Populismus – Staat – Demokratie: Ein interdisziplinäres Streitgespräch [1. Aufl.] 9783658300753, 9783658300760

Zwar fällt die Populismusforschung auf den ersten Blick ins Kerngebiet der Politikwissenschaft, aber keine Geistes- oder

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German Pages VII, 241 [236] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Front Matter ....Pages 1-1
Populismus interdisziplinär denken – ein Plädoyer für den wissenschaftlichen Austausch (Isabelle-Christine Panreck)....Pages 3-11
Front Matter ....Pages 13-13
Was ist „Ästhetische Politik“? (Jörg Probst)....Pages 15-43
Front Matter ....Pages 45-45
Informationspopulismus in der liberalen Demokratie (Bodo Herzog)....Pages 47-73
Front Matter ....Pages 75-75
‚Wir‘ sind kein Volk (Thomas Bedorf, Sarah Kissler)....Pages 77-94
Front Matter ....Pages 95-95
Populismus als Symptom und Folge einer Vertrauenskrise der heutigen Demokratien (Frank Decker)....Pages 97-110
„Der Herausforderung entgegentreten“ (Michael May)....Pages 111-133
Populismus und Demokratie in Europa und Lateinamerika (Isabelle-Christine Panreck)....Pages 135-156
Populismus in der politischen Theorie (Manon Westphal)....Pages 157-175
Front Matter ....Pages 177-177
Populistische Sprache, verdorbene Sprache? (Johannes Schaefer)....Pages 179-196
Front Matter ....Pages 197-197
Der „Mitte“ ist grundsätzlich zu misstrauen (Stephan Trüby)....Pages 199-220
Front Matter ....Pages 221-221
Theologie und Populismus: Kollisionen und Klärungen (Walter Lesch)....Pages 223-241
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Populismus – Staat – Demokratie: Ein interdisziplinäres Streitgespräch [1. Aufl.]
 9783658300753, 9783658300760

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Staat – Souveränität – Nation

Isabelle-Christine Panreck Hrsg.

Populismus – Staat – Demokratie Ein interdisziplinäres Streitgespräch

Staat – Souveränität – Nation Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion Reihe herausgegeben von Rüdiger Voigt, Netphen, Deutschland

Bis vor wenigen Jahren schien das Ende des souveränen Nationalstaates gekommen zu sein. An seine Stelle sollten supranationale Institutionen wie die Europäische Union und – auf längere Sicht – der kosmopolitische Weltstaat treten. Die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu weiterer Integration schwindet jedoch, viele Menschen sind der Ansicht, dass die supranationalen europäischen Institutionen zu viel Macht haben. Internet-Giganten, die Unmengen an privaten Daten speichern und vermarkten, aber auch multinationale Unternehmen und Milliardäre entziehen sich staatlicher Steuerung. Die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen ist zum Gegenstand kontroverser Diskussionen geworden. Das unbedingte Vertrauen in die Politik scheint abzunehmen Die „Staatsabstinenz“ scheint sich jedoch auch in der Politikwissenschaft ihrem Ende zu nähern. Aber wie soll der Staat der Zukunft gestaltet sein? Dieser Thematik widmet sich die interdisziplinäre Reihe „Staat – Souveränität – Nation“, die Monografien und Sammelbände von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen einem interessierten Publikum vorstellen will. Das besondere Anliegen von Herausgeber und Wissenschaftlichem Beirat der Reihe ist es, einer neuen Generation von politisch interessierten Studierenden den Staat in allen seinen Facetten vorzustellen und sie zur Diskussion anzuregen. Until a few years ago the end of the sovereign nation state seemed to have come. It was to be replaced by supranational institutions such as the European Union and - in the longer term - the cosmopolitan world state. However, public support for further integration is waning, and many people think that the supra national European institutions have too much power. Internet giants, which store and market vast amounts of private data, but also multinational companies and billionaires elude state control. The democratic legitimacy of political decisions has become the issue of controversial discussions. The unconditional confidence in politics seems to be declining. However, the “abstinence of the state” seems to be nearing its end in political science as well. But how should the state of the future be structured? The interdisciplinary series “State - Sovereignty – Nation” is devoted to this topic and aims to present monographs and edited volumes by researchers from various disciplines to an interested audience. The special concern of the series’ editor and the board of advisors is to present the state in all its facets to a new generation of politically interested students and to stimulate discussion. Wissenschaftlicher Beirat/Board of Advisors: Oliver Hidalgo, Regensburg; Dieter Hüning, Trier; Violet Lazarevic, Melbourne; Oliver W. Lembcke, Bochum; Dirk Lüddecke, München; Massimo Mori, Torino; Peter Nitschke, Vechta; Emanuel Richter, Aachen; Stefano Saracino, Wien; Jula Wildberger, Paris; Anita Ziegerhofer, Graz.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12756

Isabelle-Christine Panreck (Hrsg.)

Populismus – Staat – Demokratie Ein interdisziplinäres Streitgespräch

Hrsg. Isabelle-Christine Panreck Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden Dresden, Deutschland

ISSN 2625-7076 ISSN 2625-7084  (electronic) Staat – Souveränität – Nation Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion ISBN 978-3-658-30075-3 ISBN 978-3-658-30076-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einführung Populismus interdisziplinär denken – ein Plädoyer für den wissenschaftlichen Austausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Isabelle-Christine Panreck Kunstgeschichte Was ist „Ästhetische Politik“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Jörg Probst Ökonomie Informationspopulismus in der liberalen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Bodo Herzog Philosophie ‚Wir‘ sind kein Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Thomas Bedorf und Sarah Kissler Politikwissenschaft Populismus als Symptom und Folge einer Vertrauenskrise der heutigen Demokratien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Frank Decker

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Inhaltsverzeichnis

„Der Herausforderung entgegentreten“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Michael May Populismus und Demokratie in Europa und Lateinamerika . . . . . . . . . . . 135 Isabelle-Christine Panreck Populismus in der politischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Manon Westphal Politolinguistik Populistische Sprache, verdorbene Sprache?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Johannes Schaefer Städtebau/Architektur Der „Mitte“ ist grundsätzlich zu misstrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Stephan Trüby Theologie Theologie und Populismus: Kollisionen und Klärungen . . . . . . . . . . . . . . 223 Walter Lesch

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Thomas Bedorf, Prof. Dr.,  FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland Frank Decker, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland Bodo Herzog, Prof. Dr.,  Universität Reutlingen, Reutlingen, Deutschland Sarah Kissler, M.A.,  FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland Walter Lesch, Prof. Dr.,  Université catholique de Louvain, Louvain-la-Neuve, Belgien Michael May, Prof. Dr.,  Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Isabelle-Christine Panreck, Dr., Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, Dresden, Deutschland Jörg Probst, Dr.,  Philipps Universität Marburg, Marburg, Deutschland Johannes Schaefer, M.A., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Stephan Trüby, Prof. Dr.,  Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland Manon Westphal, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland

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Einführung

Populismus interdisziplinär denken – ein Plädoyer für den wissenschaftlichen Austausch Isabelle-Christine Panreck 1 Interdisziplinäre (T-)Räume Die großen Herausforderungen der Gegenwart erfordern interdisziplinäres Denken. Das bereits im Jahr 1963 von Karl R. Popper formulierte Diktum hat nach fast 60 Jahren nicht an Gewicht verloren (vgl. Popper 1963, S. 88). Welche theoretischen Perspektiven auf einen Gegenstand gerichtet werden und mithilfe welcher Methoden er betrachtet wird, soll in erster Linie vom realen Problem abhängen, weniger vom Werkzeugkoffer einer Disziplin (vgl. Leggewie 2012). Wer Wissenschaft nicht nur auf das Verstehen oder Erklären beschränkt, sondern auch für das Lösen von Problemen plädiert, dem zwingt sich ein interdisziplinärer Ansatz auf: „[I]t is this potential of interdisciplinary research, to deliver ­game-changing solutions, through radical innovations, that seems to have generated such a widespread, and considerable, investment of faith in its potential“ (Brown 2018, S. S21). Was in der Theorie einleuchtet, trifft in der Praxis auf Hindernisse. Interdisziplinarität droht aufgrund straff organisierter, autonomer Fakultäten im universitären Alltag zum Schlagwort zu verkommen. Revierdenken, fehlende Kommunikationskanäle zwischen den Fächern und starre Curricula erschweren das Gespräch zwischen den Disziplinen. Pointiert und nicht weniger scharfzüngig heißt es bei Claus Leggewie: „Das Prachtschloss, auf dem in großen Lettern ‚Interdisziplinarität‘ prangt, ist voller Türhüter, die einen nicht einlassen oder auf die Ochsentour der Disziplinen lenken.“ (Leggewie 2012, S. 12) Selbst Anreize I.-C. Panreck (*)  Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_1

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der Drittmittelgeber für interdisziplinäre Zusammenarbeit – etwa die Programme der Volkswagenstiftung – entfalten nur vereinzelt Wirkkraft. Ein grundsätzliches Umdenken lässt sich eher in der zunehmenden Interdisziplinarität von Studiengängen – etwa der European Studies – ablesen, weniger im Forschungsbetrieb. Dabei eröffneten sich in der Vergangenheit Fenster für die Neustrukturierung der Universität. Am prominentesten sticht die Debatte um das „Baukastensystem“ (Weizsäcker 1969) im Zuge der 1968er-Revolte hervor. Politisch inspiriert vom Weizsäcker-Plan zur Modularisierung des Studiums, hatte etwa Klaus von Beyme für das Verweben von Soziologie und Politikwissenschaft geworben (vgl. Beyme 1969, S. 101, 2016, S. 193). Diese Idee fand erneut Widerhall in den Plänen zum Neuaufbau der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten in den neuen Ländern nach 1989. So setzte sich der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen für das enge Verknüpfen von Politikwissenschaft und Soziologie ein. Insbesondere die Politikwissenschaft wurde verstanden als „ergänzendes und anregendes Fach“ (Wissenschaftsrat 1991, S. 73), das Wirtschafts-, Rechts-, und Geschichtswissenschaft sowie teils auch die Naturwissenschaften inspirieren sollte. Dieses Verständnis der Politikwissenschaft sollte nicht die Etablierung als eigenständige Disziplin unterlaufen. (vgl. Wissenschaftsrat 1991, S. 71–74) Ziel von Interdisziplinarität ist mithin nicht das Auflösen der Disziplinen, sondern das Verzahnen ihrer Perspektiven und Vorzüge zugunsten weiterführender Erkenntnis (vgl. Aldrich 2014, S. 14–25).

2 Populismus als Thema der Gegenwart Ob die Fächer trotz der strukturellen Hindernisse ihre Grenzen überwinden, hängt nicht selten vom Gegenstand ab. In Fragen des Klimawandels gelingt die Zusammenarbeit gar zwischen den Sozial- und Naturwissenschaften (vgl. Rödder 2019, S. 633). Obwohl die Relevanz von Populismus als zentrale Herausforderung der Gegenwart nicht bestritten wird, sind interdisziplinäre Projekte mit dem Ziel spärlich gesät, Populismus zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären und die sich hinter dem Begriff „Populismus“ versteckenden Probleme zu lösen. Selbst fächerverbindende Foren sind eher die Ausnahme (erste Versuche bei Brömmel et al. 2017; Jesse et al. 2019). Dabei widmet sich der Kanon der Geistes- und Sozialwissenschaften dem zentralen Thema der Gegenwart in Schriften, teils in politischen Stellungnahmen. Inwiefern letztgenannte ein probates Mittel sind, um den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu verlassen, ist nicht selten Gegenstand von Streit. Dies illustriert etwa die auf dem Historikertag 2018 per Akklamation verabschiedete

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Resolution zu den gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie (vgl. Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands 2018). Die Historikerinnen und Historiker sehen es als ihre Pflicht, vor der Aushöhlung der Demokratie zu warnen. Sie streiten „[f]ür parlamentarische Demokratie und pluralistische Streitkultur, gegen Populismus. […] Ein einheitlicher Volkswille, den dazu Berufene erfassen können, ist […] eine Fiktion, die vor allem dem Zweck dient, sich im politischen Meinungskampf unangreifbar zu machen. In der Weimarer Republik ebnete die Idee des ‚Volkswillens‘ einer Bewegung den Weg zur Macht, deren ‚Führer‘ sich als dessen Verkörperung verstand.“ (Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands 2018) Die in Potsdam bzw. Würzburg lehrenden Historiker Dominik Geppert und Peter Hoeres zweifelten an der Wirkkraft einer solchen Resolution. In ihrer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publizierten Kritik heißt es: „Politisch töricht war die Aktion, weil sie nach unserer Auffassung genau die Tendenzen befördert, die zu bekämpfen sie vorgibt. Pegida und AfD leben davon, dass in Deutschland das Juste milieu die Diskursgrenzen immer enger ziehen und vieles, was gesellschaftlich umstritten ist, aus dem Kreis des legitimerweise Diskutierbaren ausgeschlossen sehen möchte“ (Geppert und Hoeres 2018). Wie die Kontroverse der Historiker und Historikerinnen offenbart, sind die universitären Fächer keine monolithischen Blöcke. Lädt ein Forum Forschende aus den verschiedenen Disziplinen zum Austausch ein, so ist der jeweilige Beitrag lediglich als Ausschnitt aus dem jeweiligen fachlichen Diskurs zu verstehen. Was zeichnet Interdisziplinarität in einer solchen Debatte aus? Fasst ein weites Begriffsverständnis „Interdisziplinarität“ als die Zusammenarbeit der Disziplinen, bezieht ein enges Begriffsverständnis die Integration wissenschaftlicher Perspektiven ein. Grundlegend hierfür ist die Annahme, eine Disziplin allein könne das diagnostizierte Problem nicht lösen: „[I]nterdisciplinary necessarily takes disciplines as given and involves the integration of ideas and methods from at least two established disciplines into what is attempted to be a single, new, intellectually coherent whole“ (Aldrich 2014, S. 4 f.). Der Sammelband versteht sich als ersten Schritt hin zu einer stärker interdisziplinären Erforschung von Populismus. Weder ist eine Metatheorie noch eine neue Methode angestrebt. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Anliegen, den Horizont über den eigenen Fachdiskurs hinaus zu erweitern, sich zu inspirieren von Fragestellungen und Erkenntnissen wie von Theorien, Methoden und Materialien der Nachbardisziplinen. Im Zuge dieses multidisziplinären Austausches offenbaren sich bereits Ansätze interdisziplinären Denkens. Wie die Beiträge dieses Sammelbandes zeigen, rezipieren die verschiedenen Fächer Definitionen und Theorien aus Nachbardisziplinen, als Referenzpunkt dient zumeist die Politikwissenschaft.

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Dies bestätigt die These Kaltwassers, Taggarts, Ochoa Espejos und Ostiguys zur Dominanz der Politikwissenschaft in der Populismusforschung (vgl. Kaltwasser et al. 2017, S. 6). Muli- und Interdisziplinarität sind zudem fruchtbarer Boden für den transdisziplinären Austausch von Wissenschaft und Praxis (vgl. Rutting et al. 2016, S. 31 f.) – ein Anliegen, über das weitgehend Einigkeit zwischen den Autorinnen und Autoren dieses Bandes besteht. Wie ein multidisziplinärer Sammelband fruchtvolle Inspiration verspricht, so ist er zugleich ein Wagnis. Es gilt, die Balance zwischen Einheitlichkeit und Differenz zu wahren. Um die Spezifika der fachlichen Diskurse nicht einzuebnen, unterblieben Versuche einer gemeinsamen Definition des Terms „Populismus“. Dieser ist ein durchaus hitziger Streitpunkt im interdisziplinären Gespräch. Als Ausgangspunkte dienten vielmehr die Fragen: Welche Begriffsverständnisse werden in der Disziplin debattiert? Inwiefern ist Populismus eine Herausforderung für die liberale Demokratie, ihre staatliche Verfasstheit oder ihre gesellschaftlichen Verhältnisse? Worauf gründet der Erfolg populistischer Kräfte? Lässt sich eine Strategie im Umgang mit Populismus ableiten? Die Autorinnen und Autoren werfen pointiert aus dem Fachdiskurs heraus ein Schlaglicht auf Populismus als Gegenwartsproblem.

3 Aufbau des Bandes Zu dem fächerübergreifenden Gespräch über Populismus wurden Autorinnen und Autoren verschiedener akademischer Erfahrungsstufen aus der breiten Palette der Sozial- und Geisteswissenschaften eingeladen. Forschende aus Kunstgeschichte, Ökonomie, Philosophie, Politikwissenschaft (vergleichende Politikwissenschaft, politische Bildung, politische Theorie), Politolinguistik, Städtebau/Architektur und Theologie erklärten sich bereit, einen Blickwinkel ihrer Disziplin einzubringen. Den Austausch der verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften eröffnet Jörg Probst. Aus kunsthistorischer Perspektive durchdringt er die politische Kommunikation des Rechtspopulismus am Beispiel Donald Trumps und dessen „Sanctions are coming“-Tweet vom 2. November 2018, in dem der US-Präsident Sanktionen gegen den Iran ankündigte. Im Mittelpunkt seiner Analyse steht dabei die Bildsprache des Tweets, der in seiner Farbigkeit und Typografie Elemente der Mittelalter-Fantasy-Serie „Game of Thrones“ aufgriff. Probst bettet seine Analyse in den theoretischen Begriffsstreit um „politische Ästhetik“, „Ästhetisierung der Politik“ und „ästhetische Politik“ ein und argumentiert, warum die Ikonologie des Rechtspopulismus in die letztgenannte Kategorie fällt.

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Eine wirtschaftswissenschaftliche Sicht auf Populismus stellt Bodo Herzog vor. Der Ökonom erörtert vergleichend die Politische Ökonomie des linken und rechten Populismus, wobei der Angebots- und Nachfrageseite Raum gegeben wird. Das Aufstreben des Populismus geht für Herzog Hand in Hand mit der zunehmenden Kraft des Postfaktischen, wobei Globalisierung und technologischer Wandel diese Tendenz bestärken. Unter dem Terminus „Informationspopulismus“ kommt zur Sprache, wie massenmediale Diskurse in populistischen Zeiten und dem Diktum der „Alternativlosigkeit“ (TINA-Prinzip) an Vielfalt verlieren und gesellschaftlicher Spaltung Platz machen. Um dieser Entwicklung zu begegnen, schlägt Herzog das ökonomische Modell der „inklusiven Kommunikation“ vor. Zugleich widmet er sich der besonderen Herausforderung digitaler Kommunikationsforen. Als „Arbeit am Begriff“ verstehen Thomas Bedorf und Sarah Kissler ihren philosophischen Blickwinkel auf Populismus. Ins Zentrum ihrer Betrachtung rückt Ernesto Laclaus Verständnis von Populismus als Logik des Politischen, wobei Bedorf und Kissler die Konstruktion des „Wir“ als bedeutendes Moment seiner strukturell anspruchsvollen Theorie ausmachen. Liege die vermeintliche Attraktivität des Populismus nicht in der Grenzziehung zwischen dem „Wir“ und „dem anderen“? Inwiefern Populismus eine Gefahr für die Demokratie ist, hänge vom jeweiligen Demokratiemodell ab. Der liberalen Demokratie laufe Populismus aufgrund seiner Differenzfeindlichkeit entgegen. Aus hegemonietheoretischer Sicht brauche es indes das Beharren auf einem „Wir“, um das Politische zu organisieren. Hier widersprechen Bedorf und Kissler Laclau: Das Politische existiere auch jenseits des Populismus. Frank Decker beleuchtet aus der Perspektive der vergleichenden Politikwissenschaft die Ursachen für die Stärke rechtspopulistischer Parteien in Europa. Nährboden für deren Wahlerfolge sei eine tief greifende Vertrauens- und Repräsentationskrise kontemporärer Demokratien. Eine eindimensionale Analyse der Ursachen greift für ihn zu kurz, vielmehr resultiere die Krise gleichermaßen aus kulturellem wie sozialökonomischem Wandel: Einerseits öffne sich die Schere zwischen Arm und Reich, andererseits gewännen individualisierende Lebensentwürfe an Gewicht. Ergänzend zum breiten Forschungsstand zur sozialökonomischen These rückt Decker Wertekonflikte in den Mittelpunkt. Die neue Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus schlage eine tiefe Furche durch Parteiensystem und Gesellschaft. Insbesondere den Volksparteien CDU und SPD falle es schwer, in diesem Umfeld „Profil“ zu zeigen, nähmen sie doch beide Mittepositionen ein. Sowohl Kommunitarismus als auch Kosmopolitismus sind nach Decker nicht per se demokratisch oder antidemokratisch, zentral für die Stabilität der liberalen Demokratie sei die F ­ ähigkeit

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beider Traditionen, Konflikte demokratisch einzuhegen und Kompromisse zu finden. In Zeiten rechtspopulistischer Wahlerfolge ertönt nicht selten der Ruf nach politischer Bildung. Michael May durchkämmt das Forschungsfeld der politischen Bildung nach Antworten auf die Präsenz von Rechtspopulismus. Mithin sei sich die Subdisziplin einig in ihrer Bewertung von Rechtspopulismus als Gefahr, zumindest als Herausforderung von Demokratie und Frieden. Streit entzündet sich indes an der Frage nach den Strategien im Umgang mit Rechtspopulismus. Der Autor unterscheidet mit dem therapeutischen, responsiven und konfliktorientierten Ansatz drei idealtypische Antworten, die er auf Potenziale und Grenzen sowohl in der Theorie als auch in der Unterrichtspraxis prüft. Durch den Wissenschaftsdiskurs über Populismus läuft mit Blick auf Lateinamerika und Europa als bedeutendste Regionen für populistische Akteure ein gewisser Riss – in der theoretischen Reflexion wie in der Empirie. ­Isabelle-Christine Panreck führt in die verschiedenen Kontroversen ein, reflektiert das Spannungsverhältnis von Populismus und Demokratie und stellt die zentralen links- und rechtspopulistischen Kräfte in Europa und Lateinamerika vor. Überwiegt in Lateinamerika der Linkspopulismus und in Europa der Rechtspopulismus, erstarken seit Kurzem in Lateinamerika rechtspopulistische und in Europa linkspopulistische Kräfte. Ein Umschlagen der Hegemonien ist laut Autorin dennoch nicht absehbar. Um die jeweilige Hegemonie zu erklären, erweisen sich Ansätze aus der (politischen) Ökonomie als fruchtbar. Die Frage nach dem demokratischen Gehalt von Populismus vertieft Manon Westphal. Markiert der Populismus für liberale Ansätze eine Gefahr, betonen radikaldemokratische sein Potenzial. Die Autorin skizziert in ihrem Beitrag die sich gegenüberstehenden Perspektiven exemplarisch anhand der Schriften von Jan-Werner Müller und Chantal Mouffe. Der Konflikt zwischen liberalen und radikaldemokratischen Perspektiven wurzle in divergierenden Populismusdefinitionen und Demokratieverständnissen. Westphal verwirft zwar keinen der Blickwinkel, arbeitet aber jeweils Schwächen heraus: Verneine die liberale Position vorschnell die Ausdifferenzierung von Populismus in verschiedene Ausprägungen, blieben in radikaldemokratischen Ansätzen die Charakteristika sowie die politischen Folgen von Populismus unterbelichtet. Um die Monita auszubessern, schlägt die Autorin vor, theoretische Reflexionen stärker interdisziplinär zu verankern. Es gelte, sich dem Populismus weniger abstrakt anzunähern, indem die politische Theorie in ihren Reflexionen etwa Analysen des elektoralen Erfolgs von rechtspopulistischen Parteien Rechnung trägt.

