Europe and Latin America, in: Government and Opposition, 48 (2013) 2, S. 147-174. 9 Vgl. Benjamin Moffitt, The global rise of populism. Performance, political style, and representation, Stanford 2016.
100
Dem Volk aufs Maul geschaut?
Modelle. Sie zeigen eine verblüffende programmatische Wandlungsfähigkeit und scheinen in ihrer inhaltlichen Ausrichtung vor allem reaktiv zu sein.10 Inzwischen hat sich für dieses Phänomen die Bezeichnung „populistisch“ durchgesetzt. Sie ist der Versuch, jene neuen Parteien zu beschreiben, die durch die althergebrachten Taxonomien nicht oder zumindest nicht vollständig erfasst werden können. Die Politikwissenschaft streitet jedoch heute genauso wie vor 50 Jahren11 über die Kernfragen des Felds: 1) Was ist Populismus? 2) Was begründet seinen Erfolg? 3) Wie verändert er die politische Landschaft? 4) Ist er eine Gefahr für die Demokratie? Die Schwierigkeiten der Populismusforschung mögen auch in den konzeptuellen Streitigkeiten um den Populismusbegriff begründet sein. Die Diskussion um die „richtige“ Populismus-Definition kann als eigener Teil der Populismusforschung betrachtet werden, prägt aber das gesamte Feld. Die Dominanz dieses Streits ist weder überraschend noch besonders problematisch: Viele sozialwissenschaftliche Begriffe sind nicht verbindlich definiert – und das erfordert eine Auseinandersetzung. Ein Versuch, Sozialismus, Liberalismus oder Konservatismus zu definieren, sei wahrscheinlich ähnlich schwierig, schrieb die Populismus-Forscherin Margarete Canovan.12 Doch beim Populismusbegriff kommt erschwerend hinzu: Er dient sehr unterschiedlichen Zwecken – 1) als Waffe in der politischen Auseinandersetzung, 2) als Lückenfüller sowie Garant für Auflage oder Klickzahlen und 3) als wissenschaftlicher Terminus in der Forschung. Zumeist wird er als Oberbegriff für eine besonders „einfache“, „emotionale“ oder gleich als Synonym für fremdenfeindliche Politik gebraucht.13 Diese Beliebigkeit erschwert die wissenschaftliche Debatte, die dennoch notwendig bleibt. Forderungen einzelner Forscher, den Begriff wegen seiner Uneindeutigkeit nicht mehr zu verwenden,14 gehen am Problem vorbei. Erstens arbeitet die Politikwissenschaft grundsätzlich mit vielen Begriffen, die im allgemeinen Sprachgebrauch unterschiedlich, wertgeladen und vage genutzt werden. Das kann jedoch kein Grund sein, sie aus der wissenschaftlichen Arbeit zu
10 Vgl. Klaus Poier/Sandra Saywald-Wedl/Hedwig Unger, Die Themen der „Populisten" 2017. Mit einer Medienanalyse von Wahlkämpfen in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Dänemark und Polen, Baden-Baden 2017. 11 Vgl. Ghita Ionescu/Ernest Gellner (Hrsg.), Populism. Its meanings and national characteristics, London 1969. 12 Vgl. Margaret Canovan, Populism, New York 1981. 13 Vgl. Florian Hartleb, Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden 2004. 14 Vgl. Ian Roxborough, Unity and Diversity in Latin American History, in: Journal of Latin American Studies, 16 (1984) 1, S. 1-26.
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verdrängen. Zweitens zeigt die Komplexität des Phänomens die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung.15 Doch seine sehr unterschiedliche Verwendung erklärt nur teilweise die besondere Schwierigkeit des Populismusbegriffs. Diese rührt auch daher, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionsversuche kursiert. Die Komplexität und das Ausmaß der Debatte sind schwindelerregend. Viele Arbeiten meinen das Gleiche, benennen es aber unterschiedlich – oder umgekehrt.16 Dieses Tohuwabohu an Populismusdefinitionen trägt entscheidend zur konzeptuellen Schwäche des Forschungsfelds bei. Es erschwert den Zugang und trübt den Blick für Gemeinsamkeiten und das eigentliche Problem. Die Versuche, Populismus zu definieren, kann man in vier Strömungen gruppieren.17 Populismus wird eine 1) Ideologie, 2) eine Strategie, 3) ein Diskurs bzw. Stil oder 4) die Logik des Politischen genannt. Die Karriere des Populismusbegriffs nachzuzeichnen oder die historische Entwicklung der einzelnen Ansätze aufzuzeigen, ist an dieser Stelle nicht notwendig.18 Für einen guten und aktuellen Überblick über die vier Definitionsweisen empfehle ich Moffitt.19 Er konstatiert auch die große Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Herangehensweisen: das Volk als homogen verstandener Akteur, die Eliten und häufig eine weitere Gruppe als klares Feindbild, zudem die Betonung eines besonderen Auftretens, ausgerichtet auf Skandal und Provokation. Das führt zu Einigkeit in einer wesentlichen Frage – wer nun Populist und wer kein Populist sei. Denn darin stimmen die Vertreter der unterschiedlichen Ansätze zumeist überein.20 Der wesentliche Unterschied zwischen den vier Ansätzen scheint die Benennung zu sein! Umso mehr mutet die Auseinandersetzung um den Populismusbegriff von außen elfenbeinturmartig an: Es wird mehr darüber gestritten, wie das Phänomen zu kategorisieren ist, weniger über das Phänomen an sich.21 Der Mehrwert für die empirische Forschung ist fraglich. Denn dieser Streit
15 Vgl. Moffitt (Anm. 9). 16 Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 4, S. 542-563. 17 Vgl. Moffitt (Anm. 9). 18 Vgl. Paul A. Taggart, Populism, Buckingham 2000; Tim Houwen, The non-European roots of the concept of populism, Brighton 2011. 19 Vgl. Moffitt (Anm. 9). 20 Vgl. ebd., S. 42. 21 Vgl. ebd., S. 17.
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führt vom eigentlichen Gegenstand weg22 und zu einer Zirkularität der Diskussion. 3. Populismus und populistische Sprache Die Forschungsliteratur hält einige plausible Merkmale für Populismus bereit. Daraus leite ich eine eigene Definition ab. Im Folgenden meine ich mit „populistisch“: Akteure – Parteien wie Einzelpersonen –, die 1) zwischen einem – vermeintlich – homogenen Volk mit einem klar sichtbaren Gemeinwillen und einer – angeblich – korrumpierten Elite23 polarisieren. Diese Polarisierung wird verknüpft mit 2) dem Narrativ einer Krise und eines Betrugs sowie einer besseren Vergangenheit24. Hinzu kommen 3) Moralisierung, Provokation und Skandalisierung25. Keines dieser Merkmale allein ist konstitutiv für Populismus – das wird häufig missverstanden, ist aber keineswegs gemeint. Diese Definition vermeidet den Streit um die Kategorisierung von Populismus und vereint Elemente verschiedener Definitionen in sich. Sie kann für quantitative wie auch für qualitative Inhaltsanalysen fruchtbar gemacht werden. Darüber hinaus ermöglicht sie ein graduelles Verständnis von Populismus. Ein Akteur ist nicht entweder populistisch oder nicht, sondern mehr oder weniger populistisch. Gleichzeitig impliziert diese Definition, dass Populismus an Sprache festgestellt werden kann. Darin ähnelt sie sehr dem Verständnis von Populismus als Stil,26 obwohl auch Populismus als Ideologie27 letztlich an sprachlichen Parametern gemessen wird.28
22 23 24 25 26
Vgl. ebd., S. 11. Vgl. Mudde (Anm. 16). Vgl. Taggart (Anm. 18). Vgl. Moffitt (Anm. 9). Vgl. Jan Jagers/Stefaan Walgrave, Populism as political communication style. An empirical study of political parties' discourse in Belgium, in: European Journal of Political Research, 46 (2007) 3, S. 319-345; Kirk A. Hawkins, Is Chávez Populist?, in: Comparative Political Studies, 42 (2009) 8, S. 1040-1067; Vgl. Moffitt (Anm. 9). 27 Vgl. Mudde (Anm. 16); Cas Mudde, Populist Radical Right Parties in Europe, Cambridge 2007. 28 Vgl. Cas Mudde, Fighting the system?, Populist radical right parties and party system change, in: Party Politics, 20 (2014) 2, S. 217-226; Matthijs Rooduijn/Teun Pauwels, Measuring Populism, Comparing Two Methods of Content Analysis, in: West European Politics, 34 (2011) 6, S. 1272-1283; Matthijs Rooduijn, A populist Zeitgeist?, The impact of populism on parties, media and the public in Western
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Populismus ist im Sinne dieser Definition weder zwingend populär oder volksnah noch demagogisch. Er hat auch nichts gemeinsam mit besonders aggressiver Kritik an der Regierung oder Revolutionsbewegungen. Anders formuliert: Eine Forderung ist nicht populistisch, nur weil sie populär oder popularitätsheischend ist, als besonders simpel oder hart empfunden wird. Populistisch ist auch nicht, wer die Regierung in deutlicher oder gar unfairer Weise attackiert. Erst wenn ein – vermeintlich – homogenes Volk, das – angeblich – genau dieses oder jenes will, gegen eine – vorgeblich – korrumpierte Elite in Stellung gebracht wird, kann man von Populismus sprechen. Allein der Vorwurf, die Regierung belüge und betrüge das Volk , reicht dazu nicht. Die Sprache der Populisten wiederum spielt in den verschiedenen Theorien über Populismus eher eine Neben- als eine Hauptrolle. Oft erschöpft sich die „Analyse“ in einer Auflistung vermeintlicher Stilmittel, ohne diese systematisch zu überprüfen. Marcel Lewandowksy liefert in seinem Literaturbericht eine Zusammenfassung verschiedener politikwissenschaftlicher Arbeiten.29 In einem gemeinsamen Aufsatz mit Frank Decker werden in ähnlicher Weise Elemente eines populistischen Sprachgebrauchs aufgelistet und postuliert.30 Martin Reisigl gibt in mehreren Aufsätzen nicht nur Einblicke in die Funktionsweise populistischer Sprache, sondern listet auch Stilmittel auf. Aus politikwissenschaftlicher Sicht zwar wenig systematisch und theoretisch kaum fundiert, liefern die Aufsätze von Reisigl31 aber einen guten Einblick in die Art, wie Populismus sprachlich „funktioniert“. Durch eine gezielte Benennung unterscheiden Populisten laut Reisigl zwischen vier Gruppen von Akteuren: der Wir-Gruppe, der Ihr-Gruppe, der Die-da-oben-Gruppe und der Die-da-draußen-Gruppe.32 Sie alle werden mit entsprechenden, wertenden Prädikationen versehen. Stark an
29 30 31
32
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Europe, 2013; vgl. Matthijs Rooduijn/Sarah L. de Lange/Wouter van der Brug, A populist Zeitgeist?, Programmatic contagion by populist parties in Western Europe, in: Party Politics, 20 (2014) 4, S. 563-575. Vgl. Lewandowsky (Anm. 2). Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowsky, Rechtspopulismus in Europa, Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien, in: Zeitschrift für Politik, 64 (2017) 1, S. 21-38. Vgl. Reisigl (Anm. 1); Martin Reisigl, Rechtspopulistische und faschistische Rhetorik, Ein Vergleich, in: Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012) 2, S. 303-323; Martin Reisigl, Zur kommunikativen Dimension des Rechtspopulismus, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.), Populismus, Herausforderung oder Gefahr für die Demokratie?, Wien 2012, S. 141-161. Vgl. Reisigl (Anm. 1), S. 175-198; ähnlich schon Sebastian Reinfeldt, Nicht-wir und Die-da. Studien zum rechten Populismus, Wien 2000.
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ihn angelehnt ist ein Aufsatz Paula Diehls33. Ruth Wodak hat 201534 sechs Merkmale rechtspopulistischer Rhetorik sowie sechs dazugehörige sprachliche Mittel herausgearbeitet. Allen Arbeiten ist eine essayistische, teils anekdotische Herleitung ihrer Erkenntnisse über populistische Sprache gemein. Drei Phänomene werden dabei meines Erachtens nicht klar getrennt: erstens, der spezifische „Diskurs“, mit dem Populisten die Welt in „Die-daoben“, „Wir-hier-unten“ und „Die-da-draußen“ ordnen; zweitens, die populistische „Rhetorik“, die diesem Diskurs nachgeordnet stattfindet, ihn gewissermaßen „illustriert“ und „auskleidet“; drittens, die populistische „Kommunikationsstrategie“, deren wesentliche Instrumente geplante Provokation, Tabubruch und kalkulierte Ambivalenz sind.35 Alle drei Phänomene – Diskurs, Rhetorik und Kommunikationsstrategie – lassen sich der „Sprache“ zuordnen, sind aber getrennt zu betrachten. Für die Kommunikationsstrategie gilt das jedoch nur im weitesten Sinne, sie stellt tatsächlich ein eigenes Forschungsfeld dar.36 Ihre Aufgabe ist es, im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit bestehen und Agenda-Setting betreiben zu können. 4. Messung von Populismus in Sprache Als Gegenstand wissenschaftlicher Analysen spielen Sprache und Sprachgebrauch nicht nur in den einschlägigen Wissenschaften eine große Rolle. Denn wer soziale Beziehungen und Geflechte betrachtet, kommt nicht umhin, Sprache – als vielleicht wichtigstes Medium sozialer Interaktion – zu untersuchen. In der Politikwissenschaft wird Sprache zum Beispiel in der Party-Manifesto-Forschung betrachtet.37 Mittels quantitativer Inhaltsanalysen werden dort Policy-Positionen von Parteien anhand von Wahlpro33 Vgl. Paula Diehl, Die Komplexität des Populismus. Ein Plädoyer für ein mehrdimensionales und graduelles Konzept, in: Totalitarismus und Demokratie 8 (2011) 2, S. 273-291. 34 Vgl. Ruth Wodak, The politics of fear. What right-wing populist discourses mean, Los Angeles 2015. 35 Vgl. Umberto Eco/Burkhart Kroeber, Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus, München 2007; ebd. 36 Vgl. Toril Aalberg/Frank Esser/Carsten Reinemann/Jesper Stromback/Claes De Vreese (Hrsg.), Populist political communication in Europe, New York/London 2017. 37 Vgl. Michael Laver/John Garry, Estimating Policy Positions from Political Texts, in: American Journal of Political Science, 44 (2000) 3, S. 619-634; Jonathan B. Sla-
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grammen ermittelt. Dieses Vorgehen kommt in Methode und Zielsetzung den quantitativ-korpuslinguistisch angelegten Arbeiten aus dem Bereich der Politolinguistik nah.38 Qualitative Inhaltsanalysen wiederum sind ein anderes gängiges Instrument zur Untersuchung von Sprachgebrauch in der Politikwissenschaft, um zum Beispiel die Nachrüstungsdebatte im Deutschen Bundestag zu untersuchen39. Im weiteren Sinne widmen sich nicht zuletzt viele politikwissenschaftliche Diskursanalysen dem Phänomen von „language at use in the world“.40 Zunächst möchte ich in einer quantitativen Analyse zeigen, dass und wie sich Populismus im Sprachgebrauch der AfD manifestiert. Zu diesem Zweck werde ich die AfD mit den nicht-populistischen Parteien im 19. Deutschen Bundestag vergleichen. Dann möchte ich zeigen, welche Begriffe und Metaphern oder sprachliche Bilder im Sprachgebrauch der AfD zentral sind und diese in den Kontext des Populismus einordnen. Hinterlässt Populismus messbare Spuren in Sprache? Um Populismus in Sprache zu messen, müssen die zentralen Merkmale meiner Populismusdefinition sprachlich messbaren Korrelaten zugeordnet werden.41 Bestimmte Wörter und Begriffe müsste die AfD als populistische Partei theoretisch häufiger verwenden, als dies nicht-populistische Parteien tun. Ein Vergleich mit den anderen Parteien des 19. Deutschen Bundestags ist also notwendig, wobei auch für die Partei Die Linke Populismus angenommen wird.42 Als nicht-populistisch gelten die anderen Parteien, also CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP. Letztgenannte stellen damit den Referenzkorpus dar, an dem der Sprachgebrauch der AfD (und auch der Partei Die Linke) gemessen wird. Die Ableitung sprachlicher Korrelate, anhand derer gemessen wird, soll hier exemplarisch anhand von vier Kategorien geschehen.
38 39 40
41
42
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pin/Sven-Oliver Proksch, A Scaling Model for Estimating Time-Series Party Positions from Texts, in: American Journal of Political Science, 52 (2008) 3, S. 705-722. Vgl. Kranert (Anm. 7); Scharloth (Anm. 5). Vgl. Werner J. Patzelt, Sprengsatz Sprache: Die „Nachrüstungsdebatte" des Bundestags als Beispiel, in: Politische Studien, 41 (1990) 309, S. 53-73. Vgl. Andreas Heindl, Diskursanalyse, in: Achim Hildebrandt/Sebastian Jäckle/ Frieder Wolf/Andreas Heindl (Hrsg.), Methodologie, Methoden, Forschungsdesign, Ein Lehrbuch für fortgeschrittene Studierende der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2015, S. 257-298. Vgl. Joachim Scharloth/Noah Bubenhofer, Datengeleitete Korpuspragmatik, Korpusvergleich als Methode der Stilanalyse, in: Ekkehard Felde/Marcus Müller/Friedemann Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 195-230. Vgl. Eckhard Jesse, Linkspopulismus – das Beispiel der deutschen LINKEN, in: Sir Peter Ustinov Institut (Anm. 31), S. 57-74.
Dem Volk aufs Maul geschaut?
Tabelle 1: Aus den drei zentralen Elementen der Populismusdefinition abgeleitete Kategorien, daraus abgeleitete Suchbegriffe und deren Quelle Merkmale des Populismus
Kategorien
Konzepte und Anwendungen in der Literatur
Suchbegriffe (beispielhaft)
Volk und Eliten
Erwähnung des „Volks“
Vgl. Scharloth 201743
Volk, Bevölkerung, Staatsvolk, Bürger
Erwähnung der „Eliten“
Berufspolitiker, Parteien, politische Klasse
Krise und Betrug
Verwendung von Lexemen, die auf Manipulation und Betrug verweisen
Vgl. Scharloth 201744
angeblich, vorgeblich, offenbar, vermeintlich
Moralisierung, Provokation und Skandalisierung
Nutzung von skandalisierendem, krisenhaftem Vokabular
Vgl. Dornseiff 200445; Scharloth 201746
gemein, niederträchtig, schamlos, schlecht, schmählich, skandalös
Quelle: eigene Darstellung.
Da eine Partei ein kollektiver Akteur ist, stellt sich die Frage, wessen Sprachgebrauch repräsentativ für das Ganze ist. Hier bietet sich das Wahlprogramm an. Ein Wahlprogramm ist nicht nur ein Text, an dem verschiedene Personen, Experten und Mitglieder von Gruppierungen der Partei mitgewirkt haben. Es ist außerdem ein Text, auf den sich die Partei als Ganzes geeinigt hat – ein „diskursiver Knotenpunkt“47. Ein Wahlprogramm soll nach innen Einigkeit über politische Ziele herstellen, nach außen dem Wähler zeigen, wofür eine Partei steht. Angesichts der sehr unterschiedlichen Längen der Wahlprogramme – das der Grünen hat 238, das der CSU nur 31 Seiten – müssen die absoluten Zahlen ins Verhältnis zur Länge der Programme gebracht werden. Hierbei greife ich wie Kranert48 auf „per million words“ – abgekürzt „pmw“ – zurück. Bei der Auswertung kommt die Software „Antconc“49 zum Einsatz. Dieses kostenlose Programm erlaubt nicht nur das Zählen von Wörtern und das Suchen mit
43 Vgl. Scharloth (Anm. 5). 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Franz Dornseiff/Uwe Quasthoff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 2004. 46 Vgl. Scharloth (Anm. 5). 47 Vgl. Kranert (Anm. 7), S. 65. 48 Vgl. ebd. 49 Laurence Anthony, AntConc. A freeware corpus analysis toolkit for concordancing and text analysis.
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Wortlisten, sondern kann auch Schlüsselwortlisten und N-Gramme ermitteln. Das „N“ in N-Gramm steht für eine beliebige Zahl, die Software schaut wie oft „n“ beliebige Wörter in exakt derselben Reihenfolge im Text auftauchen. Schlüsselwörter sind Wörter, die im Vergleich zu einem Referenzkorpus – in diesem Fall die Programme der nicht-populistischen Parteien – besonders häufig in einem Korpus vertreten sind. Antconc arbeitet zur Ermittlung von Schlüsselwörtern mit dem Likelihood-Quotienten-Test. Dies ist für den zweiten Teil der Analyse von Bedeutung, bei dem ich herausfinden möchte, welche Begriffe und Metaphern im Sprachgebrauch der AfD besonders auffallen. Welche das sind, wird über die Häufigkeit festgestellt. Dahinter steht die Grundannahme, dass Häufigkeit auf Relevanz hindeutet. Die in diesem Sinne besonders relevanten Wörter aus dem Programm der AfD bilden die Grundlage für den zweiten Teil der Analyse. Sie werden dann in die zentralen Elemente meiner Populismusdefinition eingeordnet. Tabelle 2: Aus der Populismusdefinition abgeleitete Kategorien Merkmal des Populismus
Kategorie
Volk und Eliten
Wer ist das Volk? Wie wird es beschrieben? Wer sind die Eliten? Wie werden sie beschrieben?
Krise und Betrug
Was ist die Krise, wie wird sie beschrieben? Welche Vergangenheit wird ihr entgegengesetzt und wie wird diese beschrieben? Was sind die Feindbilder?
Moralisierung, Provokation und Skandalisie- Wie wird moralisiert? rung Wie wird skandalisiert?
Quelle: eigene Darstellung.
Die Einordnung in diese aus der Populismusdefinition abgeleiteten Kategorien soll zeigen, ob und wie sich die zentralen Begriffe und Metaphern der AfD in die „populistische Erzählung“ einfügen.
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5. Populismus in der Sprache der AfD Beginnt man die Wahlprogramme nach den Indikatoren obiger Tabelle zu untersuchen, zeigt sich: Die beiden populistischen Parteien, die AfD50 und Die Linke51, berufen sich deutlich häufiger auf die Eliten und das Volk als CDU52, CSU53, SPD54, Grüne55 und FDP56. Bei den Manipulationsunterstellungen und bei der Skandalisierung hingegen sind die Unterschiede schwächer.
50 Alternative für Deutschland, Programm für Deutschland, Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017, 2017. 51 Die Linke, Die Zukunft, für die wir kämpfen!, Langfassung des Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2017, 2017. 52 Christlich Demokratische Union Deutschlands, Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017 – 2021, 2017. 53 Christlich-Soziale Union in Bayern, Der Bayernplan, Klar für unser Land, 2017. 54 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm für Deutschland, 2017. 55 Bündnis 90/Die Grünen, Zukunft wird aus Mut gemacht. Bundestagswahlprogramm 2017, 2017. 56 Freie Demokratische Partei, Schauen wir nicht länger zu, Programmentwurf der Freien Demokraten zur Bundestagswahl 2017, 2017.
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Abbildung 1: Durchschnitt populistische Parteien (AfD, Die Linke) und Durchschnitt nicht-populistische. Parteien (CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP), nach den vier Kategorien, in pmw ‐
500
1.000
1.500
2.000
2.500
Elite
Volk
Manipulation
Skandal
Durchschnitt pop. Parteien
Durchschnitt andere Parteien
Quelle: eigene Darstellung.
Der Vergleich der beiden populistischen Parteien offenbart: Die AfD fällt vor allem beim Eliten- und Volksbezug auf, die Linke bei Manipulationsunterstellungen und Skandalisierung.
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Abbildung 2: Vergleich zwischen AfD und Die Linke, nach den vier Kategorien, in pmw 0
500
1000
1500
2000
2500
3000
3500
Elite
Volk
Manipulation
Skandal
AfD
Die Linke
Quelle: eigene Darstellung.
Wer die populistischen Parteien mit dem Referenzkorpus vergleicht, das heißt: zu den anderen im Bundestag vertretenen Parteien, erkennt deutliche Abweichungen. Neunmal so oft verweist die AfD auf die Elite, beinahe sechsmal häufiger auf das Volk. Ungefähr sechsmal bzw. beinahe dreimal öfter kommen bei der Linkspartei Manipulationsunterstellungen und Skandalisierung vor.
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Abbildung 3: Relative Abweichung von AfD und Die Linke vom Durchschnitt des Referenzkorpus (CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP), nach den vier Kategorien 0%
100%
200%
300%
400%
500%
600%
700%
800%
900%
Elite
Volk
Manipulation
Skandal
Index
AfD
Die Linke
Quelle: eigene Darstellung.
Betrachtet man die relative Abweichung aller Parteien vom Gesamtdurchschnitt – nicht vom Referenzkorpus –, wird dies noch deutlicher. Während die AfD beim Elitenbezug am stärksten vom Durchschnitt aller Parteien abweicht, gilt dies für die Linkspartei bei den Manipulationsunterstellungen.
112
Dem Volk aufs Maul geschaut?
Abbildung 4: Relative Abweichung aller Parteien vom Gesamtdurchschnitt, nach den vier Kategorien und mit Index ‐150%
‐100%
‐50%
0%
50%
100%
150%
200%
250%
300%
350%
Elite
Volk
Manipulation
Skandal
Index
CDU
CSU
SPD
AfD
FDP
Die Linke
Grüne
Quelle: eigene Darstellung.
Um den „Populismusgrad“ einer Partei abbilden zu können, habe ich einen Index aus allen vier Werten gebildet. Alle Kriterien habe ich dabei gleich gewichtet. Hier zeigt sich: Die AfD hat den „populistischsten“ Sprachgebrauch, gefolgt von der Linken. Der Abstand ist durchaus erheblich. Die AfD spricht im Schnitt 79 Prozent „populistischer“ als der Durchschnitt aller sieben Parteien, die Linke 43 Prozent. Diese Werte sind noch höher, wenn man als Bezugspunkt den Referenzkorpus heranzieht. Am „unpopulistischsten“ sind die SPD und die FDP. Doch wenn bereits im Gesamtdurchschnitt AfD und Die Linke deutlich abweichen, so kann man dies – unter der Prämisse, dass es sich um popu113
Johannes Schaefer
listische Parteien handelt – als einen durch ihren Populismus begründeten Unterschied bezeichnen. Die Messung von Populismus in den Bundestagswahlprogrammen analog zu Scharloth57 scheint insgesamt gelungen. Die Linke wich bei allen Indikatoren stark von den anderen Parteien, aber auch stark von der AfD ab. Zusätzliche Kriterien und eine stärkere Gewichtung bestimmter Indikatoren beim Populismus-Index könnten die Messung bereichern. So könnte man nicht nur mehr Begriffe, sondern auch zusätzliche Kategorien einbeziehen. Krisenvokabular, metasprachliche Markierungen oder abwertende Adjektive58 wären denkbar. 6. Begriffe und Metaphern der AfD Welche Begriffe und Metaphern die Sprache der AfD kennzeichnen, zeigt bereits Kranert59: „Volk“ tauche bei der AfD deutlich häufiger auf als bei anderen Parteien. Es bleibe jedoch ungeklärt, wer damit gemeint ist. Neben „Volk“ werde auch „Bevölkerung“ systematisch verwendet. Bezieht man dies ein, ergäbe sich ein etwas anderes Bild. Während bei Komposita wie „Volkssouveränität“ und „Volksabstimmung/-entscheid“ der Volksbegriff noch im Sinne des „demos“ verwendet werde, klingt bei „Staatsvolk“ durch die Verbindung mit einer Raummetaphorik eher das „ethnos“ an, zumal, wenn von einem „Erhalt des Staatsvolks“ und einer Forderung nach einer Rückkehr zum Abstammungsprinzip die Rede sei. „Bevölkerung“ verwende die AfD nicht selten biologistisch. Vor allem bei „Selbstabschaffung“ und „Bevölkerungsexplosion“ klinge dies an. Einen offenen Rassismus, so Kranert, vermeidet die AfD auf diese Weise. Das sei jedoch eine Verschleierung, versteckt fänden sich völkische Elemente im Wahlprogramm. Durch regelmäßigen Bezug auf die „deutsche Sprache“ als Identitätsmerkmal und einzelne Rückgriffe auf eine Kriegsmetaphorik sieht er einen Kulturkampfdiskurs. Er beobachtet diesen vor allem im Zusammenhang mit dem Islam. Zur Abwehr des Radikalismus-Vorwurfs greife die AfD neben Sprachthematisierungen auch auf einen Topos des Grundgesetzes zurück. Dieses sei im Kontext von Islam und Zuwanderung ihr wichtigstes Argument. Kranert vermutet dahinter den Versuch, die eigene Grundgesetztreue zu demonstrieren. Er verweist auf die starke Abgrenzung der AfD gegenüber den vermeintlichen Eliten. Hier würden starke Stigma-
57 Vgl. Scharloth (Anm. 5). 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Kranert (Anm. 7).
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worte verwendet, wie „politische Oligarchie“, „politische Klasse“, „Ämterpatronage“ und „totalitäre Herrschaftsordnung“. „Partei“ werde ebenfalls als Stigmawort und ausschließlich als Fremdbezeichnung verwendet, häufig mit „etabliert“ und einem bestimmten Artikel verknüpft. Ein Zusammenhang mit Kriminalität und Korruption werde insinuiert, über „wieder“ und „wiederherstellen“ auf ein goldenes Zeitalter angespielt. Kranert beobachtet darüber hinaus, indirekt verknüpft mit der Eliten-Abgrenzung, eine Distanzierung gegenüber der Europäischen Union, die sich insbesondere an der Europäischen Zentralbank und der Währungsunion manifestiere. Kranert zeigt damit, dass die „diskursive Konstruktion der politischen Programme der AfD und von UKIP […] sich […] als Kombination einer vertikalen und horizontalen Abgrenzung des ‚Volkes‘ analysieren“60 lässt und wie dies bei der AfD geschieht. Zunächst möchte ich einige Aspekte zum Sprachgebrauch der AfD ausführen und ergänzen. Dabei orientiere ich mich nicht an der Idee von Populismus als einen den politischen Raum horizontal und vertikal schneidenden Diskurs, sondern an den Merkmalen meiner Populismusdefinition. Darüber hinaus werden Schlüsselwörter und n-Gramme, also wiederkehrende Wortketten, Ausgangspunkt für die qualitative Untersuchung sein. Erstens die Schlüsselwörter: Bereinigt man diese um Verben, Konjunktionen sowie Artikel, so bleibt folgende Liste: Gender, Zuwanderung, Bevölkerungsentwicklung, Ideologie, Willkommenskultur, EZB, Parteienfinanzierung, Parteien, Islam. Referenzkorpus waren erneut die Wahlprogramme von CDU, CSU, SPD, Grünen und FDP. Zweitens die n-gramme: Ich interessiere mich in diesem Fall für Ketten von jeweils drei Wörtern. Die häufigsten Fragmente, wiederum bereinigt, waren: Verteidigung der Demokratie, Willkommenskultur für Kinder, Familienförderung und Bevölkerungsentwicklung, deutsche Interessen durchsetzen, freiheitlich demokratischen Grundordnung. Vor allem in ihrer Kritik am vermeintlichen Establishment ist die AfD quantitativ wie qualitativ nicht zimperlich. „Oligarchie“ (2)61 drückt nicht nur aus, dass die Macht sich in den Händen Weniger befindet. Der Begriff rückt das „Establishment“ auch in die Nähe von Korruption sowie Kriminalität und wirft der politischen Klasse Demokratiefeindlichkeit vor.62 Sich selbst versteht die AfD dabei als Verteidigerin der Demokratie. Die Refe-
60 Ebd., S. 74. 61 Die Zahl in Klammer verweist auf die Häufigkeit des jeweiligen Wortes in den Wahlprogrammen. 62 Vgl. ebd., S. 72.
115
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renzen an die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ (6) und Bezüge auf das Grundgesetz (5)63 unterstreichen das. Auch die Kritik am „Berufspolitikertum“ (4) insinuiert monetäre Interessen, der Begriff wird also abwertend verwendet. Der „überbordende Lobbyismus“ könnte dieser Wertung zugeordnet werden. Das Volk, das nicht nur als „Volk“ (9), sondern auch als „Staatsvolk“ (6) und „Bevölkerung“ (8) auftaucht, definiert die AfD an keiner Stelle.64 Die Ambivalenz könnte in diesem Zusammenhang gewollt oder auch der Vielzahl der Autoren eines Wahlprogramms geschuldet sein. Jedoch formuliert die AfD unmissverständlich die Bedrohung, der das Volk ausgesetzt sei, wenn sie explizit seinen „Erhalt“ fordert. Dabei wird teilweise auch auf die „angestammte“ oder „einheimische“ (2) Bevölkerung verwiesen, ohne dass geklärt wird, was darunter zu verstehen ist. Biologistische Metaphorik und Topoi65 finden sich im Zusammenhang mit der „Bevölkerungsentwicklung“ (9) wieder, wo zudem eine Kessel-Metaphorik die Bedrohlichkeit der Situation unterstreicht. Neben dem Begriff „Bevölkerung“ (8) taucht der Begriff „Bevölkerungsentwicklung“ (9) noch öfter auf. Er ist Teil des Slogans „Willkommenskultur für Kinder: Familienförderung und Bevölkerungsentwicklung“, der prominent als Überschrift platziert ist. Den seit 2015 stark konnotierten Begriff „Willkommenskultur“ hier in einem neuen Zusammenhang zu verwenden, ist sicherlich kein Versehen. Eine unbeabsichtigte Verwendung eines derart stark aufgeladenen Begriffs – er war der zentrale Topos der sogenannten Flüchtlingskrise – kann ausgeschlossen werden. Offensichtlich handelt es sich um einen Versuch, den Begriff der „Willkommenskultur“ und die damit verknüpfte Politik umzudeuten. Die AfD setzt ihre Familienpolitik der Flüchtlingspolitik entgegen, spielt beides gegeneinander aus. Implizit wirft sie der Regierung vor, sich statt für Kinder für Flüchtlinge entschieden zu haben. Für die AfD gehören beide Politikfelder zusammen, wobei anstelle einer „Willkommenskultur“ eine „Willkommenskultur für Kinder“ und eine andere Familienpolitik nötig gewesen wären. Die Krise wird nur implizit konstruiert. Das Wort „Krise“ (11) wird zumeist im Kompositum „Euro-Krise“ bzw. „Eurokrise“ (3) verwendet. Aussagekräftig ist die Verwendung von „wieder“. Dadurch wird deutlich, was der vorherige Zustand war, zu dem man zurückkehren möchte.66 Auch „erhal-
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Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 66-69. Vgl. Decker/Lewandowsky (Anm. 30), S. 30. Vgl. Kranert (Anm. 7), S. 69.
Dem Volk aufs Maul geschaut?
ten“ verrät, was die AfD bedroht sieht. Dazu gehören zum Beispiel das mehrgliedrige Schulsystem, die deutsche Sprache, der Sozialstaat, die Förder- und Sonderschulen, der souveräne, demokratische Nationalstaat und die Verkehrswege. Wiederhergestellt werden sollen Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Souveränität. Unter ihren Hauptfeindbildern nimmt „Gender“ (14) großen Raum ein. Das Kompositum „Gender-Ideologie“ (7) dient dazu, den wissenschaftlichen Geltungsanspruch in Frage zu stellen. Wenn von „Gender-Forschung“ (4) gesprochen wird, dann nur in Anführungszeichen, was eine deutliche Distanzierung von dem Begriff ausdrückt. Dies und die quantitative Dominanz der Gender-Debatte lenken den Blick zudem auf einen anderen Begriff: Ideologie. Dessen Verwendung erfolgt pejorativ. „Ideologie“ wird bis auf eine Ausnahme stets im Kompositum „Gender-Ideologie“ (7) verwendet – die Ausnahme ist die Kritik an einer „Ideologie des Multikulturalismus“. Deutlich zu erkennen ist die negative Konnotation an der Verwendung des Adjektivs „ideologisch“ (10), das Wörter wie „Beeinflussung“ und „Vorgabe“ begleitet. Die AfD begreift „Ideologie“ als Kampfbegriff und Stigmawort. „Ideologiefreiheit“ ist ihr Ziel. Ideologie ist für die AfD etwas Negatives. Sie unterstellt ihren Gegnern ideologische Motivation und betrachtet Ideologie als das Gegenteil nüchterner Vernunft. Letztgenannte beansprucht sie implizit für sich. Damit ist sie keinesfalls allein. So taucht der Begriff auch bei der FDP auf, fünfmal und ausschließlich negativ. Der Islam (19) wird eingebettet in eine Wortwahl aus den lexikalischen Feldern von Krieg und Konflikt.67 Betont werden „(Kultur-)Krieg“ (2) und „Konflikt“ (5). Überraschen muss die relative Abwesenheit von „Flüchtlingen“. Sie tauchen im Programm kaum auf, Kritik an ihnen wird nur am Rande geübt. Jedoch gelingt es der AfD, diese in Anspielungen zu verstecken; zum Beispiel in dem Satz: „Staat und Bürger müssen gegen gewaltbereite Akteure, die sich bereits legal oder illegal im Land befinden, geschützt werden.“68 Der Nebensatz ist eigentlich unnötig, denn er liefert keine zusätzliche Information. Wenn alle gewaltbereiten Akteure gemeint sind, die sich legal oder illegal im Land befinden, sind kurzum alle gewaltbereiten Akteure gemeint. Was könnte also dahinterstecken? Da es im Zusammenhang mit Illegalität in der deutschen Debatte vor allem um Flüchtlinge geht, die kein Bleiberecht haben, spielt der Nebensatz auf diese Gruppe an.
67 Vgl. ebd., S. 70. 68 Alternative für Deutschland (Anm. 49), S. 20.
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Johannes Schaefer
Eine starke Moralisierung durchzieht das Wahlprogramm. Die Zuschreibungen entlang der Konfliktlinie zwischen Volk und Eliten verdeutlichen das bereits. Sie sind stark moralisch und stark deontisch. Die Deontik eines Begriffs69 bezeichnet seine normative Komponente, in der bereits eine Handlungsaufforderung mitschwingt. Kennzeichen politischer Sprache ist, dass „Bewertung durch den Sprecher und Appell an den Adressaten, sich der Bewertung anzuschließen, zwei Seiten einer Medaille“70 sind. Die Sprache der AfD unterscheidet dabei oft nicht zwischen verschiedenen politischen Entwürfen, über die gestritten werden kann, sondern zwischen legitimen und illegitimen Vorstellungen, zwischen Recht und Unrecht und damit sehr deutlich zwischen Gut und Böse. „Oligarchie“ zum Beispiel weist nicht allein auf Kriminalität hin, sondern auch auf eine illegitime, undemokratische Herrschaft. Der Begriff enthält auch die Aufforderung, eine solche Regierung abzusetzen. Für die Kapitelüberschrift „Verteidigung der Demokratie“ gilt das Gleiche. 7. Populismus und Ideologie in der Sprache der AfD Die AfD spricht eine Sprache, in deren Mittelpunkt der Gegensatz zwischen Volk und Eliten steht. Häufiger als andere Parteien bezieht sie sich auf die Eliten wie auch auf das Volk und unterstellt sie Manipulationszusammenhänge. Die von ihr verwendeten Begriffe und Metaphern sind geeignet, um in stark moralisierender, deontischer Art und Weise die Welt zu beschreiben und zu ordnen – mit einem Konflikt zwischen Volk und Eliten im Mittelpunkt. Das entspricht dem, was man für populistischen Sprachgebrauch annehmen würde. Ob weitere Elemente ihrer Sprache, wie biologistische Metaphorik und völkische Ideologeme, ihrem Populismus zuzuordnen sind, bleibt fraglich. Sie sind eher in einem Nativismus71 oder völkischem Gedankengut72 verankert. Kann man daraus Schlüsse auf eine „Sprache der Populisten“ ziehen? Im Falle der AfD kommt die saubere Trennung zwischen Sprache und Ideologie der Quadratur des Kreises gleich. Offensichtlich hängen bei der AfD die inhaltliche Ausrichtung und die Konstruktion der populistischen Erzählung eng zusammen. Die politischen Inhalte bestimmen die Sprache 69 Vgl. Josef Klein, Grundlagen der Politolinguistik. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2014, S. 104. 70 Ebd., S. 69. 71 Vgl. Mudde (Anm. 27). 72 Vgl. Kranert (Anm. 7).
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Dem Volk aufs Maul geschaut?
womöglich stärker als der Populismus. Wer der Sprache der AfD eine geheime Formel entlocken will, wird enttäuscht. Ein besonderes Erfolgsgeheimnis, eine exklusive rhetorische Figur oder Metapher konnte ich nicht beobachten. Im Gegenteil: Der Sprachgebrauch der AfD unterscheidet sich hauptsächlich durch seine diskursiven Elemente. Anders formuliert: Ihre Sprache scheint nicht per se populistisch, sondern sie wird populistisch verwendet. Auffällig am Sprachgebrauch der AfD ist allerhöchstens eine starke Moralisierung und Deontik. Diese wirkt auf den ersten Blick stärker ausgeprägt als bei anderen Parteien. Ebenfalls überraschend: Fast die gesamte „populistische Erzählung“ geschieht im ersten Kapitel des Wahlprogramms, das den Titel „Verteidigung der Demokratie in Deutschland“ trägt. In den nachfolgenden Kapiteln sind nur noch Anspielungen darauf und Nuancierungen dieser Erzählung zu erkennen. Insgesamt sind die Wahlprogramme weniger ergiebig als erwartet. Alle Parteien haben sichtbar „Kreide gefressen“, bevor sie sie verfasst haben. Man bemüht sich, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Programme eignen sich daher nur eingeschränkt als Untersuchungsgegenstand und eine vergleichbare Untersuchung müsste um Reden, Pressemitteilungen oder Social-Media-Posts erweitert werden. Wahlprogramme sind diskursive Knotenpunkte – ja –, aber sie sind auch Kompromissformeln. Der Versuch, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen, erfordert Vagheit zur Überdeckung der Konflikte. Programme bilden zudem keinesfalls die Breite unterschiedlicher „Sprachen“ einer Partei wirklich ab. Bei der AfD, die von starken Flügelkämpfen und Widersprüchen zwischen Ost- und WestLandesverbänden heimgesucht wird, führt dies unweigerlich dazu, dass die Sprache im Wahlprogramm weder die Handschrift der „moderateren“ noch die der „radikaleren“ Gruppe trägt. Dennoch wird der Populismus der AfD darin deutlich. Nicht weil die AfD „dem Volk aufs Maul schaut und nach dem Mund redet“, sondern weil sie mit stark wertender Beschreibung die Welt ordnet in die „bösen“ Eliten, das „gute“ Volk und sich selbst als „Robin Hood“ dazwischen.
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Rechtsextremismus im neuen Bundestag – Routine oder Randerscheinung? Eine Inhaltsanalyse der Redebeiträge der Fraktionsmitglieder der Alternative für Deutschland (AfD) zu Zeiten der Regierungsbildung Christoph Schiebel
1. Die AfD – auf dem Weg von einer rechtspopulistischen zu einer rechtsextremistischen Partei? Hat rechtsextremistische Kommunikation mit der neuen Legislaturperiode und der Präsenz der AfD im Bundestag Einzug ins Parlament gehalten? Handelt es sich bei Rechtsextremismus mit Blick auf die politische Rhetorik der AfD im Bundestag um eine bloße Randerscheinung? Oder gehören rechtsextremistische Züge und Elemente zur Alltagskommunikation der AfD-Bundestagsfraktion? Ist Rechtsextremismus in offiziellen Äußerungen seitens der AfD daher Routine? Zurzeit findet eine mediale sowie akademische Diskussion darüber statt, ob die AfD noch eine rechtspopulistische Partei sei oder eine Radikalisierung hin zu einer rechtsextremistischen Partei vollzogen habe.1 Offenkundig ist: Strukturell und personell lassen sich bei der AfD Indizien für Rechtsextremismus finden.2 1 Vgl. Kordula Doerfler, AfD - ein Fall für den Verfassungsschutz?, 22.2.2018, http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus-afd-ein-fall-fuer-den-verfassungsschutza-1453197. Eckhard Jesse/Isabelle-Christine Panreck, Populismus und Extremismus, in: Zeitschrift für Politik, 64 (2017) 1, S. 59-76. Zur Einordnungsproblematik findet sich eine Reihe wissenschaftlicher Publikationen, die sich unter anderem mit der AfD auseinandersetzen. Die AfD findet sich zumindest im deutschen Parteienspektrum tendenziell deutlich am rechten Rand. Vgl. Klaus von Beyme, Populismus, Rechtsextremismus und Neo-Nationalismus, Rechtspopulismus, Wiesbaden 2018, S. 93-104. Eine Radikalisierung sei zumindest nicht auszuschließen, wenn die AfD ihre Gratwanderung zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus fortsetzen wolle. 2 Vgl. Kai Biermann/Astrid Geisler/Johannes Radke/Tilmann Steffen, AfD-Abgeordnete beschäftigen Rechtsextreme und Verfassungsfeinde, 21.3.2018, http://www.zei t.de/politik/deutschland/2018-03/afd-bundestag-mitarbeiter-rechtsextreme-identitae re-bewegung., Steffen Kailitz, Politikwissenschaftler: Verfassungsschützer sollten
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Soweit parteipolitische Kommunikation als Indikator für rechtextremistisches Gedankengut bei der AfD dient, sind die Redebeiträge der AfDFraktionsmitglieder seit ihrer Wahl in den Bundestag zu untersuchen.3 Im Folgenden wird eine entsprechende Inhaltsanalyse durchgeführt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der ersten Sitzung der aktuellen Legislaturperiode bis zum Plenarprotokoll vor der Wiederwahl Angela Merkels als Bundeskanzlerin. Analysiert wird, wie sich die Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion in der Phase vor der Regierungsbildung gestaltete. Zum Extremismus generell wie auch zu demjenigen rechter Prägung liegen unterschiedliche Konzepte vor, die allerdings erhebliche Schnittmengen aufweisen.4 Uneinigkeit besteht darüber, welche Bedingungen für das Etikett des Rechtsextremismus erfüllt sein müssen.5 Ziel der Studie ist die Überprüfung der Verdichtung rechtsextremistischer Tendenzen in der Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion. Zu Beginn des Jahres 2017 handelte es sich laut Joel Rosenfelder um eine rechtspopulistische Partei ohne ausgeprägte autoritäre Haltung, wie sie der Rechtsextremismus voraussetze. Rosenfelders inhaltsanalytischer Ansatz vollzieht die Entwicklung der AfD von ihren Anfängen unter Bernd Lucke zu einer dezidiert rechtspopulistischen Partei nach.6 Ist der Befund noch aktuell, oder bedient sich die AfD inzwischen einer rechtsextremistischen Rhetorik? 2. Politischer Extremismus – wie lässt sich das Konzept empirisch überprüfen? Das Forschungskonzept des Beitrags fußt auf einem extremismustheoretischen Ansatz. Die qualitative Inhaltsanalyse erörtert, ob rechtsextremistische Äußerungen im Bundestag seitens der AfD Routine sind oder es sich bei solchen bestenfalls um eine Randerscheinung handelt.
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Teile der AfD beobachten, 24.2.2018, https://www.mdr.de/sachsen/dresden/politk wissenschaftler-plaediert-fuer-beobachtung-von-teilen-der-afd-100.html. Vgl. Christian Bangel, Das Panik-Orchester, 24.9.2017, https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2017-09/wahlkampf-2017-afd-linke-rechtspopulismus-bundestagswahl. Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006. Vgl. Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2010; Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 99-101. Vgl. Joel Rosenfelder, Die Programmatik der AfD: Inwiefern hat sie sich von einer primär euroskeptischen zu einer rechtspopulistischen Partei entwickelt?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 48 (2017) 1, S. 123-140.
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Grundlage der Studie ist ein an Uwe Backes‘ normativer Rahmentheorie orientierter Kriterienkatalog.7 In der Empirie stichhaltig erweist sich die Anreicherung mit Konzepten, wie sie nicht nur von Backes, sondern auch von Eckhard Jesse und Tom Mannewitz vertreten werden.8 Da komplexere Konzepte sich definitorisch vielfach überschneiden, finden sie hier keine Berücksichtigung.9 Die Überlappungen lassen Reduktionen im konzeptuellen Umfang sinnvoll erscheinen.10 Das von Tom Mannewitz angesprochene Streben von Extremisten nach Kohärenz begünstigt ähnlich konzipierte, aneinander angelehnte Strukturmerkmale wie jene von Backes. Zudem führt diese Geschlossenheit von Weltbildern zu deren Symbiose mit der definitio ex negativo und den speziellen Kennzeichen des Rechtsextremismus.11 Die vor der Bildung der neuen Bundesregierung von der AfD-Bundestagsfraktion gehaltenen Redebeiträge werden auf rechtsextremistische Tendenzen hin untersucht. Geprüft werden die Passagen und Sätze darauf, ob sie a) sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat richten, b) durch Merkmale extremistischer Doktrinen geprägt sind und c) rechtsextremistisches Gedankengut beinhalten. Die Methodik folgt den Grundsätzen von Mayrings qualitativer Inhaltsanalyse und der typisierenden Strukturierung. Der Autor versteht die drei Dimensionen zugeordneten Kriterien als selektiv im Material zu suchende Typisierungsdimensionen.12 Die Negativdefinition des politischen Extremismus rekurriert auf die vier Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats. Extremisten stehen diesen Grunderfordernissen feindlich gegenüber.13 Aus den Kontrollmöglichkeiten ergibt sich ein minimalistisches Verständnis des de-
7 Vgl. Backes (Anm. 5). 8 Vgl. Eckhard Jesse/Tom Mannewitz (Hrsg.), Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2018. 9 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 2006, S. 11-19. 10 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2014, S. 18 f. 11 Vgl. Tom Mannewitz, Eine wirklich schöne nagelneue Welt. Kohärenzdominiertes Denken und politischer Extremismus, in: Zeitschrift für Politik, 60 (2013) 1, S. 32-47. 12 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim/Basel 2010, S. 103. 13 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 94-103.
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mokratischen Verfassungsstaats.14 Die Essenz dieser definitio ex negativo formuliert Jesse: „Der demokratische Verfassungsstaat ist Widerpart des politischen Extremismus.“15 Als erster zu nennender Faktor zeigt sich in allen Rechtsextremismen eine Überbetonung der Verschiedenheit sozialer Gruppen und Individuen.16 Zweitens lehnt der Extremismus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ab.17 Drittens sind Extremisten nicht dazu bereit, im Sinne von Toleranz und Offenheit andere Lebensentwürfe und Meinungen zu akzeptieren oder zumindest zu dulden.18 Viertens stehen Extremisten den Verfahrensregeln und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats feindselig gegenüber.19 Seit Erscheinen von Uwe Backes‘ Standardwerk Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten wurde eine Reihe von Modellen zur Erfassung extremistischer Doktrinen veröffentlicht.20 Die Positivdefinition von politischem Extremismus, wie sie sich in Backes‘ Rahmentheorie findet, besticht jedoch durch ihre Klarheit und relativ konsequente Trennlinien zwischen den einzelnen Merkmalen. 3. Ideologische Befunde – wie schlägt sich das extremistische Denken in den Plenarreden nieder? Die sechs wesentlichen Charakteristika extremistischen Denkens sind Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, Utopismus oder kategorischer Utopieverzicht, Feindbilder, Verschwörungstheorien sowie Fanatismus und Aktivismus.21 Extre-
14 Im politikwissenschaftlichen Diskurs wird die Einordnung der Begrifflichkeiten im Spannungsfeld des Extremismus und des demokratischen Verfassungsstaats kontrovers behandelt. Vgl. Birgit Enzmann, Demokratischer Verfassungsstaat als Widerpart des Extremismus, in: Jesse/Mannewitz (Anm. 8), S. 59-97; Eckhard Jesse, Grundlagen, in: Ebd., S. 23-58. 15 Vgl. Eckhard Jesse, Parteiförmiger Extremismus in Deutschland, in: Stefan Schieren (Hrsg.), Populismus – Extremismus – Terrorismus, Schwalbach 2014, S. 37. 16 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 97-99. Rechte politische Ideologien und Gruppierungen sind durch einen stärkeren Akzent auf der Ungleichheit als auf der Gleichheit geprägt. Diesbezüglich lässt sich eine Achse bilden, deren Differenz zu den Polen zunimmt. Vgl. Pfahl-Traughber (Anm. 10), S. 21 f., Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994. 17 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 99-101. 18 Vgl. ebd., S. 101 f. 19 Vgl. ebd., S. 102 f. 20 Vgl. Backes (Anm. 5), Mannewitz (Anm. 11), S. 32-47. 21 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 298-311.
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mistische Doktrinen leben von Absolutheitsansprüchen, insbesondere offensiven Charakters. Die Übersteigerung des eigenen Standpunkts als uneingeschränkt zutreffend ist zentral für den Duktus offensiver Absolutheitsansprüche. Der Zweck dieser Deutungsmuster ist eine dichotome Darstellung von Wahrheit und Unwahrheit. „Das Hauptkennzeichen aller extremistischen Doktrinen“ sind, so Backes, offensive und defensive Absolutheitsansprüche.22 Dieses „Hauptkennzeichen“ besteht für die Analyse in offensiven Absolutheitsansprüchen, die sich niederschlagen in bestimmten Kernaussagen über die Welt, von denen behauptet wird, sie gründeten auf „rationalen“ Einsichten oder „objektiven“ Erkenntnissen hinsichtlich der „Natur der Dinge“, d. h., sie seien „absolut wahr“23. So nehmen Extremisten für sich in Anspruch, die einzig zulässige Meinung zu vertreten, was in eine Ablehnung des Pluralismus mündet. Von Absolutheitsansprüchen ist auszugehen, wenn die AfD-Bundestagsfraktion in ihrer Kommunikation Gewissheit impliziert und dichotom im Sinne des Gegensatzpaares von Wahrheit und Unwahrheit argumentiert. In einer Passage nimmt der AfD-Bundestagsabgeordnete Harald Weyel an: „Wir wissen aber, dass man sich in Europa in vielen Bereichen an eine 100prozentige Rechtsfreiheit, an einen 100-prozentigen Rechtsbruch gewöhnt hat.“24 Weyel bezieht sich auf die Steuergerechtigkeitsdebatte in der Europäischen Union (EU) und die Schuldenkrise im Euroraum. Er hebt jedoch diese Begrenzung auf, indem er sie auf die gesamte EU erweitert. So rückt Weyel die EU in die Nähe eines Unrechtsstaats, denn er bezeichnet die EU als das Gegenteil eines Rechtsstaats. Weyel folgert, die EU könne keine Rechtssicherheit gewährleisten, vielmehr werde in der EU konsequent Recht gebrochen. Indirekt setzt der AfD-Bundestagsabgeordnete Norbert Kleinwächter die EU-Kommission mit einer autokratischen Institution gleich, wenn er deren demokratische Legitimität vollständig negiert: „Mit dieser Kommission, meine Damen und Herren, ist der demokratische Wert der EU auf den Nullpunkt gesunken“.25 In der Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion werden die Ablehnung der EU und die Verneinung ihrer Legitimationsgrundlagen deutlich. Des Weiteren spricht die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst von „Gleichstellungstotalitarismus“26, d.h. einem sich auf die Gleichstellungspolitik beziehenden totalitären Zustand, der mit den Mitteln des de22 23 24 25 26
Vgl. ebd., S. 298. Ebd. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 21.11.2017, S. 98. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18.1.2018, S. 542. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 1.3.2018, S. 1386.
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mokratischen Verfassungsstaats, wie ihn die Bundesrepublik Deutschland verkörpert, nicht erklärt werden könne. Höchst bezeichnet Gleichstellungsmaßnahmen situativ als äquivalent mit der Politik eines totalitären Regimes. Die Bundestagsabgeordnete polarisiert, indem sie einen Antagonismus zwischen ihrer Position, die demokratisch sei, und anderen Sichtweisen herstellt. Vor diesem Hintergrund achtet Höchst die Spielregeln des Pluralismus ihrerseits nicht. Als dogmatisch bewertet Backes ein auf „axiomatischen Setzungen“ basierendes System. Beim Dogmatismus konterkariert deren Wertvermittlung den Erkenntnisprozess. Die Dogmen werden von der Empirie gelöst und werden so zu „Leerformeln“. Die Folge dieser Dogmen können sowohl dogmatische Rigidität im Sinne des Verharrens als auch Flexibilität sein, die in Anpassungsstrategien resultierten.27 Deswegen spricht Isabelle Canu von als unanfechtbar geltenden Argumenten.28 Die übergeordneten Doktrinen können sich ebenso flexibel an die Wirklichkeit anpassen.29 Wie im Falle des Dogmatismus können Utopien für die extremistischen Doktrinen zwei Rollen spielen. Der politische Extremismus entscheidet sich entweder für Utopismus oder kategorischen Utopieverzicht. Der Utopismus verspricht einen geschichtsphilosophischen Idealzustand. Dieses Merkmal geht von einem positiv zu bewertenden Endzustand der Geschichte aus und zeigt sich in einem hohen Anspruch auf Welterklärung und finale Problemlösung.30 Kategorischer Utopieverzicht meint das Zusteuern auf Chaos, Unruhe und Unfrieden im Rahmen einer Dystopie, also dauerhaften katastrophalen Zuständen. Probleme werden als unlösbar geschildert.31 Der kategorische Utopieverzicht schließt utopische Modelle komplett aus und spricht von der Dauerhaftigkeit chaotischer Zustände.32 Utopismus ist in den Redebeiträgen der AfD im Bundestag nicht vorhanden, während kategorischer Utopieverzicht in zahlreichen Gegenwartsszenarien auftritt, wie sie sich im verschwörungstheoretischen Kontext und bei Absolutheitsansprüchen finden. Freund-Feind-Stereotype stehen in enger Verbindung mit der ersten und dritten Dimension. Die Rechtsextremismusmerkmale füllen die Feind-
27 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 301 f. 28 Vgl. Isabelle Canu, Der Schutz der Demokratie in Deutschland und Frankreich. Ein Vergleich des Umgangs mit politischem Extremismus vor dem Hintergrund der europäischen Integration, Wiesbaden 1997, S. 28. 29 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 302. 30 Vgl. Canu (Anm. 28), S. 28. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 302-305.
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schaften mit Inhalt und richten sie gegen bestimmte soziale Gruppen.33 Fabian Fischer bewertet Feindbilder als Abwehrideologien, die Wirklichkeit antagonistisch konstruierten. Demnach fördern Freundbilder ein positives kollektives Selbstverständnis, während Feindbilder ein entsprechend negatives Fremdbild pflegten.34 Deswegen stellen nach Armin PfahlTraughber Freund-Feind-Stereotype eine dualistische Perspektive dar, die rigoros zwischen Gut und Böse differenziert.35 Verschwörungstheorien sind vereinfachte Darstellungen komplizierter Sachverhalte, durch die das Freund-Feind-Denken und die axiomatischen Setzungen gerechtfertigt werden. Zugleich resultieren Verschwörungstheorien aus diesen Simplifizierungen. Dabei wird Individuen und sozialen Gruppen von der offensichtlichen Faktenlage abweichend die Schuld für Fehlentwicklungen, Katastrophen, Skandale oder Verbrechen gegeben.36 Wenn nach einschneidenden Ereignissen „offene Fragen“ bleiben, kommen vielfach Verschwörungstheorien auf. Extremisten spekulieren über Verantwortliche und benennen diese, um dem politischen System und den darin getroffenen Entscheidungen die Legitimität abzusprechen.37 Nach Christoph Kopke lassen sich die Verschwörungstheorien der AfD in vier Themenkomplexe gliedern: 1) die Verschwörung der „Eliten“ und der „Altparteien“ gegen das „Volk“; 2) die Bedrohung durch eine „Islamisierung“; 3) der bevölkerungspolitische Niedergang der Gesellschaft durch „Genderwahn“ und „Frühsexualisierung“ sowie damit zusammengehend; 4) die Angst vor dem biologischen Aussterben des deutschen „Volkes“, das durch Schlagwörter wie „Volkstod“ oder „Umvolkung“ oder die Formulierung „der große Austausch“ umschrieben wird.38
33 Vgl. ebd., S. 305 f. 34 Vgl. Fabian Fischer, Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus, Baden-Baden 2018. 35 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Gemeinsamkeiten im Denken der Feinde einer offenen Gesellschaft. Strukturmerkmale extremistischer Ideologien, in: ders. (Hrsg.) Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 9-23, hier: S. 10. 36 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 306-309. 37 Viola Neu/Sabine Pokorny, Extremistische Einstellungen und empirische Befunde, in: Jesse/Mannewitz (Anm. 8), S. 161-203, hier: S. 175. 38 Vgl. Christoph Kopke, Verschwörungsmythen und Feindbilder in der AfD und in der neuen Protestbewegung von rechts, in: Neue Kriminalpolitik, 29 (2017) 1, S. 49-61, hier: S. 53.
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Die AfD greift alle vier Themenkomplexe in ihrer Kommunikation im Bundestag auf.39 So unternähmen die anderen Parteien und die Bundesregierung Schritte zum Nachteil des deutschen Volkes, etwa die Abschaffung Deutschlands. Entsprechend heißt es in einem Redebeitrag Kleinwächters: „Was für ein Lippenbekenntnis! Tatsächlich ist Junckers Arbeitsprogramm pure und reine Gigantomanie und die Fahrkarte in eine kontinentale Diktatur.“40 EU-Kritik ist eine in der AfD-Fraktion beliebte Form der Elitenkritik, die nach wie vor zum Markenkern der Partei gehört.41 Ferner geht der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner davon aus, dass die Regierung Merkel die Demokratie gefährde, indem sie Demonstranten zur Gewalt und Politiker zu kriminellem Handeln ermutige. So meint Brandner: „Aber nicht nur diese in ihrer demokratischen Entwicklung zurückgebliebenen Merkel-Sozialisanten, meine Damen und Herren, wurden kriminell.“42 Die AfD übt Kritik an einem familienpolitischen Vorgang, der nach ihrer Interpretation zum „Niedergang“ des deutschen „Volkes“ führe: „Es drängt sich der Verdacht auf, meine Damen und Herren, dass das Elterngeld Plus in Wirklichkeit gar nicht für die Familien gedacht ist, sondern dass es eher eine Maßnahme im Rahmen des Social Engineering ist.“43 Die AfD-Fraktion begibt sich auf verschwörungstheoretisches Terrain. Diesbezüglich verbinden sich zwei Verschwörungstheorien zu einem Argumentationsmuster, das Rekurs auf den dritten und vierten Themenkomplex nimmt. An dieser Stelle wird klar, dass die Trennung in vier Themenkomplexe nicht vor Überschneidungen gefeit ist und Argumentations- und Deutungsmuster mehrdeutig analysiert werden können. Überdies ist vom „Aussterben“ des deutschen Volkes die Rede.44 Ferner übt die AfD mithilfe einer Verschwörungstheorie Medien- und Elitenkritik. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer Demonstration, die unter Beteiligung der AfD für Frauenrechte und gegen Gewalt gegen Frauen organisiert wird. So seien die Medien tendenziell unter Kontrolle
39 Die islamfeindlichen Verschwörungstheorien überschneiden sich mit anderen Themenkomplexen und werden als Rechtsextremismusmerkmal in der Unterkategorie der Islamfeindlichkeit behandelt. 40 Deutscher Bundestag (Anm. 25), S. 541. 41 Vgl. Charlotte Galpin/Hans-Jörg Trenz, Die Euroskeptizismus-Spirale, EU-Berichterstattung und Medien-Negativität, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 43 (2018) 1, S. 147-172. 42 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 21.2.2018, S. 1050. 43 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 23.2.2018, S. 1241. 44 Vgl. ebd.
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der SPD: „Ich meine jetzt nicht die CDU oder die CSU. Ich meine die SPD. Die steuert natürlich dieses ganze Medienimperium in Deutschland.“45 Einher geht diese Argumentation mit Misstrauen gegenüber der politischen Elite. Deshalb machen Verschwörungstheorien bei der AfD in Form von Elitenkritik und geheimen Plänen der politischen Führungsgruppen mehr aus, als Kopke mit seinen vier Themenkomplexen impliziert. Schließlich übt die AfD Fundamentalkritik am politischen System, insbesondere der EU, und den von den politisch Verantwortlichen getroffenen Entscheidungen. Verschwörungstheorien dienen der AfD-Bundestagsfraktion dazu, den politischen Gegner und die demokratischen Institutionen, Normen und Verfahrensregeln zu delegitimieren. Fanatismus und Aktivismus sind mittels der qualitativen Inhaltsanalyse in der Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion nicht zu erfassen. Dieses Fehlen von Fanatismus und Aktivismus offenbart die von Tom Mannewitz und Armin Pfahl-Traughber geübte Kritik an den Merkmalen extremistischer Doktrinen.46 Zugleich relativiert das Untersuchungsergebnis den Extremismus als Größe in der Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion.47 4. Rechtextremistisches Gedankengut – Wie weit rechts steht die AfDBundestagsfraktion? Konkrete Bezüge der AfD-Bundestagsfraktion zum Faschismus oder zum Nationalsozialismus beziehungsweise neofaschistische und -nazistische Züge48 lassen sich nicht finden. Tendenzen in diese ideologische Richtung speisen sich aus verwandten Nährströmen. Das Etikett der Neuen Rechten, mit ihren ethnozentristischen, islamfeindlichen sowie extremistischen Tendenzen, trifft auf die AfD-Bundestagsfraktion zu.49 Gleichwohl ist es die Dehnbarkeit dieses Begriffs, die eines Aufdröselns der Merkmale und eine Differenzierung nach Intensität bedarf. Außerdem stellen Nationalismus, Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus, Antikommunismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Rassismus bedeutende Kennzeichen des Rechtsextremismus 45 46 47 48
Deutscher Bundestag (Anm. 42), S. 1050. Vgl. Mannewitz (Anm. 11), S. 32-47; Pfahl-Traughber (Anm. 35), S. 9-32. Vgl. Backes (Anm. 5), S. 309-311. Vgl. ders., Extremistische Ideologien, in: Jesse/Mannewitz (Anm. 8), S. 99-159, hier: S. 116-119. 49 Vgl. ebd., S. 120-122.
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dar. Alle Charakteristika weisen Wechselbeziehungen auf, was ihre Merkmalsstrukturen illustrieren. Der Nationalismus schlägt sich in einer Überhöhung des Eigenen und einer Feindschaft gegenüber dem Fremden nieder. Dabei gilt die Nation als „Selbstzweck“; sie steht über dem demokratischen Verfassungsstaat sowie im Zentrum der sozialen und politischen Identität. Die Nation wird als naturgewollt und mit einem Organismus vergleichbar beschrieben. Ziele des Nationalismus sind das Erreichen „nationaler Einheit und Größe“. Die Nation wird als historisch-politisch-kulturelles Zusammengehörigkeitsbewusstsein definiert. Vor diesem Hintergrund spielt der Nationalismus mit ethnischen Assoziationen. Weitere mit der Nation zusammenhängende Komponenten sind der Ethnozentrismus, der Sozialdarwinismus und der Rassismus. Nationalismus selbst war in den Redebeiträgen der AfDBundestagsfraktion nicht zu kodieren. Die Definition für Nationalismus erwies sich wegen ihrer Komplexität als schwer greifbar.50 Ethnozentrismus ist die Überhöhung der eigenen konstruierten Gruppe als Identifikationsmaßstab, wobei diese im Mittelpunkt der eigenen Identität steht. Ein solches Selbstbild bringt zwangsläufig die Abwertung anderer Gruppen mit sich und kann nicht nur kulturalistisch, sondern auch biologistisch motiviert sein.51 Gottfried Curio bedient sich in einem Redebeitrag dreimal einer ethnozentrischen Verschwörungstheorie. So erklärt er an einer Stelle: Eine aktivierende Familienpolitik, wie von uns gefordert, wäre vorrangig, statt das eigene Volk auszutauschen. Das heißt: Milliarden für unsere Familien statt für Alimentation und Integration erst nicht bleibeberechtigter oder jetzt nicht vermittelbarer Migranten.52 Curio behauptet, die aktuelle Politik benachteilige die deutsche „Ethnie“ und verfolge das Ziel, das deutsche „Volk“ auszutauschen. Entsprechend sei eine Verschwörung gegen die nach Curio zu priorisierende deutsche „Ethnie“ im Gange. Diese Argumentation verbindet eine Verschwörungstheorie mit Ethnozentrismus. Ferner liegt ein Verstoß gegen alle vier Säulen der Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats vor. Das gleiche ideologische, extremistische und argumentative Muster liegt vor, wenn Curio etwas später im Redeverlauf von „UN-Ideologen, die mittels welt-
50 Vgl. Backes (Anm. 5), S. 201-228. 51 Vgl. ebd., 211-216. 52 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 22.11.2017, S. 173.
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weiter Massenmigration gewachsene Nationalstaaten auflösen wollen“53, spricht. Die folgende Äußerung Curios setzt diesen Argumentationsstrang fort: Und wenn es ein Arbeitsplatzangebot gibt, soll es keine Vorrangprüfung mehr geben, aus Effizienzgründen. Ob deutsche oder EU-Bürger das machen könnten, egal. Eine unfassbare Unsolidarität gegenüber den eigenen Leuten! Hauptsache, die UN-Replacement-Migration kommt voran, effizient voran.“54 Den Sozialdarwinismus charakterisiert eine Begründung der kulturellen Spezifika mit durch die Evolutionstheorie pseudowissenschaftlich hergeleiteten rassistischen Analogien der Menschheit. Damit wollen Sozialdarwinisten biologistisch kulturelle und soziale Unterschiede rechtfertigen und schließlich eine Ungleichwertigkeit der Menschen folgern.55 Eine solche Anspielung auf Überlebenskämpfe findet sich bei dem AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Reichardt in Verbindung mit einem kategorischen Utopieverzicht: „Wir bedauern das Aussterben der Deutschen durch die kinder- und familienfeindliche Politik der jetzigen Bundesregierung.“56 Die Regierungspolitik gefährdet nach Lesart der AfD das Überleben der Deutschen. Ohne Konkretisierung und Veranschaulichung wird in dieser Passage auf Topoi in der Rhetorik eines Björn Höcke angespielt. Höcke gilt als Vertreter des rechten Flügels der AfD.57 Unter Antikommunismus wird die Huldigung des Kommunismus als Feindbild verstanden. So wird die kommunistische Ideologie instrumentalisiert und „dämonisiert“, wobei es sich um eine irrationale Herangehensweise handelt.58 Entsprechend richtet der AfD-Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla den Vorwurf der Planwirtschaft an die Bundesregierung, wenn diese mit einem Zentralkomitee in kommunistischen Staaten gleichgesetzt wird, das volkswirtschaftliche Vorgaben macht: „Mit gesunden Hei53 54 55 56 57
Vgl. ebd. Ebd., S. 174. Vgl. Backes (Anm. 5), S. 207. Deutscher Bundestag (Anm. 39), S. 1241. Vgl. Hubert Kleinert, Die AfD und ihre Mitglieder, Wiesbaden 2018, S. 5-15. Für einen Einzelnachweis vgl. Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode. 34. Plenarsitzung, S. 61. 58 Vgl. Eckhard Jesse, Feindbildkonstruktionen als Grundfunktion des politischen Extremismus, in: Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Hrsg.), Hass als politisches Programm, Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Landesbehörden für Verfassungsschutz Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Berlin 2014, S. 12-38.
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matmärkten hätten wir das Problem nicht; aber die Vorgabe des Zentralkomitees in Berlin war nun einmal die totale Abkehr von fossilen Brennstoffen. Und jetzt haben wir das Nachsehen.“59 So bestreitet Chrupalla die Funktion von Regulierung in einer sozialen Marktwirtschaft, wenn er das Vorgehen einer demokratisch gewählten Regierung mit demjenigen von Autokratien auf eine Ebene stellt. Ähnlich verhält es sich mit der antikommunistischen Verschwörungstheorie, die sich in einer Äußerung des AfDBundestagsabgeordneten Rainer Kraft materialisiert, in der er Bündnis 90/Die Grünen ohne jeden Beweis planwirtschaftlicher Ambitionen bezichtigt: „Sie wollen die Gesellschaft in unserem Land transformieren. Ihr Ziel ist eine öko-sozialistische Planwirtschaft, und der sogenannte Klimaschutz ist Ihr Werkzeug.“60 Vielmehr bringt Kraft klimaschutzpolitische Maßnahmen mit Zentralverwaltungswirtschaft in Verbindung. Kraft geht von sozialistischen Modellen aus, die gegen den demokratischen Verfassungsstaat wirken. Staatlicher Interventionismus ist jedoch in einer sozialen Marktwirtschaft möglich. So handelt es sich bei dieser Kritik der AfD um einen weiteren Fall von Antikommunismus, der wirtschafts- und ordnungspolitische Schritte mit kommunistisch-totalitären Strategien gleichsetzt. Von Antikommunismus zeugt auch das Ziehen von Parallelen zwischen den politischen Vorstellungen der Partei DIE LINKE und Totalitarismen aus der Vergangenheit. Diesbezüglich nennt der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert die Namen von vier Autokraten: „Sie haben anscheinend nichts aus der Geschichte gelernt; denn Sie vertreten hier dieselbe wirtschaftspolitische Ideologie wie Hitler, Stalin, Mao oder Honecker.“61 Da sich die AfD selbst solcher Analogien anhand empirischer Befunde zu extremistischen Einstellungen der eigenen Parteimitglieder verwehrt, erscheint die Kritik im Stil eines irrationalen Antikommunismus. Wäre die AfD zu mehr historischer Reflexion bereit, hätte ihr Antikommunismus nicht den Verlust politischer Ausgewogenheit zur Folge.62 Sichert sieht Deutschland auf sozialistische Verhältnisse zusteuern, wenn sich die Pläne anderer im Bundestag vertretener Parteien für sozialen Wohnungsbau durchsetzen: Halten Sie uns eigentlich für so dumm,
59 60 61 62
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Vgl. Deutscher Bundestag (Anm. 23), S. 85. Deutscher Bundestag (Anm. 24), S. 577. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19.1.2018, S. 655. Vgl. Kleinert (Anm. 57), S. 5-15.
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(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ja! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist eine Beleidigung der Kommunen, die staatlichen Wohnungsbau betreiben!) dass wir nicht erkennen, dass das Ende Ihrer Vision ein Deutschland im Jahre 1989 ist, und zwar in der DDR? Einzelne staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft werden mit der Transformation des politischen Systems gleichgesetzt. Mit Argumenten kaum zu verteidigen ist ebenso der Antiamerikanismus, womit nicht Kritik an der konkreten Politik der USA gemeint ist. Antiamerikanismus verallgemeinert vielmehr einzelne Gesichtspunkte der US-Politik und kommt zu dem Schluss, dass die amerikanische politische Kultur grundlegend verschieden von der europäischen sei.63 Antiamerikanismus zeigt sich in den analysierten Reden der Af-D-Fraktion nicht. Islamfeindlichkeit richtet sich in der Definition Armin Pfahl-Traughbers undifferenziert und allgemein gegen den Islam als Religion.64 Laut Wolfgang Benz folgt Islamfeindlichkeit vielfach den gleichen Prämissen wie Antisemitismus. Das Muster erinnert an die Kollektivtypzuschreibung auf Individuen und die damit einhergehende Abwertung von Menschengruppen im Sinne des Rassismus. Auch wenn Parallelen zum kulturalistischen Rassismus existieren, handelt es sich zumindest vordergründig um religiös motivierte Feindschaft.65 Eine solche Feindschaft dem Islam gegenüber zeigt sich in der Vorstellung, Europa werde islamisiert: „Dies ist eine dramatische Entwicklung; denn im Zuge der fortschreitenden Islamisierung Europas werden Frauen bereits seit Jahrzehnten schleichend und politisch übrigens überwiegend unwidersprochen sowie konsequenzlos ihrer Grundrechte beraubt.“66 An dieser Stelle wird eine Unvereinbarkeit einer Religionsgemeinschaft, d.h. des Islams, mit den Werten Europas insinuiert. Die Kollektivzuschreibung eines Gefahrenpotenzials findet statt, wenn dem Islam pauschal ein Antagonismus gegenüber der europäischen Demokratie und Grundrechten attestiert wird. Der Islam befindet sich nach Ni-
63 Vgl. Jesse (Anm. 58), S. 13. 64 Armin Pfahl-Traughber, Extremismus und Terrorismus. Eine Definition aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2008, Brühl 208, S. 9-33; ders., Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Antisemitismus und „Islamophobie“. Eine Erörterung zum Vergleich und ein Plädoyer für das „Antimuslimismus“-Konzept, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 604-628. 65 Vgl. Wolfgang Benz, Antisemitismus und „Islamkritik“. Bilanz und Perspektive, Berlin 2011. 66 Deutscher Bundestag (Anm. 24), S. 585.