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Johannes Schaefer geht der Frage nach dem Verhältnis von populistischer Sprache und Demokratie nach. Hierfür steckt er zunächst das äußerst heterogene Forschungsfeld der sozio- und politolinguistischen Populismusforschung ab. Populistische Sprache umfasst nach Schaefer exklusive Merkmale, zugleich offenbaren sich Schnittmengen zum Alltagssprachgebrauch. In dieser Vagheit sowie im mithin schwammigen Begriff des „Populismus“ macht er die Ursachen für die sich teils widersprechenden Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Populismusforschung aus, etwa in der Frage nach den Unterschieden zwischen einer linken und einer rechten populistischen Sprache. Aus dem Forschungsstand leitet Schaefer einen „Minimalkonsens“ her, wonach populistische Sprache anhand der Schlagworte „Volk“, „Zustand der Demokratie“ und „Moralisierung“ von nicht-populistischer differenziert werden kann. Unter Rückgriff auf das Parteiprogramm der AfD sowie deren Beiträge zur Generaldebatte im Jahr 2018 illustriert er schließlich den populistischen Gehalt ihrer Sprache und er kontrastiert sie mit den Grundzügen der liberalen Demokratie. Das Ergebnis fällt ambivalent aus: Populistische Sprache kann, muss aber nicht offensiv antidemokratisch sein. Die vom Rechtspopulismus gepflegte Sprachkultur laufe indes der demokratischen Austragung von Konflikten entgegen. Stephan Trüby richtet sein Augenmerk aus städtebau- und architekturtheoretischer Perspektive auf rechtspopulistische Bauprojekte in ländlichen wie urbanen Kontexten. Architektur begreift er als intellektuelle Praxis, die das Denken von Architektinnen und Architekten widerspiegelt. Die Vorstellung eines ideologiefreien Raumes verwirft der Autor folglich, vielmehr gelte es, sich die versteckte Ideologie in Städtebau und Architektur bewusst zu machen. Zur Illustration analysiert er die Funktionen von Wohnhäusern und verlassenen Dörfern in schwachbesiedelten Regionen Deutschlands ebenso wie urbane Zentren. Da gerade öffentliche Bauprojekte immer politisch seien, fordert der Autor eine kritische Wissenschaftssphäre, die politische und ökonomische Rahmenbedingungen von Bauvorhaben reflektiert. Einen theologischen Blickwinkel vertritt Walter Lesch. Er unterteilt seine Disziplin in vier Stränge: Befasse sich die exegetische Tradition mit biblischer Literatur und deren Kontexten, verbinde die systematische Sektion Grundlagenforschung, Reflexion der Glaubenstradition und Ethik. Praxisbezogene Forschung widme sich dem täglichen Zusammenleben in den Gemeinden und historische Projekte erforschten die Kirchengeschichte. Der Autor folgt einem sozialethischen Ansatz. Als normative Anker dienen ihm hierbei repräsentative Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzungen von Religionsfreiheit und Pluralismus. Lesch weist auf gewisse Überschneidungen kirchlicher und

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r­ echtspopulistischer Milieus hin, sucht nach Gründen für diese Anfälligkeit, die er u. a. in der historischen Verankerung von Kirche in autoritären und hierarchischen Strukturen auftut. Zugleich argumentiert er, warum Rechtspopulismus und das christliche Menschenbild unvereinbar sind. Der Kirche komme nun die Aufgabe zu, sich der Herausforderung antidemokratischer Tendenzen zu stellen. Ein Schritt sei die ökumenische Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Wer interdisziplinäres Denken als Ideal formuliert, plädiert nicht für die Aufhebung der Disziplinen. Der fächerübergreifende Austausch schärft vielmehr den Blick für die Vielschichtigkeit von Populismus als Herausforderung der Gegenwart. Ziel kann – und das belegt dieser Band – nicht eine universale Perspektive oder Antwort auf Populismus sein. Wohl aber ruft das Ideal der Interdisziplinarität dazu auf, wissenschaftliche Beobachtungen nicht nur mit Forschungsergebnissen der eigenen Disziplin, sondern auch mit den Erkenntnissen anderer Fächer zu kontrastieren und gegebenenfalls zu falsifizieren. Zugleich eröffnet das Gespräch die Chance, vielversprechende Pfade unter Einbezug inspirierender Beobachtungen der Nachbardisziplinen weiterzuverfolgen. Wie die Beiträge dieses Bandes erhellen, ist dieser Prozess besonders in der Begriffsfindung vorangeschritten. Mithin erscheinen nicht nur interdisziplinäre, sondern auch international ausgerichtete Forschungsprojekte als probate Annäherung an das vielbeschworene „Chamäleon Populismus“. So erweist sich das Forum in diesem Band als fruchtvoller Ausgangspunkt für das Vorhaben, die mithin recht distanzierten Forschungsdiskurse über Populismus in Lateinamerika und Europa zu verknüpfen. Dank gilt an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren. Sie nahmen die Mühe auf sich, in die fachspezifischen Debatten über Populismus einzuführen und ihre vom disziplinären Kontext geprägten Perspektiven anhand konkreter Fragestellungen zu illustrieren. Zu danken ist ebenso dem Verlag Springer VS, besonders Dr. Jan Treibel, sowie Prof. Dr. Rüdiger Voigt als Herausgeber der Reihe „Staat – Souveränität – Nation“. Er hat dieses Vorhaben von der ersten Idee an mit hilfreichen Anmerkungen begleitet.

Literatur Aldrich, John Herbert. 2014. Interdisciplinarity. Its role in a discipline-based academy. A report by the task force of the American Political Science Association. Oxford: Oxford University Press.

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von Beyme, Klaus. 1969. „Neue Impulse für Forschung und Lehre“. Der Spiegel vom 17. November 1969: 101. von Beyme, Klaus. 2016. Bruchstücke der Erinnerung eines Sozialwissenschaftlers. Wiesbaden: Springer VS. Brömmel, Winfried, Helmut König, und Manfred Sicking, Hrsg. 2017. Populismus und Extremismus in Europa. Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven. Bielefeld: transcript. Brown, Bruce. 2018. Interdisciplinary research. European Review 26 (S2): S21–S29. https://doi.org/10.1017/s1062798718000248. Geppert, Dominik, und Peter Hoeres. 2018. Gegen Gruppendruck und Bekenntniszwang. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Oktober 2018, N3. Jesse, Eckhard, Tom Mannewitz, und Isabelle-Christine Panreck, Hrsg. 2019. Populismus und Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven. Baden-Baden: Nomos. Kaltwasser, Cristóbal Rovira, Paul A. Taggart, Paulina Ochoa Espejo, und Pierre Ostiguy. 2017. Populism. An overview of the concept and the state of the art. In The Oxford handbook of populism, Hrsg. Cristóbal Rovira Kaltwasser, Paul A. Taggart, Paulina Ochoa Espejo, und Pierre Ostiguy, 1–24. New York: Oxford University Press. Leggewie, Claus. 2012. Das Prachtschloss der Interdisziplinarität. Ökologisches Wirtschaften 27 (4): 12. Popper, Karl R. 1963. Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge. London: Routledge. Rödder, Simone. 2019. Fachkulturübergreifende Interdisziplinarität in soziologischer Perspektive. Soziologische Revue 42 (4): 633–640. Rutting, Lucas, Ger Post, Machiel Keestra, Mieke de Roo, Sylvia Blad, und Linda de Greef. 2016. An introduction to interdisciplinary research. Theory and practice. Amsterdam: Amsterdam University Press. Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. 2018. Resolution zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie vom 27. September 2018. Münster. https:// www.historikerverband.de/verband/stellungnahmen/resolution-zu-gegenwaertigengefaehrdungen-der-demokratie.html. Zugegriffen: 1. Dez. 2019. Weizsäcker, Ernst von. 1969. Entwurf einer Baukasten Gesamthochschule. Bericht der Arbeitsgruppe „Unkonventionelle Möglichkeiten der Studienplatzvermehrung“. Stuttgart: Druckhaus Schwaben. Wissenschaftsrat. 1991. Empfehlungen zum Aufbau der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an den Universitäten/Technischen Hochschulen in den neuen Bundesländern und im Ostteil von Berlin. https://wissenschaftsrat.de/download/archiv/B054_1-92_ Wirtschafts_und_Sozialwissenschaften.pdf;jsessionid=A0CA448250C2AF09F73E94 825EB56DEE.delivery2-master?__blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen: 1. Dez. 2019.

Kunstgeschichte

Was ist „Ästhetische Politik“? Donald Trumps „Sanctions are coming“-Tweet als icon des neuen Populismus Jörg Probst Dem Andenken von Martin Warnke.

1 Sanktionen und Manipulationen „Sanctions are coming November 5“ lautet die kunstvoll gestaltete Inschrift einer Porträtfotografie von Donald Trump, die der gegenwärtige US-Präsident am 02. November 2018 an die mehr als 60 Mio. Follower seines Twitter-Accounts postete (vgl. Abb. 1). Als Bildnis gibt diese polarisierende Darstellung dem von Trump mit repräsentierten, das politische Leben derzeit weltweit unter Druck setzenden Populismus buchstäblich ein Gesicht. Das symbolisch übersteigerte Konterfei rief in den Printmedien und im Internet, in der Presse und bei politischen Akteuren eine starke Resonanz in Wort und Bild hervor. Auch aus diesem Grund ist Trumps Tweet ein exemplarisches Vorkommnis der politischen Ikonografie der Gegenwart. Vor allem ist das plakative Präsidenten-Porträt in seinen bewussten und unbewussten Implikationen ein Schlüsselbild der mit dem neueren Populismus notwendig gewordenen Unterscheidung von politischer Ästhetik, Ästhetisierung der Politik und „ästhetischer Politik“. In der Collage posiert Trump als Verkörperung des Weltuntergangs. Diese abgründige Botschaft vermittelt sich zunächst nur demjenigen, der mit der anspielungsreichen Ästhetik des Tweets vertraut ist und natürlich jedem, der von Trump niemals etwas anderes erwartet hat. Im Gegensatz zu den medialen

J. Probst (*)  Philipps Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_2

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Abb. 1   „Sanction are coming November 5“, Twitter-Post auf @realDonaldTrump, 02. November 2018, Seitenansicht. (Quelle: Künstler ungenannt, „Sanction are coming November 5“, Twitter-Post auf @realDonaldTrump, Fotomontage, 02. November 2018. Zugegriffen: 03.01.2020)

Gewohnheiten des selbsternannten „Ernest Hemingway der 140 Zeichen“ (Pieler 2016, S. 34) wurde die Mitteilung ohne Textkommentar verschickt. Das Bild soll ganz für sich selbst sprechen. In Gestalt des kleinen runden Profilbildes in der linken oberen Ecke des Posts scheint dessen Absender mit durchdringendem Blick die vielen Millionen von Betrachtern zu Komplizen der vermeintlich selbsterklärenden visuellen Micro-Nachricht zu machen. Umso mehr lohnt es sich, die Darstellung nicht sogleich kommunikativ als Zeichen zu verstehen zu versuchen und damit deren Polarisierungen zu erliegen, sondern das Bild als solches in Augenschein zu nehmen. Diese rein formale, alles Vorwissen zunächst ausschaltende phänomenologische Betrachtung enthüllt bereits den propagandistischen Charakter der Mitteilung. Der Grund dafür ist, dass die genauere Betrachtung des Bildes die Verwunderung darüber nicht kleiner, sondern größer werden lässt. Das Design soll Effekt machen, dies jedoch nur wie bei einem Wahlkampfplakat, d. h. nicht zur Erzeugung von Evidenz und Transparenz, sondern als Überwältigung und Mobilisierung. Je weniger emotional oder intuitiv man sich dieser Gestaltung nähert, um durch sachliches Interesse die etwaige Unkenntnis der befremdlichen aufwendigen Bildsprache zu überwinden und durch das aufmerksame Auge Aufschluss über das Bild zu bekommen, desto rätselhafter und sonderbarer wird es. Anders als instrumentelle, sich einem Sachverhalt unterwerfende B ­ildformen wie z. B.

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visuelle Ereignis-Dokumentationen (etwa ein Pressefoto) oder Visualisierungen von Statistiken (etwa eine Infografik) erschließt sich der Sachverhalt, auf den Trumps Tweet zielt, nicht unmittelbar aus diesem selbst. Dieses Bild ist keinem Sachverhalt unterworfen, sondern es hat sich einen Sachverhalt unterworfen und ist lediglich die Oberfläche dieser Aneignung. Nur durch den ästhetischen Affekt, d. h. das verschwörerische Einverständnis oder die gereizte Ablehnung kommt es zu einem irgendwie sinnvollen Bezug zu der manipulativen Grafik. Allein schon durch ihre pompöse Form heischt die Bildinschrift große Aufmerksamkeit. Die dadurch geweckte Neugier wird durch das Bild selbst jedoch nicht gestillt. Vielmehr entstehen neue Fragezeichen. Zu sehr sticht die auftrumpfende Typografie von dem eher bieder wirkenden Rest des Bildes ab. In dieser Widersprüchlichkeit von Schrift und Bild unterscheidet sich Trumps Post nicht nur von bildlichen Dokumentationen, sondern auch von der Reklameästhetik, die stets durch eine innere Entsprechung und wechselseitige Steigerung von Bild und Schrift möglichst intensives Interesse zu wecken bestrebt ist. Manipulativ ist Trumps Bildnis-Tweet daher weniger als Verführung, sondern weil er sich ohne ersichtlichen inneren Grund Formen anheischig macht und so schon eine Polarisierung erzielt. Die Substanzlosigkeit der Collage negiert die Eigenständigkeit der Symbolik von Formen (Cassirer 2010a). Fast scheint es, als würde Trumps verkürzende Funktionalisierung von Personen als Freund oder Feind in dieser missbräuchlichen Funktionalisierung visueller Charakteristika wiederkehren. Dem Post gegenüber kann oder soll man sich nicht kritisch interessiert, sondern nur ästhetisch wertend verhalten. Man kann oder soll das Bild bloß gut oder schlecht finden, dafür oder dagegen sein. Letztlich wird damit auch sehr wirksam von dem eigentlichen, den Tweet auslösenden Sachverhalt und einer Diskussion darüber abgelenkt. Trotz des unübersehbaren Hinweises der Inschrift darauf bleibt auch der eigentliche Anlass der Veröffentlichung dieses Tweets dem Uneingeweihten bei bloßer Bildbetrachtung verborgen. Die Möglichkeiten des Bildes zur Erhellung komplexer Sachfragen werden nicht aktiviert, sondern negiert durch ästhetisierende Zuspitzungen zu Personenfragen. So glasklar die entschlossen wirkende Inschrift „Sanctions are coming November 5“ auch ist, vor dem Hintergrund eines in geheimnisvollen bläulich-violetten Nebel gehüllten Donald Trump bleibt die Aussage buchstäblich schleierhaft. Sie kann ohne Vorkenntnis unmöglich einem konkreten Ereignis zugeordnet werden, weil die Darstellung lediglich Trump selbst illuminieren soll. So wie die Persönlichkeit dieses Präsidenten der Klärung dringender globalpolitischer Probleme im Wege steht, so behindern sich in diesem Tweet die Botschaft und ihre Bildlichkeit, Form und Inhalt gegenseitig. Ohne Kenntnis der von Trump geheischten Bedeutungen, der damit

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Abb. 2   „Sanction are coming November 5“, Twitter-Post auf @realDonaldTrump, 02. November 2018, Vollansicht. (Quelle: Künstler ungenannt, „Sanction are coming November 5“, Twitter-Post auf @realDonaldTrump, Fotomontage, 02. November 2018. Zugegriffen: 03.01.2020)

zusammenhängenden politischen Umstände und des mentalen Hintergrundes des Absenders fällt es überhaupt schwer zu glauben, dass die in sich widersprüchliche groteske Kurzmitteilung einen bedeutenden internationalen Konflikt begleitete und diesen sogar zu eskalieren vermochte. Denn ebenso wie die Form der Schrift gibt auch Trumps Bildnis in diesem politisch repräsentativ gemeinten Tweet Rätsel auf. So soll die Fotografie des ausschreitenden Präsidenten wohl politische Entscheidungskraft suggerieren. Doch das unglückliche Layout mit der bombastischen Schrift, die mitten im Bild platziert wurde und wie bei einem Motto-T-Shirt breit auf Trumps Brust geschrieben steht, lenkt den Blick unwillkürlich auf die Leibesfülle und „Breite“ (Seeßlen 2017, S. 36) des massigen Gerne-Groß.1 Nicht nur durch diesen unvorteilhaften, anstatt Energie eher behäbige Wuchtigkeit vermittelnden Eindruck gefährdet die Platzierung der Schrift die visuelle Hauptstoßrichtung der Bildnachricht. Trump ist im unbeirrbaren und zugleich mühelosen Voranschreiten dargestellt (vgl. Abb. 2). Seine Arme schwingen leicht aus, der Blick ist dabei nicht auf den Betrachter gerichtet, sondern seitwärts und sinnend einem unbestimmbaren Punkt in der Ferne hin zugewandt. Der Mann, der hier seinen Weg geht, wirkt wegen der Schrift vor seinem Bauch jedoch wie ein Werbe-Männchen, das die Inschrift wie ein Schild

1Seeßlen

deutet die zur Schau gestellte „Breite“ Trumps als Ikonologie des „Selfmademan“.

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vor sich herzutragen scheint. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt tut sich auch hier eine Parallele zwischen dem Tweet als Selbstbildnis und dem Selbstbild Trumps als Geschäftsmann und „Deal-Maker“ (Brendan und Ladermann 2017, S. 132) auf. Durch den gestalterischen Missgriff jedoch stehen Bild und Schrift miteinander so sehr im Widerstreit, dass das ungewöhnliche Präsidentenporträt in seinem Pathos verpufft und eher zum Lächeln reizt. Nicht zuletzt müsste der Kontrast zwischen Trumps Bekleidung und der Form der Schrift in diesem Bild an dessen Ernsthaftigkeit sehr zweifeln lassen. Die an Dedikationstafeln des klassischen Altertums erinnernde Typografie will zu Krawatte und Anzug so wenig passen, dass sich die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Nachlebens der Antike in der bürgerlichen Welt, z. B. in Bezug auf die Vereinbarkeit von „Achilles mit Pulver und Blei“ (Marx 1976, S. 45) bzw. mit Sanktionen neu zu stellen scheint. Als mutwillige Antikenrezeption passt die in pompöser Serifenschrift gehaltene schlichte Ansage jedenfalls zu Trumps zahllosen selbstgefälligen, zumeist ins Unverschämte kippenden, via Twitter aber weltweit beachteten und sogar die Börsen in Aufruhr versetzenden Banalitäten zwischen „Größenwahn und Absurdität“ (Pieler 2017, S. 7).

2 Fortschreitender Weltuntergang Aus der Fülle von Trumps mitunter sechzig Tweets pro Tag ist die Bild-Botschaft vom 02. November 2018 auch deshalb herauszuheben (Brand 2019), weil auf den Post kontrovers in dessen Bildsprache und Ästhetik reagiert wurde. Außerdem nahm Trump die seltsame Bildidee in anderem Zusammenhang erneut auf. In einigen Details lässt der Tweet zudem eine Art Rückblick auf verschiedene Topoi und Grundzüge einer politischen Ikonologie Donald Trumps zu. Mit dem Blick auf solche Konstanten erlaubt die über sich selbst hinausweisende Kurznachricht ein tieferes kritisches Verständnis von Trumps politischem Stil. So sporadisch und „intuitiv“ (Simms und Ladermann 2017, S. 122) dessen Verhalten in politischen Dingen auch ist, so kontinuierlich kehren bestimmte Gebärden und Mienenspiele wieder. Mit diesen Verhaltensmustern bietet die Körpersprache Trumps eine zusätzliche bildgeschichtliche Möglichkeit dafür, sich nicht jedes Mal aufs Neue über die Unberechenbarkeit dieses politischen Akteurs zu entsetzen oder dessen Gesundheitszustand in Zweifel zu ziehen (vgl. Bandy 2018), sondern ein Selbst- und Weltverhältnis als problematischen Grundsätzen folgende „Substanz“

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Abb. 3   Donald Trump bedrängt den Premierminister von Montenegro Dusko Markovic bei einem Fototermin am 25. Mai 2017 im Nato-Hauptquartier in Brüssel. (Quelle: Fotograf ungenannt, Donald Trump bedrängt den Premierminister von Montenegro Dusko Markovic bei einem Fototermin am 25. Mai 2017 im Nato-Hauptquartier in Brüssel, Fotomontage, BILD/Reuters 2017)

(Simms und Ladermann 2017, S. 121) analytisch zu durchdringen.2 Die Untersuchung und der Vergleich von Bildern erlauben einen solchen klassifizierenden aufklärerischen Querschnitt. Durch Aussagen dieser Art wird die formal und ikonografisch vergleichende Bildgeschichte zu einem politischen Korrektiv. So ist der Tweet mit der großspurigen Schrift und dem seltsamen bläulich-violetten Nebel einmalig, zugleich aber auch die Wiederholung eines ­ seit Trumps Wahlkampf bereits vertrauten Bildmusters. Entschlossenes, unbeirrbares Voranschreiten demonstrierte der Präsidentschaftskandidat in einer effektvollen Bühnen-Show während des Nominierungs-Parteitages der Republikanischen Partei in Cleveland am 16. Juni 2016. „Der Auftritt war spektakulär“, berichtete die damalige USA-Korrespondentin der ARD Ina Ruck aus Cleveland über den Wahlkampfabend. „Als dunkle Silhouette vor hellem Hintergrund tauchte Donald Trump heute Nacht von weit hinter der Bühne des Parteitags auf, ein Schattenriss, der mit jedem Schritt größer wurde – bis ‚The Donald‘ da war, wo er sich wohlfühlt: im Rampenlicht“ (Ruck 2016).3 International noch stärker beachtet wurde dieser von Trump verkörperte, scheinbar unaufhaltsame „Fortschritt“ am 25. Mai 2017 anlässlich eines Rundgangs durch das neue NATO-Hauptquartier in Brüssel (vgl. Abb. 3). 2Simms’

und Ladermanns Untersuchung basiert ausschließlich auf dem Vergleich von Texten. 3Ina Ruck verweist hier auch auf Ähnlichkeiten der Bühnenästhetik Putins und Trumps bei öffentlichen Auftritten.

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Abb. 4   „Nachtkönig“ aus „Game of Thrones“ auf Werbeplakat zur Ankündigung der 8. Staffel der Serie 2019

Erst seit knapp einem halben Jahr im Amt, schien Trump zu diesem Zeitpunkt den Verbündeten auch ganz unmittelbar, d. h. nicht nur durch Körpersprache, sondern auch durch Körperkontakt seine sehr persönliche Meinung über die NATO vermitteln zu wollen. Das „Vorgehen“ Trumps, sich mitten durch die vor ihm stehenden PremierministerInnen buchstäblich hindurch zu stoßen, um in der ersten Reihe der Gruppe zu stehen, war das erste markante Beispiel des „Durchschreitens“ als Ikonografie der „America-First“-Doktrin des 45. Präsidenten der USA. Das Motiv ist in dem Tweet vom 02. November 2018 mit dem frei und unantastbar, sein Gegenüber nicht einmal eines Blickes würdigenden, gelassen voranschreitenden Trump durch aufwendige Ästhetisierungen zur Marke gesteigert worden. Nur so wäre letztlich auch zu erklären, dass die in dem Tweet gekaperte wohlbekannte Optik der weltweit extrem erfolgreichen Fernseh-Fantasy-Serie „Game of Thrones“ (vgl. Abb. 4) mit einem Bild von Trump verknüpft ist, dass ihn in zivilem bürgerlichem Outfit zeigt. So findet sich auf Trumps ­Twitter-Account auch ein Retweet der Grafik einer Wählerin, die den Präsidenten als starken

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Abb. 5   Donald Trump als Superman und Tierschützer, Retweet eines Grafik von Lara Lea Trump auf @ realDonaldTrump, 10. Dezember 2019, Vollansicht

Schützer des Tierwohls verehrt und Trump dafür in Gestalt des vorwärts stürmenden Superman imaginiert (vgl. Abb. 5). Trumps typische Kleidung, ein zweiteiliger Anzug mit einfarbigem Binder, erscheint hier als Super-Suit mit einer roten Krawatte, die wie ein Cape flattert. Vom Weißen Haus aus, so insinuiert es die Darstellung, stößt Trump zu seinen welterschütternden und himmelsstürmenden Taten unaufhaltsam vor. Der „Sanctions“-Tweet vom 02. November 2018 verdankt sich jedoch zweifellos nicht dieser Mimikry des zur Marke gewordenen Heldentums und auch nicht dem „Game of Thrones“-Design als solchem, sondern vor allem dem besonderen Narrativ dieser Fernseh-Serie. Auch jede andere Gestaltung dieser Story-Line würde daher von Trump aufgenommen worden sein. Der Grund für die Adaption lag nicht in der Oberfläche, sondern vorrangig in dem politischen Plot der Serie und darin, dass sie ungewöhnlich erfolgreich damit ist. Für sich genommen transportieren die unverwechselbare Schrift und die bläulich-violette Färbung nicht

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einmal den besonderen Kunstgeschmack Trumps (vgl. Maak 2016; Lobe 2016), sondern höchstens dessen unverwechselbaren hybriden Ehrgeiz, überall der Erste und Beste zu sein und sich deshalb auch mit dem herausragenden Image Anderer zu identifizieren oder wenigstens damit zu messen. Die seit der Erstausstrahlung 2011 mit zahllosen Emmy-Awards ausgezeichnete Serie verfügt über eine so hohe Alleinstellung ihres Designs, dass der amerikanische Programmanbieter HBO als Inhaber der Urheber-Rechte von „Game of Thrones“ den Nachahmungsversuch Trumps sogar als „Markenzeichen-Missbrauch“ (o.A. 2018) missbilligte. Das für Trump attraktive Image des „Game of Thrones“-Designs gründet auf dem Erfolg der Saga um eine weltgeschichtlich aufgeblasene Fehde zwischen Königsfamilien im Stil des europäischen Mittelalters und der internationalen Faszination für politische Strukturen und Ideen der Vormoderne. Trump wählte für seine Twitter-Intervention eine Bildlichkeit, deren tiefere politische Bedeutung er ohne weiteres als prominent bekannt voraussetzen konnte. Der Erfolg von „Game of Thrones“ und des darin kolportierten im Grunde antidemokratischen, archaischen politischen Settings mochte ihm zugleich als Signum der internationalen Beliebtheit jener von ihm selbst geteilten und befolgten autokratischen politischen Ideen gelten. „Das Konzept der Zuhörtour ist lächerlich“, lautete eine entsprechende, die deliberative Demokratie aufkündigende Äußerung Trumps schon 1999, „die Menschen wollen Ideen“ (Simms und Ladermann 2017, S. 72). Trumps Ästhetisierung eigener politischer Entscheidungen durch die Kaperung des „Game of Thrones“-Designs entsprach wegen dessen außerordentlichem massenhaftem Erfolg also durchaus populistischem Kalkül. Unter Umgehung oder Erübrigung von Diskussionen, pluralistischer Meinungsvielfalt und multiperspektivisch abwägender Betrachtungen macht sich der Populist anheischig, immer schon zu wissen, was „das Volk“ will und auszusprechen oder danach zu handeln, was ohnehin „alle“ denken oder wünschen. Als „populistische Anbiederung“ und „zynische Instrumentalisierung unaufgeklärter Bewusstseinspotentiale“ (Dubiel 1986, S. 10) kann diese Strategie im Fall des Trump-Tweets vom 02. November 2018 jedoch nicht angesehen werden. Denn die Fernseh-Fantasy-Serie steht für ein unabhängig von Trump längst weltweit reaktiviertes vormodernes politisches Denken. Dieses neue alte Faszinosum archaischer politischer Freund-Feind-Verhältnisse musste durch den ­„Sanctions“-Tweet nur noch als Korrelat der politischen Grundhaltung des US-Präsidenten ausgewiesen werden. Trumps häufig wiederholte Ablehnung multilateraler Verträge mehrerer Verhandlungspartner zugunsten bilateraler Beziehungen mit einem ungleich größeren Faktor des Rechts des Stärkeren

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oder Gerisseneren konnte im Kampf aller gegen alle um die politische Macht in „Game of Thrones“ sein abgründiges cineastisches Vorbild finden.4 Es verwundert daher kaum, dass der „Sanctions“-Tweet als Bezug von Filmwelt und Politik in seinen ikonografischen Anspielungen auf „Game of Thrones“ vorhersagbar war. Bereits 2017, bald nach Amtsantritt Trumps, wurde der Erfolg der „fesselnden, klugen, brutalen“ (Shaller 2017) Serie auch zum Gleichnis der politischen Kultur der Gegenwart. „Jede Epoche schafft sich ihre eigene Ästhetik des Politischen“, heißt es hier, um in einem ebenso spielerisch assoziativen wie analytisch scharfen ideengeschichtlichen Vergleich die Dramaturgie der Serie mit politischen Theorien des Konservatismus in Beziehung zu setzen bzw. diese Komparatistik zu dokumentieren. „Konservative amerikanische Politik-Journale wie The National Interest haben die Serie für ihre schonungslose Darstellung von Politik bejubelt, als frei von Illusionen und naiven Idealen. Es gelte – wie im echten Leben – das Recht des Stärkeren“ (Shaller 2017). Ahnungsvoll schließt der Artikel über „machiavellistische Positionen“ und den „hobbesianischen Albtraum“ in Film und Politik nach der Ära Obama mit der Prognose: „Mit der Wahl Trumps [ist] der größte anzunehmende Unfall geschehen. Jetzt geht es nicht mehr um Kleinkriege und Debatten, sondern ums Überleben der Gattung. Es ist nur logisch, dass mit Trump ‚Game of Thrones‘ an sein Ende kommt. Für die Ära Trump muss eine neue kulturelle Verschlüsselung gefunden werden, eine neue Ästhetik des Politischen. ‚Winter is here‘, der Winter ist jetzt da, wie die Werbeplakate für die neue Staffel düster verkünden.“ Wie sehr sich das symbolische Denken in Kunst und Politik durch den Populismus anzunähern vermag, wurde knapp 1 ½ Jahre nach diesem Artikel mit Trumps „Sanctions“-Tweet vom 02. November 2018 offensichtlich. Die Grafik nahm den Titel der ersten Staffel „The Winter ist coming“ (2011) auf, um der Pointe der achten und letzten Staffel „The Winter is here“ (2019) vorauszugreifen. Denn anders als 2017 noch gedacht, negierte Trumps politischer Stil das Narrativ der Fantasy-Serie nicht, sondern nutzte deren schlimmste mögliche Wendung, den apokalyptischen Siegeszug des Winters als Ausradierung der „Welt wie wir sie kennen“, als Überhöhung seiner souveränen, politischen Persona. Durch seine Laufbewegung in dem bläulich-violetten, Frost und Kälte visualisierende Bild-Tweet erscheint Trump als Verkörperung des grausamen,

4Mit

„Der Pate“ stammt Trumps Lieblingsfilm allerdings aus dem Mafia-Milieu. Vgl. Simms und Ladermann 2017, S. 41.

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von allen miteinander im Clinch liegenden Königsfamilien gleichermaßen gefürchteten, aus dem eisigen Norden „kommenden“ und alles vernichtenden „Nachtkönigs“ in „Game of Thrones“ (vgl. Abb. 4). Die Bildlichkeit machte Trump in Sinneinheit mit der für ihn seit seinem Amtsantritt typisch gewordenen Ikonografie des Überschreitens oder „Durchschreitens“ in dem Twitter-Post vom 02. November 2018 zum personifizierten „fortschreitenden Weltuntergang“.

3 Retweets und Tischvorlagen Brendan Simms und Charlie Ladermann haben darauf verwiesen, dass Trump durch sein Amt zu keinem anderen Menschen werden konnte, sondern wie jeder andere Präsident während seiner Amtszeit nur das geistige Kapital verbraucht, das er sich vor seinem Amtsantritt angeeignet hatte (Simms und Ladermann 2017, S. 11). Trumps politische Ikonografie ist so extrem und so eklatant wie das meiste seiner Äußerungen und Handlungen, weil die seit der Jugend über Jahrzehnte hinweg sich verfestigenden Grundüberzeugungen dieses politischen Akteurs auch in den von ihm direkt und indirekt erzeugten Bildern, in seiner Körpersprache und seinen visuellen Interventionen ihren Niederschlag finden. Aus dieser Perspektive ist es kein Zufall, dass der zunächst lächerlich, dann hybrid und dann beängstigend wirkende Bild-Tweet vom 02. November 2018 Sanktionen ankündigte, die gegen den Iran gerichtet waren. „Wie bei so vielen Amerikanern seiner Generation war Trumps Weltanschauung vom Trauma der Teheraner Geiselnahme und dem Gefühl geprägt, in den späten 1970er Jahren und den 1980er Jahren einen Niedergang der Vereinigten Staaten mitzuerleben“, notieren Simms und Ladermann (2017, S. 35) und korrigieren damit den Blick auf die zunächst als Selbstverzwergung erscheinende „Make-America-great-again“-Logik Trumps. Aus dieser Sicht mutet die ein­ seitige, realpolitisch ungerechtfertigte Aufkündigung des internationalen Atomabkommens mit dem Iran am 08. Mai 2018 und die zum 05. November in Kraft getretenen Sanktionen gegen das Land wie die Bestätigung der düstersten Prognose nach Trumps Amtsantritt an: „Die schlechte Nachricht für den Rest der Welt ist, dass Trumps bedrohlichste Überzeugungen diejenigen sind, die ihm am meisten Herzen liegen“ (Simms und Ladermann 2017, S. 124). Nur so ist das Pathos des Tweets vom 02. November 2018, der die Iran-Sanktionen ankündigte, kein Missgriff einer demaskierenden Maske, weil Trump als entschlossener Entscheider erscheinen wollte, durch das Posing als „Nachtkönig“ aus „Game of

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Abb. 6   Qassem Soleimani im Design von „Game of Thrones“, TwitterPost auf @soleimany_ir, 04. November 2018, Vollansicht. (Quelle: Künstler ungenannt, „I will stand against you“, TwitterPost auf @ oleimany_ir, Fotomontage, 04. November 2018. Zugegriffen: 03.01.2020)

Thrones“ jedoch als Bedrohung allen Lebens und Symbol des allesvernichtenden apokalyptischen Todes figurierte.5 Mit dem Tweet verbindet sich allerdings mehr und anderes als nur Trumps mythisch überhöhte Genugtuung darüber, dem jahrzehntelang als Erzfeind erlebten Land in einem gewaltigen Schlussstrich endgültig den Garaus zu machen. Die weitere internationale politische Entwicklung bewies, dass die mit den Sanktionen geheischte Souveränität den wieder angefachten Konflikt nicht entschied. Auch schrumpfte der Iran den martialischen Tweet Trumps zum Theaterdonner durch ein „Gegenbild“ des iranischen Generals Qassem Soleimani, das den Kommandeur der al-Quds-Brigaden als kämpferischen Widerpart ebenfalls in „Game of Thrones“-Kostümierung zeigte (vgl. Abb. 6).6 Als

5Die

Düsternis dieser Bildlichkeit entspricht auch einem nur halb ironisch gemeinte, Politik, Religion und Kino verknüpfenden Statement des ehemaligen „Chefstrategen“ Trumps, Steve Bannon: „Finsternis ist gut. Dick Cheney, Darth Vader, Satan. Das ist Macht“. Zit.n.: Seeßlen 2017, S. 15. 6Trumps Rache dafür ist möglicherweise ein Faktor der gezielten Tötung Soleimanis am 03. Januar 2020; vgl. o.A. 2020.

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Abb. 7   Krisenberatung im Weißen Haus am 02. Januar 2019 mit „Sanctions are coming November 5“-Tweet als Poster auf dem Verhandlungstisch. (Quelle: Kameramann ungenannt, Krisenberatung im Weißen Haus am 02. Januar 2019 mit „Sanctions are coming November 5“-Tweet als Poster auf dem Verhandlungstisch, Standfoto, www.tagesschau.de. Zugegriffen: 02. Januar 2019)

Visualisierung in einer für Trump mental besonders bindenden Angelegenheit dokumentiert der „­ Sanctions“-Tweet vom 02. November 2018 schon jetzt einen Höhepunkt der Bildlichkeit dieses US-Präsidenten in seiner ersten Amtszeit. Das Design eines politisch höchst komplexen Filmkunstwerks verschmolz in dem Tweet in wechselseitiger Steigerung und symbolischer Verschränkung mit der für Trump typisch gewordenen Ikonografie des zupackenden oder besser zutretenden unbeirrten Voranschreitens. In dieser Vielschichtigkeit wies das Bild so sehr über sich selbst als bloß tagespolitischen, Trump mehrmals stündlich passierenden Social-Media-Post hinaus, dass der Mann im Weißen Haus in vollkommen anderem Zusammenhang zu einem späteren Zeitpunkt mit der Grafik erneut prahlte. So lag ein Ausdruck des Tweets als riesiges Poster bei Gelegenheit der unter Hochspannung stehenden Verhandlungen mit dem von den Demokraten dominierten US-Kongress um die Beendigung der „Shut Down“ genannten Haushaltssperre am 02. Januar 2019 vor den Augen seiner Minister und demokratischer Abgeordneter auf dem Verhandlungstisch (vgl. Abb. 7). Offenbar sollte auch in dieser Kabinettsrunde zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel daran aufkommen, wer das erste und das letzte Wort hat. So autark und ikonisch musste die Komposition in Trumps

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Augen wirken, dass für diese spätere Präsentation nicht einmal das Datum des 05. November geändert worden war. Die sehr sonderbare, den Präsidenten in diesem Moment verdoppelnde „Tischplakatierung“ spricht dafür, dass das Bild von Trump als Visualisierung seines politischen Selbst- und Weltverhältnisses schlechthin begriffen wurde. Damit hat in dem Tweet das für sich zu betrachtende populistische Image des durchgreifenden, entschlussstarken Entscheiders, der nicht redet, sondern handelt, als politische Idee insgesamt eine aktuelle ikonische Ausprägung erfahren. Das Bild ist daher auch als icon des neueren, derzeit weltweit erfolgreichen antiparlamentarischen Populismus allgemein anzusehen und auf weitere Implikationen zu befragen, die den Charakter dieser neuen alten politischen Geißel deutlicher werden lassen.

4 Nach der Ästhetisierung der Politik Als filmisches Gleichnis und Inkorporierung der Kino-Welt lässt Trumps „Sanctions“-Tweet zugleich kritische Rückblicke auf bisherige bild- und medienwissenschaftliche Deutungen des Populismus zu. Die „Game of Thrones“-Mimikry ist auch deshalb so komplex, weil sie als cineastische ­ Anspielung jene Ideologiekritik auf die Probe stellt, die explizit auf den Film reagierte und das massenhaft technisch reproduzierbare bewegte Bild als politische Form zu begreifen suchte. Die Anfänge der bildtheoretischen Kritik des Populismus liegen bekanntlich in der Filmforschung und fast scheint es, als wäre Trumps populistische Bild-Nachricht auch eine höhnische Botschaft an all jene unter seinen Kritikern, die sich in ihren Kommentaren methodisch noch auf dieser Ebene von Problematisierungen des analogen Zelluloidfilms bewegen. Populistisch ist der „Sanctions“-Tweet nicht nur wegen der Kaperung eines massenhaft erfolgreichen Filmdesigns, sondern überhaupt als Kaperung des Filmischen und des Films als Massenmedium. Falls das von Trump vor seiner Amtszeit gesammelte und während seiner Amtszeit gebrauchte „geistige Kapital“ Berührungen mit Film und Filmkritik umfasst, dann spielt in die unbekümmerten „Game of Thrones“-Phantasien Trumps auch dessen Achselzucken über eine bestimmte, seinen Politikstil mit der Bildwelt des Films vergleichende oder sogar daraus ableitende medienwissenschaftliche Kulturkritik hinein. Zumindest ist die frühe und bis heute nachwirkende ideologiekritische Analyse des Films als Massenmedium so sehr mit der wechselseitigen Bedingung von Ästhetik und Politik verquickt, dass Trumps Kino-Tweet vom 02. November 2018 schon zum Zweck der Rettung dieser Art von Ideologiekritik weiterführende Unterscheidungen dieser Relation herausfordert.

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Wem der Effekt über alles geht, der wird besonders sensibel für alles sein, das ihm die Show stehlen könnte. Dabei bedingt Trumps Drang, bei sich und anderen alles auf die Oberfläche zu reduzieren, vermutlich auch den sicheren Instinkt dafür, was zur Oberfläche verkommen ist, seinen dynamischen Glutkern verloren hat oder einer Anpassung an die veränderten Gegebenheiten bedürfte. Kränkungen durch die Kommunikation mit politischen Akteuren wie Trump haben das Bild einer Mischung aus direkter plumper Beleidigung und dem indirekt geschürten Selbstzweifel an der eigenen Substanz wegen der bloßen Möglichkeit der Zumutung dieser prekären Konfrontation. Dieses lähmende Erlebnis, durch einen Ignoranten auf eigene Defizite verwiesen zu werden, verbindet sich mit dem „Sanctions“-Tweet für jeden Analytiker, der den gegenwärtigen Populismus lediglich als Ausfluss der Massenkultur dechiffrieren oder der „Kulturindustrie“ die Schuld am Wahlerfolg dieser Volksverhetzung geben möchte. Gemessen an der Kontinuität der seit Walter Benjamins Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936/1939) häufig wieder aufgenommenen und variierten Idee der faschistoiden Massenkultur aus dem Geist der Fotografie und des Films muss die trotz oder gerade wegen des ausgedehnten Diskurses darüber mögliche, allzu durchsichtige politische Repräsentation durch Film und Fernsehen als tragische Offenbarung der Wirkungslosigkeit jahrzehntelanger kulturkritischer Aufklärungsarbeit erscheinen. Die Verpuffung kann jedoch nur zu neuen Anläufen anstacheln, weil Trump kein Einzeltäter ist, er auch in seiner Mimikry vormoderner mythischer Sagenhelden Wladimir Putin als „Super-Putin“ (Hamel 2017)7 folgt (vgl. Abb. 8) und diese Rollenspiele daher keine Symptome individueller psychologischer Defizite, sondern aufrüttelnde bildliche Indizien einer globalen „großen Regression“ (Geiselberger 2017) und des weltweit grassierenden Populismus bedeuten.8 Die „Falle“ (Hornuff 2019, S. 121) des Populismus, wie er sich heute zeigt, schnappt zu, wenn man ihn als ästhetisches Problem erkennt und deshalb abtut, sei es auch nur als bereits bekanntes und seit Benjamin als solches kritisiertes Phänomen. Benjamins Überlegung, die technische Reproduzierbarkeit würde

7Die

Moskauer Ausstellung „Super-Putin“ ließ offen, ob es sich um „ernstgemeinte Propaganda oder ironische Kunst“ handelt und nimmt damit die Qualität des ­„Sanctions“-Tweets von Trump vorweg. 8Anders als der 1979 von Jürgen Habermas herausgegebene Sammelband „Zur geistigen Situation der Zeit“ mit einem Beitrag von Martin Warnke enthält die 2017 erschienene zwingende Zeitdiagnose keinen Beitrag der Kunst- und Bildgeschichte.

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Abb. 8   Wladimir Putin als Fantasy-Krieger in der Moskauer Ausstellung „Super-Putin“, 2017/2018, Katalogansicht. (Quelle: Künstler ungenannt, Wladimir Putin als FantasyKrieger in der Moskauer Ausstellung „Super-Putin“, Fotomontage im Katalog, 2017/2018)

dem Kunstwerk zusammen mit seiner Einzigartigkeit auch seine Energie als politisches und soziokulturelles Korrektiv rauben, ließen das Fotografische und das Filmische nicht mehr als nüchtern dokumentarisch, sondern als totalitaristisch erscheinen. „An die Stelle einer Menge urteilender Individuen tritt in den faschistoiden Masseninszenierungen der Ausdruck einer diffusen Totalität, in der die Urteilsfähigkeit der Einzelnen untergeht und die politischen und sozialen Differenzen zwischen den Einzelnen verschleiert werden“ (Rebentisch 2010, S. 116). Doch nicht erst die gezielte politische, zu Propaganda-Zwecken instrumentalisierte Filmkunst, sondern in dessen technischer, massenhafte Verbreitung ermöglichender Reproduzierbarkeit als solcher lag für Benjamin (2002, S. 383) die „Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.“ Schon die gedankenlose, der bloßen Zerstreuung dienende Film-Rezeption als massenhaft „simultane Betrachtung“ musste für Benjamin (2002, S. 373) die Faschisierung befördern. In diesem Punkt liegt der nach wie vor aktive argumentative Kern der Kritik am Film als Massenmedium. Immer wieder überrascht dabei, wie sehr hier der Begriff des Massenmediums durch den Begriff des Volkskörpers bedingt

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ist.9 Denn mit der massenhaft gleichzeitigen, aber kommentar- und reflexionslosen Konsumtion verschwindet nur die Individuation durch Kunst, nicht aber die Prägung der Masse insgesamt als Körper. „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; […] Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich“, lautet eine der häufig diskutierten Formulierungen Benjamins (2002, S. 379). Film stellte sich somit wie eine in der Masse zirkulierende mentale Imprägnierung und eine Art von „kollektivem Unbewussten“ (Jung 2001) dar, ein Begriff, den Carl Gustav Jung etwa zeitgleich mit Benjamins „­ Kunstwerk“-Aufsatz 1936 näher erläuterte. Für die Deutung des „Sanctions“-Tweets als icon des gegenwärtigen Populismus folgt daraus eine weitere Sinnschicht. Trump hatte mit dem Bild-Post im Stil von „Game of Thrones“ eine politische Entscheidung propagandistisch in eine weltbekannte, seinen Konflikt mit dem Iran mystifizierende Bildsprache überführt. Zugleich spielt in diese Bildpolitik ein Moment der Ästhetisierung von Politik im Sinne Benjamins hinein. Mit seiner Verkörperung als „Nachtkönig“ schien Trump auf die massenhaft unbewusst wirkenden Energien und Ideen zu wetten, die in der „Game of Thrones“-Reihe als vormodernes politisches Wissen popularisiert worden sind. Es entspricht so sehr der Selbst- und Weltwahrnehmung des US-Präsidenten, dass dieser sich entgegen seines sonst zur Schau gestellten Nonkonformismus dem Film-Design unterworfen hatte. Populistisch ist dieser Akt jedoch auch dadurch, dass Trump sich mit dem „Sanctions“-Tweet trotzig gegen die weltweit geäußerte Kritik an seiner Iran-Politik wandte. Durch seine im Grunde kindische Mimikry mochte Trump in einem fantastischen Rundumschlag sich mit seinen Wählern und den „Game of Thrones“-Fans gegen seine politischen und intellektuell links stehenden Kritiker verbünden, die ihm seinen triebhaften chaotischen Politikstil ebenso madig machen wie die lustvoll-naive Zerstreuung im Kino. Wie sehr der innere Bezug zwischen Populismus und dem Kino als Massenkultur in der Kritik an Donald Trump wirksam ist, belegen auch die eindrucksvollen, mit Erinnerungen an Blockbuster des Horror- und Katastrophenfilms spielenden (Probst 2017b),10 häufig die Titelseiten des Nachrichtenmagazins

9Der

Zusammenhang erinnert an das immer wieder kontrovers diskutierte Verhältnis von Walter Benjamin zu Carl Schmitt. Vgl. Bredekamp 1998. 10Rodriguez‘ Idee, Trumps Gesicht ohne Augen zu zeichnen, gehört in die Ikonologie von Ridley Scotts „Alien“ (1979). Andere Grafiken von Rodriguez zeigen Trump als Super-Meteoriten im Angriff auf den Erdball wie in „Deep Impact“ (Regie: Mimi Leder 1998) oder als auf Washington zurollenden Super-Tsunami wie in „2012“ (Regie: Roland Emmerich 2009).

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Abb. 9   Donald Trump als King Kong, Grafik von Edel Rodriguez als Cover des Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, Nr. 41, 14. Dezember 2019. (Quelle: Edel Rodriguez, Donald Trump als King Kong, Grafik, Cover des Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Nr. 41, 14. Dezember 2019)

„Der Spiegel“ zierenden Motive des Grafikers Edel Rodriguez, z. B. als King Kong (vgl. Abb. 9). Trumps Selbstdarstellung als „Nachtkönig“ aus „Games of Thrones“ in dem „­Sanctions“-Tweet vom 02.November 2018 beweist jedoch, dass diese Bildkritik dem Phänomen, das gebrochen und negiert werden soll, hinterherläuft. Analogien des monströsen Verhaltens Trumps mit Monstren der Filmgeschichte können ihn und seine Anhänger niemals erschrecken oder gar aufrütteln, weil Trump selbst sich absichtsvoll als bedrohliches Monstrum geriert und gerade als unkonventionelles scheinbar kraftvolles, das „Establishment“ und andere Widerstände zertretendes „Urvieh“ geliebt und gewählt wird. Wie ein „Hase-und-Igel“-Spiel zugunsten Trumps wirkt daher auch Georg Seeßlens Buch über „Populismus“, so scharfsinnig diese Analyse auch ist. Der Band über die Entsprechungen von Massenkultur und Populismus will das Phänomen Trump klären, indem der „Präsident als Abfall der Popkultur“ (Seeßlen 2017, S. 7) demaskiert wird. Als materialisierten sich die von Benjamin vorgestellten, in das Unbewusste der Massen „eingesenkten“ Kino-Imaginationen durch Trump als „Volksheld“, seien dessen Auftritte Imitationen von „Western- und Superheldengesten. Aber was heißt schon ‚imitieren‘? Er streckt imaginäre Colts in den Raum und arbeitet mit imaginären Hitzestrahlen; er befindet sich im Status kurz vor dem Abflug oder kurz vor der Landung. Und natürlich würde er sich am liebsten die zivile Kleidung vom Leib reißen, um sein ‚wahres‘ Kostüm zu zeigen. Seine Auftritte sind ‚Einstellungen‘ und ‚Comic-Panels‘“ (Seeßlen 2017, S. 31).