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cole Höchsts Überzeugung in genereller Feindschaft mit dem demokratischen Verfassungsstaat: „Sie werden in die Geschichte eingehen als die Frauen und die Frauenrechtlerinnen, die uns einer zutiefst totalitären Ideologie, dem Islam, ausliefern, und zwar unter dem Deckmäntelchen der Toleranz.“ Die AfD müsste demnach den Islam im Allgemeinen ablehnen, was durch die Religionsfreiheit und damit dem demokratischen Verfassungsstaat mit seiner Toleranz und Offenheit nicht gedeckt ist. Zudem bedient sich Höchst im Folgenden des kategorischen Utopieverzichts: Sie liefern uns aus der Geschlechtertrennung und der systematischen, strukturell in dieser sogenannten Religion angelegten Benachteiligung von Frauen. Sie hinterlassen unseren Töchtern und Enkelinnen einen islamisierten Bundesstaat Deutschland in einem zentral regierten islamischen Europa.67 Entsprechend ist von der Aufgabe des demokratischen Verfassungsstaats und einer Auflösung Deutschlands im Zuge einer Islamisierung die Rede. Zeigten die analysierten Reden keinen Antisemitismus, waren islamfeindliche Tendenzen offensichtlich. Unter Rassismus wird eine biologistische Unterscheidung zwischen Menschengruppen verstanden,68 die die eigene konstruierte „Rasse“ zum Hauptkriterium für Identität und politisches Handeln erklärt.69 Biologismus bezeichnet einen pseudowissenschaftlichen und übersteigerten Naturalismus, Rassismus hingegen begreift zudem die „Rassegemeinschaft“ als „Volksgemeinschaft“ und huldigt einen darum entwickelten Reinheitskult.70 Patzelt zufolge kennzeichnet den Rassismus das Vorgehen, „einen Mitmenschen nicht als einzigartig und nach dessen selbstverantwortetem Handeln zu beurteilen“, da er als Angehöriger eines Kollektivtyps betrachtet werde. Das imaginäre Gebilde der „Rassen“ hindere Rassisten, wie Patzelt erläutert, nicht daran, an eine Höher- und Minderwertigkeit von Menschen zu glauben. Das Sekundärmerkmal des Rassismus besteht in der Abwertung von Menschengruppen.71 Der traditionelle Rassismus kann daran erkannt werden, dass auf den kollektiven Typ eines Individuums nach dessen angeborenem Aussehen geschlossen wird.72 Biologistischer Rassismus
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Deutscher Bundestag (Anm. 26), S. 1387. Vgl. Backes (Anm. 5), S. 206 f. Vgl. Armin Pfahl-Traughber (Anm. 9), S. 15. Vgl. Backes (Anm. 5), S. 206 f. Vgl. Werner J. Patzelt, Rassismus, in: Werner J. Patzelt/Joachim Klose (Hrsg.), PEGIDA: Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016, S. 654-657. 72 Vgl. ebd., S. 655.
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zeigt sich in dem durch Axel Gehrke abgewandelten Spruch: „Aber der Farbige hat seine Schuldigkeit getan; der Farbige kann gehen.“73 An dieser Stelle wird ein Sekundärmerkmal gewählt, um sich mit einer scheinbar politisch korrekten Aktualisierung des rassistischen Ausdrucks „Mohr“ über politische Korrektheit zu mokieren und rassistische Stereotype zu aktualisieren. In folgender Äußerung des AfD-Bundestagsabgehordneten Alexander Gauland wird eine Dichotomie zwischen im Ausland stationierten Bundeswehrsoldaten und in Deutschland offenbar untätigen afghanischen Flüchtlingen konstruiert: Und jetzt, verehrte Bundesregierung und Frau Verteidigungsministerin, wollen Sie erneut deutsche Soldaten zur Staatenrettung nach Afghanistan schicken, während afghanische Flüchtlinge auf dem Ku’damm Kaffee trinken, anstatt beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen.74 Gauland stellt einen Kontrast zwischen nicht in die Rettung ihres Herkunftslandes involvierten Flüchtlingen und nicht in Deutschland weilenden Soldaten her, die den eigentlichen Zweck der Mission, d.h. die Terrorismusbekämpfung nicht erfüllen könnten, weil sie einem aussichtlosen Nation-Building-Auftrag nachgingen. Entsprechend findet eine Abwertung einer sozialen Gruppe als untätig statt, während die eigene „Ethnie“ als aufopferungsbereit dargestellt wird. Rassistische Denkmuster werden überdeutlich. Ein anderes Beispiel für Rassismus findet sich bei Gottfried Curio, der den Familiennachzug kritisiert: Aber die Aufenthaltserlaubnis nach Punktesystem, wie im SPD-Entwurf gestaltet, ist nichts anderes als die Pervertierung dieser Idee. Dabei geht es etwa um Integrationsaspekte. Positiv zählt, wenn jemand eine Beziehung zu Deutschland hat. Etwa: Die Verwandtschaft ist schon hier. – Mit anderen Worten: Das wird ein Familiennachzugsprogramm für unsere hiesigen Parallelgesellschaften, (Beifall bei der AfD) ein Aufbauprogramm für Clanbildung, komplett antiintegrativ.75 Folglich stellt Curio einen pauschalen Zusammenhang zwischen dem Familiennachzug von Flüchtlingen und Clanstrukturen in Deutschland her,
73 Deutscher Bundestag (Anm. 25), S. 519. 74 Deutscher Bundestag (Anm. 24), S. 63. 75 Deutscher Bundestag (Anm. 52), S. 174.
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indem er argumentiert, dass erstgenannter vor allem zur Bildung letztgenannter verwendet würde. Curio bedient sich des Stereotyps, dass sich Flüchtlinge aus anderen Kulturen primär in Clans organisieren, und setzt diese mit kriminellen Verhältnissen gleich. Darüber hinaus zeichnet sich für Curio in naher Zukunft eine Hegemonie von seiner Überzeugung nach minderwertigen Männern aus anderen Kulturkreisen ab, „[w]enn jetzt wegen verfehlter Zuwanderungspolitik unsere Frauen bald einer Mehrheit von jungen Männern aus archaischen, frauenfeindlichen Gesellschaften gegenüberstehen:“76 Aus der Ablehnung von sozialen Gruppen ergibt sich eine feindselige Einstellung der AfD dem demokratischen Verfassungsstaat gegenüber, wenn die Implikationen für das Menschen- und Gesellschaftsbild berücksichtigt werden. Eine Reihe von Denkmustern und Ideen, die in einer offensiven Abwertung der politischen Spielregeln gipfelt, richtet sich gegen Gleichheitsgrundsätze, den Solidaritätsgedanken und Grundwerte wie Toleranz und Offenheit. 5. Routine oder Randerscheinung? Verschiebungen hin zur Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaats sind ebenso wie extremistische Ideologiefragmente und Charakteristika des Rechtsextremismus in den analysierten Reden der AfD-Fraktion im Bundestag unübersehbar. Außerdem offenbaren sich verschwörungstheoretische Argumentationsmuster. Nicht alle Kategorien des Rechtsextremismus sind jedoch in der Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion abgebildet. Da eine rechtsextremistische Tendenz in den Reden festgestellt wurde, sollte das Sujet weiterhin im Blick der empirischen Extremismusforschung bleiben. Darüber hinaus wäre ein Vergleich mit anderen als rechtspopulistisch beziehungsweise rechtsextremistisch geltenden Parteien sinnvoll, um die Befunde der qualitativen Inhaltsanalyse ins Verhältnis zu stellen. Es verdichten sich die Hinweise, dass die AfD auf dem Weg zu einer rechtsextremistischen Partei ist. Bei den rechtsextremistischen Elementen in der Bundestagskommunikation der AfD handelt es sich qualitativ, nicht aber quantitativ, um mehr als eine Randerscheinung, spielt Rechtsextremismus doch eine wesentliche Rolle in der Kommunikation einzelner AfDAbgeordneter. Bis zu einem gewissen Grad ist rechtsextremistische Rheto76 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 22.2.2018, S. 1112.
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rik also charakteristisch für die AfD-Bundestagsfraktion, deren Auftreten einen bedeutenden Beitrag zur Außendarstellung der Partei leistet. Die Kommunikation der AfD-Bundestagsfraktion steht nur teilweise auf dem Boden des demokratischen Verfassungsstaats. So lassen sich diesem gegenüber feindselige, d.h. rechtsextremistische Haltungen erkennen. Die Streuung der rechtsextremistischen Elemente offenbart Routine, nicht aber die Dominanz einer rechtsextremistischen Ideologie.
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Politische Agitation, juvenile Rebellion oder rechtsextreme Erlebniswelt? 40 Jahre Rechtsrock in Deutschland Maximilian Kreter
1. Rechtsrock: Politische Agitation, juvenile Rebellion oder rechtsextreme Erlebniswelt? 15. Juli 2017: Eine Bühne auf einer Wiese am Ortsrand von Themar (Thüringen), sieben Bands, elf Redner, 6000 Besucher und ein Verantwortlicher: Tommy Frenck. 28. Oktober 2017: Das gleiche Bild, der gleiche Ort, acht Bands, fünf Redner, 1100 Besucher, und ein Verantwortlicher: Patrick Schröder.1 20. und 21. April 2018: Ein Gelände rund um das Hotel „Neißeblick“ in Ostritz (Sachsen), zehn Kampfsportveranstaltungen, elf Bands, zehn Redner, 1200 Besucher und ein Verantwortlicher: Thorsten Heise.2 8. und 9. Juni 2018: Erneut Themar, 19 Bands, zwölf Redner, 2200 Besucher und ein Verantwortlicher: Sebastian Schmidtke.3 Dies sind die Eckdaten der vier größten Rechtsrockfestivals, „Rock gegen Überfremdung“, „Rock gegen Links“, „Schild und Schwert“ sowie die „Tage der nationalen Bewegung“, die in den zurückliegenden zwölf Monaten (Juli 2017 bis Juni 2018) stattfanden. Angemeldet wurden (nicht nur) diese vier Großveranstaltungen als politische Kundgebungen. Was die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) seit Jahren beispielsweise mit dem „Thüringentag der nationalen Jugend“, dem „Fest der Völker“
1 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/13661; Thüringer Landtag, Drucksache 6/4613, 6/5293, 6/5304; Veronika Völlinger, Wenn Adolf und Eva kommen, 30.7.2017, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-07/themar-rechtsrock-konz ert-thueringen-neonazis. 2 Vgl. O.A., Ostritz wehrt sich gegen Neonazis – Proteste liefen friedlich, 22.4.2018, www.merkur.de/politik/ostritz-wehrt-sich-gegen-neonazis-proteste-liefen-friedlich-z r-9804363.html. 3 Vgl. O.A., Über 2000 Neonazis beim Rechtsrock-Festival in Themar, 9.6.2018, www.mdr.de/thueringen/sued-thueringen/hildburghausen/themar-rechtsrock-festi val-neonazis-100.html.
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oder dem „Rock für Deutschland“ praktiziert,4 findet nun auch Anklang bei Konzertveranstaltern aus dem neonationalsozialistischen und subkulturellen Spektrum: Die Anmelder nutzen die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), um statt einer kommerziellen Veranstaltung eine politische Kundgebung anzumelden. Dabei wechseln sich (politische) Redner aus der gesamten rechtsextremen Bewegung und Musiker auf der Bühne ab, um dem rechtlichen Charakter einer solchen Kundgebung gerecht werden zu können. Den Organisatoren gelingt es dabei, ein breites Besucherspektrum innerhalb der Bewegung, vom diffus rechts eingestellten, erlebnisorientierten Jugendlichen,5 über Parteikader, Kameradschaftsaktivisten bis zum Autonomen Nationalisten, zu erreichen.6 Nach dem elektoralen und strukturellen Niedergang der NPD7 bemühen sich gut vernetzte Kader wie Thorsten Heise mit Großveranstaltungen vermehrt darum, bestehende Strukturen zu festigen. Ihr Ziel ist es, den harten, verbliebenen Kern der Szene zu binden und neue Anhänger über die Musik zu gewinnen. Sie folgen damit dem Leitgedanken des Gründervaters des Rechtsrock und des rechtsextremen Netzwerks „Blood & Honour“, Ian Stuart Donaldson: „Musik ist das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen. Besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann, kann damit Ideologie transportiert werden.“8 Mit der um die Musik bestehenden (subkulturellen) Szene schaffen sie ein niedrigschwelliges Einstiegs- und Unterhaltungsangebot für Jugendliche wie für Erwachsene, das das vorhandene Mobilisierungsbarrieren überbrücken kann: „Die Übergänge zwischen 4 Vgl. Martin Langebach/Jan Raabe, RechtsRock. Made in Thüringen, Erfurt 2013, S. 65-73. 5 Mit dem Begriff „Jugendliche“ werden Personen von 14 bis 21 Jahren und Personen in der Postadoleszenz im Alter von 22 bis 29 Jahren erfasst. Vgl. Vera King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz: Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften, Wiesbaden 2013, S. 29-33. 6 Vgl. Martin Langebach/Jan Raabe, Zwischen Freizeit, Politik und Partei: RechtsRock, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2016, S. 377-423, hier: S. 377-382 . 7 Vgl. Eckhard Jesse, Die NPD und der gescheiterte Verbotsantrag gegen sie, in: Martin Koschkar/Clara Ruvituso (Hrsg.), Politische Führung im Spiegel regionaler politischer Kultur, Wiesbaden 2018, S. 349-369; Marc Brandstetter, Zu bedeutungslos für ein Verbot. Die Entwicklung der NPD seit 2013, Berlin 2017. 8 Ian Stuart Donaldson, zitiert nach: Thomas Naumann, Rechtsrock im Wandel. Eine Textanalyse von Rechtsrock-Bands, Hamburg 2009, S. 10. Es handelt sich um eine freie, mittlerweile gebräuchliche Übersetzung der folgenden Filmsequenz: Karl-Heinz Käfer, Lieder der Verführung, Mainz 1994, 07:05-07:24 Minuten.
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Politische Agitation, juvenile Rebellion oder rechtsextreme Erlebniswelt?
Rechts-Rock-Szene und dem neonazistischen Spektrum sind fließend – die Musiker verstehen sich als Sprachrohre der ‚Bewegung‘, die wiederum auf die mobilisierende Wirkung der Musik baut.“9 Vor diesem Hintergrund sind folgende Fragen zu beantworten: Erstens: Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten prägten die Entwicklung der Rechtsrockszene in Deutschland im Zeitraum von 1977 bis 2017? Zweitens: Ist der Rechtsrock ein Agitations- und Propagandainstrument, Ausdruck juveniler Rebellion oder Teil einer rechtsextremen Erlebniswelt10, die eine Doppelfunktion zwischen diese beiden Polen erfüllt? 2. Definition und Funktionen des Rechtsrock Der für rechtsextreme Musik verwendete Terminus „Rechtsrock“ fungiert im deutschsprachigen Raum als Oberbegriff für Musik mit rechtsextremen Inhalten beziehungsweise Texten.11 Dieser wurde durch den zu Beginn des Aufstiegs moderner rechtsextremer Musik dominierenden Musikstil des Punk beziehungsweise Oi! sowie die „Ideologie des Rechtsextremismus“12 9 Martin Langebach/Jan Raabe, Rechtsrock und rechter Terror, Erfurt 2012, S. 23. 10 „Der Begriff [‚Erlebniswelt Rechtsextremismus‘] bezeichnet die Gesamtheit aller Formen, mit denen sich Rechtsextremisten gezielt an Jugendliche wenden: die Verbindung aus politischer Agitation, Freizeitaktivität und sonstigen unterhaltenden Mitteln.“ Thomas Pfeiffer, Menschenverachtung mit Unterhaltungswert. Musik, Symbolik, Internet – der Rechtsextremismus als Erlebniswelt, in: Stefan Glaser/Thomas Pfeiffer (Hrsg.), Erlebniswelt Rechtsextremismus, Bonn 2018, S. 44-64, hier: 45. 11 Im anglophonen Sprachraum setzte sich der Terminus „White Power Music“ durch, während auch die Eigenbezeichnung der Szenemitglieder „Rock Against Communism“ (RAC) durchaus noch Verwendung findet. Alternative Bezeichnungen wie „Nazi-Rock“, „Skinhead-Musik“, „Hate-Music“ oder „Viking-Rock“ sind aufgrund terminologischer Schwächen obsolet. Vgl. Kirsten Dyck, Reichsrock. The International Web of White Power and Neo-Nazi Hate Music, New Brunswick 2017, S. 2f.; Ryan Shaffer, From Outcast to Martyr: The Memory of Rudolf Hess in Skinhead Culture, in: Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, 7 (2014) 3 , S. 111-124, hier: S. 115. 12 Richard Stöss, Ideologie und Strategie des Rechtsextremismus, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2001, S. 101-130, hier: S. 102. Da die Ideologie des Rechtsextremismus, vor allem im Rechtsrock, selten als geschlossenes Weltbild, sondern in der Regel als loses Konglomerat einzelner Ideologeme in Verbindung mit subjektiven Lebenswirklichkeiten auftritt, liegt dieser Untersuchung eine alltagsnahe Ideologiedefinition zugrunde: „The common man has a set of emotio-
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geprägt. Die Herausgeber des Standardwerkes „RechtsRock“,13 Dornbusch14 und Raabe, definieren den Begriff folgendermaßen: „Aus musikwissenschaftlicher Sicht handelt es sich beim Rechtsrock um keinen eigenständigen musikalischen Stil. Die rechten politischen Botschaften werden vielmehr zu verschiedensten Stilen der Rock- bzw. Populärmusik vorgetragen […]. Zu Rechtsrock wird die Musik erst durch die politisch extrem rechte Botschaft.“15 Der Rechtsrock als konstitutive, kulturelle Ausdrucksform der rechtsextremen Musikszene wird als eigenständiger Teil der rechtsextremen Bewegung16 begriffen.
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nally charged political beliefs, a critique of alternative proposals, and some modest programs of reform. These beliefs embrace central values and institutions; they are rationalizations of interests (sometimes not his own); and they serve as moral justifications for daily acts and beliefs.” Robert Lane, Political Ideologies. Why the American Common Man Believes What He Does, New York 1962, S. 15f. Diese wird mit einer Definition des Rechtsextremismus verbunden, die den Gegenstandsbereich abgrenzt, aber nicht den Anspruch erhebt ihn vollständig abzubilden, sodass kein ableitbares Merkmal ex ante ausgeschlossen wird: „Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.“ Oliver Decker/Marliese Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Berlin 2010, S. 18. Christian Dornbusch/Jan Raabe (Hrsg.), RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Hamburg 2002. Martin Langebach publizierte ebenfalls unter dem Pseudonym „Christian Dornbusch“. Vgl. Jan Schedler/Alexander Häusler, Autorinnen und Autoren, in: dies. (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, S. 324-328, hier: S. 326. Christian Dornbusch/Jan Raabe, Einleitung, in: dies. (Anm. 13), S. 9-16, hier: S. 9. Die extreme Rechte in ihrer Gesamtheit wird als soziale Bewegung verstanden. Vgl. Thomas Grumke, „Und sie bewegt sich doch“: Rechtsextremismus als soziale Bewegung. Das Analysepotential der Bewegungsforschung zur Interpretation neuerer Entwicklungen, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2008, Band 2, Brühl 2008, S. 95-121. Zur Debatte, ob und aus welchen Gründen es sich (nicht) um eine soziale Bewegung handelt: Vgl. Ralf Wiederer, Die virtuelle Vernetzung des internationalen Rechtsextremismus, Herbolzheim 2007, S. 100-156.
Politische Agitation, juvenile Rebellion oder rechtsextreme Erlebniswelt?
Dabei wird eine soziale Bewegung als ein „auf eine gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen [verstanden], welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“17 Davon abzugrenzen ist der Begriff der Szene. Strukturell ist er für die Rechtsrockszene als subkulturelle Untereinheit der Bewegung zu verstehen18 und inhaltlich-formal als „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln.“19 Da der Rechtsrock sowohl ein kulturelles Medium einer Szene als auch ein zentrales politisches Medium einer sozialen Bewegung ist,20 wird der Begriff der „Bewegungsszene“ verwendet, der die Darstellung von „Alltagshandeln und Politik als Einheit“21 ermöglicht. Die Rechtsrockszene als Bewegungsszene wird folgendermaßen erfasst: „Gemeint sind Szenen, die sich im Kontext sozialer Bewegungen formieren. Die Bewegungsszenen sind Orte an denen Jugendkulturen, Lebensstile und soziale Bewegungen aufeinandertreffen und sich gegenseitig beeinflussen. Bewegungsszenen können unterschiedliche Strömungen beinhalten und Überschneidungen mit anderen Szenen haben. […] Szenen können somit ein Einstiegsangebot für das Engagement in einer Bewegung sein. […] Durch die niedrigschwelligen kulturellen Angebote in den als ‚gateways‘ fungierenden Bewegungssze-
17 Dieter Rucht, Öffentlichkeit als Mobilisierungsfaktor für soziale Bewegungen, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Wiesbaden 1994, S. 337-358, hier: S. 339. 18 Vgl. Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 85, 107f. 19 Ronald Hitzler/Thomas Bucher/Arne Niederbacher, Leben in Szenen: Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 2005, S. 20. 20 Vgl. Ron Eyerman/Andrew Jamison, Music and Social Movements. Mobilizing Traditions in the Twentieth Century, Cambridge 1998, S. 12-14. 21 Haunss (Anm. 18), S. 89.
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nen wird eine Bewegungsnähe etabliert, die für das Individuum in direkter Partizipation münden kann.“22 Die mögliche Partizipation leitet sich aus den Funktionen des Rechtsrock ab, die zwischen einer Innen-23 und einer Außenperspektive differenziert. In dieser Untersuchung wird die Außenperspektive eingenommen. Diese unterteilen sich jeweils in eine ideologische, soziale und ökonomische Funktion: Die Funktionen, die der Rechtsrock für die Szene erfüllt, unterteilen sich in zwei Oberkategorien, wobei zwischen subjektiven und gruppenbezogenen Funktionen unterschieden wird.24 Die subjektiven Funktionen setzen sich aus der sozialen (musikalisches Hörvergnügen, Erleben von Gemeinschaft beziehungsweise unpolitische Selbstbestätigung, dem Aggressionsmanagement), der politisch-ideologischen Funktion (ideologische Bestätigung) und der ökonomischen Funktion zusammen (teilweise Verdienst des Lebensunterhaltes durch sogenannte Bewegungsunternehmer25). Die gruppenbezogenen Funktionen unterteilen sich ebenfalls in politisch-ideologische (niedrigschwelliges Einstiegsangebot, Agitation und
22 Christoph Schulze, Etikettenschwindel, Die Autonomen Nationalisten zwischen Pop und Antimoderne, Baden-Baden 2017, S. 58f. 23 Aus der Innenperspektive der Szene und ihrer Akteure besitzt die angeführte Maxime von Ian Stuart Donaldson, die er hinsichtlich des Anspruchs an die Funktion und Wirkung des Rechtsrock für die Bewegung formulierte, bis heute Gültigkeit. Diese ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. 24 Vgl. Michaela Glaser/Tabea Schlimbach, „Wer in dieser Clique drin ist, der hört einfach diese Musik“. Rechtsextreme Musik, ihre Bedeutung und ihre Funktionen aus der Perspektive jugendlicher rechtsextremer Szeneangehöriger, in: Gabi Elverich/Michaela Glaser/Tabea Schlimbach/Anna Schnitzer, Rechtsextreme Musik. Ihre Funktionen für jugendliche Hörer/innen und Antworten der pädagogischen Praxis, Halle 2009, S. 13-79, hier: S. 30f.; Thorsten Hindrichs, Funktionen von Musik für die extreme Rechte, in: Mobit e.V. (Hrsg.), Hass und Kommerz. RechtsRock in Thüringen, S. 9. 25 „Bewegungsunternehmer“ rekrutieren „sich meist aus langjährigen Angehörigen der Bewegung […], [die] über ein großes Kontaktnetz verfügen und sich im Laufe der Zeit ein charismatisches Image erarbeitet haben. Durch diese Kontakte, ihr (organisatorisches) Wissen und ihre anerkannte Leitungsfunktion sind sie in der Lage, der Bewegung Orientierung und neue Anstöße zu geben. Durch oftmals hohen zeitlichen und auch finanziellen Einsatz sind diese Bewegungsunternehmer stark in die Bewegung integriert und leben für und manchmal auch von der Szene, etwa im Fall von rechtsextremistischen Musikproduzenten und -versendern.“ Thomas Grumke, Die rechtsextremistische Bewegung, in: Roland Roth/ Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt/M. 2008, S. 475-491, hier: S. 482.
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Selbstvergewisserung), ökonomische (Akquise von Finanzmitteln für die politische Arbeit) und soziale Funktionen (Inszenierung von Gruppenkohäsion und dem Generieren von öffentlicher Aufmerksamkeit).26 Tabelle 1: Funktionen des Rechtsrock Außenperspektive Subjektive Funktionen
Gruppenbezogene Funktionen
Soziale Funktion
PolitischIdeologische Funktion
Ökonomische Funktion
Soziale Funktion
Politisch-Ideologische Funktion
Ökonomische Funktion
1. Musikalisches Hörvergnügen 2. Erleben von Gemeinschaft/unpolitische Bestätigung
1.Ideologische Bestätigung
1. Verdienst des Lebensunterhaltes
1. Freizeitgestaltung 2. (Inszenieren von) Gruppenkohäsion 3. Öffentliche Aufmerksamkeit
1. Niedrigschwelliges Einstiegsangebot 2. Agitation und ideologische Bestätigung
1. Akquise von Finanzmitteln für die Bewegung/Szene
Quelle: Eigene Darstellung nach Glaser/Schlimbach (Anm. 24) und Hindrichs (Anm. 24).
Ein solches Funktionsset bietet den verschiedenen Akteuren einen großen Handlungsspielraum für ihre jeweiligen Ziele, es birgt aber auch eine Reihe von Risiken für die Szene und die Bewegung: „Die Balance zwischen Szene- und Bewegungsdynamik ist fragil und führt bisweilen zu einer Selbstreferenzialität innerhalb von Bewegung und Szene. Der Grad, in dem Szenen eigene Dynamiken entwickeln, die in Konkurrenz zu politisch-strategischen Interessen einer sozialen Bewegung treten und somit bewegungsinterne Konflikte befördern, dürfte dabei ansteigen, je stärker die betreffenden Szenen jugendkulturell geprägt sind.“27
26 Vgl. Glaser/Schlimbach (Anm. 24), S. 30-60; Hindrichs (Anm. 24), S. 10-12; Ugo Corte/Bob Edwards, White Power Music and the Mobilization of Racist Social Movements, in: Music and Arts in Action, 1 (2008) 1, S. 4-20, hier: S. 10-17. 27 Schulze (Anm. 22), S. 60.
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3. Methodik und Vorgehensweise Für die Analyse der Entwicklung der Rechtsrockszene wird eine historischsoziologische Rekonstruktion vorgenommen, das heißt, „eine soziologische Aufklärung über die […] Verhältnisse auf dem Wege der Rekonstruktion ihrer historischen Genese. […] Ihre Objekte bilden raumzeitliche spezifizierte soziale und kulturelle Ordnungen […] und das Erkenntnisziel besteht darin, das Singuläre oder das Individuelle dieser sozialen oder kulturellen Ordnung typisierend herauszuarbeiten. Dementsprechend wird methodisch das Verstehen dieser Ordnungen betont […] und der individualisierende Vergleich mit dem Ziel, singuläre Kausalurteile zu bilden.“28 Diese historisch-soziologische Rekonstruktion beinhaltet eine zeitliche und eine analytische Dimension. Die analytische Dimension umfasst die Bands, die Konzerte und den Handel. Dadurch sollen Erkenntnisse über die politisch-ideologische, soziale und ökonomische Funktion und Bedeutung der Musik gewonnen werden. Die zeitliche Dimension beinhaltet die Gliederung in vier Abschnitte, die als Phasen beziehungsweise Generationen bezeichnet werden. Eine Abgrenzung der einzelnen Phasen erfolgt anhand von Schlüsselereignissen, die am Anfang und Ende der jeweiligen Phasen zu finden sind. Sie führten zu nachhaltigen Veränderungen oder Manifestationen von bestimmten Entwicklungen und sind folgendermaßen definiert: „Schlüsselereignisse sind meist gekennzeichnet durch eine extreme Ausprägung von Merkmalen wie Überraschung, Schaden, Reichweite oder Relevanz. […] Sie rufen bei Journalisten, Politikern und der Bevölkerung extreme Orientierungsreaktionen hervor und führen dazu, dass sie nach umfassenden Informationen suchen, mit denen dieses Ereignis gedeutet und eingeordnet wird. […]. Dieser Prozess umfasst die Aktualisierung vergangener ähnlicher Ereignisse, Berichte über deutlich kleinere, aber strukturell ähnliche Ereignisse, die intensive Recherche nach Hintergründen, Verantwortlichkeiten oder Kommentaren, Äußerungen von politischen und gesellschaftlichen Akteuren.“29
28 Rainer Schützeichel, Historische Soziologie, Bielefeld 2004, S. 9, 11. 29 Florian Arendt/Hans-Bernd Brosius/Patricia Hauck, Die Auswirkung des Schlüsselereignisses „Silvesternacht in Köln“ auf die Kriminalitätberichterstattung, in: Publizistik, 62 (2017) 2, S. 135-152, hier: S. 137.
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In einem ersten Schritt werden die Schlüsselereignisse bestimmt, um die Phasen voneinander abzugrenzen (Siehe Tabelle 2). Anschließend erfolgt die Untersuchung der Entwicklungen in den einzelnen Phasen entlang der Kategorien der analytischen Dimension. Die kursorische Rekonstruktion beschränkt sich dabei auf zentrale und für die Entwicklung der Szene bedeutsame Ereignisse. Auf detaillierte Darstellungen der Genese und ausführliche Fallbeispiele wird bewusst verzichtet. Der letzte Schritt umfasst die Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Phasen im Gesamtkontext der Entwicklung, um die (Dis)Kontinuitäten in der Entwicklung zu identifizieren und Hauptfunktion(en) des Rechtsrock zu bestimmen. 4. 40 Jahre Rechtsrock in Deutschland – eine kursorische Rekonstruktion 4.1. Entstehungsphase – Rechtsrock als Kulturimport und Jugendrebellion Die erste Phase dauerte von 1977 bis 1989 an und umfasst damit den Entstehungsprozess sowie die Entwicklung bis zum Fall der Berliner Mauer. Die extreme Rechte war nach dem Zweiten Weltkrieg politisch und kulturell weitgehend isoliert. Vorfeldorganisationen wie die Wiking-Jugend und Parteien wie die Sozialistische Reichspartei (SRP) waren noch immer stark den Traditionen des Dritten Reiches verbunden. Selbst der 1964 gegründeten und in den Folgejahren elektoral sehr erfolgreichen, rechtsextremen Sammlungspartei, der NPD, sowie ihrer Hochschulorganisation, dem Nationaldemokratischen Hochschulbund (NHB), galt Beat- und Popmusik noch zu Beginn der 1970er Jahre als „akustisches Rauschgift“.30 Dennoch gründete sich mit der Band „Ragnaröck“ im Jahr 1977 die erste deutsche Rechtsrockband im Umfeld des NHB. Der Versuch, ein gewisses Maß an Anschlussfähigkeit für die Jugend herzustellen, scheiterte jedoch an rückwärtsgewandten, kaum an der Lebensrealität der Jugend orientierten Texten und einem gänzlich fehlenden rebellischen Habitus der Mitglieder.31 Erst durch die Einflüsse aus Großbritannien, insbesondere der Bands „Skrewdriver“ und „Brutal Attack“, gründeten sich erste deutsche Rechtsrockbands, wie beispielsweise „Endstufe“, „Kraft durch Froide“ (KdF),
30 Deutsche Stimme, zitiert nach: Toralf Staud, Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD, Köln 2006, S. 158. 31 Vgl. Christian Dornbusch/Jan Raabe, 20 Jahre RechtsRock. Vom Skinhead-Rock zur Alltagskultur, in: dies. (Anm. 13), S. 19-50, hier: S. 19.
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„Böhse Onkelz“ oder auch „Kahlkopf“. Von den wenigen Bands32 blieben lediglich die ersten beiden Gruppen der Szene erhalten und wurden bis 1989 durch die zum Teil bis heute aktiven Neugründungen „Radikahl“, „Störkraft“, „Commando Pernod“, „Noie Werte“ und „Tonstörung“ ergänzt. Hatten die Bands beziehungsweise ihre Musik anfangs noch eine überwiegend soziale Funktion, so nahm mit einer fortschreitenden Politisierung und Radikalisierung die Bedeutung der politisch-ideologischen Funktion zu. Mit Beginn der ersten Phase waren die Texte noch von einer diffusen Adaption des aus Großbritannien stammenden „Skinhead-Way-Of-Life“ und der Beschreibung der eigenen Lebensumstände, die durch massive Gewalt(phantasien), Alkoholexzesse und übersteigerte Maskulinitätsideale geprägt waren, dominiert. Gegen Ende der ersten Phase begann die Mehrheit der aktiven Bands eindeutig rechtsextreme, zum Teil strafrechtlich relevante Texte zu verwenden. Zusätzlich bedienten sich die Musiker militaristisch-nationalsozialistischer Symbolik und Rhetorik, ohne dabei ihre subkulturellen Wurzeln aufzugeben. Dabei distanzierten sie sich anfangs von klar parteipolitischen Aktivitäten.33 In den Anfangstagen der Rechtsrockszene fanden Konzerte fast vollständig unbemerkt von der Öffentlichkeit statt, zumeist in Proberäumen, Jugendclubs oder ähnlichen Lokalitäten. Sie waren nach dem in Subkulturen häufig praktizierten „Do-It-Yourself“ (DIY)-Prinzip organisiert und somit weder professionell durchgeführt noch primär an kommerziellen Interessen ausgerichtet. Die Konzerte hatten dabei vorwiegend eine soziale Funktion, da Szeneangehörige ebenso wie potenzielle Anhänger diese als Gemeinschaftserlebnis unter Gleichgesinnten wahrnahmen, aber auch um neue Kontakte zu knüpfen oder Merchandiseartikel, vorzugsweise Tonträger, zu erwerben. In der ersten Phase erfolgte die Verbreitung der Musik fast ausschließlich durch den szenefremden Unternehmer Herbert Egoldt mit seinem Label „Rock-O-Rama Records“. Dieser hatte sich durch die Veröffentlichung der Platten von Szenegrößen wie den „Böhsen Onkelz“, „Skrewdriver“ oder
32 Es liegen keine belastbaren Zahlen vor. Dornbusch und Raabe nennen die Zahl von insgesamt 26 Veröffentlichungen für den Zeitraum bis 1989. Vgl. ebd., S. 36. 33 Vgl. Michael Weiss, Begleitmusik zu Mord und Totschlag. Rechtsrock in Deutschland, in: Searchlight/Antifaschistisches Infoblatt/Enough is enough/rat (Hrsg.), White Noise. Rechts-Rock, Skinhead-Musik, Blood & Honour – Einblicke in die internationale Neonazi-Musik-Szene, Hamburg 2004, S. 67-92, hier: S. 69-71; Klaus Farin, Reaktionäre Rebellen. Die Geschichte einer Provokation, in: Dieter Baacke,/Klaus Farin/Jürgen Lauffer (Hrsg.), Rock von Rechts II. Milieus, Hintergründe und Materialien, Bielefeld 1998, S. 12-83, hier: S. 14-25.
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auch „Endstufe“ einen Namen gemacht. Darüber hinaus funktionierte die Verbreitung von Musik durch den Austausch von selbstüberspielten Kassetten oder deren Verkauf in kleinen Auflagen auf Konzerten. Eine weitere professionelle Infrastruktur in Form von kleinen, szeneeigenen Labels war zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden. Somit war auch eine unmittelbare ökonomische Funktion nicht gegeben, da durch den Unternehmer Egoldt kein Geld in die Szene oder gar in die politische Arbeit zurückfloss und auch mit den Konzerten (noch) kaum Geld zu verdienen war.34 In der ersten Phase spielte der Rechtsrock als politisches Propagandainstrument der rechtsextremen Bewegung kaum eine Rolle. Er war vornehmlich eine neu entstehende Subkultur, die sich zu diesem Zeitpunkt der politischen Parteiarbeit weitgehend verweigerte. Dabei standen hedonistische Motive im Vordergrund, die über die sozialen Funktionen befriedigt wurden. Durch ähnliche Lebenswirklichkeiten, wiederkehrende Gruppenerfahrungen sowie klare Selbst- und Feindbilder schafften die Akteure Entlastungsmechanismen beziehungsweise Ventile für (soziale) Spannungen im Alltag. 4.2. Radikalisierung – staatliche Verbots- und Exekutivmaßnahmen I Die zweite Phase dauerte von 1989 bis 1994 und wurde durch die Ereignisse um die deutsche Wiedervereinigung sowie den „Urszenen rassistischer Gewalt in Ostdeutschland“35 in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen geprägt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im November 1989 eröffnete sich der dezimierten Szene ein neues Reservoir an potenziellen Anhängern. So integrierten sich in der zweiten Generation mit den „Brutalen Haien“ und „Pitbull“ beziehungsweise „Bomber“36 die einzigen DDRRechtsrockbands erfolgreich in die gesamtdeutsche Szene. Außerdem gründeten sich zahlreiche neue Bands, so zum Beispiel „Frontalkraft“,
34 Vgl. Heléne Lööw, White Noise Music – An International Affair, Kopenhagen 1998, S. 3; Klaus Farin/Henning Flad, Reaktionäre Rebellen. Rechtsextreme Musik in Deutschland, in: Archiv der Jugendkulturen (Hrsg.), Reaktionäre Rebellen. Rechtsextreme Musik in Deutschland, Berlin 2001, S. 9-98, hier: S. 11-14, 19-27. 35 David Begrich, Hoyerswerda und Lichtenhagen: Urszenen rassistischer Gewalt in Ostdeutschland, in: Heike Kleffner/Anna Spangenberg (Hrsg.), Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg, Berlin 2016, S. 32-44. 36 Die Band wurde 1988 unter dem Namen „Pitbull“ gegründet und 1990 in „Bomber“ umbenannt. Vgl. Dornbusch/Raabe (Anm. 31), S. 47.
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„Macht & Ehre“, „Spreegeschwader“ oder „Landser“ um den Sänger Michael Regener alias „Lunikoff“, die bis heute Kultstatus in der Szene besitzen. Im Zeitraum von 1989 bis 1994 erhöhte sich die Zahl der Rechtsrockbands von einer niedrigen einstelligen Zahl auf bis zu 23 aktive Gruppen auf dem Gebiet der Bundesrepublik.37 Die Gründe für den rasanten Anstieg lassen sich darin identifizieren, dass die Bands bis 1992 von staatlichen Stellen weitgehend unbehelligt agieren konnten.38 Mit ihren nun deutlich stärker ideologisch aufgeladenen Texten lieferten sie die „Begleitmusik zu Mord und Totschlag“39 zu bundesweiten, fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Während die Texte der ersten Generation noch stark durch hedonistische und selbstreferentielle Themen geprägt waren, bildete in der zweiten Generation der Rechtsrockbands die Artikulation des Hasses, die Vernichtung des politischen Gegners sowie die ideologische Überhöhung der eigenen „Ethnie“ und Nation einen Schwerpunkt. Dies blieb auch staatlichen Stellen nicht verborgen, die den Verfolgungsdruck erhöhten und durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS)40 eine Vielzahl von Platten begutachten und indizieren ließ. Darüber hinaus wurden bis dahin kaum verfolgte Delikte nach §§ 86, 86a, 111, 130, 130a, 131, 184, 184a StGB mit Strafanträgen geahndet und die entsprechenden Medien beschlagnahmt. Dies hatte zur Folge, dass sich die Bands in zwei Gruppen aufteilten: Ein Großteil, so beispielsweise „Noie Werte“ und „Kroizfoier/Kreuzfeuer“, passte die Texte dem gesetzlichen Rahmen in Deutschland an und ließ die Werke vor der Veröffentlichung durch Anwälte prüfen, um einer (erneuten) Verfolgung durch die Sicherheitsbehörden zu entgehen. Eine zweite, weitaus kleinere Gruppe, der aber bekannte Vertreter wie „Landser“, „Kraftschlag“ und „Deutsch Stolz Treue“ (D.S.T.) zuzurechnen sind, wählte den entgegengesetzten Weg in den Untergrund.41 Die Texte wurden radikaler, ohne Rücksicht auf mögliche Verbote zu neh-
37 Vgl. Erika Funk-Hennigs/Johannes Jäger, Rassismus, Musik und Gewalt. Ursachen, Entwicklungen und Folgerungen, Münster 1995, S. 171-173; apabiz e.V., Verzeichnis RechtsRock-Bands, in: Dornbusch/Raabe (Anm. 13), S. 433-463. 38 Vgl. David A. Jacobs, The Ban of Neo-Nazi Music: Germany Takes On The NeoNazis, in: Harvard International Law Journal, 34 (1993) 2, S. 563-580, hier: S. 571-576. 39 Weiss (Anm. 33). 40 Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) wurde zum 1.4.2003 in Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) umbenannt. Vgl. Ingo Heiko Steimel, Musik und die rechtsextreme Subkultur, Aachen 2008, S. 125. 41 Vgl. Florian Pascal Bülow, „Bis an die Zähne bewaffnet mit Schlagzeug und E-Gitarre …“ – Der Wandel rechter Musik in der Bundesrepublik Deutschland, in:
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men, auch, um fehlende musikalische Fähigkeiten zu kompensieren.42 Zum Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung bereiteten die Mitglieder die Veröffentlichungen konspirativ vor und spielten diese anschließend in gleicher Weise ein. Produktion und Vertrieb der Tonträger fanden häufig im (benachbarten) Ausland statt. So resümierte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 1994: „Die rechtsextremistische Skinheadszene befindet sich aufgrund der nachdrücklichen und umfangreichen Exekutivmaßnahmen […] in einer Phase der Neuorientierung. Extremer Kurzhaarschnitt, Tätowierungen, Jeans, Hosenträger, Doc-Martens-Stiefel, Bomberjacke und TShirt sind nicht mehr zwingendes Outfit der Skinheads. Aus taktischen Gründen passen sich viele Skinheads zunehmend dem äußeren Erscheinungsbild von Normalbürgern an. […] An der Einstellung der Skinheads veränderte sich dadurch nichts.“43 Hinsichtlich der Konzerte lässt sich für die zweite Phase, insbesondere die Jahre 1993 bis 1994, ein deutlich sichtbarer Wandel erkennen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung – 1993 – registrierte das BfV 30 Konzerte. Die Szene verlagerte ihren Aktivitäts- und Veranstaltungsschwerpunkt von West- nach Ostdeutschland. Damit sollte dem Verfolgungsdruck im Westen entgangen werden, um die entstandenen Freiräume in dem sozialen Vakuum, das nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland entstanden war, zu nutzen.44 Dies zeigte sich vorrangig bei der Veranstaltung von größeren Konzerten, die nur noch in Ostdeutschland oder im Ausland weitgehend unbehelligt stattfinden konnten. Die Anzahl der Konzerte sank innerhalb eines Jahres auf nur noch 20 im Jahr 1994.45 Im Handel und Vertrieb mit Rechtsrockfanartikeln zeichneten sich ebenso erste Veränderungen ab. Das von der Indizierungs- und Beschlag-
42
43 44 45
Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, 7 (2014) 3, S. 179-328, hier: S. 205-207; Kirsten Dyck, Race and Nation in White Power Music, Ann Arbor 2012, S. 12-14. Vgl. Friederike Wißmann, Deutsche Musik, Berlin 2015, S. 240f.; Bülow (Anm. 41), S. 203. Die mangelnden Fähigkeiten drücken sich durch, auch für Laien, deutlich wahrnehmbare Spielfehler auf Studio- und Liveaufnahmen aus. Darüber hinaus verwenden die Musiker in ihren Kompositionen zumeist einfache, sich beständig wiederholende Strukturen. Vgl. Steimel (Anm. 40), S. 208-211. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1993, Bonn 1994, S. 95. Vgl. Bülow (Anm. 41), S. 204. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, Bonn 1995, S. 97.
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nahmewelle betroffene Label „Rock-O-Rama Records“ war nur noch eingeschränkt handlungsfähig und aufgrund dubioser Geschäftspraktiken46 in der Szene umstritten. Der rechtsextreme Düsseldorfer Multifunktionär Torsten Lemmer gründete Mitte der 1990er-Jahre das Label „Funny Sounds Records“. Da er den Musikern professionellere Produktions- und Vertriebsstrukturen bieten konnte, gelang es ihm, neue sowie kommerziell bereits relativ erfolgreiche Bands für sein Label zu gewinnen.47 Obgleich die zweite Phase nur fünf Jahre andauerte, brachte sie dennoch gravierende Veränderungen hervor. Die Bands wurden nicht nur innerhalb ihrer Subkultur zum Schlagwort- und Taktgeber, sondern beeinflussten maßgeblich und nachhaltig die Entwicklung der rechtsextremen Bewegung. Standen in der ersten Generation noch soziale Funktionen wie das gemeinschaftliche Erlebnis unter Gleichgesinnten sowie Freizeitgestaltung mit einem rebellischen Habitus im Fokus, so traten nun die politischideologischen Funktionen in den Vordergrund. Insbesondere in den neuen Bundesländern wurde die Musik und potenzielle Gemeinschaft als niedrigschwelliges Angebot für orientierungslose Jugendliche sowie als Propagandamittel im Kampf um die Deutungshoheit aktueller politischer Themen, aber auch zunehmend für die Parteiarbeit genutzt.48 Daneben gewannen auch die ökonomischen Funktionen an Bedeutung. Einerseits hatte Torsten Lemmer, der (vermeintliche) Prototyp eines rechtsextremen Multifunktionärs, eine marktbeherrschende Stellung inne. Er konnte seinen Lebensunterhalt von der Szene für die Bewegung bestreiten. Andererseits gewannen Konzerte zwar massiv an Bedeutung in ihrer politisch-ideologischen und sozialen Funktion, die ökonomische Relevanz wuchs jedoch keinesfalls in gleichem Maße an. Insgesamt brachte diese Phase die bis heute prägende „Generation Hoyerswerda“49 hervor, die bis heute personell, ideologisch und ökonomisch prägend für die Szene ist.
46 Egoldt veröffentlichte eine Vielzahl von Tonträgern ohne die Genehmigung der Bands und beteiligte sie auch nicht an den Erlösen. Vgl. Christian Menhorn, Skinheads. Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001, S. 208. 47 Vgl. Henning Flad, Zur Ökonomie der rechtsextremen Szene – Die Bedeutung des Handels mit Musik, in: Andreas Klärner/Michael Kohlstruck, Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Bonn 2006, S. 102-115, hier: S. 107. 48 Vgl. Langebach/Raabe (Anm. 6), S. 379f. 49 Kleffner/Spangenberg (Anm. 35). Unter der „Generation Hoyerwerda“ verstehen die Autoren die Kohorte rechtsextremer Jugendlicher, welche mehr oder minder aktiv die ausländerfeindlichen Gewalttaten, den Aufstieg des Rechtsrock zu einer wahrnehmbaren Subkultur und die Transformation der rechtsextremen Szene in eine Bewegung erlebt oder gar gestaltet hat. Vgl. Heike Kleffner/Anna Spangenberg, Vorwort, in: dies. (Anm. 35), S. 9-17, hier: 11f.
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4.3. Kommerzielle Professionalisierung – staatliche Verbots- und Exekutivmaßnahmen II Die dritte Phase verlief von 1995 bis 2005 und untergliedert sich in zwei Intervalle. Das erste Intervall war dabei vom Wirken des rechtsextremen Netzwerks „Blood & Honour“ in den Jahren 1995 bis zu ihrem Verbot im Jahr 2000 geprägt. In diesem Zeitraum schickte sich eine dritte Generation an, den Markt mit zunehmend professionellen und kommerziell orientierten Produkten zu bedienen. Bereits 1995 verdoppelte sich die Anzahl der Bands auf 47 und sie erreichte im Jahr 2000 mit 100 aktiven Bands in Deutschland einen neuen Höchststand. Stilistisch dominierte weiter der klassische, im Oi! und Punk verwurzelte Rechtsrock mit musikalischen Elementen aus dem Heavy Metal die Szene, so auch bei den bis heute bestehenden „Stahlgewitter“, „Division Germania“ und „Oidoxie“. Die Band „Landser“, die den Weg in den Untergrund beziehungsweise eine konspirative Veröffentlichungspolitik gewählt hatte, produzierte im Zeitraum von 1995 bis 2000 ihre bis heute als Szeneklassiker geltenden Alben „Republik der Strolche“, „Rock gegen oben“ und „Ran an den Feind“.50 Die auf den Platten transportierten rassistischen, volksverhetzenden und menschenverachtenden Inhalte trugen dazu bei, dass die Band als erste Musikgruppe in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einging, die als kriminelle Vereinigung abgeurteilt wurde.51 Dieser Art der Veröffentlichung von Tonträgern schloss sich nur eine Minderheit an, die entgegen dem vorherrschenden Szenetrend zunehmender inhaltlich-ideologischer Ausdifferen-
50 Bereits 2002 befanden sich nach Schätzungen ungefähr 100.000 „Landser“-CDs im Umlauf und zwei Studien zum Thema Musikkonsum von Jugendlichen zufolge waren 2010 beziehungsweise 2011 circa 15 Prozent der Befragten mit der Musik der Gruppe „Landser“ vertraut. Vgl. Georg Seeßlen, Gesänge zwischen Glatze und Scheitel. Anmerkungen zu den musikalischen Idiomen der RechtsRock-Musik, in: Dornbusch/Raabe (Anm. 13), S. 125-144, hier: S. 129; Georg Brunner, Kraftschlag – rechtsextreme Musik. Eine Annäherung an ihre Rezeption und Wirkung, in: Gabriele Hoffman (Hrsg.), Musik & Gewalt. Aggressive Tendenzen in musikalischen Jugendkulturen, Augsburg 2011, S. 99-121, hier: S. 102f.; Georg Brunner/René Gründer, „So einen Scheiß lade ich nicht auf meinen Laptop.“ Auswertung einer Studie zum Umgang von Schülern mit rechtsradikaler Musik, Gießen 2011, S. 10. 51 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Politisches Selbstverständnis und Gewaltorientierung rechtsextremistischer Skinheads – Eine Fallstudie zu den Tonträgern der Band „Landser“, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 9, Baden-Baden 1997, S. 169-182, hier: S. 173-181.
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zierung und literarischer Camouflage52 agierte. Im Zuge der Verwendung dieser Taktik traten allzu offensichtliche NS-Glorifizierungen, der Aufruf und die Billigung von Straftaten in den Hintergrund zugunsten codierter Botschaften mit ähnlichen, aber strafrechtlich nicht angreifbaren Inhalten. Neben diesen textlichen Veränderungen begann sich das musikalische Spektrum der Szene zu erweitern. Dies wird am Beispiel der Band „Die Zillertaler Türkenjäger“ deutlich, die musikalisch auf bekannte Titel (zum Beispiel „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg) zurückgriff, die Texte aber modifizierte und mit rechtsextremer Ideologie auflud.53 Im Geschäft mit Tonträgern und Merchandise hatte Torsten Lemmer mit „Funny Sounds Records“ das Label „Rock-O-Rama Records“ als Marktführer in Deutschland abgelöst. Zeitgleich gründeten sich erste von Szeneangehörigen geführte Vertriebe, wobei „Pühses Liste“54 von Jens Pühse und der „WB-Versand“ von Thorsten Heise hervorzuheben sind. Heise unterhält persönliche und geschäftliche Beziehungen zu dem Netzwerk
52 „Literarische ‚Camouflage‘ heißt: intentionale Differenz zwischen anstößigem Oberflächentext und […] Subtext. […] Der anstößige Inhalt wird durch Transponierung in einen nicht anstößigen Bereich und gleichzeitige Signalisierung des ursprünglich Gemeinten öffentlich formulierbar gemacht. Diese Signalisierung kann so beschaffen sein, dass sie prinzipiell von allen Lesern wahrgenommen, aber nur von ‚eingeweihten‘ entziffert werden kann.“ Heinrich Detering, Das offene Geheimnis: Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 2013, S. 30. 53 Vgl. Erika Funk-Hennigs, Neuere Entwicklungen in der deutschen RechtsrockSzene, in: Dietrich Helms/Thomas Phleps (Hrsg.), Cut and Paste. Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart, Bielefeld 2006, S. 97-114, hier: S. 101. Bereits „Landser“ adaptierten den Titel „Capri-Fischer“ (verschiedene Interpreten, unter anderem Rudi Schuricke und Magda Hain; komponiert von Gerhard Winkler und Ralph Maria Siegel) und andere Elemente der Populärkultur wie beispielsweise einen Filmdialog als Intro zum angeführten Titel („Lass die Pfoten oben, sonst knallts! Du sollst die Wahrheit sagen - wo ist die Munition her?“ “Ich habe Wahrheit gesagt! Deutsche Soldaten machen Eisbahnpatroullie durch Wald. Munition ist zu schwer. Bleibt immer hier! Mich interessiert nicht ...“ „Du lügst, du Polacke““) aus der 13-teiligen DEFA-Serie „Archiv des Todes“ als „Polacken Tango“ auf ihrem Album „Rock gegen Oben“. Vgl. Landser, „Polacken Tango“, Rock Gegen Oben, 1997; Rudi Schuricke, „Capri-Fischer“, Capri-Fischer/Leise erklingen die Glocken vom Campanile, 1943; Rudi Kurz, Archiv des Todes 1980. 54 Der Vertrieb wurde wenig später in den NPD-eigenen „Deutsche Stimme Versand“ eingegliedert, der 2015 selbst von Thorsten Heise, dem Betreiber des WBVersands, übernommen wurde. Vgl. Weiss (Anm. 33), S. 72; O.A., Neonazi Heise übernimmt Deutsche Stimme-Versand, 20.3.2015, www.endstation-rechts.de/news /neonazi-heise-uebernimmt-deutsche-stimme-versand.html.
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„Blood & Honour“ und „Combat 18“,55 das sich wiederum für die gravierendste Veränderung im Hinblick auf die Organisation von Konzerten verantwortlich zeichnete: Die Vervierfachung der Anzahl der deutschlandweit organisierten Konzerte (1995: 35; 1998: 128) lässt sich in hohem Maße auf das Engagement von „Blood & Honour“ als Konzertveranstalter zurückführen. Das Verbot der deutschen Division von „Blood & Honour“ am 12. September 200056 markiert den Wendepunkt der dritten Phase der Entwicklung des Rechtsrock und den Beginn des zweiten Intervalls von 2001 bis 2005. Es kam zu einem Rückgang der Konzertveranstaltungen im gesamten Bundesgebiet (1998: 128; 2001: 80).57 Die Szene konnte diesem Trend entgegenwirken, indem sie den Schwerpunkt von vornehmlich konspirativen, kleinen Konzerten auf größere Veranstaltungen, vor allem unter der Schirmherrschaft der NPD, verlagerte. Darüber hinaus wurde verstärkt versucht, vormals konspirativ durchgeführte Veranstaltungen bei den Behörden anzumelden, wenn es die Texte der Bands zuließen. Dies geschah einerseits, um sich selbst als Veranstalter wirtschaftlich und rechtlich abzusichern, andererseits auch, um den Konzertbesuchern eine gewisse Sicherheit hinsichtlich der Durchführung bieten zu können. Im Jahr 2005, also nur fünf Jahre nach dem „Blood & Honour“-Verbot, erreichten die Zahlen bundesweit einen neuen Höchststand von 193 registrierten Konzerten.58 Eine ähnliche Entwicklung wie bei den Konzertveranstaltungen, ein kurzfristiger Rückgang und zeitweiliger Boom, gab es im Handel und Vertrieb von Rechtsrock. Im Jahr 2000 beziehungsweise 2001 gründeten sich mit „PC-Records“ sowie „Front-Records“ und dem „V7-Versand“ drei der heute bundesweit bedeutendsten Händler für Rechtsrock und rechtsextremes Merchandising.59 Dagegen verschwanden die einst marktbeherrschenden Labels „Funny Sounds Records“ und „Rock-O-Rama Records“ fast
55 Vgl. Weiss (Anm. 33), S. 81; Johanna Hemkentokrax/Axel Hemmerling: Rechtsrockland, Leipzig 2018, 09:35-10:05 Minuten. 56 Vgl. Bundesministerium des Innern, Verbotsverfügung gegen „Blood & Honour Division Deutschland“ vom 12.9.2000. 57 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2002 (Pressefassung), S. 22. 58 Vgl. Langebach/Raabe (Anm. 6), S. 381. 59 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Auswertung der Geschäftsunterlagen von PC-Records, Nordsachsenversand, DS-Verlag, Dresden 2011, S. 2; Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen/Ministerium des Innern des Landes Brandenburg (Hrsg.), Gemeinsames Lagebild der Verfassungsschutzbehörden Brandenburg und Sachsen zu aktuellen Entwicklungen im Rechtsextremismus 2008, Dresden 2008, S. 18.
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gänzlich, da Torsten Lemmer 2001 aus der Szene ausstieg und Herbert Egoldts Label nach dessen Tod im Jahr 2005 in einer rechtlich ungeklärten Situation verblieb. Das entstandene ökonomische Vakuum nutzten wenige, unter anderem oben genannte, größere Händler aber auch zahlreiche Kleinunternehmer (2000: 50; 2005: 75), um den Markt unter sich aufzuteilen.60 Die Ausdifferenzierung der Vertriebsstrukturen ging mit einer erneuten Erweiterung des musikalischen Spektrums einher. Noch immer dominierten die klassischen Rechtsrockbands unter den rechtsextremen Bands. Die Szene versuchte allerdings andere musikalische Subkulturen, so beispielsweise Black Metal und Hardcore in Form von „National Socialist Black Metal“ (NSBM) oder „National Socialist Hardcore“ (NSHC) zu vereinnahmen, wenngleich dies oft, aber nicht immer gelang, wie die Beispiele Techno und Dark Wave zeigen.61 Neben der musikalischen Ausdifferenzierung trat eine weitere inhaltlich-ideologische Entwicklung in den Texten der Bands hervor, die sich durch interpretationsoffene, mehrdeutige und in den meisten Fällen strafrechtlich nicht angreifbare Texte auszeichnete. 62 Darüber hinaus wurden zwei große Strömungen innerhalb der Szene sichtbar: Auf der einen Seite der Versuch, an die Lebenswirklichkeiten der Szeneangehörigen und potenziellen Hörer anzuknüpfen (Alltagsprobleme in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft); auf der anderen Seite Liedergeschichten, die von stark idealisierten Mythen und Symbolfiguren geprägt sind und dem Hörer für kurze Zeit die Möglichkeit zur Flucht aus der Realität in eine idealisierende Fantasiewelt eröffnen.63 In der dritten Phase wird deutlich, dass die Szene mit ihrer eigenen Entwicklung reifte, indem sie sich nicht mehr nur auf Extrempositionen (politisch-ideologisch versus selbstreferentiell-hedonistisch) verstand. Sowohl bei den Bands als auch bei den Konzerten zeigte sich, zu welcher Anpas-
60 Vgl. Ingo Taler, Out of Step. Hardcore-Punk zwischen Rollback und neonazistischer Adaption, Hamburg 2012, S. 301; Torsten Lemmer, Rechts raus. Mein Ausstieg aus der Szene, Berlin 2004; Schulze (Anm. 22), S. 298. 61 Vgl. Bülow (Anm. 41), S. 207-209; Funk-Hennigs (Anm. 53), S. 100-106. 62 Es sei auf die Landser-Nachfolgeband „Die Lunikoff Verschwörung“ verwiesen, die es vor der Inhaftierung ihres Bandkopfes „Lunikoff“ (Michael Regener) schaffte, das Album namens „Die Rückkehr des Unbegreiflichen“ aufzunehmen und noch einige Konzerte zu spielen, von denen ein Live-Mitschnitt aus Mücka als Tonträger veröffentlicht wurde, der nicht indiziert wurde. Vgl. Langebach/Raabe (Anm. 6), S. 390. 63 Vgl. Jens Zeyer, Feindbilder – Mythen – Helden. Rechtsextreme Liedtexte und ihre weltanschaulichen Hintergründe, Würzburg 2017, S. 186-332; Bülow (Anm. 41), S. 231-235.
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sungsfähigkeit, das heißt dem Ausbalancieren der sozialen und der politisch-ideologischen Funktionen, weite Teile der Szene in der Lage waren. Bewegungsunternehmer wie Thorsten Heise und ein Parteifunktionär wie Udo Voigt vermittelten zwischen vermeintlich unvereinbaren Strukturen wie den subkulturellen Rechtsextremisten beziehungsweise Freien Kameradschaften und Parteikadern dadurch, dass sie der jeweils anderen Seite die Vorteile einer flexiblen, kooperativen Strategie aufzeigten. So bieten die Parteien, vorrangig die NPD, den zumeist jungen Bands und ihrem Publikum mit politischen Kundgebungen eine rechtssichere Plattform für ihre Konzerte. Im Gegenzug mäßigen die Bands in einer breiteren Öffentlichkeit ihre Auftrittsweise in Form und Inhalt, um für die Parteien mit ihrem kulturellen Angebot ein breiteres Publikum mobilisieren zu können. Darüber hinaus profitieren beide Seiten ökonomisch, da die Parteien als Geldspenden getarnte Eintrittsgelder einsammeln können, während das Zielpublikum weiteres Geld im Rahmen der Veranstaltung ausgibt. Dieses kann wiederum zur Finanzierung des Lebensunterhaltes einiger Bewegungsunternehmer und der politischen Arbeit genutzt werden. 4.4. Rechtsrock heute – zwischen Alltagskultur und politischer Agitation Die vierte Phase in der Entwicklung des Rechtsrock dauerte von 2006 bis 2017 und wurde durch verschiedene, parallel verlaufende Tendenzen geprägt. Die offenkundigste Entwicklung besteht in der deutlichen Steigerung der Anzahl von Rechtsrockbands. Existierten in Deutschland 1993 lediglich 23 Gruppen, erreichte ihre Zahl im Jahr 2012 mit 182 einen Höchststand. Im Jahr 2015 waren noch 133 Bands aktiv.64 Neben der quantitativen Veränderung der Szene (Ausstiege, Inaktivität, Neugründungen und Reformierungen) fand eine qualitative Novellierung in Form einer dreifachen Differenzierung statt, die in der vierten Generation weitgehend kooperativ nebeneinander existieren: Zunächst spaltete sich die Szene in legal und illegal agierende Bands. Es folgte eine Ausdifferenzierung der Genrevielfalt, die nun fast das gesamte Spektrum der ursprünglichen Subkulturen spiegelt. Schließlich setzte sich eine inhaltlich-ideologische Intellektualisierung durch. Die Grenzen zwischen legalen und illegalen Bands wurden zunehmend fluide: 1. Manche Bands passten im Verlauf ihres Bestehens ihre Texte der deutschen Gesetzgebung an, spielten aber gelegent-
64 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin (Hrsg.), Rechtsextremistische Musik, Berlin 2016, S. 11.
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lich noch verbotene Stücke. 2. Gruppen mit überwiegend indizierten Liedern traten maskiert auf. 3. Weitgehend legal agierende Bands boten nicht selten Coverversionen von verbotenen Titeln dar.65 Schließlich kam ein Wandel auch noch dadurch zum Ausdruck, dass, nach den inhaltlich-ideologischen Entwicklungsschritten der ersten drei Generationen, an erster Stelle auf eine inhaltliche Intellektualisierung und stilistisch auf das Storytelling66 gesetzt wurde. Im Vergleich zu den vorherigen Generationen nahm auch der Anteil erlebnisorientierter Musik (NSHC, NSBM) kontinuierlich zu, wodurch es häufiger zu Kooperationen zwischen den einzelnen Subszenen kam. Eine vergleichbare Entwicklung war in der Konzertlandschaft rechtsextremer Musik zu beobachten. So ist eine tendenziell rückläufige Entwicklung bis 2014 feststellbar (55 Konzerte bundesweit), bis 2017 stieg die Zahl jedoch wieder auf 68 registrierte Veranstaltungen dieser Art an.67 Hinzu kommt, dass nicht selten genreübergreifende Konzerte stattfanden, die in den ursprünglichen Subkulturen nicht oder nur bedingt möglich wären, sodass sich klassische Rechtsrockbands mit NS‑Hip-Hop-Künstlern und modernen NSHC-/Rechtsrockbands die Bühne teilten. Hinsichtlich des Rahmens der Konzerte ging die Szene zu einer Mischung aus verschiedenen Organisationsformen über. Es wurden sowohl konspirative Konzerte als auch zunehmend öffentliche Veranstaltungen in verschiedenen Größen organisiert, wobei die Örtlichkeiten in Thüringen – Kloster Veßra (Goldener Löwe), Kirchheim (Veranstaltungszentrum Erfurter Kreuz), Eisenach (Flieder Volkshaus) – sowie in Sachsen – Torgau-Staupitz (ehemaliger Gasthof) und Ostritz (Hotel „Neißeblick“) – hervorzuheben sind, in denen sich erprobte oder gar szeneeigene Immobilien Gravitationszentren bildeten.68 Die Organisatoren versuchten diese Konzerte weit im Voraus als kommerzielle Veranstaltung oder als politische Versammlung unter dem Schutz des Versammlungsrechts anzumelden. Dies geschah einerseits, um Auflösun65 Vgl. Dyck (Anm. 11), S. 48f. 66 Storytelling ist „ein wirkungsvolles Kommunikationsinstrument: Eigene oder fremde Erfahrungen werden mit Hilfe von Erzählmustern [oder einem bestimmten Narrativ] so spannend und überzeugend weitergegeben, dass andere sie nachempfinden [oder sich hineinversetzen] können.“ Gregor Adamczyk, Storytelling. Mit Geschichten überzeugen, Freiburg 2015, S. 30. 67 Dies geht aus den kumulierten Zahlen der kleinen Anfragen der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2017, Berlin 2018, S. 64. 68 Vgl. Bianca Klose/Sven Richwin, Organisationsformen des Rechtsextremismus, in: Fabian Virchow/Martin Langebach/Alexander Häusler (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 205-223, hier: S. 217f.
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gen und Absagen vorzubeugen und ökonomische Risiken zu minimieren, und andererseits, um einen niedrigschwelligen Zugang zu solchen Veranstaltungen zu schaffen und gleichzeitig die gewünschte Außenwirkung zu erzielen. Der Markt rechtsextremer Musik in Deutschland differenzierte sich auch in der vierten Generation weiter aus. Nach einem Tief im Jahre 2009, als bundesweit 68 Handelsunternehmen in der Szene gezählt wurden, waren 2015 bundesweit bereits wieder 88 Vertriebe aktiv. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass immer noch die wenigsten Szeneunternehmer ihren gesamten Lebensunterhalt von den Gewinnen bestreiten können.69 Bundesweiter Marktführer ist der szeneintern nicht unumstrittene „V7-Versand“ aus Plüschow in Mecklenburg-Vorpommern70 sowie das szeneweit anerkannte Label „PC-Records“. Die beiden Versandhäuser unterscheiden sich dadurch, wie viel Geld aus den erwirtschafteten Gewinnen in die politische Arbeit reinvestiert wird und durch das Ausmaß der eigenen politischen Tätigkeit für die Szene.71 Die vierte Phase war vorwiegend von zwei Entwicklungen geprägt: Zunächst sank die Anzahl der Bands im Vergleich zum Höchststand deutlich. Hinzu kamen eine zeitgleich verlaufende Ausdifferenzierung der Genrevielfalt sowie die weitgehende Auflösung der Grenzen zwischen legal und illegal agierenden Bands. Der Umfang des musikalischen Angebots ging zwar zurück, doch mit Blick auf die soziale und politisch-ideologische Funktion der Musik konnte der Hörer seinen Konsum individueller gestalten, ohne dabei auf das Gemeinschaftserlebnis oder gar die politische Botschaft und Selbstvergewisserung verzichten zu müssen. Einzig die Zugangshürden wurden etwas erhöht, da Veranstaltungen wie das „Rock gegen Überfremdung“ in Themar tendenziell einen höheren Grad der sozialen Schließung aufwiesen als das „Rock für Deutschland“. Hinsichtlich der ökonomischen Funktion hat sich die Lage dergestalt verändert, dass in der vierten Phase nun eher Einzelunternehmer statt Parteien und Organisatio69 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin (Anm. 64), S. 56; Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, S. 109. 70 Vgl. Uta Gensichen, Zu viel Kaufmann – zu wenig Nazi, in: taz, 23.8.2007, S. 21. 71 So legte PC-Records eine Solidaritäts-CD zugunsten des im NSU-Prozess angeklagten Ralf Wohlleben mit dem Titel „Solidarität IV“ auf und engagierte sich bei der Organisation von Festivals und der logistischen Unterstützung verschiedenster Aktivitäten der rechtsextremen Bewegung. Vgl. Andreas Speit, Solidarität unter Kameraden, 13.1.2015, www.taz.de/!5024048/; Jens Eumann/Nina Monecke, „Abhitlern“ an der Ostgrenze, 16.4.2018,www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/SACH SEN/Abhitlern-an-der-Ostgrenze-artikel10183272.php.
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nen Veranstaltungen durchführten, wodurch ihnen nicht selten ein Leben von der Szene für die Szene ermöglicht wurde. Im Gegensatz zu Organisationen waren diese Unternehmer häufiger dem Vorwurf der persönlichen Bereicherung ausgesetzt und sie standen daher deutlich stärker unter Druck, das verdiente Geld zu einem bestimmten Teil in die Arbeit der Szene und Bewegung zu reinvestieren. Insgesamt war die Szene deutlich weniger zwischen den Extrempositionen der ersten und zweiten Phase polarisiert. Dafür war sie aber umso stärker in die während der dritten Phase noch kooperativ agierenden Subszenen und Lager fragmentiert. Diese wirken mittlerweile mehr nebeneinander als miteinander innerhalb der Szene und Bewegung. Tabelle 2: Übersicht der Entwicklung des Rechtsrock in Deutschland von 1977-2017 Phasen – Schlüsselereignisse
Zentrale Entwicklungen
I. Generation: Entstehungsphase – Rechtsrock kommt als Kulturimport Rechtsrock als Kulturimport und aus GB nach D; Genese der ersten Jugendrebellion (1977-1989) Generation in D; Oi! mit rechtsextremen Texten als dominanter Stil II. Generation: Radikalisierung – staatliche Verbots- und Exekutivmaßnahmen I (1989-1994)
Gesamtdeutsche Szene entwickelt und radikalisiert sich nach der Wende ohne staatliche Kontrolle; staatliche Eingriffe und Verbotsmaßnahmen folgen bald
III. Generation: Kommerzielle Professionalisierung/staatliche Verbots- und Exekutivmaßnahmen II (1995-2005)
Professionalisierung der Szene und des Marktes; Zweiteilung der Szene in legal und illegal agierende Bands; Pluralisierung der Musikstile
IV. Generation: Rechtsrock heute Personelles und ökonomisches – zwischen Alltagskultur und poli- Wachstum, inhaltlich-ideologische tischer Agitation (2006-2017) und weitere stilistische Diversifikation Quelle: Eigene Darstellung.
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5. Die rechtsextreme Erlebniswelt zwischen Gemeinschaft, Politik und Kommerz Die Rechtsrockszene stützte sich in den 40 Jahren ihres Bestehens auf bestimmte unveränderliche Grundpfeiler wie einen ideologischen Kern und einen kleinen, aber bedeutenden Personenkreis. Aber ebenso war sie von einem Wandel in den Feldern der Bands, der Konzerte und des Handels geprägt. Diese (Dis)Kontinuitäten werden anhand dieser drei zentralen Säulen und den zugehörigen Funktionen summarisch dargelegt. Kernbestand der Rechtsrockszene sind die Bands: „Kein Konzert ohne Bands! […] Sie stellen eine der Grundlagen der Erlebniswelt der extrem rechten Musikszene dar. Ihre Existenz ist […] oftmals Anhaltspunkt […] für eine lebendige jugendsubkulturell orientierte Nazi-Szene.“72 Die rein quantitative Entwicklung der Bands weist über alle Phasen hinweg eine wellenartig ansteigende Entwicklung bis zum Jahr 2012 auf, in der 182 Bands aktiv waren. Seitdem hat die Zahl merklich abgenommen (2015: 133) und stagniert auf einem ähnlichen Niveau. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass einerseits einige Bands sich nicht aufgelöst haben, sondern nur befristet inaktiv sind. Andererseits haben sich weitere Musiker in vermeintlich unpolitische Projekte in der subkulturellen „Grauzone“, das heißt nicht offen rechtsextreme Bands, zurückgezogen. Neben diesen quantitativen Entwicklungen vollzogen sich zwei prägende qualitative Veränderungen. Der Rechtsrock differenzierte sich musikalisch stark aus und näherte sich dabei der Vielfalt der Subkulturen an, indem viele Musikstile, beispielsweise Hardcore, Black Metal und HipHop adaptiert wurden. Mit Blick auf die Texte ist festzustellen, dass ein inhaltlich-ideologischer Wandel stattgefunden hat. Dieser findet Ausdruck in der Anwendung der Techniken der literarischen Camouflage und des Storytellings, insbesondere um ähnliche Inhalte, aber ohne rechtliche Konsequenzen, verbreiten zu können. Eine Folge dessen ist, dass Feind- und Selbstbilder in den Texten der Bands nur noch sparsam und vage kommunizieren, wohingegen Weltbilder deutlich mehr Raum einnehmen. Zu Beginn war die Szene noch von einer hohen personellen Fluktuation geprägt, die sich in den Besetzungen und der Bestandsdauer von Bands widerspiegelte. Mit einem immer länger währenden Fortbestand der Szene kristallisierte sich ein Kern von Bands und Personen heraus, der den Rechtsrock über Jahre prägte. Um diese Personenkreise herum bildeten sich Gravitationszentren, die die Szene einerseits stabilisierten, indem sie
72 Jan Raabe, Verankert und etabliert – die Thüringer RechtsRock-Szene, in: Mobit e.V. (Anm. 24), S. 22-27, hier: S. 23.
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mit ihren Bands klassische Inhalte und Formen der Musik reproduzieren, aber andererseits durch ihren Einfluss als Gatekeeper und Katalysatoren für musikalische und textliche Innovationen fungierten. In der gesamtdeutschen Szene handelt es sich um die Akteure der „Generation Hoyerswerda“, die selbst und durch von ihnen rekrutierten, in Schlüsselpositionen handverlesenen, Nachwuchs, den größten Einfluss auf die Entwicklung hatten. Ein Beispiel ist Daniel „Gigi“ Giese, der selbst in diversen Bands und Projekten (unter anderem „Stahlgewitter“, „Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten“) aktiv ist und jüngere Bands mit Gastauftritten im Studio und auf der Bühne unterstützt. Während die Musik zu Beginn eine fast ausschließlich soziale Funktion hatte, nahm die Bedeutung der politischideologischen und der ökonomischen Funktion beständig, sodass sich die Funktionen in diesem Bereich nahezu in einem Gleichgewicht befinden. Bezogen auf die Konzerte, als Erlebnisse politischer und kultureller Bestätigung, lässt sich eine ähnliche wellenförmige Entwicklung verzeichnen, die jedoch nicht parallel zu den Bands verläuft. Während sich die Zahl der Konzerte in Deutschland von 1994 (20) bis 1998 (128) mehr als versechsfachte nahm sie bis 2001 (80) wieder ab. Die Entwicklungen in diesem Zeitraum sind stark mit den Aktivitäten des „Blood & Honour“-Netzwerkes verbunden. Obgleich die Organisation im Jahr 2000 verboten wurde, funktionierten die persönlichen Netzwerke weiterhin, sodass bereits im Jahr 2005 mit 193 Konzerten ein Allzeithoch erreicht wurde. Danach nahmen die Konzertaktivitäten der Szene immer weiter ab (2011: 131; 2013: 78), bis sie 2014 mit 55 Konzerten einen absoluten Tiefpunkt erreichte hatten. Seitdem steigt die Zahl der Konzerte wieder an (2017: 68). Zu Beginn waren die Konzerte nach dem DIY-Prinzip in privaten Räumlichkeiten organisiert. Sie hatten eine fast ausschließlich soziale Funktion. Im Zeitverlauf wurde der Konzertmarkt zunehmend von Unternehmern und Politaktivisten vereinnahmt, die zu einer Professionalisierung beitrugen. Es hielt zunehmend eine Doppelstrategie Einzug, die aus großen, öffentlichen und kleinen konspirativen Konzerten bestand, wobei der Grad der Kooperation zwischen Szene und Bewegung mitunter stark variierte. Insgesamt, vor allem durch die Großveranstaltungen, kam den beiden anderen Funktionen deutlich mehr Bedeutung zu. Die ökonomische Funktion weist in diesem Bereich ein leichtes Übergewicht gegenüber den anderen Funktionen auf. Im letzten Bereich, dem Handel mit Rechtsrockfanartikeln, vollzog sich eine andere Entwicklung. Bis zum Ende der 1990er Jahre war nur eine Handvoll Unternehmer in der Szene aktiv, wobei der Markt von den (eher) szenefremden Unternehmern Egoldt („Rock-O-Rama-Records“) und Lemmer („Funny Sounds Records“) dominiert wurde. In den 2000/2010er Jah162
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ren entwickelte sich ein wettbewerbsorientierter Markt mit bis zu 91 Unternehmen. Nach dem Niedergang der beiden ehemaligen Unternehmen übernahmen schrittweise in der dritten, in vollem Umfang in der vierten Phase, kleinere Händler und größere Händler aus dem Personenkreis der „Generation Hoyerswerda“ das Rechtsrockgeschäft. Es handelt sich vorwiegend um Bewegungsunternehmer, die sich als Gegenleistung für die Szene in vielfältiger Weise, finanziell und organisatorisch, betätigen. Während der Handel in früheren Phasen kaum eine Bedeutung für die Szene selbst oder gar die gesamte Bewegung hatte, abgesehen von einer schwachen politisch-ideologischen Funktion durch die Verbreitung der Tonträger und somit eines niedrigschwelligen Angebotes, hat er heute eine vorwiegend ökonomische Funktion. Den Bewegungsunternehmern wird (partiell) ein Leben von der Szene für die Szene ermöglicht, wodurch ihnen Freiräume für politische Aktivitäten entstehen, die beiden anderen Funktionen zu stärken. Durch die kursorische Darstellung der (Dis)Kontinuitäten lässt sich ebenfalls die Frage nach der Beurteilung der Bewegungsszene des Rechtsrock beantworten, ob es sich um ein Agitations- und Propagandainstrument, den Ausdruck juveniler Rebellion oder doch um eine rechtsextreme Erlebniswelt handelt, die beide Hauptfunktionen bedient. Zu Beginn standen die sozialen Funktionen im Vordergrund, insbesondere die gemeinschaftliche Rebellion gegen das politische und gesellschaftliche Establishment. In der ersten und zum Teil noch in der zweiten Phase grenzten sich die Akteure in Texten und Interviews von der (Partei-)Politik ab und betonten den eigenen subkulturellen Habitus. Im Verlauf der zweiten Phase und spätestens mit Beginn der dritten Phase gewannen die politisch-ideologischen Funktionen immer weiter an Bedeutung. Dadurch etablierte sich nicht nur in der Außenwahrnehmung, sondern auch in der Eigenwahrnehmung das Selbstbild als Vermittler einer rechtsextremen Ideologie. So verschränkten sich die sozialen und politisch-ideologischen Funktionen in der dritten und vier Phase zu einer rechtsextremen Alltagskultur. Die Klammer dieser beiden Funktionen bildet die ökonomische Funktion, die eine politische und soziale Vergemeinschaftung in einer rechtsextremen Erlebniswelt ermöglicht, die Bewegungsunternehmer versorgt, Aktivisten bindet und neue Anhänger rekrutiert, ohne den Akteuren ein Doppelleben abzuverlangen. Darüber hinaus konnte die rechtsextreme Bewegung ihr Auftreten durch den Anschluss an viele musikalischen Subkulturen radikal modernisieren, ohne den Kern ihrer Ideologie aufgeben zu müssen. Aus einer kulturell isolierten Politsekte, die Volks- und Marschlieder bei Parteitagen ab163
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singt, wurde eine moderne, auch für Jugendliche attraktive, anschlussfähige Bewegung(sszene). Zusammenfassend bedeutet diese Analyse für die Rolle der Musik innerhalb der rechtsextremen Bewegung: „Würde man der rechtsextremen Szene die Musik nehmen, so wäre sie, auch nach Selbsteinschätzung rechtsextremer Aktivisten, tot.“73
73 Florian Pascal Bülow, Der Wandel rechtsextremer Musik und die Bedeutung für rechtsextreme Szenen, Berlin 2014, S. 12.
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2. Demokratischer Verfassungsstaat und Parteien
Reicht Volkssouveränität aus? Das Problem normativer Grundlegung in Peter Graf Kielmanseggs Habilitationsschrift Sandra Wirth
1. Volkssouveränität als Demokratieprämisse „Volkssouveränität […] ist das tragende Legitimationsprinzip demokratischer polit. [sic!] Herrschaft.“1 Als Kampfbegriff gegen die Fürstensouveränität geschaffen, trat der Gedanke einer Souveränität des Volkes spätestens mit den Ausführungen in Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag2 seinen Siegeszug durch die Ideengeschichte an. Seither ist die Gedankenfigur wahlweise Rechtfertigung oder Anklage gegen bestehende Verhältnisse. Kaum ein Land – freiheitlich oder autoritär organisiert – verzichtet auf die wirkmächtige Begründungsformel. Einigkeit über ihre konkrete Umsetzung herrscht indes nicht. In den späten 1960er Jahren macht sich Peter Graf Kielmansegg als junger Habilitand am Darmstädter Lehrstuhl von Eugen Kogon daran, das „Prinzip der Volkssouveränität als brauchbare Umschreibung der Bedingung demokratischer Legitimität“3 zu befragen. Sein argumentativer Weg zu einer verneinenden Antwort bildet den Kern dieses Beitrages.