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Auch wenn diese Herleitungen von „amerikanischen Archetypen“ aus B-Movies und Comics sogar das „Geheimnis“ (Seeßlen 2017, S. 31) von Trumps Frisur lüften - der „Sieg Trumps wurde in diesem Essay nicht ‚erklärt‘“ (Seeßlen 2017, S. 137).11 Die sich auf diese Weise selbst bescheidende Studie verzichtet jedoch auch auf die Selbstkritik, dass eine einhegende, dem gegenwärtigen Populismus durch Aufdeckung seiner Strategien den Stecker ziehende Analyse insbesondere dann nicht gelingen kann, wenn sie (wie bei Benjamin intendiert) allein durch den bloßen Nachweis von Politik als Show oder Simulation ein Wahrspiegel der Verhältnisse sein will. Zu den Techniken des neuen Populismus gehört die Aktivierung von polarisierender emotionaler Bildlichkeit als Kaltstellung nüchtern-rationaler Sachpolitik, wie Seeßlen (2017, S. 8) wieder und wieder betont. Trumps millionenfach geteilter „­ Sanctions“-Tweet zeigt allerdings exemplarisch, dass die neue Propaganda darin besteht, sich die Massenmedien zu unterwerfen, indem man sie ausnutzt (etwa durch die memetische Kopie des Designs einer weltbekannten Fernseh-Serie wie „Game of Thrones“) und zugleich diese Massenmedien umgeht (d. h. als Sprachrohr nicht Film, Funk und Fernsehen, sondern die Sozialen Medien als direkten Zugang zum „Volk“ verwendet). Mit Twitter ergibt sich erneut „durch die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden […] eine veränderte Art des Anteils“ (Benjamin 2002, S. 379). Umso mehr hat sich das Modell der „Ästhetisierung der Politik“ zur Erzeugung fremdbestimmter, totalitäre Gehirnwäsche betreibender Scheinwelten als Deutung faschistoider populistischer Tendenzen erschöpft. Die Masse ist nicht mehr das Opfer des Populismus, sondern dessen treibender Akteur.

5 Memes und Pathosformeln Vergleiche mit der Bildwelt via Twitter verbreiteter Memes zeigen, dass Trumps „Sanctions“-Tweet vom 02. November 2018 in seiner bombastischen Selbstüberhöhung als „Nachtkönig“ einer mittelalterlichen Fantasy-Saga in der digitalen Bildkultur keinen Einzelfall darstellt. Vor allem rechtsextreme Memes bemühen ein „allgemein hohes Maß an pathetischer Bildlichkeit“ und eine „immense Menge an historischen Bezügen“ (Nestler 2019, S. 9). Auch in diesem Punkt

11Vielmehr

handelt Seeßlens Studie über das Problem der Postfaktizität in der Politik und „davon, dass die Demokratie, so wie wir sie kannten […], mit allen ihren Schwächen und Widersprüchen, nicht mehr der Normalfall sein wird und dass ihre Erzählung langsam im Nebel eines Diskursmärchens verschwindet“ (S. 137).

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Abb. 10   „Bewahrt Euer Erbe“, Meme der Gruppierung „Patrioten im Widerstand“ auf Instagram, 2019. (Quelle: Künstler ungenannt, „Bewahrt Euer Erbe“, Meme der Gruppierung „Patrioten im Widerstand“) auf Instagram (URL: https://www.instagram. com/p/BuqrRFFAIQs/) der Gruppierung „Patrioten im Widerstand“ auf Instagram, Fotomontage, 2019. Zugegriffen: 21. April 2019.

erscheint die hybride Mimikry Trumps nicht als bloße Eigenwilligkeit und individual-psychologisches Defizit einer bestimmten Person. Vielmehr ähneln die visuellen Übersteigerungen als Kriegsgott oder Superman einem in rechten Netzwerken weit verbreiteten seltsamen Expressionismus der als Mission erlebten Freund-Feind-Verhältnisse. Die Verwandtschaft rechtsextremer Memes mit Trumps „Sanctions“-Tweet offenbart ein weiteres Charakteristikum des aktuellen Populismus. Diese Massenideologie funktioniert nicht nach dem Schema der mehr oder weniger willenlosen Unterordnung unter einen charismatischen Führer. Weder ist Trump ein Leitbild noch autorisiert er welche, wie auch immer das „Game of Thrones“-Mimikry adressiert war. Ein mit totalitären Regimes vergleichbarer Bildkult wird um Trump nicht betrieben. Eher kursieren unter seinen Anhängern freundlich fraternisierende, in dieser Diktion unter Stalin oder Kim Jong-Un sicher undenkbare, beinahe kumpelhafte Scherz-Tweets wie der über Trump in Gestalt von Superman als Tierschützer (vgl. Abb. 5). Nicht die Dominanz des „Volkes“ durch einen kompromisslosen Führer und „Selfmademan“ (Seeßlen 2017, S. 31), sondern der überragende Machtmensch als Selbstähnlichkeit des „kleinen Mannes“ entspricht der paradoxen Logik und der Ästhetik des aktuellen Populismus. So kehrt Trumps vollkommen illegitime Repräsentationsanmaßung als Weltenrichter in Gestalt des „Nachtkönigs“ aus „Game of Thrones“ im grotesken Selbstbild namenloser „Patrioten“

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als grimmige Barbaren wieder, die sich zur Rettung des „Abendlandes“ berufen fühlen (vgl. Abb. 10). Die Klärung der mentalen und epistemologischen Grundlagen dieser von Politikern und Bürgern gleichermaßen betriebenen illegitimen Repräsentationsanmaßung erscheint mir als Schlüssel zur Bewältigung des gegenwärtigen Populismus-Problems. Memes als fantasierende Adaptionen von Kreuzrittern, Barbaren oder Gladiatoren schwingen dabei ebenso wie das „Game of Thrones“-Shocking vom 02. November 2018 zwischen beängstigender Zuspitzung und abgründiger Ironie. Sie ist als Technik der „memetischen Kriegsführung“ anzusehen. „Ein Gegner, der lacht, ist schon halb auf unserer Seite“, lautet eine entsprechende Maxime im rechtsextremen „Handbuch für Medienguerillas“ (Nestler 2019, S. 39). Weil Seeßlen die Spezifik digitaler Bilder weitgehend unberücksichtigt ließ, musste in dieser für sich genommen faszinierenden filmgeschichtlichen Analyse das Spiel gegen Trump verloren gehen. Die Kritik Trumps als politischem Zwitter aus dem Schoß der Populärkultur erklärt das Phänomen nur mit Beispielen jener Bildwelt, der es entstammt. Auf diese wechselseitig illustrierende Weise ist es kaum möglich, mehr über die Massenkultur zu lernen, wenn man Trump erforscht, geschweige denn umgekehrt. Ein Schlüssel zur Schärfung dieser von Seeßlen vorgeschlagenen bildgeschichtlichen Waffe gegen den Populismus besteht darin, die kritische „Ikonografie“ (Seeßlen 2017, S. 86) Trumps auf die digitalen Bildwelten in Sozialen Medien auszudehnen bzw. die in der Körpersprache Trumps zu beobachtende Gestik und Mimik mit Untersuchungen jener pathetischen illegitimen Repräsentationsanmaßung zu koppeln, die in den Neuen Medien zur Massenkultur geworden ist. So ist in den obigen Ausführungen bisher ein Detail unberücksichtigt geblieben, das für die Bild- und Körpersprache Donald Trumps nicht weniger typisch ist als das Motiv des unbeirrten Voranschreitens. Betrachtet man den „Sanctions“-Tweet vom 02. November 2018 noch einmal genauer, irritiert immer mehr der merkwürdig ausweichende, nicht auf den Betrachter, sondern auf einen imaginären Ort im Bild selbst gerichtete Blick. Anders als in dem bekannten amerikanischen Mobilisierungs-Plakat des Ersten Weltkriegs, auf dem ein Yankee mit weißem Spitzbart, Stars-and-Stripes-Zylinder, ausgestrecktem Zeigefinger und adlergleichem bohrendem Blick dem Betrachter sein „I want you for U.S.Army“ entgegenschleudert, ist auf dem kriegerischen Tweet der Blick von Trump abgewendet, obwohl dieser offensiv aus dem Bild herausschreitet. Gewissermaßen kann Trump auf diese Weise gar nicht so genau sehen, wohin er geht. Auch darin symbolisiert der Tweet bewusst oder unbewusst den Politikstil des Präsidenten, dessen oft beklagte Unberechenbarkeit und Wechselhaftigkeit

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dem Prinzip „erst handeln, dann denken“ zu folgen scheint (Küster 2019).12 Ursprünglich mag das Foto, das der Collage zugrunde liegt, eine Momentaufnahme kurz vor einer Pressekonferenz gewesen sein. Bei Meetings mit Journalisten auf dem Rasen vor dem Weißen Haus kurz nach Landung seines Helikopters geht Trump nie direkt zu den wartenden Presseleuten, sondern mustert sie zunächst scheinbar beiläufig und verächtlich im Vorübergehen, um sich dann erst mit einem Schwenk den Mikrofonen und Kameras zuzuwenden. Im Bild wirkt diese widersprüchliche Kombination von energischem Voranschreiten und träumerisch seitwärts gewendetem Blick jedoch wie eine weitere von vielen Unstimmigkeiten dieses eigentlich lächerlich misslungenen, sein Pathos verfehlenden Memes. Durch die gestalterische Panne wird aus dem düster drohenden „Winter is coming“ von „Game of Thrones“ Frank Sinatras gemütvolles „My Way“. Das frostige, die tödliche Eiseskälte des fürchterlichen „Nachtkönigs“ visualisierende Blau-Violett auf dem Tweet dreht ins duftig Sentimentale. Aus dem Nebel des strafenden Weltuntergangs wird der Denkraum des Seniors, der beim Spazierengehen gedankenverloren ganz bei sich selbst ist. Als „Teil seiner Ikonografie“ (Seeßlen 2017, S. 60) für sich genommen vergleichend betrachtet, entpuppt sich Trumps abgewandter Blick jedoch schnell als eine tiefgründige, die Geisteshaltung und die politischen Begriffe dieses Akteurs zu einem komplexen Bildmoment verdichtenden Chiffre. Bereits bei Trumps anstößigem Auftritt im neuen NATO-Hauptquartier in Brüssel am 25. Mai 2017 zeigte sich, dass beides, der energische Schritt und der ausweichende Blick, das Etwas-Anrichten und das Nichts-mehr-damit-zu-tun-haben-wollen, das Auftreten und das „Wegtreten“ für ihn zusammengehört und darin eine typische Pathosformel dieses US-Präsidenten sichtbar wird (vgl. Abb. 3). Seitdem ist in zahllosen Pressefotografien immer wieder jener eigentümliche, leicht nach oben gerichtete sinnende Blick dokumentiert worden, den Trump gerne dann zur Schau stellt, wenn er etwas durchgesetzt (oder besser durchgetreten) hat oder sonst etwas sehr Wichtiges geschieht oder geschehen ist (vgl. Abb. 11). Trump scheint in solchen Momenten anwesend und abwesend zugleich zu sein. Der Bildvergleich legt nahe, dass seine Augen dabei nicht jemanden oder etwas fixieren, sondern nach innen gerichtet sind, so, als würde der von Walter Benjamin beschriebene kultartig verehrende, sich in ein Kunstwerk versenkende Blick hier von Trump auf die eigene Person angewendet werden, um sich in sich selbst zu vertiefen.

12Die

beim NATO-Gipfel in Brüssel Anfang Juli 2018 angedeutete, innerhalb weniger Minuten wieder rückgängig gemachte Drohung Trumps, aus der NATO auszutreten, war dafür wohl das extreme Beispiel.

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Abb. 11   Donald Trump mit „heroischinspiriertem Leerblick“ vor Sternenbanner, 2017. (Quelle: Fotograf ungenannt, Donald Trump mit „heroischinspiriertem Leerblick“ vor Sternenbanner, 2017)

Was als ästhetischer Rezeptionsvorgang oder als Meditation nicht weiter kommentarbedürftig wäre, ist als bewusstes oder unbewusstes öffentliches Posieren eines einflussreichen politischen Entscheiders zu fokussieren. So gehören Trumps sich verschleiernde, nicht sehende, sondern „schauende“ Augen als „heroisch-inspirierter Leerblick“ (Probst 2017a, S. 14) in die Ikonografie der Dichter- und Gelehrteninspiration. Kanonisiert u. a. durch die 1857 von Ernst Rietschel geschaffene Goethe-Schiller-Gruppe vor dem Hoftheater in Weimar, symbolisiert der leicht in die Höhe gerichtete, sich verschleiernde Blick das Moment von Inspiration, Intuition und Instinkt der ­ schöpferisch-genialen Kreativität. Reflexhaft oder mit Methode stellt sich Trump durch seinen „heroischinspirierten Leerblick“ in diese Bildgeschichte. Allerdings verkörpert er als Politiker in solchen Momenten „ästhetische Politik“ im Sinne einer Politisierung oder politischen Instrumentalisierung ästhetischer Reflexions- und Schöpfungsenergie. Sie wurde von ihm auch in einem Statement geheischt, das als Gipfel der für den neuen Populismus typischen illegitimen Repräsentationsanmaßung gelten kann: „Ich bin ein sehr stabiles Genie“ (Küster 2019).

6 Ästhetische Politik und die Bildgeschichte als Korrektiv Natürlich wäre dieses befremdliche Schauspiel der genial verdrehten Augen ebenso wenig der analytischen Rede wert wie die Plumpheit des unbeirrten Ausschreitens, wenn sich mit dieser Körpersprache nicht eine weiterführende Bild- und Ideengeschichte verbinden würde. Sie findet sich in Trumps „Sanctions“-Tweet als politische Ikonologie der Entscheidung. In diesem Punkt laufen alle hier bisher gesondert betrachteten Faktoren, Elemente und Sinnschichten dieses Memes zu einer Sinneinheit zusammen: der entschlossen ausgreifende Schritt als Verbildlichung der Würfel, die nun gefallen sind, der

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Abb. 12   Donald Trump mit dem von ihm unterzeichneten Dekret über Sanktionen gegen den Iran, 13.Mai 2018. (Quelle: Fotograf ungenannt, Donald Trump mit dem von ihm unterzeichneten Dekret über Sanktionen gegen den Iran, 13. Mai 2018)

„heroisch-inspirierte Leerblick“ als Symbol höherer Weisheit, das bürgerliche Outfit zum Zeichen der Solidität des Ganzen sowie der blau-violette geheimnisvolle Nebel und die mysteriöse Schrift des Designs von „Game of Thrones“ als Ansicht dafür, dass die Wirkung furchtbar sein wird. Sogar die Platzierung der Schriftzeichen mitten im Bild wird durch dessen Deutung als Ikonografie der Entscheidung zu einer symbolischen Form. Mit dem Tweet der quer über seine Brust verlaufenden „Über-Schrift“ (Probst 2010) gibt Trump sozusagen sein Wort darauf, dass die Sanktionen kommen. Auch hierin bündelt der Post bekannte Gepflogenheiten des Präsidenten und erweist sich darin erneut als hervorausstechendes, den politischen Stil Trumps zu einem icon verdichtendes Denkbild. Nach der Unterzeichnung von Dekreten im Oval Office des Weißen Hauses hält Trump stets seine aktenkundig gewordene Entscheidung in Gestalt einer riesigen Unterschrift vor seine Brust und in die Kameras (vgl. Abb. 12). Die mächtigen Buchstaben auf dem „Sanctions“-Tweet sind die symbolische Überhöhung dieser Schau-Legitimierungen. Als politische Ikonografie der Entscheidung sekundiert das am 02. November 2018 verschickte Bild einigen wenigen, seltenen Selbstreflexionen Trumps über seinen politischen Stil. Weil diese Maximen nicht annähernd so häufig wiederkehren und nicht so eindringlich vorgetragen werden wie der damit zusammenhängende „heroisch-inspirierte Leerblick“ in der Bild- und Körpersprache, wäre die ikonografische Bildkritik als kritische Bildgeschichte ein wesentliches

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Hilfsmittel zur vorfristigen Bestimmung und zur Abschätzung eines politischen Profils gewesen. Ohne dieses kaum genutzte Korrektiv wurde der Weltöffentlichkeit jedoch erst vergleichsweise spät, eigentlich zu spät der Einblick in die innere Ordnung Trumps zuteil. Der Augenblick der Wahrheit trug sich am 21. August 2017 bei Gelegenheit eines Truppenbesuchs in Afghanistan zu. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte hatte Trump an diesem Tag vor versammelter Mannschaft zu erklären, warum im Gegensatz zu den lautstarken Wahlversprechen die Jungs nun doch nicht Weihnachten wieder zu Hause wären und stattdessen eine Truppenverstärkung anstünde. Das Gestotter geriet zu einem deprimierenden Offenbarungseid deplatzierter künstlerischer, genialisch-intuitiver Entscheidungsfindung in der Politik.13 „Mein ursprüngliches Bauchgefühl […] war der Rückzug. Und eigentlich bevorzuge ich es, meinen Instinkten zu folgen“ (Ganslmeier 2017). Frühere ähnliche Bekundungen schon 2004 wurden erst 2017 nach dem Wahlerfolg Trumps international bekannt und ernsthaft vergleichend diskutiert. Rechtzeitige ideengeschichtliche Debatten darüber hätten auch zu prognostizieren vermocht, dass ein Präsident durch seine künstlerisch geniale, als ästhetische Politik zu bezeichnende intuitive Entscheidungsfindung in einer parlamentarischen Demokratie nicht alles heilen kann, sondern nur die allerschwersten Regierungskrisen auslöst. „Trump [bevorzugt] einen besonders intuitiven Entscheidungsprozess“, fassen Simms und Ladermann vertane Chancen der Früherkennung zusammen. „Nach eigener Aussage waren die Menschen in der Vergangenheit überrascht, wie schnell ich große Entscheidungen treffe, aber ich habe gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen und nicht übermäßig über die Dinge nachzudenken“ (Simms und Ladermann 2017, S. 122). Für Trump und alle, die ihn mögen und ihm nacheifern, folgt aus der nicht-diskursiven instinktiven Regierungspraxis vor allem eine Ignoranz nach innen und die staatspolitisch verheerende Isolierung eigener Ministerien und Behörden, in denen auftragsgemäß etwas mehr über die Sachlage nachgedacht wird. „Seine Entscheidung, die Geheimdienst-Briefings des Präsidenten nicht mehr täglich, wie es bisher üblich war, sondern wöchentlich entgegenzunehmen, verteidigte er mit den Worten: ‚Ich bin eben ein kluger Mann‘“ (Simms und Ladermann 2017, S. 123).

13Auch

weil die Vorgeschichte der ästhetischen Politik im Sinne intuitiver politischer Entscheidungen genuin mit der Militärgeschichte zusammenhängt, ist dieser Moment von so großer ideengeschichtlicher Bedeutung. Thomas Mann und Jean de Pierrefeu erklären das Unheil des 1. Weltkrieges auch mit der damaligen Überbewertung von Intuition und Instinkt durch politische und militärische Entscheider. Vgl. Probst 2017, S. 15.

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Die Dimensionen dessen, was Trump und ihm verwandte Populisten weltweit als „Establishment“ bekämpfen und verspotten, wird erst durch das Selbstbild des politischen Akteurs als Entscheider offenkundig. Weil der zuvor als „the Donald“ belächelte Trump auch im Bild erst seit seinem anstößigen Wahlkampf 2016 international stärker beachtet wurde und daher fotografische Dokumentationen früher nicht in ausreichendem Maße vorlagen, mag auch für die Bildforschung die schicksalhafte Präsidentenwahl nur schwer aufzuhalten gewesen sein. Die Bildgeschichte erlaubt jedoch auch Rückschlüsse auf Ähnlichkeiten zu ideellen Mustern durch einzelne Darstellungen. So ist der „heroisch-inspirierte Leerblick“ längst vor Trump Gegenstand der politischen Ikonografie, wie die Bildlichkeit des „Dritten Reiches“ zeigt. Nicht von ungefähr teilen diese Pose auch zahlreiche Akteure des neuen national-völkischen Populismus, in der Bundesrepublik zum Beispiel die ­AfD-Führer*innen Frauke Petry (nach der Bundestagswahl 2017 aus der Partei ausgetreten) und Björn Höcke (vgl. Probst 2017a). Wie verbreitet der antidemokratische „heroisch-inspirierte Leerblick“ in der gegenwärtigen Bildkultur ist, verdeutlichte jüngst die stark umstrittene Werbung (vgl. Abb. 13) der Heidelberger SRH-Hochschulen (Auber 2019). Entscheidend für den kritischen Umgang damit ist jedoch nicht nur die Frage nach einer direkten oder indirekten Sympathie für den historischen Faschismus. Der forschende Blick muss vielmehr darauf liegen, dass damals und heute die Übersteigerung von Intuition und Instinkt rationale „kommunikative“ (Höffe 1985, S. 233) und daher politisch legitimierende Entscheidungswege negiert. Trumps „Sanctions“-Tweet ist darum für den neuen Populismus ebenso exemplarisch wie für Schlussfolgerungen zu dessen Bekämpfung. Deren Wirksamkeit besteht auch in einer klaren Unterscheidung von „Ästhetisierung der Politik“, „politischer Ästhetik“ und „ästhetischer Politik“. In Trumps Bild spielt die „Ästhetisierung von Politik“ hinein, weil die massenhaft gleichzeitige Wahrnehmung des Tweets durch über 60 Mio. Followers jenen Effekt erzeugt, den Benjamin als „Versenkung“ eines Eindrucks in die Seele der willenlosen Masse bezeichnet hatte. Das Erklärungsmodell verfehlt jedoch die via Twitter und Facebook mögliche Intervention des sofortigen individuellen Kommentierens, Teilens und Beantwortens von massenhaft verbreiteten Bildern. Trumps Post enthält auch Ansätze einer „politischen Ästhetik“, d. h. einer bestimmten ästhetisch geleiteten Vorstellung von Politik als Kunst oder dem Staat als Kunstwerk. Doch auch in diesem Punkt greift die Analyse zu kurz, weil Trump „politische Wirklichkeit und politisches Handeln nach ästhetischen Kategorien“ (Warnke 1987, S. 227) nicht auffasst, d. h. einer bestimmten ästhetischen Idee wie der des Klassizismus oder des Futurismus als Leitbild seiner Politik nicht folgt. Die von

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Abb. 13   „DU liegst schon im Studium in Führung“, Werbung der SRH Hochschulen Heidelberg 2019 im Vergleich mit NS-Rekrutierungsplakat (Auber 2019). (Quelle: Benjamin Auber, Bildvergleich der Jung von Matt, „DU liegst schon im Studium in Führung“, Werbung der SRH Hochschulen Heidelberg 2019 mit NS-Rekrutierungsplakat, Fotomontage, https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-srh-warb-mitns-Aesthetik-die-hochschule-sorgt-mit-einem-werbeplakat-fuer-empoerung-_arid,444562. html. Zugegriffen: 03.01.2020)

Trump betriebene und den neuen Populismus insgesamt kennzeichnende missbräuchliche Aktivierung von Intuition und Instinkt zur Ausübung politischer Macht durch Entscheidung wäre daher gesondert zu betrachten. Vor diesem als „ästhetische Politik“ zu bezeichnenden „entscheidenden“ und mit „Postfaktizität“ nur unzureichend charakterisierten Missbrauch (Probst 2017, S. 16) sind nicht nur die Politik, sondern auch Instinkt und Intuition selbst zu bewahren, weil diese „mythische Denkform“ (Cassirer 2010b, S. 35) in der Kunst, der Religion oder auch in der Liebe zu Hause ist, in Wissenschaft und Politik jedoch nur verschlissen wird. Bild- und ideengeschichtliche Enthüllungen des „heroisch-inspirierten Leerblicks“ als Indiz „ästhetischer Politik“ werden die Erfolgswelle des Populismus gewiss nicht sogleich stoppen. Weil die ihm zugrunde liegende illegitime, aus

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Instinkt und Intuition folgende Repräsentationsanmaßung als „Genie“ oder „das Volk“ Politiker und Bürger gleichermaßen vollziehen, kann Aufklärung durch bloße Aufdeckung im Nu nicht gelingen. Politische Ikonologie vermag jedoch als permanente „Schule des Sehens“ mit ästhetisch oder ideologisch bewirkten Stillstellungen der Überhöhung zu brechen, indem Bilder und Ideen spielerisch gewendet, auf wechselnde Sinnzusammenhänge hin untersucht, aus sich heraus wieder in Bewegung gesetzt und erneut zum Arbeiten gebracht werden – und so zu sich selbst zurückfinden.