1 Ulrich Weiß/Klaus Grimmer, Volkssouveränität, in: Dieter Nohlen/Florian Grotz (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, München 2015, S. 709-710, hier: S. 709. 2 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1986. 3 Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977, S. 9. Das Original der Habilitationsschrift Volkssouveränität als Legitimationsproblem befindet sich nicht im Bestand des Darmstädter Universitätsarchives (schriftliche Auskunft vom 13.3.2017), ebenso wenig verfügt Kielmansegg laut eigener Aussage über ein Exemplar. In weiten Teilen fand die 1971 fertiggestellte Habilitationsschrift jedoch Eingang in die 1977 veröffentlichte Monographie Volkssouveränität. Die Einleitung hingegen wurde als eigenständiger Aufsatz Legitimität als analytische Kategorie bereits 1971 in der Politischen Vierteljahresschrift veröffentlicht und ist später kein Bestandteil des Buches mehr.
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Oft wegen ihrer ideengeschichtlichen Herleitung aufgegriffen, wird seine Arbeit Volkssouveränität von der Mehrzahl der Rezensenten politikwissenschaftlicher, juristischer, soziologischer oder historisch-anthropologischer Provenienz lediglich erwähnt.4 Eine detaillierte Referierung des Gedankenganges oder eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung lassen die meisten Beiträge hingegen vermissen.5 Dieser Beitrag möchte die Lücke anhand der folgenden Fragen schließen: Unter welchen zeit- und fachgeschichtlichen Bedingungen widmet sich Kielmansegg dem Thema? Wie beschreibt er die ideengeschichtlichen Meilensteine bei der Herausbildung der Volkssouveränität? Warum stellt sie für Kielmansegg keine ausreichende normative Grundlegung für die Demokratie dar? Welche Prämisse schlägt er selbst vor? Und wie ist diese im Gesamtwerk einzuordnen? 2. Unruhige Zeiten der „Bonner Republik“ Das „Erwachen aus einer politischen Lethargie“6 erfolgte für die deutsche Öffentlichkeit in den 1960er Jahren. Mit der Spiegelaffäre, der Notstandsgesetzgebung, Debatten um Hochschulreformen und Bildung, den offensichtlichen Grenzen von Wachstum und Industriegesellschaft sowie später der Terrorismuswelle „Deutscher Herbst“ kristallisierten sich „überscharf tatsächliche oder vermeintliche Schwächen des westdeutschen Staates“7 heraus.
4 Beispielhaft: Karin Glaser, Über legitime Herrschaft. Grundlagen der Legitimitätstheorie, Wiesbaden 2013, S. 38-72; Christian Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, Tübingen 2005, S. 88, 133; Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993, S. 296; Katja Jung, Volk - Staat - (Welt-)Gesellschaft. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt, Wiesbaden 2010, S. 66; Wolfgang Reinhard, Geschichte als Anthropologie, Köln 2017, S. 161-165. 5 Eine Ausnahme bildet eine Würdigung durch Tine Stein, die den Gedankengang kurz skizziert. Vgl. Tine Stein, Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977, in: Steffen Kailitz (Hrsg.), Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, S. 210-214. 6 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 354. 7 Dominik Geppert/Jens Hacke, Einleitung, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008, S. 9-22, hier: S. 9.
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In dieser unruhigen Zeit schaffte es ein – seit den Überlegungen Max Webers und der Weimarer Staatsrechtslehre – beinah in Vergessenheit geratenes Thema mit neuer Kraft auf die Tagesordnung: Die Legitimität schüttelte sich in der wissenschaftlichen Debatte ihren „Staub des Vormärz“8 ab. „Man spricht nicht über die Bedingungen der Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft, über die Geltungsgründe einer Verfassungsordnung, über Gründe und Grenzen der Bereitschaft der Bürger, die geltende Ordnung anzuerkennen, solange man sich darüber einig ist, wo die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Herrschaft verläuft, solange Übereinstimmung über die Geltungsgründe der Verfassung besteht, solange es keinen Grund gibt, an der Loyalität der Bürger gegenüber der bestehenden Ordnung zu zweifeln.“9 Kielmansegg vermutet rückblickend, die thematische Renaissance habe weniger mit den damaligen gesellschaftspolitischen Wirklichkeiten, denn mit den (neomarxistischen) Mustern ihrer Deutung zu tun gehabt10 – Claus Offes Strukturprobleme des kapitalistischen Staates von 1972 und Jürgen Habermas‘ Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus von 1973 zeugen hiervon. Zuvor hatten sich allen voran systemtheoretische Ansätze, etwa Niklas Luhmanns Legitimation durch Verfahren von 1969 oder David Eastons A System Analysis of Political Life von 1965, der Legitimität angenommen. Im Verlauf der 1970er war sie zum Standardthema avanciert. Für die Politologie erwies sich die Rückkehr als folgenreich: Zunächst wurden die Prämissen Volkssouveränität und Freiheit beschworen, um diese an die Praxis von Institutionen und Regeln anzulegen. Es folgten Fragen nach der besten Ordnung sowie den Bedingungen, diese als rechtmäßig anzuerkennen. Ein deutlich sichtbares Zeichen der politikwissenschaftlichen Debatte um den Legitimitätsbegriff setzte eine Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 1975.11 Auch wenn sich die vorab geäußerte Befürchtung, es würden ähnlich tumultartige Zustände eintreten wie zur 8 Peter Graf Kielmansegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische Vierteljahresschrift, 12 (1971) 3, S. 367-401, hier: S. 367. 9 Peter Graf Kielmansegg, Einleitung, in: Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft. Doktrinen und Verfahren in Ost und West, Freiburg/München 1978, S. 9-25, hier: S. 10. 10 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Duisburg 1975. Ein Rückblick auf die Hennis-Habermas-Debatte, in: Gabriele Abels (Hrsg.), Vorsicht Sicherheit! Legitimationsprobleme der Ordnung von Freiheit. 26. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden 2016, S. 13-24, S. 15. 11 Vgl. der Tagungsband: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976.
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Hamburger Tagung 1973, nicht bewahrheitete, lieferten sich Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas einen „denkwürdigen Schlagabtausch“12. Wie ein Schatten lag auch der Ruf nach Demokratisierung auf der Debatte um den Verfassungsstaat. Denn mit der Vorstellung einer Herrschaft des Volkes waren Konsequenzen verbunden:13 Jede Herrschaftsform müsse auf direkte und unmittelbare Willensbekundungen eben dieses Volkes zurückführbar sein, andernfalls verliere sie ihre Legitimation. In Verknüpfung mit dem antiken Demokratiebegriff, wie sie besonders folgenreich Jean-Jacques Rousseau unternahm,14 gingen die Vorstellung der Selbstherrschaft des Volkes in das „Unterbewußtsein der westlichen Menschheit […] [ein] und bestimmen weitgehend die Kategorien des politischen Denkens“15. Als sei „Rousseau noch mitten unter uns“ verlautbarte die „Renaissance der Identität“ ihren Ruf nach „weniger Repräsentation“ und stürzte die Idee der Repräsentation im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend in die Krise.16 Dem promovierten Historiker Kielmansegg war „die so beharrlich geübte und in den letzten Jahren dramatisch gesteigerte Beschwörung des Gegeneinanders von unerfülltem Postulat und mißlungener Wirklichkeit“17 der Demokratie in der zeitgenössischen Theorie ein Dorn im Auge. Auf der Suche nach einem politiktheoretischen wie historischen Habilitationsthema begegnete ihm die Vermutung, die Volkssouveränität genüge der Demokratie als Grundlegung nicht. „Und dieser zunächst mal oberflächliche Eindruck war dann ein Anlass […] dieser Spannung des politischen Gebildes [nachzugehen], das
12 Eckhard Jesse/Frank Decker, Fach ohne Ausstrahlung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2016. 13 Vgl. Joachim Detjen, Pluralistische Demokratie oder pluralistische Republik? Überlegungen zu einer thematischen Neuorientierung der Pluralismustheorie, in: Jürgen Hartmann/Uwe Thaysen (Hrsg.), Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis. Winfried Steffani zum 65. Geburtstag, Opladen 1992, S. 27-51, hier: S. 27-32. 14 Vgl. insb. zweites und drittes Buch in: Rousseau (Anm. 2). 15 Detjen (Anm. 13), S. 29. 16 Wolfgang Mantl, Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt. Ein Beitrag zur modernen Staatsformenlehre, Wien/New York 1975, S. 202f., 247. Wolfgang Mantl weist dies anhand mehrerer Inhaltsvergleiche nach (u. a. der sechsten Auflage des „Staatslexikon der Görres-Gesellschaft“ mit ihren Ergänzungsbänden, der Tagungen der „Vereinigung der Deutschen Staatrechtslehrer“ 1958 und 1970 sowie anhand der Arbeiten Ernst Fraenkels, Karl Loewensteins und Ulrich Scheuners). Vgl. ebd., S. 221-246. 17 Kielmansegg (Anm. 3), S. 11.
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eigentlich eine komplexe theoretische Grundlegung braucht, das kann man nicht mit einem schlichten Satz sagen ‚alle Gewalt geht vom Volke aus‘ oder wie auch immer dieser Satz formuliert wird, aber es bleibt bei diesem einfachen Formelbestand. Irgendwie wiederholt den jeder und das ist intellektuell unbefriedigend.“18 Kielmanseggs Forschungsambition war es, einen „historische[n] Beitrag zu einem Unternehmen systematischer Kritik“19 zu leisten, welche die Legitimitätsdoktrinen auf die letzten Prämissen zurückführt, ihre Implikationen offenlegt, ihre gegenseitige Vereinbarkeit prüft und mit ihren vorgegebenen Zielen abgleicht. 3. Ideengeschichtliche Genese der Volkssouveränität Kielmanseggs Unterfangen führt vorbei an Sackgassen, Winkelzügen und großen Denkern, und es skizziert die ideengeschichtliche Substanz der Volkssouveränitätsidee.20 Beginnend im Mittelalter absolviert er einen Parforceritt bis hin zur Französischen Revolution. Dabei entdeckt er bereits in der ersten Untersuchungsphase frühe Wurzeln der Herrschaftsteilhabe an der Gesamtheit. Von der Prämisse einer von Gott erschaffenen und gelenkten Welt ging das politische Denken des Mittelalters aus. Der Herrschaft wurde die Aufgabe zuteil, das Recht zu wahren und für den Einzelnen zu sichern. Allenfalls der Herrschaftsanspruch Einzelner stand damit infrage, nie die Ordnung an sich. Das Volk war indes nicht einfach Objekt, da Herrschaft im Sinne des consensus fidelium, der wechselseitigen Treueverpflichtung, als prinzipiell konsensgebunden gedacht wurde. Im Gegensatz zum neuzeitlichen Volkssouveränitätsgedanken beruhte die Herrschaftsteilhabe jedoch noch nicht auf der Idee individueller Autonomie, vielmehr wurde das Volk als Gesamtheit begriffen und es diente als Denkfigur der Rechtsgebundenheit. Zudem waren Amt und Auftrag des Herrschers vorgegeben, und sie trugen ihre Legitimation in sich, sodass die Teilhabe aller nicht mit Souveränität gleichzusetzen war. Angetrieben von Konflikten zwischen geistlicher und weltlicher Macht schritt das Nachdenken über Politik voran. Die Rezeption des spätrömi-
18 Peter Graf Kielmansegg, Gespräch I mit der Autorin, Laudenbach, 6.8.2015, S. 24. 19 Kielmansegg (Anm. 3), S. 13. 20 Die folgenden Ausführungen referieren die Monographie Volkssouveränität (S. 16-168). Zur besseren Lesbarkeit sind nur jene Passagen im Konjunktiv formuliert, in denen Kielmansegg andere Autoren paraphrasiert.
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schen Rechts bot sprachliche Präzisierungen einer Teilhabe der Gesamtheit an der Herrschaft, und sie verdrängte zunehmend die Idee einer unwandelbaren und geheiligten Ordnung der Gerechtigkeit zugunsten einer Idee des Gesetzes als ordnenden Akt menschlichen Willens. Einen zweiten Denkanstoß lieferte die Rezeption aristotelischer Schriften. Beispielhaft bei Thomas von Aquin abzulesen, ermöglichte sie, Herrschaft in ihren verschiedenen Organisationsformen begrifflich zu erfassen und einander vergleichend gegenüberzustellen. Ebenso rückte deren Rechtfertigung ins Bewusstsein. Die Freiheit des Individuums und die Einsicht, dass innerer Friede am besten da geschaffen werden könne, wo die Gesamtheit statt eines Einzelnen entscheide, wiesen deutlich über mittelalterliche Überlegungen hinaus. Zur „Schlüsselfigur“21 im Vorlauf des Volkssouveränitätsgedankens wird Marsilius von Padua, der in Defensor Pacis 1324 erstmals den Versuch unternimmt, „ein vollständiges Modell der Organisation menschlichen Zusammenlebens nicht als Interpretation einer vorgegebenen Ordnung, sondern als systematische Konstruktion des menschlichen Geistes zu entwerfen“22. Die Vorstellung Marsilius‘, der Aufbau der Gesellschaft müsse aus einer ersten Ursache – dem Gesetzgeber – hergeleitet und erklärt werden, formulierte das Konzept der Souveränität bereits vor. Ebenso modern nahm sich die Idee aus, nicht mittels Herrschaft die vorgegebene Rechtsordnung zu bewahren, sondern diese „im Kern als Gesetzgebung zu verstehen“23. Doch erst Nicolaus Cusanus ergänzte 1433 in De concordantia Catholica libri tres die Annahme, Herrschaft müsse auf Zustimmung gegründet sein und wies damit aus Sicht Kielmanseggs über das mittelalterliche Denken hinaus: „Daß Herrschaft nur durch freiwillige Anerkennung gerechtfertigt werden kann, folgt aus der gemeinsamen, gleichen Geschöpflichkeit aller Menschen; daraus, daß sie alle Träger der gleichen natürlichen, das heißt in der Schöpfungsordnung Gottes begründeten Rechte sind. […] [Dies bedeutet], daß es keine natürlich begründete, begründbare Herrschaft von Menschen über Menschen gibt, […] nur freiwillige Anerkennung, Zustimmung, Vereinbarung rechtmäßige Herrschaft zu stiften vermag.“24
21 22 23 24
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Ebd., S. 57. Ebd., S. 61. Ebd., S. 63. Ebd., S. 69.
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Herrschaft orientierte sich in dieser Denkweise am Individuum, das wiederum auf die wesenhafte Freiheit und Gleichheit aller rekurrierte. Die Ordnung seiner Zeit stellte Cusanus indes nicht grundsätzlich in Frage, er bleibt noch in ständischen Verfassungsvorstellungen verfangen. In der Gedankenwelt des 16. Jahrhunderts liegen die Anfänge der rationalistischen Naturrechtsphilosophie, vor allem vertreten durch die spanischen Neoscholastiker. Sie begriffen die menschliche Gemeinschaft als naturgegeben und von Gott mit dem Recht und der Fähigkeit ausgestattet, sich selbst zu regieren. Die Gemeinschaft vermochte dieses Recht nicht selbst auszuüben und sie übertrug es, in einem legitimierenden Akt, auf den Herrscher. Die Rechtfertigung von Herrschaft aus dem Ursprung – dem vorgesellschaftlichen Zustand –, sollte das politische Denken fortan prägen. Hinter der systematisch-vernunftbegründeten Herleitung verbargen sich einerseits das natürliche Verfügungsrecht der Gesamtheit über sich selbst und andererseits der – bereits bei Cusanus formulierte – Gedanke der wesenhaften Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Dies führte zur Schlussfolgerung: „Von Natur aus sind alle frei, keiner hat ein Herrschaftsrecht über den anderen.“25 Obwohl sich hier noch nicht der Durchbruch zur Idee des Individuums als Ankerpunkt der Legitimität vollzog, ist für Kielmansegg eine neue Phase der Auseinandersetzung markiert: Die Gesamtheit ist Trägerin der Herrschaftsgewalt in einer imaginierten Vorwirklichkeit, ohne am gegenwärtigen Herrschaftsprozess selbst teilzuhaben. Auf dem Weg zur Volkssouveränitätsidee brachten die konfessionellen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts einen zweiten Begriff hervor: das Konzept der Souveränität. Sein berühmtester Vertreter Jean Bodin kam 1576 in Les six livres de la Republique zur Schlussfolgerung, nur eine höchste und ungeteilte Gewalt erzwinge Frieden und Einheit im Inneren und sie biete zugleich eine organisatorische Bedingung für die Möglichkeit effizienter Herrschaft an. An die Stelle des vorgegebenen Ordnungssystems setzte Bodin eine höchste Herrschaftsinstanz, auf die alle Ausübung von Herrschaft zurückgeführt werden musste. „Daraus folgt[e]: Die Legitimität einer politischen Ordnung begründen heißt, den Träger der souveränen Gewalt […] ausfindig machen und sein Recht begründen.“26 Die Denkfigur bot Antwort auf „die Frage nach den Bedingungen der Rechtmäßigkeit von Herrschaft und auf die Frage nach den organisatorischen Bedingungen
25 Ebd., S. 75. 26 Ebd., S. 138.
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von Souveränität.“27 Bodins Idee stellte folglich eine radikale Absage an das mittelalterliche Verständnis einer vorgegebenen Ordnung dar. Die Funktion von Herrschaft erstreckte sich nicht länger auf die Bewahrung, sondern wandelte sich in Gestaltung. Mit Einführung des Souveränitätskonzeptes stellte sich dem absolutistischen Fürsten die Volkssouveränität unvermeidlich gegenüber. Aus Sicht Kielmanseggs zog Johannes Althusius in Politica methodice digesta zuerst diese Konsequenz. „Man kann, wenn man will, den Begriff der Volkssouveränität auf dieses Werk zurückführen und damit meinen, hier sei zum ersten Mal Herrschaftsgewalt in einem präzisen Sinn als Souveränität gefaßt dem Volk zugeschrieben worden.“28 Althusius zufolge war Herrschaftsgewalt nur als vom Volk abgeleitet, übertragen und durch Auftrag begrenzt legitimiert. Doch noch ordneten sich erbliche Monarchien und die stillschweigende Zustimmung zu diesen mühelos in das Gedankengebäude ein. Die Gesamtheit als Trägerin der Herrschaftsgewalt führte Althusius nicht auf die Rechtsposition des Individuums zurück. Erst im 17. Jahrhundert sollte sich der Durchbruch zur Volkssouveränitätsidee vollziehen: die „Inthronisierung des autonomen Individuums“ als „letzten Bezugspunkt […] aller Aussagen über die Gestalt und den Sinn der sozialen Existenz des Menschen durch die rationalistische Naturrechtsphilosophie, in der das europäische Denken endgültig alle theologischen Prämissen fallen läßt und die Vernunft für souverän erklärt“29. Zum Maßstab des politischen Denkens wurde die Anschauung, jeder Mensch sei von Natur aus prinzipiell frei und „als Monade in der vollen Souveränität der Selbstbestimmung“30 belassen. Der Gedanke individueller Autonomie, das „Herr seiner selbst bis zur äußersten Konsequenz“31 sein, führte zur Absage an jede Art vorgegebener Verbindlichkeit und stellte die Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens prinzipiell in Frage. Die Demokratietheorie sah sich fortan mit der Herausforderung konfrontiert, Herrschaft aus der Herrschaftslosigkeit heraus zu legitimieren. Obwohl die Staatslehre des rationalistischen Naturrechtes die gedanklichen Schranken des überlieferten Weltbildes durchbrechen konnte, blieb sie von der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit weit entfernt. Diesen Spagat erkennt Kielmansegg in der Denkfigur des Urvertrages wieder, die legitime Herrschaft durch den freiwilligen Verzicht auf das Selbstbestim27 28 29 30 31
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Ebd., S. 242. Ebd., S. 89 f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102.
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mungsrecht zu begründen versuchte. John Locke etwa versuchte in seiner Sozialvertragstheorie bei Two Treaties on Government einen solchen Ausgleich zu finden. Er beschrieb die Autonomieprämisse in ihrer antinomischen Doppelfunktion: herrschaftsbegründend, wo sich individuelle Autonomie in kollektive Souveränität verwandelt, herrschaftsbegrenzend, wo sie sich in natürlichen Rechten des Einzelnen offenbart. Das Autonomieprinzip wurde zuallererst zur Bindung und Begrenzung der Herrschaftsgewalt bedeutsam und nicht als Fundament der Herrschaftsgewalt selbst. Revolutionär brachen sich die Gedanken schließlich bei Jean-Jacques Rousseau Bahn. Er war der Erste, bei dem „die Idee der Volkssouveränität die Gestalt einer systematischen Theorie annimmt, der erste, der Volkssouveränität als Realisierung des Autonomieprinzips ganz konsequent zu Ende denkt. […] Rousseau ist in gewissem Sinn zugleich auch der letzte Theoretiker der Volkssouveränität, insofern er nämlich die Theorie bis zu ihren äußersten Möglichkeiten und Konsequenzen führt.“32 Kielmanseggs Auseinandersetzung mit der Volkssouveränität mündet daher in eine Beschäftigung mit Rousseau. Für diesen galt die Freiheit des Einzelnen als Grundprinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens. Jede legitime Herrschaftsordnung müsse auf der natürlichen Selbstbestimmung beruhen. Die Kluft zwischen dem Anspruch – frei sei nur, wer lediglich seinem eigenen Willen unterworfen ist – und der Notwendigkeit eines organisierten Miteinanders führte zu einem Paradoxon, das durch die Idee der Volkssouveränität aufgelöst werden sollte: „Wenn jeder Einzelne mit allen seinen Rechten in einem Ganzen aufgeht und dieses Ganze – das Volk – sich als Souverän konstituiert, dem wiederum jeder Einzelne unterworfen ist, dann […] gehorcht jeder zugleich kollektiver Verfügungsgewalt […] und doch nur sich selbst.“33 Unerklärt blieb, wie dieses Kollektiv mit eigenem Leben und Willen – als ein personales Subjekt – aus der Vielzahl der Individuen entstehen konnte. Für den Fortgang der Argumentation musste das Volk als ein Subjekt mit einem (kollektiven) Willen imaginiert werden. In dieser Vorstellung „verbindet sich in merkwürdiger Spannung das Prinzip individueller Autonomie mit einer mystisch anmutenden Vorstellung von der Einheit des Gan-
32 Ebd., S. 148f. 33 Ebd., S. 150.
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zen mit seinen Teilen“34. Legitime Verfügungsgewalt beruhte infolge auf der Bereitschaft des Einzelnen, mit seinem individuellen Selbstbestimmungsrecht in einer Kollektivperson aufzugehen. Der Gesamtwille des Volkes sollte sich in Volksabstimmungen erweisen. Damit sich die Selbstbestimmung aller in ihm realisierte, wurde er als verschieden zu individuellen Willensbekundungen und deren Summe aufgefasst. Er sollte in Gestalt einer siegreichen Mehrheit und einer unterlegenen Minderheit Ausdruck finden. „Warum freilich notwendigerweise die Mehrheit den allgemeinen Willen ausfindig macht, bleibt ein offenes Problem.“35 Mystisch mutete für Kielmansegg der Fall an, dass Minderheiten durch ihre Teilhabe am Gesamtwillen frei sind, obwohl sie diesen unter Umständen gar nicht als ihren eigenen empfanden. Diese Unklarheit verschärfte sich, da die Rousseau’sche Überlegung augenscheinlich von einem prinzipiellen Einverständnis der Minderheit mit der Mehrheitsregel getragen war. Ausdruck fanden die Spannungen für Kielmansegg deutlich im Konstrukt der volonté générale. Diese konnte indes nur von ihrem Inhalt her identifizierbar sein, da erstens kein Träger des Willens empirisch nachweisbar ist und zweitens, selbst wenn es ein solches drittes Subjekt gäbe, wäre eine Teilhabe an dessen Willen gegen das eigene Bewusstsein möglich und die Unterwerfung unter ihn wäre schwerlich als Akt der Freiheit zu begreifen. „Rousseau’s [sic!] Begrifflichkeit, der Gang seiner Argumentation erwecken den Eindruck, als gehe er von einem kollektiven Subjekt, dem Volk, aus, schreibe ihm einen Willen, die volonté générale, zu und sehe in diesem Willen die Freiheit aller realisiert. In Wahrheit geht er von einer Allgemeinwohlidee aus, die vernunftbegründet ist und daher objektiven Charakter hat, nennt den Willen, der sich auf das allgemeine Wohl richtet, die volonté générale, und setzt schließlich auch ein Subjekt als Träger dieses Willens voraus.“36 Damit ist die volonté générale nur als derjenige Wille bestimmbar, der auf das Allgemeinwohl zielt. Der Souverän stellt im Gedankenspiel das diesem Willen zugeordnete Subjekt dar. Zwei Bezugspunkte sollen sich im Begriff der volonté générale vereinigen: die Souveränität des jedermann zurechen-
34 Ebd., S. 150. 35 Ebd., S. 152. „Die Minderheit hat sich lediglich über das, was sie als Glied des Souveräns in Wahrheit wollte, geirrt.“ Vgl. ebd., S. 152. 36 Ebd., S. 153.
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baren Willen, der sich in Mehrheitsentscheidungen der Volksversammlung ausdrücke und die Souveränität des Allgemeinwohls. Eine Antwort auf die daraus resultierende Gretchenfrage, wie denn beide übereinstimmen können, bleibt Rousseau Kielmansegg zufolge schuldig. Der konstitutive Prozess des Politischen scheint mehr Erkenntnis, denn Entscheidung zu sein. Dabei zeichnet sich der neuzeitliche Mensch gerade dadurch aus, sich nicht mehr in vorgegebene Ordnungen einzufügen, sondern durch Entscheidungen sein Verhältnis zur Welt zu bestimmen. Die Idee entpuppte sich letztlich als „terminologischer Trick zur Überbrückung einer unüberbrückbaren Spannung […] zwischen dem Postulat der Volksherrschaft und dem Postulat der Herrschaft einer bestimmten, vorgegebenen Allgemeinwohlvorstellung“37. Kielmansegg befragt Rousseau weiter, wie der Zusammenhang von individueller Freiheit und Partizipation überhaupt erklärbar ist, wenn Freiheit sich in der Dominanz eines objektiv bestimmbaren Gemeinwohles verwirklicht. Wenn Souveränität des Ganzen sich als rechtlich unbeschränkte Verfügungsgewalt äußere, wie kann ein Souverän dann an den vorgegebenen Gesellschaftszweck des allgemein Besten gebunden werden? In den Augen des Habilitanden leugnete Rousseau dieses Problem: Die Sicherheit des Einzelnen entstehe mechanisch aus der wechselseitigen Verfügungsgewalt. „Rousseau vergißt dabei, daß der demokratische Entscheidungsprozeß zwar […] von der Gleichheit aller ausgeht, aber sie notwendigerweise aufhebt und an die Stelle der Verfügungsgewalt eines jeden über jeden die Verfügungsgewalt der Mehrheit über die Minderheit setzt.“38 Weiter noch richtete sich der allgemeine Wille in Form von Gesetzen immer an einen bestimmten und begrenzten Kreis von Bürgern. Somit war es durchaus möglich, über die Belange anderer zu beschließen, ohne zugleich selbst betroffen zu sein. Die behauptete Schutzwirkung für den Einzelnen entfiel damit ebenso wie eine wirksame Bindung des Souveräns an das Allgemeinwohl – die Herrschaft blieb unbegrenzt. Ideengeschichtlich verbanden sich die „individuelle Autonomie als Prämisse der demokratischen Legitimitätsidee“ und die „Souveränitätsvorstellung als Gefäß, das die Idee aufnahm“.39 Legitim wurden fortan nur Ordnungen genannt, die das Gottesgnadentum des souveränen Monarchen
37 Ebd., S. 233. 38 Ebd., S. 154. 39 Ebd., S. 232.
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durch die Souveränität aller ersetzten. Zugleich wandelte sich das Individuum zur neuen Bestimmung des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Der Schutz seiner natürlichen Rechte – des Rechtes auf Leben, Freiheit und Gleichheit – fand Eingang in die französischen Menschenrechtserklärung und die nordamerikanische Bill of Rights. Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung gründeten seither auf dem autonomen Individuum. Die Vereinbarkeit der Souveränität des Kollektivs mit dem Staatszweck der Menschenrechte wurde vorausgesetzt. 4. Mangelhafte normative Grundlegung Die theoretischen Annahmen der Volkssouveränitätsidee fasst Kielmansegg in drei Thesen zusammen – er setzt ihnen schwerwiegende Argumente entgegen:40 (1) „Die Autonomie des Menschen geht aller gesellschaftlichen Organisation voraus, gesellschaftliche Verfügungsgewalt muß letztlich auf diese Autonomie zurückgeführt werden.“41 Der Vorstellung, das menschliche Wesen erkläre sich über die Herausgelöstheit aus allen gesellschaftlichen Beziehungen, hält Kielmansegg entgegen, dass der Mensch erst innerhalb von Beziehungen Mensch wird, auf andere also existenziell angewiesen ist.42 Im dichten Netz sozialer Beziehungen sind einerseits Selbstbestimmung und Fremdbestimmung unauflöslich miteinander verwoben. In Erwiderung zu Jürgen Habermas‘ Ausführungen43 offenbart sich politische Beteiligung in der Demokratie daher primär als Verfügung über Dritte. Andererseits konstituieren sich die Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung immer in sozialen Bezügen. Sie setzen die Geltung verbindlicher Regeln und damit Herrschaft voraus – nicht deren Abwesenheit. Autonomieprämisse und soziale Bedingtheit der menschlichen Existenz – oder Selbstbestimmung und Herrschaft – müssen zusammen gedacht werden. Diesem Gedanken folgend wandelt sich die moralische Qualität des Autonomiepostu-
40 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Volkssouveränität (S. 230-255). 41 Ebd., S. 234 [Hervorhebung durch Verfasserin]. 42 Diese gegenseitige Angewiesenheit begegnet dem Leser in den meisten politikwissenschaftlichen Frühwerken Kielmanseggs. 43 „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein.“ Vgl. Jürgen Habermas, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten, Neuwied 1967, S. 15.
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lates: Wenn das Recht auf verbindliche Entscheidung allein durch Addition der individuellen Autonomien festgelegt wird, ist von Verantwortung keine Rede. Die Bestimmung über Dritte jedoch muss verantwortet werden. Wird Volkssouveränität dagegen nur als Summe der Selbstbestimmungen Einzelner verstanden, können Regeln nur über den Weg der Zustimmung verbindliche Geltung erlangen. Die Funktion einer Legitimitätsdoktrin, verbindliche Geltung von Entscheidungen zu begründen, wäre damit verfehlt. „Keine noch so scharfsinnige Argumentation […] kommt aber letztlich daran vorbei, daß, wer Herrschaft allein und ganz auf Zustimmung gründet, die Anarchie proklamiert.“44 Die Demokratie fußt damit auf einem labilen Fundament, erläutert Kielmansegg in Demokratieprinzip und Regierbarkeit, denn sie lebt „ständig in der Gefahr, durch ihre eigenen normativen Prämissen überfordert zu werden“45 und es existiert keine „Form […] die man nicht am Postulat individueller Selbstbestimmung scheitern lassen könnte“46. (2) „Souveränität des Kollektivs ist das logische Resultat der Herleitung gesellschaftlicher Verfügungsgewalt aus individueller Autonomie.“47 Kielmansegg bestimmt das Ziel der Denkfigur aus seiner Entstehungszeit heraus: Die Souveränität monopolisierte die Befugnis, gesellschaftliche Konflikte verbindlich zu entscheiden, um damit gewaltsame Konfliktaustragung zwischen konkurrierenden Entscheidungsgewalten unnötig und unmöglich zu machen. Durch sie nimmt sich die Gesellschaft zum Subjekt ihrer selbst, da sie einerseits im Glaubenszerfall an vorgegebene Ordnungen eigene Geltungsüberzeugungen sowie Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeiten entwickeln muss und andererseits ihre eigene Entwicklung durch Politik steuern will. Damit geltendes Recht als solches identifizierbar ist, muss ein Rechtschöpfungsmonopol – ein Souverän – ausgebildet sein. Im selben Atemzug entscheidet souveräne Herrschaftsgewalt allein über ihre Selbstbindung, in dem sie etwa durch Verfassungen Autonomiebereiche als Grenzen ihrer eigenen Regelungskompetenz festlegt. Der Schluss von diesen Anforderungen der Souveränität auf einen Souverän, der alle Entscheidungsbefugnis konzentriert in Händen hält, war historisch sinnvoll, aber er ist nicht zwingend notwendig: Es ist möglich, differenzierte Kompetenzsysteme nach dem Prinzip zu entwerfen, ohne 44 Kielmansegg (Anm. 3), S. 237. 45 Peter Graf Kielmansegg, Demokratieprinzip und Regierbarkeit, in: Wilhelm Hennis/Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hrsg.), Regierbarkeit 1. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart 1977, S. 118-133, hier: S. 121. 46 Ebd., S. 121. 47 Kielmansegg (Anm. 3), S. 234 [Hervorhebung durch Verfasserin].
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einen Souverän zu benennen. Anschauliches Beispiel sind Kielmansegg moderne Verfassungsstaaten, die zwar dem Verfassungsgesetzgeber eine Primärkompetenz zuordnen, aber keine Allkompetenz kennen. Der Verfassungsgesetzgeber stellt keinen solchen Souverän dar. Zum einen wären in dieser Denkweise Souverän und Souveränität einander nicht mehr zugeordnet, da Verfassungsentscheidungen anderen Entscheidungen vorgelagert sind, aber nicht die Befugnis anderer zur verbindlichen Entscheidung ausschließen.48 Zum anderen leitet sich demokratische Legitimität nicht aus dem Ursprung her, sondern sie empfängt ihre Rechtmäßigkeit von den Anforderungen an den politischen Prozess. „[D]as heißt, daß mit einem Souverän, der […] nur als Verfassungsgesetzgeber in Erscheinung tritt, in der demokratischen Legitimationsargumentation nicht viel anzufangen ist.“49 Die Entstehungsgeschichte der Volkssouveränität weckt in Kielmansegg Zweifel, ob die Idee des Souveräns überhaupt einen hilfreichen Anhaltspunkt für die demokratische Legitimation bietet. Anknüpfend an seine Ausführungen zur ersten These argumentiert er, gemeinschaftliche Entscheidungsgewalt fällt nicht mit der Summe individueller Autonomien in eins. „Das Recht des Kollektivs, über den Einzelnen zu verfügen, ist so wenig mit dem Recht des Einzelnen, über sich selbst zu verfügen, identisch, wie es das Verfügungsrecht irgendeines Dritten wäre.“50 Die in der „Identitätsfiktion“51 beschriebene Übereinstimmung von Regierenden und Regierten – von individueller Selbstbestimmung und Souveränität des Kollektivs – lässt sich nicht herstellen. „Die Verfügungsgewalt eines jeden über sich selbst und die Verfügungsgewalt aller über alle sind zwei verschiedene Dinge. Die Denkfigur des [Volks-]Souveräns leistet also gar nicht, was sie leisten soll […]: Sie versöhnt nicht das Postulat individueller Selbstbestimmung mit der Notwendigkeit gesellschaftlicher Entscheidungsmacht“52.
48 Auch wenn der Verfassungsgesetzgeber sich die Zuständigkeit für Verfassungsänderungen selbst erteilt bedeutet es nicht, dass alle Entscheidungstätigkeit des Systems auf diesen einen Herrschaftsträger zurückgeht. 49 Ebd., S. 240. 50 Ebd., S. 243. 51 Ebd., S. 243. 52 Ebd., S. 243. Noch anschaulicher formuliert Kielmansegg 1981: „Die Wahrheit ist natürlich, daß, wo ‚alle über alle bestimmen‘, keineswegs jeder über sich selbst bestimmt. Daß alle über alle bestimmen, heißt ja nichts anderes, als daß Mehrheiten […] das Recht haben, auf dem Fundament eines Konsenses über die Entscheidungsregeln Entscheidungen zu fällen, die für alle verbindlich sind, auch für die
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Ferner gerät die Denkfigur mit dem Autonomiepostulat dreifach in Konflikt: Erstens rekurriert der Begriff des kollektiven Souveräns auf eine homogene Einheit, in der „die Vielen zu einem Ganzen verschmolzen“53 sind. Im Gegensatz dazu geht die Idee der individuellen Autonomie aber von der Pluralität der Meinungen und Interessen aus, der die Einheit stets neu abgewonnen werden muss. Zweitens folgt aus dem demokratischen Anspruch auf Selbstbestimmung, dass die Befugnis über andere zu entscheiden kein apriorisches Recht irgendeines Souveräns, sondern nur als Vollmacht aufgefasst sein kann. Die Demokratieprämisse konstituiert folglich Bedingungen rechtmäßiger Herrschaft, nicht unmittelbares Herrschaftsrecht. So verstanden, ist drittens die Verfügung über Dritte zu verantworten. „Ein Souverän [dagegen] ist niemandem Rechenschaft schuldig.“54 Die Differenzen zwischen Demokratieprämisse und der Idee eines kollektiven Souveräns verstärken sich, wenn das Kollektiv anhand der Majoritätsregel entscheidet und damit die Mehrheit mit der Gesamtheit in eins gesetzt wird. (3) „Zwischen der Souveränität des Kollektivs als Organisationsprinzip und dem Zweck gesellschaftlicher Organisation – dem Schutz der Menschenrechte – herrscht eine prästabilisierende Harmonie.“55 Die These beruht auf dem Glauben, wenn die Einzelnen als Gesamtheit Herrschaftsträger sind, kann die Allgemeinheit den Schutz des Individuums nicht verfehlen. Aber kollektive Souveränität und die Summe der individuellen Selbstbestimmungen sind nicht eins, die Mehrheit trifft verbindliche Entscheidungen auch für Minderheiten. Das Volkssouveränitätsprinzip trägt der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen daher keine Rechnung. Zwischen der herrschaftsbegründenden Prämisse und der Herrschaftsbindung als Schutz vor Machtmissbrauch klafft offenkundig ein Spalt. Wenige Jahre später ergänzt Kielmansegg die Argumentation in Demokratiebegründung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität mit Bezug auf einen von James Madison in den Federalist Papers dokumentierten Zweifel: „In der Demokratie ist die Mehr-
Minderheiten. Und eben deshalb gibt es ein Bedürfnis nach Schutz auch gegenüber demokratischer Herrschaft […].“ Peter Graf Kielmansegg, Demokratiebegründung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrecht und Demokratie, Kehl 1981, S. 99-111, hier: S. 106. 53 Kielmansegg (Anm. 3), S. 243. 54 Ebd., S. 244. Kielmansegg ergänzt, dass auch die Wählerschaft ein Amt ausübe, bei dem sie über ihre Entscheidungen rechenschaftspflichtig sei. „Diese Rechenschaftspflicht läßt sich freilich auf keine Weise realisieren.“ 55 Ebd., S. 234 [Hervorhebung durch Verfasserin].
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heit in ihren Konflikten mit der Minderheit zum Richter in eigener Sache bestellt.“56 Im gleichen Aufsatz verweist er auf die unterschiedlichen Ebenen von Menschen- und Bürgerrechten: Während allen Menschen gegenüber der Staatsgewalt Menschenrechte zukommen, ist das Recht auf Mitentscheidung an die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen gebunden. Um verantwortungsbewusst über Dritte befinden zu können, muss der Einzelne der „durch Geschichte und Selbstverständnis konstituierten Solidargemeinschaft“57 mit den Entscheidungsbetroffenen befinden. Das Resümee in Kielmanseggs Habilitationsschrift ist eindeutig: Keine der drei konstitutiven Annahmen der Volkssouveränität hält er aufrecht. Die Bedingungen demokratischer Legitimität lassen sich mit ihr nicht angemessen beschreiben. Kielmansegg unternimmt daraufhin den Versuch, bei zeitgenössischen Demokratietheoretikern Antworten auf Probleme der Demokratiebegründung sowie tragfähige Operationalisierungen und Alternativen zur Volkssouveränität zu finden, wird aber nur unzureichend fündig.58 Da alle seiner Einschätzung nach ernsthaften Versuche der Operationalisierung von Volkssouveränität auf die Mehrheitsregel hinauslaufen, nimmt er sie als normatives Fundament der Demokratie gesondert in den Blick: Unter anderem in den Vorstellungen Robert Dahls in A preface to democratic theory von 1956 wurzelt jene in den gleichen Mitbestimmungsrechten aller und in dem gleichen Gewicht jeder individuellen Präferenz. Schnell offenbaren sich Kielmansegg fünf Schwächen: Erstens krankt die egalitäre Partizipation an der mangelnden Einsicht in die Notwendigkeit von Arbeitsteilung zwischen professioneller, in Ämter gefasster und rechenschaftspflichtiger Entscheidungsbefugnis und den übrigen Berufen. Ein gleicher Einfluss auf politische Prozesse ist nie konstant realisierbar, da Massenpartizipation stets Leistungen voraussetzt, die in der Regel von Minderheiten und durch die Mobilisierung ungleich verteilter Qualitäten erarbeitet werden – etwa die Aufbereitung von Wahlalternativen. Kielmansegg rekurriert dabei auf die Gedanken Ralf Dahrendorfs in Aktive und passive Öffentlichkeit von 1967, der zwischen einer kleinen aktiven und einer großen passiven Öffentlichkeit unterscheidet.
56 Kielmansegg (Anm. 52), S. 101. 57 Ebd., S. 108. 58 Vgl. Kielmansegg (Anm. 3), S. 168-229. Von Bekräftigung der überlieferten Formeln, über den Versuch ihrer Operationalisierung, den Nachweis der Gültigkeit der Prämissen sowie Argumentationen neuer Demokratiebegründungen mangle es der Wissenschaft nicht an analytischen Bemühungen um die normativen Fundamente der Demokratie. Vgl. ebd., S. 228.
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Zweitens ist auch mit Blick auf die Rationalität der Entscheidungsprozesse gleicher Einfluss wenig wünschenswert: Kenntnisse von Problemstand, Alternativen und Folgen aller Entscheidung liegen aufgrund begrenzter Zeit, Energie und Sachverstand nicht jedem Individuum im gleichen Maß vor, ebenso wenig wie eine Routine in Beurteilungs- und Prognoseverfahren. Drittens ignoriert die egalitäre Partizipation tendenziell die Kosten (zu Lasten der Effizienz), die sich bei intensiver Teilhabe für den Einzelnen und das Gesamtsystem ergeben: Mit wachsender Zahl der Beteiligten sinkt zugleich die Chance eines jeden, einen Ausgang im Sinne eigener Präferenzen zu erzielen. Obendrein wird es mit wachsender Teilhabe schwieriger, überhaupt Entscheidungen zu treffen. Viertens beraubt sich die Forderung nach Partizipation letztlich selbst ihres Sinnes, wenn alle egalitär am Entscheidungsprozess beteiligt sind und aus diesem Grunde der Einzelne nur noch marginale Einwirkungschancen hat, sodass sich sein Engagement kaum noch lohnt. „Wenn Partizipation […] als Chance individueller Entfaltung verstanden und gerechtfertigt wird, dann sind der Möglichkeit der Egalisierung des Einflusses verhältnismäßig enge Grenzen gezogen.“59 Fünftens widerspricht Kielmansegg der Auffassung, der Anspruch des Individuums auf Schutz und Förderung seiner Rechte und Interessen ließe sich in Mitbestimmung umwandeln. Unmöglich kann dieses sich in allen Entscheidungen engagieren, die seine Rechte und Interessen tangieren. „Hängt in den Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit […] alles am Partizipationsrecht, so ist der Einzelne in einer unsicheren und gefährdeten Lage. Es bedarf also institutioneller Vorkehrungen, die die Mehrheitsregel ergänzen, begrenzen und abwandeln, wenn eine Gemeinwesen sich wirklich an den normativen Prämissen, von denen die Mehrheitsregel selbst ausgeht, orientieren will.“60 Die Mehrheitsregel zielt als die eine Entscheidungsmodalität nur auf einen Wert: die politische Gleichheit. Sie ignoriert die Komplexität normativer Anforderungen und ist als allein tragfähiges Fundament für Kielmansegg nicht geeignet.
59 Ebd., S. 254. 60 Ebd., S. 254.
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5. Erste Überlegungen einer normativen Demokratiebegründung Für den Habilitanden Kielmansegg ist damit die Frage nach den Bedingungen demokratischer Legitimität noch nicht befriedigend beantwortet. Er versucht sich selbst an einer entsprechenden „Vorarbeit“61. Zunächst geht er von der „Annahme aus, daß die Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens nur durch Institutionen mit der Befugnis zu verbindlicher Entscheidung geschaffen und erhalten werden kann“62. Legitimität ist ohne Herrschaft nicht denkbar. Deren Wirksamkeit markiert die Grenzpfeiler der Überlegungen und sie schließt Postulate aus, die keine entscheidungsfähigen Institutionen begründen. Weiterhin mündet die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Herrschaft in die nach der Rechtfertigung der entscheidungsmächtigen Institutionen, denn nur über das Verfahren (nicht über den Inhalt) lassen sich verbindliche Entscheidungen identifizieren. Die Legitimitätsfrage lautet folglich: „Wer hat aus welchem Grunde das Recht, verbindlich zu entscheiden?“63 Kielmanseggs Antwort: „Legitim ist der Staat, so wollen wir – Kant nutzend und abwandeln – formulieren, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt.“64 Anstelle einer sprachlichen Präzisierung der Prämisse befragt er sie auf ihre Leistungsfähigkeit: Sie begründet Legitimität final, das heißt nicht aus ihrem Ursprung heraus. Erst aus der Zweckdienlichkeit der Institutionen ergibt sich ihre Rechtmäßigkeit. Die „Suche nach den Institutionen, die dieser Bestimmung genügen, [ist] der Vernunft und der Erfahrung“65 zugewiesen. Ob sie jene tatsächlich erfüllen, kann im Umkehrschluss nur als Wahrscheinlichkeit angegeben werden. Die von Kielmansegg erwählte Prämisse wirkt zugleich herrschaftsbegründend und sie schränkt Wirkungsbereich sowie Intensität der Herrschaft ein. „Als Zwecke behandelt ein Gemeinwesen seine Bürger nur dann, wenn es ihr Recht respektiert, sich selbst Zwecke zu setzen; wenn es
61 Ebd., S. 255. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Volkssouveränität (S. 255-268). 62 Ebd., S. 256. 63 Ebd., S. 257. 64 Ebd., S. 258; Dies meine nicht staatliche Erfüllung von Grundbedürfnissen Einzelner – etwa im Sinne des Konzepts der „basic human needs“ von Christian Bay –, da dieser Gedanke eine Allzuständigkeit bzw. Allpotenz der Politik impliziere und bestimmte Bedürfnisse, beispielweise Zuneigung, kaum durch den Staat zu befriedigen seien. Vgl. ebd., S. 258f. 65 Ebd., S. 267.
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ihre Verantwortlichkeit für sich selbst, also Grenzen ihrer Zuständigkeit anerkennt. […] Nicht das Glück, sondern nur bestimmte Bedingungen der Möglichkeit des Glücks sind Sache herrschaftlicher, politischer Vorsorge.“66 Das Verfügungsrecht über Dritte wird weder a priori einem Individuum, noch einem Kollektiv zugesprochen. Vielmehr spricht die Prämisse prinzipiell jedem Bürger das Recht zu, mit einer gewissen Chance als Subjekt am politischen Prozess teilzunehmen, der sich in einem Miteinander von verschiedenartigen Formen und Intensitäten der Teilhabe ausdrückt. Dieses Recht auf eine Partizipationschance ist nicht mit individueller Nutzenmaximierung gleichzusetzten, da die Verfügung über Dritte den Bedingungen der Prämisse verpflichtet ist. Diese Wertbindung begegnet dem Leser in zahlreichen Ausführungen Kielmanseggs.67 Die Teilhabe an Entscheidungen hebt die Betroffenheit des Einzelnen nicht auf. Wie Kielmansegg ebenfalls in seinem Aufsatz Die Überforderung der Politik beschreibt, ist der Bürger durch Herrschaft gefährdet und zugleich auf sie angewiesen.68 Abgesehen von der Einstimmigkeitsregel existiert keine Modalität, nach welcher der Einzelne nicht fremder Befugnis unterworfen ist. Folglich gilt es, ihn im Rahmen von Kontrolle und Begrenzung vor dem Herrschaftszugriff zu schützen. Andererseits ermöglichen erst die Leistungen von Herrschaft – sprich der Institutionen, die verbindliche Entscheidungen treffen – das menschliche Zusammenleben, allen voran in hochentwickelten Gesellschaften. Diese Angewiesenheit auf leistungsfähige, effiziente Herrschaftsinstitutionen treffen spannungsreich auf den Teilhabeanspruch. Folglich sind es Fragen nach den Entscheidungsverfahren, den Grenzen und den Leistungen einer Herrschaft, welche die Legitimitätsprämisse zu beantworten hat.69 Die konkurrierenden Anforderungen müssen von rechtmäßigen Institutionen in Balance gehalten werden. Aus der Überlegung Kielmanseggs folgt: Mehrere Entscheidungsregeln müssen kombiniert werden. „Wenn Demokratie mit einer einzigen Entscheidungsregel in eins gesetzt wird, so kann Demokratie immer nur Teilprinzip einer im Sinne unserer Prämisse legitimen Verfassung 66 Ebd., S. 260. 67 Beispielhaft: Peter Graf Kielmansegg, Demokratie und Tugend, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 26 (1972) 286, S. 109-121, hier: S. 117. 68 Peter Graf Kielmansegg, Die Überforderung der Politik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Verbindlichen heute, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 30 (1976) 10, S. 901-910. 69 Kielmansegg kritisiert an den „meisten Demokratieargumentationen“ die Konzentration auf nur einen Aspekt. Vgl. Kielmansegg (Anm. 3), S. 264.
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sein.“70 Folglich sind auch für die Leistungsbeurteilung von Institutionen verschiedene Aspekte bedeutsam – die dichotome Konzentration beispielsweise auf den Input oder Output eines Systems greift zu kurz. Kielmanseggs Ausführungen in Volkssouveränität geben kein bestimmtes Modell vor, sie schlagen lediglich Grenzpfosten für die Legitimität des freiheitlichen Verfassungsstaates ein. „Es geht [Kielmansegg] darum, die Frage nach den Bedingungen demokratischer Legitimität nicht mehr für einfacher zu halten, als sie ist.“71 Diese frühen Gedanken baut er in den Folgejahren zu einer eigenen normativen Theorie aus. Im Aufsatz Freiheit und politische Beteiligung von 1981 verweist er zunächst auf drei konstitutive Elemente des freiheitlichen Verfassungsstaates, die sich in einem „Prozeß der Balance“72 befinden: das liberale und das demokratische Postulat sowie die Ämterordnung. Mit Die Quadratur des Kreises veröffentlicht er eines seiner entschiedensten Plädoyers, den modernen Verfassungsstaat als „Frucht eines langen Reifeprozesses“73 zu begreifen, in dem sich Amts- und Demokratieprinzip spannungsreich aneinander gebunden haben. Die als Amt verfasste Befugnis, für andere verbindlich zu bestimmen einerseits und das gleiche Recht jeden Bürgers an den gemeinsamen Angelegenheiten mitzuentscheiden andererseits bilden Kielmanseggs Legitimitätsprämissen des freiheitlichen Verfassungsstaates. In Volkssouveränität sind diese Schlussfolgerungen bereits angelegt. 6. Demokratie bedarf einer komplexen Grundlegung Die Auseinandersetzung mit dem normativen Fundament des freiheitlichen Verfassungsstaates ist für Kielmansegg Einstieg in sein politikwissenschaftliches Schaffen. Gleichwohl die Arbeit im Werkkanon ein Solitär bleibt – sie ist seine erste und einzige politikwissenschaftliche Monographie, die sich nicht aus verschiedenen Aufsätzen oder Vorträgen zusammensetzt oder Heftcharakter hat –, legt sie den Grundstein für sein akademisches Lebensthema: die Analyse und Verteidigung des freiheitlichen Ver-
70 Ebd., S. 265f. 71 Ebd., S. 267f. 72 Peter Graf Kielmansegg, Freiheit und politische Beteiligung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 35 (1981) 400, S. 941-953, hier: S. 943. 73 Peter Graf Kielmansegg, Die Quadratur des Zirkels. Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, Köln/Berlin/Bonn, München 1985, S. 9-41, hier: S. 18.
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fassungsstaates. Inmitten heftiger Kontroversen um die normativen Grundlagen und die Legitimität der „Bonner Republik“ rüttelt Kielmansegg mit seiner Habilitationsschrift kräftig am Dogma der Volkssouveränität, was ihm den Ruf einbrachte, einer ihrer bedeutendsten Kritiker zu sein.74 Ideengeschichtlich weist er nach: Trotz früherer Entwürfe der Herrschaftsteilhabe des Volkes konnte die Volkssouveränität erst mit dem gedanklichen Siegeszug des autonomen Individuums ihren Durchbruch feiern. Als kämpferisches Gegenmodell zur Monarchie erfüllte sie eine historische Aufgabe, als anklagende Kontrastfolie für die politische Wirklichkeit ist sie seither aus dem theoretischen Vokabular nicht wegzudenken. Doch bleibe die Volkssouveränität in ihrer konträren Konstruktion zur Fürstensouveränität ungeeignet, verbindliche Geltung in der modernen Demokratie zu schaffen. Denn sie überzeuge in ihren zentralen Annahmen nicht: Weder ihre Antithetik von Selbstbestimmung und Herrschaft, noch die Denkfigur des Souveräns erweisen sich als tragfähig. Zudem spreche sie weder der Bestimmung über Dritte eine Verantwortungsnotwendigkeit zu, noch stehe sie voraussetzungslos in Harmonie mit den Menschenrechten, da sie nicht herrschaftsbegrenzend wirke. Schließlich sei auch die uneingeschränkte Geltung der Mehrheitsregel als normative Grundlage der Demokratie allein nicht ausreichend. Als Beobachter der jungen amerikanischen Demokratie konstatierte Alexis de Tocqueville bereits 1835 die Gefahr einer unbeaufsichtigten und unbehinderten Autorität: „Sehe ich also, daß irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird […] so sage ich: hier ist der Keim zur Tyrannei75“. Die Geschichte hatte zuvor mit dem „Großen Terror“, in den die Französische Revolution 1793 mündete, für diese Skepsis einen ebenso anschaulichen wie grausamen Beweis geliefert. Allen voran Maximilien de Robespierre hatte sich als glühender Verehrer der Schriften Rousseaus erwiesen, den er als Vordenker für die eigene Sache ansah.76 Mangelnder Schutz der Menschenrechte und die schrankenlose Herrschaft 74 Vgl. Philipp Erbentraut, Volkssouveränität. Ein obsoletes Konzept?, Marburg 2009, S. 23. 75 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 291. 76 Vgl. Werner Sesink, Tugend und Terror. Rousseau, Revolution und Virtualität, in: Peter Euler/Harald Bierbaum/Astrid Messerschmidt/Olga Zitzelsberger (Hrsg.), Nachdenken in Widersprüchen. Perspektiven auf Gernot Koneffkes Kritik bürgerlicher Pädagogik, Wetzlar 2008, S. 131-144, hier: S. 131. Ulrich Thiele verweist darauf, die Konstruktion eines direkten, wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen Rousseau und dem Jakobinerterror hänge jedoch von der normativen Position des Autors ab. Bei Rousseau selbst erscheine die demokratische Regierung lediglich als vollkommene Regierung, die nicht zum Menschen passe. Und
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bleiben bis in die gegenwärtige Literatur Gegenstand der Kritik an der Volkssouveränität.77 Die Habilitationsschrift Kielmanseggs vermochte den Leser inmitten aufgeregter Debatten um Demokratisierungschancen und der Renaissance der Volkssouveränitätsprämisse „aus dem Bannkreis Rousseaus [zu] befreien“78 und erwarb sich aus Sicht einiger Rezensenten mit der ideengeschichtlichen Herleitung und systematischen Auseinandersetzung ein Verdienst.79 Kritisiert wurde dagegen sein Festhalten am Souveränitätsbegriff ohne Souverän und seine monistische Interpretation der Volkssouveränität.80 In seinem Versuch, eine eigene Legitimitätsdoktrin zu beschreiben, richtet Kielmansegg seinen Blick schließlich auf deren Rechtfertigung durch Zweckdienlichkeit, ihre Begrenzung von Zuständigkeit und Intensität der Herrschaft, das in ihr verankerte prinzipielle Recht aller auf Teilhabechancen sowie auf die in ihr institutionalisierte Verantwortungspflicht der Regierenden. Teilhabe an, Bedrohung durch und Angewiesenheit auf Herrschaft markieren die Eckpfeiler der normativen Grundlegung Kielmanseggs und stehen miteinander im Spannungsverhältnis. Ein komplexes Gefüge wie den freiheitlichen Verfassungsstaat nur auf einen Aspekt – die Gedankenfigur der Volkssouveränität – zu gründen, reicht ihm daher nicht
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selbst im Ausnahmezustand müsse die funktionale Gewaltenteilung aufrechterhalten werden, was die Jakobiner Thiele zufolge missachteten. Vgl. Ulrich Thiele, Die Grande Terreur. Skandal oder Leitbild der Demokratietheorie?, in: Der Staat, 45 (2006) 4, S. 583-598, hier: S. 583; 387-389 und Sesink (Anm. 76), S. 132. Beispielhaft: Katrin Meyer, Demokratie zwischen Volkssouveränität und egalitärer Machtteilung. Kritische Überlegungen aus neorepublikanisch-feministischer Perspektive, in: Alex Demirović (Hrsg.), Transformationen der Demokratie. Demokratische Transformation, Münster 2016, S. 174-200, hier:hier S. 176. Meyer erwähnt Kielmanseggs Arbeit allerdings nicht. Wolfgang Jäger, Peter Graf Kielmansegg: Volkssouveränität, in: Politische Vierteljahresschrift, 20 (1979) 1, S. 10-12, S. 12. Wolfgang Jäger moniert, Kielmansegg ersetze lediglich eine Prämisse durch eine andere und stelle die Volkssouveränität in einer Reinheit wieder her, die längst obsolet sei. Diese Ansicht vertreten etwa Stein (Anm. 5), S. 213 und Alexander Gallus/Ellen Thümmler, Peter Graf Kielmansegg (geboren 1937), in: Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler - Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 419-431, hier: S. 429. Vgl. Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität. Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift, 36 (1995), S. 49-66, hier: S. 49f.; Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992, S. 188.
Reicht Volkssouveränität aus?
aus. Mit dieser gedanklichen Fehde zur „Identitätsfiktion“81 reiht sich Kielmansegg in eine Argumentationsschiene ein, die ebenso Wilhelm Hennis und Dolf Sternberger vertreten.82 Beide Autoren sollten Kielmansegg durch seine späteren Ausführungen zur normativen Grundlegung des freiheitlichen Verfassungsstaates begleiten.
81 Dolf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart 1971, S. 9 [Im Original kursiv]. 82 Hennis hob in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung Amtsgedanke und Demokratiebegriff das Zusammenspiel beider Komponenten im Verfassungsstaat sowie die Bedeutung der Verantwortung hervor. Sternberger argumentierte für eine Mischverfassung neoaristotelischer Art, in der Demokratie und Oligarchie im Verfassungsstaat ihr modernes Abbild fanden. Vgl. Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 54; Sternberger (Anm. 81), S. 119.
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Müssen Demokraten ehrlich sein? Die Wahrhaftigkeit in Blühdorns simulativer Demokratie Alexander G. M. Prill
1. Wenn wir nicht wahrhaftig sind – ... dann? Gegenseitiges Vertrauen1 ist ein grundlegendes Merkmal für gesellschaftliche Systeme. Dabei spielt die Größe des Systems keine Rolle. Familien, Freundschaften, Beziehungen oder auch die Relation Unternehmen ↔ Kunde bis hin zu strukturellen Kopplungen autopoietischer Systeme basieren in ihrer Kooperation auf Vertrauen. Wie diese Quelle als eine unter vielen für ein Zusammenleben und ihre Wertschöpfung in sich funktioniert, ist bisweilen aus philosophischer Sicht nicht eindeutig zu beantworten.2 Unstrittig ist die Verknüpfung von Vertrauen und einer Form der Authentizität – der Wahrhaftigkeit – auf individueller oder auch auf organisationeller Ebene.3 Eines ist jedoch sicher: Egal ob Vertrauen auf Makro-, Mesooder Mikroebene angesiedelt wird, seine Quelle ist nicht unerschöpflich. Allein das Jahr 2016 stellte dies eindrucksvoll unter Beweis. Der Brexit und seine politischen Befürworter waren bis zum und nach dem Referendum in aller Munde. Ein Grund hierfür war das ein oder andere Wahlversprechen, das den Exit aus dem Brexit verhindert haben könnte. Die Rede ist von 350 Millionen Pfund, die laut den „Leavers“ wöchentlich gen Brüssel fließen. Zur Steigerung der eigenen Popularität versprach Nigel Farage, die Summe in den National Health Service (NHS) umzuleiten. Wie sich nach dem Votum herausstellen sollte, war das Wahlversprechen nicht ein-
1 Vgl. zum Begriff Daniela Braun, Politisches Vertrauen in neuen Demokratien, Wiesbaden 2013, S. 39-64. 2 Vgl. Christian Bundik, Schwerpunkt Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 64 (2016) 1, S. 86-72. 3 Vgl. Tom Sommerlatte, Verletzte Identität überwinden. Neues Vertrauen Schaffen, Vertrauensbasierte Führung. Credo und Praxis, Heidelberg 2016; Karola Köhling, Vertrauen und Wissen in Governance-Prozessen, Wiesbaden 2012, S. 123-127.
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zuhalten.4 Abgesehen von der Glaubwürdigkeit der 350 Millionen Pfund5, die ebenso mediale Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nahm wie die Kampagne selbst, ist der britische Wähler offenkundig mit einer falschen Information versorgt worden und einem geschickten Schachzug des BrexitLagers auf den Leim gegangen. Nehmen wir einmal an, die „Leavers“ bekämen kein Attest für mangelndes Expertenwissen ausgestellt. Dann steht der Vorwurf der Täuschung – einem nicht authentischen Verhalten – im Raum, das Ausnutzen des Wählervertrauens für den eigenen Erfolg. Aus einem politikwissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet ist das Vertrauen gegenüber einem Teil der politischen Elite erschüttert worden, da ein Wahlversprechen nicht eingehalten wurde.6 Zugespitzt formuliert, war das Wahlversprechen im Sinne des Habermas’schen Sprechakts nicht wahrhaftig und gleichsam nie an einer Verständigung orientiert. Vielmehr diente es zur Herstellung eines attraktiven Images. Dieses ist an die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe angepasst und nach Merten nur selten in der Tat wahrhaftig.7 Im Kontext moderner Demokratietheorien entsteht an dieser Stelle ein Problem: eine Vertrauenskrise zwischen Wähler und Repräsentanten.8 Obgleich die Demokratie für viele Staatsbürger weiterhin die beste Herrschaftsform darstellt, konstatieren Wissenschaftler bis heute das geringe Vertrauen der Bürger in (politische) Institutionen.9 Mit dem Beginn der 1960er Jahre stießen Walke et al. die Diskussion um den Vertrauensverlust
4 Vgl. The Telegraph (Hrsg), Nigel Farage: £350 million pledge to fund the NHS was ‘a mistake‘ vom 24.6.2016, www.referendum.telegraph.co.uk/news/2016/06/24/nige l-farage-350-million-pledge-to-fund-the-nhs-was-a-mistake/. 5 Vgl. Zeit-Online (Hrsg.), Millionen für Gesundheit? Vielleicht doch nicht vom 24.6.2016, www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/nigel-farage-350-millionen-nhs-eubrexit-referendum. 6 Vgl. Axel Teschentscher et al., Deliberation In Parliaments. Reseach Objectives And Preliminary Results Of The Bern Centre for Interdisciplinary Deliberative Studies (BIDS), in: Legisprudence, 4 (2010) 1, S., 13-34, hier: S. 17. 7 Vgl. Klaus Merten, Image, PR und Inszenierungsgesellschaft; in: Publizistik, 59 (2014) 1, S. 45-64, hier: S. 48. 8 Die Verknüpfung von Vertrauen und Wahrhaftigkeit ist nicht zwangsläufig trivial. Die Abhängigkeit beider Konzepte findet sich unter anderem bei Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 19893. Anstelle der Wahrhaftigkeit verwendet er Begriffe wie Aufrichtigkeit, Selbstdarstellung oder Rollenerwartung, um die Vertrauenswürdigkeit zu beschreiben vgl. ebd., S. 67-69. 9 Vgl. Robert Dahl, A democratic Paradox, in: Political Science Quaterly, 115 (2000) 1, S. 35-40; hier: S. 35; Tanjev Schultz et al., Erosion des Vertrauens zwischen Medien und Publikum?, in: Media Perspektiven, 5 (2017), S. 246-259; Richard Edelman
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in Institutionen und deren Repräsentanten an.10 Die Vertrauensforschung innerhalb der Politikwissenschaft hat sich über die Jahre hinweg weiter ausdifferenziert. Hinzu kamen legitimatorische Aspekte sowie die Untersuchung des Wechselspiels von demokratischer Performanz und (Institutionen-)Vertrauen.11 Über die Jahrzehnte hat das Thema nichts an Aufmerksamkeit eingebüßt.12 Dieses Phänomen war neben anderen Anlass für eine Debatte über eine Krise der Demokratie.13 Ingolfur Blühdorn führt im Rahmen des Krisendiskurses einen bis heran unberücksichtigten Aspekt ein: Die Demokratie mit dem Anspruch auf das autonome Subjekt habe sich aufgrund unaufhaltsamer Modernisierungsprozesse unwiederbringlich überlebt, verharre jedoch zur Zeit in einer Phase, die sich durch ein Festhalten an jenem überlebten Subjekt auszeichne. Dieser Zustand wird als simulative Demokratie beschrieben. Die Simulation ermögliche die gleichzeitige Radikalisierung des autonomen Subjekts in Verknüpfung mit der Emanzipation von jenem Ideal.14 Es drängt sich die Frage auf, welche Rolle die Wahrhaftigkeit in der simulativen Demokratie spielt? Denn, wenn politisch motivierte Bürger Proteste organisieren, Petitionen initiieren oder eine andere Form politischer Partizipation bewusst wahrnehmen, wäre es abwegig zu behaupten, keiner
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(Hrsg.), Edelman Trust Barometer, o. O. 2018, www.cms.edelman.com/sites/defau lt/files/201802/2018_Edelman_Trust_Barometer_Global_Report_FEB.pdf vom Februar 2018. Vgl. John C. Wahlke et al., The Legislative System. Explorations in legislative Behavior, New York 1962. Vgl. u. a. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973.; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. stellvertretend für viele Benjamin Höhne, Vertrauen oder Misstrauen? Wie stehen die Ostdeutschen 15 Jahre nach der Wiedervereinigung zu ihrem politischen System?, Marburg 2006; Dieter Fuchs/Edeltraud Roller, Einstellungen zur Demokratie, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 397-401; Oskar Niedermeyer, Bevölkerungseinstellungen zur Demokratie. Kein Grundkonsens zwischen Ost- und Westdeutschen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 40 (2009) 2, S. 383-397; Jörg Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen? Ein interdisziplinäres Gespräch, Frankfurt a. M. 2014. Vgl. Klaus von Beyme, Von der Postdemokratie zur Neodemokratie, Wiesbaden 2013; Wolfgang Merkel (Hrsg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015. Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013, S. 161.
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der Demonstranten meine seinen politischen Protest ernst. Dem steht jedoch die Emanzipation vom autonomen Subjekt und somit auch die Absage an jenes normative Fundament entgegen, auf dem die Wahrhaftigkeit fußt. Die Verknüpfung vom Diskursprinzip mit Sprechakten als Begründung der Demokratie ist nach Blühdorn hinfällig geworden. Um die Frage zu beantworten, soll in Kapitel 2 das Konzept der Wahrhaftigkeit erschlossen werden. Hierzu dient der Kommunikationsbegriff (Kapitel 2.1) bei Habermas als Basis, um anschließend die Wahrhaftigkeit (Kapitel 2.2) zu skizzieren. Folgend legt Kapitel 3 in einem ersten Schritt den theoretischen Rahmen der simulativen Demokratie. Bevor Blühdorns Konzept der simulativen Demokratie expliziert wird (Kapitel 3.2), ist es lohnenswert, einen – nicht erschöpfenden – Überblick zum Postdemokratiebegriff an der Hand zu haben (Kaptiel 3.1). Anknüpfend an das Konzept soll dann der Leitfrage der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden, indem die Rolle der Wahrhaftigkeit an den Kategorien der Repräsentation, Partizipation und Legitimation überprüft wird (Kapitel 3.3). Die Arbeit schließt mit einem Resümee (Kapitel 4). Für die Analyse bietet sich ein hermeneutischer Zugang an.15 So verpflichtet er sich der Aufgabe, auf die Autorenintention zu schließen.16 Im Vordergrund soll die Wahrhaftigkeit im Rahmen der simulativen Demokratie rekonstruiert werden. Dies geschieht mit dem Ziel, der Kohärenz, Einheitlichkeit und Überzeugungskraft der Theorie zu dienen.17 Daher wird als Technik die rationale Rekonstruktion angewendet.
15 Vgl. Hans-Friedrich Fulda, Hermeneutik, Lexikon der Politik, Bd. 2, München 1994, S. 157-161; Bjorn Ramberg/Kristin Gjesdal, Hermeneutics, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2005, www.plato.stanford.edu/entries/hermeneutics/ vom 22.6.2016. 16 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik, in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, S. 1064; Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Sämtliche Werke, Berlin 1987. 17 Vgl. Martin Carrier, Wissenschaftsgeschichte, rationale Rekonstruktion und die Begründung von Methodologien, in: Journal for General Philosophy of Science 17 (1986) 2, S. 201-228; Martin A. Gallee, Bausteine einer abduktiven Wissenschafts- und Technikphilosophie. Das Problem der zwei „Kulturen“ aus methodologischer Perspektive, Münster 2003; Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Frankfurt a. M. 2009.
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2. Das Konzept der Wahrhaftigkeit 2.1. Der Kommunikationsbegriff bei Habermas Ausgangspunkt von Habermas’ normativer Gesellschaftskonzeption ist die Sprache. In Anlehnung an die Sprechakttheorie von Austin, so der Frankfurter Philosoph, können Individuen mittels der Sprache in Form von Sprechakten handeln. Folglich ließen sich Handlungen durch Sprache koordinieren.18 Hierbei bezieht sich der semantische Inhalt eines Sprechaktes grundsätzlich auf etwas in der Welt. Im Sinne der 3-Weltentheorie von Karl R. Popper unterscheidet Habermas daher zwischen der objektiven, sozialen und subjektiven Welt. Jeder Sprechakt nimmt so Bezug auf eine dieser Welten. Tabelle 1: Übersicht zu den Geltungsansprüchen Weltbezug
Details
Geltungsanspruch
Handlungstyp
Sprechhandlungstyp
objektive Welt
Aussagesätze
Wahrheit
teleologisch
konstativ
soziale Welt
Aufforderungs- / Absichtssätze
Richtigkeit
normreguliert
regulativ
subjektive Welt
Erlebnissätze
Wahrhaftigkeit
dramaturgisch
expressiv
Sprache
reflexiver Bezug
Verständlichkeit
kommunikativ
kommunikativ
Quelle: eigene Darstellung19
Hierbei sei die Sprache im Originalmodus prinzipiell auf die Verständigung ausgerichtet. Um eine Verständigung bzw. eine Koordinierung der Handlungspläne zu ermöglichen, müssen die Diskursteilnehmer jeweils die Gültigkeit der Sprechakte des jeweils Anderen anerkennen. Hierin verbirgt sich der Habermas’sche Rationalitätsbegriff. Durch den Austausch von Argumenten, die beispielsweise inhaltlich fehlerhaft sind oder sich auf nicht existierende Sachverhalte in einer der drei Welten beziehen, stellen die Geltungsansprüche den Austausch solcher Informationen auf den Prüfstand. Indem ein Diskursteilnehmer einen der aufgeführten Geltungsansprüche kritisiert, stellt er gleichsam den Sprechakt in einem oder auch mehreren
18 Vgl. Jürgen Habermas, Die Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 20149, S. 370. 19 Vgl. ebd., S. 45, 126 f., 148 f.
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Teilbereichen infrage. Der Sprecher muss in diesem Fall die Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit begründen.20 Gelingt es dem Sprecher nicht, den Hörer von der Gültigkeit zu überzeugen, kann keine Verständigung erzielt werden. Im Umkehrschluss können Handlungspläne zwischen den Kommunikationsteilnehmern koordiniert werden, sobald alle Geltungsansprüche der drei Welten akzeptiert werden.21 Freilich ist sich Habermas über die unterschiedlichen Verwendungen der Sprache im Klaren.22 Er sieht die Verständigung als Ziel der Sprache einerseits, andererseits leugnet er nicht ihren instrumentellen Charakter.23 Auch wenn die Konnotationen der beiden Wörter verständigungsorientiert und strategisch in der Situation eines Diskurses schon eine prägende Kraft entwickeln, bricht der Frankfurter Philosoph nicht den Stab über dem strategischen beziehungsweise erfolgsorientierten Handeln. Genauso wenig begründet er eine Hierarchie unter den Handlungstypen zugunsten des verständigungsorientierten beziehungsweise kommunikativen Handelns. Beide Handlungstypen sind für Habermas von gleicher Bedeutung und ebenso für die Lebenswelt essentiell. Für ihn ist die kontextuelle Anwendung der Typen, also das Wann und Wo entscheidend. Schauen wir zuerst auf das Wo: Bis auf wenige Ausnahmen bemüht sich die Deliberationsforschung vornehmlich um Politiker, Parlamente und weitere Teile des administrativen-staatlichen Apparats. In Faktizität und Geltung beschreibt Habermas diese Organe und deren Akteure als Zentrum. Das Zentrum ist der systemische Kernbereich. Hier konzentriert sich die administrative Macht: „Dieses Zentrum, das sich durch formelle Entscheidungskompetenzen und tatsächlichen Prärogativen vor einer verzweigten Peripherie auszeichnet, ist also »polyarchisch« [Hervorhebung im Original] gegliedert“.24 Habermas begreift diesen Teil der Demokratie nicht als Lebenswelt, sondern als System. In einer systemtheoretischen Lesart verfährt die Politik mit eigenen, für andere Systeme nicht spezifizierbaren Operationen. Diese Form der Autonomie vollzieht sich über einen eigenen Code. Habermas spricht hier von eigenen Sprachsemantiken. Sie
20 Vgl. ebd., S. 387. 21 Vgl. Jürgen Habermas, Die Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 20149, S. 184. 22 Vgl. Robin Celikates, Habermas. Sprache, Verständigung und sprachliche Gewalt, in: Hannes Kuch, Hannes/Steffen K. Herrmann (Hrsg.), Philosophien sprachlicher Gewalt, Velbrück 2010, S. 272-286, hier: S. 277. 23 Vgl. Habermas (Anm. 18), S. 148-149, 385. 24 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a, M. 19975, S. 430.
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stehen dafür, dass im Gegensatz zur Peripherie das Zentrum nicht offen für verschiedene Verfahren und Operationen ist. Da zudem der administrative Bereich der Politik dem Medium der Macht verschrieben ist,25 steht das kommunikative Handeln nicht über dem strategischen Handeln. Politiker handeln nach Habermas zum großen Teil strategisch, um die Interessen ihrer Wähler erfolgreich zu vertreten. Gleichsam unterliegen die Präferenzen und Interessen einer anderen Genese als das Ergebnis, das Politiker zusammen erzeugen.26 Wechselt das Spielfeld nun von dem administrativen Bereich hin zur politischen Öffentlichkeit – genauer der Input-Peripherie –, verschiebt sich die Gewichtung der Handlungstypen. Im Kontrast zum Zentrum ist die Input-Peripherie weitaus geringer organisiert. Durch den geringen Organisationsgrad ist sie stärker den „Repressions- und Ausschlusseffekten von ungleich verteilter sozialer Macht, struktureller Gewalt und systemischer verzerrter Kommunikation [...] ausgesetzt“.27 Das rührt aus den nicht regulierten Verfahren innerhalb dieser Sphäre. Aber gerade weil die Input-Seite nicht verfahrensreguliert ist, kann sie sensitiver für neue Problemlagen in der Gesellschaft sein. Daher fungiert sie als legitimationsspendender Zulieferer für das Zentrum. Diese Funktion kann der Teil der politischen Öffentlichkeit nur vor dem Hintergrund lebensweltlicher Erfahrungen erfüllen. Es ist somit das kommunikative Handeln, das legitime Präferenzen hervorbringen kann, die wiederum den Weg in den administrativen Bereich finden.28 Obwohl das verständigungsorientierte Handeln eine massive Betonung erfährt, ist das strategische Handeln in der Lebenswelt nicht weniger wichtig. Hiermit kommen wir zu dem Wann: In einem idealtypischen Diskurs wird unter anderem angenommen, dass die Teilnehmer die gleiche Situationsdefinition miteinander teilen. Als eine Voraussetzung für den Diskurs muss sie zwingend erfüllt sein. Ansonsten könnten sich die Diskursteilnehmer unmöglich zum gleichen Thema äußern. Daher kann hier das strategische Handeln dazu beitragen, unterschiedliche Wahrnehmungen der Situation auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.29 Schließlich ist strategisches Handeln auch in der Lebenswelt wichtig, wenn es im Idealfall vor dem Diskurs genutzt wird oder spätestens im Diskurs, um über eine Meta-
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Vgl. ebd., S. 458. Vgl. ebd., S. 362 f. Ebd., S. 374. Vgl. Jürgen Habermas, Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: ders., Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 175. 29 Vgl. ders. (Anm. 21), S. 185-186.
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ebene des Diskurses eine einheitliche Situationsdefinition für alle Teilnehmenden bereit zu stellen. 2.2. Wahrhaftigkeit als Geltungsanspruch Die Geringschätzung des strategischen Handelns entspringt einer Fehlinterpretation der Handlungsorientierung in ihren Kontexten seitens der Deliberationsforschung.30 Dennoch soll Mansbridge Recht behalten, wenn sie von einem weniger wünschenswerten Handlungstypus bei Habermas ausgeht. Dabei bleibt das Spielfeld weiterhin die Input-Peripherie, da in ihr das kommunikative Handeln eine andere Stellung als im System einnimmt. In Diskursen werden mehrere idealisierende Voraussetzungen eingefordert. Hierzu gehören die: „Öffentlichkeit und Inklusion aller Betroffenen, gleiche Kommunikationsrechte, Gewaltlosigkeit und Beschränkung auf den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« [Hervorhebung im Original] sowie Aufrichtigkeit seitens der Beteiligten“.31 Besondere Bedeutung hat die Aufrichtigkeit seitens der Beteiligten. Habermas fordert unter anderem eine Wahrhaftigkeit der Stellungnahmen und Äußerungen der Deliberierenden, ihr „zufolge man auch meinen sollte, was man sagt“32 beziehungsweise „Person A Person B vertraut, wenn A erwartet, dass B die Situation nicht ausnutzt und dies auch im [von A antizipierten] Interesse von B ist“33. Als Element des kommunikativen Handelns ist sie notwendig für den Diskurs, da der Geltungsanspruch ein Maßstab für die Absenz von „innerer Gewalt [in der] Verständigungspraxis“34 ist. Fehlt es hingegen an Wahrhaftigkeit – wie es einige Autoren fordern35 –, sind die Ergebnisse des Diskurses nicht mehr als legitim zu bewerten. Darüber hinaus gerät der Habermas’sche Prozeduralismus in Gefahr. Denn 30 Vgl. Jane Mansbridge, Deliberative und nicht-deliberative Verhandlungen, in: André Bächtiger/Susumu Shikano/Eric Linhart (Hrsg.), Jahrbuch für Handlungsund Entscheidungstheorie Band 9, Wiesbaden 2015, S. 1-39, hier: S. 5. 31 Celikates (Anm. 22), S. 276; vgl. Jürgen Habermas, Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Band 2, Frankfurt a. M. 2009, S. 359. 32 Celikates (Anm. 22), S. 277. 33 Braun (Anm. 1), S. 40. 34 Celikates (Anm. 22), S. 276 zitiert nach Habermas (Anm. 24), S. 224. 35 Für viele Elisabeth Markovits, The Trouble with Being Earnest. Deliberative Democracy and the Sincerity Norm, in: The Journal of Political Philosophy, 14 (2006) 3, S. 249-269; Dennis F. Thompson, Deliberative Democratic Theory and
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lebensweltliche Diskurse bilden den legitimationsspendenden Rückhalt für die Entscheidungen innerhalb des Zentrums. Insbesondere ist dieser neben anderen Formen der Legitimation wie Wahlen dann nötig, wenn Konfliktlinien bei normativen Fragen auftauchen.36 Da jedoch der basale legitime Input für das Zentrum fehlt, in Celikates Fall Recht nicht mehr durch die Moral als Wissenssystem eine legitimierende Kraft erfährt, steht die Demokratie vor großen Herausforderungen. Was hier nachgezeichnet wird, ist in Habermas Augen die „Täuschung über die wahren Absichten und Motive“.37 Es ist ein Fall von „verdeckt strategische[m] Handeln“,38 das lediglich die bewusste Manipulation des Anderen zur eigenen Interessensdurchsetzung haben kann. Hierzu zählt auch die bewusste Nutzung von Scheinbeweisen.39 Die gleiche Täuschung kann ebenfalls im strategischen Handlungsrahmen tragend werden. Wenn Politiker verschiedener Parteien in Verhandlungen stecken, kann von einer Erfolgsorientierung ausgegangen werden. Problematisch wird die Verhandlung jedoch, wenn Täuschungen bewusst vollzogen werden, um den eigenen Vorteil zu erzwingen. Somit ist die Wahrhaftigkeit nicht nur für rein kommunikative Handlungsmomente von Bedeutung, sondern auch für den administrativen Bereich. Als Teil des Kommunikationsbegriffs ist die Wahrhaftigkeit also in Verschränkung mit den übrigen Geltungsansprüchen eine Bedingung für die Verständigung.40 Hierfür übernimmt sie die Validierung von Verhandlungsstrategien – als reale Variante des kommunikativen Handelns – oder das Identifizieren von verdeckt strategischen Handlungen, die eine bewusste Täuschung über verfolgte Ziele annehmen. Außerdem stärkt sie bei Erfüllung das relationale – oder aus der sozialisatorischen Perspektive das generalisierte – Vertrauen zwischen Kommunikationsteilnehmern, die wiederkehrend miteinander in Kontakt treten. Merten zufolge wird dem Darlegen valider Argumente und der gleichzeitigen Offenlegung der eigenen Absichten eine „belastbare [kursiv im Original] Reputation“41 geschaffen, auch wenn das eher – insbesondere durch die PR-Branche befördert – die
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Empirical Political Science, in: Annual Review of Political Science, 11 (2008), S. 497-520. Jürgen Gerhards, Diskursive versus liberale Öffentlichkeit. Eine empirische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 49 (1997) 1, S. 1-34, hier: S. 5. Celikates (Anm. 22), S. 277. Ebd. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, Paderborn 1959. Vgl. Tschentscher et al. (Anm. 6), S. 16. Merten (Anm. 7), S. 57. Der Zusammenhang zwischen dem Geltungsanspruch und der Reputation stellt sich wie folgt dar: „Reputation verträgt keinerlei Diffe-
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Ausnahme als die Regel darstellt. Bei Gruppen statt Individuen, wie Parteien, Nichtregierungsorganisationen oder anderen im politischen Feld angesiedelten Akteuren und Institutionen, bestimmt das Image – also die subjektiv wahrgenommene Reputation – über das geschenkte „[g]eneralisierte Vertrauen“ in einen der genannten Akteure.42 Im Bezugsrahmen der Emanzipation zweiter Ordnung43 gewinnt gerade der Begriff des Images an Aufschwung. Merten sekundiert, dass diese Art der Kommunikation Komplexität steigert44 und nicht zwingend wahrhaftig sein muss. Vielmehr sind Images eine „Konstruktion wünschenswerter Wirklichkeiten“, so Merten, „die mehr denn je inszeniert werden“.45 Wie Wahrhaftigkeit und Vertrauen zur „Reduzierung von Komplexität“46 beitragen kann, muss für die simulative Demokratie geklärt werden. Wenn sich der Blick von den Funktionen der Wahrhaftigkeit löst, fällt sein stetiger Bezug zu mindestens zwei Kommunikationsteilnehmern auf. Das bedeutet, Wahrhaftigkeit kann ausschließlich als relationales Konzept gedacht werden. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive sind folglich alle sich in einem politischen Diskurs befindlichen Akteure von Interesse. So finden sich unter der Kategorie Repräsentation die Relationen Bürger ↔ Bürger, Bürger ↔ Repräsentant, Repräsentant ↔ Repräsentant. 3. Wahrhaftigkeit in der simulativen Demokratie 3.1. Postdemokratie und Krise: Blühdorns Dreh- und Angelpunkt Die Klage über die Schwächen und Krisen in demokratischen Systemen ist nicht neu. Sie reicht zurück bis in die Antike, sodass Merkel zu dem Fazit kommt: „Die Rede von der Krise der Demokratie ist […] so alt wie diese
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renz zur Wahrheit oder zur Wahrhaftigkeit – weil die zugrundeliegende Wirklichkeit und deren zeugenbewehrte Evidenz auch nicht im Ansatz beschädigt werden dürfen“, ebd., S. 56. Braun (Anm. 1), S. 41. Die zwei Zustände des Subjekts werden in einen zeitlichen Rahmen gesetzt. Die Emanzipation erster Ordnung, die sich auf das autonome Subjekt bezieht, verortet Blühdorn in den 1970er bis 1980er Jahren. Die Emanzipation zweiter Ordnung beginnt nach dem Soziologen in den 1990er Jahren mit der Weitergabe der demokratischen Verantwortung an Institutionen vgl. I. Blühdorn (Anm 14), S 144. Merten (Anm. 7), S. 62. Ebd., S. 60, 62. Braun (Anm. 1), S. 41.
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selbst“.47 In Deutschland hat die Debatte in den 1970er Jahren an Aufschwung gewonnen und erfuhr ihren vorläufigen Zenit mit Beginn der Jahrtausendwende.48 Ein Vertreter der Postdemokratiethese ist der Brite Colin Crouch. Ihm zufolge ist die Demokratie zur Fassade geworden, da sie von innen ausgehöhlt wurde. Die Postdemokratisierung vollziehe sich auf verschiedenen Ebenen. Institutionen und Verfahren bleiben in westlichen Demokratien formal erhalten, sind jedoch in ihren internen Strukturen abseits eines wünschenswerten, demokratischen Zustandes.49 Hiervon leitet Crouch eine Abkopplung der Wahlversprechen samt Parteipolitik von der auf den Wahlerfolg folgenden Agenda ab.50 Folglich entstünden politische Inhalte nicht mehr über den Mechanismus der Responsivität zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten. Indes entwickelten die politische Eliten Programmatiken in Abstimmung mit ökonomischen Akteuren.51 Am Ende des Tages sei das Volk de facto seiner Souveränität beraubt.52 Die Ursachen fänden sich unter anderem im Neoliberalismus.53 Rancière zeichnet in „Hatred of Democracy“ ein ähnliches Szenario wie Crouch. Die Verknüpfung eines hegemonialen Neoliberalismus und der Vorherrschaft eines konkurrenzlosen Demokratieverständnisses führten zu einer Demokratie ohne demos.54 Ritzi bringt dieses Zusammenspiel und die Folgen für die reale Demokratie – gemessen an einem partizipativen Ideal – auf den Punkt: „Anders als in der antiken oder der nationalstaatlichen Tradition wird die Zugehörigkeit zum Volk bzw. Demos nicht durch Status, Geburt oder andere formale Merkmale definiert, sondern allein durch die Teilhabe am politischen Konflikt. Wenn er davon spricht, dass in postdemokratischen politischen Gemeinschaften die Zahl der Bürger nicht
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Merkel (Anm. 13), S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. ders., Postdemokratie, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 55 (2008) 4, S. 4-7, hier: S. 7. Vgl. ders. (Anm. 49), S. 63ff. Vgl. Claudia Ritzi, Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit. Kritik zeitgenössischer Demokratietheorie – theoretische Grundlagen und analytische Perspektiven, Wiesbaden 2014, S. 16. Vgl. Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011; Claus Offe, Crisis and Innovation of Liberal Democracy. Can Deliberation Be Institutionalised?, in: Czech Sociaological Review, 47 (2011) 3, S. 447-473. Vgl. Jacques Rancière, Hatred of democracy, London 2005.
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nur sinke, sondern dass der Demos gänzlich verschwinde, verdeutlicht das, wie drastisch Rancières Krisendiagnose ausfällt“.55 Anders fällt die Diagnose Wolfgang Streecks aus. Er lokalisiert das vermeintliche Unheil weder in der Demokratie selbst noch in der Kombination aus einer problematisch gewordenen Demokratie und dem Kapitalismus. Vielmehr bemüht er sich, „The Crisis of Democratic Capitalism“56 als ein Symptom eines in sich krankenden Kapitalismus zu finden.57 Wie das Phänomen der Krise wahrgenommen wird, ist eine Frage der normativen Position. Während die Krisenrhetoriker nicht müde werden, ein düsteres Szenario zu zeichnen, kann in gleichem Maße Post(-demokratie) durch Neo(-demokratie) ersetzt werden, einhergehend mit der Suche nach verbesserten Demokratiemodellen.58 Ob es sich allerdings um eine Krise der Demokratie, ihrer einzelnen Elemente oder eine externe Krise mit Auswirkungen auf die Demokratie handelt, ist strittig. Merkel weist zurecht auf die Unschärfe des Krisenbegriffs in den Sozialwissenschaften hin. Der Begriff werde „geradezu inflationär [...] verwendet und dennoch nur selten definiert“.59 Veranschaulichend macht er auf fehlende Schwellenwerte eines Krisen- und Normalzustandes, der Verrechenbarkeit von Zu- und Abnahmen in unterschiedlichen Bereichen der Demokratie und der unklaren Referenz für den Vergleich aufmerksam.60 Die referierten Perspektiven auf den Krisenzustand – so untauglich der Begriff sein mag – lassen die Frage außer Acht, ob „die Demokratie wie sie heute existiert eine überlebensfähige Staatsform“61 für die Zeit nach der Jahrtausendwende ist. 3.2. Simulative Demokratie Blühdorns simulative Demokratie greift erstmals seit Crozier et al. die Frage wieder auf. Aus dem soziologischen Blickwinkel will er wissen, ob die
55 Ritzi (Anm. 52), S. 49. 56 Vgl. Wolfgang Streeck, The Crisis of Democratic Capitalism, in: New Left Review, (2011) 71, S. 5-29. 57 Vgl. ders., Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 20145. 58 Vgl. von Beyme (Anm. 13). 59 Vgl. Merkel (Anm. 13), S. 21. 60 Vgl. ebd., S. 22. 61 Michel J. Crozier et al., The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975, S. 2.
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„konstitutiven Prinzipien der Demokratie“62 – Freiheit und Gleichheit – samt ihres emanzipatorischen Potenzials noch in einem hinreichenden Maße als Wertorientierung in der Gesellschaft verankert seien. Der Soziologe verneint die Frage: Er sieht eine Absage an die bisherige normative Demokratietheorie.63 Blühdorn ist der Überzeugung, „unter den Bedingungen moderner, hochkomplexer und international vernetzter Konsumgesellschaften [ist] eine wahrhaft demokratische »neue Politik« [Hervorhebung im Original] überhaupt nicht mehr möglich […] – ja vielleicht nicht einmal mehr wünschenswert“64. Um diese Diagnose stellen zu können, macht er sich den modernisierungstheoretischen Ansatz dienlich. Blühdorn stellt die These auf, die normativen Grundlagen eines Herrschaftssystems unterliegen einem „fortlaufende[n] Modernisierungsprozess“65. Im Fall westlicher Demokratien sei es die Norm des autonomen Subjekts, aus dem sich das Prinzip der Volkssouveränität, das Diskursprinzip – Blühdorn nennt es Kongruenzprinzip – sowie der souveräne Nationalstaat ableiten lassen.66 Gleichsam ruft der Soziologe in Erinnerung, dass die Demokratie jene grundlegende Norm nicht selbst „(re)produzieren kann“67. Er spricht darum von einem postdemokratischen Paradox. Einerseits radikalisieren die Bürger ihren Wunsch nach Volkssouveränität. Andererseits lösen sie sich durch individualistische Präferenzstrukturen immer mehr von der Norm des autonomen Subjekts.68 Ein Alleinstellungsmerkmal der Blühdorn’schen Analyse ist die Kritik an den „schwachen [kursiv im Original] Begriffen der Postdemokratie“69, die zur Feststellung der Krisensymptome genutzt werden. Mit ihnen sei die Phänomenbeschreibung nicht möglich, da sie schlichtweg ein demokratisches Ideal zugrunde legen, das sich selbst zwar nicht überlebt hat,
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Blühdorn (Anm. 14), S. 254. Vgl. ebd., S. 43, 95, 150. Ebd., S. 17. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 48 f., 93. Vgl. ebd., S. 49, zitiert nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 112. 68 Vgl. Blühdorn (Anm. 14), S. 45, 161ff., 230. 69 Ders., Die postdemokratische Konstellation. Was meint ein soziologisch starker Begriff der Postdemokratie?, in: Jürgen Nordmann/Katrin Hirte/Walter O. Ötsch (Hrsg.), Demokratie! Welche Demokratie? Postdemokratie kritisch hinterfragt,Marburg 2012, S. 69-91, hier: S. 71.
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aber „sich grundlegend neu konfiguriert“70. Somit könnten sie bei einer Veränderung der normativen Grundlagen nur eine Verschlechterung der Verhältnisse feststellen. In seinen Augen finden sich genug Beispiele, in denen die Interpretation von belastbaren Daten oftmals „normativ eingefärbt und analytisch unterkomplex“71 ist. Die Abrechnung mit dem Postdemokratiebegriff schlägt sich in drei Punkten nieder: Erstens werde das Präfix post inflationär benutzt, zeitgleich aber nicht weiter definiert. Dadurch werde das Bild gezeichnet, man bewege sich von einem vermeintlich guten Zustand weg. Zweitens sei der wissenschaftliche Diskurs nicht wertfrei. Meist werden Konzepte zur Revitalisierung der Demokratie formuliert, die auf einem stark normativen Demokratiebegriff gebaut sind. Drittens zeichneten die Begriffe sich durch ihre rückwärtsgewandte inhaltliche Bestimmung aus. Folglich erfassten sie nicht die paradoxen Zustände sowie die Handlungsstrategien der Handhabung jener Zustände.72 Deswegen ist das „Konzept der simulativen Demokratie [...] auf gar keinen Fall eine normative Leitidee“, „sondern [...] eine realistische [kursiv im Original] Demokratietheorie, die mit einem analytisch-deskriptiven Ansatz versucht, zu fassen, was ist, nicht zu sagen, was sein soll [kursiv im Original]“.73 Der Fokus seiner Theorie liegt auf dem Subjekt, das durch den anhaltenden Modernisierungsprozess einer veränderten Identitätskonstruktion ausgesetzt ist. Initialzündung der „postdemokratischen Wende“74 sei folglich der Identitätswandel hin zu einem von der Ökonomie durchdrungenem Subjekt. Mit der einhergehenden Individualisierung und dem damit verbundenen Zeitaufwand, das immer schneller und komplexer werdende Privatleben zu organisieren, werden unter dem Diktum der Effizienz die eigene Souveränität und die politische Problemlösung an „service provider“75 ausgelagert. Konkret äußert sich die Modernisierung des Subjekts in zwei Phänomenen.76 Erstens stellt Blühdorn den Niedergang der Autonomie durch die Marktwirtschaft fest. In Zeiten des autonomen Subjekts war
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Blühdorn (Anm. 14), S. 43. Ebd., S. 109. Vgl. Blühdorn (Anm. 69), S. 73f.; ders. (Anm. 14), S. 79ff., 105ff., 190. Ebd., S. 47, 57. Ebd., S. 158. Blühdorn (Anm. 69), S. 79; ders. (Anm. 14), S. 190. Die Emanzipation erster Ordnung, die sich auf das autonome Subjekt bezieht, verortet Blühdorn in den 1970er, 1980er Jahren. Die Emanzipation zweiter Ordnung beginnt nach dem Soziologen in den 1990ern mit der Weitergabe der demokrati-
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beispielsweise die Produktpalette auf den Märkten weniger auf das Individuum als mehr auf die Masse der Konsumenten ausgerichtet. Mit der fortschreitenden Modernisierung, resümiert Blühdorn, habe eine stärkere Fokussierung auf das Individuum stattgefunden. Hierdurch habe sich die Individualisierung des Subjekts durchsetzen können, da der Markt die privatesten Lebensbereiche durchdringt.77 Konsequenz dessen ist – neben dem Ressourcenmangel jenseits des persönlichen, individuellen Lebens für das Politische – die Verschmelzung der eigenen Identitätskonstruktion mit dem Markt.78 Während vor der Modernisierung des Subjekts „Subjektivität und Identität eigentlich als Eigenständigkeit verstanden [wurde], als selbstbestimmte Entfaltung natürlicher Prädispositionen und innerer [kursiv im Original] Werte“79, findet sich die Identitätskonstruktion nach der Modernisierung des Subjekts in einer Verquickung mit dem Markt wieder. Dieser Umstand führt zweitens zu einem Wandel von stabiler Identität hin zu einer fluiden Identität.80 Die fluide Identität beschreibt eine Identitätskonstruktion, die nicht mehr stabile Interessen und Eigenschaften oder verlässliche moralische Prinzipien als Charakteristikum trägt, sondern sich durch das komplexe, flüchtige, für Widersprüchlichkeiten offene Selbst auszeichnet.81 Die Identität ist nunmehr eine Inszenierung. Die Folge der neuen Identitätskonstruktion ist eine steigende „Komplexität von Problem- und Interessenslagen“, die in Kombination mit dem „kognitiven Notstand der Bürger [...], der Politikverflechtung im Mehrebenensystem [... und der] Herrschaft der Systemimperative“82 die Repräsentation des Demos in Parlamenten unmöglich macht.83 Wie bereits mit dem postdemokratischen Paradox skizziert wurde, sind in westlichen Demokratien beide Subjektformen relevant. Denn einerseits
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schen Verantwortung an Institutionen vgl. ebd., S. 144; Thomas Wagner, „Und jetzt alle mitmachen!“. Ein demokratie- und machttheoretischer Blick auf Widersprüche und Voraussetzungen (politischer) Partizipation, in: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits und Sozialbereich, 32 (2012) 123, S. 15-38, hier: S. 15. Vgl. Blühdorn (Anm. 69), S. 76-79; ders. (Anm. 14), S. 130. Vgl. ebd., S. 39, 111, 131, 192. Ebd., S. 130. Vgl. ebd., S. 139; zur fluiden Identität Sebastian Hadamitzky, Demokratische Qualität in Deutschland. Ein input-orientiertes Modell zur Beseitigung normativer Defizite, Baden-Baden 2016, S. 229. Blühdorn (Anm. 14), S. 132-133. Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 207.
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sollen demokratische Normen weiterhin im Sinne des autonomen Subjekts bestätigt werden, andererseits wird die Möglichkeit dieser Bestätigung durch die Emanzipation zweiter Ordnung schier unmöglich.84 Die simulative Demokratie bietet vor dieser Folie eine Handlungsstrategie, um mit dem beschriebenen Spannungsverhältnis umzugehen: „Dabei wird Simulation [...] verstanden als eine Vielzahl gesellschaftlicher Praktiken, die die Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichem ermöglichen, die also darauf zielen, an demokratischen Wertorientierungen festzuhalten, sie auszuleben, erlebbar zu machen, sich gleichzeitig aber auch von ihnen abzusetzen.“85 Mittels der Inszenierung von Diskursen findet eine „performatorische Stabilisierung“86 des autonomen Subjekts statt. Die gleichzeitige Entpolitisierung als „Strategie der Komplexitätsreduktion“ kann die radikalisierte Forderung nach Selbstbestimmung und Subjektivitätsverständnis einhergehend mit den „steigenden Anforderungen des privaten Lebensmanagements“ eine „gesellschaftliche Ordnung, die andernfalls wohl an ihren Widersprüchen zerbrechen würde“ stabilisieren.87 Somit ist die simulative Demokratie ein Weg, um das Spannungsverhältnis innerhalb des postdemokratischen Paradox’ zu mindern.88 3.3. Die Relevanz der Wahrhaftigkeit in der simulativen Demokratie Doch wie ist diese Simulation beziehungsweise Inszenierung einzuschätzen? Sind Demonstranten in ihren Forderungen ernst zu nehmen oder sind sie nur Darsteller im Schauspiel um das autonome Subjekt? Beginnend soll die Frage gestreift werden, ob das Konzept der Wahrhaftigkeit als Teil einer normativen Gesellschaftstheorie sowie eines normativen Demokratieverständnisses überhaupt Platz in der simulativen Demokratie haben kann. Weiterhin findet sich hier ein erster Versuch, wieder eine mögliche Verwendung des Konzepts zu beleuchten. Folgend soll eruiert werden, welcher Begriff der Wahrhaftigkeit sich in Blühdorns Ausführungen identifizieren lässt. Hieraus kann dann ein konkreter Verwendungszweck des Kon-
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Vgl. ebd., S. 111, 175. Ebd., S. 44-45. Ebd., S. 56. Ebd., S. 118, 189, 179. Vgl. ebd., S. 44, 175, 255.
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zepts abgeleitet werden. Abschließend wird die Rolle der Wahrhaftigkeit in der simulativen Demokratie dargestellt. Bekanntlich spricht sich Blühdorn gegen die Verwendung schwacher Begriffe aus, da ihre Normativität den Blick für das Wesentliche verschließe. Die Hauptkritik an den bisherigen Begriffen ist die Rückwärtsgewandheit. Weil ihnen ein meist partizipatorisches oder deliberatives Verständnis von Demokratie zugrunde liegt, können sie Abweichungen von der Norm des autonomen Subjekts per se als Defizit entlarven. Strukturell sind sie nicht dazu in der Lage, jene Paradoxien zu fassen, die Blühdorn in der postdemokratischen Wende entdeckt. Die Radikalisierung des autonomen Subjekts in Verbindung mit der Abkehr vom selbigen sind für solche Theorien nicht greifbar. Die Wahrhaftigkeit als Konzept widerspricht Blühdorns Standpunkt nicht, da es selbst nicht normativ ist. Der Geltungsanspruch kann lediglich Informationen zu einem Sprechakt angeben. Die Feststellung, ob ein Sprecher wahrhaftig in seinen Äußerungen ist oder nicht, ist nicht normativ. Mit einem normativen Anspruch wird die Wahrhaftigkeit erst verknüpft, wenn mit dem kommunikativen Handeln ein Ideal für den demokratischen Prozess formuliert wird. Ohne das Ideal als Referenz für Sprechakte kann keine Sollens-Forderung gestellt werden. Daher ist festzustellen: Der Geltungsanspruch hat in der postdemokratischen Konstellation Bestand. Augenscheinlich wäre es wenig plausibel, mit der Abkehr vom autonomen Subjekt die Wahrhaftigkeit selbst infrage zu stellen. Dass die Demokratie einen Formwandel erlebt, muss nicht bedeuten, dass Menschen in ihrer Kommunikation nicht mehr wahrhaftig sind. Schließlich – und wenn es nur im Rahmen des Privaten ist – müssen Handlungspläne zwischen Menschen koordiniert werden. Jedoch sei in der dritten Moderne89 die Verknüpfung von Demokratie und kommunikativem Handeln verloren gegangen.90 Aus Sicht der deliberativen Demokratietheorie bedeutet dies das Ableben des emanzipatorischen Interesses91, das a priori als Interesse an Mündigkeit angesehen werden kann.92 Die Wahrhaftigkeit muss als Teil des kommunikativen Handelns ihre Funktion für die Demokratie aufgeben, da die postdemokratische Wende der „anwachsende[n] neu[en] Unter-
89 Moderne bezeichnet die Phase des politischen Systems. Die erste Moderne nimmt zur Legitimation des Systems Gott, die zweite Moderne das autonome Subjekt, die dritte Moderne die Objektivität im technokratischen Sinne vgl. ebd., S. 53. 90 Vgl. ebd., S. 49. 91 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Im Anhang »Nach dreißig Jahren. Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse«, Hamburg 2008. 92 Ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a. M. 19704, S. 163.
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klasse“ den Vorteil der Demokratie nimmt. Weil beispielsweise „die Kosten des gleichen Rechts auf soziale Teilhabe“93 nicht von den Gewinnern der Modernisierung getragen werden, sei die Verwirklichung des autonomen, mündigen Subjekts nicht mehr erreichbar. Daher wäre selbst die politische Partizipation der Modernisierungsverlierer unter Erfüllung der Geltungsansprüche für Blühdorn lediglich reine Ressourcenverschwendung, auch wenn dies eine „politisch gewiss sympathische Kampagne für eine Widerbelebung der Demokratie“94 ist. Zwar wird die Wahrhaftigkeit somit für das normative Ideal der Demokratie unwichtig, dennoch kann es für die simulative Demokratie im Kontext der Zivilgesellschaft von Bedeutung sein. Blühdorn greift an einigen Stellen direkt und indirekt einen gesamtgesellschaftlichen Vertrauensverlust auf.95 Mit Bezug zum Charakter des politischen „lifestyle statement[s]“96 wird unter anderem auf die Instabilität von Einstellungsmustern des fluiden Subjekts rekurriert. Aus sozialintegrativer Sicht kann diese Instabilität zu Schwierigkeiten zwischen zwei Akteuren in ihrer jeweiligen Fremdwahrnehmung führen. Unter der Annahme, Identität schöpft sich unter anderem aus der Zuschreibung von Alter, können mittels der Wahrhaftigkeit zwei Fälle unterschieden werden. Der erste Fall entspricht einer weitgehend stabilen Identität. Dies gegeben, sind die Beweggründe, Handlungen sowie die Sprechakte samt ihrer Ziele miteinander im Einklang. Der einzelne Sprechakt weicht, verglichen mit allen Sprechakten, nicht stark ab in seiner Intention und den Präferenzstrukturen des Sprechers. Dies führt dazu, dass Alter den Sprecher als glaubwürdig einstuft. Der zweite Fall konstruiert eine extreme Variante einer fluiden Identität. Sie zeichnet sich durch stets wandelnde, instabile Präferenzstrukturen aus, die sich teils widersprechen können. Diese Form von Ambivalenz ist für Blühdorn nicht unüblich.97 Solche „Sowohl-Als-Auch“-Positionen 98 können bei ständigem Wechsel der eigenen Präferenzen zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit führen, sofern diese Wechsel nicht transparent für den Anderen sind. Ob der skizzierte Extremfall der fluiden Identität empirisch evident ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Blühdorns Ausführungen zufolge ist er nicht unwahrscheinlich, weil die steigende Systemkomplexi-
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Blühdorn (Anm. 14), S. 154. Ebd., 156; vgl. hierzu auch ebd., S. 253 f. Vgl. ebd., S. 13, 37, 62, 94, 177, 215, 225. Ebd., S. 94 zitiert nach Gerry Stoker, Why Politics Matters. Making Democracy Work, Basingstoke 2006, S. 87. 97 Vgl. Blühdorn (Anm. 14), S. 94, 141, 165, 199, 249. 98 Ebd., S. 243.
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tät zu einer Form der Orientierungslosigkeit führt, die dann das berühmte „Fähnchen im Wind“ zutage fördert. Insbesondere läge in diesem Konzept – sofern es methodisch gelungene Werkzeuge zur Überprüfung der Wahrhaftigkeit gäbe99 – die Möglichkeit herauszukristallisieren, „was andernfalls von interessierter Seite im Verborgenen ausgenutzt werden könnte“100. Blühdorn geht kaum auf den Geltungsanspruch ein. Zwar finden sich nominelle Nennungen und indirekte Verweise, meist beziehen sie sich jedoch auf den normativen Idealzustand der Demokratie der zweiten Moderne oder es wird deren normatives Fundament ins Auge gefasst.101 Erstmals findet sich ein Hinweis auf die Wahrhaftigkeit im Bezug zum „Authentische[n]“102, das in der dritten Moderne verloren ging. Nach Baudrillard ist ebenso eine authentische Wirklichkeit kaum aufzufinden. Denn die mediale Inszenierung der Wirklichkeit führe dazu, „Zeichen des Realen [...] zum Ersatz für das Reale“103 zu verwenden. Für die Wahrhaftigkeit, die ein Synonym für das Authentische ist, leitet das die Bedeutungslosigkeit in der dritten Moderne ein. Blühdorns Verweis auf Images in der medialen Landschaft machen das eindrucksvoll deutlich. Sie sind nach Merten nur in den seltensten Fällen wahrhaftig.104 Er schreibt hierzu: „Menschen sind heute nicht mehr bestrebt, die Wirklichkeit dem Schein vorzuziehen, wenn denn der Schein (das Image) nur attraktiv genug konstruiert ist“.105 In diesem Sinne nehmen Images eine Stellvertreter-Funktion ein: „Da eine Fiktion – im Gegensatz zu einem Fakt – vergleichsweise leicht veränderbar ist, können Fiktionen schnell, zielgruppenaffin und kostengünstig konstruiert und bei Bedarf verändert werden. Gerade das macht Images interessant für Werbung und PR. Dabei ist unerheblich, ob der Rezipient überhaupt die „reale“ Wirklichkeit erkennt. Denn die [kursiv im Original] Wirklichkeit, die er erkennt, ist die für ihn relevante und handlungsleitende Wirklichkeit, von der er stets glaubt, dass sie die wirkliche [kursiv im Original] Wirklichkeit sei.“106
99 Vgl. Teschentscher et al. (Anm. 6), S. 13-32; André Bächtiger, Empirische Deliberationsforschung. Eine systematische Übersicht, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 7 (2013) 2, S. 155-181; ders., Empirische Deliberationsforschung, Wiesbaden 2016, S. 251-278. 100 Blühdorn (Anm. 14), S. 159. 101 Vgl. ebd., S. 17, 21, 84. 102 Ebd., S. 177. 103 Ebd. 104 Vgl. Merten (Anm. 7), S. 48. 105 Ebd., S. 50. 106 Ebd., S. 52.
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Wird das rückgebunden auf die simulative Demokratie, die eine Handlungsstrategie zur Zähmung des postdemokratischen Paradox‘ ist, erscheint es fraglich, ob das Inszenieren107 des autonomen Subjekts als wahrhaftig angesehen werden kann. Denn letztlich ist es plausibel, zu argumentieren, dass ein Vorspielen von diskursiven Praktiken nie wirklich ernst genommen werden kann. Denn die Forderung nach mehr Selbstbestimmung ist aufgrund der modernistischen Norm nicht wirklich haltbar, da das Fundament zur Selbstbestimmung und die Möglichkeit seiner Wiederbelebung und Umsetzung der Vergangenheit angehören. In dem Zusammenhang könnte die Rede von einer gesellschaftlichen Selbsttäuschung sein.108 Die inklusive Exklusion109 zeichnet eine Gegenposition. Zwar mag die Umsetzung des autonomen Subjekts nicht möglich sein, dennoch versuchten Bürger(bewegungen) sich durch Protest gegen die Tagespolitik abzugrenzen, um einen Teil ihrer vergangenen Autonomie mittels einer kommunikativen Grenzziehung zu wahren. Sie können zwar keinen Einfluss auf die politische Agenda nehmen, sie sind aber in der Lage, ihren – voraussichtlich ernst gemeinten Protest – zu kommunizieren. Diese Interpretation überzeugt. Die simulative Demokratie ist eben nur eine Strategie, um die Spannungen zwischen dem normativen Fundament der zweiten Moderne, das nicht losgelassen werden will, und dem neuen Subjekt der dritten Moderne zu mildern. Da die Strategie eine Simulation des autonomen Subjekts vollziehen will, muss sie für das Individuum immer auf die Geltungsansprüche verweisen. Schlicht formuliert: Wenn Proteste nicht wahrhaftig sind, kann das Inszenieren des autonomen Subjekts nicht funktionieren. Eine kommunikative Grenzziehung zur Agenda der Eliten, gar die performative Stabilisierung wären undenkbar. Somit nimmt die Wahrhaftigkeit die gleiche Funktion wie zur Zeit der zweiten Moderne ein; nur mit dem Unterschied, dass das autonome Subjekt eine Simulation ist.110 Da die Wahrhaftigkeit trotz Formwandel der Demokratie ein notwendiges Element bleibt, soll nun geklärt werden, welche Rolle sie für Repräsentation, Partizipation und Legitimation spielt.
107 Die Inszenierung wird wörtlich beschrieben als „das Vorspielen [eigene Hervorhebung] [...] demokratischer Wertorientierungen und Strukturen in einem Kontext, wo Demokratie im Sinne der zweiten Moderne weder möglich noch wirklich wünschenswert ist, weil nämlich der normative Bezugspunkt [...] sich inzwischen grundlegend rekonfiguriert hat“ Blühdorn (Anm. 14), S. 175. 108 Vgl. ebd., S. 180-186. 109 Vgl. ebd., S. 203. 110 Vgl. ebd., S. 181.
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Müssen Demokraten ehrlich sein?
Blühdorn teilt die Repräsentation in drei theoretische Dimensionen ein. Die erste umfasst die Relationen Bürger ↔ Repräsentant und Repräsentant ↔ Repräsentant. Hier sollen die Repräsentanten den Bürgern „ernsthaft zuhören [kursiv im Original]“ und die bürgerlichen Interessen „wahrheitsgetreu wiederge[ge]ben [kursiv im Original]“ werden.111 Aus Sicht des autonomen Subjekts werden im Kreislaufmodell der Politikherstellung diskursive Meinungs- und Willensbildungsprozesse geführt, die dann den Weg ins Parlament finden. Die zweite Dimension bildet die Relation Repräsentant ↔ Repräsentant ab. In Anlehnung an Rousseau wird der wahre Willen des Volkes gesucht, ohne die „speziellen Interessen ihrer jeweiligen Wähler“112 zu berücksichtigen. Beratungsprozesse innerhalb der Partei mit der Parteibasis sind Gegenstand der dritten Dimension. Sie ist eher dem deliberativen Modell zuzuordnen. Ursprünglich besteht die Funktion der Wahrhaftigkeit darin, bei der ersten und zweiten Dimension an der Herstellung eines Verständigungsprozesses mitzuwirken. In der Simulation ist dies aber nicht möglich, da das, was zur Zeit der Emanzipation zweiter Ordnung zu repräsentieren war, nicht mehr existiert.113 Dies wird hervorgerufen durch den „Widerspruch zwischen der kommunizierten Politikdarstellung [kursiv im Original] und der postdemokratischen Politikherstellung [kursiv im Original]“114 sowie den Eigenschaften der fluiden Identität. Weder hat der dritte Geltungsanspruch eine Funktion, noch unterstellt Blühdorn hier den Akteuren Wahrhaftigkeit. Doch was gilt für die Partizipation? Mit sieben Punkten umschreibt Blühdorn die neue Erscheinungsform der positiven Freiheit nach der postdemokratischen Wende. Der Soziologe spricht die Wahrhaftigkeit nicht explizit an und schreibt ihr somit auch keine Funktionen zu. Vielmehr schlägt sich in den Punkten fünf bis sieben die fluide Identität nieder, indem die Partizipation weniger Ressourcen verwenden darf (Punkt 5), eher einen Unterhaltungswert zugeschrieben bekommt (Punkt 6) und Partizipation identitätsstiftend im Sinne der Selbstdarstellung sein kann (Punkt 7). Gerade im letzten Punkt kann die Wahrhaftigkeit Fuß fassen. Identitäten werden bei Blühdorn nicht als Schein beschrieben. Obwohl sie sich schnell ändern können, spiegeln sie Überzeugungen und Werte wider; so auch durch die bewusste Abgrenzung von der Alltagspolitik. Blühdorn un-
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Ebd., S. 208. Ebd. Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 215.
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terstellt prinzipiell jedem Akteur, dass die Wahrhaftigkeit eingelöst werden kann. Er versteht die simulative Demokratie damit nicht als „vorsätzliche Täuschung“, sondern als eine „Simulation [kursiv im Original] von Subjektivität und Identität“.115 Mit Bezug zur Nachhaltigkeitsdebatte bringt er diesen Umstand auf den Punkt: „Jeder für sich und alle zusammen inszenieren diese vielfältigen Simulationsdiskurse, die theoretische Möglichkeit, den gesellschaftlichen Willen und die politische Fähigkeit, die etablierte Logik der NichtNichtnachhaltigkeit auszusetzen und umzukehren. Völlig verfehlt wäre es, sie im Gestus moralisierender Überheblichkeit als bloße Lügen, Fassaden oder Inszenierungen abzutun. Sie spiegeln vielmehr eine ernsthafte Überzeugung und sind eine Methode, mit dem nicht auflösbaren Paradox der modernen Umweltpolitik fertigzuwerden.“116 Die Legitimation in der simulativen Demokratie greift diesen Punkt nochmals auf. Blühdorn schlägt vor, anstelle von einer Verschiebung der Legitimität auf der konventionellen Input-/Output-Achse von einer „Entsubjektivierung oder Objektivierung [kursiv im Original] der Legitimationsmuster“117 zu sprechen. Da die Simulation das zurückgelassene autonome Subjekt vorspielen soll, muss das Spannungsverhältnis zwischen einer subjektivierten Legitimation – paradigmatisch für die zweite Moderne – und einer objektivierten Legitimation – wie sie in der dritten Moderne auftritt – lindern. Dies geschieht, indem die simulative Demokratie „eine Art Rückkopplung der objektivierten Legitimation an die Idee des souveränen Subjekts“118 herstellt. Somit besteht die Möglichkeit, mittels der Ausreizung von Partizipationsinstrumenten eine performative Legitimation zu simulieren. Freilich müssen hierfür alle Geltungsansprüche in Sprechakten eingelöst werden können, um eine Verständigung zu erzielen. Die Wahrhaftigkeit spielt nach der postdemokratischen Wende auf einer theoretischen und praktischen Ebene weiterhin eine Rolle. Erstens können durch den Geltungsanspruch weiterhin im Privaten Handlungspläne im Sinne eines kommunikativen Handelns koordiniert werden, da das Konzept der Wahrhaftigkeit selbst nicht normativ ist. Zweitens besteht mit ihm die Möglichkeit, auch in der dritten Moderne Täuschungen, sofern sie wahrgenommen werden, als Information für spätere Interaktion – auch im
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Ebd., S. 44, 196. Ebd., S. 225. Ebd., S. 221. Ebd., S. 226.
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partizipativen Kontext – aufzudecken. Drittens ist die Wahrhaftigkeit auch praktisch notwendig in der simulativen Demokratie. Da die Simulation das autonome Subjekt vorspielen soll, muss sie stets auf die theoretischen Implikationen des Subjekts verweisen; somit auch auf die Geltungsansprüche. Zudem unterstellt Blühdorn den Akteuren aus der Zivilgesellschaft, ihre Proteste wahrhaftig zu vertreten. Dies kann er nur, wenn er von einer performativen Stabilisierung des autonomen Subjekts ausgeht. 4. Ohne geht’s nicht! Die Wahrhaftigkeit als eine beständige Kategorie Kommt die simulative Demokratie nun ohne die Wahrhaftigkeit aus? Nein! Zunächst ist Wahrhaftigkeit kein normatives Konzept und unterliegt damit nicht dem modernisierungstheoretischen Formwandel. Sie stammt aus einer Gesellschaftstheorie, welche die sprachlich vermittelte Interaktion zum Ausganspunkt nimmt. Für das politische System bedeutet das: Die argumentationsgesteuerte Kommunikation gilt weiter. Blühdorn stellt demnach nicht die Wahrhaftigkeit der Partizipation infrage. Lediglich die Stabilität der Interessen unterliegt dem Formwandel. Damit einhergehend verändert sich seiner Meinung nach auch die Form der Legitimität. Der normative Anspruch, Legitimität basiere auf einem Konsens über die Auseinandersetzung autonomer Subjekte, sei nicht mehr zu halten. Stattdessen bedürfe es einer Vermittlung zwischen der normativen und objektiven Legitimation. Durch die Simulation des autonomen Subjekts findet eine Teilbeschaffung der Legitimation statt. Simulation bedeutet dabei nicht, das Fundament des autonomen Subjekts werde nicht benötigt. Es meint vielmehr, eine sichtbare Partizipation erfüllt das Bedürfnis nach einer scheinbaren Mitbestimmungspraxis. Zwar mag der normative Anspruch des kommunikationstheoretischen Ansatzes obsolet sein, doch gilt das nicht für das Wechselspiel zwischen den analytischen Konzepten der Sprechakttheorie. Ansonsten wäre es schlicht unmöglich, der objektivierten Legitimation Geltung zu verschaffen. Schließend geht das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Blühdorns Werk in der Formel auf: Die Partizipation der Bürger ist nicht weniger wahrhaftig, sondern deren Interessenslage ist weniger stabil.
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Ausgeforschte Hintergrundgespräche? Aus „Unter drei“ mach „Unter eins“: Anwendung presserechtlicher Auskunftsansprüche auf Hintergrundgespräche mit Vertretern der Exekutive. Felix Rhein
1. Hintergrundgespräche – Rechercheinstrument der Presse in Bedrängnis 1.1. Bedeutung und Ablauf von Hintergrundgesprächen Sag, wie hast du´s mit der Transparenz? So lautet die Gretchenfrage im Regierungsviertel, wenn es um Kontakte von Medien und Politik bei Hintergrundgesprächen geht. Hintergrundgespräche sind vertrauliche Gespräche zwischen Journalisten und Politikern. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit treffen sie in einem institutionalisierten Rahmen aufeinander. Hintergrundgespräche sind für Journalisten „extrem wertvoll, um weiterführende Informationen statt nur der offiziellen Sprachregelungen zu erhalten“.1 In den Gesprächen erfolgen auch Hinweise auf die Relevanz bereits zugänglicher Quellen und deren Einordnung.2 Politiker nutzen die Gespräche zur Themensetzung und Werbung für die eigene Position.3 In kleiner Runde diskutiert man zudem offen über langfristige Projekte und die allgemeine politische Lage. Thematisch geht es oft um innerparteiliche, -fraktionelle und -koalitionäre
1 Markus Kaiser, Recherchieren. Klassisch - online - crossmedial, Wiesbaden 2015, S. 47. 2 Zu weiteren Vorteilen siehe Philip Baugut/Maria-Theresa Grundler, Politische (Nicht-)Öffentlichkeit in der Mediendemokratie. Eine Analyse der Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten in Berlin, Baden-Baden 2010, S. 316-322. 3 Vgl. Christine Schniedermann, Regierungs-PR und Journalismus zwischen Nähe und Distanz, Die schwierige Gratwanderung oder Beziehung ist (fast) alles, in: Miriam Melanie Köhler/Christian H. Schuster (Hrsg.), Handbuch Regierungs-PR: Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierungen und deren Beratern, Wiesbaden 2006, S. 112-118, hier S. 114.
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Vorgänge.4 Hintergrundgespräche sind fester Bestandteil des Werkzeugkastens der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die formelle Öffentlichkeitsarbeit erfolgt etwa durch Pressemitteilungen, Statements für Zeitungen und Rundfunk, O-Töne, Interviews, sonstige Fernsehauftritte und Pressekonferenzen. Demgegenüber sind die gezielte Weitergabe von Unterlagen („Das Dokument liegt der Redaktion vor“), Eröffnung von exklusiven Zugängen5 und Hintergrundgespräche Ausprägungen einer informellen Kommunikationsbeziehung zwischen Politik und Medien. Hintergrundgespräche sind wohl die verbreitetste Form der informellen Kommunikation. Begrifflich wird zum Teil zwischen Hintergrundkreisen und Hintergrundgesprächen unterschieden, wobei erstgenannte institutionalisierte Runden mit mehreren Teilnehmern und letztgenannte Gespräche zwischen einem Journalisten und einem Politiker beschreiben sollen.6 Diese definitorische Einengung führt nicht weiter, da informelle Treffen zwischen Medien und Politik in unterschiedlichsten Ausprägungen stattfinden können, ohne dass sich die Wirkung ändert. Hier soll daher jeder individuelle Kontakt zwischen Journalisten und Politikern zum vertraulichen Informationsaustausch, unabhängig von Kommunikationsmedium, Regelmäßigkeit und Teilnehmer zum Begriff des Hintergrundgesprächs zählen. Ohne Vertraulichkeit verliert das Format seinen Sinn. Über den Rahmen und die Inhalte der Hintergrundgespräche wird regelmäßig Stillschweigen zwischen den Beteiligten vereinbart. Dabei haben sich folgende Kürzel für zur Absprache der Verwertbarkeit des Inhalts etabliert und wurden in § 16 Abs. 1 der Satzung der Bundespressekonferenz übernommen: 4 Vgl. Jochen Hoffmann, Inszenierung und Interpenetration. Das Zusammenspiel von Eliten aus Politik und Journalismus, Wiesbaden 2003, S. 265; Schniedermann (Anm. 3), S. 113f. 5 Siehe bspw. das Porträt „Mannomannomann“ im SPIEGEL vom 30.9.2017 sowie das ausführlichere Buch „Die Schulz-Story. Ein Jahr Zwischen Höhenflug und Absturz“ (München 2018) jeweils von Markus Feldenkirchen. Diesem wurde exklusiver Zugang zum ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz gewährt. Für die Reportage erhielt er die Auszeichnung „Journalist des Jahres 2017“. In der JuryBegründung heißt es auszugsweise: „Feldenkirchen hat aus den Informationen, die er dank exklusiver Einblicke hinter die Kulissen über viele Wochen gesammelt hat, ein meisterhaftes, präzise beobachtetes Stück Politikreportage gemacht“ (Hervorhebung durch Verfasser), o.A., Mannomann: Journalisten des Jahres, 22.12.2017, https://www.tagesspiegel.de/medien/journalisten-auszeichnung-mannomann-journ alisten-des-jahres/20767118.html. 6 Vgl. z.B. Jörg-Uwe Nieland, Informelle Kommunikationskultur. Netzwerke zwischen Spitzenakteuren der Politik und des Journalismus, in: Karl-Rudolf Korte/ Timo Grunden (Hrsg.), Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2013, S. 401-410, hier S. 406; Hoffmann (Anm. 4), S. 263.
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Ausgeforschte Hintergrundgespräche?
Wird die Verwertungsregel „Unter Eins“ festgelegt, ist das Gespräch wie eine Pressekonferenz zu behandeln. Der gesamte Inhalt darf mit Namensnennung zitiert werden. Keine Quellenangabe erfolgt bei Verständigung auf „Unter Zwei“. In Zeitungsartikeln heißt es dann oft: „Wie diese Zeitung aus gut informierten Kreisen erfuhr,…“ Komplett vertraulich sind nur Gespräche, die „Unter Drei“ stattfinden. Weder Inhalt noch Gesprächspartner dürfen in der Berichterstattung verwendet werden. Absolute Verschwiegenheit gibt es allerdings nie, weil Journalisten die Inhalte der Gespräche nicht vergessen, sondern selbstverständlich in ihre tägliche Arbeit einfließen lassen. Gegenseitiges Vertrauen in die Einhaltung der vereinbarten Verwertbarkeitsregeln ist dabei die Conditio sine qua non.7 In der Richtlinie 5.1 des Pressekodexes heißt es daher: „Hat der Informant die Verwertung seiner Mitteilung davon abhängig gemacht, dass er als Quelle unerkennbar oder ungefährdet bleibt, so ist diese Bedingung zu respektieren. Vertraulichkeit kann nur dann nicht bindend sein, wenn die Information ein Verbrechen betrifft und die Pflicht zur Anzeige besteht. Vertraulichkeit muss nicht gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen, insbesondere wenn die verfassungsmäßige Ordnung berührt oder gefährdet ist.“ Bei einem Vertrauensbruch droht das Versiegen der Informationsquelle,8 was für beteiligte Journalisten teils existenzbedrohende Folgen haben kann. 1.2. Ende der Vertraulichkeit – Rechtsprechungslinie der Verwaltungsgerichte Verwaltungsgerichte bejahten bereits mehrfach einen presserechtlichen Auskunftsanspruch in Bezug auf Pressegespräche der Exekutive. Die Auskunftsbegehren gehen allesamt auf Jost Müller-Neuhof zurück, rechtspolitischer Redakteur und Justiziar der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel. Hintergrundgespräche sollten wie Pressekonferenzen behandelt werden und eine selektive Informationsvermittlung unterbleiben.9 Im ersten Pro-
7 Vgl. Nieland (Anm. 6), S. 407. 8 Vgl. Schniedermann (Anm. 3), S. 114. 9 Vgl. Janosch Delcker, A reporter takes on media’s cozy ties with Berlin. Lawsuit targets Merkel’s off-record briefings, 1.12.2017, https://www.politico.eu/article/report er-takes-on-german-media-ties-with-angela-merkel-chancellery/; Christian Rath, Hintergrundgespräche im Journalismus: Einer kämpft gegen „Unter drei“. Ein Journalist will über Hintergrundrunden von Geheimdiensten und Bundesregierung schreiben – Gerichte haben mehr Verständnis als Kollegen, 12.11.2017, http://www .taz.de/!5459304/; Christian Rath, „Bei einem Hintergrundgespräch macht der
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zess Ende 2016 verpflichtete das Verwaltungsgericht Berlin das Bundeskanzleramt im Eilverfahren zur Auskunft, wann und mit wem sich die Bundeskanzlerin 2016 zu Hintergrundgesprächen traf.10 Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hob die Entscheidung 2017 auf, ohne speziell auf die Gespräche einzugehen.11 Ende 2017 wiederum verpflichtete das Bundesverwaltungsgericht den Bundesnachrichtendienst (BND) in einem Eilverfahren zur Beantwortung der Frage, ob Informationen über die Beteiligung der „Gülen-Bewegung“ am Putschversuch in der Türkei an den SPIEGEL weitergegeben wurden. Möglicherweise weiterreichende Auskunftsansprüche wurden aber verneint beziehungsweise bis zum Hauptsacheverfahren zurückgestellt. 12 Die Medienlandschaft reagierte gespalten auf die Gerichtsurteile.13 Der Präsident des Deutschen Journalisten Verbandes Frank Überall vereint dabei beide Lager. Zunächst bezeichnete er die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts als „Farce“,14 überdachte dann aber seine Position. Nun heißt es: Gegen den Verdacht immer gleicher homogener Runden könne Transparenz helfen.15 Aufgezeigtes Spannungsfeld zwischen journalistischer Arbeitsfähigkeit und Öffentlichkeitsinteressen ist Anlass einer kritischen Prüfung, ob presserechtliche Auskunftsansprüche trotz vereinbarter Vertraulichkeit Hinter-
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Staat Öffentlichkeitsarbeit“. Interview mit Jost Müller-Neuhof, in: Journalist, 67 (2017) 11, S. 64-67. Vgl. VG Berlin, Beschl. v. 22.12.2016 – 27 L 369.16 –, juris. Gegen das Bundesministerium der Justiz ist vor dem Berliner Verwaltungsgericht zudem ein Verfahren anhängig (Az. 27 L 222.18), in dem Auskunft über ein Gespräch der Ministerin mit der Süddeutschen Zeitung verlangt wird, vgl. Jost Müller-Neuhof, Geheimgespräche mit Journalisten. Zum Fall Puigdemont meinte Barley, was sie sagte, 29.6.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/geheimgespraech-mit-journalistenzum-fall-puigdemont-meinte-barley-was-sie-sagte/22752916.html. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 8.3.2017 – 6 S 1.17 – juris. Siehe dazu Felix Rhein, Zweifelhafter Eingriff. Wie transparent sind Hintergrundgespräche?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.6.2017, S. 17. Vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.10.2017 – 6 VR 1.17 – juris. Vgl. nur Stefan Fries, Geheimdienst zu Auskunft verpflichtet, 13.11.2017, http://w ww.deutschlandfunk.de/vertrauliche-gespraeche-geheimdienst-zu-auskunft.2907.d e.html?dram:article_id=400552. Vgl. Deutscher Journalisten Verband, Urteil ist eine Farce. Pressemitteilung vom 20.2.2017, 20.2.2017, https://www.djv.de/startseite/profil/der-djv/pressebereich-do wnload/pressemitteilungen/detail/article/urteil-ist-eine-farce.html. Vgl. Jost Müller-Neuhof, Journalisten-Verband will mehr Licht in Merkels Hintergrundgespräche bringen, 13.1.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/geheimepressetreffs-journalisten-verband-will-mehr-licht-in-merkels-hintergrundgespraech e-bringen/20843234.html.
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grundgespräche der Exekutivorgane des Bundes erfassen können. Dafür wird zunächst das Instrument des presserechtlichen Auskunftsanspruchs dargestellt und anschließend auf die Hintergrundgespräche angewandt. Der Beitrag endet mit Gedanken zu möglichen Erwartungen an das Instrument „Transparenz“. 2. Auskunftsansprüche – Ein Rechercheinstrument der Presse im Aufwind 2.1. Bundesverwaltungsgericht: Auskunftsanspruch aus der Pressefreiheit Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können sich Pressevertreter auf einen Auskunftsanspruch unmittelbar aus der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG berufen. Dabei greift es weit in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein. Ob die Pressefreiheit eine leistungsrechtliche Komponente im Gewande eines Auskunftsanspruchs enthält, ist in der Literatur umstritten.16 Zwei Positionen stehen sich gegenüber: Für die Befürworter eines Auskunftsanspruchs aus der Pressefreiheit ist die Freiheit der Berichterstattung nur möglich, wenn die Presse selbst über alle wichtigen Vorgänge im Staatsleben unterrichtet ist. Ihr komme in der freiheitlichen Demokratie die öffentliche Aufgabe der Informationsvermittlung zu, die andernfalls zur Disposition des Gesetzgebers stünde. Ohne Auskunftsansprüche könne sie ihre Funktion nicht oder nur unzureichend erfüllen.17 Weil der Schutzbereich der Informationsfreiheit durch das Informationsfreiheitsgesetz ausgedehnt wurde, müsse es erst recht zu einer Erweiterung der Pressefreiheit kommen.18 Die Gegner einer solchen Auslegung betonen allerdings: Bei der Pressefreiheit handelt es sich um ein Abwehr- und kein Leistungs-
16 Zum Forschungsstand u.a. Katrin Raabe, Informations- und Auskunftspflichten der öffentlichen Hand gegenüber der Presse, Der verfassungsunmittelbare Auskunftsanspruch der Presse aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, Hamburg 2010, S. 58-60; Dirk Ehlers/Kristin Vorbeck, Presserechtliche Auskunftsansprüche gegenüber Bundesbehörden, in: Ernst-Wilhelm Luthe/Ulrich Meyerholt/Rainer Wolf (Hrsg.), Der Rechtsstaat zwischen Ökonomie und Ökologie. Festschrift für Götz Frank zum 70. Geburtstag, Tübingen 2014, S. 223-244, hier S. 239. 17 Vgl. Christoph Partsch, Der Auskunftsanspruch der Presse. Neujustierung durch das BVerwG, in: Neue Juristische Wochenschrift, 66 (2013) 39, S. 2858-2862, hier S. 2858. 18 Vgl. Raabe (Anm. 17), S. 72.
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recht.19 Weil die „Gatekeeper-Funktion“ der herkömmlichen Presse mit der Vernetzung auf individueller Ebene ihre Bedeutung und Berechtigung verloren habe, sei eine Besserstellung gegenüber dem informationssuchenden Einzelnen kaum zu rechtfertigen.20 Das Bundesverwaltungsgericht nimmt demgegenüber in ständiger Rechtsprechung einen Auskunftsanspruch aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG an, weil die Pressefreiheit sonst leerliefe. 2013 wandte das Gericht diesen Anspruch das erste Mal an: Die Pressefreiheit umfasse nicht nur ein Abwehrrecht, sondern auch die Garantie einer institutionellen Eigenständigkeit der Presse.21 Die verfassungsrechtliche Pflicht zur pressefördernden Ausgestaltung der Rechtsordnung enthalte auch den Erlass von Auskunftspflichten.22 Dadurch werde der Presse die Erfüllung ihrer für die repräsentative Demokratie unerlässlichen Kontroll- und Vermittlerfunktion erleichtert beziehungsweise im Einzelfall erst ermöglicht.23 Entscheidend sei, „dass die Auskunftsregelungen insgesamt hinreichend effektiv sind, das heißt der Presse im praktischen Gesamtergebnis eine funktionsgemäße Betätigung sichern.“24 Die gesetzgeberische Pflicht sei allerdings auf das Niveau eines „Minimalstandards“ begrenzt: auf einen Umfang, den auch der Gesetzgeber nicht unterschreiten dürfe.25 Auskunftsrechte von Pressevertretern enden folglich „dort, wo [ihnen] berechtigte schutzwürdige Interessen Privater oder öffentlicher Stellen an der Vertraulichkeit von Informationen entgegenstehen.“26 2015 hielt das Gericht ausdrücklich an dieser Linie fest, konkretisierte allerdings den Anspruchsinhalt. Die hohe Bedeutung der Presse für die öffentliche Meinungsbildung in der Demokratie verbiete eine restriktive Betrachtung des „Minimalstandards“.27 Anspruchsausschlüsse für ganze Verwaltungsbereiche, also eine „Umkehrung von RegelAusnahme-Verhältnissen“, sei unzulässig.28 Pauschale Bereichsausnahmen
19 Vgl. Philipp Wolff, Auskunfts- und Informationspflichten der Nachrichtendienste, in: Jan-Hendrik Dietrich/Sven-R. Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, Stuttgart 2017, S. 1657-1708, hier S. 1683; Thomas Blome, Ein Auskunftsanspruch zu Lasten Dritter aus Art. 5 I 2 Var. 1 GG?, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 33 (2016) 17, S. 1211-1216, hier S. 1214. 20 Vgl. Wolff (Anm. 20), S. 1686. 21 Vgl. BVerwGE 146, S. 56, 63. 22 Vgl. ebd., S. 63. 23 Vgl. ebd., S. 63. 24 Ebd., S. 63f. 25 Vgl. ebd., S. 64. 26 Ebd., S. 64. 27 Vgl. BVerwGE 151, S. 348, 357. 28 Vgl. ebd., S. 357f.
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seien nur möglich, „wenn dies demjenigen Abwägungsergebnis entspricht, das in aller Regel in Einzelfällen tatsächlich erzielt [werden] würde“.29 Im selben Jahr nahm das Bundesverfassungsgericht eine gegen diese Rechtsprechung gerichtete Verfassungsbeschwerde durch einen Kammerbeschluss nicht zur Entscheidung an, da Grundrechtsverletzungen „jedenfalls im Ergebnis“ nicht ersichtlich seien.30 Dabei prüfte es lediglich einen hypothetischen Verstoß gegen den Kerngehalt aller Landespressegesetze. Der Beschwerdeführer bestritt die materielle Verfassungskonformität dieser Gesetze nicht, weshalb auch kein Verfassungsverstoß vorliegen könne, solange die Fachgerichte keinen hinter dem Gehalt der – auf Abwägung zielenden – Landespressegesetze zurückbleibenden Anspruch einräumen.31 Das Bundesverfassungsgericht ließ aber offen, „ob ein Auskunftsanspruch unter Rückgriff auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden kann und wie weit dieser gegebenenfalls reicht.“32 Es fügte allerdings an, die Presse könne nur durch den prinzipiell ungehinderten Zugang zu Informationen die ihr in der freiheitlichen Demokratie zukommende Funktion wirksam wahrnehmen.33 Daraus folgten „prinzipiell“ Auskunftsrechte der Presse.34 Mit Verweis auf diese Entscheidung legte das Bundesverwaltungsgericht die Pressefreiheit noch weiter aus. Um den Funktionen der Presse Rechnung zu tragen, dürfe der Auskunftsanspruch in seinem materiell-rechtlichen Gehalt nicht hinter den Landespressegesetzen zurückbleiben und fordere eine Abwägung im Einzelfall.35 Zutreffend enthält die Pressefreiheit jedoch keinen Auskunftsanspruch der Presse. Die verfassungsrechtlichen Argumentationen für ein solches Recht leiden zumeist an Begründungsmängeln, sodass kein zwingender Grund zur Annahme eines Leistungsrechts aufgezeigt werden kann. Ein bloßes Behaupten, es handele sich um ein Abwehrrecht, reicht für die Negation des Leistungsrechts dabei nicht aus. Auskunftsansprüche aus Grundrechten sind zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen, aber eine – besonders zu begründende – Ausnahme.36 Bloße grundrechtliche Abwehr-
29 30 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 358. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.7.2015 – 1 BvR 1452/13 –, juris Rn. 11. Vgl. ebd., Rn. 12-15. Ebd., Rn. 12. Vgl. ebd., Rn. 14. Vgl. ebd., Rn. 14. Vgl. BVerwGE 154, S. 222, 225. Vgl. Kai Thum, Verfassungsunmittelbarer Auskunftsanspruch der Presse gegenüber staatlichen Stellen?, in: Zeitschrift für das gesamte Medienrecht, 36 (2005) 1, S. 30-35, hier S. 31.
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funktion ist lediglich die Folge, wenn ein Leistungsanspruch nicht begründet werden kann. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts leidet hier an einem Begründungsmangel, der sich insbesondere bei einem Vergleich mit früheren Entscheidungen zeigt. Im Jahr 1984 hatte das Gericht einen Auskunftsanspruch der Presse noch verneint.37 Zwar verlange die freiheitlich-demokratische Grundordnung „ein Verhalten der Behörden, das in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse von Offenheit geprägt ist.“38 Auskunftsverweigerungen ohne „durchgreifenden Grund“ würden dieser Pflicht nicht gerecht.39 Einen korrespondierenden Auskunftsanspruch der Presse gebe es jedoch nicht.40 Zum einen entspreche dies der Meinung des historischen Gesetzgebers.41 Zum anderen sei ein Auskunftsanspruch nicht notwendig: „Es ist nicht richtig, daß die Presse ohne einen solchen Anspruch außerstande wäre, die ihr obliegende öffentliche Aufgabe der Nachrichtenbeschaffung zu erfüllen. Wer das Funktionieren einer freien Presse als von dem Bestehen eines Auskunftsanspruchs abhängig ansieht, unterschätzt die Fähigkeit der Presse, auch außerhalb behördlicher Auskünfte eine Vielzahl von Informationsmöglichkeiten zu nutzen.“42 Aus der SPIEGEL-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folge nichts anderes.43 Das Bundesverwaltungsgericht widerspricht der älteren Entscheidung gleich mehrfach, ohne diesen Dissens aufzulösen. Zunächst wird als Nachweis für den Auskunftsanspruch auf die Stelle der SPIEGEL-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, die 1984 eine entsprechende Pflicht noch nicht enthalten sollte.44 Ebenso wird die eigene Entscheidung als Beleg angeführt,45 obwohl dort die Pflicht zur Schaffung von Auskunftsansprüchen verneint wurde. Diese wiederum wurde 2013 mit dem Hinweis begründet, andernfalls liefe der objektivrechtliche Gewährleistungsgehalt der Pressefreiheit leer.46 Was jedoch implizit bedeutet, dass allgemein zugängliche Quellen für eine Berichterstattung nicht ausreichen. Hier ersetzt das Bundesverwaltungsgericht die alte durch eine neue gegenteilige Behauptung, ohne auf die aufgegebene Mei-
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Vgl. BVerwGE 70, S. 310. Ebd., S. 314. Vgl. ebd., S. 314f. Vgl. ebd., S. 315. Vgl. ebd., S. 314; siehe dazu auch Blome (Anm. 20), S. 1214 m.w.N. BVerwGE 70, S. 310, 314; kritisch Raabe (Anm. 17), S. 67f. Vgl. BVerwGE 70, S. 310, 313. Vgl. BVerwGE 146, S. 56, 63. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 64.
Ausgeforschte Hintergrundgespräche?
nung Bezug zu nehmen.47 Eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung allgemein zugänglicher Quellen und den „Fähigkeiten der Presse“ zur Nutzung anderer Informationswege findet nicht statt. Damit kann die Begründung für ein Leistungsrecht nicht erbracht werden.48 Denn die Verfügbarkeit von Informationen hat sich durch die Verbreitung neuer elektronischer Kommunikationsformen und Recherchemöglichkeiten gegenüber 1984 noch erweitert, ohne dass ein bedrohlicher „information overload“ bei Medienvertretern feststellbar ist. Hinzu kommen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweiterte und abgesicherte Recherchemöglichkeiten aus allgemein zugänglichen Quellen49 sowie eine pressefreundliche Auslegung spezifischer Informationsansprüche, wie § 12 Grundbuchordnung.50 Es ist keineswegs belegt, dass allgemein zugängliche Quellen für ein effektives Wirken der Presse nicht ausreichen. Dies gestehen indirekt auch die Kritiker der älteren Entscheidung zu.51 Ein Verzicht auf presserechtliche Auskunftsansprüche stellt folglich keinen Verstoß gegen die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG dar. 2.2. Das Grundgesetz als Anspruchsgrundlage? Jeder staatliche Grundrechtseingriff muss sich auf eine gesetzliche Grundlage zurückführen lassen (sog. allgemeiner Gesetzesvorbehalt). Der Gesetzesvorbehalt ist denknotwendige Voraussetzung der Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG.52 Bei Grundrechtskollisionen und Ausgestaltung verfassungsimmanenter Grundrechtsschranken kann zudem nur der Gesetzgeber notwendige Abwägungsentscheidungen vornehmen.53 Dem allgemeinen stehen weitere spezielle Gesetzesvorbehalte der einzelnen Grundrechte zur Seite, die weitere Anforderungen an das einschränkende Parlamentsgesetz aufstellen, etwa in Art. 5 Abs. 2 GG. Der allgemeine Gesetzesvorbehalt ist demgegenüber die „rechtsstaatlich determinierte eiserne Reserve“ und
47 48 49 50 51
Vgl. Blome (Anm. 20), S. 1214. Ebenso bereits Thum (Anm. 37), S. 34. Vgl. BVerfGE 103, S. 44; 145, S. 365; Blome (Anm. 20), S. 1214. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 28.8.2000 – 1 BvR 1307/91 –, juris. Vgl. Wolff Heintschel von Heinegg, Auskunftsansprüche der Presse gegenüber der Verwaltung, in: Zeitschrift für das gesamte Medienrecht, 34 (2003) 4, S. 295-300, hier S. 298. 52 Vgl. BVerfGE, 40, S. 237, 248f. 53 Vgl. BVerfGE 83, S. 130, 142; 85, S. 386, 402f.; 108, S. 282, 311f.
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verlangt nur ein Parlamentsgesetz, das staatlichen Organen Grundrechtseingriffe gestattet.54 Gesetz im Sinne eines Gesetzesvorbehalts kann nur ein Parlamentsgesetz (sog. formelles Gesetz) sein.55 Lediglich in der Verfassung normierte Grundrechte scheiden von vorneherein als Eingriffsgrundlage für Grundrechtseingriffe aus. Dies ergibt sich bereits aus Sinn und Zweck der Grundrechte: Sie sollen – in ihrer primären Funktion – den Einzelnen vor staatlichen Einschränkungen seiner Freiheitssphäre schützen. Könnte aber auf Grundlage eines Grundrechts in dieses oder andere Grundrechte eingegriffen werden, verkehrt sich die Grundrechtsfunktion in ihr Gegenteil. Grundrechte würden die Freiheitssphäre der Bürger begrenzen und nicht absichern.56 Die Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Eingriffsgrundlage ergibt sich zusätzlich e contrario aus Art. 9 Abs. 2 GG. Ohne parlamentsgesetzliche Grundlage wären das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) sowie die speziellen Gesetzesvorbehalte überflüssig.57 Im Rahmen eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens kann zudem eine Diskussion über potenzielle Grundrechtseingriffe vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden.58 Auch die Staatsstrukturprinzipien enthalten keinen Gesetzesvorbehalt, sondern einen Gesetzgebungsvorbehalt.59 Zutreffend und zusammenfassend gilt daher nach Herbert Bethge: „Der Vorbehalt des Gesetzes, der [ein] Parlamentsgesetz verlangt, wird nicht durch den Vorbehalt der Verfassung ersetzt.“60 Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG stelle eine „hinreichende Eingriffsermächtigung“ für Grundrechtseingriffe dar,61 ist nach alledem unhaltbar und grob verfas-
54 Vgl. Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 57 (1998), S. 7-56, hier S. 28, mit Verweis auf Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes. Ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, Baden-Baden 1970, S. 288, Fn. 4. 55 Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, München 2010, § 8 Rn. 22 und § 17 Rn. 13. 56 Vgl. Josef Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: Burkhardt Ziemske/Theo Langheid/ Heinrich Wilms/Görg Haverkarte (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 5-48, hier S. 14. 57 Vgl. Blome (Anm. 20), S. 1215. 58 Vgl. BVerfGE 40, S. 237, 249f.; 85, S. 386, 403f.; 108, S. 282, 312. 59 Vgl. BVerfGE 59, S. 231, 263. 60 Bethge (Anm. 54), S. 51. 61 Vgl. BVerwGE 151, S. 348, 361.