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Ökonomie

Informationspopulismus in der liberalen Demokratie Digitale Echokammern und anti-pluralistische Profilierung im Medienwettbewerb Bodo Herzog 1 Einführung „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ – mit diesen Worten begründete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Notwendigkeit von umstrittenen EuroStabilisierungsmaßnahmen in einer Debatte des Deutschen Bundestages (Merkel 2010). Ist diese kürzende Botschaft bereits Populismus? Oder ist es vielmehr ein Kunstgriff, um eine politische Botschaft unters Volk zu bringen? Seit einigen Jahren gewinnen der Populismus und das Postfaktische an Fahrt. Tatsächlich hat das Oxford-Lexikon „Postfaktisch“ zum internationalen Wort des Jahres 2016 gekürt. Kurzum, die Auseinandersetzung mit Fakten spielt eine immer geringere Rolle in Gesellschaft und Politik. Soziologen und Politikwissenschaftler prophezeien sogar, dass wir vor einer historischen Zeitenwende von einer liberalen Demokratie zu einer nationalistischen Weltordnung stehen (vgl. Kopperschmidt 2003; Werz 2016; Kleger 2016; Kneuer und Lauth 2015; Haus und Rosa 2016; Mudde und Kaltwasser 2017; Beschorner und Kolmar 2018; Badie 2018). Diese agonale politische Ordnung wird durch autokratische Danksagung: Ein besonderer Dank gilt der studentischen Mitarbeiterin Milena Czinczel für die Editierung des Beitrages. Für die Programmierung der GUI-Nagram bedanke ich mich insbesondere bei dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Rainer Friedrich. Alle verbleibenden Fehler liegen in meiner Verantwortung. B. Herzog (*)  Universität Reutlingen, Reutlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_3

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Führungsfiguren angeheizt – u. a. Donald Trump, Boris Johnson, Vladimir Putin, Viktor Orbán oder Recep Tayyip Erdoǧan. Sie sehen sich als Anführer einer neuen Volksbewegung die von der Globalisierungsangst und der Unzufriedenheit mit den Kosmopoliten angetrieben wird. Das Phänomen des Populismus wird in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen seit Jahrzehnten erörtert (vgl. Sachs 1989; Fischer 2003; Aytac und Onis 2014; Müller 2016). Das vorherrschende Narrativ ist aber ökonomischer Natur: Die (Finanz-)Globalisierung und der technologische Fortschritt entfremden die Menschen und bewirken Verunsicherung (vgl. Erdem und Onis 2014; Broner und Ventura 2016; Temin 2017; Rodrik 2018; Cayla 2019).1 Zudem erkennen die Bürger mehr die Herausforderungen als die Chancen in diesem Transformationsprozess. Hinzu kommt, dass die politische Erklärung dieser Veränderungsprozesse mangelhaft ist (vgl. Joerke und Selk 2015; Kahlert 2015; Lammert 2019). Die oftmals langsamen demokratischen Entscheidungsprozesse sind ebenso wenig ermutigend und zeitigen eher das Unvermögen der politischen Entscheidungsträger. So kommt es nicht selten dazu, dass die Politik die Ängste und Sorgen der Menschen als subjektive Wahrnehmung degradiert. Um dem Dilemma des Populismus zu entkommen, so die Meinung in der Kommunikationswissenschaft, sollte die Kommunikation optimiert werden (vgl. Merkle 2016; Kneuer 2017). Aber wie? In diesem Beitrag argumentieren wir, dass eine simple Optimierung der Kommunikation zu kurz greift. Der Grund ist eine versteckte Quelle des modernen Populismus verwoben mit dem Postfaktischen. In der Tat, eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den ursächlichen Belangen der „Populisten“ findet kaum statt. Hinter der trump’schen Anti-Handelsrhetorik steckt letztlich der altbekannte Merkantilismus. Hinter der Anti-Zuwanderungsrhetorik steckt der Grundgedanke des Nationalstaates (vgl. Streeck 2019a).2 Anstatt das Für und Wider dieser Denkschulen auszudiskutieren, werden die Vertreter als Populisten denunziert.3 Kaum etwas belegt so deutlich, wie dieser generalisierende Topos, eine post-moralische Abkehr der liberalen Demokratie von sich selber. Denn diese Titulierung ist nicht nur eine unzulässige Vereinfachung, sondern stellt den Ausgangspunkt des Informationspopulismus im modernen Mainstream dar.

1Auch

die Protestaktionen der Gelbwesten in Frankreich arbeiten mit diesen Ursachen. lesenswerter Beitrag, der die Facette des Populismus in einen universellen und europäisierten Kontext stellt. 3Populist ist die Beschreibung eines Feindbildes. 2Sehr

Informationspopulismus in der liberalen Demokratie

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De Facto führt diese generalisierende Begrifflichkeit zur Eindimensionalität des öffentlichen Debattenraums und verändert die liberale Demokratie hin zu einer stärkeren politischen Polarisierung oder sogar Technokratie, gesteuert von einer verachteten politischen Elite und den Medien als Höflingen für die Beeinflussung der Wähler.4 In der amerikanischen Politik und Fernsehlandschaft ist das Ergebnis dieser Polarisierung und Eindimensionalität in der Berichterstattung bereits sichtbar. Der Sender Fox News berichtet ausschließlich pro Präsident Trump, während andere Sender, unter anderem CNN, sich in allen Belangen kritisch gegenüber dem aktuellen amerikanischen Präsidenten positionieren. Eine ausgewogene Berichterstattung oder inklusive Kommunikation sind in den Vereinigten Staaten nicht nur nicht erkennbar, sondern ebenso verpönt. Um die Problemstellung nochmals intuitiv zu motivieren, seien nachfolgend zwei weitere Beispiele angeführt. Erstens, das zunehmende Problem der Filterblasen. Meinungen werden in sozialen Netzwerken durch digitale Algorithmen und Social-Bots verzerrt und verstärkt (vgl. Nguyen et al. 2014; Flaxman et al. 2016; Borgesius et al. 2016; Hendricks und Vestergaard 2018). In der Tat, digitale Echokammern und beständige Newsfeeds entfachen opportunistische Weltbilder und eliminieren, oftmals ohne Wissen des Konsumenten, eine ausgewogene Sicht.5 Eine Filterblase spiegelt in der Regel kein Informationsspektrum, sondern eine partikulare Weltanschauung gleichgesinnter Freunde wider. Infolgedessen kommt es zu einer Koexistenz von Meinungsbildern, teils mit antagonistischen Ansichten, wo Überzeugungen stetig bestärkt und nur selten infrage gestellt werden (vgl. Pariser 2012). Diese Beobachtung deckt sich mit selbstreferenziellen Meinungssystemen in der Systemtheorie (vgl. Luhmann 1982; Simonovits 2017). Selbstreferenzielle Systeme sind sogleich der kulturelle Bodensatz des modernen Informationspopulismus. Das gefährdet den pluralistischen Debattenraum, der in einer gutfunktionierenden Demokratie eine Grundvoraussetzung darstellt (vgl. Walzer 1983). Ein zweites Beispiel ist die simplifizierende Kommunikationsstrategie insbesondere in der Politik. So argumentieren Entscheidungsträger gerne mit einfachen Thesen und Zahlen. Beispielsweise wurde nach der globalen Finanzmarktkrise folgendes Narrativ stetig wiederholt: Die Wirtschaft wachse, die Einkommen erhöhten sich und die Arbeitslosigkeit sei auf einem historisch

4Lowi

(1979) diskutiert vergleichbare Herausforderungen in den USA in seinem Buch mit dem Titel „The End of Liberalism.“ 5Vgl. Debatte über den Youtuber Rezo im Jahr 2019.

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niedrigen Niveau.6 Diese Aussagen lassen sich durch ökonomische Daten belegen. Trotz dieser positiven Erzählung behaupten die „Populisten“ das Gegenteil. Sie argumentieren, die derzeitige Wirtschaft sei nicht so gut wie von der amtierenden Politik beschrieben (vgl. Judis 2016). Es gebe vergessene Menschen, zunehmende Armut und Ungleichheit, befristete und schlechtbezahlte Jobs sowie einen wachsenden Niedriglohnsektor. Schuld an dieser Entwicklung sei die Unfähigkeit der etablierten Politik und die unzulängliche Gestaltung der Globalisierung. Auch diese Argumente lassen sich durch Fakten oder teils durch „Fake News“ begründen (vgl. Hendricks und Vestergaard 2018). Am Ende fragen sich Bürgerinnen und Bürger verwundert: Wer hat Recht? Wir zeigen, dass eine eindimensionale oder vereinfachende Kommunikation in Politik und Medien eine versteckte Populismusfalle darstellen.7 Als Ergebnis dieser binären Informations- und Kommunikationsstrategie wird die Unsicherheit in der Bevölkerung erhöht und der in diesem Beitrag entwickelte Informationspopulismus genährt. Verlieren Entscheidungsträger infolgedessen an Glaubwürdigkeit, gewinnen Populisten an Zustimmung. Hierbei ist das Problem zweierlei: Einerseits ist eine ökonomische Zahl, unter anderem eine Wachstumsrate, stets ein Durchschnittswert und nur Träger binärer Information. Ein Durchschnitt beschreibt jedoch nicht die wahrscheinliche Situation der Menschen. Das wahre Befinden kann vielmehr nur durch die Gesamtverteilung erfasst werden. Ein aggregiertes Wirtschaftswachstum von zwei Prozent bedeutet für die eine Person ein Einkommenswachstum von drei Prozent und zugleich für eine andere einen Zuwachs von nur einem Prozent. Kurz gesagt, die Verwendung eines Mittelwerts verringert die Signalqualität der Botschaft (vgl. Taber 2003; Manski 2019). Das führt zu weniger Vertrauen und Glaubwürdigkeit in den Sender (z. B. die Regierung). Folglich fühlen sich die Menschen insbesondere an den Rändern von den etablierten Entscheidungsträgern missverstanden und vergessen.8 6Dr.

Schäuble hat auf dieses Problem im Bundestagswahlkampf 2017 hingewiesen. Er argumentierte, dass politische Entscheidungsträger den Zustand der Wirtschaft realistisch erklären müssten. Unrealistische und einfache Versprechungen müssten vermieden werden, denn beides führe zu Populismus (vgl. Schäuble 2017). 7BR-Intendant Ulrich Wilhelm vertritt im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema „Macht der Algorithmen“ eine ähnliche These (Sendung BR-Fernsehen am 1. April 2019; vgl. BR-Archiv). 8Vgl. mit der Euro-Bargeld Einführung wurde diskutiert, ob der Euro ein Teuro sei, da die Preise für bestimmte Waren und Dienstleistungen angestiegen waren. Das gesamte Preisniveau war aber nachweislich unverändert (Wunder et al. 2008).

Informationspopulismus in der liberalen Demokratie

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Psychologische Dissonanzen intensivieren diesen Effekt, da Individuen Verluste stärker gewichten als Gewinne. Dieses Phänomen ist in der Literatur unter dem Stichwort „Loss-Aversion“ bekannt (Kahneman und Tversky 1979). So wird beispielsweise die Gefahr von potenziellen Einkommensverlusten stärker gewichtet, obschon es unter Umständen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betrifft. Diese Wahrnehmungsverzerrung führt dazu, dass sich die Gesellschaft mit der exponierten Bevölkerungsgruppe solidarisiert. Erst die Verteilungsbetrachtung macht sichtbar, dass die Abstiegsangst für alle virulent ist (vgl. Küpper et al. 2019). Der Verteilungsansatz inkludiert diese kognitiven ­Dissonanzen. Die verteilungsspezifische Sichtweise erklärt, warum selbst hochqualifizierte und wohlhabende Menschen von diesen Ängsten betroffen sind und empfänglich auf populistische Botschaften reagieren. Verstärkend kommt hinzu, dass die Verlierer der Digitalisierung oder des technologischen Wandels äußerst inhomogen sind. Es betrifft Menschen in ländlichen Gebieten, Geringqualifizierte, aber auch durch die künstliche Intelligenz betroffene Hochqualifizierte. Folglich muss die Kommunikationsstrategie mit einfachen Botschaften scheitern. Inhaltslose Floskeln und die Verengung des post-demokratischen Meinungsspektrums werden zum Bumerang einer liberalen Demokratie. Wir zeigen, dass es einer integrativen Kommunikation bedarf, um der Populismusfalle zu begegnen, zumal die Unzufriedenheit mit dem demokratischen System derzeit global – Deutschland liegt auf Platz zwei – stark anwächst (vgl. Wike et al. 2019, S. 16). Gerade in Demokratien muss stets die vollständige Informationsverteilung identifiziert und kommuniziert werden, um einen intakten Debattenraum zu gewährleisten (vgl. Dewey 1922; Kazin 1998). Ein weiterer Grund für die Populismusfalle ist die artifizielle Unterscheidung zwischen „echten“ und „wahrgenommenen“ Ängsten. Diese binäre Unterscheidung untergräbt abermals die Signalqualität zwischen Sender und Empfänger. Wie die Verteilungsbetrachtung zeigt, können alle von „realen“ Abstiegsängsten betroffen sein – auch die Oberschicht. Diese Beobachtung geht auf den berühmten „endowment effect“ von Nobelpreisträger Richard Thaler (1980) zurück.9 Kurzum: Die Ursache und Lösung des Informationspopulismus sind wissenschaftlich bislang unterbelichtet. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: In Abschn. 2 diskutieren wir zunächst die Entstehung des Populismus. Daran anschließend studieren wir die Politische

9Thaler

gewann 2017 den Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften für diese Entdeckung.

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Ökonomie des linken und rechten Populismus (Abschn. 3). Abschn. 4 untersucht die Wechselwirkung von Demokratie und Debattenraum. Abschn. 5 belegt anhand von ökonomischen Simulationsmodellen den Bedarf eines pluralistischen Debattenraums in der liberalen Demokratie. Der Beitrag schließt mit einem knappen Fazit in Abschn. 6.

2 Entstehung des Populismus In der ökonomischen Literatur wird der Populismus als ein bekanntes Phänomen betrachtet, obschon der moderne postfaktisch überformte Populismusneuartig ist (vgl. Polanyi 1933, 1944).10 Rodrik (2018) argumentiert, dass die Wirtschaftsgeschichte gute Gründe für die Annahme liefert, dass die G ­ lobalisierung respektive die industrielle Revolution einen Ursprung für den Populismus darstellt: Technologische Veränderungsprozesse bedingen politischen und gesellschaftlichen Wandel (vgl. Rodrik 2011). Der Begriff des Populismus ist äquivok – er charakterisiert eine Vielzahl von Phänomenen. Bereits der römische Politiker Cicero (106 v. Chr. – 43 v. Chr.) verweist auf die Existenz von Populismus und kritisierte die Geldeliten in der damaligen Regierung. Die Geburtsstunde des neuzeitlichen Populismus stammt indes eher aus dem 19. Jahrhundert, indem sich eine Gruppe von Bauern, Arbeitern und Bergleuten zusammenschloss und gegen den damaligen Goldstandard auflehnte (vgl. Rodrik 2018). Bereits vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gab es einen Höhepunkt im europäischen Populismus. Mittels vereinfachter und teils falscher Botschaften, sog. „Fake News“, wurde Stimmung gegen Feinde geschürt und die eigene Gefolgschaft mobilisiert. Abb. 1 zeigt Google-Daten des Begriffs Populismus von 1800 bis heute. Bereits in den 1890iger Jahren trat der Begriff des Populismus auf. Der Begriff „Fake News“ entwickelt sich in Parallelität. Im Gegensatz dazu erscheint der Begriff des „Postfaktischen“ erst gut 100 Jahre später – etwa gegen Ende der 1980iger Jahre. So ist die Überformung des Populismus mit dem Postfaktischen ein neues Phänomen. Interessant ist, dass der Populismus in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark verbreitet ist (Abb. 1). In Lateinamerika hat der Populismus mithin eine lange Tradition und reicht bis in die 1930er Jahre zurück. Heute umfasst der Populismus ein breites

10Polanyi

(1933) sagt u. a. „capitalism and democracy are fundamentally contradictory“.

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Abb. 1   Popularität des Worts „Populismus“ von 1800 bis heue. (Quelle: Google.com. eigene Darstellung; GUI programmiert von Forschungsassistent R. Friedrich, ESB Business School)

Spektrum aller möglichen Anti-Bewegungen; u. a. gegen die Eurowährung, gegen den freien Welthandel, gegen unbegrenzte Migration, gegen Kapitalismus, gegen Eliten etc. (vgl. Fernandez-Villaverde und Santos 2017; Inglehart und Norris 2016; Streeck 2019b). Die verschiedenen Strömungen von linkem und rechtem Populismus haben eins gemein (vgl. Lazar 2018): Sie sind eine Bewegung gegen das Establishment und nehmen in Anspruch, für das Volk zu sprechen. Nur die Populisten, so die Idee, bringen die Volkssouveränität zurück. Freilich greift die These kurz, der einzige Sprengsatz gehe von der Globalisierung aus. Zugleich sind die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der Globalisierung enorm (vgl. Acemoglu et al. 2016; Streeck 2016; Herzog 2019). In der aktuellen Phase der Globalisierung, vorangetrieben durch die Digitalisierung, kam es beispielsweise zu enormer Marktmacht von wenigen Unternehmen – gemäß dem Prinzip „the-winner-takesall“ (vgl. Giriharadas 2018; De Loecker und Eckhout 2019; De Loecker et al. 2019). Zudem kam es zu einer Erosion der Arbeitsbedingungen und zunehmender Einkommensungleichheit (vgl. Piketty 2016; Alvaredo et al. 2018; Cayla 2019).

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3 Politische Ökonomie: linker versus rechter Populismus Trotz der wirtschaftlichen Vorteile ist dem Populismus die Globalisierung ein Dorn im Auge. Die positiven Beschäftigungseffekte durch die globale Markterweiterung helfen aber gleichermaßen den Industrie- und Entwicklungsländern. Insbesondere China konnte binnen kurzer Zeit die Agrarwirtschaft in eine wettbewerbsfähige Industriewirtschaft umwandeln. Das wiederum kurbelte das Wirtschaftswachstum an und reduzierte das wirtschaftliche Gefälle respektive die Ungleichheit zwischen den Industrie- und Entwicklungsstaaten. Allerdings führt der Rückgang der globalen Armut zu einer Zunahme der inländischen Ungleichheit, da die Lohndifferenz zwischen Landwirtschaft und Produktionswirtschaft ansteigt. Die Globalisierung impliziert quasi automatisch eine inländische Einkommensspreizung und bevorteilt Hochqualifizierte und Unternehmer. Ökonomisch betrachtet ist diese Spaltbewegung wenig überraschend und hinlänglich diskutiert (vgl. Rodrik 1997). Für die Populisten ist dieser Spaltkeil ein Geschenk, denn es ist einfach, entlang der nationalen, ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Schichten zu mobilisieren (vgl. Dornbusch und Edwards 1991; Bonikowski 2016; Cayla 2019). Interessanterweise wird die Hauptschuld immer der Globalisierung zugeschrieben, da diese Chiffre den Verlust an Eigenständigkeit auffängt. Dennoch hat der technologische Fortschritt, unter anderem die Automatisierung, den größten quantitativen Einfluss auf die Deindustrialisierung und die Einkommensungleichheit (vgl. Rodrik 1997; Acemoglu et al. 2016). Aber der Begriff der Globalisierung überträgt das Gefühl, dass die Menschen nur ein Spielball im globalen Wettbewerb sind. Werden nicht globale Spielregeln von Finanziers und Großkonzernen gestaltet und teils in Eigennutz manipuliert? Eine Reihe von empirischen Arbeiten belegt diese Perspektive. Autor et al. (2013, 2016a, b) zeigen anhand der Untersuchung von Wahlergebnissen aller USWahlbezirke, dass der chinesische Handelsschock die politische Polarisierung verschärft. Die von dem Globalisierungsschock besonders betroffenen Wahlbezirke bewegten sich weiter nach rechts oder links. Gewählte Republikaner wurden konservativer, gewählte Demokraten liberaler. Für Großbritannien stellen Becker et al. (2016) fest, dass Sparmaßnahmen und Einwanderungseffekte eine Rolle bei der Erhöhung der Brexit-Stimmen gespielt haben. Eine weitere Analyse des Brexits offenbart einen direkten Zusammenhang zur Globalisierung. Colantone und Stanig (2016) bestätigen, dass Regionen mit einer größeren Importpenetration von China einen höheren Anteil an „Leave-Stimmen“ hatten. Zudem bestätigen sie durch eine Analyse der britischen Wählerbefragung, dass

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Personen in Regionen, die stärker vom Importschock betroffen waren, eher für „Leave“ gestimmt haben und zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Ferner analysieren Colantone und Stanig (2017) die Entwicklung in 15 europäischen Ländern im Zeitraum 1988 bis 2007. Diese Studie kommt zum Ergebnis, dass der chinesische Handelsschock eine statistisch (und quantitativ) gewichtige Bedeutung im Hinblick auf die Unterstützung nationalistischer Parteien hat. Es gilt: Je größer der Importschock, desto stärker sind nationalistische und rechte Parteien. Ähnliches belegen Guiso et al. (2017) anhand europäischer Umfragedaten. Sie zeigen einen Zusammenhang zwischen populistischem Stimmverhalten und wirtschaftlicher Unsicherheit: Bürger, die eine größere wirtschaftliche Unsicherheit erleben, gehen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit zur Wahl. Die beiden Hauptvarianten des rechten und linken Populismus – nationalistische versus soziale Spaltung – lassen sich anhand verschiedener Länder illustrieren. Die erste Variante des rechten Populismus initiiert eine populistische Mobilisierung entlang ethnonationaler und kultureller Unterschiede (Gidron and Hall 2017). Dies ist besonders einfach, sofern der Globalisierungsschock durch Einwanderung begleitet wird. Die Zuwanderungsbewegungen nach Europa und in die USA machen dies deutlich. Donald Trump, die Alternative für Deutschland (AfD) oder die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nutzten diese populistische Mobilisierungsstrategie. Das Ziel des rechten Populismus ist ein schützender Nationalstaat. Die zweite Variante des Populismus tangiert weitgehend die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich. Die Eliten kontrollieren die Wirtschaft und besitzen die Macht, während die Bürger alldem ausgeliefert sind, so das Narrativ des linken Populismus. Die Mobilisierung entlang der sozialen Schicht war der Ursprung des amerikanischen Populismus im späten 19. Jahrhundert (vgl. Rodrik 2018). Hierbei stehen wirtschaftliche und soziale Fragen u. a. der freie Handel im Vordergrund. Parteipolitische Ausformungen des linken Populismus finden sich in Europa mit „Syriza“ in Griechenland und „Podemos“ in Spanien. Ein Ziel ist die Etablierung eines schützenden Sozialstaates. In einigen Ländern verbinden sich beide Argumentationsmuster. Seit den 1960er Jahren lässt sich eine zunehmende Unterstützung populistischer Parteien beobachten (Abb. 2). Der Stimmenanteil für populistische Parteien stieg von weniger als fünf Prozent in den 1970iger Jahren auf zuletzt mehr als 20 %. Auffallend ist zudem die starke Dynamik am aktuellen Rand. Der gegenwärtige Anstieg geht vornehmlich auf den rechten Populismus zurück (vgl. Rodrik 2018). Der Linkspopulismus bleibt weltweit gemessen durchweg unter fünf Prozent. Allerdings darf der Linkspopulismus in Lateinamerika und

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Abb. 2   Weltweite Zustimmung zu populistischen Parteien. (Quelle: Rodrik 2018, S. 2)

­ üdeuropa nicht unterschätzt werden, denn dort ist er mit Stimmenanteilen von S 15 bis 30 % stark verbreitet (vgl. Rodrik 2018). Doch warum dominiert der rechte Populismus in Europa und die linke Variante in Lateinamerika? Warum ist Europa überhaupt so stark vom Populismus betroffen? Badie und Vidal (2018) zeigen, dass aktuell 33 Länder von Populisten mitregiert werden, wovon 15 in Europa und immerhin 11 in der Europäischen Union liegen. Rodrik (2018) versucht dies anhand der Unterscheidung von nachfrage- und angebotsseitigen Faktoren zu erklären. Die Nachfrageseite des Populismus wird durch die Verteilungskonflikte und wirtschaftliche Ungleichheit befeuert. Die diffuse Angst und Unzufriedenheit führt allerdings selten zu einer konstruktiven Lösung. Die populistischen Handlungsempfehlungen tangieren allenfalls das Symptom, nicht aber die Ursache. Für ein besseres Verständnis der aktuellen Entwicklung ist es entscheidend zu verstehen, dass erst mit der Angebotsseite die Richtung des Populismus definiert wird (vgl. Schmidt 2002). Zunächst treten alle „Populisten“ in Resonanz zur Nachfrageseite der Gesellschaft (Rosa 2016). Erst im zweiten Schritt wird das – linke oder rechte – populistische Narrative entwickelt. Daraus folgt unweigerlich, dass jede Form des Populismus ein wertvolles Spiegelbild der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten darstellt. Mukand und Rodrik (2020) entwickeln ein Modell, in dem sich politische Konflikte in drei verschiedenen Gruppen der Gesellschaft manifestieren: Elite, Mehrheit und Minderheit. Die Elite ist vom Rest der Gesellschaft durch Reichtum

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und Machtgesondert. Die Minderheit wird durch Identitätsmerkmale, u. a. Ethnizität und Religion abgetrennt. Daher gibt es im Modell zwei Spaltungen: Einerseits die „ethnonationale“, andererseits die soziale. Die beiden Spaltbewegungen können orthogonal oder parallel verlaufen. Aus dem Modell folgt, dass ein Populist welcher die Identitätsspaltung betont, zum rechten Populismus tendiert. Diejenigen, die das Ziel der Einkommensspaltung akzentuieren, tendieren zum linken Populismus.11 Die empirische Beobachtung bestätigt das Modell. Hatton (2016) oder Cavaille und Ferwerda (2017) zeigen, dass rechtspopulistische Parteien insbesondere auf den Wettbewerb mit Einwanderern ansprechen. Gibt es einen Zustrom von Einwanderern oder Flüchtlingen, wird diese Dynamik in eine schlagkräftige rechte Opposition kanalisiert. Migranten werden als Konkurrenten um öffentliche Güter und Dienstleistungen gezeichnet. Die Erklärkraft für den starken rechten Populismus des Rassemblement National (früher: Front National)12 oder der AfD ist hoch. Dementgegen steht der linke Populismus. Vor allem in Lateinamerika waren viele Staaten negativ von den wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung betroffen. Die globale Handelsöffnung wurde von unzähligen Finanzmarktkrisen begleitet und in Folge durch IWF-Hilfsprogramme abgefedert. In diesem Kontext wurden ausländische Unternehmen und internationale Organisationen als Besatzer empfunden, was die Wähler empfänglich für den linken Wirtschaftspopulismus machte. Parallelen offenbaren sich mit Blick auf die populistische Bewegungen in Spanien und Griechenland. Beide Staaten waren Empfänger von Hilfsgeldern des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) während der europäischen Staatsverschuldungskrise (vgl. Herzog 2012, 2014, 2015, 2018b). Die Rettungspolitik durch die internationalen Institutionen, u. a. die Troika13, hat den Eindruck erweckt, dass Außenstehende die nationale Politik diktieren. Somit ist wenig verwunderlich, dass die Euro- und Flüchtlingskrise in Europa einen fruchtbaren Boden für linken und rechten Populismus bot.

11Campante

und Ferreira (2007) zeigen, dass Populismus zu einem ineffizienten Gleichgewicht führt. 12In Frankreich gibt es seit langem einen Anteil von mehr als 40 % von Migranten (Rodrik 2018). 13Bestehend aus IWF, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission.

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4 Die subtile Populismusfalle in der liberalen Demokratie Die dargelegte Entstehung des Populismus überzeugt allerdings nur partiell, da der dynamische Anstieg in den letzten Jahren nicht vollumfänglich erklärt wird (Abb. 2). Eine versteckte, eher subtile, Ursache ist die aktuelle postfaktische Überformung. Durch digitale Echokammern verstärkt, entfesselt sie eine neue Form des Populismus. Offene Debatten über die Vor- und Nachteile von ideologischen Strömungen, u.  a. Globalismus, Merkantilismus, Nationalismus, Kapitalismus oder Sozialismus, finden in der liberalen Demokratie kaum mehr statt. Die Verweigerung einer offenen Debatte manifestiert sich in Gleichgültigkeit und Eindimensionalität des post-moralischen Mainstreams (vgl. Koppetsch 2018).14 Die Funktionslogik der Medien intensiviert diese Tendenzen, da sie in der Wettbewerbsgesellschaft vor allem auf Schnelligkeit, Quoten und Gewinne fokussieren (Prior 2005). Eine pluralistische Darlegung aller Positionen – gemäß der Meinungsvielfalt – ist insbesondere im digitalen Medienraum schwierig. Manski (2019) belegt wie selbst traditionelle Medien, Behörden und die Wissenschaft an der Kommunikation von Unsicherheit scheitern.15 Die Unfähigkeit, Komplexität zu erfassen, mündet in die vereinfachte und einseitige Sicht auf Kausalbeziehungen (vgl. Boudon 1989). In Konsequenz führt dies zu einer Engführung des liberalen Debattenraums. Dies eröffnet dem Informationspopulismus die Tür (vgl. Herzog 2018a). Dessen Wurzeln graben tief: Bereits in den 1920iger Jahren gab es eine Auseinandersetzung zwischen dem US-Journalisten Walter Lippmann und John Dewey, einem US-Philosophen. Lippmann und Dewey debattierten im Allgemeinen über die Voraussetzungen und Grenzen der liberalen Demokratie. Lippmann (1913) plädierte für eine Elitendemokratie, die Politik anhand von wissenschaftlicher Erkenntnis umsetzt. Seine Philosophie war eine Mischung aus Liberalismus und Elitismus. Dewey (1930, 2010) hingegen sah die Wissenschaft nicht als etwas an, das über der menschlichen Existenz steht. Für ihn war

14Beispielgebend ist u. a. das ARD „Framing Manual“ (online-SZ vom 20. Februar 2019, 8.29 Uhr). 15Manski (2019) diskutiert einen Bericht der New York Times vom 28. Juli 2010 der ohne Prüfung zu früh/reißerisch veröffentlicht wurde. Zudem belegt er, dass viele Studien in der Politik entweder zu starke liberale oder konservative Politikempfehlungen geben, da die Verteilungsperspektive und Unsicherheit der realen Welt unberücksichtigt bleibt.

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­ issenschaftliche Erkenntnis von Menschenhand gemacht. Dewey (1922, 1925) w plädierte deshalb für eine partizipative Form der Demokratie. Dem widersprach Lippmann, da der einfache Bürger die Komplexität der Welt nicht durchdringe. Zudem gebe es in der Bevölkerung Wahrnehmungsverzerrungen. Diese ergeben sich unter anderem durch die unzureichende Zeit, sich mit allen Facetten der öffentlichen Angelegenheiten zu befassen. Darüber hinaus seien die Bürger oftmals unwillig einen Preis für zuverlässige Information zu bezahlen. Die Verengung und inhaltliche Entleerung des post-modernen Debattenraums ist mithin auch auf die Rationalität der Wettbewerbsgesellschaft und der Theorie des Medianwählers zurückzuführen (vgl. Simmel 1900; Downs 1957; Sandel 2013). Caul und Gray (2000) zeigen, dass die politischen Wahlprogramme von linken und rechten Parteien zuletzt immer ähnlicher geworden sind. Mair (2013, S. 45) konstatiert für die aktuelle Parteipolitik „a reduction in the intensity of ideological polarization“ hinzu einem moderaten Mainstream. Diese Dynamik hat etablierte linke und rechte Positionen aus dem demokratischen Spektrum katapultiert (vgl. Finer 1975). Als Beispiel kann die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ dienen: Neben dem Gründungsthema Umwelt- und Klimaschutz betrieben die Grünen in ihrer Anfangszeit eine außerparlamentarische Opposition, u. a. mit dem Ziel, das bestehende politische System zu ändern. Letzteres Ziel verschwand unmittelbar im Spektrum des linken Mainstreams der Parteiendemokratie.16 Dewey (1940, 1951) erkannte, dass die Medien in der Demokratie plural aufgestellt sein müssten, um als Bindeglied zwischen Regierung und Volk zu fungieren. Er misstraute Lippmanns Vorstellung einer Elitendemokratie, weil er glaubte, sie verkümmere zu einem eigennützigen Machtblock und sei letztlich undemokratisch. In einer weiteren Auseinandersetzung versuchten Lippmann und seine Anhänger – die demokratischen Realisten – zu argumentieren, dass es faktisch weder „das Volk“ noch die „Öffentlichkeit“ gebe. Die Vorstellung, dass das Volk regiere, sei naiv (vgl. Lippmann 1922). Selbst das Volk und damit die Regierung sei (internationalen) Einschränkungen unterworfen. Dewey stimmte Lippmann zu, allerdings habe die Öffentlichkeit nicht die Aufgabe zu regieren, sondern mit der Wahlentscheidung die politische Richtung vorzugeben. Für Dewey ist die demokratische Regierung ein Vollzugsorgan der Öffentlichkeit.

16Mair (2013, S. 45) beschreibt: „…there has been a reduction in the intensity of ideological polarization (…).“ The „political settlement (…) demands and thus moved closer to mainstream (…).“ „…anti-system alternatives (…) disappeared, and has been replaced by far-right or national populist parties…“ Mair erklärt weiter (S. 68): „parties are also less able – and perhaps less willing – to offer clear policy alternatives to voters.“

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Demokratie sei kein Ideal, eröffne aber Teilhabe. Daraus entwickelte Dewey in den späten 1920er Jahren die Grundidee eines pluralistischen Debattenraums. Die Auseinandersetzung zwischen Lippmann und Dewey belegt die Schlüsselrolle von Politik und Medien. Demokratie bedarf eines unabhängigen und pluralistischen Debattenraums und einer ausgewogenen Debattenkultur. Unabhängig voneinander zeigen Mair (2013); Koppetsch (2016) und Mausfeld (2018), dass in den letzten Jahren der öffentliche Debattenraum in den liberalen Demokratien stetig verengt wurde. Die Beispiele reichen vom Vereinigten Königreich und Frankreich bis zu Deutschland.17 Pluralistische Standpunkte wurden im liberalen Debattenraum teils eliminiert oder als populistisch degradiert. Der Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ oder das Wort „alternativlos“ sind Symbole dieses post-moralischen liberalen Zeitgeists. Fraglos, die TINA-Floskeln (There Is No Alternative!) haben in den westlichen Demokratien zugenommen und spiegeln den eingeengten liberalen Debattenraum wider (vgl. Streeck 2019a, b).18 Das ist der Ausgangspunkt des sogenannten Informationspopulismus. Die Lösung dieser politischen Stagnation – wie das Wolfgang Streeck bezeichnet – kann nur darin liegen, alle Alternativen von politisch links bis rechts unvoreingenommen zu diskutieren. Auch konventionelle Lösungen, die im aktuellen post-moralischen Mainstream kein Gehör finden, so Streeck, u. a. die Gestaltung des Nationalstaates sind eine Option (vgl. Streeck 2019a, Palmer 2017). Dies bedarf allerdings einer integrierenden und inklusiven Kommunikation, in der jeder Vorschlag nicht singulär dargelegt, sondern in ein

17Im

Vereinigten Königreich haben sich die beiden antagonistischen Parteien Labour und Konservative (Tories) als Regierungspartei regelmäßig abgewechselt. Im Amt wurden die politischen Entscheidungen immer ähnlicher, bis zuletzt ununterscheidbar (u. a. New Labour unter Tony Blair). Ähnliche Entwicklungen findet man in Frankreich vom zuletzt konservativen Präsident Sarkozy, über den Sozialisten Holland zum liberalen Macron. In Deutschland gilt das ebenso, insbesondere in der großen Koalition zwischen CDU und SPD. Der Fingerzeig begann bereits mit Schröders SPD-Kanzlerschaft. Es kam zu einer inhaltlichen Angleichung der Mainstreamparteien (vgl. Mair 2013). 18Wenig verwunderlich war die Euro-Debatte die Geburtsstunde der AfD. Denn Europa und die EU gab es bereits ohne den Euro. Es wurde versäumt, sich argumentativ mit den Vor- und Nachteilen des Euro auseinanderzusetzten. Stattdessen wurde die Erfahrungswelt, eine nationale Währung, als Unmöglichkeit populistisch abgetan. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als denkbare Vorschläge als populistisch zu ächten und zugleich populistisch ohne Alternativvorschlag zu antworten. Krastev (2017) zeichnet deshalb ein düsteres Bild für die Zukunft von Europa.

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Informationsspektrum weiterer Möglichkeiten verortet wird (vgl. Herzog 2018a). Dieses Kommunikationsprinzip reflektiert nicht nur Höflichkeit, Offenheit und Respekt gegenüber allen Beteiligten, sondern ist ein Muss in einer wissenschaftlich aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft.

5 Modellierung und Lösungsansatz 5.1 Vorbemerkungen In diesem Abschnitt wird anhand ökonomischer Simulationsmodelle gezeigt, dass ein enggefasster Debattenraum populistische Standpunkte – also den Informationspopulismus – ausbildet. Diese Form des Populismus verstärkt die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Spaltung. Als Lösungsansatz wurde das Konzept der „inklusiven Kommunikation“ entwickelt (Herzog 2018a). Dieser Ansatz erlaubt, es den Informationspopulismus abzumildern. Prinzipiell geht es darum, den verengten Debattenraum durch die Betrachtung der Verteilung zu öffnen respektive Fakten in den Kontext der Gesamtverteilung zu setzen (vgl. Gomez und Wilson 2001; Lau und Redlawsk 2006). Diese integrative Kommunikation intendiert marginalisierte Positionen in das Meinungsspektrum der liberalen Demokratie zurückzuholen.19 Die Besonderheit an diesem Modell ist, dass eine Botschaft nicht als singuläre Informationseinheit, sondern als Informationsverteilung kommuniziert wird. Das methodische Konzept ist in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften neuartig. Allerdings wurde bereits bei der Entdeckung der Quantenphysik um das Jahr 1900 erkannt, dass die Welt nur durch Verteilungen beschreibbar ist. Wir zeigen, dass die fehlende Verteilungsperspektive in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften eine Verständnislücke begründet. Mit dem Simulationsmodell gewinnen wir einerseits ein tieferes Verständnis für die Populismusfalle, andererseits erlangen wir einen Lösungsansatz gegen den Informationspopulismus. Wir verwenden sowohl künstlich generierte Netzwerkdaten im Vergleich zu realen Netzwerkdaten von amerikanischen Hochschulnetzwerken und sozialen Medien. In der Einleitung wurde dargelegt, dass die Nutzung von singulären Daten, unter anderem Mittelwerte, eine Herausforderung in der Kommunikation

19Hierbei

spielt die Integrationskraft von „Volksparteien“ eine herausragende Rolle.

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d­ arstellt. Allerdings gibt es eine deutliche Tendenz hin zu einfachen Botschaften, insbesondere durch die Digitalisierung. Das Big-Data Zeitalter und die künstliche Intelligenz dürften diesen Trend verstärken. Google Daten zeigen, dass die Verteilungssicht zuletzt an Bedeutung verloren hat (vgl. Herzog 2018a). So dürfte eine ausgewogene Darstellung von Fakten – die Verteilungssicht – zukünftig noch schwieriger werden. Der Modellierungsansatz, obschon beispiellos in den Wirtschaftswissenschaften, stammt ursprünglich aus der Biologie und Epidemiologie der 1930iger Jahre (vgl. Kermack und McKendrick 1927; Daley und Kendall 1964, 1965). Der Nobelpreisträger in den Wirtschaftswissenschaften aus dem Jahr 2013 Robert Shiller (2017) argumentiert, dass epidemiologische Modelle ein besseres Verständnis über die Dynamik von gesellschaftlichen Systemen, u. a. die Nachrichtenverbreitung, begreifbar machen.

5.2 Modell Zunächst definieren wir ein Maß, um Verteilungen zu vergleichen. Die KullbackLeibler-Metrik (KL-Metrik) erlaubt, die Differenz von Verteilungen zu messen (vgl. Festinger 1950). Ist die Differenz zwischen den Verteilungen groß, d. h. die KL-Metrik ist groß, dann liegt eine einseitige Kommunikation vor. Demzufolge kommt es zu einer Meinungspolarisierung in der Gesellschaft. Wenn beispielsweise die Regierung sagt, die Einkommen seien um 1,5 % angestiegen, aber tatsächlich sind die oberen Einkommen um drei Prozent und die unteren um null Prozent gestiegen, kommt es zu Missverständnissen. Das erweckt Unmut in der Gesellschaft und bestärkt den Eindruck, die Politik habe die „einfachen Leute“ vergessen. Der Informationspopulismus begründet die Empfänglichkeit der Menschen für populistische Ansichten. Definition. Die Differenz zwischen zwei Verteilungsfunktionen f(x) und f (x) wird als relative Entropie oder Kullback-Leibler Differenz bezeichnet (Kullback und Leibler 1951). Interessanterweise wurde das KL-Maß bereits von Kraft (1949) und McMillan (1956) in der Informationstheorie in den 1950iger Jahren genutzt, erfuhr aber keine weitere Anwendung.20

20In der Praxis werden Botschaften oftmals mit trivialen Verteilungen kommuniziert – u. a. Durchschnittswerte. Dies ist problematisch, da zum einen die Qualität des Signals niedrig ist, zum anderen die Botschaft verloren geht.

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Ein Kommunikationsprozess besteht im Allgemeinen aus zwei Kanälen. Der erste Kanal ist die private Kommunikation, die durch Mund-zu-Mund Propaganda gesteuert wird. Gerade im digitalen Medienzeitalter hat dieser Kanal an Bedeutung gewonnen. Zudem ist die digitale Öffentlichkeit für Populisten leicht zugänglich, was ermöglicht, unmittelbar auf die Bevölkerung zu wirken. Automatisierte Prozesse, unter anderem Social-Bots, lassen die Mund-zuMund Propaganda schnell potenzieren. Der zweite Kanal ist die öffentliche Kommunikation über Massenmedien, u. a. Fernsehen, Radio oder Presse. Dies ist in der Regel der wichtigste Kommunikationskanal von Regierungen und Medienorganisationen. Beide Kommunikationskanäle lassen sich anhand mathematischer Gleichungen abbilden.21 Jede Regierung beabsichtigt die Wählerstimmen für die Wiederwahl zu maximieren. Dazu muss eine glaubwürdige Kommunikationsstrategie etabliert werden. Dies gelingt dann, wenn die relative Entropie respektive das KL-Maß minimiert wird. Die Simulation unterstellt, dass die Verbreitung von Nachrichten über die Mund-zu-Mund Propaganda etwas langsamer ist im Vergleich zu den Massenmedien (Herr et al. 1991). Die Bevölkerungszahl ist auf 100 normiert. Das Modell simuliert nun, wie sich die Anzahl der informierten und uninformierten Akteure über die Zeit entwickeln (Bartels 1996). Sofern die relative Entropie Null wäre, d. h. die wahre Botschaft kommt bei allen an, würden alle Menschen die wahre Information erhalten (blaue Kurve). Das Modell zeigt, je höher die relative Entropie, desto geringer die Signalqualität und desto höher der Anteil der uninformierten Menschen (rote u. gelbe Kurven). Die uninformierten Menschen sind prinzipiell empfänglich für populistische Botschaften (Abb. 3). In einem zweiten Schritt modellieren wir eine Gesellschaft, in der wir unterstellen, dass zehn Prozent der Bevölkerung Populisten sind. Danach simulieren wir die Entwicklung dieser Gesellschaft. Zudem gibt es in jeder Periode eine neue Information/Nachricht, wobei diese entweder singulär oder verteilungsspezifisch ist. Des Weiteren unterstellen wir, dass anfangs nur ein gewisser Anteil der Menschen empfänglich für eine populistische Botschaft ist. Der prädefinierte Populismus wird aber nicht auf die Kinder vererbt. Letzteres hat die Annahme, dass Kinder vor allem durch die Sozialisation in der Familie und Schule geprägt sind. Das Ergebnis dieses Simulationsexperiments ist in Abb. 4 zusammengefasst. Im linken Schaubild erkennt man unmittelbar die Entwicklung der Populisten, sofern die KL-Metrik groß ist, d. h. die Nachrichten sind von einseitiger Natur.

21Dazu werden  Differenzialgleichungen modelliert  i(t) = kI(t) − Nk I 2 (t) + z ∗ [αN − [α + H(fˆ |f )]I(t)].

(Herzog

2018a):

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Abb. 3   Schlechte Signalqualität erhöht den Anteil der Uninformierten. (Quelle: eigene Berechnung und Simulation Herzog 2018a)

Ein illustratives Beispiel von einseitiger Berichterstattung findet sich insbesondere in der amerikanischen Medienlandschaft. Das linke Histogramm (blau) zeigt die Verteilung der potenziellen Populisten in einer Welt mit einseitiger Berichterstattung, während die rote und grüne Verteilungskurve den Normalfall in dieser Gesellschaft darstellt. Man erkennt unmittelbar, dass in dieser Welt der Anteil der Populisten an der Gesamtgesellschaft im Mittel auf gut 20 % anwächst. Das Szenario mit niedrigem KL-Maß ist im rechten Schaubild dargestellt. Kurzum, das rechte Schaubild zeigt einen intakten Debattenraum mit differenzierten Nachrichten. Dort wird mittels verteilungsspezifischer Kommunikation die Anzahl der Populisten signifikant minimiert und zwar im Mittel auf ein Niveau von in etwa fünf Prozent. Tatsächlich ist der Anteil der Populisten nun deutlich geringer als der Normalfall in der Gesellschaft (blaues Histogramm). Summa summarum: Je größer das KL-Maß, desto höher die Anzahl der Populisten. Anders ausgedrückt: einfache und einseitige Kommunikation polarisiert und befördert Informationspopulismus.

5.3 Empfehlungen Aus der Simulation folgt, dass eine gute Kommunikation eine hohe Signalqualität haben sollte (Manski 2019). Zu empfehlen ist eine verteilungsspezifische

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Kommunikationsstrategie. Diese Form der Kommunikation hat Herzog (2018a) als inklusive oder integrative (politische) Kommunikation bezeichnet. Zweck von Nachrichten ist nicht nur binäre Informationsübermittlung, sondern eine Botschaft im Kontext an den Adressaten zubringen. Eine inklusive Nachricht beinhaltet beispielsweise die ökonomische Dimension bestehend aus verschiedenen

Abb. 4    Entwicklung der Meinungsvielfalt in einer Gesellschaft. (Quelle: eigene Simulation Herzog 2018a)

­inkommensschichten oder eine soziale Dimension bestehend aus stark und E schwach resilienter Menschen sowie weitere Aspekte.22

22Weitere

Verteilungsaspekte können je nach Antwort auch diskriminierende Dimensionen umfassen. Nachfolgend eine selektive alphabetische Aufzählung: Altersspektrum, Berufsstand, Bildungsgrad, Geschlecht, Gewicht, Größe, Nationalität.