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sungswidrig.62 Das Gericht geht dabei fehlerhaft von einem „Grundsatz des Gesetzesvorbehalts“ aus,63 von dem folglich Ausnahmen möglich wären. Unabhängig von der Frage eines Grundrechtseingriffs darf aber auch nicht auf Grundrechte als Anspruchsgrundlage für einen presserechtlichen Auskunftsanspruch zurückgegriffen werden, weil der Bundesgesetzgeber den Erlass einer gesetzlichen Grundlage auf Bundesebene bereits zweimal ablehnte.64 Legislative Willensbekundungen sind nicht auf den Erlass von Gesetzen beschränkt, sondern manifestieren sich ebenso in der Weigerung. Wenn ein Gesetzentwurf abgelehnt wird, liegt eine klare Entscheidung vor: Der Gesetzgeber wählt die geltende Rechtordnung ohne die vorgeschlagenen Änderungen. Indem das Bundesverwaltungsgericht weiterhin einen Leistungsanspruch direkt aus der Verfassung annimmt, widerspricht es einer gesetzgeberischen Entscheidung. Anders als im Ausnahmefall zulässig, ersetzt die Rechtsprechung damit nicht den Gesetzgeber – sondern korrigiert ihn. Es werden nicht mehr stellvertretend temporäre legislative Pflichten zum Gesetzeserlass übernommen, denen der Gesetzgeber etwa aus Zeitgründen nicht nachkommen konnte. Stattdessen ist die legislative Gestaltungsmacht beim presserechtlichen Auskunftsanspruch auf Bundesebene vollends auf die Rechtsprechung übergegangen. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt damit keine Rolle neben, sondern über dem Parlament ein.65 Es postuliert die Gesetzgebungspflicht des Gesetzgebers und vollstreckt diese Pflicht durch die Annahme eines verfassungsunmittelbaren Leistungsrechts gegen den Willen des Parlaments quasi selbst. Dieses verfassungsunmittelbare Leistungsrecht erzeugt zudem eine Pattsituation, weil weder Gesetzgeber noch Verfassungsgericht reagieren können. Das Bundesverwaltungsgericht entkoppelt die Frage presserechtlicher Auskunftsansprüche auf Bundesebene vom Verhalten des Gesetzgebers. Dieser kann sich nur noch für die vom Bundesverwaltungsgericht geschaffene Rechtslage „entscheiden“, nicht aber für die davor. Zugleich verhin-
62 Vgl. Blome (Anm. 20), S. 1215f.; Gerrit Hornung, Persönlichkeitsrechtliche Grenzen des presserechtlichen Auskunftsanspruchs. Normative Unterschiede, interpretatorische Einebnungen und Reformbedarf, in: Zeitschrift für das gesamte Medienrecht, 48 (2017) 5, S. 390-396, hier S. 393f. 63 Vgl. BVerwGE 151, 348, 361. 64 Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 27.7.2013, S. 32270; Plenarprotokoll 22.6.2017, S. 24532. 65 Vgl. Andreas Hofmann, Anmerkung zu BVerwG, Beschluss vom 26.10.2017 – 6 VR 1/17, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 37 (2018) 6, S. 417-418, hier S. 418.
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dert es eine verfassungsrechtliche Überprüfung der eigenen Rechtsprechung, da die Pressefreiheit durch die Annahme eines verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruchs jedenfalls im Ergebnis nicht verletzt wird.66 Damit versperrt das Bundesverwaltungsgericht den Weg zum Bundesverfassungsgericht und folglich zu einer verbindlichen Feststellung der vermeintlichen gesetzgeberischen Pflicht. Verbleibende Handlungsoptionen des Gesetzgebers beschränken sich darauf, die Meinung des Bundesverwaltungsgerichts zu übernehmen und ein Presse-Auskunfts-Gesetz zu erlassen oder die weitere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten.67 Eine gesetzgeberische Entscheidung für die vor der Gerichtsentscheidung geltende Rechtslage und gegen einen presserechtlichen Auskunftsanspruch auf Bundesebene macht das Bundesverwaltungsgericht aber unmöglich. Anstatt die gesetzgeberische Entscheidung durch einen verfassungsunmittelbaren Anspruch zu umgehen, wäre eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage gesetzgeberischen Unterlassens an das Bundesverfassungsgericht angebracht gewesen. Im zu entscheidenden Fall hätte das BND-Gesetz wegen fehlendem presserechtlichem Auskunftsanspruch dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden können.68 Das schrittweise Verschwinden der Hinweise auf die vorsichtige Anwendung verfassungsunmittelbarer Ansprüche und auf den Vorrang des Gesetzgebers aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unterstreicht diesen Befund. Anfängliche Hinweise, dass ein verfassungsunmittelbarer Anspruch die Ausnahme bleiben muss, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht unterlaufen werden darf, dass nur der Gesetzgeber zur Interessenabwägung und -gewichtung befugt ist und dass seine Position schon im Ansatz nicht mit der der Gerichte vergleichbar ist,69 finden sich in der neueren Rechtsprechung nicht mehr. Stattdessen nimmt das Bundesverwaltungsgericht ab 2016 die Interessenabwägung und -gewichtung vor,70 zu der es ein Jahr vorher nur den Gesetzgeber befugt sah.71 66 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.7.2015 – 1 BvR 1452/13 –, juris Rn. 11. 67 Vgl. Rhein (Anm. 12). 68 Es handelt sich um ein relatives bzw. ein qualifiziertes Unterlassen des Gesetzgebers, bei dem die aktuelle – vom entscheidenden als verfassungswidrig eingestufte – Rechtslage nach Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden kann, vgl. BVerfGE 99, S. 300, 314 und Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, Heidelberg 2015, S. 247f. 69 Vgl. BVerwGE 146, S. 56, 64; 151, S. 348, 355f. 70 Vgl. BVerwGE 154, S. 222, 225. 71 Vgl. Christoph Schnabel, Die Zukunft des presserechtlichen Auskunftsanspruchs gegen Bundesbehörden, in: Neue Juristische Wochenschrift, 69 (2016) 24, S. 1692-1696, hier S. 1695.
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3. Presse gegen Presse – Anwendung presserechtlicher Auskunftsansprüche auf Hintergrundgespräche Die Pressefreiheit schützt die Presse vor der Ausforschung ihrer Arbeit. Informationsweitergabe über journalistische Tätigkeit ist damit ein Eingriff in die Pressefreiheit. „Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates“,72 heißt es in der SPIEGEL-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dazu gehöre ein gewisser Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse und Informanten. „Dieser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann ergiebig fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann“73. Hier liegt aber keine klassische Quellenschutz-Situation vor. „[D]ie Identität der jeweiligen ‚Quelle‘ ist vorliegend von vornherein bekannt; der Antragsteller richtet sein Auskunftsersuchen gerade an die ‚Informanten‘ der Hintergrundgespräche […].“74 Nicht der Staat forscht die Presse aus, sondern die Presse den Staat und damit mittelbar auch die Presse.75 Primäres Ziel der Auskunftsansprüche ist dabei zwar die informelle Öffentlichkeitsarbeit der Bundesorgane. Daran beteiligte Medienvertreter werden jedoch mit ausgeforscht. Durch die Beantwortung der Frage nach Teilnehmern eines bestimmten Pressegesprächs weiß der Fragende zwangsläufig auch, welcher Journalist sich wann mit Vertretern welches Ministeriums getroffen hat. Eine Sammelabfrage an alle Bundesbehörden nach in einem bestimmten Zeitraum geführten Hintergrundgesprächen würde einen wesentlichen Teil der journalistischen Recherchearbeit offenlegen. Man denke dabei beispielsweise an das im Wesentlichen auf Hintergrundgesprächen basierende Buch „Die Getriebenen“ von Robin Alexander.76 Eine nachträgliche Veröffentlichung
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BVerfGE 20, S. 162, 174. BVerfGE 117, S. 244, 259. VG Berlin, Beschl. v. 22.12.2016 – 27 L 369.16 –, juris Rn. 52. Eine unmittelbare Ausforschung der (z.T. staatlichen) Medien untereinander ist durch den presserechtlichen Auskunftsanspruch ohnehin ausgeschlossen, vgl. BVerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift, 42 (1989) 6, S. 382f.; Paul Kirchhof, Transparenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Baden-Baden 2017, insb. S. 23f., 28-31, 52-67. 76 Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik. Report aus dem Inneren der Macht, München 2017.
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der Hintergrundgespräche der Bundesbehörden würde zeigen, welcher Minister, Staatssekretär oder hoher Beamter der Sicherheitsdienste wann mit ihm Kontakt hatte. Das Recherchenetzwerk des Autors wäre offengelegt. Zudem lassen sich verschiedene Antworten auf Auskunftsbegehren sammeln und zu einem umfassenden Bild über die Arbeit der Journalisten zusammensetzen. Daher gilt seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts: „[U]nter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung [gibt es] kein ‚belangloses‘ Datum mehr.“77 Wenn das Bundesverfassungsgericht in der CICERO-Entscheidung feststellt, dass „in der Verschaffung staatlichen Wissens über die im Bereich journalistischer Recherche hergestellten Kontakte ein Eingriff in das Redaktionsgeheimnis“78 liege, gilt dies ebenso für eine staatliche Weitergabe ebendieser Informationen.79 Bereits aus diesem Grund ist die Offenlegung der Teilnehmer vertraulicher Hintergrundgespräche ein Eingriff in die Pressefreiheit. Hinzu kommt eine Beeinträchtigung der Investigativarbeit in zeitlicher Hinsicht. Recherchen sind ein längerer Prozess, weshalb die teilnehmenden Journalisten nicht jede Information aus einem Hintergrundgespräch sofort in einen Artikel einfließen lassen. Er wird erst publiziert, wenn nach Ansicht des Autors genügend Informationen zusammentragen sind. Wird die Behörde aber zur Auskunft über Inhalt und Themen der Hintergrundgespräche verpflichtet, sind die teilnehmenden Journalisten zur schnellen Publikation gezwungen. Andernfalls liegen die Informationen – insbesondere auch das Recherchethema – einer anderen Redaktion vor. Sie verlieren ihren Wert in Form der Exklusivität beziehungsweise offenbaren direkten Wettbewerbern eigene Rechercheansätze. Berichtet ein anderes Medium ausführlich über das Thema, wird dieses meist uninteressant und die Investigativarbeit wertlos. Dies widerspricht der Pressefreiheit, denn „die Presse [entscheidet] in den Grenzen des Rechts selbst, ob und wie sie über ein bestimmtes Thema berichtet. […] Unter das Selbstbestimmungsrecht in zeitlicher Hinsicht fällt auch die Freiheit der Presse, zu entscheiden, ob eine Berichterstattung zeitnah erfolgen soll.“80 Demgegenüber hält das Verwaltungsgericht Berlin die Namensnennung der Journalisten für unproblematisch, weil die Tätigkeit der Journalisten auf Publikation im eigenen Namen gerichtet sei.81 Richtigerweise entscheiden die Journalisten dabei 77 78 79 80 81
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BVerfGE 65, S. 1, 45. BVerfGE 117, S. 244, 259; vgl. auch BVerfGE 100, S. 313, 365. A.A. vgl. VG Berlin, Beschl. v. 22.12.2016 – 27 L 369.16 –, juris Rn. 52. BVerfG, Beschl. v. 8.9.2014 – 1 BvR 23/14 –, juris Rn. 29. Vgl. VG Berlin, Beschl. v. 22.12.2016 – 27 L 369.16 –, juris Rn. 56, in Bezug auf den Persönlichkeitsschutz.
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aber selbst, wann sie unter eigenen Namen publizieren. Veröffentlichen Behörden trotz vereinbarter Vertraulichkeit Informationen über den Inhalt der Hintergrundgespräche, greifen sie damit in die Pressefreiheit des teilnehmenden Journalisten ein. Vorliegende Fallgestaltung veranschaulicht auch die Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe. Durch die Anwendung verfassungsunmittelbarer presserechtlicher Auskunftsansprüche auf Hintergrundgespräche kommt es sonst zu einer Konstellation, in der die Pressefreiheit betroffenes Grundrecht, Eingriffsgrundlage und -rechtfertigung zugleich ist. Journalisten wären durch die Pressefreiheit geschützt und ihr zugleich ausgesetzt.82 Eine solche Spannungslage kann nur der Gesetzgeber auflösen. Beantwortet der Staat Auskunftsbegehren über Inhalt und Teilnehmer seiner Hintergrundgespräche, greift er in die Pressefreiheit der teilnehmenden Journalisten ein. Da hierfür eine Eingriffsgrundlage fehlt, dürfen entsprechende presserechtliche Auskunftsbegehren nicht beantwortet werden. 4. Transparenz – Kein Allheilmittel gegen Vertrauensverluste Im eingangs erwähnten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin berief sich der Kläger zur Untermauerung seines Begehrens ausdrücklich auf den Kampfbegriff „Lügenpresse“83 und überzeugte damit das Gericht: „Bereits die andauernde Berichterstattung zu dem gegen die Medien gerichteten Vorwurf einer einseitigen, bestimmte Lebenssachverhalte wie Meinungen ausblendenden Nachrichtenpraxis […], lässt im tenorierten Umfang den zügigen Eintritt von Transparenz geboten erscheinen.“84 Transparenz ist jedoch keine Universalmedizin zur Heilung jedes (vermeintlichen) gesellschaftlichen Problems. Da sich Vertrauensgewinne durch Transparenz weder theoretisch noch empirisch nachweisen lassen, müssen Sinn und Zweck von entsprechenden Forderungen im Einzelfall hinterfragt werden. Insbesondere, wenn – wie hier – ein Konflikt mit anderen Rechtsgütern besteht. Ein Kausalitätsverhältnis von Transparenz und Vertrauen lässt sich nicht theoretisch belegen. Nach dem Bundesverfassungsgericht liegt der demokratiefördernde Gehalt der Transparenz in der Schaffung von Vertrauen.
82 Vgl. Rhein (Anm. 12). 83 VG Berlin, Beschl. v. 22.12.2016 – 27 L 369.16 –, juris Rn. 16. 84 Ebd., Rn. 71.
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Ohne Transparenz, die es erlaubt, das politische Geschehen zu verfolgen, sei dieses nicht möglich.85 Der Philosoph Byung-Chul Han vertritt allerdings einen dieser Argumentationskette fundamental widersprechenden Ansatz: Wo im Vorfeld alles bekannt ist, erübrige sich das Vertrauen. Folglich sei unter der Transparenz kein Raum für Vertrauen. Es solle nicht „Transparenz schafft Vertrauen“ heißen, sondern „Transparenz schafft Vertrauen ab“.86 Zutreffend erwächst Vertrauen nicht aus Kenntnis, sondern aus mangelnder Kenntnis.87 Deshalb heißt es bei Jean Druey: „Nicht das kognitiv begründete und angesichts der Beschränktheit allen Wissens letztlich utopische, sondern nur das auf Nicht-Wissen zurückgehende Vertrauen kann gesellschaftliches Leben in Bewegung setzen.“88 Nur bedingt richtig ist daher die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Behauptung, Transparenz sei Bedingung von Vertrauen. Sie kann allenfalls die Basis für Vertrauen schaffen.89 In dem Ausspruch zeigt sich vielmehr eines der Grundprobleme der Transparenz-Diskussion. „Die Parallelität, mit welcher der Ruf nach ‚Vertrauen schaffen‘ und die Klage über die ‚Vertrauenskrise‘ anwachsen, deuten auf die noch fehlende Bewältigung“ der im Konzept des Vertrauen-Schaffens innewohnenden Widersprüchlichkeiten hin.90 Weder ein Verlust von Vertrauen in die Medien noch eine Steigerung durch Transparenz sind empirisch belegt. Bereits die These eines Vertrauensverlusts der Bevölkerung in die journalistische Arbeit lässt sich aus erhobenem Datenmaterial nicht verifizieren. Im Gegenteil: Die Umfragen zeigen sogar teilweise einen Anstieg.91 Die These eines Vertrauensgewinns durch Transparenz wurde in Hinblick auf die Presse noch nicht überprüft. 85 Vgl. BVerfGE 40, S. 118, 227, 296, 327, 353. 86 Vgl. Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2017, S. 78f. Zustimmend Ralf Kleindiek, Informationszugang und Transparenz. Zum Hamburgischen Transparenzgesetz, in: Recht und Politik, 49 (2013) 3, S. 152-158, hier S. 156; vgl. auch BVerfGE 118, S. 227, 349: „Wer freie Abgeordnete will, muss auch ein Mindestmaß an Vertrauen aufbringen“. 87 Jean Nicolas Druey, Der Kodex des Gesprächs. Was die Sprechaktlehre dem Juristen zu sagen hat, Baden-Baden 2015, S. 386. 88 Ebd. 89 Druey verweist auf den Begriff des Systemvertrauens nach Niklas Luhmann. 90 Ebd. S. 386f. 91 Allerdings auch eine Zunahme der fundamentalen Ablehnung, vgl. Marc Ziegele u.a., Lügenpresse-Hysterie ebbt ab, in: Media Perspektiven, 22 (2018) 4, S. 150-162; Erk Simon, Glaubwürdigkeit deutscher Medien gestiegen, in: Media Perspektiven, 22 (2018) 5, S. 210-215, Tanjev Schultz u.a., Erosion des Vertrauens zwischen Medien und Publikum?, in: Media Perspektiven, 21 (2017) 5, S. 246-259. Vertiefend zu Ablehnungsmechanismen und Wechselwirkungen, Uli Berhnard, „Lügenpresse, Lügenpolitik, Lügensystem“. Wie die Berichterstattung über die
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Eine Zunahme des Vertrauens der Bevölkerung in die Arbeit der Verwaltung lässt sich allerdings auch zehn Jahre nach dem Erlass eines Informationsfreiheitsgesetzes auf Bundesebene, das in Paragraph 1 einen individuellen Zugangsanspruch jeden Bürgers zu Behördenakten normiert, nicht nachweisen.92 Vielmehr deutet viel auf ein Transparenz-Legitimitäts-Paradoxon hin, wonach ein Transparenzzuwachs zu einem Vertrauens- und Legitimitätsverlust führt.93 Denn Nachrichtenfaktoren wie Negativismus, Konflikt und Kontroverse sprechen eher für Berichte über durch Transparenz aufgedeckte Missstände als über noch unbekannte positive Befunde.94 Mehr Gelassenheit im Umgang mit – angeblichen – Vertrauensverlusten in die Medien tut daher Not. Die Medienverschwörungstheorie ist eine historische Konstante über alle politischen Lager hinweg95 und lässt sich nicht allein mit Transparenz bekämpfen. Denn: „Natürlich können Journalisten sich bemühen, ihre Arbeit transparenter zu machen. Aber auch diese Transparenzbemühungen sind dann ja Teil einer medialen Inszenierung, über deren Produktion wiederum Transparenz herzustellen wäre, was ebenso nur als mediale Vermittlung vonstattenginge, und so geht es weiter und weiter.“96 Gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit einer kritischen Presse und Vertrauen in ihre Arbeit wird daher langfristig nicht durch eine gegenseitige Schwächung der Recherchemöglichkeiten erreicht. Diese Einsicht sollte sich auch bei den Verwaltungsgerichten durchsetzen.
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PEGIDA-Bewegung wahrgenommen wird und welche Konsequenzen dies hat, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 66 (2018) 2, S. 170-187. Vgl. Philipp Richter, Es werde Licht! Und es ward Licht? Zur Wirkung von Transparenz auf die Legitimität der öffentlichen Verwaltung, in: Politische Vierteljahresschrift, 59 (2017) 2, S. 234-257. Vgl. ebd., S. 239f., 245f. Vgl. ebd., S. 245 m.w.N. Vgl. John David Seidler, Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse, Bielefeld 2016; John David Seidler, „LÜGENPRESSE!“. Medien als Gegenstand von Verschwörungstheorien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66 (2016) B 30-32, S. 41-46. Ebd., S. 46.
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Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet? Eine Analyse der Regierungsbildung mit Modellen formaler Koalitionstheorie Robin Graichen
1. Zwischen GroKo und Jamaika Die Bundestagswahl 2017 führte zu einer parlamentarischen Sitzverteilung, die den Prozess der Regierungsbildung mit großen Schwierigkeiten behaftete: Noch nie hatten die beiden großen Parteien zusammengenommen einen so geringen Stimmenanteil (53,4 Prozent) bei Bundestagswahlen,1 keine der möglichen Mehrheitskoalitionen wurde von allen involvierten Parteien angestrebt und die apodiktische Absage der SPD an eine Große Koalition am Wahlabend des 24. Septembers manövrierte CDU/CSU, FDP und Grüne in Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition, der letztlich einzig verbleibenden Mehrheitsregierung, der jedenfalls noch eine Chance auf Verwirklichung zugesprochen wurde.2 Es schien, als seien die Akteure dieser schwarz-gelb-grünen Koalition zum Regieren verdammt – ein Trugschluss, wie die Nacht vom 19. zum 20. November 2017 offenbarte: Die FDP brach die Sondierungsgespräche nach fast vierwöchigen Verhandlungen ab.3 Es seien zahlreiche Kompromissangebote an CDU/CSU und Grüne unterbreitet worden, bereits ausgehandelte Politikinhalte wurden jedoch wieder in Frage gestellt. FDP-Chef Lindner begründete daher das Nein zum Jamaika-Dreierbündnis mit der Verschiebung der erwarteten Koalitionspolitik zugunsten der Grünen: „Die Grünen waren in den allermeisten Fällen die abweichende Stimme. Die Union war aber lei-
1 Vgl. Oskar Niedermayer, Die Bundestagswahl 2017: ein schwarzer Tag für die Volksparteien, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 66 (2017) 4, S. 465-470. 2 Vgl. die Aussagen der Parteispitzen in der Berliner Runde, in: ARD, Berliner Runde, 24.9.2017, www.ardmediathek.de/tv/ARD-Sondersendung/Berliner-Runde/Das Erste/Video?bcastId=3304234&documentId=46227228. 3 Vgl. O. A., Jamaika gescheitert. FDP bricht Sondierungen ab, 20.11.2017, www.tag esschau.de/inland/fdp-sondierungen-abbruch-103.html.
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der bereit, die Grünen für das Projekt einzukaufen.“4 Die FDP sah sich in der Rolle des Mehrheitsbeschaffers einer im Kern schwarz-grünen Regierung, sollte sie der Jamaika-Koalition beitreten. Dagegen wäre man sich vermutlich allein mit der Union – hätten es die Mehrheitsverhältnisse zugelassen – auf eine schwarz-gelbe Regierung einig geworden, so Lindner.5 Liefen Regierungsbildungen in Deutschland gewöhnlich im Modus des Freestyle Bargaining ab, nahm Bundespräsident Steinmeier in dieser für die Bundesrepublik historisch einmaligen Situation nun in gewisser Weise die Rolle eines Formateurs6 ein, indem er von allen Parteien Gesprächsbereitschaft verlangte und vorzeitigen Neuwahlen de facto eine Absage erteilte.7 Die Sozialdemokraten ebneten den Weg zu einer erneuten Koalition mit CDU und CSU über einen Sonderparteitag zur Aufnahme von Sondierungsgesprächen und über einen Mitgliederentscheid zum ausgehandelten Koalitionsvertrag,8 der in der Ressortverteilung die drei Schlüsselministerien Arbeit und Soziales, Auswärtiges und Finanzen für die SPD vorsah.9 Nachdem der Vertrag am 12. März 2018 von den Akteuren unterzeichnet und Angela Merkel zwei Tage später erneut zur Bundeskanzlerin gewählt worden war, endete der Prozess der Regierungsbildung – 171 Tage nach der Bundestagswahl.10 Galt eine Regierung aus CDU/CSU, FDP und Grünen zunächst als alternativlose Konsequenz des Wahlergebnisses, belegen die zähen Verhandlungen über das Jamaika-Bündnis und letztlich der Abbruch der Sondierun-
4 O. A., Das FOCUS-Gespräch mit FDP-Chef Christian Lindner nach dem Ende der Sondierung, 25.11.2017, www.focus.de/politik/deutschland/politik-waere-jam aika-ins-amt-gekommen-dann-haette-die-fdp-den-nuetzlichen-idioten-fuer-eine-gro sse-koalition-mit-ein-bisschen-gruen-gespielt_id_7890366.html. 5 Vgl. ebd. 6 Freestyle Bargaining bezeichnet Koalitionsverhandlungen, bei denen Parteien mögliche Regierungsbündnisse ohne Einfluss eines Dritten ausloten. Existiert hingegen ein Formateurspieler im politischen System, beauftragt dieser bestimmte Fraktionen mit der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. 7 Vgl. Bundespräsident, Erklärung zur Regierungsbildung, 20.11.2017, www.bunde spraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/11/1 71120-Statement-Regierungsbildung.html. 8 Vgl. Oscar W. Gabriel, Ende gut – alles gut? Regierungsbildung als Geduldsprobe, 23.3.2018, www.pw-portal.de/meta-ticker-bundestagswahl-2017/40674-ende-gut-al les-gut-regierungsbildung-als-geduldsprobe. 9 Vgl. Bundesregierung, Koalitionsvertrag 2018, 12.3.2018, www.bundesregierung.d e/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf. 10 Vgl. Sven T. Siefken, Regierungsbildung „wider Willen“ – der mühsame Weg zur Koalition nach der Bundestagswahl 2017, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49 (2018) 2, S. 407-436, hier S. 408.
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Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
gen doch die inhaltlichen Hürden innerhalb dieser Koalitionsoption.11 Hingegen haben sich Union und SPD nach dreizehntägigen Verhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt.12 Der vorliegende Beitrag gibt eine Antwort auf die Frage, wie das Scheitern der Jamaika-Sondierungen und die Bildung einer Koalition aus CDU/CSU und SPD im Zuge der Bundestagswahl 2017 zu erklären sind. Als Analyserahmen dienen Modelle der formalen Koalitionstheorie und die parteipolitischen Positionierungen aus dem Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl. Im Ergebnis ist erstens die Absage der FDP an eine Koalition mit CDU/CSU und Grünen aus Sicht der Liberalen als rational richtige Entscheidung zu beurteilen, zweitens stellt die Große Koalition die erklärte rationelle Gleichgewichtslösung der beteiligten Parteien im Koalitionsspiel dar. Wer die formale Koalitionsforschung überblickt, erkennt drei grundlegende Theorietypen zur Erklärung von Regierungsbildungsprozessen. Sie spiegeln den Forschungsfortschritt wider, werden daher auch als drei Generationen von Koalitionstheorien bezeichnet.13 Bezieht der erste Theorietyp – office-orientierte Koalitionstheorien14 – einzig Sitzverteilungen in Koalitionsanalysen ein, werden von der zweiten Generation – policy-orientierte Koalitionstheorien15 – ausschließlich die politischen Verortungen von Parteien in Politikräumen berücksichtigt, ohne im Detail auf Sitzstärken inner-
11 Vgl. Richard Hilmer/Jérémie Gagné, Die Bundestagswahl 2017: GroKo IV – ohne Alternative für Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49 (2018) 2, S. 372-406, hier S. 402-404. 12 Vgl. O. A., Verhandlungen um GroKo. CDU, CSU und SPD einigen sich auf neuen Koalitionsvertrag, 7.2.2018, www.pnp.de/nachrichten/politik/2828075_Liveblo g-CDU-CSU-und-SPD-einigen-sich-auf-neuen-Koalitionsvertrag.html. 13 Vgl. Eric Linhart/Susumu Shikano, Parteienwettbewerb und Regierungsbildung bei der Bundestagswahl 2009: Schwarz-Gelb als Wunschkoalition ohne gemeinsame Marschrichtung?, in: Harald Schoen/Bernhard Weßels (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2013, S. 426-451. 14 Zu office-orientierten Koalitionstheorien zählen beispielsweise die Modelle der Gewinnkoalition und minimalen Gewinnkoalition nach John von Neumann/ Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton 1944; die Smallest Size Coalition, die Bargaining Proposition und die Oversized Coalition. Siehe im Detail Wolfgang C. Müller, Koalitionstheorien, in: Ludger Helms/Uwe Jun (Hrsg.), Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung, Frankfurt/M./ New York 2004, S. 267-301. 15 Zu policy-orientierten Koalitionstheorien zählen beispielsweise die Modelle der Ordinal und Interval Minimal Range Coalition und die (nicht kompensatorische) Minimal Connected Winning Coalition. Siehe im Detail Müller (Anm. 14).
235
Robin Graichen
halb von Koalitionen einzugehen.16 Am fruchtbarsten ist daher die dritte Klasse von Koalitionstheorien. Sie integriert beide Aspekte. Theorien dieser dritten Generation werden allgemein als kombinierte Koalitionstheorien17 bezeichnet. Bei der formalen Analyse von Regierungsbildungen ist es State of the Art der Koalitionsforschung, Theorien der dritten Generation anzuwenden, da sie die Lösungsmenge erklärter Koalitionen unter hohem Informationsgehalt begrenzen. Sie unterscheiden sich in bestimmten Rahmenbedingungen, die etwa verfassungsmäßig vom politischen System vorgegeben sind – beispielsweise der Existenz eines Formateurspielers, der eine einzelne Partei mit der Koalitionsbildung beauftragt. Ebenso liegen Unterschiede in der formalen Ausgestaltung der Modelle vor, etwa in der Gesamtanzahl möglicher Parteien oder Politikraumdimensionen.18 Als eine State-of-the-Art-Theorie für die Analyse von Regierungsbildungen in Deutschland hat sich die Sened’sche Koalitionstheorie etabliert.19 Sie setzt den Modus des Freestyle Bargaining um, überlässt den Parteien bei der Regierungsbildung im Gegensatz zu Formateurspieler-Theorien somit freie Hand. Der parteispezifische Gesamtnutzen in möglichen Koalitionen ergibt sich aus einem Office-Nutzenanteil und einem Policy-Nutzenanteil. Der Office-Nutzen kann im Fall Deutschlands durch Gamsons Gesetz bestimmt werden. Es besagt, Parteien erhalten denjenigen Minister-
16 Es sind im Besonderen die entweder rein office- oder policy-orientierten Koalitionstheorien, die Kritikern formaler Modelle zur Erklärung von Regierungsbildungen aufstoßen. Denn gerade Große Koalitionen lassen sich mit den Theorien erster und zweiter Generation oft nur unzureichend erklären, da sie nur bedingt der Logik der Maximierung von Ämtern oder Politikinhalten entsprechen. Vgl. Tim Spier, Große Koalitionen in den deutschen Bundesländern 1949-2013, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 23 (2013) 4, S. 489-516. 17 Vgl. Eric Linhart/Susumu Shikano, Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl 2013: Parteien im Spannungsfeld zwischen Ämter-, Politik- und Stimmenmotivation, in: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2013. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2015, S. 457-484. 18 Siehe als vergleichenden Überblick zu kombinierten Koalitionstheorien Eric Linhart, Does an Appropriate Coalition Theory Exist for Germany? An Overview of Recent Office- and Policy-Oriented Coalition Theories, in: German Politics, 22 (2013) 3, S. 288-313. 19 Siehe im Original: Itai Sened, Equilibria in Weighted Voting Games with Side Payments, in: Journal of Theoretical Politics, 7 (1995) 3, S. 283-300; Itai Sened, A Model of Coalition Formation. Theory and Evidence, in: Journal of Politics, 58 (1996) 2, S. 360-372; hierzu auch Norman J. Schofield/Itai Sened, Multiparty Democracy. Elections and Legislative Politics, Cambridge 2006.
236
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
postenanteil in einer Regierung, der den relativen Sitzstärken in der Koalition entspricht. 20 Der Policy-Nutzen gibt an, wie stark sich die Idealpolitik einer Partei in der erwarteten Koalitionspolitik widerspiegelt. Er ist als (negative) Distanz konzipiert, mit der sich eine Partei von der Koalitionspolitik entfernt. Für die Bestimmung von Policy-Distanzen sind quantifizierte Parteipositionen erforderlich. Quellen liefern die Daten des Comparative Manifesto Projects (MARPOR) oder Datensätze aus Voting Advice Applications wie dem Wahl-O-Mat oder ParteieNavi.21 Die Sened’sche Koalitionstheorie kombiniert beide Nutzenkomponenten additiv, räumt den Parteien aber eine unterschiedliche Gewichtung der Ämter- und Politikmotivation ein. Der Gesamtnutzen, den eine Partei in der Opposition erreicht, beträgt null; ist ihr erwarteter Koalitionsnutzen negativ, zieht sie folglich die Opposition einer Regierungsbeteiligung vor. Unter Anwendung der Koalitionstheorie konnten so bereits eine Vielzahl an Koalitionsbildungsprozessen beschrieben und die tatsächlich gebildeten Regierungen erklärt werden.22 Über die Zustände der Parteien im Lichte der Bundestagswahl 2017 gibt zum Beispiel das Symposium in der Zeitschrift German Politics Auskunft. Verschiedene Autoren analysieren alle in den Bundestag gewählten Parteien hinsichtlich ihrer Wahlkampfperformanz und strategischen Möglichkei20 Gamsons Gesetz ist im Sinne einer Gesetzmäßigkeit zu verstehen. Äußerst starke Korrelationen sind vorfindbar. Vgl. hierzu William A. Gamson, A Theory of Coalition Formation, in: American Sociological Review, 26 (1961) 3, S. 373-382. Zur empirischen Überprüfung siehe Helmut Norpoth, The German Federal Republic: Coalition Government at the Brink of Majority Rule, in: Eric Browne/John Dreijmanis (Hrsg.), Government Coalitions in Western Democracies, New York 1982, S. 7‑32; Eric Linhart/Franz Urban Pappi/Ralf Schmitt, Die proportionale Ministerienaufteilung in deutschen Koalitionsregierungen: akzeptierte Norm oder das Ausnutzen strategischer Vorteile?, in: Politische Vierteljahresschrift, 49 (2008) 1, S. 46-67. 21 Vgl. Eric Linhart, Politische Positionen der AfD auf Landesebene: Eine Analyse auf Basis von Wahl-O-Mat-Daten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 48 (2017) 1, S. 102-123; Uwe Wagschal/Pascal König, Die Links-Rechts-Positionierung der Parteien bei den Bundestagswahlen 2005 bis 2013: Eine empirische Analyse anhand des Wahl-O-Mat, in: Korte (Amn. 17), S. 185-210. Zur Anwendung von ParteieNavi vgl. Linhart/Shikano (Anm. 17). 22 Vgl. Linhart/Shikano (Anm. 13 und 17); Eric Linhart, Die große Koalition in Österreich: Schwierigkeiten bei der Bildung, Stabilität und Alternativenlosigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 36 (2007) 2, S. 185-200, Eric Linhart, Ämterschacher oder Politikmotivation? Koalitionsbildungen in Deutschland unter gleichzeitiger Berücksichtigung von zweierlei Motivationen der Parteien, in: Susumu Shikano/Joachim Behnke/Thomas Bräuninger (Hrsg.), Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Band 5, Wiesbaden 2009, S. 181-222.
237
Robin Graichen
ten. Oskar Niedermayer etwa stellt die Mobilisierungsschwäche der beiden größeren Parteien CDU/CSU und SPD in den Mittelpunkt und beleuchtet das Wählerverhalten, das für beide Volksparteien zusammen zum schlechtesten Abschneiden bei einer Bundestagswahl führte. Mit Blick auf die Koalitionsbildung sagt Wolfgang Streeck einen langwierigen Weg hin zu einer neuen Regierung im Zuge der Mandatsverteilung voraus; er erläutert, wie die SPD mit einer grundsätzlichen Koalitionsbereitschaft unter Berufung auf staatspolitische Verantwortung die Verhandlungsposition der Union gegenüber FDP und Grünen stärken würde. Simon Jakobs und Uwe Jun untersuchen die Wahlprogramme. Ihrer Analyse nach trifft der geläufige Vorwurf einer programmatischen Verwechselbarkeit der Parteien nicht zu, was den langwierigen und von Auseinandersetzungen geprägten Regierungsbildungsprozess mit erklären kann. Die höchste Wahrscheinlichkeit räumen die Autoren unter den gegebenen Mehrheitsverhältnissen noch einer Großen Koalition ein, da FDP und Grüne vor allem in der sozioökonomischen Politikdimension markante Unterschiede aufweisen.23 Formale Modelle bestimmen das in drei Schritte gegliederte methodische Vorgehen. Für die minimalen Gewinnkoalitionen werden in Anlehnung an die Sened’sche Koalitionstheorie Office- und Policy-Nutzenwerte ermittelt. Resultieren die Office-Nutzen aus der eingetretenen Sitzverteilung, erfordert die Bestimmung von Policy-Distanzen die parteipolitischen Positionierungen. Diese werden aus dem Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2017 gewonnen. Die partei- und koalitionsspezifischen Office- und Policy-Nutzenwerte ergeben zusammen Gesamtnutzenfunktionen. Sie sagen aus, wie gut oder schlecht eine Partei in einer Koalition im Vergleich zum Oppositionsstatus abschneidet. Da Parteien ihre Office- und Policy-Motivationen gemäß der Sened’schen Koalitionstheorie unterschiedlich stark gewichten können, gilt der notwendige Grad an Office-Gewichtung als Eintrittskriterium in eine Koalition, aus der im dritten Schritt meistpräferierte Koalitionen für jede Partei abgeleitet werden können. Das Modell legt mögliche Gleichgewichtskoalitionen offen, in denen sich final eine rationelle Regierungskoalition befinden kann. Die Lösung des Koalitionsspiels wird abschließend an der sozialen Wirklichkeit – dem Verlauf der realen Koalitionsverhand23 Vgl. Symposium: The State of the Parties, in: German Politics, 27 (2018) 1, S. 113-145; Niedermayer (Anm. 1); Wolfgang Streeck, Bundestagswahl: Die Zweifel fressen sich durch, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 97 (2017) 10, S. 682f.; Simon Jakobs/Uwe Jun, Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung in Deutschland 2017/18: Eine Analyse der Wahlprogramme, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49 (2018) 2, S. 265-285.
238
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
lungen im Zuge der Bundestagswahl – evaluiert, um eine Aussage über die Erklärungskraft des Modells zu treffen. 2. Koalitionsoptionen nach der Bundestagswahl Mit der Wahl vom 24. September 2017 zogen sechs Parteien in den 19. Deutschen Bundestag ein. Tabelle 1 enthält das Wahlergebnis und die parlamentarische Sitzverteilung.24 Tabelle 1: Wahlergebnis und Sitzverteilung CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
Gesamt
Absolute Mehrheit
32,9%
20,5%
12,6%
10,7%
9,2%
8,9%
-
-
246
153
94
80
69
67
709
ab 355 Sitzen
Quelle: Eigene Darstellung nach Bundeswahlleiter (Anm. 24).
Sie ermöglicht 63 verschiedene Koalitionen, von denen 32 über eine Sitzmehrheit verfügen.25 Speziell 11 Koalitionsoptionen fallen in die Kategorie der minimalen Gewinnkoalitionen (siehe Tabelle 2). Sie stellen das typische Koalitionsmuster im politischen System Deutschlands dar.26 Jede involvierte Partei ist notwendig, um den Mehrheitsstatus der Koalition zu wahren. Tabelle 2: Mögliche minimale Gewinnkoalitionen Koalitionsoptionen Minimale Gewinnkoalitionen
Sitzumfang der Koalition
Beteiligte Parteien
Mandate über absoluter Mehrheit
CDU/CSU • SPD
399
2
44
CDU/CSU • Linke • Grüne
382
3
27
CDU/CSU • FDP • Grüne
393
3
38
CDU/CSU • FDP • Linke
395
3
40
24 Vgl. Bundeswahlleiter: Bundestagswahl 2017, https://www.bundeswahlleiter.de/b undestagswahlen/2017/ergebnisse.html. Die Sitzverteilung folgt dem unmittelbaren Wahlausgang. CDU und CSU werden aufgrund ihrer Fraktionsgemeinschaft als gemeinsame Partei (Union) betrachtet. 25 Die Anzahl möglicher Koalitionen ergibt sich aus 2P-1 mit P = Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien. Subtrahiert von der Gesamtanzahl 2P ist die Koalition der „leeren Menge“, an der keine Partei beteiligt wäre. 26 Vgl. Thomas Bräuninger/Marc Debus, Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden 2012.
239
Robin Graichen Koalitionsoptionen Minimale Gewinnkoalitionen
Sitzumfang der Koalition
Beteiligte Parteien
Mandate über absoluter Mehrheit
CDU/CSU • AfD • Grüne
407
3
52
CDU/CSU • AfD • Linke
409
3
54
CDU/CSU • AfD • FDP
420
3
65
SPD • FDP • Linke • Grüne
369
4
14
SPD • AfD • Linke • Grüne
383
4
28
SPD • AfD • FDP • Grüne
394
4
39
SPD • AfD • FDP • Linke
396
4
41
Quelle: Eigene Darstellung nach Bundeswahlleiter (Anm. 24).
Wer die Koalitionsmatrix aus reiner Ämterperspektive betrachtet, erkennt in der Koalition aus Union und SPD den Subtyp der Bargaining Proposition: Einzig die Große Koalition bietet die Option, eine minimale Gewinnkoalition mit der kleinstmöglichen Anzahl beteiligter Parteien – in diesem Fall zwei – zu bilden. Hingegen wäre eine Koalition aus SPD, FDP, Linken und Grünen als Smallest Size Coalition zu klassifizieren. Sie ist die Koalition der knappsten Mehrheit und dann für die Koalitionäre zu bevorzugen, wenn sie ausschließlich bestrebt sind, maximale relative Sitzanteile verglichen über alle weiteren Koalitionsoptionen zu erreichen. Da diese Modelle parteipolitische Positionierungen ausblenden, wird der Regierungsbildungsprozess mit einer Koalitionstheorie analysiert, in der die inhaltlichen Positionen der Parteien berücksichtigt sind. Ihre Anwendung erfordert quantifizierte Parteipositionen. Eine geeignete Datengrundlage liegt im Wahl-O-Mat vor, da er Policy-Issues enthält, die im Vorfeld einer Wahl als besonders relevant gelten, die Unterscheidbarkeit der Parteien gewährleisten und die Parteipositionen durch das dreistufige Antwortsystem (Zustimmung, Ablehnung, Indifferenz zu einer Policy-These) präkodiert bereitstehen.27 Abbildung 1 gibt einen Überblick über die parteipolitischen Abstände, die sich aus dem Wahl-O-Mat ergeben.28 Neben dem Policy-Graphen, dessen Kanten die politische Distanz zwischen je zwei Parteien repräsentieren, sind die euklidischen Distanzen aller Partei-
27 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Die Entstehung eines Wahl-O-Mat, www.bpb.de/politik/wahlen/wahl-o-mat/45292/die-entstehungeines-wahl-o-mat. Die Positionen sind kodiert nach dem Schema: 1 = Zustimmung, 0 = Ablehnung, 0,5 = Indifferenz zu einer Wahl-O-Mat-These. 28 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017. Vergleich der Positionen, www.wahl-o-mat.de/bundestagswahl2017/Positionsverg leichBundestagswahl2017.pdf. In der Summe umfasst der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 38 Policy-Issues, zu denen sich die Parteien positionieren.
240
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
enpaare zueinander angegeben.29 Den größten Abstand weisen Linke und AfD zueinander auf (0,799). Inhaltlich am ähnlichsten sind sich Grüne und Linke (0,389). Die Politikpositionen konstruieren einen Policy-Graph, der zwei politische Lager aufspannt: SPD, Grüne und Linke stehen Union, FDP und AfD gegenüber. Die vom „bürgerlichen“ Lager vertretenen Politikinhalte sind diffuser als die des „linken“ Lagers – SPD, Grüne und Linke weisen mehr Gemeinsamkeiten auf. Ebenso nimmt die Union dieselbe politische Distanz zur FDP ein wie zur SPD (0,487). Abbildung 1: Policy-Graph und Distanzmatrix. Oberes Tabellendreieck: Euklidische Distanzen, unteres Tabellendreieck: Anzahl übereinstimmender Wahl-OMat-Positionen
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017.
29 Die euklidische Distanzen nehmen Werte im normierten Einheitsintervall [0,0;1,0] ein mit 0,0 = völlige Übereinstimmung in allen Positionen. Zur Visualisierung der Politikpositionen als Policy-Graph siehe Robin Graichen/Eric Linhart/Christopher Schuster/Udo Heller/Andreas Müller, Coalizer: A Coalition Tool Combining Office and Policy Motivations of Political Parties. Conference Paper, presented at the 12th annual conference of the European Consortium of Political Research (ECPR), 22-25 August 2018, Hamburg.
241
Robin Graichen
Für die Koalitionsoptionen heißt das erstens: Eine Linkskoalition (SG oder SGL) ließe sich unter den Akteuren einfacher aushandeln, weil sie den Beteiligten relativ wenige inhaltliche Kompromisse abverlangt; eine aus dem bürgerlichen Lager gebildete Koalition (CF oder CFA) stünde vor schwierigeren Koalitionsverhandlungen – vorausgesetzt, die Mehrheitsverhältnisse würden die entsprechenden Regierungsbündnisse zulassen. Zweitens: Die lagerübergreifende Große Koalition (CS) würde von den Akteuren nicht mehr Verhandlungskraft erfordern als eine lagerinterne Koalition aus Union und FDP (CF). Erst im Hinblick auf komplexe lagerübergreifende Regierungsoptionen (etwa CFG oder SFG oder SAGL) lassen die politischen Distanzen im Policy-Graphen weitaus verzwicktere Koalitionsverhandlungen erwarten als zwischen CDU/CSU und SPD. 3. Office- und Policy-Motivationen von Parteien bei der Koalitionsbildung Parteien verfolgen im Koalitionsbildungsprozess hauptsächlich zwei Interessen: die Häufung von Ämtern (Office-Nutzen) und die Durchsetzung eigener politischer Anliegen (Policy-Nutzen). In Anlehnung an die Sened’sche Koalitionstheorie entspricht der erwartete Ämteranteil einer Partei dem Office-Nutzen in der betrachteten Koalition. Aus der (negativen) Distanz zwischen idealer Partei- und erwarteter Koalitionspolitik resultiert der koalitionsspezifische Policy-Nutzen einer Partei. In Deutschland ist der Ämternutzen durch Gamsons Gesetz bestimmt: Die Aufteilung der Ministerposten erfolgt proportional zu den relativen Sitzanteilen der Parteien innerhalb einer Koalition. Diese Regel ist in der Praxis offenkundig so überzeugend, dass sie als allgemeingültige Norm empirisch angewandt werden kann. Träten die Parteien als reine Ämter-Maximierer auf, könnte die Union wohl in einer Koalition mit Linken und Grünen die meisten Minister stellen (siehe Tabelle 3). Linke und Grüne selbst würden den größten OfficeNutzen dagegen in einer gemeinsamen Koalition mit SPD und FDP – auch deren Office-Werte sind in dieser Koalitionsoption maximal – erwarten können. Eine Jamaika-Koalition ist aus Sicht von CDU/CSU nur marginal besser zu bewerten als die Große Koalition, da der Office-Nutzen der Union in der Großen Koalition kaum geringer ist als in einem Regierungsbündnis mit FDP und Grünen. Die Relevanz des Office-Nutzens liegt folglich darin, die Stärke von Koalitionspartnern möglichst niedrig zu halten, um selbst mehr Gewicht und damit mehr politischen Einfluss in die Koalition zu bringen. Insofern entspricht die Koalition aus SPD, FDP, Linken und Grünen dem Zusammentreffen maximaler Ämternutzen und bildet – 242
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
allein aus der Motivation des Ämterstrebens betrachtet – eine Gleichgewichtslösung ab.30 Tabelle 3: Parteispezifische Office-Nutzen (Uoff) aller Parteien (P) in minimalen Gewinnkoalitionen (C). Formal: UPoff(C) = P є C ? SP/SC : 0 mit SP = Sitzzahl von P, SC = Gesamtsitzzahl von C Koalitionsoptionen
CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
0,617
0,383
0
0
0
0
CDU/CSU • Linke • Grüne
* 0,644 *
0
0
0
0,181
0,175
CDU/CSU • FDP • Grüne
0,626
0
0
0,204
0
0,170
CDU/CSU • FDP • Linke
0,623
0
0
0,203
0,175
0
CDU/CSU • AfD • Grüne
0,604
0
0,231
0
0
0,165
CDU/CSU • AfD • Linke
0,601
0
0,230
0
0,169
0
CDU/CSU • AfD • FDP
0,586
0
0,224
0,190
0
0
SPD • FDP • Linke • Grüne
0
* 0,415 *
0
* 0,217 *
* 0,187 *
* 0,182 *
SPD • AfD • Linke • Grüne
0
0,399
* 0,245 *
0
0,180
0,175
SPD • AfD • FDP • Grüne
0
0,388
0,239
0,203
0
0,170
SPD • AfD • FDP • Linke
0
0,386
0,237
0,202
0,174
0
CDU/CSU • SPD
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017. Eingesternt sind jene Werte, die für jede der Parteien den größten Office-Nutzen darstellen.
Werden beim Office-Nutzen einzig parlamentarische Sitzverhältnisse berücksichtigt, konzentriert sich die Policy-Nutzenanalyse ausschließlich auf die politischen Standpunkte der Parteien. Die erwartete Politik einer Koalition C ergibt sich aus den arithmetisch gemittelten Parteipositionen aller an der Koalition C beteiligten Parteien. Über die gesamten n Politikdimensionen des Wahl-O-Mat bestimmt, werden die parteispezifischen Abstände
30 Wird eine Koalition von allen beteiligten Parteien angestrebt, es also keine Alternativkoalition gibt, die einen höheren Nutzen auch für nur eine involvierte Partei versprechen würde, dann gilt diese Koalition als Gleichgewichtslösung. In diesem Fall sollte keine Partei unter rationalen Gesichtspunkten bestrebt sein, einer anderen Koalition beizutreten oder in Opposition zu gehen – sie würde sonst Nutzenverluste in Kauf nehmen. Die Gleichgewichtslösungen können unter reiner Office-Berücksichtigung (Tabelle 3), unter reiner Policy-Berücksichtigung (Tabelle 4) oder unter Kombination beider Motivationstypen in Abhängigkeit der Gewichtungsgrade (Tabellen 6 und 7) ermittelt werden. Bei der gewichtet-kombinierten Office-/Policy-Gesamtnutzenbewertung können sich mehrere Gleichgewichtskoalitionen ergeben.
243
Robin Graichen
zur Koalitionspolitik als euklidische Distanzen berechnet. Tabelle 4 zeigt die Policy-Distanzen aller Parteien zu den einzelnen Koalitionen. Tabelle 4: Parteispezifische Policy-Distanzen (-Upol) zur erwarteten Koalitionspolitik über alle (n = 38 Thesen) Politikdimensionen (d) bei gleichem Politikeinfluss aller beteiligten Parteien (P) in minimalen Gewinnkoalitionen (C) Formal: UPpol(C) = √ ( Σi=1,d ((( Σi=1,P dPi | P є C )/Σ P є C ) – dPi )² )/√ (n). Koalitionsoptionen
CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
* 0,243 *
* 0,243 *
0,612
0,500
0,623
0,493
CDU/CSU • Linke • Grüne
0,445
0,364
0,638
0,555
* 0,339 *
* 0,245 *
CDU/CSU • FDP • Grüne
0,295
0,385
0,547
0,343
0,549
0,415
CDU/CSU • FDP • Linke
0,340
0,405
0,537
0,340
0,474
0,443
CDU/CSU • AfD • Grüne
0,322
0,406
0,409
0,448
0,549
0,425
CDU/CSU • AfD • Linke
0,368
0,428
0,399
0,448
0,477
0,456
CDU/CSU • AfD • FDP
0,312
0,522
0,698
0,627
SPD • FDP • Linke • Grüne
0,477
0,310
0,618
0,477
0,359
0,282
SPD • AfD • Linke • Grüne
0,490
0,329
0,532
0,538
0,358
0,292
SPD • AfD • FDP • Grüne
0,391
0,342
0,446
0,378
0,515
0,408
CDU/CSU • SPD
* 0,355 * * 0,290 *
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017. Eingesternt sind jene Werte, die für jede der Parteien den größten Policy-Nutzen (= geringste Policy-Distanzen zu den einzelnen Koalitionen) darstellen.
Eine Policy-Distanz sagt aus, wie sehr die Politikpositionen einer Partei der erwarteten Koalitionspolitik ähneln: Je kleiner die Distanzwerte, umso größer die inhaltliche Schnittmenge der Koalitionspartner. Von den Koalitionen erfüllt nur eine das Kriterium, von allen beteiligten Parteien am stärksten präferiert zu sein: Die Große Koalition würde sowohl von der Union angestrebt als auch von der SPD, nähmen beide keine Rücksicht auf die mögliche Ämterverteilung. Die Policy-Distanzen beider Parteien zu ihrer gemeinsamen Koalitionspolitik sind – verglichen mit allen weiteren ihnen möglichen Koalitionsoptionen – am geringsten. Bei reiner Policy-Motivation wären AfD und FDP einerseits, Linke und Grüne andererseits bestrebt, unter denen ihnen möglichen Koalitionen je eine Regierung mit der Union zu bilden. Dabei hätten die Grünen (0,245) mehr von einem schwarzgrün-dunkelroten Bündnis als die Linken (0,339), die FDP (0,290) mehr von einem schwarz-gelb-blauen Bündnis als die AfD (0,355). Da die Union in einer Koalition mit der SPD dagegen deutlich günstigere Policy-Distanzen erreicht und auch die Sozialdemokraten der Großen Koalition inhaltlich noch am nächsten stehen, liegt auch unter reiner Politikorientierung
244
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
eine Gleichgewichtslösung vor – hier jedoch in der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die Linke würde in ihrer Rolle als Oppositionspartei die Politik einer Großen Koalition ähnlich schlecht (0,623) bewerten wie die einer JamaikaKoalition (0,549). Die Grünen selbst befinden sich im Politikraum von der Großen Koalition nicht wesentlich weiter entfernt (0,493) als von der Jamaika-Koalition (0,415).31 Die Union könnte in einer Koalition mit FDP und Grünen ihre zweitbeste Koalitionsoption unter reiner Policy-Motivation (0,295) sehen. Auffällig ist die günstige Rolle von CDU und CSU im Koalitionsspiel: Alle Parteien suchen unter reiner Policy-Motivation die Koalition mit der Union, was jedoch auch am Sitzumfang der CDU/CSUFraktion beziehungsweise der sich aus dem Wahlergebnis ergebenden Lösungsmenge an möglichen minimalen Gewinnkoalitionen liegt. Zusammenfassend hängen die von den Parteien präferierten Koalitionen sowie die möglichen Gleichgewichtsszenarien stark davon ab, welche Motivationen die Parteien jeweils haben. Unter reiner Ämterorientierung wäre eine Koalition aus SPD, FDP, Linken und Grünen zu prognostizieren, unter reiner Politikorientierung eine Koalition aus CDU/CSU und SPD. Da Parteien beide Interessen verfolgen – einen möglichst hohen Ämteranteil in der Regierung zu stellen und eine minimale Distanz zur Koalitionspolitik aufzuweisen –, sind beide Nutzenkomponenten im nächsten Schritt gewichtet-additiv zu bewerten. Die Gewichtungsfaktoren der Office- und Policy-Nutzenkomponenten liegen im Intervall zwischen null und eins und ergeben in der Summe 100 Prozent beziehungsweise eins. Eine Partei, die zu 50 Prozent office-orientiert agiert, handelt folglich zu
31 Auch wenn sich die Auswahl möglicher Regierungen auf die Lösungsmenge minimaler Gewinnkoalitionen beschränkt, seien die Policy-Distanzen in der übergroßen Koalition aus CDU/CSU, SPD und Grünen genannt: CDU/CSU: 0,345, SPD: 0,231, AfD: 0,627, FDP: 0,526, Linke: 0,505, Grüne: 0,329. Die Union würde sich bei zusätzlicher Beteiligung der Grünen an der Großen Koalition weiter von ihrer Idealpolitik entfernen. Die SPD kommt ihrer Idealpolitik dagegen näher, auch die Grünen positionieren sich in dieser übergroßen Koalition besser, als stünden sie in Opposition zur Großen Koalition. Dieses als Kenia-Koalition bezeichnete Regierungsbündnis war im Zuge des Koalitionsbildungsprozesses im Gespräch, wurde aber von den Grünen abgelehnt mit der Begründung, keinen Mehrwert in dieser Koalition sehen zu können. Vgl. O. A., Kenia statt Jamaika? Grüne lehnen Koalition mit Union und SPD ab, 24.11.2017, www.spiegel.de/poli tik/deutschland/gruene-lehnen-koalition-mit-union-und-spd-ab-a-1180106.html (9.4.2018).
245
Robin Graichen
50 Prozent policy-orientiert.32 Entscheidend ist jedoch letztlich nicht die Frage, unter welchen statischen Gewichtungsfaktoren sich bestimmte Gesamtnutzenwerte in möglichen Koalitionen ergeben. Da die konkreten Office- und Policy-Gewichtungswerte der Parteien unbekannt sind, zielt die Gesamtnutzenanalyse im folgenden Kapitel darauf ab, die Intervalle der Gewichtungsfaktoren dynamisch zu ermitteln, innerhalb derer sich Koalitionen erklären lassen.33 4. Eintrittskriterien für Koalitionen und meistpräferierte Koalitionen der Parteien Der Grad an Office-Orientierung, den eine Partei mindestens einnehmen muss, um die erforderlichen Politikkompromisse innerhalb einer Koalition kompensieren zu können, ist das Eintrittskriterium der Partei in eine Koalition. Je geringer die notwendige Office-Gewichtung ausfällt, umso höher ist die Policy-Motivation der Partei, einer Koalition beizutreten. Tendiert die Office-Orientierung in einer Koalition dagegen zum Maximalwert eins, um überhaupt noch einen positiven Gesamtnutzen erreichen zu können, wirft eine Partei die eigenen Standpunkte im Grunde über Bord, sollte sie die Regierung mittragen. Tabelle 5 gibt die notwendigen Grade an Office-Gewichtungen an, den die Parteien minimal haben müssen, um die Koalitionen positiv zu bewerten. Tabelle 5: Parteispezifisch minimal notwendige Grade der Office-Gewichtung als Eintrittskriterien in minimale Gewinnkoalitionen. Formal: αPoff(C) = UPpol(C)/ (UPpol(C) – UPoff(C)) Koalitionsoptionen
CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
CDU/CSU • SPD
0,29
0,39
-
-
-
-
CDU/CSU • Linke • Grüne
0,41
-
-
-
0,66
0,59
CDU/CSU • FDP • Grüne
0,33
-
-
0,63
-
0,71
32 In diesem Fall liegt eine Gleichgewichtung beider Motivationstypen (αPoff(C) = βPpol(C) = 0,5) seitens der Partei P vor. Der parteispezifische Gesamtnutzen Uges aus α‑Office- und β-Policy-Motivation in einer Koalition C ergibt sich allgemein aus: UPges(C) = α(P) * UPoff(C) + β(P) * UPpol(C). 33 Da beide Gewichtungsfaktoren summiert den Wert eins beziehungsweise 100 Prozent annehmen, folgt der Grad der Policy-Gewichtung einer Partei per Definition unmittelbar aus der Differenz zwischen eins beziehungsweise 100 Prozent und ihrem Office-Gewichtungsfaktor in einer Koalition. Im Kern handelt es sich daher nur um eine unbekannte Variable.
246
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet? Koalitionsoptionen
CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
CDU/CSU • FDP • Linke
0,36
-
-
0,63
0,74
-
CDU/CSU • AfD • Grüne
0,35
-
0,64
-
-
0,73
CDU/CSU • AfD • Linke
0,38
-
0,64
-
0,74
-
CDU/CSU • AfD • FDP
0,35
-
0,62
0,61
-
-
SPD • FDP • Linke • Grüne
-
0,43
-
0,69
0,66
0,61
SPD • AfD • Linke • Grüne
-
0,46
0,69
-
0,67
0,63
SPD • AfD • FDP • Grüne
-
0,47
0,66
0,66
-
0,71
SPD • AfD • FDP • Linke
-
0,49
0,66
0,66
0,73
-
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017.
Begünstigt durch die Sitzverhältnisse und die Komplexität möglicher Koalitionen, befinden sich nur Union und SPD in der Lage, sämtliche der ihnen möglichen Koalitionen unter einer höheren Policy- als Office-Gewichtung einzugehen. Für AfD, FDP, Linke und Grüne bietet sich keine Koalitionsoption, in der auch nur einer Partei eine niedrigere Office- als PolicyMotivation bei Regierungsteilnahme unterstellt werden könnte. Im Gegensatz zu den beiden größeren Parteien – CDU/CSU und SPD, die unter sich die einzig mögliche Zwei-Parteien-Koalition bilden können – sähen sich die vier kleineren Parteien in jeder Koalitionsoption mit mehreren Verhandlungspartnern, also mit diffuseren Politikpositionen konfrontiert. Aus diesen Gründen sind die Eintrittskriterien von AfD, FDP, Linken und Grünen nur unter der Bereitschaft höherer Politikkompensationen zu erfüllen – sie müssten als kleinere Koalitionsparteien entweder sehr stark ämter- und sehr wenig politikmotiviert sein oder hinsichtlich des Koalitionsgefüges sehr günstige Positionen im Politikraum einnehmen. Der PolicyGraph (Abbildung 1) und Tabelle 5 zeigen, dass diese Positionierungen aber nicht vorliegen. CDU/CSU und SPD halten in ihren Koalitionsoptionen relativ hohe Sitz- beziehungsweise Ämteranteile und können folglich auch bei hoher Policy-Motivation Nutzenverluste leicht kompensieren. Besonders günstig erscheint aus ihrer Sicht die Bildung einer Großen Koalition, die sie bereits mit sehr geringer Office-Orientierung (CDU/CSU: 0,29, SPD: 0,39) positiv bewerten. Vor allem die Union kann letztlich jede Koalitionsbeteiligung gegenüber der Nichtbeteiligung präferieren, sollte sie nicht wesentlich stärker policy-motiviert handeln. Am schlechtesten schneidet für sie noch die Koalition mit Linken und Grünen ab, wohingegen die beiden kleineren Parteien diese Koalition noch am ehesten bevorzugen sollten. Auch AfD und FDP hätten am ehesten Anreiz, eine Koalition mit der Union zu
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Robin Graichen
bilden, insofern sie nicht wesentlich weniger office-orientiert (< 0,61) agieren. Dennoch dürften AFD, FDP, Linke und Grüne die meisten Koalitionsbeteiligungen eher ablehnen, sollten sie deutlich stärker policy- als officemotiviert sein. Gerade in Hinblick auf die Jamaika-Koalition liegt hier zwar die zweitniedrigste Eintrittsbarriere aller Regierungsoptionen für die Union (0,33) vor, die FDP müsste aber bereits deutlich stärkeres Interesse an Ministerposten als an Politikinhalten vorweisen, sollte sie der Koalition beitreten (0,63). Besonders den Grünen würde eine enorme, an inhaltliche Selbstverleugnung grenzende Office-Übergewichtung (0,71) abverlangt, wenn sie die Jamaika-Koalition bewilligten – einzig die mögliche Koalition mit Union und AfD ist aus ihrer Sicht (0,73) noch schlechter zu bewerten. Nachdem die notwendigen Eintrittskriterien in die Koalitionen beleuchtet wurden, sind im folgenden Abschnitt die hinreichenden Gleichgewichtskriterien näher zu betrachten. Sie geben die oberen Intervallgrenzen der Office-Gewichtungsfaktoren an und sagen aus, welche Koalitionen für die Parteien meistpräferiert erscheinen: Abhängig von der Relation aus Ämter- und Politikorientierung lassen sich diejenigen Koalitionen ermitteln, die für die Parteien innerhalb der Office-Gewichtungsfaktor-Intervalle Koalitionen mit maximalen Gesamtnutzen verglichen über alle Regierungsoptionen erwarten lassen (siehe Tabelle 6).34 Was bemerkenswert ist: Für alle Parteien existieren mindestens zwei meistpräferierte Koalitionen. Für die Union stellt ein Regierungsbündnis mit der SPD in einem großen Bereich (0,29 bis 0,85) die erste Wahl dar, gefolgt von der Jamaika-Koalition (0,86 bis max. 0,89), sollte sie deutlich stärker office-orientiert sein. Eine extrem ämterorientierte Union (0,90 bis max. 1,00) würde gar in einer Koalition mit Linken und Grünen ihren höchstmöglichen Gesamtnutzen vorfinden. Auch die SPD (0,39 bis max. 0,67) sollte die Große Koalition priorisieren. Erst unter deutlich stärkerer Office-Orientierung (0,68 bis max. 1,00) sehen die Sozialdemokraten in einer gemeinsamen Regierung mit FDP, Linken und Grünen ihre meistpräferierte Koalition. Aber: Im Unterschied zur Union erwartet die SPD in einer Großen Koalition einen geringen maximal möglichen Gesamtnutzen (bis 0,183). Dieser Wert liegt nur knapp über dem Oppositionsnutzen
34 Die meistpräferierten Koalitionen werden berechnet, indem der Office-Gewichtungsfaktor separat für jede Partei von Wert 0.00 ausgehend bis zum Maximalwert 1.00 um je 0.01 erhöht und in jeder Iterationsstufe nach derjenigen Koalition gesucht wird, in der die betrachtete Partei ihren (positiven) maximalen Gesamtnutzen erreicht. Ergibt sich dabei eine neue meistpräferierte Koalition ab einem bestimmten Office-Gewichtungsfaktor, ist sie mit den unteren und oberen Intervallgrenzen der Office-Gewichtung für die Koalition angegeben.
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Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
(0,000). CDU und CSU würden die Große Koalition deutlich besser bewerten (bis 0,497). Die SPD könnte daher im Gegenzug „Ausgleichszahlungen“ einfordern, etwa, indem sie auf aus ihrer Sicht attraktivere Ministerien besteht. Tabelle 6: Meistpräferierte minimale Gewinnkoalitionen in Abhängigkeit gewichtet-kombinierter Office- und Policy-Motivationen Partei
CDU/CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
Hinreichendes Office-Gewichtungsfaktor-Intervall
Erwarteter Gesamtnutzen
Ω
CDU/CSU • SPD
ab 0,29 bis max. 0,85
mind. 0,001
A
CDU/CSU • FDP • Grüne
ab 0,86 bis max. 0,89
mind. 0,497
CDU/CSU • Linke • Grüne
ab 0,90 bis max. 1,00
mind. 0,535
B
CDU/CSU • SPD
ab 0,39 bis max. 0,67
mind. 0,001
A
SPD • FDP • Linke • Grüne
ab 0,68 bis max. 1,00
mind. 0,183
C
CDU/CSU • AfD • FDP
ab 0,62 bis max. 0,85
mind. 0,001
SPD • AfD • FDP • Grüne
ab 0,86 bis max. 0,93
mind. 0,143
SPD • AfD • Linke • Grüne
ab 0,94 bis max. 1,00
mind. 0,198
CDU/CSU • AfD • FDP
ab 0,61 bis max. 0,79
mind. 0,001
CDU/CSU • FDP • Grüne
ab 0,80 bis max. 0,91
mind. 0,095
SPD • FDP • Linke • Grüne
ab 0,92 bis max. 1,00
mind. 0,161
C
CDU/CSU • Linke • Grüne
ab 0,66 bis max. 0,76
mind. 0,001
B
SPD • FDP • Linke • Grüne
ab 0,77 bis max. 1,00
mind. 0,061
C
CDU/CSU • Linke • Grüne
ab 0,59 bis max. 0,83
mind. 0,001
B
SPD • FDP • Linke • Grüne
ab 0,84 bis max. 1,00
mind. 0,112
C
Meistpräferierte Koalition
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017.
Die Erstpräferenzen von AfD, FDP, Linke und Grüne hingegen spiegeln das Spannungsverhältnis zwischen Office- und Policy-Motivation wider: Sind sie stärker politikorientiert, lehnen sie jedes Regierungsbündnis ab. Die meistpräferierte Koalition der Grünen kann noch in einem Bündnis mit Union und Linken gesehen werden (0,59 bis max. 0,83), ebenso die der Linken (0,66 bis max. 0,76). Eine Alternative unter höherer Office-Gewichtung stellt für beide Parteien nur die gemeinsame Koalition mit SPD und FDP dar. Eine Regierung mit Union und FDP ist somit für die Grünen unter keinen Umständen anzustreben – unter jeder möglichen Office249
Robin Graichen
Gewichtung sollte sie ihre Alternativen (Opposition oder Koalitionen aus CLG oder SFLG) vorziehen. Die FDP selbst (0,61 bis max. 0,79) wie auch die AfD (0,62 bis max. 0,85) würden am ehesten noch ein Bündnis mit der Union anstreben, erst bei einer höheren Ämtergewichtung liegt in der Jamaika-Koalition eine meistpräferierte Koalition aus Sicht der FDP (0,80 bis max. 0,91) vor. 5. Mögliche Koalitionen im Gleichgewichtszustand und rationelle Regierungskoalition Aus Spalte Ω in Tabelle 6 gehen drei mögliche Gleichgewichtskoalitionen hervor. Sie werden jeweils von allen der beteiligten Parteien – in Abhängigkeit der Grade an Ämtermotivation – meistpräferiert und sind in Tabelle 7 zusammengefasst. Tabelle 7: Gleichgewichtskoalitionen und rationelle Regierungskoalition (A) Ω
Mögliche Gleichgewichtskoalitionen
Minimal notwendige Grade parteispezifischer Office-Gewichtungsfaktoren
A
CDU/CSU • SPD
offminCDU/CSU(0,29) • offminSPD(0,39)
B
CDU/CSU • Linke • Grüne
offminCDU/CSU(0,90) • offminLinke(0,66) • offminGrüne(0,59)
C
SPD • FDP • Linke • Grüne
offminSPD(0,68) • offminFDP(0,92) • offminLinke(0,77) • offminGrüne(0,84)
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017.
In einer bestimmten Relation zwischen Ämter- und Politikorientierung wird die Große Koalition (A) von CDU/CSU und SPD meistpräferiert. Beide Parteien müssen nur zu relativ geringen Graden office-motiviert sein, um notwendige Politikkompromisse in dieser Koalition kompensieren zu können. Auch die Koalition aus Union, Linken und Grünen (B) könnte von allen drei beteiligten Parteien angestrebt werden. Die Union muss aber extrem office-orientiert (0,90) sein, um in dieser Regierungsoption eine Maximalnutzenkoalition zu sehen. Koalition (C) verhindert die Regierungsbeteiligung der Union. Eine Regierung aus Sozialdemokraten, Freien Demokraten, Linken und Grünen würde jedoch die Aussicht auf Ministerposten vor allem für FDP (0,92) und Grüne (0,84) im Verhältnis zu ihren Politikinhalten unrealistisch hoch gewichten. Alle Koalitionsparteien müssten, um hier maximalen Gesamtnutzen zu erreichen, sehr stark officemotiviert sein, um die erwartete Koalitionspolitik überhaupt anzustreben. 250
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
Die rational erklärte Regierung liegt in derjenigen Gleichgewichtskoalition vor, welche die Office- und Policy-Motivationen aller involvierten Parteien in einem ausgewogenen Verhältnis sieht und dabei gegenüber den Alternativoptionen von allen Koalitionären erst- und meistpräferiert wird. Will eine Partei möglichst beide Motivationen maximieren, gelingt dies (nur) bei einem Gewichtungsverhältnis von je 50 Prozent. CDU/CSU und SPD können gemeinsam eine Gleichgewichtskoalition (A) bilden, in der ihnen im sich überschneidenden Gewichtungsfaktor-Intervall – über das ausgewogene Verhältnis beider Motivationstypen hinaus – jeweils nur relativ geringe Office-Motivationen zuzuschreiben sind, sie also noch stark policy-motiviert handeln können, um bereits maximale Gesamtnutzen in ihrer gemeinsamen Koalition zu sehen. Beide Parteien sind zwar einzeln auch in den Gleichgewichtskoalitionen (B) und (C) vertreten und würden in diesen auch ihre maximal möglichen Gesamtnutzenwerte erreichen können, müssten dafür aber auch zu je wesentlich höheren Graden ämter-, folglich untergewichtet politikmotiviert agieren, sollte sich eine Koalition aus Union, Linken und Grünen (B) oder aus SPD, FDP, Linken und Grünen (C) formieren. Somit ist die Große Koalition (A) wahrscheinlicher als die beiden weiteren Gleichgewichtsszenarien, wird als rationelle Lösung des Koalitionsbildungsprozesses erklärt und sollte von CDU/CSU und SPD angestrebt werden. Abbildung 2 visualisiert die drei möglichen Gleichgewichtskoalitionen in Abhängigkeit von den Office- und Policy-Gewichtungsfaktoren und gibt die koalitionsspezifischen Gesamtnutzenfunktionen für jede Partei an. Das Gesamtnutzenpotenzial einer Großen Koalition ist für die Union – man vergleiche die Flächen in den CS-Koalitionen unterhalb der gepunktet eingezeichneten Nutzenfunktionsgeraden – erkennbar größer als für die Sozialdemokraten.
251
Robin Graichen
Abbildung 2: Mögliche Gleichgewichtskoalitionen in Abhängigkeit von allen möglichen Relationen aus Office- und Policy-Gewichtungen mit Gesamtnutzenfunktionen
159
Quelle: Eigene Darstellung. Nicht in der Abbildung visualisiert sind a) Koalitionen bzw. Parteien, die keine Gleichgewichtslösungsakteure sind sowie b) alle parteispezifischen Intervallgrenzen des Oppositionsvorzuges.
Die Jamaika-Koalition ist nicht in der Lösungsmenge möglicher Gleichgewichtskoalitionen enthalten, da sie nur von zwei Akteuren – CDU/CSU und FDP – meistpräferiert werden kann. Für die Union liegt dieses Bündnis in Abbildung 2 zwischen den Koalitionsoptionen CS und CLG (vgl. auch Tabelle 7). Unter der zu erwartenden Koalitionspolitik sind die Grünen bei gleichem Politikeinfluss aller Parteien unter keinen Umständen bestrebt, eine schwarz-gelb-grüne Regierung einzugehen. Verschiebt sich die erwartete Koalitionspolitik jedoch in Richtung der Grünen oder zugunsten des Parteienpaares aus Union und Grünen, gewönne die JamaikaKoalition aus ihrer Sicht an Attraktivität. Erhielten sie höheren Einfluss auf die Koalitionspolitik als die FDP, kippt die Präferenzbeziehung. In diesem Fall würde die Koalition von Union und Grünen angestrebt, die FDP sähe in diesem Bündnis bei weniger Politikeinfluss keine meistpräferierte Koalition mehr. Würde sie die Regierung dennoch mitbilden, obwohl ihr rational bessere Alternativen offen stehen, müsste es die FDP unter diesem Szenario ertragen, als „Umfallpartei“ verspottet zu werden – einmal mehr in der bundesdeutschen Geschichte.
252
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
6. GroKo statt Jamaika im „Realitätscheck“ Noch am Wahlabend des 24. September 2017 schloss der damalige SPDChef Martin Schulz die Fortsetzung einer Großen Koalition mit der Union kategorisch aus. In der „Elefantenrunde“ der Parteivorsitzenden zeichnete sich der Weg zu einer neuen Regierung über Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen ab. Der 24. Oktober 2017 markiert den Beginn jener Verhandlungen zur Jamaika-Koalition, die in der Nacht vom 19. auf den 20. November 2017 durch den Vorsitzenden der FDP für gescheitert erklärt wurden. Bundespräsident Steinmeier suchte daraufhin Gespräche mit allen in den Bundestag gewählten Parteien und erinnerte sie an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung. Tabelle 8: Zusammenfassung und Realitätscheck In der Koalitionstheorie …
In der politischen Wirklichkeit …
stellt die mögliche Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen keine Gleichgewichtslösung dar.
wurde die Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen nicht realisiert.
präferieren die Grünen die Jamaika-Koalition nur dann, wenn ihnen ein höherer Einfluss auf die Koalitionspolitik mit der Union gewährt wird als der FDP, die FDP dann aber eine Beteiligung an der Koalition ablehnt.
wurden die Sondierungen zur Jamaika-Koalition von der FDP abgebrochen mit der Begründung, die Grünen würden von der Union durch übermäßige inhaltliche Zugeständnisse in das Regierungsbündnis eingekauft.
ist die erwartete Policy-Distanz zwischen der Idealpolitik der FDP und einer möglichen Koalitionspolitik von Union und FDP geringer (0,243) als diejenige zur erwarteten Koalitionspolitik von Union, FDP und Grünen (0,343).
wäre eine Regierung aus Union und FDP unter den notwendigen Mehrheitsverhältnissen vermutlich umgesetzt worden. FDP-Chef Lindner erklärte, allein mit der Union hätte man sich wahrscheinlich auf eine Koalition einigen können.
sind die Grünen in einer gemeinsamen übergroßen Koalition mit Union und SPD hinsichtlich ihrer Policy-Distanzen besser gestellt als in Opposition zur Großen Koalition aus Union und SPD.
lehnten die Grünen die Beteiligung an einer übergroßen Koalition mit Union und SPD ab mit der Begründung, keinen Mehrwert in dieser Koalition zu sehen. Allerdings entspricht sie auch nicht dem klassischen Typ minimaler Gewinnkoalitionen.
sollten CDU/CSU und SPD eine Koalition bilden.
haben CDU/CSU und SPD eine Koalition gebildet.
ist das erwartete Gesamtnutzenpotenzial für die Union in einer Großen Koalition wesentlich höher als das für die SPD.
trat die SPD der Großen Koalition nur unter der Bedingung bei, die drei Schlüsselministerien Arbeit und Soziales, Auswärtiges und Finanzen besetzen zu können. Dies kann als Ausgleichzahlung für das geringere Gesamtnutzenpotenzial gewertet werden.
kann die Union gemäß Gamsons Gesetz einen Kabinettspostenanteil von ungefähr 61,7%
besetzt die Union im Kabinett Merkel IV zusammen zehn Posten. Die SPD stellt sechs Minister. Dies entspricht einem Anteil von 62,5% zu 37,5%. Werden Staatsminister und
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Robin Graichen In der Koalitionstheorie …
In der politischen Wirklichkeit …
stellen, auf die SPD entfielen etwa 38,3% der Ämter.
parlamentarische Staatssekretäre berücksichtigt, liegt das Verhältnis der Posten bei 60,4% (Union) zu 39,6% (SPD).
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des Wahl-O-Mat ® Bundestagswahl 2017 und Bundesregierung, www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/ Bundeskabinett_PDF.pdf.
Nachdem die Grünen die Beteiligung an einer übergroßen Koalition mit Union und SPD abgelehnt hatten, schwenkte die sozialdemokratische Führungsspitze auf eine Neuauflage der Großen Koalition um. Nach Sondierungsgesprächen im Januar 2018 und sich anschließenden Koalitionsverhandlungen wurde der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD am 12. März unterzeichnet. Mit der Ministerernennung und Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin fand die Regierungsbildung am 14. März 2018 ihren Abschluss. In Tabelle 8 sind die aus der Koalitionstheorie gewonnenen Aussagen zum Koalitionsbildungsprozess den realen Ereignissen gegenübergestellt. Die formalen Modelle der Regierungsbildung bilden den Weg in die vierte Große Koalition der Bundesrepublik realitätsnah ab. Dem angewandten Verfahren ist daher eine hohe Erklärungskraft zuzuschreiben. Eine Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen erwies sich im Rahmen der Analyse nicht als Gleichgewichtslösung. Kritisch müssen drei Dinge angemerkt werden: Die Bewertung der schwarz-gelb-grünen Koalition bezieht sich auf die erste Sitzverteilung des aktuellen Bundestages, eine abweichende Zusammensetzung des Parlaments oder mögliche Neupositionierungen der Parteien können die Situation freilich ändern. Außerdem umfasst die Koalitionstheorie nur den Prozess zwischen Wahl und Regierungsbildung, woraus keine Schlussfolgerungen über Regierungsperformanz oder Koalitionsmanagement gezogen werden können. Inwiefern sich die Jamaika-Koalition als stabile Regierung etabliert hätte, wäre sie realisiert worden, kann somit nicht beurteilt werden. Ebenso sind Parteien keine abstrakten Akteure im Prozess der Regierungsbildung. Verhandlungspartner sind Menschen – was weitere mögliche Erklärungsfaktoren für oder gegen Koalitionen in sich birgt. Emotionen, Vorurteile oder gemeinsame politische Erfahrungen werden von der formalen Koalitionstheorie ausgeblendet. Zu welchem Ausmaß sie die Erfolgsaussichten einer Jamaika-Koalition beeinflusst haben, bleibt im Rahmen der in diesem Beitrag genutzten Methode offen; ebenso die Frage, inwiefern den Grünen in realitas ein übermäßiger Einfluss auf die auszuhandelnde Koalitionspolitik gewährt wurde, 254
Warum wurde die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2017 gebildet?
womit die FDP den Abbruch der Sondierungsgespräche begründete. Weiterhin könnte überprüft werden, ob sich ähnliche Ergebnisse über die Koalitionsoptionen auch bei anderen Quellen parteipolitischer Positionierungen ergeben würden, da die in dieser Analyse genutzten Politikpositionen der Parteien einzig dem Wahl-O-Mat entstammen.
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#crookedhillary versus #nevertrump? Negative Campaigning im US-Wahlkampf 2016 Susanne Thelen
1. Twitter – Nährboden für negative Wahlkampftaktiken? „Forget about Snapchat and set aside YouTube, Facebook and Instagram. For all the bluster over the last year about which social media network would dominate the election, 2016 was no different from years past: It was another Twitter moment“1, schrieb die New York Times im November 2016. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump erreichte während des Wahlkampfes mit seinem Twitter-Account @realDonaldTrump 13 Millionen Follower, seine demokratische Kontrahentin Hillary Clinton mit @HillaryClinton zehn Millionen.2 Clinton nutzte ab dem 22. Juli 2016 Twitter aktiv für ihre Kampagne – erstens weil sie wusste, sie könne so potenzielle Wähler mobilisieren, für den Haustürwahlkampf oder Spenden gewinnen und für ihre Themen sensibilisieren; zweitens weil ihr Gegenkandidat Donald Trump bereits vor seiner Kandidatur aktiv Twitter als Kommunikationskanal für seine Zwecke gebrauchte. Sie wollte ihm die „Twitter-Arena“ nicht kampflos überlassen; drittens weil die moderne Wahlkampfkommunikation es verlangte, neue Mittel der Wähleransprache wie soziale Netzwerke zu nutzen. Die beiden Spitzenkandidaten nutzten Twitter, um die Highlights ihres Wahlkampfes aufzugreifen oder die Verfehlungen des Gegners hervorzuheben. Durch die Verbreitung von negativen Informationen sollten die politische und persönliche Eignung des Gegenkandidaten für ein politisches
1 New York Times, For Election Day Influence, Twitter Ruled Social Media, 8.11.2016, https://www.ny times.com/2016/11/09/technology/for-election-day-chatt er-twitter-ruled-social-media.html?_r=0. 2 Twitter ist ein Kurznachrichtendienst und sogenannter Microblog. Registrierte Nutzer erstellen ein Profil, unter dem sie Nachrichten mit maximal 140 Zeichen, sogenannte Tweets, senden können. Laut Firmenwebsite hat Twitter 328 Millionen aktive Nutzer, davon verwenden 82 Prozent die mobile Variante, vgl. Wall Street Journal, Clinton vs. Trump: How They Used Twitter, 19.7.2016, http://graphics.wsj. com/clinton-trump-twitter/.
257
Susanne Thelen
Amt in Frage gestellt werden. Dieses strategische Vorgehen – Negative Campaigning – ist Teil der US-Wahlkampfkultur.3 Es dient den Parteien, das Image des Gegners zu beschädigen und indirekt die Vorzüge des eigenen Kandidaten politischer oder persönlicher Natur hervorzuheben.4 Doch gegen welche Aspekte richtete sich das Negative Campaigning der politischen Akteure auf Twitter und warum? Negative Campaigning fungiert oft als Synonym für Schlammschlacht, Angriffswahlkampf oder persönliche Beschimpfungen unter der Gürtellinie. „Candidates choose to focus on […] their opponents’ failures“5, definieren Brooks und Geer diese Vorgehensweise. Lau und Pomper werden konkreter: „Talking about the opponent – his or her programs, accomplishments, qualifications, associates, and so on – with the focus, usually, on the defects of these attributes“6. Forscher analysieren beispielweise die Auswirkungen von Negativkampagnen auf die Wählermobilisierung.7 Sie wecken das allgemeine Interesse für Politik, durch persönliche, fachliche oder wertebezogene Angriffe schwindet jedoch die Glaubwürdigkeit von politischen Entscheidungsträgern. Analysen von Negative Campaigning konzentrierten sich bislang auf Wahlwerbespots, Fernsehdebatten, Parteitagsreden oder Interviews.8 Schweitzer untersuchte 2010 die Websites von Parteien zur Europawahl 2004 auf negative Slogans.9 Seit dem Obama-
3 Vgl. William Benoit, Functional Theory. Negative Campaigning in Political Television Spots, in: Alessandro Nai/Annemarie Walter (Hrsg.), New Perspectives on Negative Campaigning. Why attack politics matters, Colchester 2015, S. 35-46, hier S. 38. 4 Vgl. Alex Jakubowski, Parteienkommunikation in Wahlwerbespots. Eine systemtheoretische und inhaltsanalytische Untersuchung zur Bundestagswahl 1994, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 128. 5 Deborah J. Brooks/John G. Geer, Beyond Negativity. The Effects of Incivility on the Electorate, in: American Journal of Political Science, 51 (2007) 1, S. 1-16, hier S. 2. 6 Richard R. Lau/Gerald M. Pomper, Effectiveness of Negative Campaigning in U.S. Senate Elections, in: American Journal of Political Science, 46 (2002) 1, S. 47-66, hier S. 48. 7 Vgl. Stephen Ansolabehere/Shanto Iyengar/Adam Simon/Nicholas Valentino, Does Attack Advertising Demobilize the Electorate?, in: The American Political Science Review, 88 (1994) 4, S. 829-838, hier S. 830f. 8 Vgl. Christina Holtz-Bacha, Bundestagswahlkampf 2002. Ich oder der, in: dies. (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2003, S. 9-28, hier S. 9-12. 9 Vgl. Eva J. Schweitzer, Negative Campaigning im Online-Wahlkampf. Ein empirischer Vergleich zwischen Deutschland und den USA, in: Jens Wolling/Markus Seifert/Martin Emmer (Hrsg.), Politik 2.0? Die Wirkung computervermittelter Kommunikation auf den politischen Prozess, Baden-Baden 2010, S. 17-41, hier S. 17f.
258
#crookedhillary versus #nevertrump?
Wahlkampf 2008 ist ein Bedeutungszuwachs des Internets als aktives Informations- und Kommunikationsmedium erkennbar: Der Einfluss sozialer Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Twitter zur Verbreitung von Informationen, zur Gewinnung von Wählerstimmen oder Spendengeldern vergrößert sich.10 Jedoch ist die Forschung zum Einfluss des Negative Campaigning via Twitter bislang überschaubar.11 Diese Abhandlung knüpft an der Stelle an. Die Beantwortung der Forschungsfrage geschieht durch qualitative Inhaltsanalysen der Twitter-Aktivitäten von Clinton und Trump. Mit Hilfe der Software „Chorus“ werden die Daten aus Twitter gewonnen. Sie speichert die Tweets und wandelt diese in eine Text-Datei um, sodass sie als Rohdaten zur Analyse zur Verfügung stehen.12 Mittels qualitativer Inhaltsanalyse gilt es, „bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen. Welche Inhalte extrahiert werden sollen, wird durch theoriegeleitet entwickelte Kategorien und (sofern notwendig) Unterkategorien bezeichnet“13. Ein Kriterienkatalog gibt Auskunft, warum ein Beitrag oder ein Teil eines Tweets einen Angriff darstellt und welche Dimension er attackiert. Zu diesem Zweck ist die Festlegung von Schlüsselwörtern erforderlich, die eindeutig auf Negativität hinweisen. Die Einordnung erfolgt sowohl inhaltlich als auch chronologisch.
10 Vgl. Andreas Jungherr/Harald Schoen, Das Internet in Wahlkämpfen. Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen, Wiesbaden 2013, S. 125. 11 Siehe Andrea Ceron/Giovanna d’Adda, E-Campaigning on Twitter. The effectiveness of distributive promises and negative campaign in the 2013 Italian election, in: New Media and Society, 18 (2016) 9, S. 1935-1955, hier S. 1935f. 12 Vgl. Phillip Brooker/Julie Barnett/Timothy Cribbin, Doing social media analytics, in: Big Data and Society, 3 (2016) 2, S. 1-12, hier S. 4-12. 13 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 1997, S. 83.
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Susanne Thelen
Abbildung 1: Anzahl der Tweets der Kandidaten von Juni bis November 2016
Quelle: eigene Darstellung.
Die Analyse beschränkt sich nicht auf einen Zeitpunkt des Wahlkampfes, sondern umfasst verschiedene Momente. Demokraten und Republikaner kürten auf den Parteitagen Ende Juli 2016 offiziell Hillary Clinton und Donald Trump zu ihren jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Der Vorwahlkampf war zu Ende und das Rennen um das Weiße Haus hatte begonnen. Von diesem Termin bis zum Wahltag am 8. November 2016 kristallisierten sich sechs Anlässe heraus, an denen auf Grund besonderer Ereignisse eine besonders hohe Aktivität der Kandidaten bei Twitter erkennbar war (vgl. Abb. 1). Der erste Zeitpunkt ist der Nominierungsparteitag der Demokraten am 29. Juli 2016. Mit über 120 Tweets ist an diesem Tag mehr Aktivität zu verzeichnen als zuvor. Zugleich enden die Vorwahlen mit diesem Datum. Der nächste Anlass, der durch eine hohe Twitter-Aktivität auffällt, ist der 26. September 2016. An diesem Tag fand die erste der drei Fernsehdebatten der Präsidentschaftskandidaten statt. Die Debatten erzeugen durch ihre Vor- und Nachberichterstattung eine hohe Medienaufmerksamkeit. Überdies griffen die Kandidaten ihre Aussagen und die ihres Gegenkandidaten während der Debatte bei Twitter auf. Daran anknüpfend folgte am 4. Oktober 2016 die TV-Debatte der Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Kaine (demokratisch) und Mike Pence (republikanisch) sowie die direkten Aufeinandertreffen der Präsidentschaftskandidaten am 9. und 19. Oktober 2016 während der zweiten und dritten TV-Debatte. Der letzte Zeitpunkt ist das Ende des Wahlkampfes am 8. November 2016.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
Durch die Fokussierung auf die zuvor genannten Aspekte ergibt sich eine Stichprobengröße von insgesamt 914 Tweets (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Übersicht der Zeitpunkte mit den häufigsten Tweets Datum 28.7.2016 29.7.2016 26.9.2016 27.9.2016 4.10.2016 5.10.2016 9.10.2016 10.10.2016 19.10.2016 20.10.2016 7.11.2016 8.11.2016 Gesamtergebnis
@HillaryClinton 87 98 17 71 28 41 12 53 18 78 41 50 594
@realDonaldTrump 14 28 4 43 8 47 13 41 20 76 13 13 320
Gesamt 101 126 21 114 36 88 25 94 38 154 54 63 914
Quelle: eigene Darstellung.
Von einer anderen Person erstellte und lediglich weitergeleitete Beiträge, sogenannte Retweets, bleiben unbeachtet. Der Zeitrahmen je Anlass beträgt 48 Stunden, damit alle Twitter-Nachrichten, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Parteitag, den Debatten und dem Wahltag stehen, in der Analyse Berücksichtigung finden.14 Hashtags, unter denen die Kandidaten ihre Mitteilungen publizieren, finden in der Analyse ebenfalls Berücksichtigung. #MakeAmericaGreatAgain, #MAGA, #crookedhillary, #HillaryEmails oder #lockherup sind Trump zuzuordnen. Hillary Clinton drückt sich über #nevertrump, #BlackLivesMatter, #blm, und #iamwithher aus. #trump, #hillary und #election2016 sind neutrale Hashtags. Neben der qualitativen Analyse der Tweets gibt es ebenfalls Elemente eines vergleichenden Forschungsdesigns: Zum einen, weil die Twitter-Aktivitäten und Wahlkampfstrategien der beiden Kandidaten kontrastiert werden, zum anderen ermöglicht die Betrachtung der Tweets zu verschiedenen Zeitpunkten eine Gegenüberstellung.15 So lassen sich die Fragen ergründen, inwieweit es eine Veränderung im Zeitverlauf gibt und wie sich
14 Da die Erhebung der Daten in Deutschland erfolgt, haben diese den mitteleuropäischen Zeitstempel (koordinierte Weltzeit UTC-1). Daher wird in der Analyse mit diesen Zeitangaben gearbeitet. Für den exakten Zeitpunkt der Tweets sind sechs Stunden zurückzurechnen (koordinierte Weltzeit UTC-5). 15 Vgl. Charles C. Ragin/Lisa M. Amoroso, Constructing Social Research. The Unity and Diversity of Method, Thousand Oaks 2011, S. 139f.
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Susanne Thelen
Ton oder Inhalt der Attacken der Kandidaten bei Twitter verändert haben. Die Darstellung und Erklärung von Unterschieden sowie die Interpretation von kulturell bedeutsamen Phänomenen, in diesem Fall die Anwendung von negativen Wahlkampfstrategien im sozialen Netzwerk Twitter, sind Ziele eines vergleichenden Forschungsdesigns.16 2. Definition und Effekte von Negative Campaigning „Candidates criticize, discredit, or belittle their opponent rather than promoting their own ideas and programs“17. Durch die Abwertung des Gegners soll die Überlegenheit der eigenen Fähigkeit in den Vordergrund gestellt werden. Negative Campaigning fungiert folglich als Abgrenzung zur positiven Selbstdarstellung, dem Positive Campaigning.18 Andere Autoren versuchen Negative Campaigning durch die Wortwahl und den Ton einer Botschaft zu definieren. Als Beispiel seien Fridkin und Kenney genannt: „At one end, the negative information may be presented in a shrill and ad hominem manner, for example, in commercials referring to candidates as ‚hypocrites’, ‚reckless liars’, or ‚immoral’. Such references are much different in tone from advertisements characterizing candidates as ‚career politicians’, ‚Washington insiders’, ‚inexperienced’, or ‚ineffective’“19. Die Herausforderung bei der Platzierung von negativen Botschaften ist, dass diese nicht wie ein Bumerang zurückfallen und sich die geäußerte Kritik auf die Bewertung des eigenen Kandidaten auswirkt. Dabei erachten Wähler die Angriffe auf sachlicher Ebene als legitim, wohingegen Erniedrigungen auf persönlicher Ebene verpönt sind und den Angreifer indirekt selbst schädigen können.20 „Immer wenn eine Kampagne zu weit geht, wenn sie die Linie von der Legitimität hin zu Illegitimität überschreitet oder wenn Unwahres behauptet wird, tritt eine negative Rückwirkung auf den Angreifer ein“21. Denn auf privaten Verfehlungen oder Skandalen ba-
16 17 18 19
Vgl. ebd., S. 26 und S. 139. Vgl. Ansolabehere et al. (Anm. 7), S. 829. Vgl. ebd. Kim L. Fridkin/Patrick J. Kenney, The dimensions of negative messages, in: American Politics Research, 36 (2008) 5, S. 694-723, hier S. 699. 20 Vgl. Karen S. Johnson-Cartee/Gerry A. Copeland, Southern Voters Reactions to Negative Political Ads in 1986 Election, in: Journalism Quarterly, 66 (1989) 4, S. 888-893, hier S. 893. 21 Daniel Schmücking, Negative Campaigning. Die Wirkung und Entwicklung negativer politischer Werbung in der Bundesrepublik, Wiesbaden 2015, S. 38.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
sierende Affronts verletzten das Image des Angreifers massiv und führen zu Vertrauensverlusten. Stellen sich negative Botschaften zudem als unwahr heraus, kann dieses Vorgehen zu Politikverdrossenheit, Wahlabstinenz oder zur Stimmabgabe für den Attackierten führen.22 „These weaknesses are either believed or not by the gerneral public; in both cases the credibility of the candidates takes a blow and political trust for politicians and the political system weakens“23, sagen Walter und Nai über die Wirkung von Negative Campaigning, unabhängig davon, ob eine Aussage auf der Wahrheit basiert oder nicht. Daher kann diese Wahlkampfstrategie auf Wähler, die unentschlossen sind oder keiner Partei angehören, demobilisierend wirken. Im Gegensatz dazu stehen die Forschungsergebnisse, die einen mobilisierenden Effekt des Negative Campaigning beobachtet haben. Kandidaten bewegen durch das Attackieren des Gegners vor allem ihre eigene Anhängerschaft zum Urnengang.24 Attacken können sich gegen den Charakter einer Person richten, seine Vertrauenswürdigkeit (trait attacks), seine Fachkompetenz (issue attacks) oder seine Werteeinstellung (value attacks). Dabei können sich Wähler an negative visuelle und verbale Botschaften besser erinnern als an positive.25 Denn diese erregen mehr Beachtung. Darüber hinaus beschäftigen sich Wähler emotional länger mit schlechten Nachrichten als mit positiven. Möchte ein Kandidat schnell eine hohe Aufmerksamkeit erzielen, setzt er auf negative Mitteilungen.26 Durch die Medien wird dieser Effekt verstärkt, denn diese greifen Negatives häufiger auf, da die Einschaltquoten bei politischen oder persönlichen Verfehlungen von Politikern steigen.27 Daher gilt: Negative Campaigning ist die Verbreitung von wahren und unwahren Informationen über einen politischen Gegner mit der Strategie, dessen Schwächen in den Vordergrund zu rücken. Das Ziel dabei ist, die politische und persönliche Eignung des Kontrahenten für ein politisches
22 Vgl. Alessandro Nai/Annemarie Walter, How Negative Campaigning Impinges on the Political Game: A Literature Overview, in: dies (Anm. 3), S. 236-248, hier S. 243. 23 Vgl. ebd., S. 244f. 24 Vgl. Stephen E. Finkel/John G. Geer, A spot check: Casting doubt on the demobilizing effect of attack advertising, in: American Journal of Political Science, 42 (1998) 2, S. 573-595, hier S. 589f. 25 Alessandro Nai/Annemarie Walter, The War of Words. The Art of Negative Campaigning, in: dies (Anm. 3), S. 1-34, hier S. 22. 26 Vgl. Richard R. Lau/David P. Redlawsk, The Effects of Advertising Tone of Information Processing and Vote Choice, in: Nai/Walter (Anm. 3), S. 249-266, hier S. 258. 27 Vgl. Schweitzer (Anm. 9), S. 21.
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Amt anzuzweifeln und damit, ohne es explizit zu benennen, die eigene Überlegenheit zu betonen. Dabei bringt Negative Campaigning positive Effekte mit sich – sei es durch die Generierung von Aufmerksamkeit, die Steigerung der Bekanntheit des Kandidaten oder durch die Abwertung des Gegners, um so die Wähler von der eigenen Person zu überzeugen.28 Für die gegnerische Partei ist damit das Ziel klar: Die Schwachstellen identifizieren und die einzelnen persönlichen, fachlichen oder wertebezogenen Diskrepanzen aufdecken. 3. Vertrauen, Fachkompetenz, Werte – Achillesferse eines Kandidaten Die Vertrauenswürdigkeit eines Politikers ist entscheidend: Beispiele in der Vergangenheit, etwa die Falschaussagen des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton über die Affäre mit einer Praktikantin, die Spendenaffäre von Helmut Kohl in den 1990er Jahren und seine Weigerung, die Namen der Spender zu nennen sowie die Plagiatsaffäre von Karl-Theodor zu Guttenberg beweisen, politische Entscheidungsträger können nicht ohne weiteres zum Tagesgeschäft übergehen, wenn sie das in sie gesetzte Vertrauen verspielt und ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Persönliche Fehltritte und Skandale sind dankbare Argumente für Negative Campaigning, die Rede ist dann von „trait attacks“29. Dies ist in Wahlkampfzeiten relevant, da Kandidaten die Stimmen der Wähler als Vertrauensvorschuss für die kommende Periode erhalten möchten.30 Um ein vertrauenswürdiges Image aufzubauen, sind politische und persönliche Eigenschaften gleichermaßen entscheidend. Zu den politischen Merkmalen zählen beispielsweise Erfahrung, Unabhängigkeit, Überparteilichkeit oder Bildung.31 Familie und Privatleben, Religionszugehörigkeit, Wohlstand und Attraktivität stehen für persönliche Merkmale, ebenso wie Alter, Gesundheit, Herkunft oder Verhalten als Privatperson.32 Ein intaktes Familienleben und eine positive Ausstrahlung nützen dem Kandidaten nichts, wenn er nicht über den notwendigen Sachverstand verfügt. Dazu zählen berufliche Qualifikationen, Ausbildung oder Erfahrun28 Vgl. ebd., S. 19f. 29 Vgl. Benoit (Anm. 3), S. 40f. 30 Vgl. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973, S. 26. 31 Vgl. ebd., S. 78. 32 Vgl. Frank Brettschneider, Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich, Wiesbaden 2002, S. 144.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
gen im politischen Geschäft.33 Bisherige Erfolge, wie wichtig, mächtig und erfolgreich jemand inner- und außerhalb der Partei ist, fließen in die Beurteilung mit ein. Die Dynamik und das Auftreten einer Person, ob sie aktiv, passiv, aggressiv oder kühn ist, tangieren ebenfalls die Fachkompetenz.34 Sie definiert sich zudem durch Leadership-Qualitäten: Führungsstärke, Entscheidungsfreude und Durchsetzungsvermögen.35 Brettschneider ergänzt Überzeugungskraft und Organisationstalent als Indikatoren, die einen politischen Manager ausmachen.36 Mangelt es einem politischen Akteur an diesen Eigenschaften, wird die gegnerische Partei diese attackieren (issue attacks). Neben der Vertrauenswürdigkeit einer Person und ihrer Fachkompetenz spielen ähnliche Lebens- und Wertvorstellungen eine wichtige Rolle (value attacks): Diese basieren auf übereinstimmenden Werten und Lebensstilen sowie Partei- und Milieuzugehörigkeit. Fehlende Gemeinsamkeiten zwischen Rezipienten und Kommunikator tragen dazu bei, Wähler können sich nicht oder nur schwer mit einem Kandidaten identifizieren.37 „Besteht nämlich eine grundlegende Übereinstimmung mit dem Publikum und kann sich der Kommunikator gleichzeitig vom Publikum durch gewisse Kompetenzmerkmale abheben, trägt dies zur Erhöhung seiner Glaubwürdigkeit bei“38. Beispielsweise war in den USA 2012 die Wahlbeteiligung der schwarzen Bevölkerung mit 66,2 Prozent erstmals höher als die der weißen Bevölkerung.39 98 Prozent von ihnen wählten Barack Obama. Dies kann als Unterstützung von Schwarzen für den ersten schwarzen Präsidenten gewertet werden.40 Obama fungierte als Hoffnungsträger, der sich für die Belange der Schwarzen als ethnische Minderheit einsetzte. Der Faktor Ähnlichkeit, in diesem Fall die Angehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe,
33 Vgl. David K. Berlo/James B. Lemert/Robert J. Mertz, Dimensions for Evaluating the Acceptability of Message Sources, in: Public Opinion Quaterly, 33 (1969) 4, S. 563-576, hier S. 573-576. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Jens Althoff, Der Faktor Glaubwürdigkeit in Wahlkämpfen. Aufbau, Verlust und Verteidigung durch professionalisierte Kommunikationsstrategien, Berlin 2008, S. 78. 36 Vgl. Brettschneider (Anm. 32), S. 143. 37 Vgl. ebd., S. 97. 38 Martin Eisend, Glaubwürdigkeit in der Marketingkommunikation. Konzeption, Einflussfaktoren und Wirkungspotenzial, Wiesbaden 2003, S. 106. 39 Vgl. Brookings Institute, Minority Turnout Determined the 2012 Election, 10.5.2013, https://www.brookings.edu/research/minority-turnout-determined-the2012-election/ 40 Vgl. ebd.
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ist erkennbar.41 Dieses Beispiel zeigt, ein Kandidat erscheint nicht ausschließlich auf Grund der Ähnlichkeit glaubwürdig und damit wählbar, sondern es greifen alle drei Dimensionen ineinander. 4. Festlegung eines Kriterienkatalogs Zunächst lässt sich Negative Campaigning anhand der drei Dimensionen zuordnen: „trait attacks“ (Vertrauen), „issue attacks“ (Fachkompetenz) oder „value attacks“ (Ähnlichkeit).42 Eine weitere Distinktion der Negativkampagnen ist mittels logischer, ironischer, moralischer oder emotionaler Argumente möglich. So können Attacken auf Zahlen oder Statistiken verweisen oder durch humorvolle, ernste oder ironische Statements Emotionalität erzeugen.43 Negativkampagnen lassen sich nach direkten Attacken, direktem Vergleich oder implizitem Vergleich unterscheiden.44 Neben dem Eigenlob (acclaim), dem Angriff und den Vergleichen gibt es die Möglichkeit des Gegenangriffs als Verteidigung (defense).45 Diese Unterscheidungen bilden den Kriterienkatalog (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Kriterienkatalog zur Analyse der Tweets von Clinton und Trump Tweet Allgemein I
Neutral Positiv Negativ
Tweet Allgemein II
wenn positiv, dann Eigendarstellung? wenn negativ, dann Darstellung des Gegners?
Argumentation
Logisch Ironisch Emotional Moralisch
41 Vgl. Jan Philipp Burgard, Von Obama siegen lernen oder “Yes we gähn!“?. Der Jahrhundertwahlkampf und die Lehren für die politische Kommunikation in Deutschland, Baden-Baden 2011, S. 149. 42 Vgl. John J. Geer, In Defense of Negativity. Attack Ads in Presidential Campaigns, Chicago/London 2006, S. 85f. 43 Vgl. Christina Holtz-Bacha, Negative Campaigning in Deutschland negativ aufgenommen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32 (2001) 3, S. 669-677, hier S. 671. 44 Vgl. ebd.
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#crookedhillary versus #nevertrump? Art des Angriffs
Direkter Angriff Vergleichend Impliziter Vergleich Gegenangriff
Dimensionen
Vertrauenswürdigkeit (trait attacks) Fachkompetenz (issue attacks) Ähnlichkeit (value attacks)
Vertrauenswürdigkeit
Persönliches/Privates (Familienleben, Wohlstand, Attraktivität, Alter, Gesundheit) Charaktereigenschaften (Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Integrität, Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit, Authentizität) Optimismus, Sympathie, Gottvertrauen Temperament
Fachkompetenz
Berufliche Erfahrungen (Bildung, Wissen, bisherige politische Entscheidungen) Führungsqualitäten (Durchsetzungsvermögen, Tatkraft, Entscheidungsfreude) Beständigkeit (stringente Argumentation, Konsequenz) Ausdrucksfähigkeit/Auftreten (aktiv/passiv; besonnen/aggressiv) Prestige (Macht, Erfolg)
Ähnlichkeit
Zugehörigkeit zum Establishment Zugehörigkeit zu Partei, Milieu Diskriminierung/Beleidigung Nationalität/Herkunft/Nationalstolz Werteorientierung/ähnliche Ansichten
Quelle: eigene Darstellung.
Durch Schlüsselwörter ist erkennbar, welche Dimension attackiert wird und ob ein Tweet negativ – und in Abgrenzung dazu neutral oder positiv – ist. Oft ergeben diese nur in Kombination mit anderen Wörter wie „no“, „never“, „worse“, „bad“ oder „deserve better“ eine Attacke (vgl. Tab. 3). Die zuletzt genannten Wortbeispiele haben schon auf Grund ihrer Wortherkunft eine negative Konnotation und deuten deshalb auf eine kritische oder negative Botschaft hin.
45 Vgl. die ausführliche Darstellung in Friederike Nagel, Die Wirkung verbaler und nonverbaler Kommunikation in TV-Duellen. Eine Untersuchung am Beispiel von Gerhard Schröder und Angela Merkel, Wiesbaden 2012, S. 27f.
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Tabelle 3: Schlüsselwörter zur Identifikation von Negative Campaigning bei Twitter Vertrauenswürdigkeit
truth, integrity, trust, temperament, reliable, crooked, honest, lies, made up stories, family, religion, age, health, optimism, solidarity, serious, private, husband, wife, wealth
Fachkompetenz
role model, qualification, active, radical, corruption, stamina, success, expression, experience, politician, prestige, decisive, education, power, assertiveness, leader, manager
Ähnlichkeit
establishment, party, Democrats, Republican, nation, America/Americans, minority, white, black, Hispanic, Asian, gender, endorsement, deplorables, rigged system, insult, values
Hashtags
#MakeAmericaGreatAgain, #MAGA, #crookedhillary, #HillaryEmails, #lockherup, #DrainTheSwamp, #BasketOfDeplorables, #nevertrump, #BlackLivesMatter, #blm, #iamwithher. #trump, #hillary, #election2016
Allgemeine negative no, never, worse, bad, deserve better, dis-, misWörter
Quelle: eigene Darstellung.
5. Analyse des Negative Campaigning via Twitter von Hillary Clinton Anlässlich des Parteitages der Demokraten am 28./29. Juli 2016 verfasste Clinton 185 Botschaften. 36 Tweets hatten eine negative Konnotation, davon erwähnten 34 Trump direkt oder indirekt. Mehr als ein Drittel der negativen Tweets zerrissen die Vertrauenswürdigkeit des Gegenkandidaten, primär seine Ehrlichkeit und Verlässlichkeit: „He says he cares about the middle class? Give me a break. That's a bunch of malarkey“ oder „The richest thing about Donald Trump is his hypocrisy @JoeBiden on Donald Trump“46. Zehn der 36 Tweets griffen Trumps Fachkompetenz an, denn kein Nominierter hätte weniger gewusst oder war schlechter vorbereitet.47 Zudem verwies Clinton auf Trumps Vorhaben, etwa den Bau einer Mauer, und stellte ihre Position und politische Agenda dem gegenüber. In Botschaften, die mit den Worten „Donald Trump says“ beginnen, stichelte Clinton direkt gegen Trump, indem sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Ihr Negative Campaigning zielte darauf, ihr Rivale teile nicht die-
46 Hillary Clinton, 28.7.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 01:20 Uhr. 47 Hillary Clinton, 28.7.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 01:23 Uhr, No major party nominee in the history of this nation has known less or been less prepared to deal with...national security - Biden on Trump.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
selben Werte wie der Rest Amerikas, sondern wolle durch Angst das Land spalten.48 Von den insgesamt 135 zur ersten Fernsehdebatte der beiden Kandidaten Clinton und Trump am 26. September 2016 verfassten Tweets waren 88 von Clinton. Davon richteten sich 52 gegen Trump.49 Sie sprach ihn 38 Mal direkt an – in zwei Fällen sogar nur mit seinem Vornamen. Dies ist bemerkenswert, da Trump seinen Nachnamen vermarktet, vergoldet auf Hochhäusern präsentiert und die Reduzierung auf seinen Vornamen durch „Madame Secretary“ Clinton einer Herabwürdigung gleichkommt. Insgesamt waren Trumps mangelndes Wissen, seine fehlende politische Erfahrung und seine schwache Ausdrucksfähigkeit das Ziel von Clintons Negative Campaigning: „Trump just criticized me for preparing for this debate. You know what else I prepared for? Being president“50. Durch Ironie stellte sie ihre Vorbereitung, Ernsthaftigkeit und Kompetenz Trumps Unerfahrenheit gegenüber. Ein Beispiel: „Anyone who complains about microphone problems is not having a good night“51. Damit wollte sie ironisch ihre Überlegenheit demonstrieren und mit welchen kleingeistigen Problemen sich Trump – im Vergleich zu ihr – beschäftige. Es ist jedoch schwierig, in 140 Zeichen ironisch zu sein, da bei Tweets keine Betonung, keine Mimik oder Hintergrundinformationen vorliegen. „A man who can be provoked by a tweet should not have his hands anywhere near the nuclear codes“52, kritisierte Clinton die Launenhaftigkeit ihres Gegenkandidaten. Dieser sei eine Bedrohung für die Sicherheit Amerikas, denn impulsives und spontanes Verhalten sei nicht mit dem Besitz der Atom-Codes vereinbar. Trumps diskriminierenden und beleidigenden Äußerungen gegenüber der ehemaligen Miss Universe Alicia Machado als „Miss Piggy“ und „Miss Housekeeping“ thematisierte Clinton in fünf Mitteilungen.53 Clintons Negative Campaigning fußte auf Trumps Respektlosigkeit gegenüber Frauen und betonte damit die Unähnlichkeit. 48 Hillary Clinton, 29.7.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:39 Uhr, We heard Donald Trump's answer last week at his convention. He wants to divide us...He wants us to fear the future and fear each other. 49 In den 15 neutralen Tweets rief Clinton u.a. zur Wählerregistrierung auf, in den positiven Tweets ging es um die guten Umfragewerte nach der Debatte. 50 Hillary Clinton, 27.9.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:01 Uhr. 51 Hillary Clinton, 27.9.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 14:53 Uhr. 52 Hillary Clinton, 27.9.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:26 Uhr. 53 Der von Trump verwendete Ausdruck „Miss Housekeeping“ ist eine Anspielung auf hispanische Frauen, die oftmals als Reinigungskräfte tätig sind. Hillary Clinton, 27.9.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 03:33 Uhr, Donald Trump called her Miss Piggy and Miss Housekeeping. Her name is Alicia Machado.
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Rund 61 Prozent der insgesamt 69 Kurzmitteilungen während dieses dritten zu analysierenden Zeitraumes, die Fernsehdebatte der Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Kaine und Mike Pence am 4. Oktober 2016, attackierten das Duo Trump-Pence. Jedoch ging Clinton nie direkt auf Pence los, sondern lediglich in seiner Funktion als Trumps „running mate“. Über 80 Prozent von Clintons negativen Tweets erwähnten ihren Konkurrenten namentlich. Die Twitter-Strategie zielte darauf ab, Trump obendrein zu diskreditieren, wenn er selbst gar nicht Teil der Debatte, sondern nur indirekt durch seinen „running mate“ vertreten war. Den Aussagen von Pence während der Debatte schenkte Clinton nur wenig Beachtung. Vielmehr war es ihr ein Anliegen, den Twitter-Nutzern die auf ähnlichen Lebens- und Wertvorstellungen basierende Kandidatur von Trump und Pence vor Augen zu führen: „Mike Pence: a divisive, anti-woman, anti-LGBT, anti-worker extremist. No wonder Trump picked him“54. Während des vierten Analysezeitraumes, der zweiten Fernsehdebatte der beiden Präsidentschaftskandidaten am 9. Oktober 2016, waren mehr als die Hälfte von Clintons Tweets negativ. 40 Prozent davon zielten auf Trumps mangelnde Fachkompetenz ab: „Four hundred pieces of legislation have Hillary Clinton's name on them. How many has Donald Trump passed?“55. Durch diesen Vergleich machte sie auf ihre Überlegenheit auf Grund ihrer beruflichen Expertise aufmerksam. Zum anderen stellte sie Trump als unwissend dar: „I know more about ISIS than the generals. Donald Trump, who clearly doesn't. #debate“56. Trumps nicht-stringente Argumentation war Teil ihrer negativen Kampagnenstrategie: „Trump talks tough on trade and Chinese steel hurting American workers – but he bought Chinese steel for two of his last three buildings“57. Ihr Negative Campaigning war dabei sehr direkt, denn sie nutzte häufig seinen vollen Namen, nannte ihn „Donald“ oder adressierte ihre Tweets direkt mit „You“ an ihn.58 Trump setze sich nicht für Minderheiten ein, sondern lediglich für die Amerikaner, die ihm und seinen Ansichten ähnlich seien: „Donald always takes care of Donald and people like Donald“59. Die Dimension Ähnlichkeit bediente Clinton darüber hinaus durch seine Zugehörigkeit
54 55 56 57 58
Hillary Clinton, 4.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 12:48 Uhr. Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:06 Uhr. Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:14 Uhr. Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 22:32 Uhr. Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:23 Uhr, You did, in fact, say this. #debate. 59 Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 01:56 Uhr.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
zu den Millionären und Besserverdienenden: „Trump would give millionaires (like him) and billionaires the biggest tax cuts they've ever had“60. Wie bereits in der vorherigen Fernsehdebatte verglich Clinton während der dritten und letzten Debatte am 19. Oktober 2016 den eigenen Lebenslauf mit dem ihres Gegners, um die mangelnde Fachkompetenz und politische Erfahrung Trumps zu betonen: „If this man's resume landed on your desk, would you hire him for anything?“. Schlüsselwörter wie „greatest risk“, „disqualifying policies“, „con“ oder „no clue“ standen für Trumps Unwissenheit, fehlendes politisches Gespür oder Führungsversagen. Ihre politische Erfahrung stand damit Trumps unternehmerischen Misserfolgen gegenüber: „In 1995, Hillary declared that women's rights are human rights. Trump lost nearly a billion dollars“. Im Gegensatz zu Trump formulierte Clinton ihre Tweets wiederholt ironisch: „Donald Trump is good at one thing – driving his companies into the ground. And now he wants the keys to the U.S. economy“61. Clinton verfolgte insbesondere im Anschluss der Debatte die positive Selbstdarstellung via Twitter. Dazu nutzte sie wiederholt Zitate von Michelle und Barack Obama, die ihre Kompetenzen lobten: „’She's got the temperament, the knowledge, the steady hand to be the next Commander-in-Chief.’ - @POTUS on Hillary“62. Bei dem letzten zu analysierenden Zeitraum 7. und 8. November 2016 verfasste Clinton 91 Tweets. Im Vergleich zu den vorherigen Anlässen war die Anzahl der negativen Nachrichten am „Election Day“ mit 16 sehr gering. Sie verwendete 75 Tweets für ihr Positive Campaigning. Clinton appellierte in ihren letzten Mitteilungen via Twitter an die gemeinsamen Werte und die ähnliche Vision von einem vereinten Amerika. Sie erwähnte Trump mehrheitlich indirekt: „We don’t have to accept a dark and divisive vision for America. Tomorrow, you can vote for a hopeful, inclusive, bighearted America“63. Die im Wahlkampf geprägte Formulierung „lovetrumpshate“ nutzte Clinton häufiger: „In America, we build bridges, not walls. Let's go out and prove that love trumps hate“64. Um die Ähnlichkeit 60 61 62 63 64
Hillary Clinton, 10.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 02:01 Uhr. Hillary Clinton, 19.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 16:14 Uhr. Hillary Clinton, 20.10.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 20:31 Uhr. Hillary Clinton, 7.11.2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 17:36 Uhr. Hillary Clinton, 08.11. 2016, https://twitter.com/hillaryclinton, 06:13 Uhr. „trumps“ ist zum einen ein Ausdruck für übertrumpfen. Zum anderen ist er eine Anspielung auf den Nachnamen von Clintons Gegenkandidat. Während Clintons Kampagne sich auf positive Werte wie Zusammenhalt, Stärke und eben Liebe stützte, verbreitete Trump aus Clintons Sicht Botschaften basierend auf Abgrenzung und Hass. Um diesen Kontrast zu forcieren und zu signalisieren, dass Liebe – Clintons Strategie – gewinnt, nutzte sie diesen Slogan.
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Susanne Thelen
zu ihren Wählern bzw. die Unähnlichkeit zu Trump zu forcieren, setzte Clinton auf Begriffe wie „division“, „unity“, „America“, „country“ und „vision“. Abbildung 2: Clintons Negative Campaigning je Zeitraum und Dimension Vertrauenswürdigkeit Clinton
26,5%
Fachkompetenz Clinton
Ähnlichkeit Clinton
14,0%
21,2%
27,3% 42,9%
29,4%
42,1%
36,5%
75,0%
39,4% 26,2%
44,1%
43,9%
42,3% 31,0%
6,3%
33,3% 18,8%
28.07.
26.09.
04.10.
09.10.
19.10.
08.11.
Quelle: eigene Darstellung.
6. Analyse des Negative Campaigning via Twitter von Donald Trump Anlässlich des Nominierungsparteitages der Demokraten am 28. Juli 2016 verfasste Trump insgesamt 42 Tweets und damit weit weniger als Clinton mit 185 Tweets im selben Zeitraum. 24 waren negativ, davon befassten sich 18 mit Clinton und ihrer Kampagne. Durch Schlüsselwörter wie „corruption“, „unfit“ oder „lies“ zielte Trumps Negative Campaigning auf Clintons mangelnde Vertrauenswürdigkeit. Zudem attackierte er ihre politische Erfahrung und Führungsqualität: „A vote for Clinton-Kaine is a vote for TPP, NAFTA, high taxes, radical regulation, and massive influx of refugees“65.
65 Donald J. Trump, 28.7.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 20:31 Uhr.
272
#crookedhillary versus #nevertrump?
Bei der ersten TV-Debatte am 26. September 2016 attackierte Trump Clintons mangelnde Vertrauenswürdigkeit, da sie sich nicht zu ihrer E-Mail-Affäre oder ihrer Stiftung äußere: „Nothing on emails. Nothing on the corrupt Clinton Foundation. And nothing on #Benghazi. #Debates2016 #debatenight“66. Die Wählerinnen und Wähler könnten Clinton weder persönlich, noch politisch vertrauen, unterstrich Trump in seinen Tweets durch die Betonung ihrer Vergangenheit: „Crooked Hillary says she is going to do so many things. Why hasn't she done them in her last 30 years?“67. Er betonte Clintons Zugehörigkeit zum Establishment: „@HillaryClinton has been part of the rigged DC system for 30 years? Why would we take policy advice from her? #Debates2016“68. Durch sie sei keine Verbesserung zu erwarten: „This is the simple fact about @HillaryClinton: she is a typical politician - all talk, no action. #Debates2016“69. Insgesamt verfasste Trump 47 Tweets – deutlich weniger als Clinton (88 Tweets). In seinen 17 negativen Mitteilungen wählte er eine Vielzahl an thematischen (#benghazi, #isis), anlassbezogenen (#Debates2016, #debatenights) und persönlichen (#imwithyou, #maga) Hashtags, während Clinton nur gelegentlich Hashtags wie #debatenight gebrauchte. Während des dritten Zeitraums, der Fernsehdebatte der Vizepräsidentschaftskandidaten am 4. Oktober 2016, verfasste er insgesamt 55 Tweets: 27 waren negativ, 24 positv und vier neutral. Im Gegensatz zu Clinton, die sich während der Debatte zwischen Kaine und Pence weiterhin auf Trump fokussierte und diesen in 80 Prozent der Beiträge attackierte, konzentrierte sich Trump auf die Diskreditierung von Kaine: „PENCE: I RAN A STATE THAT WORKED; KAINE RAN A STATE THAT FAILED“70. Durch Mitteillungen wie diese erzeugte Trump wegen der Großbuchstaben eine hohe Aufmerksamkeit. Durch einfache Vergleiche ist seine Botschaft leicht verständlich. Dadurch schaffte er eine erneute Abgrenzung zu Clinton, wollte Trump doch als Mann des Volkes gerade die Menschen ansprechen, die sie mit ihrer elitären Rhetorik nicht erreichte. Trumps Negativität in den Tweets richtete sich nicht nur gegen Clinton und Kaine, sondern auch ge-
66 67 68 69 70
Donald J. Trump, 27.9.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:40 Uhr. Donald J. Trump, 27.9.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 12:53 Uhr. Donald J. Trump, 27.9.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 01:28 Uhr. Donald J. Trump, 27.9.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 01:36 Uhr. Donald J. Trump, 5.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:12 Uhr.
273
Susanne Thelen
gen den Moderator, der Pence unterbrach.71 Die Medien standen ebenfalls in der Kritik: „Wow, @CNN is so negative. Their panel is a joke, biased and very dumb. I'm turning to @FoxNews where we get a fair shake! Mike will do great“72. Der Republikaner machte so zum einen seine Follower darauf aufmerksam, welche Medien aus seiner Sicht glaubwürdig sind und welche nicht, zum anderen warnte er vor Falschmeldungen über ihn und Pence. Es war Teil seiner Gesamtstrategie, die Kritik breit zu streuen und Clinton ebenso wie etablierte Medien und andere Politiker zu attackieren. Trumps Absicht: sich als Anti-Establishment-Kandidat zu inszenieren. „Nur reden, nicht handeln“ – wie ein typischer Politiker – sei das Szenario für Clintons Präsidentschaft. Um dies zu untermauern, zog er anlässlich der zweiten Präsidentschaftsdebatte am 9. Oktober 2016 Aussagen von Präsident Obama im Wahlkampf 2008 heran: „We agree @POTUS SHE'LL (Hillary Clinton) SAY ANYTHING & CHANGE NOTHING. IT'S TIME TO TURN THE PAGE“73. Indem er Obama erwähnte, macht er ihre Unterstützung durch ihn unglaubwürdig. Er hatte 2008 „Change“ als Wahlkampfbotschaft, welche Trump ebenfalls als Abkehr von Washingtons politischer Elite propagierte.74 Um das bisherige Negative Campaigning zu steigern und die Unehrlichkeit von „Crooked Hillary“ stärker zu betonen, verglich er sie in einem Tweet mit dem ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln: „History lesson: There's a big difference between Hillary Clinton and Abraham Lincoln. For one, his nickname is Honest Abe“75. Auch ihr Familienleben, zum Beispiel den Vorwurf der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung gegen Ehemann Bill Clinton, griff Trump an: „Exclusive Video - Broaddrick, Willey, Jones to Bill's Defenders: 'These Are Crimes,’ ‘Terrified’ of ‘Enabler’ Hillary“76 – Durch Tweets wie diese bezeichnete Trump Clinton als „Wegbereiterin“ der Verbrechen und damit als weder vertrauenswürdig, noch wählbar. Die allgemeine Entwicklung des
71 Donald J. Trump, 5.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:36 Uhr, @AnyoneTennis: @timkaine Cannot believe how often the moderator interrupts #Pence vs the other guy...so obvious @FoxNews So true! 72 Donald J. Trump, 5.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 00:12 Uhr. 73 Donald J. Trump, 10.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:20 Uhr. 74 Siehe die Ausführungen zu den Wahlkampfslogans „Change“ und „Hope“ in Helge Fuhst, Barack Obama: Präsident der polarisierten Staaten von Amerika. Eine innenpolitische Bilanz seiner ersten Amtszeit 2009-2013, Baden-Baden 2014, S. 105-110. 75 Donald J. Trump, 10.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:00 Uhr. Präsident Lincoln war als rechtschaffen und ehrlich bekannt, der stets seine Versprechen einhielt. Deshalb hatte er den Spitznamen „ehrlicher Abraham“. 76 Donald J. Trump, 9.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 17:16 Uhr.
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#crookedhillary versus #nevertrump?
Landes, Mitglieder der Grand Old Party, Speaker Paul Ryan und die Medien waren ebenfalls Gegenstände seines Negative Campaigning (acht von 37 Tweets). Ein Beispiel: „CNN is the worst - fortunately they have bad ratings because everyone knows they are biased“77. Zur dritten und letzten Fernsehdebatte der beiden Präsidentschaftskandidaten am 19. Oktober 2016 waren 69 von 96 Tweets negativ.78 Trumps Motto lautete „drain the swamp“ – Legt den Sumpf trocken, eine Anspielung auf Washington, das in einem Sumpfgebiet liegt. In 32 Tweets nutzte er diesen Ausruf als Hashtag und aktive Handlungsaufforderung“: „Crooked's top aides were MIRED in massive conflicts of interests at the State Dept. We MUST #DrainTheSwamp #debate“79. In zwölf weiteren Tweets erwähnte Trump seine Rivalin indirekt durch den Spitznamen „Crooked“, um ihre Aufrichtigkeit und Integrität anzuzweifeln: „#CrookedHillary is nothing more than a Wall Street PUPPET! #BigLeagueTruth #Debate“80. Die Resultate der Obama-Clinton-Politik standen im Zentrum seiner Kritik: „We cannot take four more years of Barack Obama and that's what you'll get if you vote for Hillary. #BigLeagueTruth“81. Während der dritten Debatte verschärfte Trump seine Argumentation und er warf Clinton kriminelle und illegale Aktivitäten vor: „Crooked @HillaryClinton's foundation is a CRIMINAL ENTERPRISE. Time to #DrainTheSwamp! #BigLeagueTruth #Debate“82. Zwar deuten „DrainTheSwamp“ und „Crooked“ auf die Zugehörigkeit Clintons zum Establishment als Aspekt der Dimension Ähnlichkeit hin, jedoch wird durch die Großbuchstaben die Aufmerksamkeit auf ihr kriminelles Handeln gelenkt. In anderen Tweets warf Trump Clintons Kampagne ebenfalls illegales Verhalten vor, wie Wählerbeeinflussung oder die Provokation von Gewalt während seiner Auftritte durch ihre Mitarbeiter.83 Anlässlich des Wahltages verfasste Trump insgesamt 26 Tweets. Wie zu den Anlässen zuvor sind dies weniger Nachrichten im Vergleich zu Clin77 Donald J. Trump, 10.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 19:14 Uhr. 78 Von den insgesamt 96 Tweets richteten sich 61 der negativen Tweets gegen Trumps Gegenkandidatin Clinton, acht richteten sich gegen die Gesundheitsversorgung „Obamacare“ und die Medien. 79 Donald J. Trump, 20.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:08 Uhr. 80 Donald J. Trump, 20.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 01:56 Uhr. 81 Donald J. Trump, 20.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:40 Uhr. 82 Donald J. Trump, 20.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 02:02 Uhr. 83 Donald J. Trump, 20.10.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 01:56 Uhr, Crooked's camp incited violence at my rallies. These incidents weren't spontaneous - like she claimed in Benghazi.
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Susanne Thelen
tons 91 Tweets. Lediglich zweimal kritisierte er seine Rivalin. In seinem ersten Tweet nahm Trump indirekt durch das Schlüsselwort „corrupt system“ Bezug auf Clinton.84 In seinem zweiten Tweet bezeichnete Trump seine Gegenkandidatin wie bereits zuvor als „Crooked Hillary“, eine Kritik an ihrer mangelnden Vertrauenswürdigkeit.85 Abbildung 3: Trumps Negative Campaigning je Zeitraum und Dimension Vertrauenswürdigkeit Trump
Fachkompetenz Trump
Ähnlichkeit Trump 0%
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26.09.
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19.10.
08.11.
Quelle: eigene Darstellung.
7. #crookedhillary versus #nevertrump – ein Resümee Das Twitter-Verhalten spiegelt die grundsätzliche Ausrichtung der Kandidaten im Wahlkampf wider: Trumps Botschaften waren kurz und prägnant formuliert. Clintons Tweets versuchten ein umfassendes Bild zu liefern, wofür 140 Zeichen oftmals nicht ausreichten. Ihre Ironie konnte bei Twit84 Donald J. Trump, 7.11.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump 21:37 Uhr, America must decide between failed policies or fresh perspective, a corrupt system or an outsider. 85 Donald J. Trump, 7.11.2016, https://twitter.com/realdonaldtrump, 22:21 Uhr, Hey Missouri let's defeat Crooked Hillary & @koster4missouri! Koster supports Obama-care & amnesty! Vote outsider Navy SEAL @EricGreitens!
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#crookedhillary versus #nevertrump?
ter leicht missinterpretiert und als Zeichen für Hochmütigkeit gedeutet werden. Dies unterstützte Trumps Argumentation, Clinton sei Teil der Elite. Die Bequemlichkeit der Informationsbeschaffung in sozialen Netzwerken vor Augen, war Clintons Strategie, möglichst viele Informationen in die 140 Zeichen eines Tweets zu packen, eher kontraproduktiv. Clinton war vorrangig darum bemüht, das eigene Bild durch positive Botschaften zu prägen, etwa durch zahlreiche Vergleiche zu Trumps mangelnder Fachkompetenz. 40 Prozent ihrer 594 Tweets während der sechs Zeiträume enthielten eine negative Botschaft. Im Vergleich dazu waren rund 55 Prozent von Trumps 320 Tweets pejorativ (vgl. Abb. 4). Abbildung 4: Tweets nach Kategorien insgesamt HillaryClinton
realDonaldTrump
35% 33%
19% 13%
15%
12% 8%
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11% 11%
8%
4% 1%
Quelle: eigene Darstellung.
Wie dies zeigt, war Trumps Kampagnenstrategie bewusst auf Negative Campaigning ausgerichtet. Seine Verärgerung über die Politik der vergangenen Jahre und über Clinton als Inkarnation des politischen Systems waren seine Motive. Trumps Attacken richteten sich gegen die Medien, die Elite Washingtons, Obamas Politik und das „korrupte System“ im Allgemeinen. Sein Anliegen war es nicht, die eigene Position zu stärken indem er den Gegner diskreditierte – wie es Clintons Intention war. War er damit erfolgreich? Er nahm kein Blatt vor den Mund und sprach vielen Amerikanern nicht nur inhaltlich aus der Seele, sondern auch wortwörtlich – mit 277
Susanne Thelen
einfachen und geläufigen Formulierungen. Seine Tweets waren pointierter, direkter und weniger ironisch. Daher konnten Twitter-Nutzer aller Bildungsschichten seine Tweets ohne Hintergrundwissen oder tiefe politische Kenntnisse verstehen. Durch seine zahlreichen Hashtags und Großbuchstaben lenkte er die virale Diskussion und er erzeugte eine größere Aufmerksamkeit. Inwieweit das Negative Campaigning grundsätzlich die Wahlentscheidung der Amerikaner 2016 beeinflusst hat, könnte nur eine quantitative Befragung klären. Trotz wachsender Bedeutung gibt es bislang nur wenige Studien, die sich mit Twitter und anderen sozialen Netzwerken als Tools im Wahlkampf auseinandesetzen. Die Kandidaten waren darüber hinaus auf anderen Plattformen aktiv, beispielsweise Facebook, Instagram oder Youtube, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Vergleich zwischen den verschiedenen sozialen Netzwerken liefert einen Ausblick auf weiterführende Forschungsansätze. Ob und inwieweit Negative Campaigning grundsätzlich Parteien und Kandidaten im Wahlkampf zu empfehlen ist, etwa mit Blick auf den Bumerang-Effekt und zu seinen Auswirkungen, ist fraglich. Im Bundestagswahlkampf 2017 propagierte die AfD, sie sei die Partei fernab des deutschen Establishments und sie könne die Belange der „einfachen Bevölkerung“ daher besser verstehen und vertreten. Derzeit wachsende populistische Kräfte, wie die AfD in Deutschland oder der Front National in Frankreich, lassen vermuten, dass sich soziale Netzwerke gut zur Verbreitung negativer Wahlkampfbotschaften eignen. Der Erfolg von politischen Bewegungen wie „Movimento Cinque Stelle“ in Italien fußt gleichermaßen auf der Einbindung sozialer Netzwerke. Inwiefern sich andere Länder inspirieren lassen, Twitter im Wahlkampf für negative wie positive Botschaften zu implementieren, eröffnet daher ebenfalls die Möglichkeit neuer Forschungsansätze.
278
Ein historisch belastetes Verhältnis? Protestantismus-Demokratie im Kontext zur jungen Bundesrepublik Martin Hummel
1. Neupositionierung des Protestantismus zum Staat nach 1945 – ein Jahrzehnte währender Prozess Der Protestantismus stand nach 1945 vor der gewaltigen Aufgabe sich neu zu positionieren. Aufgaben wie Reetablierung der Demokratie und Bewältigung der moralischen Katastrophe während der NS-Zeit stellte die Christen in Deutschland vor eine doppelte Herausforderung. Einerseits mussten das Geschehene und das eigene Verhalten im Nationalsozialismus reflektiert werden. Andererseits sahen sie sich in der Pflicht, Antworten und Orientierung zu liefern.1 In dem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob das Verhältnis zwischen Protestantismus und Demokratie im Kontext zur jungen Bundesrepublik Deutschland aus historischer Sicht als ein belastetes gelten kann. Grundsätzlich war der Weg hin zur Demokratie für den Protestantismus nach 1945 keineswegs geebnet. Historisch gesehen gab es bis auf das kurze „Intermezzo“ der Weimarer Jahre keine Traditionen, an die der Protestantismus hätte anknüpfen können. Vielmehr noch – Demokratie und Protestantismus wurden als diametral betrachtet, nicht nur im protestantischen Milieu. In der Reformationszeit bildete sich eine enge Verbindung zwischen Thron und Altar heraus, dessen Auswirkung bis in die bundesrepublikanischen Jahre zu spüren war. Kirchenfreundliche Obrigkeit und obrigkeitsfreundliche Kirche bildeten eine Allianz, die fast 400 Jahre währte. Das Staatsverständnis des Protestantismus war geprägt durch eine Überbetonung von Ordnungsdenken und Staatsgewalt. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit durfte und musste von seinen Untertanen Gehorsam verlangen. Grenzen dieses uneingeschränkten Gehorsams oder gar die Vorstellung
1 Vgl. Andreas Busch, Der Kirchentag als forum politicum der jungen Bundesrepublik, in: Ellen Ueberschär (Hrsg.), Deutscher Evangelischer Kirchentag. Wurzeln und Anfänge, Gütersloh 2017, S. 147-168, hier: S. 147f.
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Martin Hummel
einer demokratischen Partizipation der Bürger blieben einem Großteil des Protestantismus jahrhundertelang verschlossen.2 Zu dieser Entwicklung trug auch eine Interpretation der Zwei-Reiche- und Regimenten-Lehre (ZRRL)3 bei, die dazu führte, dass jede weltliche Ordnung eine von Gott gestiftete und damit legitime Ordnung darstellte. Was aus der Sicht eines christlich, ethisch und moralischen Wertekanons, dem sich der Protestantismus verschrieb, im Kaiserreich noch unproblematisch war,4 führte im Nationalsozialismus zu einem Dilemma. Auf der einen Seite erkannte man das menschliche Unrecht, das im Nationalsozialismus geschah. Auf der anderen Seite sah man sich durch die ZRRL gezwungen, auch diesem Staat seine Treue und seinen Gehorsam entgegenzubringen. Besonders die Deutschen Christen rekurrierten auf die ZRRL und boten so der nationalsozialistischen Ideologie eine religiöse Fundamentierung ihrer Macht. Es bedurfte wohl, so scheint es, erst dieser apokalyptischen Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus, um den deutschen Protestantismus auf breiter Front für eine positive Einsicht in die Lebenswelt der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zu öffnen.5 Doch gerade in den Anfangsjahren der noch jungen Republik fehlte einem Großteil des deutschen Protestantismus diese Einsicht noch. Erst durch einen jahrzehntelang währenden „Reifeprozess“, der mit der Demokratiedenkschrift 1985 seinen Höhepunkt fand, erkannte der Protestantismus in Deutschland die positiven Lebenseinsichten der parlamentarischen Demokratie, zu der er sich nun vollumfänglich bekannte.
2 Vgl. Helmut Simon, Evangelische Verantwortung im demokratischen Staat, in: Rüdiger Runge/Christian Kraus (Hrsg.), Zeitansage. 40 Jahre Deutscher Evangelischer Kirchentag, Stuttgart 1989, S. 99-114, hier: S. 100. 3 Für eine detaillierte Darstellung der ZRRL siehe Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, Berlin 2014, S. 14-17; Volker Leppin, Grenzen und Möglichkeit der Obrigkeit – Zur Entstehung und zum Kontext von Luthers Zwei Reiche Lehre, in: Irene Dingel/Christiane Tietz (Hrsg.), Die politische Aufgabe von Religion, Göttingen 2011, S. 247-258. 4 Der Protestantismus verstand unter Treue und Loyalität zum Staat, immer die Treue und Loyalität zu einem monarchischen Staat. Siehe dazu Bastian Scholz, Die Kirchen und der deutsche Nationalstaat. Konfessionelle Beiträge zum Systembestand und zum Systemwechsel, Wiesbaden 2016, S. 301, 773. 5 Vgl. H. Simon (Anm. 2), S. 101.
280
Ein historisch belastetes Verhältnis?
2. Die Zeit der Reformation – Beginn der Verflechtung zwischen Thron und Altar Die Reformationsbewegung verschrieb sich dem Ziel, eine „Renaissance“ der bestehenden Kirchenordnung einzuleiten. Mitnichten war es ihr Ziel, eine zweite Kirche neben der katholischen Kirche zu etablieren. Die Reformationsbewegung erhoffte sich, dass viele Bischöfe sich der „guten Sache“ anschlossen. Allerdings waren die Bischöfe weder bereit sich der Bewegung anzuschließen, noch auf ihre weltliche Gewalt als Fürsten zu verzichten. Da die geistliche Seite nicht von dem Unternehmen überzeugt werden konnte, lag der weitere Verlauf der Bewegung ganz in den Händen der Territorialfürsten, von denen einige evangelisch gesinnt waren.6 Ohne deren Protektion wäre die Reformationsbewegung schnell zum Erliegen gekommen. Nur durch das Engagement einiger Fürsten, das auch monetärer Natur war, gelang es der Bewegung ihren weiteren Fortgang zu sichern. Nach damaligem Verständnis bestand zwischen Kirche und Staat kein Gegensatz. Sie wurden als Einheit betrachtet. Alle kirchlichen Angelegenheiten waren gleichzeitig auch Angelegenheiten des Staates. Vor diesem Hintergrund veranlassten die Obrigkeiten ab 1526 in evangelisch gesinnten Territorien eine Kirchenreform, die dem evangelischen Geist entsprach. Auf deren Grundlage wurden – unter Federführung der Reformatoren – Visitationen durchgeführt, Superintendenten eingesetzt und Konsistorien eingerichtet, die als staatliche Behörden fungierten und zuständig für das Kirchenwesen waren. All das verstand Martin Luther a priori als „Notlösung“, die sich faktisch durch den Verlauf der Reformation ergab. Für Luther waren die Territorialfürsten allenfalls „Notbischöfe“, die nicht den Idealvorstellungen des Reformators entsprachen, aufgrund des historischen Ist-Zustands aber zunächst nicht anders konzipierbar waren. Dass aus diesen Provisorien ein Dauerzustand erwuchs, der bis 1918 hielt, war von Martin Luther nie beabsichtigt. Ein weiterer Schritt in Richtung Verquickung zwischen Kirche und Staat brachte der Augsburger Religionsfrieden von 1555 mit sich. Er vollzog endgültig den Transfer von geistlichen Rechten hinein in die Hände der weltlichen Macht. Fortan oblag das geistliche Recht vollumfänglich den evangelischen Territorialfürsten. Damit fungierte der Territorialfürst nicht nur als Landesherr, sondern er übte auch, faktisch das oberste Kirchenamt im jeweiligen Staat aus. Er war somit gleichzeitig auch Bischof seines eigenen Gebietes. Die Fusion
6 Vgl. Martin Hein, Weichenstellungen der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge zur Kirchengeschichte und Kirchenordnung, Berlin 2009, S. 21.
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Martin Hummel
von Kirche und Staat war vollzogen, das landesherrliche Kirchenregiment geschaffen. Thron und Altar gingen eine jahrhundertelange Verbindung ein.7 Die Reformationszeit schuf die Grundlagen des protestantischen Staatsverständnisses. Zum einen sind hier die Ursachen eines ausgeprägt autoritären Staatsverständnisses seitens des Protestantismus zu suchen, das durch die Territorialfürsten und ihre feudale Alleinherrschaft begünstigt wurde. Zum anderen ist die Reformationszeit mit ihren historischen Gegebenheiten auch die Ursache für einen weiteren Aspekt im protestantischen Staatsverständnis, der sich über Jahrhunderte hartnäckig hielt. Die viel gepriesene Treue zum Staat, die schon Luther postuliert hatte, bezog sich immer auf die monarchischen Territorialstaaten im 16. Jahrhundert. All diese Faktoren wirkten sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in den zu beschreibenden Zeitabschnitten unterschiedlich aus. 3. Das Deutsche Reich (1871-1918) – eine für den Protestantismus glückliche Symbiose zwischen Kirche und Staat Die Allianz zwischen Thron und Altar, die nun schon mehr als 300 Jahre währte, war aus Sicht manch eines Vertreters, der das evangelische Staatskirchentum stützte, mit der Reichsgründung 1871 zu ihrem Höhepunkt gelangt. Viel mehr noch, einige Protagonisten dieser Zeit sahen in der Reichsgründung nichts anderes als die Vollendung der Reformation.8 Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs verwunderlich, dass eine auf den Staat fokussierte evangelische Kirche sich mit dem Imperativ des deutschen Nationalgedankens durchaus identifizierte.9 Aus Freude über die gelungene nationalstaatliche Einigung, der in vielen Teilen des protestantischen Milieus auch mit Stolz verbunden war, kam es zu einer regelrechten religiösen Überhöhung des geschichtlichen Ereignisses. In Anlehnung an das frühere „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ sprachen nun viele vom „Heiligen Evangelischen Reich Deutscher Nation“. Das neue Kaisertum stand unter der Regentschaft der Hohenzollern und war nicht – wie 7 Vgl. ebd., S. 21. 8 Der evangelische Theologe Alfred Stoecker vertrat diesen Standpunkt. Siehe dazu Tillmann Bendikowski, Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen, München, 2016, S. 32; s. auch Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2016, S. 830. 9 Vgl. M. Hein (Anm. 6), S. 44.
282
Ein historisch belastetes Verhältnis?
früher – katholisch, sondern evangelisch; durchaus ein Novum, wenn folgender Umstand Beachtung findet: Jahrhundertelang hatte die katholische Seite die Regentschaft über deutsche Territorien inne, meist ausgeübt durch die Habsburger. Nun hatte Deutschland in Gestalt des Kaisers ein dezidiert protestantisches Oberhaupt.10 Innerhalb des Protestantismus existierte eine großflächige Zustimmung zum neuen Staat. Von Seiten des liberalen Protestantismus war von Anfang an eine Identifikations- und Akzeptanzkultur für das Kaiserreich zu spüren, die sich auch in den religiösen Schriften und Stellungnahmen niederschlug.11 Nur aus dem konservativen protestantischen Milieu gab es zunächst Vorbehalte gegen den neuen – modernen säkularen – Staat, der obendrein unter preußischer Führung stand. Diese Sichtweise, so zeigte sich, hatte nur eine kurze Halbwertszeit, da gerade Vertreter aus dem konservativen Lager innerhalb des Protestantismus eine besondere Affinität zur ZRRL pflegten und sich dadurch der Obrigkeitstreue zum Staat im Besonderen verpflichtet fühlten. Die Staatsform der Monarchie erschien vielen Protestanten als das Ideal schlechthin. Staats- und Kaisertreue waren inhärente Bestandteile von allen protestantischen Strömungen jener Zeit. Staat und Kirche waren für manchen Theologen verschwisterte Elemente.12 Protestantischer Staat und evangelische Kirche wurden beide als Kinder der Reformation begriffen. Martin Luther war im Kaiserreich nichts Geringeres als der Stifter des deutschen Nationalstaates.13 All die postulierte – ja gelebte – Affinität zwischen Luther und Nationalstaat erlebte 1883 mit dem 400-jährigen Lutherjubiläum ihren grotesken Höhepunkt. Es war das ideale Ereignis, um die Synthese zwischen Protestantismus und deutscher Nation auch breitflächig in der Wahrnehmung vieler zu fundamentieren, was im Endeffekt nichts anderes als einer maßlosen Überhöhung gleichkam. Kaiser Wilhelm II. sprach demnach nicht ohne Grund 1896 von: „Ein Reich, ein Volk, ein Gott!“14 All das diente als Unterbau für den im Kaiserreich vorherrschenden Nationalismus, der im 1. Weltkrieg zum Exzess, sowohl politisch als auch theologisch, führte. Jener Exzess offenbarte sich besonders in theologischen Stellungnahmen zum 1. Weltkrieg. Äußerungen der Kirche zu öffentlichen Dingen
10 Vgl. Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1870-1945, Leipzig 2002, S. 38. 11 Vor allem Adolf v. Harnack und Ernst Troeltsch gelten als Vertreter der liberalen Theologie. 12 Willibald Beyschlag erkannte darin eine Verschwisterung. 13 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 45. 14 Vgl. ebd., S. 46.
283
Martin Hummel
und zum Krieg waren keineswegs ungewöhnlich, da schon in den jungen Jahren des Kaiserreichs eine besondere Verbindung von Nationalbewusstsein und christlichem Glauben zum Vorschein kam, die sich mit Ausbruch des 1. Weltkrieges umso mehr verfestigte. 15 Für viele Theologen jener Epoche bedeutete die Begeisterung für den Krieg eine Überwindung des Egoismus, den der Wohlstand der wilhelminischen Zeit mit sich gebracht hatte. Unter den geistlichen Gelehrten etablierte sich sukzessive eine regelrechte „Kriegstheologie“.16 Die Predigten erhielten durch die Kriegsumstände eine theologische Adaption. Viele Pfarrer priesen Gott als den „Herr der Heerscharen“ und baten darum, den Gegner zu bestrafen und die eigenen Waffen siegen zu lassen. Andere sahen in dem Krieg eine göttliche Offenbarung und interpretierten gewonnene Schlachten als göttliches Wunder, wie die Schlacht bei Tannenberg.17 Es fanden sich nur wenige Theologen, die – wie Martin Rade – das Kriegsgeschehen als einen „Bankrott der Christenheit“18 titulierten.19 Rade hatte schon vor dem Ausbruch des Krieges beklagt, dass die Theologie zwar eine Lehre vom sittlichen Recht des Krieges, aber keine Lehre des Friedens entwickelt hatte.20 Für Rade müssten gerade die Theologen auf der Seite der Friedfertigen und der Friedensstifter im Sinne von Mt. 5,8 zu finden sein. Dass dies nicht der Fall sei, entnahm Rade den Beiträgen zur Verherrlichung des Krieges, in denen sich ausgerechnet Theologen süffisant hervortaten.21 Als Vehikel für demokratieaffine Kontinuitäten, auf das der Protestantismus in den jungen Jahren der Bundesrepublik hätte zurückgreifen können, taugte die Zeit des Kaiserreichs folglich überhaupt nicht. Ein Protestantismus, der auf breiter Linie das Kriegstreiben des Staates mitgetragen,– vielmehr noch – in weiten Teilen theologisch forciert hat, kann nicht als Vorbild für eine demokratische Reminiszenz innerhalb des deutschen Protestantismus fungieren.
15 16 17 18
Vgl. Wolfgang, Huber, Kirche und Öffentlichkeit, München 1991, S. 135. Vgl. ebd., S. 143 u. 145. Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 108. Vgl. Martin Rade, Der Bankrott der Christenheit, in: Die Christliche Welt, 28 (1914), S. 849-850. 19 Vgl. Ulrich Duchrow/Wolfgang Huber, Die Ambivalenz der Zweireichelehre in lutherischen Kirchen des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1976, S. 19. 20 Vgl. M. Rade, Der Beitrag der christlichen Kirchen zur internationalen Verständigung, Stuttgart 1912, S. 14. 21 Vgl. W. Huber (Anm. 15), S. 184.
284
Ein historisch belastetes Verhältnis?
4. Die Weimarer Republik (1918-1933) – Ein protestantisch empfundenes Unglück Der Untergang des Kaiserreichs war für den Protestantismus ein großes Trauma, dessen Verarbeitung noch bis in die bundesrepublikanischen Jahre hineinreichte. Das Ende des Kaiserreichs verband sich gleichzeitig mit dem faktischen Exitus des protestantischen Staatskirchentums. Die Heilige Allianz zwischen Thron und Altar, die in der Reformationszeit wurzelte, hatte nach fast 400-jährigem Bestehen einen abrupten Abschluss gefunden. Ein Großteil des Protestantismus vertrat eine kategorisch ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Republik. Für viele war sie ein „artfremdes“ Staatsgebilde, das primär durch außenpolitischen Druck der Siegermächte seine Konstitution erhielt. Bedingt durch Altlasten des Kaiserreichs und die Unterzeichnung des Versailler Vertrages, befand sich die noch junge Republik – zugleich die erste Demokratie auf deutschem Boden – in einer schwierigen Konstellation, die antidemokratischen Kräften verschiedener Couleur eine breite Angriffsfläche bot.22 Wer einen Blick auf die Weimarer Parteienlandschaft wirft, erkennt vor allem in der antirepublikanisch eingestellten DNVP ein Sammelbecken für viele national-konservative Protestanten. Sie vertrat eine Richtlinie in Bezug auf das Staat-KircheVerhältnis, die einerseits die Selbständigkeit der Kirche vom Staat betonte, andererseits aber für die Beibehaltung der kirchlichen Privilegien eintrat. Auch die rechtsliberale DVP konnte viele Protestanten für sich gewinnen. Ihre Programmatik bestand u.a. darin, dass die fortwährende Verbindung zwischen Staat und Kirche keinesfalls gelöst werden dürfe. Zwar gab es auch in der Weimarer Republik dezidiert freundlich gesinnte Parteien, wie die DDP, in denen auch Protestanten eine politische Heimat fanden und zu deren Mitgliedern namhafte protestantische Theologen wie Marin Rade oder Ernst Troeltsch gehörten. Dennoch hatte sie im protestantischen Lager keinen leichten Stand, wegen ihres stringent demokratisch-parlamentarischen Charakters, der von einem Großteil der Protestanten argwöhnisch beäugt wurde.23 Der Protestantismus vertrat den Standpunkt, dass gerade in Zeiten einer fortschreitenden Pluralisierung der Gesellschaft ein starker – von Parteiund Gruppeninteressen unabhängiger – Staat vonnöten sei, um einheits-
22 Vgl. Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Weimar 1981, S. 85. 23 Vgl. Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 2f.