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Die Gefahr der Informationsverzerrung dürfte allerdings im digitalen Zeitalter (besonders in Filterblasen) noch weiter zunehmen.23 Insoweit sollten insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet sein, nur dann zu berichten, wenn einerseits das Bild- oder Textmaterial von mindestens drei unterschiedlichen und unabhängigen Quellen bestätigt wird. Andererseits sollte der Bericht nicht ein Narrativ erzählen, sondern stets nur die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen darlegen (vgl. Schweizer-Nachrichten (SRF) zu Volksentscheiden). Die integrative Kommunikation funktioniert nur dann, wenn die Beurteilung der Wahrheit nicht einzig den Medien und Experten überlassen wird. Vielmehr sollte man zukünftig dem Prinzip „Weisheit der Vielen“ mehr Zutrauen widmen (Lee 1913). Es ist keine neue Erkenntnis, dass Schwarmintelligenz bessere Ergebnisse und eine höhere Akzeptanzquote liefert. Unter anderem zeigte der Ökonomie-Nobelpreisträger Herbert Simon im Jahr 1978, dass komplexe System dadurch stabil werden, wenn man diese in Subsysteme zerlegt oder aber der Schwarmintelligenz vertraut. Die aktuelle Debatte um die NOX-Grenzwerte oder den Klimawandel zeigen exemplarisch den Konflikt zwischen der Wahrheit in der Wissenschaft und der komplexen Beurteilung dieser Sachverhalte in der Gesellschaft. Die Politik sollte nicht in post-moralischer Manier vortäuschen, dass Grenzwerte unfehlbar sind, wenn am Ende der Grenzwert stets politisch – also vom Volk – festgesetzt wird. Ganz ähnlich verhält es sich mit der apodiktischen Aussage „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“. Auch wenn, gemäß der klassischen Definition, dieser Satz kein Populismus darstellt, so verengt diese Aussage den Debattenraum und befördert den Informationspopulismus.

6 Schlussbetrachtung Der linke und rechte Populismus hat verschiedene Ursachen. Gemein ist, dass der fortschreitende technologische Wandel und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eine Verunsicherung auslösen. Zur Entfaltung des Populismus braucht es aber immer Angebot und Nachfrage. Allerdings gibt es eine versteckte Quelle des modernen Populismus. Diese begründet sich vor allem auf einer Überformung mit dem Postfaktischen und der Digitalisierung. Daraus entwickelt sich eine neue Form: Der sogenannte

23Vgl.

ZDF-Sendung: Das manipulierte Bild (23. Mai 2019).

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Informationspopulismus! Der Beitrag zeigt, dass der Informationspopulismus den pluralistischen Debattenraum schmälert und somit eine Populismusfalle in der liberalen Demokratie darstellt. Die Digitalisierung impliziert eine Komplexitätsreduktion in der Kommunikation, obschon die Welt vielschichtiger wird.24 Eine eindimensionale oder vereinfachende Informationsvermittlung unterliegt der Herausforderung, dass die Botschaft nicht mit der Erfahrung und Realität der Mehrheit der Bevölkerung im Einklang steht. Diese Dissonanz erzeugt einen weiteren Vertrauensverlust und macht Menschen empfänglich für den Informationspopulismus. Um dem Informationspopulismus zu begegnen bedarf es einer „integrativen Kommunikation“. Das bedeutet, Information muss stets im Kontext der Verteilung an den Adressaten vermittelt werden. Integrative Kommunikation ist kein trivialer Lösungsansatz, da Fragen der Praktikabilität im digitalen Zeitalter tangiert sind. Dennoch es ist an der Zeit, Pragmatismus über Dogmen zu stellen. Verteilungsaspekte sollten parallel zu den einfachen Botschaften mitgedacht werden. Nur eine „integrative Kommunikation“ befördert Vertrauen in die Medien und die liberale Demokratie.

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24Gemäß

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Philosophie

‚Wir‘ sind kein Volk Philosophische Überlegungen zum Populismus Thomas Bedorf und Sarah Kissler

1 Einleitung In der politischen Öffentlichkeit ist der Populismus allgegenwärtig; so sehr, dass sein unscharfer Sinn zur Bezeichnung von recht verschiedenen politischen Phänomenen genutzt wird. Der politisch-rhetorische Gebrauch des Begriffs wiederum hat sich verselbständigt und dient immer häufiger zur unspezifischen Denunziation, sodass mit diesem „Müllcontainer der herrschenden Elite“ (Agridopoulos 2017, S. 29) ein „Denkverbot“ (Žižek 2017, S. 90) über alles verhängt zu werden scheint, was dem neoliberalen Diskurs zuwiderläuft. Auch in wissenschaftlicher Perspektive ist die begriffliche Lage nicht eindeutig. Sowohl historisch als auch systematisch wird unter dem Begriff des Populismus eine ganze Bandbreite an Phänomenen behandelt: von seinem Ursprung in der Politik der Populist Party der USA Ende des 19. Jahrhunderts, über verschiedene Strömungen eines linken Populismus, wie er aus den Nachkriegspolitiken Südamerikas bekannt ist bis hin zur Emergenz eines rechten Populismus in zeitgenössischen europäisch-atlantischen Demokratien. Im Zuge dieser Aktualität hat die Forschung zahlreiche Versuche unternommen, gemeinsame Nenner politischer Bewegungen als populistisch zu identifizieren. Von empirischen Beobachtungen ausgehend ist die Entwicklung einer trennscharfen Begrifflichkeit noch im Entstehen, zumal die Herkunftsgeschichten der jeweiligen, lokal situierten Populismen sich so stark unterscheiden, dass viele Beschreibungen T. Bedorf (*) · S. Kissler  FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Kissler E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_4

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notwendigerweise an die lokalen Partikularitäten gebunden bleiben. Das mag ein Grund sein dafür, dass die politische Philosophie im engeren Sinne mit Analysen zum Populismus noch sehr zurückhaltend ist und das Feld, über das hier berichtet werden kann, entsprechend beschränkt. Soll aus philosophischer Sicht zum Thema beigetragen werden, ist es daher unumgänglich, Anleihen in Nachbardisziplinen (insbesondere der Politologie und der Soziologie) zu machen. Bevor also im Folgenden der Versuch einer vorläufigen philosophischen Reflexion unternommen wird, werden zunächst einige Proben zum Forschungsstand gezogen, die sich nicht aus philosophischen Quellen allein speisen und bei denen analytische (II.) und affirmative Ansätze (III.) unterschieden werden. Unter letzteren ist die Populismustheorie Ernesto Laclaus die strukturell anspruchsvollste Theorie, die daher eigens ins Zentrum gestellt wird (IV.). In der Konstruktion eines wie auch immer fiktiven „Wir“, ist denn auch eine Attraktivität des Populismus zu sehen (V.), auf die die Krise der Demokratie eine Antwort zu finden hätte. Wenn die Partikularität und Fragilität dieses „Wir“ nicht phantasmatisch geschlossen werden soll (VI.), könnte – so der abschließende Vorschlag – ein kämpferischer Liberalismus eine mögliche strategische Antwort sein (VII.).

2 Analytische Ansätze Überblick bietende Arbeiten liefern eine ganze Reihe von Befunden, die als gemeinsame Charakteristika populistischer Bewegungen gelten können: charismatische Führungspersonen, die sich vor allem im Falle von linkem Populismus finden (vgl. Jörke und Selk 2017, S. 23); hierarchische Organisationsstrukturen, deren klientelistische Verteilungspolitik sich oft mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert sieht (vgl. Jörke und Selk 2017, S. 68 f.); eine symbolisch sich mit der vermeintlichen Wählerschaft solidarisierende, bisweilen martialische Rhetorik (vgl. Jörke und Selk 2017, S. 27 und 75); der Anspruch, für „das Volk“ zu sprechen (vgl. Müller 2016, z. B. S. 51), das in Opposition zur „Elite“ gesetzt wird (vgl. Müller 2016, S. 42; Stegemann 2017, S 16); eine Affirmation bestimmter von durch die Herausforderungen der Modernisierung bedrohten Traditionsbestände (vgl. Jörke und Selk 2017, S. 40) sowie eine Abwehr gegenüber dem Fremden (vgl. schon Adorno 2019, S. 50) und damit einhergehend ein Antipluralismus (vgl. Müller 2016, S 44). In dieser Sammlung von geteilten Eigenschaften sind die Ebenen nicht immer klar unterschieden, auf denen diese Beschreibungen jeweils liegen. Zwar scheinen all diese Charakteristika zuzutreffen (wenn auch nicht für alle Varianten

‚Wir‘ sind kein Volk

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gleichermaßen), doch betreffen die Kriterien systematisch unterschiedliche Dimensionen. Zur Sprache kommen etwa die Analyse ökonomischer Ursachen, die Untersuchung verschiedener Machttechniken sowie die Inhalte populistischer Politik oder Propaganda durch ihre Akteure, Parteien und Bewegungen. Zudem sind die Ergebnisse uneindeutig, wenn in der Wählerschaftsanalyse Beobachtungen einer auffälligen Homogenität neben solchen einer Heterogenität der Wählerschaft stehen. Aufgrund dieses Mangels an Theoretisierung sowie der Komplexität des Populismus spricht sich Paula Diehl für ein „mehrdimensionales und graduelles Konzept“ des Populismus aus (Diehl 2011). Ausgehend von Frank Deckers Unterscheidung zwischen drei Bedeutungsebenen des Populismus (gesellschaftliche Ursachen, ideologische Inhalte, formale und stilistische Merkmale) (vgl. Decker 2011, S. 40), setzt sie als drei Hauptdimensionen des Populismus 1. Ideologie, 2. politische Kommunikation und 3. soziale Organisation und Struktur an (Diehl 2011, S. 279). Für jede dieser Dimensionen entwickelt sie eine Kriterienliste, die es ihr ermöglicht, populistische Bewegungen und Akteure graduell einzuordnen. Eine Entscheidung, ob Populismus nun dünne Ideologie, Stil, Kommunikationsform oder politische Praxis ist, entfällt damit. Dies lässt nicht nur einen differenzierten Blick vonseiten der Forschung zu, sondern, wie Diehl resümiert, stellt auch eine gewisse Vergleichbarkeit her und erlaubt es, Akteure in ihrer Entwicklung über die Zeit hinweg zu erfassen (vgl. Diehl 2011, S. 290). Jenseits der empirischen Abstufungen liegt eine Konstante, die weitgehend unabhängig von der Ausrichtung des jeweils behandelten Populismus zu verzeichnen ist, in der Annahme einer Trennung des Volkes von der Elite, also eine ausgeprägte Wir/Sie-Rhetorik. Laut der unter anderem von Jan-Werner Müller formulierten These handelt es sich dabei um die strukturelle Voraussetzung dessen, dass populistische Politik vor allem für sich in Anspruch nimmt, im Namen des Volkes zu sprechen, wobei der Wille dieses Volkes als „moralisch reiner“ aufgenommen wird. Populismus ist demnach eine „bestimmte Politikvorstellung“, „laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören“ (Müller 2016, S. 42). Die Populisten beanspruchen demnach, nicht eine Teilmenge des Volkes, sondern das Volk als Ganzes zu vertreten. Der Ausschluss einer Elite (das „Establishment“), die als illegitimer Vertreter gebrandmarkt wird, gehört zwingend zur rhetorischen Ausstattung hinzu. Durch den exklusiven Vertretungsanspruch werden andere aus dem politischen Leben ausgeschlossen, die Vielfalt und Differenz auf den einen volkhaften (und bisweilen: völkischen) Nenner reduziert. Populismus – so Müller – ist wesentlich antipluralistisch – und damit antidemokratisch. Populismus fungiert

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so als „Schatten der repräsentativen Demokratie“ (Müller 2016, S. 18). Denn wenn die Populisten die wahren Volksvertreter sind, die Eliten aber nur verschleiern, dass sie anderes im Schilde führen, „kann mit den Institutionen etwas nicht in Ordnung sein, da die Populisten sonst ja längst an der Macht wären“ (Müller 2016, S. 130). Dies mündet in eine „Fundamentalkritik an den demokratischen Institutionen“ (Müller 2016, S. 129 f.) und der sie beobachtenden Medien (eben der „Lügenpresse“). Da der wahre Volkswille empirisch nicht belegbar ist, werden Widerstände als eher taktische denn faktische aufgenommen. Die Einsicht, dass ein politisches Volk und sein Wille (falls es so etwas überhaupt gibt), erst mittels mehrfach gestufter Vermittlungen qua Repräsentation entstehen (vgl. Linden und Thaa 2011), statt schon irgendwie und irgendwo vorab zu existieren, ist dem Populisten unzugänglich. In Müllers vielbeachtetem Essay wird diese Annahme der ­ Volk/ElitenGegenüberstellung, so grundlegend sie ist, nicht en detail reflektiert. Nur am Rande wird die Annahme notiert, dass eine solche Repräsentationsbehauptung selbst die Ursache dafür sein kann, dass sich eine Gruppe konstituiert und sich als repräsentationswürdig begreift (vgl. Müller 2016, S. 62). Darauf wird (in Abschn. 4) zurückzukommen sein.

3 Affirmationen populistischer Strategien Demgegenüber greift Bernd Stegemann in seinem politischen Manifest Das Gespenst des Populismus die Volk/Elite-Unterscheidung affirmativ auf und formuliert die Notwendigkeit eines linken Populismus, den er sowohl gegenüber einem rechten als auch einem liberalen Populismus positioniert (vgl. Stegemann 2017, S. 40 ff.). Die Rede von einem „liberalen“ Populismus ist relativ singulär und wird verständlich vor dem aktivistischen Hintergrund, fungierte er doch als Theoretiker der von Sahra Wagenknecht initiierten (und mittlerweile wieder zur Ruhe gekommenen) Bewegung Aufstehen. Linken Populismus versteht Stegemann als geeignetes Mittel, um in die – seiner Analyse nach – festgefahrene Debatte zwischen liberalem und rechtem Populismus einzugreifen. Der liberale Populismus bestätige dabei lediglich einen Common Sense, der keinerlei Klassenbewusstsein habe und sich auf bloße Reformulierung und technokratische Beschreibung von Problemen zurückziehe. Eine Lösung dieser Probleme biete er nicht und könne er auch gar nicht bieten, da er die liberalen Eliten als verantwortlich für die ursächlich „schiefgelaufene Globalisierung“ wähnt (Stegemann 2017, S. 68). „Liberal“ im „liberalen Populismus“ heißt hier „neoliberal“; gemeint ist jener auf evaluierbare Effizienz gepolte und die prekäre Freisetzung der

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Individuen billigend in Kauf nehmende Umbau der öffentlichen Institutionen, der Politik nur als Reaktion auf Sachzwänge formulieren kann. Populistisch gibt sich der Neoliberalismus dann insofern, als er sich als alternativlose Alternative zum drohenden Rechtspopulismus geriert (vgl. Stegemann 2017, S. 50). Einem linken Populismus kommt demgegenüber nun die Rolle zu, dem Volk Begriffe an die Hand zu geben, um alltägliche Erfahrungen und damit die gefühlte Ungleichheit benennen zu können (vgl. Stegemann 2017, S. 132). Nach Stegemann soll so das „untere Drittel der Bevölkerung“ – womit er ohne weitere Belege eine drastische Einschränkung der Adressaten und Produzenten rechtspopulistischer Rhetorik vornimmt1 – aus der „Gefangenschaft der Rechtspopulisten“ befreit werden (Stegemann 2017, S. 123). Stegemann geht hier mit erstaunlicher Fraglosigkeit von einem klar definierten Volkskörper aus und bedient sich bisweilen selbst einer Rhetorik, die derjenigen rechtspopulistischer Akteure zum Verwechseln ähnlich ist. Er greift mitunter zu polemisch vereinfachenden Vorwürfen wie demjenigen, dass jene, die unter dem Schlagwort der ‚Identitätspolitik‘ Compliance-Regeln gegen rassistische Personalpolitik ins Werk setzen, Rassismus nur dort sehen, wo die Eliten die Gewinne des Kapitals in Gefahr sehen (vgl. Stegemann 2017, S. 89). Die geschützte Vielfalt der Identitäten dient so nur der Ausbeutbarkeit der Vereinzelten. Die „linksliberale Empörung“ ist nur eine undurchschaute „Funktion im Neoliberalismus“ (Stegemann 2017, S. 89). Insofern in dieser Gemengelage kein Raum für die Äußerung von Wut und Enttäuschung vonseiten des Volkes bleibt, besteht der anstehende „Kulturkampf“ vor allem in einer „Revolte in der Kommunikation“ (Stegemann 2017, S. 173). Linker Populismus mag in Nord- und Westeuropa noch wie eine recht künstliche Anrufung oder eine fingierte Gegenmaßnahme erscheinen. Hingegen hat er in Südamerika eine längere Tradition, deren bekanntesten Beispiele der argentinische Péronismus (in namensgebend ursprünglicher Form unter Eva und Juan Péron oder unter Néstor Kirchner und Christina Fernández Kirchner, die sich in die peronistische Tradition gestellt haben) und der venezolanische „Chavismus“ sind. Während die südamerikanischen Linkspopulismen zumeist

1Karin

Priester merkt in ihren Ausführungen zum linken und rechten Populismus an, dass die meisten Forscher mittlerweile davon ausgehen, dass es gerade nicht die „Verlierer der Modernisierung“ also das untere Drittel der Bevölkerung ist, das zum Rechtspopulismus neigt, sondern diejenigen, die sich von Deklassierung, sozialem Abstieg und Statusverlust bedroht fühlen, womit die potenzielle Wählerschaft bis weit in die Mittelschicht reichen würde (vgl. Priester 2012, S. 17, 37).

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an autoritative bis autoritäre Führungsfiguren gebunden sind, sind die jüngeren linkspopulistischen Erfahrungen in Südeuropa in erster Linie solche von Sammlungsbewegungen (Syriza, Podemos). Jenseits dieser politischen Anrufungen und empirischen Einzelfälle haben auf theoretischer Ebene Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eine Hegemonietheorie entwickelt, die im Populismus kein zufälliges, sondern notwendiges Ausdrucksmittel im politischen Antagonismus sieht. Hier wird Populismus nicht als empirische Größe, sondern als diskursive Strategie verstanden, mit deren Hilfe heterogene Forderungen geäußert werden können, die in den unter liberalen Bedingungen gültigen Formulierungen sozialer Interessen nicht artikuliert werden können (vgl. Mouffe 2018). Chantal Mouffe argumentiert daher dafür, dass ein linker Populismus die träge, inhaltsleere Postpolitik zu überwinden vermag und so eine Rückkehr des Politischen möglich macht. Dafür ist die Formierung eines konkreten Wir Voraussetzung, das einen kollektiven Willen zum Ausdruck zu bringen vermag. Mouffe schließt sich in ihrer Analyse der Strategie an, die Ernesto Laclau in On Populist Reason (2005) formuliert, die im folgenden Abschnitt kurz entwickelt wird.2 In Mouffes Plädoyer für einen affirmativen Populismus bleibt offen, wie die kategoriale Aufteilung in Wir und Sie zu verstehen ist, wenn das von ihr adressierte Volk keine empirische Referenz, sondern eine diskursive politische Konstruktion ist, die die Heterogenität der Bedürfnisse zum Ausdruck bringt. Handelt es sich dabei um homogene bzw. überhaupt um Kollektive und wenn ja, können wir sie einfach als gegeben hinnehmen? Wenn wir von solch einander gegenüberstehenden Kollektiven ausgehen müssen und sie nicht einfach als gegeben vorzufinden sind, wie formieren sie sich dann und finden eine gemeinsame Identität?

2Die

Beiträge zu einer hegemonietheoretischen Philosophie des Politischen haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in stetem Austausch und wiederholt in Koautorschaft erarbeitet. Das heißt allerdings nicht nur nicht, dass beide dasselbe vertreten, sondern es schließt auch nicht aus, dass in den letzten Schriften Chantal Mouffe ein dezidiert weniger offenes Konzept vertritt, als dies die poststrukturalistische Verve Laclaus bietet. Die ontische Vereinseitigung führt in eine normative Vereindeutigung eines agonalen Pluralismus (vgl. dazu Hildebrand und Séville 2015). Ob dieses Vorhaben in sich schlüssig ist, steht auf einem anderen Blatt.

‚Wir‘ sind kein Volk

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4 Laclaus hegemonietheoretische Ontologie des Populismus Ernesto Laclau beantwortet die Frage nach der sozialen Realität hinter der Bezeichnung Populismus (vgl. Laclau 2005, S.  16  f.) mit einer Analyse solcher Formierungsprozesse. Anlauf nimmt er beim häufig geäußerten Vorwurf, dass populistische Ansätze unpräzise bzw. intellektuell arm sind. Er versucht diesen Umstand ernst zu nehmen und zwar als strukturell im Populismus selbst angelegtes Phänomen, das er als politische Logik versteht (vgl. Laclau 2005, S. 117). Zu Beginn, so nimmt Laclau an, stehen partikulare Forderungen im Raum, die sich dann nach und nach zu etwas Universalem entwickeln können, wenn die hierfür eingesetzten Signifikanten möglichst viele heterogene Forderungen („Differenzen“) umfassen. Die verallgemeinernden übergreifenden Identitäten nennt er im Gegensatz zu den zuvor vorliegenden Differenzen in den Interessen und Forderungen „Äquivalenzen“. Dadurch gewinnt die populistische Forderung zwar extensional an Fülle, intensional wird sie jedoch ärmer (vgl. Laclau 2005, S. 95 f.). Werden diese Forderungen an einen Signifikanten geknüpft, so ermöglicht dieser ihre Bündelung. In Anknüpfung an Lacan nennt Laclau diesen Signifikanten „leer“, weil er nicht aus sich selbst heraus auf eine substanzielle Wirklichkeit verweist. Doch vermag er über die Differenzen einzelner Forderungen hinweg Kohärenz zu erzeugen. Um die substantielle Leere zu füllen, die „abwesende Fülle zu inkarnieren“ (Laclau 2007, S. 214), muss ein Signifikant symbolisch die Bündelung des Disparaten verkörpern. Der Entleerung der Bedeutung des Signifikanten entspricht seine Funktion, eine Kette von Äquivalenzen herstellen zu können. Kandidaten können ganz verschiedene p­olitisch-technische Begriffe sein (Gouvernance, Effizienz), Namen (Nelson Mandela), Slogans (we’re queer we’re here) oder politische Großideen (Gerechtigkeit, Freiheit) und Größen (Nation, Volk). Dieser hier in aller Kürze dargelegte Prozess der politischen Symbolisierung ist entsprechend der Ausgangsthese nach Laclau als Ausdruck der Tatsache zu verstehen, dass jede populistische Vereinheitlichung letztlich auf einem radikal heterogenen Terrain stattfindet (vgl. Laclau 2005, S. 98). Entscheidend ist nun Laclaus Antisubstanzialismus, insofern sich das kollektive Subjekt des Populismus erst durch diesen Prozess des Ausdrucks, und zwar inklusive des Ausgedrückten, konstituiert (vgl. Laclau 2005, S. 99). Der Wille des Volkes existiert also nicht vorab, sondern konstituiert sich erst durch die Repräsentation dieses Willens (vgl. Laclau 2005, S. 223). Dass die Sprache eines populistischen Diskurses unpräzise und fluide ist, zeigt sich dabei als

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strukturelle Notwendigkeit, weil sie innerhalb eines heterogenen sowie fluiden Feldes operiert. Zwar handelt es sich um eine einheitliche Identität, das Heterogene von dem diese ausgeht, bleibt letztlich aber immer präsent – und wenn es durch seine Abwesenheit ist (vgl. Laclau 2005, S. 223). Das Ganze, von dem Laclau schließlich spricht, ist kein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, sondern jeder Teil dieses Ganzen fungiert selbst schon als das Ganze (vgl. Laclau 2005, S. 111). Welcher Name letztlich für die entstandene Identität gewählt wird, ist kontingent und austauschbar und auch seine Bedeutung ist variabel (vgl. Laclau 2005, S. 227), weswegen auch jede einmal gezogene Grenze verschiebbar bleibt (vgl. Laclau 2005, S. 152). Dass es diese Grenzen gibt, ist indes auch nach Laclau unhintergehbare Bedingung für jeden Populismus. Wie diese Grenze gezogen wird und was als Name fungiert, bestimmt letztlich den Inhalt, die Kontur und die Gegnerschaft des jeweiligen „ontischen“ Populismus. Im Gefolge von Laclaus ontologischer Formanalyse des Politischen als notwendig populistische Struktur hat sich der Vorschlag etabliert, den linken einen inklusiven (oder: inkludierenden) und den rechten einen exklusiven (oder: exkludierenden) Populismus zu nennen, um ein formales Kriterium der Unterscheidung an die Hand zu bekommen (vgl. Jörke und Selk 2017, S. 26; Mudde und Kaltwasser 2013). Der inklusive Populismus versammelt Leute unter einem gemeinsamen Banner, einer fiktiven Identität („leerer Signifikant“), ohne prinzipiell gegen bestimmte Gruppen zu agitieren, während der exklusive gerade seine Kraft aus der Abwehr von Fremden, Anderen und Zugezogenen gewinnt.3 Auch die politischen Affekte, die motivationales Reservoir und Gestaltungsfeld des Populismus abgeben, lassen sich zuordnen, wie auch empirische Untersuchungen gezeigt haben (Salmela und von Scheve 2018). Ängste vor dem Verlust von sozialem Status erzeugen oft ein ganzes Arsenal an Gegengefühlen („resentment“). Doch nur dann, wenn auch das eigene Selbst infrage gestellt ist, bildet sich das projektive Ressentiment aus. Für eine sozialpsychologische Deutung kann diese Folie dazu dienen, den rechten Populismus als einen des Ressentiments aufgrund verdrängter

3Eine

Abbildung dieser Unterscheidung auf die interne Organisationsform, was heiße, dass der exklusive Populismus stärker als der inklusive auf Führerfiguren angewiesen wäre, sodass man den inklusiven auch einen „­ anarcho-populism“ genannt hat (Gebaurdo 2017), ergibt sich daraus nicht zwingend. Dass faktisch das eine vom anderen nicht trennscharf zu sondern ist und realpolitisch ineinander übergehen kann, war in den letzten Jahren in Südeuropa zu beobachten. Solche Differenzierungen jedoch lassen sich letztlich nur empirisch an der historischen Konstellation entscheiden und überschreiten die Möglichkeiten begrifflicher Arbeit.