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stiftend und integrativ zu wirken. Genau dafür stand das politische System der Weimarer Republik im normativen Sinne nicht. Eine Lebenswelt, die durch eine homogene Gesellschaft charakterisiert ist und mit der Existenz diverser Grundüberzeugungen einhergeht, war für den Protestantismus schwer vorstellbar. Nun aber sollte diese faktisch vorhandene Lebenswelt mithilfe eines demokratisch-konstitutionell geprägten Parlamentarismus, der seine Ausgestaltung grundlegend durch den demokratischen Verfassungsstaat erhielt, ihre politische Nivellierung erfahren.24 Ein gesellschaftspolitisches Weltbild, das aus protestantischer Perspektive der Quadratur des Kreises gleichkam. Aus theologischer Perspektive war Römer 13 für das Verhältnis zwischen Protestantismus und- Weimarer Republik ein zweischneidiges Schwert. Zum einen besagt dieser, dass der Obrigkeit Gehorsam gebührt. Grundsätzlich ist dieser Gehorsam an keine bestimme Staatsform gebunden. Nun war diese exegetische Auslegung vielen protestantischen Theologen ein Dorn im Auge. Sie argumentierten, dies könne nicht für die Staatsform der Demokratie gelten.25 Eine theologische Sichtweise, die, gelinde ausgedrückt, zumindest diskutabel ist, aber vielen Protestanten der damaligen Zeit aus der Seele sprach. Zum anderen war der Protestantismus, eben gerade durch Römer 13 und seiner lutherisch verstanden Obrigkeitshörigkeit, dazu angehalten, auch den ungeliebten Staat der Weimarer Republik anzuerkennen – eine Haltung, die bei einem Großteil der Protestanten auf Toleranz, wenn auch nicht auf Akzeptanz, stieß. Auch wenn das Scheitern der ersten Demokratie auf deutschem Boden sich als komplexes Gebilde mit mehreren Ursachen darstellt, so besteht in der Forschung über einen Punkt Konsens: Der Protestantismus fungierte in der Weimarer Republik gerade nicht als stabilisierender Faktor für das noch junge, fragile politische System. Vielmehr trug der Protestantismus – in vorderster Front die Theologie – dazu bei, die Demokratie zu destabilisieren. Somit ist die Haltung des Protestantismus zur Weimarer Republik eine Ursache – wenn auch nur eine von vielen – ihres Scheiterns. Infolgedessen taugt die Zeit der Weimarer Republik als Hort protestantisch demokratieaffiner Erfahrungen gänzlich wenig.
24 Vgl. Klaus Tanner, Protestantische Demokratiekritik in der Weimarer Republik, in: Richard Ziegert (Hrsg.), Die Kirchen und die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, S. 23-36, hier: S. 26. 25 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 116.
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5. Das Dritte Reich – Der Protestantismus und seine Ambivalenz zum Nationalsozialismus Auch das totalitäre System des Nationalsozialismus – es liegt in der Natur der Sache – kann nicht als Traditionsort demokratischen Denkens im Protestantismus fungieren. Das Besondere im Vergleich zu den anderen hier dargestellten Epochen ist Folgendes: Von der Reformationszeit bis zur Weimarer Republik gab es eine Art „Konsensprotestantismus“, der die Haltung zum Staat entweder in großen Teilen akzeptiert – wie in der Kaiserzeit – oder zumindest toleriert hat, wenngleich es immer wieder abweichende Strömungen gab. Auch wenn die Weimarer Republik kein „Wunschkind“ des deutschen Protestantismus war, so gab es dennoch keinen Widerstand im politischen Sinne. Diese Einheit zerbröselte im Nationalsozialismus. Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 war im Vergleich zum 9. November 1918 – dem Gründungstag der Weimarer Republik – für den Protestantismus ein überwiegend freudiges Ereignis. Die Mehrheit der 40 Millionen deutschen Protestanten empfand Hitlers Wahl zum Reichskanzler als ein positives Ereignis, das breitflächige Zustimmung genoss. Schon in den Jahren vor der Machtergreifung war die Zustimmung des Protestantismus zum Nationalsozialismus erkennbar. Die NSDAP konnte vor allem in urprotestantisch geprägten Gegenden, beispielsweise in Thüringen, hohe Wahlerfolge erringen. 1929 war sie erstmals in einer Regierung im Land vertreten.26 Die zunächst positive Haltung des deutschen Protestantismus gegenüber dem Nationalsozialismus hatte seine Gründe: Adolf Hitler ließ in seinen Reden keine Gelegenheit verstreichen, die Kirchen, speziell den Protestantismus, zu hofieren. Bei der Eröffnung des Reichstages waren Ort und Zeitpunkt bewusst gewählt, um die historische Kontinuität aufzuzeigen: Die inszenierte Eröffnung fiel auf den 21. März 1933, genau auf den Tag, an dem 52 Jahre zuvor die feierliche Eröffnung des ersten Reichstages erfolgt war. Auch der Ort, die Potsdamer Garnisonskirche, war bewusst gewählt und diente als Symbolik. Damit sollte eine historische Linie zwischen der nationalsozialistischen Bewegung und dem alten Preußen zum Ausdruck kommen. Nach Maßgabe der Nationalsozialisten hatten die Kirchen die notwendige religiöse Weihe zur Eröffnungszeremonie zu liefern. Auch wenn es teilweise kirchlichen Widerspruch gab, der mit gewissen Einschränkungen einherging, hatte der Nationalsozialismus eines mit dieser Inszenierung erreicht: die christliche Aufwertung der nationalsozialisti-
26 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 157.
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schen Ideologie.27 Mit seiner Regierungserklärung trug Hitler zunächst für wohlwollende Stimmung bei den Kirchen beider Konfessionen bei. So sicherte er den christlichen Kirchen den Schutz und die Förderung des Staates zu. Darüber hinaus garantierte er den kirchlichen Institutionen rechtliche Unantastbarkeit gegenüber dem Staat. Vielmehr noch, Hitler schürte bei den Kirchenträgern Hoffnungen, dass der Einfluss auf bestimme Bereiche kirchlicherseits zunehmen könnte. So propagierte er eine großzügige Haltung des Staates gegenüber Themen, wie die Rolle der Kirche im Schul- und Erziehungswesen. Einem künftigen Arrangement der Kirchen mit dem neuen Staat schien nichts im Wege zu stehen.28 Auf Seiten des Protestantismus29 sah man über evidente Rechtsbrüche der neuen Regierung großzügig hinweg. Zu sehr war der Wunsch im Protestantismus verhaftet, dass mit der Errichtung einer Diktatur, wie der des Nationalsozialismus nun endlich Sitte und Ordnung zurückkehrten.30 Nicht nur das scheinbare Entgegenkommen in kirchenpolitischen Angelegenheiten seitens des Nationalsozialismus, ließ den Protestantismus wohlwollend auf das neue politische System schauen. Der Wille zum Arrangement mit dem Staat ist eine genuine Eigenschaft der lutherischen Tradition, die mit einem Obrigkeitsgehorsam und mit einer bestimmten Auslegung der ZRRL einhergehen. Desweiteren entsprach das nationale, antisemitische und vor allem das soziale Programm der NSDAP einer gewissen Grundhaltung, mit dem sich viele Protestanten identifizieren konnten. Das völkisch-religiöse und nationalkirchliche Gedankengut konvergierte mit Vorstellungen, die schon vom Protestantismus des 19. Jahrhunderts postuliert wurden. Aufgrund all dieser Affinitäten gab es aus protestantischer Perspektive gute Gründe, den neuen Staat mit allen verfügbaren Kräften zu unterstützen.31 Nur wenige Protestanten lehnten den Nationalsozialismus von Anfang an kategorisch ab. Einer von Ihnen war Paul Tillich. Als Vertreter des religiösen Sozialismus übte er starke Kritik am Nationalsozialismus, was zur Folge hatte, dass er seine Profes-
27 Vgl. Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011, S. 18f. 28 Vgl. ebd., S. 19. 29 Der Katholizismus zeigte zunächst große Skepsis gegenüber der NS-Ideologie. Die Einstellung zu ihr war geprägt durch Distanziertheit, welche bisweilen in Ablehnung gipfelte. Erst durch eine Erklärung des katholischen Episkopats vom 28. März 1933 änderte sich die Haltung grundlegend. Die zuvor postulierte Ablehnung des Nationalsozialismus erfuhr in der Erklärung eine weitestgehende Aufhebung. Vgl. G. Besier (Anm. 23), S. 22f. 30 Vgl. ebd., S. 23. 31 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 157.
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sur verlor und später in die USA emigrierte.32 Durchaus war in der Anfangszeit eine gewisse Ambivalenz im Protestantismus zu erkennen, die zwischen Skepsis und Euphorie gegenüber dem neuen Staat schwankte. Es wäre verfehlt, dem Protestantismus eine absolute Offenheit und gänzlich unkritische Akzeptanz gegenüber dem Nationalsozialismus zu attestieren, bei allen evidenten Affinitäten. Erst als der „starke“ Staat allmählich sein wahres Gesicht zeigte, kamen im protestantischen Milieu Zweifel auf, die sich etappenweise immer mehr manifestierten. Nach dem Aufruf zum Boykott von jüdischen Geschäften am 1. April 1933 machten sich mit aller Deutlichkeit christenfeindliche Tendenzen des Nationalsozialismus bemerkbar. Auch die Einführung des „Arierparagraphen“ am 7. April desselben Jahres zeigte, welches Ausmaß die nationalsozialistische Ideologie, die mit einer pseudoreligiösen „Legitimierung“ einherging, annahm.33 Dennoch fiel die protestantische Reaktion darauf in weiten Teilen allenfalls gemäßigt aus. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen kann der verankerte Antijudaismus im Protestantismus als ein möglicher Faktor gelten.34 Zum anderen sind auch kirchentaktische Beweggründe ursächlich. So wollte die evangelische Kirche nicht provokativ gegenüber Hitler auftreten, da dies das Ziel der kirchlichen Unabhängigkeit im Voraus konterkariert hätte.35 Bei der Gleichschaltung der protestantischen Kirche bediente Hitler sich der Hilfe der Deutschen Christen. Die streng nationalsozialistische Kirchenpartei war der Versuch, die evangelische Kirche von innen und von unten heraus zu erobern, so wie es der Nationalsozialismus in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen praktizierte. Sie sollte die NS-Ideologie in die Kirche hineintragen.36 Nachdem bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 die Deutschen Christen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit fast alle wichtigen Schlüsselpositionen in den evangelischen Landeskirchen und in der Deutschen Evangelischen Kirche besetzt hatten,37 war das Ziel fast erreicht. Ludwig Müller wurde am 27. September 1933 zum Bischof der mächtigen 32 Vgl. Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 481. 33 Vgl. C. Strohm (Anm. 27), S. 24. 34 Vgl. Gerhard Lindemann, „Typisch jüdisch“. Die Stellung der Ev. luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919-1949, Berlin 1998, S. 39f. 35 Vgl. B. Scholz (Anm. 4), S. 355. 36 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 159. 37 Ob wirklich Zwei-Drittel der Wählerschaft für die Deutschen Christen votierten, ist sehr fraglich, s. dazu Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Band 1, Berlin 1977, S. 272f.
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preußischen Landeskirche ernannt, um sich kurze Zeit später einstimmig von der Nationalsynode zum Reichsbischof wählen zu lassen. Die Gleichschaltung war scheinbar vollzogen. Eine unabhängige – kritische – Haltung zum Staat seitens des deutschen Protestantismus war nun nicht mehr möglich. Eine Kirche, die durch den Staat eine ideologische Okkupation erfuhr, konnte nicht mehr als Veto-Akteur agieren.38 Allerdings stimmte diese Einschätzung nicht. Der deutsche heterogene Protestantismus war ein gänzlich ungeeignetes Objekt, um ihn in seiner Gänze auf eine ideologische Linie im Sinne des Nationalsozialismus zu bringen. Daher verwundert es nicht, dass nach der scheinbaren Gleichschaltung massiver innerprotestantischer Widerstand aufkam. Der Widerstand formierte sich zunächst als Pfarrernotbund unter der Führung von Martin Niemöller. Anlass für die Formierung war der „Arierparagraph“, der auch auf kirchlicher Ebene Anwendung finden sollte.39 Nachdem die Generalsynode den Beschluss dazu fasste, kam es zu heftigen Protesten im theologisch-protestantischen Milieu. Der Pfarrernotbund um Martin Niemöller sah darin grundlegende Bekenntnisinhalte der evangelischen Kirche verletzt.40 Mitglieder des Pfarrernotbundes und Vertreter der restlichen intakten Landeskirchen, die nicht von den Deutschen Christen infiltriert waren, luden zu einer ersten Bekenntnissynode ein.41 Diese erste Bekenntnissynode, aus der die Barmer Theologische Erklärung hervorging, kann als Schlüsselmoment des innerprotestantischen Diskurses im Umgang mit dem NS-Staat gelten. Die Bekennende Kirche und die Barmer Theologische Erklärung fungierten als Gegenbewegung zu den Deutschen Christen. Karl Barth, ein Anhänger der Bekennenden Kirche und federführend in der Ausarbeitung der theologischen Erklärung, brachte die Königsherrschaft Christi als Gegenmodel zur ZRRL in Stellung. Danach existiert keine Eigengesetzlichkeit des politischen Raums. Auch das Politische untersteht der göttlichen Herrschaft. Die von den Deutschen Christen interpretierte ZRRL und der angebliche lutherische Bezug dazu gingen einfach 38 Vgl. B. Scholz (Anm. 4), S. 361. 39 Hier ist die Ambivalenz des deutschen Protestantismus erkennbar, die mit einer gewissen Doppelmoral einhergeht. Einerseits wurde die Einführung des Arierparagraphens auf staatlicher Ebene weitestgehend hingenommen. Kritik dazu war, wenn überhaupt, nur moderat vorhanden. Andererseits war die Einführung des Arierparagraphens auf kirchlicher Ebene für viele Protestanten ein häretischer Akt und schlichtweg inakzeptabel. 40 Vgl. C. Strohm (Anm. 27), S. 36f. 41 Vgl. Wolfgang Wippermann, Januskopf – Reformation und das Verhältnis von Staat und Kirche, in: Ansgar Klein/Olaf Zimmermann (Hrsg.), Impulse der Reformation: Der zivilgesellschaftliche Diskurs, Wiesbaden 2017, S. 41-50, hier: S. 46.
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nur fehl, da Luther zwar die zwei Sphären (weltlich und geistlich) faktisch separierte, aber über diesen immer der allmächtige Gott stand. Somit hatte Luther eher einen theozentrischen als einen strikt dualistischen Blick auf die ZRRL. Diese Fehlinterpretation wirkte sich – das wird der Beitrag zeigen – noch bis in die bundesrepublikanischen Jahre aus. Der Ausbruch des 2. Weltkrieg veranlasste den deutschen Protestantismus mitnichten zu einem Kurswechsel gegenüber dem Staat. Vielmehr kam es gerade jetzt darauf an, dem „Führer“ die volle religiöse Unterstützung zukommen zu lassen. Selbst staatskritische protestantische Kreise suchten mit dem Ausbruch des Krieges den nationalen Schulterschluss. Auch der mittlerweile internierte Martin Niemöller meldete sich vom Konzentrationslager aus freiwillig zum Kriegsdienst bei der Marine.42 Die Bekennende Kirche hielt sich mit theologischen Stellungnahmen zum Holocaust bedeckt. Erst im Jahr 1943 kam es im Rahmen der 12. Bekenntnissynode zu einer Verlautbarung, welche die Ermordung der Juden nun endlich verurteilte.43 Insgesamt ist die Haltung des deutschen Protestantismus zum NS-Staat als durch und durch ambivalent zu beschreiben. Auch wenn es „den“ deutschen Protestantismus aufgrund dessen Heterogenität nicht gibt, so sind doch einige grundlegende Etappen des Protestantismus im Verhältnis zum NS-Staat erkennbar, die von Ablehnung – vor allem der evangelischen Kirchenführung – bis hin zur vollen Loyalität reichen. Mitnichten ambivalent ist der Sachverhalt, dass die Zeit des Nationalsozialismus als gänzlich ungeeignete Quelle für einen demokratischen Erinnerungsort gelten kann, an den der deutsche Protestantismus nach 1945 hätte anknüpfen können. 6. Die Bundesrepublik Deutschland – Politisches Neuland für den Protestantismus „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“44 Was im Jahre 1985 auf breiten Konsens stieß, war unmittelbar nach Kriegsende aber keine Selbstverständlichkeit, auch für den deutschen
42 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 192. 43 Vgl. C. Strohm (Anm. 27), S. 98f. 44 Richard v. Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, Bonn 1985, S. 2.
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Protestantismus nicht.45 Der Protestantismus empfing den neuen Staat – die parlamentarische Demokratie – keineswegs mit offenen Armen. Das Verhältnis zum neuen Staat war lau bis unterkühlt. Schon während der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat war die protestantische Positionierung zum neu zu schaffenden Staat – der wissentlich demokratischer Natur sein wird – erkennbar. Während der Katholizismus durch den Kölner Bischof Kardinal Frings seine Interessen zu vertreten wusste und an der Kreierung des neuen Staates aktiv mitwirkte, übte sich der deutsche Protestantismus in einer Mischung aus Ignoranz, Lethargie und – das Trauma um die „deutsche Tragödie“ war noch ganz frisch – Passivität. Viel zu spät erst schaltete sich der Protestantismus in die Verhandlungen ein.46 Das identitätsstiftende Moment für das neue Land – für die Demokratie – verpasste der Protestantismus schlichtweg. Das protestantische Verständnis für die Demokratie und ihre Vorzüge musste erst verschiedene Entwicklungsstadien durchlaufen. Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die speziell im Nationalsozialismus der gründlichen Aufarbeitung bedurfte. Dazu kam es schon relativ früh. Im sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das vom Rat der EKD veröffentlicht wurde, bekundete der deutsche Protestantismus seine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Allerdings kam es zu keiner expliziten Nennung der deutschen bzw. christlichen Schuld an den Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk. Das Schuldbekenntnis war primär religiös zu verstehen. Ein kollektives Schuldeingeständnis für das Geschehene im Nationalsozialismus, das auch die politische Verantwortung inkludiert, wollte bzw. konnte der deutsche Protestantismus noch nicht abgeben. Die Zeit dafür war noch nicht reif.47 Parteipolitisch war die Situation in den Anfangsjahren der Bundesrepublik für den Protestantismus wesentlich indifferenter als für den Katholizismus. Während Katholiken mit der CDU eine Partei vorfanden, die Kontinuitäten mit der Zentrumspartei aufwies und schon in der Weimarer Republik viele Katholiken beheimatete, war die Lage für die Protestanten nicht so eindeutig.48 Einer der führenden Protagonisten im deutschen Protestantismus der 1950er und 1960er Jahre war Gustav Heinemann. Nach-
45 Vgl. C. Strohm (Anm. 27), S. 111. 46 Vgl. Michael Klein, Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien, Tübingen 2005, S. 444. 47 Vgl. M. H. Jung (Anm. 10), S. 211. 48 Vgl. Martina Steber, Der Hüter der Begriffe: Politische Sprachen der Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1980, Berlin 2017, S. 188.
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dem er 1952 aus der CDU ausgetreten war, gründete er die Bewegung „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“. Sie lehnte größtenteils Adenauers Politik der Westintegration und der Wiederbewaffnung ab. Aus ihr ging mehrheitlich die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) hervor. Obwohl diese bei der Bundestagswahl 1953 mit 1,2 Prozent spektakulär scheiterte und später überwiegend in die SPD überging,49 hatte der Werdegang von der Bewegung zur Partei doch eines gezeigt: Durch die Gründung der Partei wandte man sich von dem klassischen Bewegungsgedanken – in Form einer neutralistischen außerparlamentarischen Opposition – ab. Dies und das Aufgehen der erfolglosen GVP in die SPD illustrieren den Ausschnitt eines Verständnisprozesses für die parlamentarische Demokratie, der im deutschen Protestantismus langsam zu reifen begann.50 A priori waren Anklänge demokratischer Ideen und Überzeugungen im deutschen Protestantismus keinesfalls populär bzw. gehörten dem protestantischen „Mainstream“ an. Vielmehr waren es vorwiegend kleine Kreise im protestantischen Milieu, die schon in den jungen Jahren der Bundesrepublik die Demokratie mit ihren Werten verinnerlichten und propagierten. Einer von diesen war der Kronberger Kreis. In ihm fanden sich Protagonisten zusammen, die eine Synthese aus deutsch-lutherischen und westlich-demokratischen Ideen bildeten. Initiatoren des Kreises waren Eberhard Müller, Gründer der Evangelischen Akademie in Bad Boll; Reinold von Thadden, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages und Hanns Lilje, Landesbischof von Hannover. Ziel des Zusammenschlusses war es, eine effektive Interessenvertretung der Protestanten im öffentlichen Raum zu lancieren. Darüber hinaus sollten politische und gesellschaftliche Debatten mehr Raum erhalten.51 Der Kronberger Kreis mit seinem genuinen Mischansatz aus deutsch-lutherischen und westlich-demokratischen Ideen wirkte angesichts des wirtschaftlichen und politischen Erfolgs der Bundesrepublik zunehmend attraktiv auf die nachwachsende Generation, die den deutschen Weststaat immer mehr als Selbstverständlichkeit betrachtete und bereit war, sich in diese Gegebenheiten hineinzufinden. Genau hier setzte der Kronberger Kreis an. Bestimmte Themen wurden durch eine Mischform aus deutsch-lutherischen und westlich-demokratischen Denk-
49 Vgl. B. Scholz (Anm. 4), S. 468. 50 Vgl. Michael Klein, Die Rolle der EKD im Demokratisierungsprozess nach 1945, in: Julia Leininger (Hrsg.), Religiöse Akteure in Demokratisierungsprozessen. Konstruktiv, destruktiv und obstruktiv, Wiesbaden 2013, S. 83- 101, hier: S. 97. 51 Vgl. Thomas Sauer, Der Kronberger Kreis, in: Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hrsg.), Gesellschaftliche Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit, Münster 2002, S. 37-62, hier: S. 38.
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kategorien besetzt, so dass der Raum für Verfechter traditioneller, autoritärer und antidemokratischer Ideen im deutschen Protestantismus sukzessive schrumpfte. Der gesellschaftliche Widerhall von anti-bundesrepublikanischen Ressentiments und der Aktionsradius tradierter antidemokratischer Konventionen wurden somit minimiert. Infolgedessen sank die Zahl derer, die aus nationalistischen Gründen oder aufgrund der Ablehnung des politischen Systems auf Distanz zur Bundesrepublik gingen.52 Auch wenn die Reichweite der vom Kronberger Kreis vertretenen Anschauungen nicht exakt ihre Bestimmung finden konnte, so fielen die Ideen und Vorstellungen desselben mitnichten auf unfruchtbaren Boden im deutschen Protestantismus.53 Den ersten großen Schritt in Richtung „vollumfängliches Bekenntnis“ zur parlamentarischen Demokratie tat das Tübinger Memorandum. Unter der Devise „Mehr Wahrheit in der Politik!“ verfassten 1961 acht hochangesehene Persönlichkeiten – allesamt Protestanten – eine Denkschrift, in der sie der politischen Führung vorwarfen wesentliche Realitäten gegenüber der Bevölkerung zu verschleiern und dringend gebotene Entscheidungen zu verschleppen.54 Die Verfasser waren ohne Zweifel mit „freiheitlich-demokratischem Sendungsbewusstsein ausgestattet und suchten die politische Öffentlichkeit, um ihr Anliegen jenseits überkommener theologischer Lager und ohne kirchenleitende Autorisierung zur Geltung zu bringen“55. Sie vertraten eine selbstbewusste Meinung, die sich an liberal-demokratischen Werten orientierte und zu dieser Zeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit im deutschen Protestantismus darstellte.56 Besonders die Tatsache, dass eine kleine Gruppe von Protestanten losgelöst von der EKD agierte und die darüber hinaus noch eine dezidiert andere Position vertrat als der Ostkirchenausschuss der EKD, zeigte ein Diskursverhalten, das einer parlamentarischen Demokratie würdig war. Neben dem innerprotestantischen Diskurs – es ging um die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – geriet die Debatte auch in den gesellschaftlichen Strudel der
52 Vgl. ebd., S. 60. 53 Vgl. ebd., S. 61f. 54 Vgl. Martin Greschat, „Mehr Wahrheit in der Politik!“ Das Tübinger Memorandum von 1961, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 48 (2000) 3, S. 491-513, hier: S. 491. 55 Hans Michael Heinig, Der Protestantismus in der deutschen Demokratie, unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/staat-und-religion-der-protestant ismus-in-der-deutschen-demokratie-13764878-p4.html. 56 Vgl. Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005), Leipzig 2010. S. 84.
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Bundesrepublik. Das Memorandum, speziell die Thematik der Oder-Neiße-Grenze, wühlte die bundesrepublikanische Bevölkerung auf. Es kam zu einer regelrechten Flut von schriftlichen Stellungnahmen – vorwiegend gerichtet an Joachim Beckmann, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland –, die sich meist gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen.57 Der deutsche Protestantismus präsentierte sich als aktiver Teilnehmer des öffentlichen-demokratischen Diskurses. Aufgrund der öffentlichen Resonanz, die das Tübinger Memorandum erzielte, sah sich die EKD veranlasst, die Thematik der Oder-Neiße-Grenze und den damit inkludierten Aspekt der ehemaligen deutschen Ostgebiete direkt aufzugreifen. Die sogenannte Ostdenkschrift von 1965 sollte den Boden für eine veränderte Ost-Politik bereiten. Es ging um das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Die Kategorie der Versöhnung sollte Einzug in die Politik halten, um den Weg für ein neues politisches Handeln zu ermöglichen. Doch wie sollte dies seine Formulierung finden, ohne dass es zu provokativ klang? Denn der Kern der Denkschrift zielte darauf, die Bundesregierung zum Nachdenken darüber zu animieren, ob es nicht sinnvoll wäre, den Anspruch auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete fallen zu lassen. Sowohl aus politischer als auch aus protestantischer Sicht ein mehr als heikles Terrain. Es gab parteiübergreifend Konsens darüber, dass eine Verzichtserklärung auf die ehemaligen Ostgebiete einem politischen Selbstmord gleichkommen würde. Auf potentielle Wählerstimmen von zwei Millionen Vertriebenen konnte keine Partei verzichten. Auch der deutsche Protestantismus befand sich mehr oder weniger in einer Zwickmühle. Die allermeisten Vertriebenen waren protestantisch. Ein offizieller Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete seitens der EKD hätte einem Verrat geähnelt. Nach Veröffentlichung der Denkschrift kam es, wie schon beim Tübinger Memorandum, zu heftigen Debatten. In den 1960er Jahren galt eine Positionierung bezüglich der Ostgebiete, so wie sie die EKD einnahm, als Tabubruch, da sowohl innerkirchlich als auch politisch ein Antasten dieser „heiligen Kuh“ bis dato außer Frage stand. In der politischen Sphäre herrschte regelrechte Erleichterung, dass nicht die Politik den ersten Schritt gehen musste – durchaus erkannten die politischen Akteure, dass eine Aussöhnung mit Polen und die daran anschließende neue Ostpolitik nur über den Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete überhaupt eine Chance hatte –, sondern ein gesellschaftlicher Akteur diesen entscheidenden Schritt wagte: der deutsche Pro-
57 Vgl. ebd., S. 82f.
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testantismus.58 Die Ostdenkschrift war eine von vielen Wegmarken, auf denen das Bewusstsein für eine demokratische Streitkultur und eine pluralistische Gesellschaft im Protestantismus sukzessive geschult wurde. Im Jahre 1985 wurde nun – sinnbildlich gesprochen – der letzte Schritt zum „vollumfänglichen Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie“ vollzogen. Erstmalig bekannte sich der deutsche Protestantismus ohne Einschränkungen zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Das Bekenntnis zur Demokratie begründete die EKD mit dem Menschenbild, das einen wesentlichen Konvergenzpunkt darstellt. Alle Menschen seien durch Gott geschaffen, so dass jedem einzelnen die unantastbare Würde zuteilwerde. Gleichzeitig seien die Regierenden mitnichten unfehlbar, ergo müsse jeder Machtausübung Grenzen gesetzt werden. Eine Einsicht, die so plausibel klingt, dass die frühere Trennung von Christentum und Demokratie fast schon als Antagonismus erscheint und der verbindende Charakter der Beiden als Selbstverständlichkeit schlechthin.59 7. Protestantismus-Demokratie – eine geglückte Reise In dem Beitrag konnte gezeigt werden, dass das Verhältnis zwischen Protestantismus und Demokratie in den frühen Jahren der Bundesrepublik durchaus ein schwieriges – ein historisch belastetes – war. Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Dem Protestantismus fehlte es an demokratischen Reminiszenzen in der Geschichte, die als „Blaupause“ für ein Verständnis um den neuen Staat hätten dienen können. Die Weimarer Episode war zu kurz, um grundlegende demokratische Werte und Spielregeln zu vermitteln. Sie war deshalb ein untaugliches Objekt für etwaige positive demokratische Erfahrungen. Allenfalls taugte sie im protestantischen Verständnis als demokratisches Schreckgespenst, das in keiner Weise anstrebenswert war. Auch der Nationalsozialismus förderte nicht die positiven Lebenseinsichten der parlamentarischen Demokratie im Protestantismus. Vielmehr erfuhr dieser hier eine negative Konnotation des starken – autoritären – Staates, ein Verständnis, das im Protestantismus seit der Reformationszeit 58 Vgl. Rainer Brandes, 50 Jahre danach. Die Wirkungsgeschichte der Ostdenkschrift der EKD, unter: https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-danach-die-wirkungsge schichte-der-ostdenkschrift.886.de.html?dram:article_id=334508 59 Vgl. Wolfgang Huber, Der Protestantismus im politischen Wandel 1965-1985, in: Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hrsg.), Umbrüche: der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, S. 383-399, hier: S. 389.
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fest verankert ist und diametral zum demokratischen Wertekanon der Bundesrepublik Deutschland steht. Die Wurzel des anfangs fehlenden Demokratieverständnisses seitens des Protestantismus in der jungen Bundesrepublik liegt in der Reformationszeit. Der Zusammenhalt von Thron und Altar trug in den kommenden Jahrhunderten mitnichten zu einem liberalen, offenen, demokratischen Staatsverständnis im Protestantismus bei. Der Staat, der fürstliche Territorialstaat, war monarchisch-autoritärer Natur. Damit war der protestantisch verstandene Staat im Idealfall immer ein monarchischer – wie in der Kaiserzeit –, aber wenigstens ein autoritärer – wie im Nationalsozialismus. Vertrauen und Zutrauen in den offenen demokratischen Staat musste sich der Protestantismus erst mühsam aneignen. Dieser Prozess begann 1949 und fand 1985 – mit der Demokratiedenkschrift – seinen Höhepunkt. Dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen. Vielmehr unterliegt die Interaktion von Demokratie und Protestantismus einer fortlaufenden Dynamik. Auf der einen Seite müssen sich die Politik und die Gesellschaft weiterhin zukünftigen Herausforderungen stellen, die auch immer wieder eine Bewährungsprobe für die Demokratie sein werden. Auf der anderen Seite muss auch der Protestantismus – um seiner Existenz willen – Teil dieses Prozesses sein, um als adaptive, integrierende und interagierende Kraft zu wirken.
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Blickrichtung Westen? „Wilde“ CSU-Gründungen im Winter 1989/90 und ostdeutsche Vorstellungen vom bundesrepublikanischen Parteiensystem Jens Weinhold-Fumoleau
1. Perspektivwechsel auf die CSU/DSU-Kooperation „Das ganze Jahr 1990 hatten wir noch gehofft, CSU zu werden, was von Seiten der CSU-Führung leider strikt abgelehnt wurde.“ So beschrieb der frühere Parteivorsitzende Hansjoachim Walther im Jahr 2000 das Unglück seiner Deutschen Sozialen Union (DSU) mit der eigenen Identität. Nach kurzzeitigen Erfolgen in der Volkskammer der DDR hätte seine Partei wegen Streitigkeiten um den passenden Namen und die richtige Strategie schon im Herbst 1990 an politischer Bedeutung verloren. Viele Mitglieder haben der Partei oder gar der Politik an sich mittlerweile den Rücken gekehrt. „Das Herz aber schlägt noch im DSU-Takt, und die Affinität zur Bayerischen CSU ist ungebrochen.“1 Identifikation trotz Bevormundung – so lässt sich schlagwortartig die gängige Erzählung über die ostdeutsche DSU und ihr spannungsgeladenes Verhältnis zu ihrer bayerischen „Schwesterpartei“ zusammenfassen.2 Eine
1 Hansjoachim Walther, Das Profil meiner Fraktion, Positionen und Bilanz, in: Richard Schröder/Hans Misselwitz (Hrsg.), Mandat für die deutsche Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz, Opladen 2000, S. 183-190, hier S. 189. Der Mathematikprofessor aus Illmenau (1939–2005) war seit Gründung der Partei am 20. Januar 1990 stellvertretender Bundesvorsitzender gewesen. Er führte die DSU-Fraktion in der Volkskammer und wurde im Juni 1990 für ein Jahr Parteichef. Im Zuge der Entfremdung von DSU und CSU wechselte Walther 1993 zur CDU. 2 Dass die parteipolitischen Weichenstellungen im Westen erfolgt seien, gehört zu den Gemeinplätzen des Einheitsjahres. Vgl. Michael Weigl, Kein Platz für Legenden. Die westdeutschen Parteien im Einigungsprozess, in: Andreas H. Apelt/ Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.), Der Weg zur Deutschen Einheit. Mythen und Legenden, Berlin 2010, S. 127-141.
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Abweichung vom üblichen Skript besteht gleichwohl, da hier ein ostdeutscher Akteur seine Sicht der Dinge darlegt, was sonst die Ausnahme darstellt. Für viele von ihnen wie auch Hansjoachim Walther bildeten die rund zwölf Monate zwischen den Massendemonstrationen in Plauen, Dresden, Leipzig und der Wiedererlangung der staatlichen Einheit im Folgejahr allerdings den Höhepunkt ihrer politischen Karrieren.3 Deswegen widmet sich dieser Beitrag dem ostdeutschen Erwartungshaushalt. Warum war für Walthers Anhänger der Namen „CSU“ so bedeutend? Zwar wurden die Vorhaben im Winter 1989/90, eine „CSU des Ostens“ zu gründen, vereinzelt als hoffnungsvolle Projekte etikettiert, gleichwohl blieben die zugrundeliegenden Wahrnehmungen und Erwartungen bislang unklar.4 Dagegen beruht diese Untersuchung auf der Prämisse, nicht nur die CSU-Machtzentren5 seien bei ihren Planspielen von individuellen Eindrücken und spezifischen Zukunftserwartungen geprägt gewesen. Auch ihre DDR-Kontakte operierten auf der Grundlage von Annahmen. Ihre Vorstellungen betrafen nicht allein den gegenwärtigen Zustand der DDR oder den weiteren Verlauf der „Wende“, sondern sie formulierten auch teils implizit, teils explizit Vermutungen über sich selbst und ihr eigenes Potential, sowie über ihre Partner, deren Ziele und Leistungsvermögen. In der Kommunikation der Politiker untereinander können indirekte Einblicke in die Vorstellungen gewonnen werden, welche im Osten über die Beschaffenheit des Parteiensystems in der Bundesrepublik und die Rollen der verschiedenen Parteien zirkulierten. Diese sollen im Folgenden am Beispiel der CSU offengelegt werden. Die eingangs zitierten Worte von Hansjoachim Walther dokumentieren ein historisches Verlangen, „CSU zu werden“. Um diesem nachzuspüren, werden jene Gruppen analysiert, die sich in der untergehenden DDR des CSU-Kürzels bedienten und mit der „bayerischen
3 Die beste Darstellung zur DSU bildet noch immer Wolfgang Jäger/Michael Walter, Die Allianz für Deutschland. CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union 1989/90, Köln 1998, S. 149-202. Vgl. außerdem die Charakterisierungen der DSU bei Michael Richter, Die Bildung des Freistaats Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, Göttingen 2004, S. 95f., 141-144, 663-667. 4 Vgl. André Freudenberg, Freiheitlich-konservative Kleinparteien im wiedervereinigten Deutschland, Leipzig 2009, S. 277, 287-290; Andreas Schulze, Kleinparteien in Deutschland. Aufstieg und Fall nicht-etablierter politischer Vereinigungen, Wiesbaden 2004, S. 174-176. 5 Vgl. Andreas Kießling, Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004, S. 170-176.
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Staatspartei“6 zu kooperieren suchten. Wie präsentierten sie sich selbst, welche Forderungen vertraten sie? Welches Bild entwarfen sie von der bayerischen CSU? Und was verraten diese Initiativen über ostdeutsche Vorstellungen vom bundesrepublikanischen Parteiensystem? Zur Beantwortung dieser Fragen analysiert der vorliegende Beitrag sowohl die öffentlichen Proklamationen aus der untergehenden DDR als auch die bilaterale Kommunikation mit der CSU-Landesleitung in München sowie Presseberichte.7 2. Christlich-Soziale Gründungsinitiativen in der DDR ab November 1989 Die am 20. Januar 1990 als Fusion eines Dutzends CSU-naher Gruppierungen gebildete Deutsche Soziale Union steht in keiner direkten Verbindung zur vorrevolutionären Oppositionellenszene.8 Erst mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig lassen sich politische Aktivitäten der späteren „Deutschsozialen“ feststellen. Nach den entscheidenden Massenprotesten im Oktober9 traten sie öffentlichkeitswirksam auf und nutzten die während der „Freiheitsrevolution“ erkämpften Grundlagen. Sie profitierten, teilweise aus dem Kreis des „Neuen Forums“ heraus, von den neuen Möglichkeiten ohne Furcht vor direkten Sanktionen Forderungen aufstellen und sich parteipolitisch organisieren zu können. Konträr zu den früher entstandenen systemimmanenten „Bürgerbewegungen“ oder den Oktobergründungen „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP) und „Demokratischer Aufbruch. Sozial – ökologisch“ (DA) zielten sie dabei nicht auf eine Demokratisierung und somit den Erhalt einer reformierten DDR.10 Stattdessen vertraten die DSU-Vorläufer mehrheitlich im Süden des vor-
6 Vgl. zur Selbstinszenierung und Wahrnehmung der CSU als „bayerische Staatspartei“ Thomas Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung: Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998, S. 1. 7 Der Beitrag beruht unter anderem auf Recherchen des Verfassers in jüngst freigegeben Beständen im Archiv Bürgerbewegung Leipzig (ABL) und im Archiv für Christlich-Soziale Politik in München (ACSP). Das Gros der zitierten Unterlagen stammt aus einem in der CSU-Landesleitung ab 1990 geführten Büro zur Betreuung der Schwesterpartei DSU: ACSP - B. Parteigremien - 1. CSU-Landesleitung CSU/DSU-Koordinierungsbüro (im Folgenden zitiert als ACSP, B 1, CSU/DSU). 8 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, bes. Abschnitt VIII, S. 825-903. 9 Vgl. ebd., S. 850-864. 10 Vgl. Gerda Haufe/Karl Bruckmeier (Hrsg.), Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern, Opladen 1993; Karsten Timmer, Vom
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geblichen „Arbeiter- und Bauernstaates“ lebende Bürger, die sich ab November für die weitere Öffnung der DDR und ihr Aufgehen in der Bundesrepublik einsetzten.11 Eine der Gruppierungen, die diese „nationale Phase“12 der Friedlichen Revolution verkörperten, war die in Leipzig von dem Physiker Joachim Hubertus Nowack ins Leben gerufene „Christlich Soziale Union in Sachsen und Thüringen – CSU (S/Th)“.13 Diese verstand sich als „Partei der Mitte“, wie sie in ihrem Gründungsaufruf vom 27. November 1989 verkündete. Einen Tag bevor Bundeskanzler Helmut Kohl im Deutschen Bundestag sein Zehn-Punkte-Programm vorstellte, forderte Nowack „den Menschen in unserem Lande eine reale Perspektive zu geben und die Einheit unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit zu vollenden“. Aus „christlicher und nationaler Verantwortung“ wolle sich seine Neugründung einsetzen für Pluralismus und Gewaltenteilung, Meinungs- und Presse- sowie Eigentums- und Wettbewerbsfreiheit und die soziale Markwirtschaft. Neben diesen währenddessen bei vielen Montagsdemonstrierenden zu findenden Forderungen zeichnete sich die CSU (S/Th) aus durch ein Eintreten für die „Wiederbelegung und Erhaltung des deutschen landschaftsgebundenen Brauchtums“ sowie für die Wiedergründung der Länder. Das Fundament für diese programmatische Ausrichtung erläutert Nowack in seinem Rundbrief von Anfang Dezember. Demnach würde das Fehlen einer Partei nach dem Vorbild der westdeutschen CDU/CSU im Osten eine „sogn. Marktluecke“ konstituieren.14 Die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) und die Blockparteien besäßen kein Vertrauen in der Bevölkerung mehr, gleichzeitig bestünden Vorbehalte gegenüber den Neugründungen des Herbstes als ideologisch zu links sowie in ökonomischen und nationalen Fragen dilettantisch. Die CSU (S/Th) wiederum sei in Übereinstimmung mit der Migrationspolitik der „bayerischen Staats-
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Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000. Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, Bonn 2010, S. 118-124. Andreas H. Apelt, Die Entwicklung der deutschen Frage zwischen 7. Dezember 1989 und 18. März 1990, in: ders./Martin Gutzeit/Gerd Poppe (Hrsg.), Die deutsche Frage in der SBZ und DDR. Deutschlandpolitische Vorstellungen von Bevölkerung und Opposition 1945-1990, Berlin 2010, S. 237-247, hier S. 238. Hier und im Folgenden nach „Gruendungsaufruf […] CSU (S/TH)“, hrsg. v. Joachim Hubertus Nowack, Leipzig, 27.11.1989, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 40. „argum02. Argumente fuer die Gruendung der CSU in Sachsen und Thueringen“, hrsg. v. Joachim Hubertus Nowack, Leipzig, 6.12.1989, in: ebd. Hiernach auch die folgenden Zitate.
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partei“ eine „Bastion gegen sogn. multikulturelle Experimente“. Aus gesamtdeutscher Sicht betrachtet böte seine Partei zudem der bayerischen CSU eine Basis, um sich auf Sachsen und Thüringen auszudehnen. Nowack erwartete im Osten eine „Parteienlandschaft nach Wiedervereinigung aehnlich bzw. genau wie zur Zeit in der Bundesrepublik“. Bezeichnenderweise bezog er sich auf Diskussionen über das Binnenverhältnis der Unionsparteien, wie sie zu dieser Zeit in der westdeutschen Tagespresse geführt wurden.15 Die Leser seines Schreibens beruhigte er, Widerspruch durch die CDU sei „jetzt politisch nicht opportun“ und daher kein offener Konflikt zu befürchten.16 Diese Ausführungen verbreitete Nowack mittels eines maschinenschriftlichen Rundbriefs, der im privaten Kreis verteilt oder auf den Leipziger Montagsdemonstrationen von Hand zu Hand gereicht wurde. Er bezieht sich dabei auf einen Informationsstand, der eine längere Auseinandersetzung mit dem Parteiensystem in der Bundesrepublik voraussetzte. Immerhin war es 13 Jahre her, dass die CSU auf eine Ausdehnung in das restliche Bundesgebiet zur Erschließung weiterer konservativer Wähler spekuliert hatte.17 Während das in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren verbreitete Konzept der „Marktlücke“ oder das neue Schlagwort des „Multikulturalismus“ noch eingeführt werden mussten, schien das historische Spannungsverhältnis zwischen CDU und CSU dem Leipziger Nowack nicht mehr erklärungsbedürftig. Die programmatischen Ausführungen des Ost-CSU-Gründers spiegeln, was die westliche Presse und der Rundfunk bis in die DDR hinein verbreitet hatten. Die CSU stand auch im Osten für christliche Werte, eine konservative Grundhaltung und das Streben nach nationaler Einheit. Im Gegensatz zur technokratischen Sprache des westdeutschen Politikdiskurses schien eine inhaltliche Übersetzung zwischen West und Ost nicht notwendig.
15 Peter Schmalz, CSU plant ihr Kreuth in Leipzig, in: Die Welt, 6.12.1989. 16 „argum02“ (Anm. 14). 17 Die Unionsparteien waren bei der Bundestagswahl 1976 daran gescheitert, die Regierungsverantwortung zurückzugewinnen. Die CSU-Landesgruppe beschloss darum in Wildbad Kreuth, die seit 1949 mit der CDU bestehende Fraktionsgemeinschaft nicht fortzusetzen. Die CSU-Abgeordneten erhofften sich, als eigenständige Opposition im Bundestag ein konservatives Gegengewicht zur sozialliberalen Koalition bilden zu können. Der „Kreuther Trennungsbeschluss“ wurde aber umgehend kassiert, nachdem die CDU im Gegenzug gedroht hatte, in Bayern einen Landesverband zu etablieren. In der Folge trat die CSU wie zuvor in Bayern zu Wahlen an, die CDU in der gesamten Bundesrepublik mit Ausnahme Bayerns. Vgl. Alf Mintzel, Der Fraktionszusammenschluß nach Kreuth. Ende einer Entwicklung?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 8 (1977) 1, S. 58-76.
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Von der einhelligen Übereinstimmung ihrer unverhofften Nachahmerin konnten sich die bayerischen Christlich-Sozialen wenig später selbst ein Bild machen. Wie ein interner Vermerk für den CSU-Generalsekretär Erwin Huber belegt, stellte Joachim Hubertus Nowack seine Ideen einer um Südmitteldeutschland erweiterten CSU am 12. Dezember 1989 in der Münchner Landesleitung vor.18 Gestützt auf die katholischen Gemeinden im Osten, mit denen er über den Bischof von Dresden-Meißen Joachim Reinelt in Kontakt stehe, könnten in Sachsen und Thüringen in kurzer Zeit 600 Wahlkampfbüros für die CSU eröffnet werden. Durch ihre scharfe Abgrenzung von der SED habe die CSU die entsprechende Zugkraft bei den Wählern. Nowack selbst sei bereit, „sofort loszuschlagen, wenn er grünes Licht von der CSU in Bayern bekäme“. In der Landesleitung hinterließ dies großen Eindruck, Nowack schien „ein hundertfünfzigprozentiger CSU-Mann zu sein“. „Die geforderte massive Unterstützung“ wurde ihm dennoch vorerst nicht zugesagt. Das Treffen, welches nur durch Berichte aus bayerischer Sicht dokumentiert ist, machte Nowack auf einen Schlag zu einem der wichtigsten Ansprechpartner der CSU in der untergehenden DDR und versetzte ihn wiederum in die Lage, in seiner Heimat mit dem Kontakt nach München zu werben. Selbst in der bayerischen Presse wurde Nowacks großer Auftritt erwähnt: „Der ‚Demokratische Pioniergeist‘ in der DDR sorgt auch für ungewöhnliche Ereignisse. So rollte vor zwei Tagen direkt aus Leipzig nach zwölfstündiger Fahrt ein DDR-Bürger mit einem Gründungsaufruf für eine ‚Christlich Soziale Union‘ (CSU) in Sachsen mit seinem Wartburg in die Münchner Parteizentrale. ‚Jetzt geht’s los‘, verkündete er.“19 Die aus Nowacks forschem Auftreten sowie dessen journalistischer Verarbeitung abzulesende Annahme, die CSU stünde sofort zur Aktion bereit, entsprach allerdings in mindestens fünffacher Hinsicht nicht der Sachlage: Erstens bestand in den CSU-Führungsgremien noch lange keine Klarheit, wo und in welcher Form sich die „bayerische Staatspartei“ in der untergehenden DDR engagieren sollten.20 Zweitens überschätzte Nowack die Handlungsbefugnis der CSU-Parteizentrale bei einer so weitreichenden Entscheidung. Drittens verfügte sie nicht über die notwendigen Ressourcen, um aus dem Stand in einem unbekannten Umfeld eine neue Partei 18 Vermerk für Erwin Huber, [12.12.1989], bzgl. „Gesprächsnotiz Joachim Nowack“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 40. 19 CSU verlangt Bekenntnis zur Wiedervereinigung. Unterstützung von neuen Parteien in der DDR, in: Donaukurier, 15.12.1989. 20 Vgl. stellvertretend Peter Schmalz, Streibl für Hilfen an Ost-CDU, Huber mahnt zur Zurückhaltung, in: Die Welt, 9.1.1990.
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aufzubauen. Immerhin bereitete sich die CSU für das Jahr 1990 bereits auf einen dreifachen Wahlkampf in Bayern vor,21 unabhängig von den sich zunehmend überschlagenden Ereignissen jenseits des Eisernen Vorhangs. Viertens fehlten der CSU, trotz des jahrzehntelang gepflegten Bekenntnisses zur deutschen Einheit22, ein umsetzungsbereiter Plan für den „Tag X“ sowie, fünftens, verlässliche Informationen über die verschiedenen Organisationsbemühungen und potentielle Partner im Osten. Erst im Dezember wurde dieses Defizit hinreichend erkannt. Am 14. Dezember 1989 forderte Generalsekretär Huber seine Kreisverbände per Rundschreiben auf, alle Kontakte und eventuell geplanten Aktionen an das Franz Josef-StraußHaus zu melden.23 Ab Januar befasste sich dort ein eigener Mitarbeiter in Vollzeit mit der Koordinierung der DDR-Aktivitäten. Der Besuch Nowacks war nur eines von mehreren Zusammentreffen mit kooperationswilligen DDR-Bürgern, die den überfälligen Institutionalisierungsprozess in Gang brachten. Die gewünschte Steuerungsfähigkeit, wie sie im Osten bereits vorausgesetzt worden war, konnte aber dennoch nicht erreicht werden. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit hingegen wusste die CSU durchaus den Eindruck zu erwecken, handlungsfähig zu sein.24 So hatte der Parteivorsitzende Theo Waigel schon nach der CSU-Vorstandssitzung vom 30. Oktober 1989 verlauten lassen, bei den richtigen Rahmenbedingungen über ein unterstützendes Engagement seiner Partei nachzudenken, in der Art wie dies von ihm bereits mehrfach aus dem Osten gefordert worden sei. Man wolle sich indessen zum aktuellen Zeitpunkt auf nichts festlegen. Zur Profilierung ihrer deutschlandpolitischen Positionen nutzte die Partei einerseits im November ihren Münchner Parteitag, wozu auch Übersiedler und Besucher aus der DDR eingeladen waren. Andererseits konnte sie sich auf die fortwährende Berichterstattung der Korrespondenten der großen westdeutschen Tageszeitungen und Politikmagazine verlassen, die eine stetig wachsende ostdeutsche Leserschaft fanden. Beim Pressegespräch in München am 14. Dezember 1989 verkündete Erwin Huber seine Absicht, an den bevorstehenden Parteitagen der „Christlich Demokratischen Union Deutschlands“ und des DAs teilzunehmen und ebenso die Entwicklung
21 In Bayern fanden Kommunal- (18.03.), Landtags- (14.10.) und Bundestagswahlen (2.12.1990) statt. 22 Vgl. Dieter Blumenwitz, Die Christlich-Soziale Union und die deutsche Frage, in: Manfred Baumgärtel/Burkhard Haneke (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU. 1945-1995, München 1995, S. 333-365. 23 ACSP, B 1, CSU/DSU 36. 24 Zum Folgenden Kießling (Anm. 5), S. 170f. Vgl. ebd. die konzise Zusammenfassung zu den bayerischen Planspielen im Osten.
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der verschiedenen Parteineugründungen genau zu beobachten. Denn „[t]agtäglich träfen in der Münchner CSU-Zentrale Kontaktwünsche von neuen Gruppierungen aus der DDR ein. Nicht die CSU sei in der DDR auf Brautschau, sie fühle sich vielmehr wie ein umworbener Bräutigam. Aber erst, wenn Programm und Führungspersönlichkeiten feststünden, ‚sich Spreu von Weizen getrennt hat‘, werde sich die CSU entscheiden.“25 Ostdeutsche CSU-Sympathisanten wurden von diesem medialen Arrangement, das die – vermeintlichen – Unterstützer privilegierte, stark benachteiligt und fanden sich statt in der Rolle der Initiatoren, in der der Bittsteller wieder. Sie hatten viel seltener die Möglichkeit, ihre Positionen und Forderungen massenmedial zu platzieren und waren weniger darin geübt, zitierfertige Schlagworte für die unter Zeitdruck stehenden Journalisten zu liefern. Diejenigen Akteure, die sich in dieser Situation aufgrund professioneller Vorerfahrungen oder eines besonderen Charakterzuges schneller zurechtfanden, hatten einen entscheidenden Vorteil. Dem geschickten Umgang mit der sich schlagartig wandelnden Öffentlichkeit verdankten vor allem der Theologe Hans-Wilhelm Ebeling und der Jurist Peter-Michael Diestel ihren Aufstieg in den engsten Kreis der potentiellen CSU-Partner. Bereits zwei Tage vor Nowack waren sie am 25. November 1989 mit dem Gründungsaufruf für eine „Christlich Soziale Partei Deutschlands“ (CSPD) an die Öffentlichkeit getreten. Diesem folgten ab 7. Dezember26 Flugblätter mit programmatischen Forderungen, an erster Stelle nach „Staatlicher Einheit in absehbarer Zeit als Voraussetzung für eine stabile europäische Friedensordnung“.27 Weiterhin agitierten sie für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Bewahrung christlicher Grundwerte, für Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Pluralismus.28 Entgegen der Buchstabenfolge, der wie bei der SDP oder dem DA eine Nähe zur westdeutschen Sozialdemokratie und den Grünen vermuten lassen könnte, identifizierte sich die CSPD als „Partei der demokratischen Mitte“29 mit dem bürgerlich-konservativen Lager. Das öffentliche Auftreten der Gruppe war wie bei Nowacks Ost-CSU durch die „Wende“ der Massen-
25 CSU verlangt Bekenntnis zur Wiedervereinigung. Unterstützung von neuen Parteien in der DDR, in: Donaukurier, 15.12.1989. 26 Vgl. „Gründungsurkunde der CSPD“, Leipzig, 7.12.1989, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 43. 27 „Aufruf der CSPD an alle Einwohner unseres Landes“, hrsg. v. Hans-Wilhelm Ebeling u. a., Leipzig, 25.11.1989, in: ebd. 28 „Mitteilung“ [Flugblatt der CSPD], hrsg. v. Vorstand d. CSPD-Leipzig-Südost, Leipzig, [Dezember 1989], in: ABL, Plakatsammlung 001-037-002-004. 29 Aufruf (Anm. 27).
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demonstrationen motiviert, bei der die DDR-Bürger ab Mitte November 1989 zunehmend nach nationaler Einheit verlangten.30 Die CSPD verstand sich als parteipolitische Repräsentantin dieses Ziels und forderte „die staatliche Einheit der deutschen Nation über den Zwischenschritt einer Konföderation“31. Parallel mit über einem Dutzend anderer, ähnlich ausgerichteter Gruppierungen ging die CSPD wie ihre Vorreiter SDP und DA aus privaten Diskussionszirkeln im Kirchenumfeld hervor.32 Bezeichnenderweise wurde der Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling als Hausherr des Gesprächskreises der Leipziger Thomaskirche Gründungsvorsitzender der neuen Partei, die den Nukleus der im Januar 1990 entstehenden DSU bilden sollte. Ebeling und sein Generalsekretär Diestel zeigten im Winter 1989 besonderes Geschick darin, die Aufmerksamkeit im konservativen Lager auf sich zu ziehen, wofür namhafte Fürsprecher wie Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, sein Chorleiter Georg-Christoph Biller oder der Kabarettist Gunther Böhnke die Tür öffneten.33 Vor allem Hans-Wilhelm Ebeling besaß dank seiner prestigeträchtigen beruflichen Stellung als Pfarrer einer berühmten Gemeinde gute Voraussetzungen. Er hatte dank früherer Westreisen Kontakte mit verschiedenen westlichen Politikern, war im Sprechen vor großen Menschenmengen und den Medien geübt und strahlte eine natürliche Autorität aus. Ohne Zurückhaltung knüpfte die CSPD-Führungsriege Beziehungen zu potentiellen Partnern im Westen und drängte auf Macht und mediale Präsenz, zumal sie nicht unter dem sonst allgegenwärtigen Mangel an Papier beziehungsweise Druckkontingenten litt.34 Zu den Partnern gehörte unter anderen der bayerische Ministerpräsidenten Max Streibl, der Ebeling nach einem persönlichen Treffen als eindrucksvolle Persönlichkeit in alle weiteren CSU-Aktivitäten im Osten eingebunden wissen wollte. Bei einem Vorstellungsbesuch in München traf Ebeling in Begleitung von Diestel außerdem mit dem bayerischen Vorsitzenden der Jungen Union (JU), Gerd Müller, dem CSU-Generalsekretär, Erwin Huber, dem Landesgeschäftsführer, Michael Kugelmann, dem stell30 Vgl. Marc-Dietrich Ohse, „Wir sind ein Volk!“. Die Wende in der „Wende“, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 269-283. 31 „CSPD Ortsgruppe Leipzig“, hrsg. v. Simon Müller, Leipzig, [Dezember 1989], in: ABL, Plakatsammlung 001-037-002-005. 32 Zum Folgenden vgl. Jäger/Walter (Anm. 3), S. 149-152. 33 Ebd. Vgl. außerdem die zehnseitige Liste „Führende Persönlichkeiten und aktive Förderer der Christlich-Sozialen-Partei-Deutschlands (CSPD), [Dezember 1989], in: ACSP, B 1, CSU/DSU 49. 34 Vgl. „Aufruf der CSPD an alle Einwohner unseres Landes“, hrsg. v. Hans-Wilhelm Ebeling u. a., Leipzig, [post 7.12.1989], in: ABL 022-088-002.
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vertretenden Parteivorsitzenden, Jürgen Warnke, und dem Geschäftsführer der Hanns-Seidel-Stiftung, Otto Wiesheu, zusammen und stellte diesen das CSPD-Konzept vor.35 Im Zuge dessen erbaten sie unter anderem die Ausstattung für eine Parteizentrale in Leipzig, die 50.000-fache Vervielfältigung und Verbreitung des Gründungsaufrufs respektive Parteiprogramms, den Entwurf eines Parteisignums inklusive der Anfertigung der notwendigen Schreib- und Werbematerialien sowie die Einrichtung einer Mitgliederkartei. Diese „Wunschliste“ verdeutlicht die eklatante Mittellosigkeit der Parteineugründungen im Winter 1989 und illustriert zugleich das bestimmte Auftreten der CSPD-Gründer. Zur Erledigung ihrer umfassenden Aufgaben benötigten sie außerdem neue Fahrzeuge, ihre nach eigener Einschätzung untauglichen privaten PKW würden sie verkaufen und den Erlös in die Parteikasse leiten. Dass die CSU zu all diesen Vorleistungen in der Lage wäre, erschien Diestel und Ebeling von vornherein ausgemacht, und war für die Bayern in gewisser Form schmeichelhaft, selbst wenn ihr Auftreten den ostdeutschen Konkurrenten teils dreist erschien. Die Leipziger trafen jedenfalls den richtigen Ton und erhielten von Streibl und Wiesheu pauschal „breiteste Unterstützung zugesagt“. Gerd Müller wiederum setzte sich beim abwesenden Parteivorsitzenden Theo Waigel für eine Förderung der CSPD ein, da bei dem Treffen alle „außerordentlich angetan vom persönlichen Eindruck der beiden Politiker und den inhaltlichen Vorstellungen ihrer neuen Partei“36 gewesen seien. In der noch im Dezember folgenden, überaus freundlichen Berichterstattung in der Presse erschien die Zusammenarbeit der „Schwesterparteien“ bereits beschlossen zu sein, wobei der CSU die tragende und entscheidende Rolle zugeschrieben wurde.37 Erwin Huber selbst kommunizierte die Eindrücke diverser Sondierungsgespräche in München sowie von Parteitagen im Osten am Vorweihnachtstag an die eigene Parteibasis. Dabei blieb er Waigels Linie vom Oktober treu, sich nicht festzulegen und die Unterstützung mehrerer Partner in Aussicht zu stellen. Eine Erwähnung fanden allerdings jene Gruppierungen, die gewis-
35 Aktenvermerk von Michael Kugelmann für Theo Waigel und Erwin Huber, 21.12.1989, bzgl. „Kontaktbesuch von Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling und Dr. Peter-Michael Diestel [...]“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 43. Hiernach die folgenden Zitate. 36 Gerd Müller an Theo Waigel, 4.1.1989, bzgl. „Gespräch mit der Christlich Sozialen Partei Deutschlands (CSPD) und weitere Maßnahmen“, in: ebd. 37 Vgl. Fridolin Engelfried, „Zwillingsbruder“ der CSU in der DDR. Die ChristlichSoziale Partei Deutschlands (CSPD) hat Kontakte geknüpft, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 15.12.1989.
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sermaßen in der „Höhle des Löwen“ überzeugt hatten.38 Diese öffentliche Adelung in den Medien präfigurierte die ausstehenden Entscheidungen in Parteivorstand und -präsidium. Zurückgekehrt nach Leipzig waren sich Diestel und Ebeling des Wertes dieser Sondierungen bewusst. Selbst wenn sie den Eindruck westdeutscher Fernsteuerung zu vermeiden suchten, mochten sie doch nicht auf den möglichen Prestigegewinn verzichten. Gewollt beiläufig formulierten sie daher zum Abschluss ihres CSPD-Rundbriefes am zweiten Weihnachtsfeiertag: „Noch zwei Hinweise: Am 15.12.1989 waren Dr. Diestel und ich zu Gesprächen in München mit den Herren Streibl, Huber, Warnke und Wishoi [Wiesheu]. Eingeladen hatte uns der Vorsitzende der Jungen Union Dr. Müller. Am 20.12.89 fand die Begegnung mit dem Bundeskanzler in Dresden statt.“39 Zwar hatte sich Kohl gegenüber den CSPD-Vertretern zurückhaltend gezeigt,40 die intendierte Aussage war derweil eindeutig. Ebeling verstand seine Partei als seriöse bürgerliche Alternative zum in Leipzig in verschiedene Lager gespaltenem DA und als Heimat für all jene, die, wie er selbst, bisher noch keine ideologisch konforme Interessenvertretung gefunden hatten. Die besten Gewährsleute für das eigene christlich-konservative Profil – das war den ostdeutschen Neupolitikern klar – waren die Vorbilder aus dem Westen. Entsprechend dieser Logik freiwilliger Westbindung bildeten sich parallel zur Ost-CSU und CSPD im Süden der DDR über 20 weitere Gruppierungen unter Rückgriff auf aus dem Westen adaptierte Parteinamen. Ein seltenes norddeutsches Beispiel stellt die „Freie Deutsche Union“ (FDU) dar. Die in Rostock gegründete Partei drückte schon mit der Namensgebung ihre Sympathien für die bundesdeutsche Union aus. Nach einem Gründungsaufruf Mitte November stellte die Initiativgruppe aus Theologen und Ingenieuren am 27. November 1989 den offiziellen Registrierungsantrag beim Innenministerium der DDR.41 Die öffentliche Konstituierung fand am 1. Dezember 1989 statt und zwei Wochen später folgte der „Antrittsbesuch“ bei der Hamburger CDU. In programmatischer Überein-
38 Vgl. Erwin Huber, Freiheit oder Sozialismus. Die CSU hilft, wo es möglich ist, in: Bayernkurier, 23.12.1989. 39 Rundbrief von Hans-Wilhelm Ebeling, 26.12.1989, „Liebe Freunde“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 43. 40 Vgl. Jäger/Walter (Anm. 3), S. 152. 41 Thorsten Kurschus/Martin Wisser an den Innenminister der DDR, 27.11.1989, bzgl. „Anerkennung der Freien Deutschen Union als rechtmäßige Partei“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 43. Vgl. zur Gründung der FDU die restliche Materialsammlung in: ebd.
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stimmung mit den anderen Gruppen setzte sich die FDU ein „für Freiheit und Demokratie, für eine Marktwirtschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung, für die Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands.“ Als freiheitlich-konservative Partei strebte die FDU danach, „daß endlich jeder sein Leben so gestalten kann, wie er es für richtig hält.“42 Auf diesen liberalen Zug im Profil der Unionsparteien rekurrierte auch eine Parteiinitiative aus dem bayerisch-sächsischen Grenzgebiet. Zur gleichen Zeit als Helmut Kohl vor der Dresdner Frauenkirche die Hoffnungen auf Wiedererlangung nationaler Einheit nährte, trat in Plauen der „CSU Verband thüringisches-sächsisches Vogtland“ an die Öffentlichkeit.43 Die Plauener sahen in der CSU nicht nur den Garanten der Wiedervereinigung, sondern auch einer Liberalisisierung der Gesellschaft, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Sie setzte sich ein für transparente Gesetzgebungsprozesse und eine soziale Marktwirtschaft ohne überflüssige Bürokratisierung: „CSU das heißt – weniger Staat – mehr Freiheit“. Ein anderes Beispiel, wie vielseitig die Projektionsfläche CSU im Süden der DDR erschien, lieferte Peter Kirchhof aus Nöda, nördlich von Erfurt. Er forderte in der Bezirkshauptstadt im November 1989 die Etablierung eines thüringischen CSU-Landesverbandes. Wie die bayerische Mutterpartei soll diese „eine echte christliche Volkspartei sein“ und in Anknüpfung „an die humanistischen Traditionen unseres Volkes“ dafür eintreten, „daß ehrliche Arbeit ehrlich entlohnt [wird] und wahres Schöpfertum fruchtbringend unser Leben beflügelt und unser Volk nach den langen schmerzlichen Jahren der Trennung endlich das Recht auf Selbstbestimmung und damit die Möglichkeit zur staatlichen Einheit der Deutschen erhält.“44 Neben einem Bekenntnis zur „Achtung vor dem ungeborenen Leben“ hob das vorläufige Parteiprogramm die „enge freundschaftliche Zusammenarbeit mit der Schwesterpartei in Bayern“ hervor. Diese „Widmung“ rief in der CSU-Parteizentrale Erstaunen hervor, da die Funktionäre erst Anfang Januar von Kirchhofs Aufruf erfahren hatten.45
42 „Gründungsaufruf Freie Deutsche Union“, in: ebd. 43 „CSU“, Plauen, 18.12.1989, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 41. Vgl. Gründungsurkunden für CSU-Gruppen, in: Freie Presse Plauen, 19.12.1989. 44 „Aufruf zur Gründung des Landesverbandes der CSU in Thüringen“, hrsg. v. Peter Kirchhof, Erfurt, [November 1989], in: ACSP, B 1, CSU/DSU 42. 45 Ein Telefax mit einer Kopie des Aufrufs erhielt die CSU-Landesleitung durch das Wahlkreisabgeordnetenbüro von Otto Regenspurger (Coburg-Kronach) am 4.1.1990. Ebd.
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Die Gleichzeitigkeit, mit der diese Gruppierungen, jeweils ohne Koordinierung untereinander entstanden, veranschaulicht die politische Ausgangslage am Ende des Jahres 1989: Viele DDR-Bürger verfügten über ein grundständiges Wissen über die etablierten Parteien und ihre Positionierungen im Parteiensystem der Bundesrepublik, welches die nach dem Mauerfall möglich gewordenen organisatorischen Aktivitäten vorzeichnete. Die Ostdeutschen verorteten sich, ehe die staatliche Einheit eine realistische Option wurde, bereits im politischen System ihrer Landsleute im Westen. Die von den Parteineugründungen geprägte Demokratisierungswelle am Ende des Jahres 1989 spricht für ein konkretes Verlangen nach Parteipolitik westdeutschen Zuschnitts, nicht nach organisatorischer Autonomie – zumindest bei einem Teil der politisch aktiven DDR-Bürger. Sicherlich gibt es Gegenbeispiele, die sich jedoch parteipolitisch weiter links als die hier vorgestellten Gruppen einordnen lassen. So lehnten viele frühere Oppositionelle die – vermeintliche – Vereinnahmung durch die bundesrepublikanischen Parteien ab. Beispielsweise warnte Edelbert Richter, Gründungsmitglied des DA, Anfang Dezember davor, die Ostparteien direkt schematisch mit ihren westdeutschen Gegenstücken gleichzusetzen.46 Zierten sich die Aktivisten auf dieser Seite des politischen Spektrums also zumindest den Worten nach vor einer zu starken Identifikation mit den Westparteien, lässt sich eine derartige Scheu weiter rechts kaum beobachten. Die ostdeutschen Konservativen bezogen sich freiwillig auf die CSU, weil sie ihre Weltanschauung und Programmatik, beziehungsweise die Vorstellungen die sie sich davon machten, teilten und mit ihrer Bekanntheit in der DDR rechneten. Die Nähe zur innerdeutschen Grenze ermöglichte es vielen potentiellen Wählern, die bayerischen Erfolge unter Ägide der CSU selbst in Augenschein zu nehmen. Den Parteiaktivisten wiederum bot sich die Gelegenheit, bei der Münchner Landesleitung oder den CSU-Geschäftsstellen in Hof und Coburg persönlich um Aufbauunterstützung zu bitten. Entsprechend konsequent begründete beispielsweise Norbert Dotterweich aus Neuhaus, thüringischer Landesvorsitzender der CSU (S/Th), seine eigene Hinwendung zur „bayerischen Staatspartei“: Sie böte unter dem Druck des nahenden Wahlkampfes ein „bewährtes Konzept und einen bekannten Namen“.47 46 Vgl. O. A., Demokratischer Aufbruch will „Machtvakuum“ schon jetzt füllen, in: Die Welt, 6.12.1989. 47 Vgl. das Interview mit Dotterweich: Parteien und Bewegungen zur Wahl '90. ExSED-Mitglieder ausklammern hieße Intelligenz aussperren, in: Freies Wort, 21.2.1990.
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3. Fusion unter Münchner Banner? Nach den chaotischen Gründungswochen im Winter 1989 bahnte sich mit dem Jahreswechsel die Fusion der christlich-sozialen Gruppen in der DDR an. Nun avancierte die Namensgebung für manche Aktivisten zur Schicksalsfrage. Der Parteivorstand der mittlerweile als „CSU in der DDR“ auftretenden CSU (S/Th) war sich Anfang Januar 1990 einig, „daß der Name CSU unter allen Umständen beibehalten werden soll, da dies eine allgemeine Forderung der Basis ist. Mit der Namensgebung steht und fällt die Partei.“48 Die symbolische Überfrachtung der Namensfrage durch die ostdeutschen Konservativen, welche bei ihren Interaktionspartnern in München während des ganzen Jahres 1990 Verwunderung hervorrief, ist zugleich Beleg für die Strahlkraft der CSU in diesem speziellen Milieu.49 Ein überlieferter Disput zwischen Joachim Hubertus Nowack und Hans-Wilhelm Ebeling unterstreicht dies. Mit einer Reihe weiterer CSU-Freunde hatten sie sich am 6. Januar 1990 im katholischen Pfarrheim von Wiederitzsch im Leipziger Norden getroffen. Die Versammlung war unter Beteiligung der Münchner Landesleitung und der bayerischen JU zustande gekommen und sollte eine Fusion oder zumindest ein Wahlbündnis für die anstehenden Volkskammerwahlen vorbereiten. Nachdem sich die Freie Demokratische Union und Nowacks CSU mit den anderen Gruppen auf eine Kooperation unter dem Signum CSU/FDU verständigt hatten50, geriet Ebeling in die Defensive. Allein dank seines Kontakts mit Max Streibl zu dem Gespräch eingeladen, äußerte Ebeling Skepsis bezüglich einer vermeintlichen
48 „Bericht über stattgefundene Beratung des Bundesvorstands der CSU in der DDR“, hrsg. v. Norbert Dotterweich, [ante 18.1.1990], in: ACSP, B 1, CSU/DSU 42. 49 Die Münchner Landesleitung wusste laut einer Übersicht vom 3. Dezember 1989 von sechs landesweit ausgerichteten christlich-sozialen Parteiprojekten in der DDR sowie fünf vollzogenen regionalen oder lokalen Initiativen. Außerdem hatte die Münchner Landesleitung Kenntnis von vierzehn weiteren Orten in der DDR, an denen Gründungsabsichten bestanden (ACSP, B 1, CSU/DSU 38). 50 Die Parteien vereinbarten in Thüringen und Sachsen als CSU, im stärker von Kohls CDU beeinflussten Norden der DDR als FDU anzutreten. Teil des Bündnisses waren außerdem CSU-Gruppen aus Arnstadt, Dresden und Sonneberg, die „Junge Union Thüringen“, eine „Partei für Wiedervereinigung Deutschlands“ und eine „Demokratisch-Soziale Union“ aus Chemnitz (für letztere unterzeichnete Heiko Richter – s. u.). Vgl. „Gründungsbeschluss“ sowie „Gemeinsame Presseerklärung an ADN, DPA“, hrsg. v. Bundesvorstand CSU/FDU, Leipzig, 6.1.1990, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 43.
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Begeisterung für den CSU-Namen im Süden der DDR.51 Er befürchtete, sich potentiellen Wählerschichten zu verschließen und wollte den durch die Präsenz in München und den ost- wie westdeutschen Medien aufgewerteten CSPD-Namen nicht hergeben. Dies führte laut dem Bericht des verantwortlichen Referenten in der Landesleitung zu „scharfen Wortwechseln mit dem aggressiv argumentierenden Nowack“ in deren Folge Ebeling vorzeitig abreiste. Während dieser auf die erfolgreiche Aufbauleistung seiner eigenen Initiativgruppe und die – angeblich – über 8.000 Mitglieder der CSPD verwiesen hatte, argumentierte Nowack für eine klare Festlegung zugunsten der CSU, selbst wenn dies das Verhältnis zu Kohls CDU belasten könnte. „Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Kontroverse über Nowacks Äußerung: ‚wenn heute irgendwo in der Welt etwas passiert, weiß man nicht was der Bundeskanzler Kohl dazu sagt, aber man weiß ganz genau was die CSU in Bayern dazu sagt‘.“ Diese Episode verdeutlicht, welchem Erwartungsdruck sich die CSU mit ihrer ostentativen Deutschlandpolitik seit ihrer Gründung und ihrer offensiven Pressearbeit im Winter 1989/90 im Osten ausgesetzt hatte.52 Im DDR-Referat der Landesleitung wurde Nowacks persönliche Identifikation geschätzt. Da er „ein hundertfünfzigprozentiger CSUler, aber auch eine sehr stark polarisierende Persönlichkeit“ sei, erschien allerdings neben Nowack Pfarrer Ebeling gerade wegen seiner Kontakte zu Kurt Masur und anderen Identitätsstiftern als „ganz unverzichtbar“.53 Entsprechend nüchtern reagierten die CSU-Granden in der Presse auf die Nachricht der Gründung der CSU/ FDU. Waigel zeigte sich „völlig überrascht, Generalsekretär Huber ging gestern sogar auf Distanz: ‚Auch wenn sich eine Partei CSU nennt, werden wir nicht allein auf den Namen setzen.‘“54 Neben dem Wunsch Ebelings CSPD weiter an sich zu binden, zeigt sich in dieser Stellungnahme die diverse bayerische Rezeption der Vorgänge im Osten. Der Münchner Apparat verfolgte die Entwicklungen im DDR-Parteienspektrum zum Jahreswechsel 1989/90 durch die Brille bundesdeutscher Machtarithmetik. So schloss der zuständige Referent seinen Überblick über die bürgerlichen Ostparteien mit der Feststellung, „daß von einer Ein-
51 Hier und im Folgenden nach: Vermerk von Manfred Kittel für Theo Waigel und Erwin Huber, 9.1.1990, bzgl. „[…] Gründung der CSU/FDU am 6.1.1990“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 41. 52 Vgl. Blumenwitz (Anm. 22), sowie jüngst Stephan Oetzinger, Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Regensburg 2017. 53 Vermerk (Anm. 51). 54 O. A., CSU-Waigel kennt die Ost-CSU gar nicht, in: Abendzeitung, 9.1.1990.
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mischung der CSU in die parteipolitische Entwicklung der DDR mit ‚Kreuther‘ Hintergedanken bislang sicher nicht gesprochen werden kann. Von den meisten CSU-Initiativen in der DDR hat die CSU-Landesleitung in München erst im Nachhinein Kenntnis erlangt; und von den CSU-Sympathisanten im anderen Teil Deutschlands werden wir laufend gedrängt, keine Zeit zu verlieren, sondern rasch mit massiven Unterstützungsmaßnahmen zu beginnen.“55 Die Entscheidungsbevollmächtigten, welche die politische Verantwortung zu tragen hatten, versuchten nun, einmal gerufene Geister wieder einzufangen. Teils wollten sie sich nicht unter Druck setzen lassen, teils war man im Vorstand und Präsidium der CSU über einige Vorgänge noch gar nicht unterrichtet.56 Dies änderte sich erst unmittelbar mit der Gründung der DSU. Mitte Januar war die „bayerische Staatsarbeit“ auf exekutiver Ebene soweit, im konservativen Lager der DDR politische Führung auszuüben. Bei der Gründungsveranstaltung der „Fusionspartei“ am 20. Januar in Leipzig erhielt letztlich der Name „Deutsche Soziale Union“ den Zuschlag, was den „Beobachtern“ aus Bayern zugeschrieben wird57. Diese Übereinkunft sollte den Streit zwischen den verschiedenen bisher konkurrierenden Gruppierungen und Führungspersönlichkeiten einhegen, die jeweils auf ihre Vorarbeit verwiesen und auf das eigene Parteienkürzel pochten. Die Verständigung auf das „DSU“-Kürzel entsprach außerdem der Präferenz des CSU-Parteivorstandes und der Landesleitung, welche das dezidiert bayerische Profil ihrer Partei nicht durch eine ostdeutsche Schwester gleichen Namens gefährden wollten.58 Der Bedarf der Ostdeutschen an westdeutschen Ressourcen und politischer Erfahrung war notwendig, um sie zum Kompromiss in dieser für sie konstitutiven Frage zu bewegen. Allein hinreichend war er nicht. Denn im Gegensatz zu den designierten bayerischen Partnern, die ihre Hilfsbereitschaft stets an gewisse Bedingungen geknüpft hatten, gaben ihre ostdeutschen Gegenspieler teils willentlich, teils notgedrungen schon im Vorhinein ihre Verhandlungsmacht aus der Hand. Nicht weil die Gründung einer
55 Vermerk von Manfred Kittel für Theo Waigel und Erwin Huber, 3.1.1990, bzgl. „Sachstandsbericht DDR-Kontakte der CSU“, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 19. 56 Vgl. Volker Dieckmann, Viele DDR-Oppositionsgruppen bleiben unbekannte Größen, in: Nürnberger Nachrichten, 15.1.1990. 57 Vgl. Jäger/Walter (Anm. 3), S. 160. 58 Die Implikationen der Namensfrage, die verschiedenen parteiintern diskutierten Modelle und die Folgen der letztlich dauerhaft betriebenen „DSU“-Variante für die bayerische CSU sind bereits an anderer Stelle beschrieben worden. Vgl. Kießling (Anm. 5), S. 170-176.
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eigenen „Schwesterpartei“ unter anderem Namen ein von langer Hand akribisch geplantes Münchner Manöver gewesen wäre, sondern wegen der starken intrinsischen Parteiidentifikation und der deutlich signalisierten Unterordnungsbereitschaft der ostdeutschen Aktivisten konnte die bayerische CSU so viel Einfluss auf die Konzentration des bürgerlichen-konservativen Parteienspektrums in der DDR nehmen. Während Hansjoachim Nowack diese Dynamik erkannte und sich der neuen Fusionspartei anschloss, blieb ein bedeutender Teile seiner Anhänger unversöhnlich zurück. Am Tag nach der DSU-Gründung verbreitete der überrumpelte Bundesvorstand um Norbert Dotterweich eine Presseerklärung, nach der Hansjoachim Nowack sein Mandat durch die Beitrittserklärung zur DSU überschritten hätte. Die Ost-CSU betrachte sich „weiterhin als selbstständige politische Partei“, wobei sie sich wiederum auf die bayerische CSU berief: „[a]usgehend von einer politischen Maxime der CSU in Bayern, daß derjenige, der die Geschichte nicht lernt, die Geschichte wiederholen muß“.59 Der durch den „Alleingang“ Nowacks zusätzlich aufgeheizte Konflikt berührte die politische Identität der sich gerade erst von 40 Jahre währender Unfreiheit befreienden Ostdeutschen. Die Ost-CSU wusste sehr gut, wie nahe ihr die neue DSU inhaltlich war und konnte sich dennoch nicht zur Aufgabe des „eigenen“ Namens durchringen. Die umfassendste Beschreibung dieser internalisierten Fremdidentität liefert ein Schreiben des Chemnitzers Heiko Richter, der sich der Ost-CSU erst in Wiederitzsch angeschlossen hatte. So verdiene es der DDR-Bürger auf seinem Stimmzettel „die Gruppierung zu finden, mit der er schon seit vielen Jahren sympatisiert [sic!], deren Schicksal er schon seit vielen Jahren bei Bundestagswahlen miterlebt und an deren Erfolgen er sich mit erfreuen konnte.“60 Richter evozierte hier eine Selbstverortung der DDR-Bürger im politischen System der Bundesrepublik, die nicht bloß ein Resultat der eigenen Augenscheinnahme nach der Öffnung der Grenzübergänge war.61 Die sozialwissenschaftliche Wahlforschung vertritt schon lange die These, Begegnungen mit Verwandten und Westmedien hätten die Ostdeutschen partei-
59 „Presseerklärung an DPA, ADN, AFP“, hrsg. v. Präsidium d. CSU in der DDR, 21.1.1990, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 38. 60 Heiko Richter i. A. d. Präsidiums d. CSU der DDR an Hans-Wilhelm Ebeling, 27.1.1990, in: ACSP, B 1, CSU/DSU 38. 61 Vgl. zur Diskussion um den Einfluss von Westfahrten nach dem Mauerfall auf die politische Meinungsbildung Michael Richter, Masse und Eliten. Ungleiche Ziele im ostdeutschen Transitionsprozess, in: Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009) 1, S. 37-47, hier S. 46.
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politisch beeinflusst62 und daher hätten im Osten schon vor der Wiedervereinigung „Quasiparteibindungen“ existiert.63 Die „wilden“ CSU-Gründungen verweisen neben Bemerkungen zu tagesaktuellen Ereignissen auf länger konsolidierte Annahmen über die politischen Verhältnissen im Westen und die Stellung ihrer Kommunikationspartner. Die bundesdeutschen Parteien eroberten nicht innerhalb weniger Wochen Kopf und Herz der Ostdeutschen. Vielmehr bot der Fall der Mauer und die offensichtliche Schwäche des SED-Regimes endlich die Möglichkeit, sich so zu äußern und zu engagieren, wie dies den eigenen Einstellungen und Überzeugungen schon zuvor entsprochen hatte. Richter gestand ein, „[j]e deutlicher eine Partei bei der anstehenden Wahl ihre politischen Ziele und deren Übereinstimmung mit einer der bürgerlichen Parteien in der Bundesrepublik darstellt“, desto mehr Stimmen würde sie gewinnen.64 Diese wahltaktischen Überlegungen seien indessen nicht das Entscheidende, sondern die eigenen Ideale. Dazu gehöre das Festhalten am christlichen „C“ als Zeichen für „das christliche Menschenbild als auslösendes, unbewußt oder bewußt wirkendes Moment bei der ‚friedlichen Revolution‘“, sowie das Bekenntnis zum gemeinsamen Erbe mit Westdeutschland: „Wir erkennen und respektieren die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Bundesrepublik und die damit verbundene Leistung der CSU an. Dieser Leistung fühlen wir uns verpflichtet. Sie ist für uns in ihrer Gesamtheit Zielstellung für die Zukunft.“ Während das christliche Menschenbild und die Bejahung der Bundesrepublik gleichermaßen eine Identifikation mit der Bonner Unionsschwester möglich machen, schließt Richter seine Seelenschau mit dem bestimmenden Topos im christlich-sozialen Wendediskurs: „Wenn wir ‚CSU‘ sagen, meinen wir auch gleichzeitig Franz Joseph Strauß.“ Strauß wurden besondere Verdienste um die Einheit bescheinigt, mit seiner „Geradlinigkeit“ sei er Vorbild und „Hoffnungsträger für die deutsche Einheit“ gewesen und gerade darum in Sachsen und Thüringen „hoch verehrt und geachtet“. In
62 Hermann Schmitt, So dicht war die Mauer nicht! Über Parteibindungen und Cleavages im Osten Deutschlands, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Die Entwicklung der Volksparteien im vereinten Deutschland, München 1992, S. 229-252. 63 Carsten Bluck/Henry Kreikenbom, Die Wähler in der DDR. Nur issue-orientiert oder auch parteigebunden?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 22 (1991) 3, S. 495-502; Carsten Bluck/Henry Kreikenbom, Quasiparteibindungen und Issues, in: Oscar W. Gabriel/Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Wahlen in Zeiten des Umbruchs, Frankfurt/M. 1993, S. 455-470. 64 Hier und im Folgenden nach Richter (Anm. 60).
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diesem Vermächtnis sahen sich die CSU-Anhänger in der DDR und deswegen ging es ihnen laut Richter nicht „um die kurzfristige Tagesentscheidung“, sondern „um die Identifikation unseres politischen Gedankengutes mit den Wesenszügen einer Partei, die bereits schon in der Bundesrepublik vorhanden ist.“ 4. Westorientierung vor der Wiedervereinigung Die gängige Bilanz der Forschung zum Parteiensystem der wiedervereinigten Bundesrepublik lautet, 1990 hätte sich das Parteiensystem von der Bonner Republik auf die neuen Länder ausgedehnt65, wenn auch mit erheblichen Modifikationen.66 Diese akteursfreie Beschreibung aus der Makroperspektive verdeckt allerdings, wie sehr diese Adaption dem ostdeutschen Bürgerwillen entsprang. Tatsächlich orientierten sich die DDR-Bürger schon am westdeutschen politischen System, bevor die Einheitsoption Realität zu werden versprach. Insofern greift es zu kurz, den unerwarteten Erfolg der CDU(D)-geführten „Allianz für Deutschland“ bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit neugeweckten ostdeutschen Einheits-Erwartungen zu erklären: „Die Wähler hatten sich weniger am neuen Parteiensystem der DDR als viel mehr sofort am Parteiengefüge der Bundesrepublik orientiert. Hier erfolgte eine erwartungsvolle Zustimmung zur CDU von Bundeskanzler Kohl.“67 Stattdessen zeigte sich in der Wahlentscheidung für die schnelle Einheit nach westdeutschem Modell der Endpunkt einer länger zurückreichenden Selbstverortung, die im öffentlichen Raum spätestens im Herbst 1989 wirkmächtig wurde. Bereits beim Aufbruch der Zivilgesellschaft und den Parteigründungen nach dem Mauerfall avancierten die Einstellungen gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik zum entscheidenden Faktor. Als Gegenbewegung zur Minderheit der „Bürgerbewegten“, die nach einem „Dritten Weg“ für eine demokratisierte DDR suchten, wandte ein Teil der DDR-Bürger den eigenen Blick Richtung Westen, auf das bundesrepublikanische Parteiensystem, das sie sogleich als ihre eigene Heimat imaginierten. Informiert durch Medien, Fahrten in den Westen oder familiäre Kontakte „adoptierten“ sie bundesre65 Hermann Weber, Die DDR 1945-1990, München 2012, S. 114f. 66 Vgl. Eckhard Jesse, Die neuen Länder und das wiedervereinigte Deutschland, in: Hans-Joachim Veen/Peter März/Franz-Josef Schlichting (Hrsg.), Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 31-43. 67 Weber (Anm. 65), S. 116.
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publikanische Argumente, Persönlichkeiten und Ideologien, um sich im umbrechenden Parteiensystem der DDR politisch zu orientieren und zu organisieren. In den hier untersuchten Gründungsaufrufen, Programmentwürfen sowie der interparteilichen Kommunikation zitierten konservative Ostdeutsche ein Bild der bayerischen CSU, wie es auch deren eigener Selbstdarstellung entsprach: als Wächterin von Traditionen, Glaube und Konservativismus, als Partei wirtschaftspolitischer Vernunft und des schlanken Staates sowie als Vorkämpferin für die deutsche Einheit im Geiste von Franz Josef Strauß. Dieses schmeichelhafte Bild evozierte gleichzeitig übersteigerte Erwartungen an die bayerische Landesleitung, die als – vermeintliche – Schaltzentrale der Partei den sofortigen Aufbau von Verbänden im Osten hätte bewerkstelligen sollen. Die dafür nötigen Ressourcen, Handlungsbefugnisse oder Pläne fehlten ihr bis ins Jahr 1990, was die bayerische CSU nicht daran hinderte, zum bestimmenden Faktor der Parteibildung im konservativen Spektrum der DDR zu werden. Ob eine Kooperation mit München zustande kam oder nicht, alle bürgerlichen Parteien des Winters 1989/90 mussten sich mit der CSU auseinandersetzen – und taten dies sogar freiwillig. Die „westdeutsche“ Wahl der Anhänger dieser Parteien am 18. März 1990 deutete sich bereits in den autonomen Parteigründungsprojekten der vorhergehenden sechs Monate an. Die Ostdeutschen wollten sich nicht nur „den Westen vor die eigene Tür holen.“68 Sie wollten schon vorher die Westparteien und teilten ihnen dies auch mit. Das beste Beispiel für dieses Verlangen waren die „wilden“ CSU-Gründungen im Winter 1989/90.
68 Richter (Anm. 61), S. 46.
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Weckrufe für einen normativen Akteur? Die externe EU-Demokratienorm an der Schwelle zu den Transformationsprozessen ab 1989 und 2011 Christina Forsbach
1. Die EU als normativer Akteur in Zeiten zweier historischer Zäsuren Wo endet Europa? Diese Frage, die der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi im Jahr 2002, kurz vor Abschluss der EU-Beitrittsverhandlungen mit den acht neuen Mitgliedstaaten in Zentral- und Osteuropa sowie Malta und Zypern, in einer Rede aufgreift1, umreißt passend, welche Herausforderungen die Nachbarschaft nach Ende des Kalten Kriegs für den Europäischen Integrationsprozess bereithält. Schließlich stellte sich in den Beziehungen zu den Beitrittskandidaten mit kommunistischer Vergangenheit verstärkt die Frage nach der Konstruktion einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Wenn Prodi den Beitrittsprozess als Anreiz der Transformation hin zu stabilen Demokratien und Quelle der Hoffnung auf eine Zukunft der gemeinsamen Werte beschreibt, erinnert dies an die Konzeption der normativen Macht Europa bei Manners.2 In seinem viel zitierten Aufsatz unternimmt dieser den Versuch, die ideelle Dimension der EURolle als Ausdruck eines normativen Akteurs zu erfassen, der die Fähigkeit besitzt, in seinem internationalen Umfeld Modellvorstellungen zu formen. Unter die „Kernnormen“, die die Union praktiziere und verbreite, fielen etwa die Ideen des Friedens, der Freiheit und der Demokratie. Dabei sei die EU durch ihre Wurzeln im Nachkriegskontext, ihr hybrides politisches Gebilde sowie ihre graduell gewachsene wertgebundene juristische Grundlage als normative Macht prädisponiert. Manners‘ Vorstellungen sind jedoch nicht zuletzt unter Verweis auf einen „Eurozentrismus“ in der Verbreitung der eigenen EU-Werte in die Kritik geraten: Der Anspruch, eine „Kraft für das Gute“ zu sein, wird schnell als Deckmantel für das Voranbringen eige-
1 Vgl. Romano Prodi, Europe in transition: hopes and fears, 3.12.2002, http://europa. eu/rapid/press-release_SPEECH-02-600_en.htm. 2 Vgl. Ian Manners, Normative Power Europe: A Contradiction in Terms?, in: Journal of Common Market Studies, 40 (2002) 2, S. 235-258, hier S. 239-242.
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ner Interessen abgewertet3 und die Klage ist verbreitet, die EU reproduziere sich letztlich nur selber.4 Die Gegenposition lautet: Die normative Identität der europäischen Außenpolitik steht keineswegs seit den Gründungsverträgen fest, sondern konstruiert sich im singulären Projekt EU immer wieder neu.5 Schließlich sind die Ziele der Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten erst schrittweise in die Verträge integriert worden.6 Es lohnt sich, diese Prozesse der Normsetzung zu untersuchen und im historischen Licht Einflussfaktoren zu eruieren. Bezogen auf die Osterweiterung lässt sich also nicht nur die Normübernahme aufseiten der Beitrittskandidaten hinterfragen, sondern auch, wie die Einschnitte in der Nachbarschaft in Form von einsetzenden Transformationsprozessen wiederum die Entwicklung der EU als normativer Akteur beeinflusst haben. Einschnitt impliziert Zäsur, und neben dem „Schicksalsjahr“ 1989 können auch die einsetzenden Transformationen in Europas südlicher Peripherie, die unter der Metapher „Arabischer Frühling“ diskutiert werden, als Zäsur gelten, welche in ähnlicher Weise den normativen Akteur EU herausfordert. Sowohl der Dominoeffekt des Zusammenbruchs und der Transformation der kommunistischen Systeme Ostmitteleuropas als auch die einsetzenden arabischen Umbrüche ab 2011 sind in der Transformationsforschung teils als kategorial neuartige „vierte Welle der Demokratisierung“ bezeichnet worden.7 1989 kann als Ende einer demokratiegeschichtlichen Epoche gesehen werden.8 Ähnlich schien im Revolutionsjahr 2011, als die Proteste von einer breiten Basis der Bevölkerung getragen wurden und sämtliche arabische Länder von den Republiken Tunesien und Ägyp-
3 Siehe Diskussion bei Helene Sjursen, The EU as a “normative” power: How can this be?, in: Journal of European Public Policy, 13 (2006) 2, S. 235-251, hier S. 239f. 4 Zur „Tendenz, sich selber zu reproduzieren”, siehe Charlotte Bretherton/John Vogler, The European Union as a Global Actor, London/New York 2006, S. 49. 5 Vgl. ebd., S. 37. 6 Vgl. Marianne Kneuer, Der Antriebsmoment Erweiterung und seine Grenzen - Zur Genese und Entwicklungslogik der europäischen Menschenrechts- und Demokratisierungspolitik, in: Integration, 34 (2011) 3, S. 228-246, hier S. 228. 7 Vgl. für Ostmitteleuropa Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M. 1994, S. 47-49; für die arabische Welt Ahmed Ibrahim Abushouk, The Arab Spring: A Fourth Wave of Democratization?, in: Digest of Middle East Studies, 25 (2016) 1, S. 52-69. 8 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, 1989 – ein Datum in der Weltgeschichte der Demokratie?, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), 1989 und die Perspektiven der Demokratie, Baden-Baden 2011, S. 21-46.
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ten bis zur Monarchie Bahrain erfassten, die These einer Zäsur bestätigt.9 Wenngleich es zu früh ist, den „Arabischen Frühling“ aufgrund der von Land zu Land divergierenden Transformationspfade abschließend einzuordnen, so wurde doch Europa analog zu 1989 von den revolutionären Ereignissen überrascht. Als in Polen am „Runden Tisch“ der Systemwechsel ausgehandelt wurde, die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn an der österreichisch-ungarischen Grenze symbolisch den Eisernen Vorhang durchschnitten und dies eine „Urlaubsrevolution“ außerhalb und schließlich eine „Feierabendrevolution“ innerhalb der DDR auslöste10, stand vielmehr die schrittweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion auf der Agenda des Europäischen Rats von Madrid vom 26./27. Juni 1989.11 Als der tunesische Straßenhändler Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 als Ausweg aus seiner wirtschaftlichen Lage nur die Selbstverbrennung sah und sich die anschließenden Proteste wie ein Lauffeuer über das Land verbreiteten, diskutierte der Europäische Rat die Mechanismen zur Wahrung der Finanzstabilität in Zeiten der Euro-Krise.12 Auf lange Sicht haben jedoch beide Ereignisse zu einer Ausdifferenzierung der normativen EU-Demokratieförderagenden in beiden Regionen geführt. „Demokratieförderung“ meint hier das außenpolitische Ziel, durch Hilfsmaßnahmen wie etwa der Wahlhilfe sowie der Unterstützung von politischen Parteien, der Legislative, der Justiz oder zivilgesellschaftlichen Organisationen eine demokratische Transformation in einem Drittland zu befördern.13 Diese außenpolitische Querschnittsaufgabe, vormals vor allem von den USA betrieben, hat mit Ende des Kalten Kriegs eine neue Legitimationsgrundlage erhalten. Gerade nach 1989 trat auch die EU auf die Bühne der internationalen Demokratieförderer, indem sie in ihren Unterstützungsprogrammen für die Transformation in Ostmitteleuropa, beginnend mit den Etappen der PHARE-Maßnahmen (ab 1989), der „Europaabkommen“ (ab 1991) und des Beitrittsversprechens des Europäischen 9 Vgl. in dieser Sichtweise Muriel Asseburg, Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, SWP-Studie 17/2011, S. 7f. 10 Vgl. Michael Gehler, Revolutionäre Ereignisse und geoökonomisch-strategische Ergebnisse: Die EU- und NATO-"Osterweiterungen" 1989-2015 im Vergleich, ZEI Discussion Paper C239, Bonn 2017, S. 2f. 11 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Madrid, SN/ 254/3/89, 26./27.6.1989, S. 2f. und 10f. 12 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Brüssel, ST 30 2010 REV 1, 16./17.12.2010. 13 Definition basierend auf Thomas Carothers, Aiding Democracy Abroad. The Learning Curve, Washington D.C. 1999, S. 6.
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Rats in Kopenhagen (1993) den Grundstein für das fortan charakteristische Anreiz-Druck-Schema legte. Dabei verband sich der Anreiz der Mitgliedschaft mit der Druckausübung durch die Kopenhagener Beitrittskriterien, um politische und wirtschaftliche Reformen im Drittland zu bewirken.14 Nach 2011 setzte ein umfassender Revisionsprozess in der Europäischen Nachbarschaftspolitik ein, der auch für diesen für die angrenzenden Länder ohne Beitrittsperspektive geschaffenen Politikbereich Mechanismen der Anreizsetzung unter dem Motto „More for More“ stärkte. Das Angebot lautete: Mehr Kooperation und Gelder für mehr demokratische und wirtschaftliche Reformen.15 Die Vermutung liegt nun nahe, dass die beiden Einschnitte – möglicherweise Zäsuren – nicht nur zu einer Weiterentwicklung der EU-Demokratieförderung auf der Umsetzungsebene geführt haben, sondern auch die normative außenpolitische Identität des Demokratieförderers prägen, herausfordern, vielleicht gar immer wieder neu begründen. Diese Frage, nämlich wie die einsetzenden Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa ab 1989 und in der arabischen Welt ab 2011 die Formulierung der Demokratienorm in den EU-Außenbeziehungen beeinflusst haben, soll der Beitrag ergründen. Der Fokus liegt dabei auf der Demokratiedefinition, wie sie sich in zentralen Dokumenten wie den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Kopenhagen oder den Strategiepapieren zur Revision der Nachbarschaftspolitik wiederfinden lässt, sowie auf der begleitenden Rhetorik der europäischen Entscheidungsträger. Die Untersuchung schließt dabei an die These Kneuers16 an, die davon ausgeht, dass die Formulierung demokratischer Prinzipien, die die Außenbeziehungen anleiten, induziert wurde im Zuge von externen Herausforderungen, mit denen die Gemeinschaft im Rahmen ihrer Erweiterungs- und Assoziierungspolitik konfrontiert war. Aus einem Interesse an der Herausbildung eines normativen außenpolitischen Akteurscharakters heraus beschränkt sich der Beitrag jedoch auf Prozesse der Formulierung demokratischer Prinzipien unter Ausblendung ihrer Anwendung. Zusätzlich muss daher die Frage nach den Inhalten der Demokratienorm gewagt werden. So kann nicht nur die EU-Rolle als Demokratieförderer in ihren Außenbeziehungen verstanden werden, sondern 14 Vgl. Marianne Kneuer, Demokratisierung durch die EU. Süd- und Ostmitteleuropa im Vergleich, Wiesbaden 2007, S. 95, 384. 15 Vgl. Federica Bicchi, The Politics of Foreign Aid and the European Neighbourhood Policy Post-Arab Spring: „More for More“ or Less of the Same?, in: Mediterranean Politics, 19 (2014) 3, S. 318-332, hier S. 322f. 16 Vgl. Kneuer (Anm. 6), S. 231.
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auch die konzeptionelle Basis und Legitimation dieser Rolle. Dies ist aus mehreren Gründen relevant: Zunächst wird so die Kritik an einer „Depolitisierung“ der EU-Demokratieförderrhetorik aufgrund einer interessenspolitischen Instrumentalisierung17 in einem neuen Licht betrachtet. Jenseits der Thesen der Vagheit und mangelnden Spezifizierung des zu fördernden Demokratiekonzepts18 können so möglicherweise verdeckte Logiken und symbolische Komponenten aufgedeckt werden. Dieses Unterfangen ist ebenso für die praktische Politikgestaltung wichtig, weil die Fähigkeit, kohärente Wertegrundlagen zu formulieren, auch die Akteursfähigkeit positiv beeinflussen kann.19 Zur Annäherung an die Inhalte der Demokratiedefinition werden in explorativer Weise zum einen zwei emblematische Akteursbilder nach Manners20 herangezogen. Diese dienen zur ersten Einordnung des globalen rhetorischen EU-Handelns mithilfe von sinnbildlichen Zuschreibungen. Die EU erscheint in dieser Sichtweise entweder als normatives Vorbild („Jungfrau“) oder als neoliberale Einflussmacht („Elefant“) auf der Weltbühne. Zum anderen lässt sich die Annahme einer erst graduellen Formulierung der Demokratienorm verbinden mit der These von Kurki21, dass die EU nicht von einem klaren Demokratiemodell geleitet sei, sondern eine stets unscharfe (engl.: fuzzy) Demokratiedefinition erkennen lasse. Der Beitrag kann dabei kaum den kompletten Prozess der Osterweiterung bis hin zur Unterzeichnung der Beitrittsverträge für die zehn neuen Mitglieder im Jahr 2004 in Athen nachzeichnen, noch die bis heute multidirektionalen Entwicklungen in der arabischen Welt. Daher liegt der Schwerpunkt auf dem Zeitraum 1989 bis 1993 hin zur Formulierung der Kopenhagener Beitrittskriterien und auf den zwei Revisionsphasen der Nachbarschaftspolitik nach dem „Arabischen Frühling“ in den Jahren 2011 bis 2015. In einem ersten Schritt greift ein konzeptioneller Teil die
17 Vgl. Annette Jünemann/Eva-Maria Maggi, The End of External Democracy Promotion? The logics of action in building the Union for the Mediterranean, in: L’Europe en Formation, (2010) 2, S. 109-124, hier S. 116-120. 18 Vgl. bspw. Geoffrey Pridham, Designing Democracy. EU Enlargement and Regime Change in Post-Communist Europe, Basingstoke 2005. 19 Siehe das Konzept von „value cohesion“ bei Joseph Jupille/James A. Caporaso, States, Agency and Rules: The European Union in Global Environmental Politics, in: Carolyn Rhodes (Hrsg.), The European Union in the World Community, Boulder 1998, S. 213-229. 20 Vgl. Ian Manners, Global Europa: Mythology of the European Union in World Politics, in: Journal of Common Market Studies, 48 (2010) 1, S. 67-87. 21 Vgl. Milja Kurki, Democratic Futures. Revisioning democracy promotion, London/New York 2013, S. 168f.
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genannten Thesen auf und verdeutlicht den Mehrwert ihrer vernetzten Aussagekraft. Es wird deutlich: Zweifelsohne wurzelt auch jegliche wissenschaftliche Diskussion über Norminhalte stets in einem bestimmten Zeitgeist. Hieraus leitet sich die Notwendigkeit einer zeithistorischen Perspektive ab, die das Wechselspiel zwischen Innen- und Außenperspektive beleuchtet. Dies strebt der empirische Teil unter Berücksichtigung der Inhalte der sich herausbildenden Demokratiedefinition im Spiegel der hier ausgewählten Revolutionszeiträume an. Zum besseren Verständnis wird teils auf Ursprungs- und Zwischenetappen auf dem Weg zur Etablierung und Fortentwicklung der Demokratieförderagenda und -norm verwiesen. Die Dokumentenanalyse stützt sich etwa auf Schlussfolgerungen des Europäischen Rats oder Redebeiträge der europäischen Staats- und Regierungschefs oder der Entscheidungsträger auf EU-Ebene. Ein kurzer Blick auf die bestehende Forschung zeigt: Die der EU-Demokratieförderung zugrunde liegenden normativen Prämissen wurden erst in jüngster Zeit systematisch und analytisch fundiert in den Blick genommen.22 Gleichzeitig wurde bislang kaum ein Vergleich der einsetzenden Transformationen von 1989 und 2011 hinsichtlich der normativen Dimension der EU-Außenpolitik unternommen.23 Nur ein solcher historisch rückblickender Vergleich jedoch, so die den folgenden Ausführungen zugrundeliegende Annahme, vermag die graduelle Genese des externen EUDemokratiediskurses erklären. 2. Zur inhaltlichen Erfassung der EU-Demokratienorm im zeitgeschichtlichen Spiegel Wie lässt sich die globale Rolle der EU im Zusammenspiel der internen Dimension und des externen Handelns auf der Weltbühne erfassen? Manners24 beruft sich in seiner Aufarbeitung der unterschiedlichen EU-Rollenbilder im internationalen Umfeld auf das Vergnügen des Geschichtenerzählens und rekonstruiert sechs „Mythen“, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Verständnis der Zeitgenossen leiteten. Zwei dieser Bilder, 22 Hervorzuheben sind neben Kurki: Anne Wetzel/Jan Orbie, Promoting Embedded Democracy? Researching the Substance of EU Democracy Promotion, in: European Foreign Affairs Review, 16 (2011) 5, S. 565-588. 23 Ausnahme, wenngleich mit anderem Fokus: Jan Zielonka, Europe’s new civilizing missions: the EU’s normative power discourse, in: Journal of Political Ideologies, 18 (2013) 1, S. 35-55. 24 Vgl. Manners (Anm. 20).
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nämlich der Anfangs- und Endpunkt der Herausbildung des EU-Akteurscharakters, sollen hier wiedergegeben werden. In einer ersten Sichtweise lautet das zugrundeliegende Narrativ: Die EU ist kein hegemonialer Akteur auf der Weltbühne, sondern ein poststaatliches Gebilde sui generis, und die leidvollen Erfahrungen der Tyrannei in der eigenen Geschichte sind das negative Referenzmodell, das die EU für ein normativ geleitetes auswärtiges Handeln prädisponiert.25 Hier dominiert das Motiv der Überwindung der Kräfte des Nationalsozialismus und des Faschismus: Die Gegenüberstellung eines Kraftzentrums mit der Unschuld erinnert an die griechische Sage der mythologischen Namensgeberin der Jungfrau Europa, die vom mächtigen Stier Zeus auf die Insel Kreta entführt wird. Manners26 nennt in seinem Artikel zur „normativen Macht Europa“ gleichsam fünf dem europäischen außenpolitischen Akteurscharakter zugrundeliegende Normen, nämlich Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Er stellt die Normen des Friedens und der Freiheit als prägend für die Herausbildung des europäischen Projekts in der Nachkriegszeit heraus. Diesem fortlebenden Gründungsmythos gegenüber steht eine modernere Auffassung der EU als wirtschaftliches Schwergewicht in einer multipolaren Welt, das einem Elefanten gleich langsam und mild27 agiert. Dennoch ließe sich dieser „Elefant“ durchaus hinsichtlich seiner Wirtschaftskraft mit anderen Mächten wie dem russischen „Bären“ oder dem US-amerikanischen „Uncle Sam“ messen. Damit füge er sich in die multilaterale Ordnung ein und sei ein Akteur in internationalen Problemaushandlungsprozessen beispielsweise im Kontext der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise oder der Weltklimaverhandlungen.28 Für Kurki29 ist eine solche rein neoliberale außenpolitische Agenda vor allem das Resultat einer konzeptionellen Unschärfe. Statt ideologische Abgrenzungen vorzunehmen, vermische die EU in ihrer außenpolitischen Rhetorik in inkohärenter Weise Fragmente einer liberalen, einer sozialdemokratischen und einer partizipativen Demokratievorstellung. Dies sei je-
25 Vgl. in dieser Argumentationslinie bspw. Michael E. Smith, A liberal grand strategy in a realist world? Power, purpose and the EU’s changing global role, in: Journal of European Public Policy, 18 (2011) 2, S. 144-163, hier S. 18. 26 Vgl. Manners (Anm. 2), S. 242 f. 27 Vgl. Michael Emerson, Introduction, in: ders. (Hrsg.), The Elephant and the Bear Try Again: Options for a New Agreement Between the EU and Russia, Brüssel 2006, S. 1-14, hier S. 1. 28 Vgl. dazu auch Manners (Anm. 2), S. 80. 29 Vgl. Kurki (Anm. 21).
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doch mit Blick auf das Mehrebenensystem erklärbar. In diesem komplexen Kompetenzgeflecht zwischen Supranationalität und intergouvernementaler Zusammenarbeit stehe die EU schließlich vor dem Dilemma, dass sie nicht wie etwa der Nationalstaat USA eine unitäre Demokratiedefinition anbieten könne. Eine nur unscharfe konzeptionelle Grundlage, verbunden mit einer „technokratischen“30 Herangehensweise, ermögliche der Union somit auch eine große Flexibilität als kollektiver Akteur. Anhand der unterschiedlichen Zeitkontexte, in denen die skizzierten Metaphern zur europäischen außenpolitischen Identität verortet sind (nach Ende des Zweiten Weltkriegs und verbunden mit einer wachsenden multipolaren Verflechtung in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts) wird bereits die zwingende zeithistorische Einordnung einer Hinterfragung der außenpolitischen normativen Agenda deutlich. Jedoch beleuchtet der größte Teil der Literatur zum EU-Demokratieförderziel naturgemäß die Etappe ab der geglückten Osterweiterung; die ersten Jahrzehnte der Entwicklung der europäischen Menschenrechts- und Demokratisierungspolitik werden dabei meist ausgeblendet.31 Freilich nimmt erstmals der Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 das Demokratieförderziel ins EUPrimärrecht auf. Dennoch lohnt sich eine Beschäftigung mit der Entwicklung vor 1993, da sich gerade vor der vertraglichen Fixierung der Wertegrundlage besonders plastisch das neo-funktionalistische Erklärungsangebot der Externalisierung interner Handlungsmuster hinterfragen lässt.32 Hier schließt die These von Kneuer33 an, die nach der Spiegelung unionsinterner Wertegrundlagen nach außen fragt und diese anhand dreier Wegmarken beginnend in den 1960er Jahren nachzeichnet. Die Wegmarken sind dabei zugleich Induktionspunkte, externe Herausforderungen also, welche die Gemeinschaft zur Formulierung und Weiterentwicklung ihrer normativen Prinzipien anleiten.
30 Milja Kurki, Democracy through Technocracy? Reflections on Technocratic Assumptions in EU Democracy Promotion Discourse, in: Journal of Intervention and Statebuilding, 5 (2011) 2, S. 211-234. 31 Vgl. Kneuer (Anm. 6), S. 229 und 231. 32 Vgl. ebd., S. 228f., 231. 33 Vgl. ebd., S. 231f.
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3. Von einer Wohlstandsmission zum Rückkehrangebot ins demokratische Europa Wie also haben der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Ostmitteleuropa und die einsetzenden Transformationen einen Impuls auf die Formulierung der Demokratiedefinition im externen EU-Wertekanon ausgeübt? Ein solcher Impuls kann aufgrund des Überraschungseffekts der revolutionären Ereignisse sicher nicht über Nacht beobachtet werden, zumal die Gemeinschaft mit einem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“34 der politischen, wirtschaftlichen und staatlichen Transformationen in Mittelosteuropa konfrontiert war. Zunächst stand somit die Unterstützung der „nachholenden Modernisierung“35 im Vordergrund des Gemeinschaftsinteresses. Dieses setzte keinesfalls erst in dem Moment ein, als Helmut Kohl in Warschau die Nachricht der Grenzöffnungen in Berlin in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 erreichte. Bereits vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hatten sich die EG-Staaten angesichts Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika auf die Gewährung von Unterstützungszahlungen geeinigt, von denen die PHARE-Programme der Europäischen Kommission hervorstachen. Auch diese Maßnahmen waren als Antwort auf einen gewissen externen Druck geboren – schon zu Beginn des Jahres 1989 hatte der polnische Solidarność-Anführer Lech Wałęsa Kommissionspräsident Jacques Delors wiederholt auf die Dringlichkeit der Unterstützung des Reformprozesses aufmerksam gemacht. Sie fokussierten aber in der Anfangszeit insbesondere Lebensmittelhilfen und technische Hilfe im Bereich Landwirtschaft, Energie und Umwelt.36 Das Ziel der Demokratieförderung fand nur indirekt in Form der Zivilgesellschaftsunterstützung Widerhall.37 Gleichzeitig überwogen in dieser Zeit für Kommissionspräsident Delors angesichts des Ziels des Binnenmarktprogramms die Parallelen zwischen den Transformationen in Ostmitteleuropa und der wirtschaft-
34 Claus Offe, Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa, in: Merkur, 45 (1991) 4, S. 279-292. 35 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent - Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 169, 173. 36 Vgl. Arne Niemann, The PHARE programme and the concept of spillover: neofunctionalism in the making, in: Journal of European Public Policy, 5 (1998) 3, S. 428-446, hier S. 434f. 37 Vgl. John Pinder, The European Community and democracy in Central and Eastern Europe, in: Geoffrey Pridham/Eric Herring/George Sanford (Hrsg.), Building Democracy? The International Dimension of Democratisation in Eastern Europe, London/Washington 1997, S. 110-132, hier S. 122.
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lichen Dynamik in Westeuropa.38 „Die Geschichte beschleunigt ihren Lauf. Auch wir müssen unser Tempo steigern“,39 so Delors während eines Vortrags in Brügge im Oktober 1989. Es lassen sich also Widersprüche beobachten: Zwischen dem Bewusstsein für die historische Verantwortung, für die Werte der Demokratie und der Freiheit einzutreten40, wie es auch François Mitterrand in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im November 1989 betonte41, und einem realpolitischen Zögern. Dieses Zögern ging ebenso mit der Konzentration der europäischen Diplomatie auf die Lösung der deutschen Frage in der Wendezeit einher. Wenngleich Helmut Kohl in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im November 1989 bekräftigte, dass Deutschlandpolitik und Europapolitik wie „zwei Seiten derselben Medaille“42 seien, trat ein Werte-Interessenskonflikt besonders deutlich auf dem Straßburger Ratsgipfel vom 8. und 9. Dezember zutage. Auf der einen Seite bekundeten die Staats- und Regierungschefs ihr Verantwortungsbewusstsein „in dieser für Europa entscheidenden Zeit“43 und ihren Willen, „ihre Zusammenarbeit mit den Völkern, die nach Freiheit, Demokratie und Fortschritt streben, sowie mit den Staaten, die sich auf die Grundsätze der Demokratie, des Pluralismus und der Rechtsstaatlichkeit stützen wollen, zu verstärken“.44 Auf der anderen Seite beschreibt Helmut Kohl in seinen Memoiren
38 Vgl. Luuk van Middelaar, Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, Berlin 2016, S. 306. 39 Übers. der Verfasserin aus dem Original: « L'Histoire s'accélère. Nous aussi devons accélérer. » Jacques Delors, Discours de Jacques Delors, 17.10.1989, Brügge 1989, www.cvce.eu/content/publication/2002/12/19/5bbb1452-92c7-474b-a7cf a2d28189 8295/publishable_fr.pdf, S. 12. 40 Vgl. Gehler (Anm. 10), S. 10, 21. 41 „Diese Werte bestehen ungeachtet der Fixpunkte, der Grenzen, der Trennungen, der Mauer: der Beweis ist erbracht, die Mauern fallen, man findet sich wieder, man versteht sich.“ François Mitterrand, Rede von François Mitterrand über die demokratischen Reformen in Osteuropa, 22.11.1989, Straßburg 1989, www.cvce.e u/content/publication/1999/1/1/d3f2ecb3-a49c-4960-af84-dc035d9bc63a/publishab le_de.pdf, S. 4. 42 Helmut Kohl, Erklärung des Bundeskanzlers vor dem Europäischen Parlament über die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa, 25.11.1989, Straßburg 1989, www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/1980-1989/1989/133-89_Kohl.ht ml. 43 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Straßburg, SN/ 441/2/89, 8./9.12.1989, S. 1. 44 Ebd., S. 10.
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eine sehr angespannte Atmosphäre angesichts der Wucht der deutschen Frage.45 Gleichfalls ließe sich mit Blick auf den weiteren Zeitverlauf argumentieren, dass auch die „Zwischenlösung“46 der Assoziierungsabkommen („Europaabkommen“), die ab 1991 mit den mittel- und osteuropäischen Staaten geschlossen wurden, sowie das „Durchringen“47 zu einer realen Beitrittsperspektive des Europäischen Rats von Kopenhagen im Jahr 1993 lediglich im realpolitischen Zeichen einer Politik der Binnenmarktvergrößerung und der Schaffung von Absatzmärkten standen. In wirtschaftlicher Hinsicht waren die EG-Staaten jedenfalls das Schwergewicht, das einem Elefanten gleich den größten Handelspartner der Reformstaaten Mittelund Osteuropas darstellte.48 Dieser rationalistischen Argumentation ist aber das gemeinsame Bekenntnis zu politischen und ökonomischen Freiheiten, die nicht nur einer marktwirtschaftlichen Ordnung, sondern auch freien und demokratischen Wahlen zuträglich sind, in den Präambeln der Europaabkommen entgegenzuhalten.49 Ebenso war die demokratische Entwicklung in den postkommunistischen Nachfolgestaaten wiederholt Gegenstand einer sich ausdifferenzierenden Normrhetorik im Europäischen Rat. Anhand der Schlussfolgerungen lässt sich diese Entwicklung rekonstruieren: Anlässlich einer außerordentlichen Tagung im April 1990 skizzierte der Europäische Rat mit „tiefer Befriedigung“ die Abhaltung freier Wahlen in der DDR und in Ungarn und bekundete seine Hoffnung auf ein Europa, das nach „Überwindung der durch Ideologien und Konfrontationen erzwungenen künstlichen Spaltung nun vereint für Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und die Grundsätze der Marktwirtschaft eintritt.“50 Die Parameter (pluralistische) Demokratie – Rechtsstaatlichkeit – Menschenrechte – Marktwirtschaft waren auch in den folgenden Schlussfolgerungen zentraler Bestandteil der politischen Vorstellung des Rats für Osteuropa, 45 46 47 48
Vgl. Helmut Kohl, Erinnerungen. 1982-1990, München 2005, S. 1011. Gehler (Anm. 10), S. 17. Ebd., S. 22. Vgl. Martin Jeřábek, Deutschland und die Osterweiterung der Europäischen Union, Wiesbaden 2011, S. 84. 49 Vgl. beispielhaft das Abkommen mit Polen (1994): Europäische Union, EUROPE AGREEMENT establishing an association between the European Communities and their Member States, of the one part, and the Republic of Poland, of the other part, Brüssel 1994, https://wits.worldbank.org/GPTAD/PDF/archive/EC-Poland .pdf. 50 Europäischer Rat, Sondertagung des Europäischen Rates, Dublin, SN/46/4/90, 28.4.1990, S. 1.
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ohne dass diese Begriffe genauer ausdifferenziert wurden. Sie blieben damit tatsächlich recht unscharf. Zugleich schwang stets das Motiv der Überwindung der anti-demokratischen Kräfte, das an das Bild „Europa als Jungfrau“ erinnert, in Referenzen auf die Überwindung der Teilung Europas und der Wiederherstellung der Einheit des Kontinents mit.51 Liegt in diesen Bekundungen der Ursprung der Kopenhagener Beitrittskriterien, die der Europäische Rat von Kopenhagen vom 22. und 23. Juni 1993 nannte, nämlich eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Voraussetzung, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen zu übernehmen?52 Hier lohnt sich ein Rückblick auf die Anfangszeit der Entwicklung insbesondere des politischen Beitrittskriteriums in der Assoziierungs- und Beitrittspolitik. Während die Römischen Verträge von 1957 keine direkte Verbindung zwischen dem Friedens- und Freiheitsziel und möglichen Beitrittsvoraussetzungen zogen, geriet die Gemeinschaft erstmals angesichts des überwältigenden Interesses an einer Assoziierung mit Blick auf einen späteren Beitritt, das ab 1959 eine Reihe von Staaten wie etwa Franco-Spanien bekundeten, unter Handlungsdruck.53 Daraus entstand der Birkelbach-Bericht einer Kommission von Vertretern der parlamentarischen Versammlung, der – allerdings noch unverbindlich54 – die Kriterien der demokratischen Regierungsform, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte und Grundfreiheiten55 als Beitrittskriterien vorschlug. Die Inhalte des politischen Beitrittskriteriums von Kopenha-
51 In Dublin im Juni 1990 (vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Dublin, SN/60/1/90, 25./26.6.1990, S. 13) wird der Wertekatalog folgendermaßen umschrieben: pluralistische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte, marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsreform + Überwindung der Teilung Europas und Wiederherstellung der Einheit des Kontinents (gemeinsames Erbe). In Rom im Oktober 1990 bekräftigt der Rat seine „Entschlossenheit, Ungarn auf seinem Weg zu Demokratie, Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung nachdrücklich zu unterstützen“, Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Rom, SN/304/2/90, 27./28.10.1990, S. 11. 52 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Kopenhagen, SN 180/1/93, 21./22.6.1993, S. 13. 53 Vgl. Kneuer (Anm. 6), S. 230, 233. 54 Vgl. ebd., S. 234. 55 Letztere drei allerdings nur in einer Fußnote, vgl. Parlément Européen, Rapport fait au nom de la commission politique de l’Assemblée parlementaire européenne sur les aspects politiques et institutionnels de l’adhésion ou de l’association à la Communauté par M. Willi Birkelbach, Rapporteur, 19.12.1961, Documents de séance 1961-1962, Document 122, S. 8, 29.
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gen und damit auch der hier artikulierten Demokratienorm waren also keinesfalls neu, sondern lassen sich auch in der vorangehenden institutionellen Diskussion wiederfinden. Neu war ihre wenn auch nicht ausdifferenzierte, so doch klare Fixierung als wegweisende Handlungsleitlinien und Beitrittsvoraussetzungen, die durch den externen Anreiz der Umbrüche in der unmittelbaren Nachbarschaft hervorgerufen wurde. 4. Von einer normfreien Realpolitik zu einer Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand Was hielten die einsetzenden Transformationen in der arabischen Welt an „neuen“ Impulsen für die Demokratierhetorik in den EU-Außenbeziehungen bereit? Zunächst musste die EU dem Bild des Glaubwürdigkeitsverlusts entgegenwirken, das sich in der Forschung und europäischen Öffentlichkeit in den langen Jahren der Persistenz der arabischen Autokratien etabliert hatte. Die Union hatte in ihrer Zusammenarbeit mit den arabischen Autokraten allzu lange Aspekte der Demokratieförderung zugunsten einer Interessenspolitik in den Bereichen Sicherheit, Migration und Handel vernachlässigt.56 Mit Einsetzen der tunesischen Proteste für „Würde und Brot“ wurde das Bild der Besuche der europäischen Staats- und Regierungschefs im Beduinenzelt des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi abgelöst von der Wahrnehmung einer handlungsunfähigen Union, die – weniger als einheitlich agierender Elefant, denn vielmehr als eine unentschlossene Gruppe Mäuse – vor einem „Scherbenhaufen der verfehlten Regionalpolitik“57 stand. Bei aller Kritik an der südlichen Nachbarschaftspolitik muss freilich der historische Kontext beachtet werden. So geht die europäische Mittelmeerpolitik auf das Jahr 1995 zurück – die Barcelona-Deklaration, die mit der „Euromediterranen Partnerschaft“ erstmals einen multilateralen Rahmen für die Mittelmeerpolitik begründete, fiel in eine Zeit des optimistischen Glaubens an den Demokratischen Frieden am „Ende der Geschichte“.58 Die Zeit war daher reif für die zunehmende Verankerung der außenpolitischen Wertegrundlage sowohl in Schlussfolgerungen des Europäischen
56 Vgl. Annette Jünemann/Julia Simon, Der Arabische Frühling. Eine Analyse der Determinanten europäischer Mittelmeerpolitik, Wiesbaden 2015, S. 9. 57 Ebd., S. 7. 58 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992.
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Rats – wie der Menschenrechtserklärung des Luxemburger Rats von 199159 – als auch im Vertrag von Maastricht (1993) erstmals im EU-Primärrecht.60 Zugleich strebte die „normative Macht“ EU auch nach einer größeren globalen Reichweite. Verbunden mit der Revision des Lomé-IV-Handels- und Entwicklungsabkommens stärkte die Union ab 1995 die Demokratieklauseln in vielen Abkommen mit Drittstaaten mit einer Klausel, nach der im Falle der Nichtbeachtung von demokratischen Standards im Drittland die Zusammenarbeit ausgesetzt werden kann.61 Wenn im Folgenden der Politikbereich der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), der ab 2004 den neuen Rahmen für die Euromediterrane Partnerschaft bildet, für ein „Demokratisierungs-Stabilisierungsdilemma“62 kritisiert wird, darf gleichermaßen nicht vergessen werden: Die Nachbarschaftspolitik wurde unter dem Eindruck der geglückten Heranführung Ostmitteleuropas im Beitrittsprozess geschaffen.63 Zu Anfang des neuen Jahrtausends ließ sich noch der Glaube an die Anziehungskraft des politisch-ökonomischen EU-Modells beobachten. Die Strahlkraft der Wertegrundlage prallte allerdings nach dem 11. September 2001 schnell auf das sicherheitspolitisch motivierte Ziel, durch den Rahmen der ENP das „Gebiet der Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands“ auszuweiten.64 Im Zeichen des sich verstärkenden Sicherheitsdiskurses stand auch die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003, die mutig postulierte: „Der beste Schutz für unsere Sicherheit ist eine Welt demokratischer Staaten, und die Politik der Union ist auf die Verwirklichung dieses Ziels ausgerichtet.“65
59 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Luxemburg, SN/151/3/91, 28./29.6.1991, S. 25-28. 60 Vgl. Kneuer (Anm. 6), S. 228. 61 Vgl. Tanja A. Börzel/Thomas Risse, One Size Fits All! EU Policies for the Promotion of Human Rights, Democracy and the Rule of Law, Workshop on Democracy Promotion, Stanford, 4.-5.10.2004, S. 4f. 62 Annette Jünemann, Security-Building in the Mediterranean After September 11, in: dies. (Hrsg.), Euro-Mediterranean Relations After September 11, London/Portland 2004, S. 1-19, hier S. 7. 63 Vgl. Kai-Olaf Lang, European Neighbourhood Policy: Where do we Stand Where are we Heading?, in: Johannes Varwick/Kai-Olaf Lang (Hrsg.), European Neighbourhood Policy. Challenges for the EU-Policy Towards the New Neighbours, Opladen 2007, S. 15-23, hier S. 15. 64 Vgl. zum genauen Wortlaut Romano Prodi, Das größere Europa - eine Politik der Nachbarschaft als Schlüssel zur Stabilität, 5.-6.12.2002, Brüssel 2002, http://europa .eu/rapid/press-release_SPEECH-02-619_de.htm. 65 Europäische Union, Ein sicheres Europa in einer besseren Welt - Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel 2003, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=LEGISSUM:r00004.
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Dieser veränderte EU-Demokratiediskurs im Vergleich zum Optimismus nach Ende des Kalten Kriegs lag damit den ersten Reaktionen auf die arabischen Revolten zugrunde, die ähnlich widersprüchlich erscheinen. Wie gestaltete sich konkret diese EU-Antwort, als das Bild eines „arabischen Exzeptionalismus“ aufbrach, die Sollbruchstellen in der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung mit einem möglicherweise durch soziale Medien befeuerten Protestpotenzial zusammenfielen und somit der „Arabische Frühling“ in Tunesien und Ägypten seinen Anfang nahm? Zunächst verhinderte ein rhetorischer Zickzackkurs eine kohärente, glaubwürdige Demokratierhetorik. Brüssel schwieg, als ausgehend von Sidi Bouzid im tunesischen Landesinneren die Antiregierungsproteste ausbrachen, Anfang 2011 die Küstenregion erreichten und auch ein Besuch des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali am Sterbebett Mohamed Bouazizis sowie Reformankündigungen die Lage nicht zu beruhigen vermochten. Stattdessen standen die Unterstützungsbekundungen für die arabischen Machthaber, prominent vom italienischen Premier Silvio Berlusconi und der französischen Außenministerin Michèle Alliot-Marie geäußert, im Lichte der europäischen Öffentlichkeit.66 Erst nach Ben Alis Flucht ins Exil am 14. Januar 2011 gaben die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und der Kommissar für die Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen Štefan Füle am 17. Januar 2011 eine Presseerklärung ab, in der sie die europäische Solidarität mit dem tunesischen Volk in seinen Bestrebungen hin zu einer „stabilen Demokratie, die die Grundrechte und -freiheiten achtet“67 ausdrückten. Die Union stand also vor einem doppelten Lernprozess: Es ging erstens darum, Demokratieaspekte wieder verstärkt auf die Agenda zu setzen, wie dies auch Füle Ende Februar 2011 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament deutlich machte: „Europe was not vocal enough in defending human rights and local democratic forces in the region. Too many of us fell prey to the assumption that authoritarian regimes were a guarantee of
66 Berlusconi: „In Egypt there can be a transition towards a more democratic system without a break from President Mubarak, who in the West […] is considered the wisest of men.“ Zitiert in Sally Khalifa Isaac, Europe and the Arab Revolutions. From a Weak to a Proactive Response to a Changing Neighborhood, KFG Working Paper Series 39/2012, S. 8. 67 Europäische Union, Joint statement by EU High Representative Catherine Ashton and Commissioner Štefan Füle on the situation in Tunisia, 17.1.2011, Brüssel 2011, www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/EN/foraff/11887 3.pdf.
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stability.“68 Zweitens musste ein Demokratiediskurs her, der sich auch auf die einsetzenden arabischen Umbrüche anwenden ließ, welche möglicherweise weder eine Transformation noch eine Rückkehr zum „Status quo ante“ darstellten.69 Als im Frühjahr 2011 ein umfassender Revisionsprozess der Europäischen Nachbarschaftspolitik in Angriff genommen wurde, klammerten die von der Kommission vorgelegten Strategiepapiere die regionalen Dynamiken der Transformation und die regionsspezifischen Interaktionsmuster der Gruppen der Revolutionsaktivisten, Islamisten und arabischen Armeen jedoch meist aus. Stattdessen lag den von Ashton und Füle vorgelegten Strategiedokumenten, euphorisch mit „Eine Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“70 und „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“71 betitelt, stets das Narrativ einer Vorbildfunktion des EU-Demokratiemodells zugrunde. Dies erinnert abermals an das Bild der „Europa als Jungfrau“, deren normatives externes Handeln eine Antwort auf die eigenen Erfahrungen mit autoritären Gesellschaftsordnungen ist. In der Mitteilung vom 8. März hieß es beispielsweise: „Die EU […] muss mit aller Kraft den Wunsch der Menschen in unserer Nachbarschaft unterstützen, dieselben Rechte und Freiheiten zu erlangen, die für uns bereits eine Selbstverständlichkeit sind.“72 In der Mitteilung vom 25. Mai fand sich zwar die Notiz, dass es nicht die Absicht der EU sei, den Partnern ein vorgefertigtes Modell für ihre politischen Reformen aufzudrängen.73 Wenn die Konturen eines – nun mit dem Attribut „vertieft“74 ergänzten – zu fördernden Demokratiemodells beschrieben werden, werden laut Kur68 Štefan Füle, Speech on the recent events in North Africa, 28.2.2011, Brüssel 2011, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-11-130_en.htm. 69 Vgl. Oliver Schlumberger/Nadine Kreitmeyr/Thorsten Matzke, Arabische Revolten und politische Herrschaft: Wie überlebensfähig sind Autokratien im Vorderen Orient?, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Der Arabische Frühling. Hintergründe und Analysen, Wiesbaden 2013, S. 34-65, hier S. 53. 70 Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik/ Europäische Kommission, Gemeinsame Mitteilung - Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, KOM (2011) 200, 8.3.2011. 71 Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik/ Europäische Kommission, Gemeinsame Mitteilung - Eine Neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, KOM (2011) 303, 25.5.2011. 72 Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik/ Europäische Kommission (Anm. 70), S. 2. 73 Vgl. Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik/ Europäische Kommission (Anm. 71), S. 3. 74 Ebd. S. 4.
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ki75 dennoch zuvorderst europäische Wunschvorstellungen einer stabilen Region und einer ökonomischen Liberalisierung repräsentiert. Interessant ist hier zugleich die Vermischung einer klassisch liberalen Demokratiedefinition, die den Fokus auf „freie und faire Wahlen“ und „individuelle Bürgerrechte wie die Gedankens-, Gewissens- und Glaubensfreiheit“76 legt, und einer sozialen Konzeption einer demokratischen Gesellschaft, welche sich im erklärten Ziel der Unterstützung einer „nachhaltigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung“ inklusive der „Begünstigung von Kleinund Mittelunternehmen“77 widerspiegelt. Mit Blick auf den Wortlaut in den Strategiepapieren ist die These Kurkis eines unscharfen Demokratiediskurses plausibel. Die externe Herausforderung in Form der einsetzenden Transformationen hat somit abermals die Formulierung der Demokratienorm in der Strategiegestaltung der EU-Außenbeziehungen vorangetrieben. Konkret findet sich hier nicht nur eine erneute Fixierung, sondern auch der Versuch der Ausdifferenzierung der normativen Grundlage, wobei diese Darstellung einer „vertieften Demokratie“ für den südlichen Mittelmeerraum weniger auf eine konzeptionelle Klarheit denn auf das dominierende EUInteresse an einer stabilen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung hindeutet. Der Demokratiediskurs läuft also stets Gefahr, den Wirtschaftsinteressen des „Elefanten“ EU78 und besonders dem Versuch der Emanzipation der EU als sicherheitspolitische Ordnungsmacht in der Nachbarschaft untergeordnet zu werden. Letzteres geschieht aktuell in besonderem Maße vor dem Hintergrund des Rückfalls der politischen Transformation in der arabischen Welt hinter das Niveau vor Ausbruch der Proteste.79 Im Zuge der weiteren Gefährdung der regionalen Ordnung hat die EU im Jahr 2015 einen neuen Revisionsprozess der Nachbarschaftspolitik eingeleitet. Die Demokratierhetorik tritt hier jedoch weiter zurück hinter das erklärte realpolitische Ziel der Stabilisierung der Peripherie.80 In der KommissionsPressemitteilung zur Strategie der Nachbarschaftspolitik mutet das Demo75 Vgl. Kurki (Anm. 21), S. 154. 76 Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik/ Europäische Kommission (Anm. 71), S. 2. 77 Ebd., S. 7. 78 Siehe z.B. die kontinuierlichen Bemühungen zur Aushandlung von Freihandelsabkommen mit den Maghreb-Staaten in Bicchi (Anm. 15), S. 323. 79 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Die Dominanz der Barbarei. BTI 2016 - Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika, Gütersloh 2016, S. 7. 80 Vgl. Barbara Lippert, Europäische Nachbarschaftspolitik, in: Werner Weidenfeld/ Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2016, Baden-Baden 2016, S. 333-340, hier S. 334f.
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kratieförderziel gar kämpferisch an, wenn es heißt: „Im Rahmen der ENP wird die EU weiterhin universelle Werte verteidigen und dabei nach Wegen suchen, Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit wirksamer zu fördern.“81 Eine konzeptionelle Klärung der Demokratievorstellungen wird hier kaum angestrebt. 5. Quo vadis, EU-Demokratierhetorik? Was bleibt von der EU-Demokratierhetorik in einer Zeit, in der der „Arabische Frühling“ seinen Zauber zu verlieren scheint und Beobachter teils das düstere Bild einer „Dominanz der Barbarei“82 im Nahen Osten und in Nordafrika malen? Stellt die jüngste ENP-Revision den Schlusspunkt eines glaubwürdigen normativen Diskurses dar, begleitet von einer definitiven Abkehr von einer Idealpolitik und der Idee eines „Rings der Freunde“ hin zu einer pragmatischen Interessenspolitik angesichts eines „Rings des Feuers“?83 Viele Fragen bleiben offen. Wenngleich die Suche nach Zäsuren aus der Perspektive des nach einer gültigen Ordnung des Zeitflusses suchenden Betrachters verständlich ist84, kann auch der Vergleich der beiden zeithistorischen Kontexte 1989 und 2011 nur bedingt zufriedenstellen. Die externen Herausforderungen der einsetzenden Transformationen vermochten zwar jeweils die Prozesse der Formulierung und Ausdifferenzierung der Demokratienorm in den EU-Außenbeziehungen zu beeinflussen. Somit lässt sich die eingangs genannte These der Induzierung der Formulierung demokratischer Prinzipien durch externe Herausforderungen85 mit Blick auf die hier untersuchten Induktionspunkte (einsetzende Systemwechsel in der Peripherie) bejahen. Die Umbrüche in Ostmitteleuropa haben eine verbindliche Fixierung der Grundsätze der Demokratie, 81 Europäische Kommission, Pressemitteilung. Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP): stärkere Partnerschaften für eine stärkere Nachbarschaft, 18.11.2015, Brüssel 2015, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-6121_d e.htm. 82 Bertelsmann Stiftung (Anm. 79), S. 1f. 83 Zu dieser Gegenüberstellung siehe Miriam Elsholz, Vom „ring of friends“ zum „ring of fire“ - Die Europäische Nachbarschaftspolitik auf dem Prüfstand anlässlich der ENP Review 2015, in: Beiträge zum Europa- und Völkerrecht 12/2016, S. 31. 84 Vgl. Martin Sabrow, Historische Zäsuren. Impulsreferat, 48. Deutscher Historikertag, Berlin 2010, www.historikertag.de/Berlin2010/index.php/wissenschaftliches-p rogramm/epochenuebersicht/details/613-Martin%20Sabrow.html. 85 Vgl. Kneuer (Anm. 6), S. 231.
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Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte als Handlungsmaxime und vor allem als Beitrittskriterium mit sich gezogen. Der „Arabische Frühling“ hat vermittelt über eine strategische Neuorientierung zum Versuch der Konkretisierung des zu fördernden Demokratiemodells geführt, wofür stellvertretend der Begriff der „vertieften Demokratie“ steht. Wenn sich in beiden Fällen eine verzögerte Reaktion und ein Abwägen mit realpolitischen Zielen ergibt, ist dies vermutlich genauso Ausdruck der Schwierigkeit einer Interessensaggregation im Mehrebenensystem wie eine nur unscharf formulierte Demokratiedefinition. Auch die Annahme einer konzeptionellen Unschärfe86 erweist sich damit im historischen Rückblick als stichhaltig. Dennoch reicht der Blick auf die beiden Revolutionskontexte nicht aus, um weder die Genese der EU als normativer Akteur vollends zu verstehen, noch um einen abschließenden Beweis für die Existenz einer „normativen Macht Europa“ auf der Weltbühne zu liefern. Zwei Beobachtungen stechen hier hervor. Erstens: Die institutionelle Diskussion über die Inhalte des politischen Beitrittskriteriums, wie es schließlich in Kopenhagen fixiert wird, setzte nicht erst mit der postkommunistischen Herausforderung ein, sondern entwickelte sich bereits mit Blick auf die faschistische Herausforderung etwa durch Franco-Spanien. Zudem erschließt sich der dargelegte Aktionsdrang, die Partner in der südlichen Nachbarschaft beim Aufbau einer „vertieften Demokratie“ zu unterstützen – selbstbewusst Herman Van Rompuy: „Without Europe, there would have been an Arab Spring, but without us there will be no Arab summer!“87 – erst mit Blick auf das Abrücken von einer Normpolitik zugunsten von sicherheitspolitischen Bedenken nach dem 11. September 2001. Dieses Werte-Interessensdilemma führt zur zweiten Beobachtung: Es lässt sich kaum eine lineare Entwicklung der Herausbildung der EU als eine „Kraft für das Gute“ nachzeichnen. So ist die EU-Außenpolitik fortwährend den globalen zeithistorischen Konjunkturzyklen unterworfen – vom „Ende der Geschichte“ zum „Krieg gegen den Terror“ und vom Ansteckungseffekt der einsetzenden Systemwechsel nach 1989 zur „demokratischen Rezession“88 ab Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends. Dieser Umstand erschwert es freilich dem Beobachter, die in ihren Außenbeziehungen zutage tretende normative Identität der Union treffsicher zu rekonstruieren. Behelfsmäßig und sicherlich holz86 Vgl. Kurki (Anm. 21), S. 168f. 87 Herman Van Rompuy, Remarks by President Van Rompuy following the final press conference of the European Council, 24.6.2011, Brüssel 2011, https://www.c onsilium.europa.eu/media/26669/123070.pdf. 88 Siehe Larry Diamond, Facing up to the Democratic Recession, in: Journal of Democracy, 26 (2015) 1, S. 141-155, hier S. 141f.
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schnittartig wurde hier mit bildhaften Annäherungen an die außenpolitische EU-Rolle gearbeitet. Diese konnten allerdings tatsächlich nur die Funktion der Veranschaulichung erfüllen. Eines verdeutlichen sie aber: Der Entwurf eines außenpolitischen normativen Charakters ist häufig auf ein anthropologisch Anderes angewiesen, das als Gegenpol fungiert – seien es die eigenen Erfahrungen mit dem Faschismus oder andere Mächte im multilateralen System. Herausgefordert wird der EU-Akteurscharakter dann in den hier aufgezeigten Fällen zusätzlich durch ganz unterschiedliche andere soziokulturelle Kontexte in der Nachbarschaft. Das Andere sind im ersten Fall die postkommunistischen Nachfolgestaaten, die ihre Beitrittsaspirationen mit dem „Schlachtruf“ einer „Rückkehr nach Europa“89 verbinden. Im zweiten Fall sind es arabische Länder, für die eine Beitrittsperspektive ausgeschlossen bleibt und die mit dem Bias der Unvereinbarkeit eines westlichen Demokratiemodells mit dem Islam konfrontiert sind. Was folgt somit für die Partnerländer aus einer EU-Agenda, die ihre interne „Normalität“ beeinflusst?90 Im Schnittfeld zwischen Innen- und Außenperspektive lohnt sich auch eine Perspektivenverschiebung hin zur Betrachtung des normativ unterfütterten Demokratieförderanspruchs der Europäischen Union aus der Sicht der Identitätsdebatten im politischen System des Nehmerlandes.
89 Frank Schimmelfennig, The community trap: Liberal norms, rhetoric action and the eastern enlargement of the European Union, in: International Organization, 55 (2001) 1, S. 47-80, hier S. 68. 90 Vgl. Arne Niemann/Gerd Junne, Europa als normative Macht?, in: Georg Simonis/Helmut Elbers (Hrsg.), Externe EU-Governance, Wiesbaden 2011, S. 103-131, hier S. 112.
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348
Personenverzeichnis
Adenauer, Konrad Alexander, Robin Alliot-Marie, Michèle Althusius, Johannes Aquin, Thomas von Aristoteles Ashton, Catherine Akel, Alexander Backes, Uwe Barth, Karl Baudrillard, Jean Beckmann, Joachim Ben Ali, Zine el-Abidine Benz, Wolfgang Berlusconi, Silvio Bethge, Herbert Biden, Joe Biller, Georg Christoph Blocher, Christoph Blühdorn, Ingolfur Bodin, Jean Böhnke, Günther Bossi, Umberto Bouazizi, Mohamed Brandner, Stephan Brettschneider, Frank Broaddrick, Juanita Brooks, Deborah J. Canovan, Margarete Canu, Isabelle Celicates, Robin Chavez, Hugo Christus
293 227 333 174 172 15 333 f. 20, 31 123-125 290 209 295 333 133 333 224 268 307 50 23 f., 193 f., 201, 203, 205, 207-209, 211, 213 173 f. 307 44 f. 321, 373 128 265 274 258 101 126 199 12 290 349
Personenverzeichnis
Chrupalla, Tino Churchill, Winston Clinton, Bill Clinton, Hillary Coelho, José Pinto Crouch, Colin Crozier, Michel J. Curio, Gottfried Cusanus, Nicolaus
131 f. 16 264, 274 24, 257-278 49 15, 201 203 22, 130, 136 172 f.
Dahl, Kristian Thulesen Dahl, Robert Dahrendorf, Ralf De Waever, Bart Decker, Frank Diehl, Paula Diestel, Peter-Michael Donaldson, Ian Stuart Dornbusch, Christian Dornseiff, Franz Dotterweich, Norbert Downs, Anthony Dreher, Axel Druey, Jean Nicolas
42 f. 182 182 11 33, 54, 59 f., 68 f., 104 105 306-309 140 siehe Langebach, Martin 107 311, 315 19 56 230
Easton, David Ebeling, Hans-Wilhelm Egoldt, Herbert
169 306-309, 312 f. 148 f., 156, 162
Farage, Nigel Fischer, Fabian Forsbach, Christina Franco, Francisco Fridkin, Kim L. Frings, Josef Füle, Štefan
191 127 23, 25, 27, 319 330, 337 262 292 333 f.
Gaddafi, Muammar al Gamson, William A. Gauland, Alexander Geer, John G. 350
331 242, 253 11, 44, 135 258
Personenverzeichnis
Gehrke, Axel Giese, Daniel Glaser, Michaela Gorbatschow, Michail Graichen, Robin Gülen, Fethullah Guttenberg, Karl-Theodor zu Habermas, Jürgen Haider, Jörg Han, Byung-Chul Hartleb, Florian Heinemann, Gustav Heise, Thorsten Henningsen, Bernd Hennis, Wilhelm Hitler, Adolf Hobbes, Thomas Höchst, Nicole Höcke, Björn Hofer, Norbert Hoffmann, Isabell Honecker, Erich Hood, Robin Horn, Gyula Huber, Erwin Hummel, Martin Jakobs, Simon Jakobsen, Kjetil A. Jaschke, Hans-Gerd Jesse, Eckhard Jones, Paula Jun, Uwe Juncker, Jean-Claude Kaine, Tim Kearney, Andrew Thomas Kenney, Patrick J. Kern, Christian Kessel, Stijn van
135 162 145 327 23 f. 218 23, 264 169 f., 178, 192, 194-197, 199 47, 74, 78 230 35 f. 292 139 f., 154, 157 33 170, 189 83, 132, 287-289 13 126, 134 131 11, 80, 82-87, 94 f. 54, 68 132 119 321 304 f., 308 f., 313 23 f., 279 238 33 54 7, 34, 123 f. 274 238 128 260, 270, 272 f. 56 262 89 54 351
Personenverzeichnis
Kielmansegg, Peter Graf Kipping, Katja Kirchheimer, Otto Kirchhof, Peter Kjærsgaard, Pia Kleinwächter, Norbert Klenk, Florian Klotz, Thomas M. Kneuer, Marianne Kohl, Helmut Kopke, Christoph Kraft, Rainer Kranert, Michael Kreter, Maximilian Küfer, Isabel Kugelmann, Michael Kunasek, Mario Kurki, Milja Kurz, Sebastian
23, 167-189 10 76 310 f. 42 f. 128 82 20 f., 73 322, 326 284, 302, 308-310, 313, 317, 327 f. 127, 129 132 100, 107, 114 20, 22, 27, 139 27 308 87 323, 325, 334 73 f., 88 f., 95, 97
Laclau, Ernesto Langebach, Martin Lau, Richard R. Le Pen, Marine Lemmer, Torsten Lewandowsky, Marcel Lilje, Hanns Lincoln, Abraham Lindenberg, Udo Lindner, Christian Locke, John Lucke, Bernd Luhmann, Niklas Luther, Martin
7, 9, 12 142 258 8, 11 f. 152, 156, 162 104 293 274 154 233 f. 175 122 169 281-283, 291
Machado, Alicia Macron, Emmanuel Madison, James Manners, Ian Mannewitz, Tom Mao Tse-tung
269 73 181 319, 323-325 7, 123, 129 132
352
Personenverzeichnis
Maroni, Roberto Marsilius von Padua Marx, Karl Masur, Kurt Matthäus (Evangelist) Merkel, Wolfgang Merten, Klaus Meuthen, Jörg Mill, John Stuart Mitterrand, François Mock, Alois Moffitt, Benjamin Morales, Evo Mouffe, Chantal Mudde, Cas Müller, Eberhard Müller, Gerd Müller, Jan-Werner Müller, Ludwig Müller-Neuhof, Jost Nai, Alessandro Niedermeier, Hans-Peter Niemöller, Martin Nowack, Joachim Hubertus Obama, Barack Obama, Michelle Offe, Claus Otti, Werner Panreck, Isabelle-Christine Patzelt, Werner J. Pence, Mike Petry, Frauke Pfahl-Traughber, Armin Platon Polybios Pomper, Gerad M. Popper, Karl R. Powell, Colin
45 172 15 307, 313 284 201 f. 192, 200, 209 11, 44 17, 19 328 321 11-13, 102 7 13 f. 67 293 308 f. 8, 13 289 217 263 27 290 302-307, 312 f., 315 258, 265, 271, 274, 277 271 169 81 7, 34 134 f. 260, 270, 273 f. 8, 11, 44 59, 127, 129, 133 15 15 258 195 23 353
Personenverzeichnis
Prill, Alexander G. M. Prodi, Romano Pühse, Jens
23 f., 191 319 134
Raabe, Jan Rade, Martin Rancière, Jacques Raschke, Joachim Reichard, Martin Reinelt, Joachim Reisigl, Martin Rhein, Felix Richter, Edelbert Richter, Heiko Riexinger, Bernd Ritzi, Claudia Robespierre, Maximilien de Rosenfelder, Joel Rousseau, Jean-Jacques Ryan, Paul
142 284, 288 201 60 131 304 59, 104 23 f., 215 311 315-317 10 201 187 122 167, 170, 175-177, 187 274
Salazar, António de Oliveira Salvini, Matteo Schaefer, Johannes Scharloth, Joachim Schatten, Carina Schiebel, Christoph Schlimbach, Tabea Schulz, Martin Schweitzer, Eva J. Sened, Itai Shuster, Simon Silberstein, Tal Smith, Gordon Stalin, Josef Steinmeier, Frank-Walter Sternberger, Dolf Stiglitz, Joseph Storch, Beatrix von Strache, Heinz-Christian Strauß, Franz Josef
49 44-46 20, 22, 99 49, 107, 114 20 f. 20, 22, 121 144 253 258 236, 238, 242 83 89 95 55 234, 253 189 55 44 11, 47, 74 f., 78-83, 86, 88 f., 96 23, 305, 317 f.
354
Personenverzeichnis
Streeck, Wolfgang Streibl, Max Thadden, Reinhold von Thatcher, Margaret Thelen, Susanne Tillich, Paul Tocqueville, Alexis de Troeltsch, Ernst Trump, Donald Überall, Frank
202 307, 309, 313 293 16 23 f., 257 288 15, 17, 19, 187 285 12, 24 f., 100, 257-278 218
Van der Bellen, Alexander Van Reybrouck, David Van Rompuy, Herman Voigt, Udo Vries, Catherine de
85-87, 94 f. 8 337 157 54, 68
Wagenknecht, Sahra Waigel, Theo Walesa, Lech Walter, Annemarie Walther, Hansjoachim Warnke, Jürgen Weber, Max Weidel, Alice Weinhold-Fumoleau, Jens Weyel, Harald Wiesheu, Otto Wilders, Geert Wilhelm II. Willey, Kathleen Wirth, Sandra Wodak, Ruth
7, 10 305, 308 f., 313 327 263 299 f. 308 f. 15, 38, 61, 167 11, 44 23 f., 299 125 308 f. 7 f., 10, 46, 63 f., 70 283 274 23, 167 105
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Autorenverzeichnis
Alexander Akel ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Gemeinsamkeiten wie Unterschiede von Strukturmerkmalen extremistischer und populistischer Ideologien. Christina Forsbach ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Ansätze der USA und der Europäischen Union, Demokratisierungsprozesse in Nordafrika zu fördern. Robin Graichen ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Aussagekraft parteipolitischer Positionierungen im Wahl-O-Mat. Martin Hummel ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Rolle des Deutschen Evangelischen Kirchentages im gesellschaftspolitischen Prozess der Bundesrepublik Deutschland 1963-1981. Thomas M. Klotz ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über umweltpolitische Maßnahmen zur Bewahrung der Bienenvielfalt im Alpenraum. Maximilian Kreter ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Rolle der Ideologie im deutschsprachigen Rechtsrock von 1977 bis 2017. Alexander G. M. Prill ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über den definitorischen Kern der Vertrauenskonzepte und dessen normative Rolle in der deliberativen Demokratietheorie. Felix Rhein ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die Anwendung von Transparenzgesetzen auf den Deutschen Bundestag. Johannes Schaefer ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die „Sprache der Populisten“. Carina Schatten ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über die soziologischen Implikationen der Antiterrorgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland und die Gefahren eines Sicherheitsstaates. Christoph Schiebel ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über Verschwörungstheorien in der Kommunikation radikaler Rechtspopulisten in Europa. Susanne Thelen ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über Negative Campaigning als Wahlkampfstrategie der Parteien bei der Bundestagswahl 2017. Jens Weinhold ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über Parteienkooperationen im Prozess der Wiedervereinigung am Beispiel der CSU und der DSU. Sandra Wirth ([email protected]) schreibt eine Doktorarbeit über das wissenschaftliche Werk Peter Graf Kielmanseggs.
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