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Scham, beruhend auf dieser Infragestellung des eigenen Selbst, zu kennzeichnen. Für eine akzeptierte Scham hingegen ist solch eine aggressive Sündenbocksuche nicht erforderlich.4 Die Verdrängung führt zur Projektion der Schuld für die eigene Benachteiligung auf eine Gruppe Auszugrenzender. Schamakzeptanz ermöglicht hingegen eine interne Solidarisierung, die ohne Sündenbock auskommt. Ob dies bündig mit den internen Organisationsformen jener Populismen übereinstimmt, die als „links“ oder „rechts“ eingeordnet werden (offen, dialogisch wie soziale Bewegungen vs. autoritär-hierarchisch; Salmela und von Scheve 2018, S. 444 f.), hängt wiederum von der Beschreibung der empirischen Situation ab. Die „Nachfrageseite“ des Populismus jedenfalls – so lässt sich unabhängig davon festhalten – steht in Beziehung zu den libidinös-affektiven Strukturen, die in einer Gesellschaft angelegt sind.

5 Die populistische Verführung des Wir Angesichts vielfältiger Blockaden der institutionalisierten demokratischen Prozeduren des Westens kann es nicht wundern, dass die Unzufriedenheit mit der Diskrepanz zwischen demokratischem Teilhabeversprechen und erlebter Wirkungslosigkeit sich zunehmend Ausdruck verschafft. Sie wurden diagnostisch unter verschiedenen Namen rubriziert: Bezeichnungen wie „Nichtpolitik“ (Michelsen und Walter 2013, S. 21), „postpolitischer Zeitgeist“ (Mouffe 2007, S. 7) oder „politics without politics“ (Dean 2009) sowie die weit verbreitete Rede von der „Postdemokratie“ sind vor diesem Hintergrund als Versuche zu verstehen, die Malaise auf den Begriff zu bringen. Die Erfahrungen, die damit bezeichnet werden, führen in ihrer populistischen Reformulierung zu dem prägnanten Wir/Sie-Gegensatz, der gemäß obiger analytischer Ansätze einen jeden Populismus kennzeichnet. In Müllers Darstellung gehört zur populistischen „Politikvorstellung“ die bereits erwähnte Überzeugung hinzu, „laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören“ (Müller 2016, S. 42). Das „Wir“, das sich als sprachlos und machtlos erfährt (oder inszeniert), ist demnach nicht nur ein Teil einer

4Dem

könnte man Didier Eribons Beobachtung zur Seite stellen, dass bei gleichem Ausgangsbefund über den eigenen sozialen Status und die politischen Herrschaftsverhältnisse die „Stimme für die Kommunisten eine positive Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative.“ (Eribon 2016, S. 125).

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in sich pluralen Gesellschaft, sondern schwingt sich zur Repräsentanz des Ganzen auf: „Wir sind das Volk.“ Damit wird eine Eigentlichkeit beansprucht, die von der hierarchischen Differenz zu den Uneigentlichen lebt. Wenn „wir“ das (ganze) Volk sind, können die, die herrschen (die „Elite“, das „Establishement“) nicht zum Volk gehören. Das Labeling als „Volksverräter“ und „Parasiten“ ist nur eine konsequente Folge dieses Denkens, die terminologischen Anklänge an den eliminatorischen Antisemitismus der Nazis kein Zufall. Die herrschenden politischen Funktionäre und ihre medialen Partner („etablierte“ Parteien und Medien) gehören dann nicht zum „Volk“, jenem Wir, dessen Eigentlichkeit von den Populisten entdeckt wurde. Es ist wie gesagt, angesichts der tatsächlichen Dysfunktionalitäten demokratischer Prozesse und angesichts des Teilhabe versprechenden Selbstverständnisses jeder verfassten Demokratie eine attraktive Sprecherposition, sich einem Wir zugehörig fühlen zu dürfen, das Einigkeit und Eigentlichkeit verspricht. Es schafft klare Grenzen, Zugehörigkeiten und Feindbilder; alles, was in Zeiten des Umbruchs und der schon nicht mehr „neuen“ Unübersichtlichkeit brauchbar ist und Orientierung vermittelt. Darin dürfte ein wesentlicher Grund für die Attraktivität von Populismen bestehen: Sie verschaffen Eindeutigkeit, wo Vieldeutigkeit und Differenz die Regel ist. Sie erzeugen Übersichtlichkeit samt eindeutiger Zuordnungskriterien, wo aufgrund der Parallelität verschiedener Erklärungsansätze Unsicherheit herrscht. Und sie bieten klare Feindbilder, wenn das „Wir“ ein Außen setzt, das nicht zu „uns“ gehört. Diese Attraktivität einer suggestiven Identität negiert die Differenz, die das Grundmotiv der (zumindest: liberalen) Demokratien darstellt. Jede*r darf sein, wie immer er oder sie sein mag. Die gleichen Abwehrrechte schützen diese Differenzen, die gleichen Teilhaberechte garantieren jeder*m Mitbestimmung. Die demokratische Idee beruht auf dem Grundmotiv, dass man sich gerade nicht identitär vereinnahmen lassen muss, wenn man nicht will; es gilt die Regel, dass keine übergreifende Identität herrschen soll. Der Volksbegriff der Demokratie rekurriert auf populus statt auf natio. Die individuellen Freiheiten müssen soviel Spielraum als möglich erhalten, sodass die Reduktion auf eine große, gemeinsame Identität mit demokratischen Praktiken, die Differenz, Pluralität und Streit voraussetzen oder doch zumindest: nicht unmöglich machen dürfen, damit unvereinbar ist. In diesem Sinne sind Populismen, was auch Jan-Werner Müller als Konsequenz seiner Definition ansieht, undemokratisch, und populistische Politik eine Gefahr für die plurale Interessenvertretung voraussetzende institutionalisierte demokratische Politik. So gesehen würde der Unterschied zwischen linkem und rechtem Populismus kollabieren, weil beide beständig Gefahr laufen, aufgrund ihrer „Wahlaffinität

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zum Autoritarismus“ (Cohen 2019, S. 392) demokratische Werte zu unterlaufen. Denn letztlich basieren beide Populismen auf einer Strategie der Grenzziehung, nämlich der zwischen Volk und Elite. Populistische Politik erscheint in dieser Perspektive als eine Variante von Identitätspolitik basierend auf der Verkörperung des Volkes, einer Mehrheit, durch einen politischen Leader. Populisten können es sich aufgrund ihrer zugrunde liegenden Grenzziehungsstrategie und der damit einhergehenden moralischen Erhörung des Volkes, das sie vertreten, nicht erlauben, sich als ein demokratischer Akteur unter mehreren zu sehen.5 Dass auf dem Boden populistischer Ideologie die Grundlage dafür Bestand haben können soll, differenzierte Politik zu ermöglichen, die offen sein kann für neue Akteure, Bedürfnisse und Anliegen, ist schwerlich vorstellbar, selbst wenn sich die Akteure für Interessen von unter das „Wir“ gefassten Minderheiten einsetzen. Populistische Politik ist in diesem Sinne illiberal, anti-pluralistisch und monistisch (vgl. Cohen 2019, S. 396). Um den Willen der Mehrheit des sogenannten Volkes durchzusetzen, fordern populistische Leader als direkte Repräsentanten Änderungen bestehender demokratischer Strukturen vor allem auch auf institutioneller Ebene, in der Regel in Verbindung mit der Ausweitung der exekutiven Macht (vgl. Cohen 2019, S. 401). Entsprechend wäre selbst die vermeintlich inkludierende Variante ein exkludierendes Projekt „pars pro parte“ und nicht pars pro toto (Urbinati 2019, S. 412), das auf dem Ausschluss der wenigen basiert.

6 Das prekäre Wir als Herausforderung an die Demokratie Ob man den Populismus als Gefahr für die Demokratie oder als ihre Herausforderung betrachtet, kommt also auf den Demokratiebegriff an, den man voraussetzt. Aus liberaler Sicht ist Populismus differenzfeindlich, während aus hegemonietheoretischer Sicht er das Ferment einer Politik der Versammlung darstellt. So sehr die liberale institutionalisierte Politik den Populismus als pluralismusfeindlichen Gegner ansehen muss, so kann eine Ontologie des Politischen darauf bestehen, dass alle ‚wirkliche‘ Politik (d. h. das Politische!) aufgrund des grundlegenden sozialen Antagonismus ein populistisches Element mit sich führt,

5Da

der Populismus in diesem Sinne eben nicht mit völlig leeren Signifikanten operiert (vgl. Priester 2012, S. 46 f.), lässt er sich auch nicht einfach als eine politische Option unter anderen ‚wählen‘.

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ja, mit sich führen muss. Daraus würde wiederum die enge Konsequenz folgen, dass nur populistische Politik wirklich politisch ist (im Sinne der politischen Differenz). Geht man wie Müller von einem bereits liberalistisch eingeschränkten Demokratiebegriff aus, muss der populistische Antipluralismus als antidemokratisch erscheinen. Ausgehend von einem formalen Populismusbegriff à la Laclau erscheint dieser Schluss jedoch vorschnell. In hegemonietheoretischer Sicht gehört die Konstitution eines „peuple“ zum radikaldemokratischen Prozess des Politischen mit hinzu. Vor allem besteht es nicht aus Individuen, deren individuelle bürgerrechtlich konstituierten Funktionen bereits feststehen. Populismus ist dann keine „Politikvorstellung“ (Müller) unter anderen, sondern die „political logic“ (Laclau 2005, S. 117) selbst. Der Populismus, als ontologische Funktion des sozialen Antagonismus verstanden, verfährt vielmehr so, dass durch die Artikulation einer Äquivalenz demokratischer Forderungen „the ‚people‘ as a potential historical actor“ (Laclau 2005, S. 74) konstituiert wird. Versteht man den Populismus als die notwendige Versammlung eines Kollektivs um einen leeren Signifikanten, der allererst einen handlungsfähigen politischen Akteur erzeugt, dann wird betont, was die liberale Demokratie immer schon zu wissen glaubt und gerade daher vergessen kann: Das Stiftungsmoment einer jeden politischen Ordnung (zum Begriff der Stiftung vgl. Bedorf 2020). Es versteht sich nämlich nicht von selbst, wer oder was das Volk ist. Rancière spricht für viele Theoretiker des Politischen, wenn er festgestellt: „‚Das Volk‘ existiert nicht.“ (Rancière 2017, S. 98). Diese Engführung versteht sich nun aber ihrerseits nicht von selbst, weshalb sie auch wiederholt kritisiert worden ist. Denn eine affirmative Theorie des Populismus reduziert, wie Etienne Balibar kritisiert hat, die Differenz zwischen dem Politischen und der Politik auf ein „Nichts“ (Balibar 2010, S. 236). In der Terminologie der politischen Differenz ist das Politische ganz unterschiedlich, namentlich als Norm, als Hegemonie, als Unterbrechung, als Stiftung oder als soziales Zwischen konzipiert worden (vgl. Bedorf 2010; Marchart 2010). Die Reduktion der Pluralität der Ansätze auf das Moment des unausweichlichen Populismus ist nur um den Preis einer Verkürzung zu haben. Die Vielfalt und der Facettenreichtum der Ereignisse des Politischen reduzieren sich nicht auf die Bindung einer Äquivalenzkette an einen leeren Signifikanten. Auch große historische Kämpfe wie die amerikanische Bürgerrechtsbewegung funktionieren trotz eines erfolgreich operierenden Signifikanten („Martin Luther King“) anders und pluraler (vgl. Žižek 2017, S. 99) als es die Ontologie des Populismus ­unterstellt.

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Nicht nur wird die Pluralität der Ansätze auf einen unausweichlichen Populismus reduziert, sondern auch die Pluralität der Anliegen aller Individuen, die unter dem Deckmantel des „Wir“ Berücksichtigung finden sollen, werden homogenisiert. Denn bei diesem „Wir“ handelt es sich nicht nur um eines, das tatsächlich performativ konstituiert ist, sondern auch um eines, das beständig performativem Wandel unterliegt. Es ist gerade nicht ein in Einheit handelndes Kollektiv, sondern ein komplexes Zusammenspiel handelnder Individuen mit spezifischen Eigeninteressen. Und auch das mit dem „Wir“ bezeichnete Bild der Gesellschaft obliegt einem Wandel, denn politische Repräsentation und soziale Wirklichkeit bedingen sich gegenseitig. Insofern ist die Repräsentation dieses Wir durch das „Wir“ auch stets als eine Art Inszenierung mit fiktivem Charakter zu begreifen. Um es mit Waldenfels zu sagen, liegt ein Spalt zwischen dem Wir, das spricht und dem Wir in solcherlei politischer Erklärung (vgl. Waldenfels 1998, S. 262). Die Sprecherposition des Sprechakts „Wir, das Volk“ ist stets in sich gespalten, oder weniger hochtrabend gesprochen: differenziell. Eine Identität zwischen dem Wir des Ausgesagten und dem Ich, das „Wir“ sagt, ist prinzipiell unmöglich. Und doch kommt kein Wir ohne Ausschluss aus. Noch die performative Selbstermächtigung eines neuen oder anderen politischen Subjekts (wie in den revolutionären Wochen in der DDR vor dem Fall der Mauer) zieht die Grenzen ihres Kollektivs unter Ausschluss derer, die nicht dazu gehören können oder sollen. „Ich war nie das Volk.“ (Ogette 2019). Negativ bestimmt ist dieses „Wir“, von dem hier stets die Rede ist, vor allem Ausdruck einer Grenzziehung: Es zeigt, was es nicht ist. Hier lässt sich wiederum auf Waldenfels zurückgreifen, der zwei Weisen der Grenzziehung unterscheidet, nämlich Abgrenzung sowie Ein- und Ausgrenzung (vgl. Waldenfels 1998, S. 268). Auf die Unterscheidung zwischen Links- und Rechtspopulismus angewandt, lässt sich das folgendermaßen veranschaulichen. Das „Wir“ im Rechtspopulismus nimmt einerseits eine innere Grenzziehung vor, indem es das sogenannte Volk vom Rest abgrenzt. Innere Grenzziehung deshalb, weil beide so definierten Kollektive sich unter demselben Dach, etwa der Gesamtheit aller Wahlberechtigten, Bürger der Bundesrepublik Deutschland o. ä., befinden. Andererseits nimmt dieses „Wir“ aber auch eine Ausgrenzung vor und zwar von allem Fremden als radikal Fremdem, vom dem her eine Bedrohung für das Eigene ausgemacht wird. Hier kommt entsprechend zum Tragen, was unter dem exkludierenden Charakter rechter Populismen verstanden wird. Demgegenüber sind Linkspopulismen nur insofern inkludierend, als dass die zweite Form der Grenzziehung, nämlich die Ausgrenzung, gemeinhin nicht zum Tragen kommt. Sehr wohl aber – und das auch strategisch gewollt – die der Abgrenzung im Inneren. Der oben angemerkte Spalt zwischen dem Wir das spricht und dem Wir

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in politischen Erklärungen kann hier ebenso wenig hinreichend Berücksichtigung finden wie die Tatsache, dass dieses Wir einem Wandel unterliegt, der bedingt ist durch die Wechselwirkung zwischen politischer Repräsentation und sozialer Wirklichkeit. Positiv definiert bezeichnet das „Wir“ ein Kollektiv, das als Ermächtigungsstrategie verstanden werden kann, die „auf partielle Ohnmacht oder auf mangelhafte Möglichkeiten der Partizipation reagier[t]“ (Dreiwes und Feiler 2019). Bestenfalls nun als Zusammenschluss Einzelner zu „pluralisierten Kollektiven“ also „für einen bestimmten Zeitraum um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, während sie ihre individuellen Ziele beibehalten.“ (Dreiwes und Feiler 2019). Auf Rechtspopulismus trifft dies nun allerdings allein deshalb schon nicht zu, weil hierzu klare Ziele bzw. ein jeweils klares Ziel definiert sein müsste, das gerade nicht austauschbar und kontingent ist und nicht eine Homogenisierung aller Interessen bedeuten kann. Wenn das notwendige, aber prekäre Wir sich weder begrifflich stabilisieren lässt, noch je politisch stillzustellen ist, bedeutet das für die politische Philosophie, dass (anders als Laclau annimmt) die politische Logik nicht allein populistisch organisiert sein kann. Es gibt Politisches jenseits des Populismus, oder anders gesagt: Die Antwort auf den Populismus muss nicht selbst populistisch ausfallen.

7 Liberalismus „nach“ dem Populismus? Wie mit dem Populismus umgehen? Das ist im Wesentlichen eine politische, vielleicht lokale taktische Frage. Jedenfalls eine, die die Philosophie nicht entscheiden kann. Der Philosophie als „Arbeit am Begriff“ fällt zunächst nur die Rolle zu, sich Klarheit darüber zu verschaffen, im Kontext welcher Annahmen und welcher impliziter Voraussetzungen sich populistische Politik oder auch Theorie bewegt. Sie ist insofern klassisch „Sprachkritik“. Wir hatten notiert, dass die Frage, ob Populismus eine Gefahr oder eine Herausforderung für die Demokratie darstellt, eine Frage des zugrunde liegenden Demokratiebegriffs ist. Betrachtet man die rhetorische und aktivistische Praxis der Rechtspopulisten, so wird deutlich, dass sie mit dem laclauschen ontologischen Populismus unvereinbar ist. Erstens aus dem schlichten empirischen Grund, dass der Populist die postlacansche Entzauberung der Substanzen durch die Entleerung der Signifikanten nicht mitmacht. Denn anders als Lacan und Laclau ist der Populist davon überzeugt, dass die Beseitigung des Feindes die verlorene Balance

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­ iederherstellt, ebenso wie er glaubt, das kollektive Subjekt, für das er spricht, w existiere wirklich. Zweitens personalisieren Populisten die Verantwortung. Es sind immer bestimmte Personen oder Angehörige eines bestimmten Kollektivs, die für die Zustände der Benachteiligung, Unterdrückung und Ausgrenzung verantwortlich sind. Das Außen, das durch die symbolische Versammlung um den leeren Signifikanten erzeugt wird, bleibt nicht lange unbenannt. Es wird illustriert durch eine phantasmatische Füllung, eine „ideologische Mystifikation“ (Žižek 2017, S. 95), wodurch der Populist sich zurecht findet und weiß, wer der Schuldige ist. Dieser Personalisierung entginge man hingegen nur, wenn Strukturen oder Funktionen (etwa der „Neoliberalismus“, wie vage auch immer diese Adressierung noch bliebe) statt Personen und Gruppen verantwortlich gemacht werden. Diese notwendigerweise immer latent anonym bleibende Funktionsanalyse widerstreitet aber dem populistischen Imperativ der Konkretion. Die politisierende Unterscheidung eines „Wir“ von einem „Sie“ bleibt genau dann ressentimental, wenn das „Sie“ Personen einer Gruppe aufgrund ihrer Eigenschaften verantwortlich macht anstatt aufgrund der Herrschaftsfunktion, die die Gruppe erfüllt (vgl. Bedorf 2019). Sosehr die Stringenz von Laclaus formaler Bestimmung des Populismus besticht, so wenig wird man sich dem Plädoyer der Unausweichlichkeit einer populistischen Logik aller Politik anschließen wollen. Dennoch könnte es lohnen, die Herausforderung durch den Populismus nicht einfach abzuweisen. Die Aufgabe bestünde dann darin, ein agonales Verständnis von Politik in Anspruch zu nehmen und zugleich die Kontingenz des eigenen Projekts anzuerkennen. Das hieße zugleich, den universalistischen Anspruch liberaler Demokratie zumindest zu relativieren, wenn nicht aufzugeben. Wie sollte aber ein Liberalismus heute, wo ein ökonomischer Reduktionismus gleichen Namens gerade als Ursache für populistische Bewegungen gilt, eine adäquate Reaktion darstellen können? In Zeiten der „Postdemokratie“ (Rancière 2002, S. 105) bzw. der durch Expertenkommissionen verwalteten Welt und einer umfassenden Globalisierung scheint das Recht auf Teilhabe blockiert und die Versprechen einer gleichen Freiheit gebrochen. Um andeuten zu können, inwiefern eine Bezugnahme auf liberaldemokratische Grundwerte eine Repolitisierung im Sinne eines Auswegs aus unserer Zeit der „Post-Demokratie“ sein kann, müsste ein Liberalismus „nach“ dem Populismus sich kontingent wissen und selbst in der Lage sein, kollektiv mobilisierend zu wirken. Sieht man sich nach Argumenten für eine Verteidigung des liberalen Modells um, die sich zugleich ihrer Kontingenz bewusst ist, stellt der Pragmatismus einen vielversprechenden Kandidaten dar. Richard Rortys Plädoyer für eine liberale

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Solidarität ergab sich aus einer dreifachen Kontingenzbehauptung, nämlich der Kontingenz der Sprache, des Selbst und der Gemeinschaft. Ihm zufolge gewinnt man „die Haupttugend der Mitglieder einer liberalen Gesellschaft“, wenn man die „Erkenntnis der Kontingenz“ als Bestimmung der Freiheit nimmt (Rorty 1991, S. 87). Wenn Überzeugungen in einer liberalen Gesellschaft nun aber nicht mehr auf Wahrheiten, sondern auf der dreifachen Kontingenz fußen, ist eine liberale Gesellschaft eine, die vor allem mit Rhetorik rechnet und nicht auf eine endgültige Beantwortung oder Entscheidung von Kämpfen konkurrierender Überzeugungen hoffen kann. Wahr wird in einer liberalen Gesellschaft das genannt, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt. Das Vokabular der Theorien des Politischen zur Anwendung gebracht, hieße dies, dass eine liberale Gesellschaft um die Grundlosigkeit ihrer (Be-)Gründung weiß, sich den ­agonal-rhetorischen Kampf zur ihrer Form gemacht hat und (vorläufig) die Hegemonie der politischen Gewinner akzeptiert. „Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn ihre Ideale durch […] freie, offene Begegnungen gegenwärtiger sprachlicher und anderer Praktiken mit Vorschlägen für neue Praktiken durchgesetzt werden. Das heißt aber, eine liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer Freiheit, kein Ziel außer der Bereitwilligkeit, abzuwarten, wie solche Begegnungen ausgehen und sich dem Ausgang fügen.“ (Rorty 1991, S. 109 f.)

Wenngleich Rorty an dieser Stelle als Figur eines Kontingenzliberalismus eingeführt wird, zeigt sich ein Widerspruch zwischen der Betonung der aufgezeigten radikalen Skepsis gegenüber der Rechtfertigbarkeit der eigenen ­moralisch-politischen Position und des missionarischen Expansionsdrangs, den er an den Tag legt. Ein militanter Liberalismus, wie er sich mit Rorty formulieren ließe, müsste keinesfalls fatalistisch „abwarten“, wie es im obigen Zitat hieß, wie die Kämpfe ausgehen, sondern selbst aktivistisch („militant“, wie es im Französischen Sprachgebrauch heißt) für die Option der Freiheit einstehen, die er vertritt. Er müsste sich begreifen können als eine Option unter vielen, ohne das mit einer Relativierung des Streitens für das eigene Freiheitsprojekt zu bezahlen. Im Gegenzug dürfte er aber ebenso wenig von der Selbstgenügsamkeit einer umfassenden universalistischen Mission getragen sein, die ihn zur Hybris der Weltbeglückung führte. In dieser Hinsicht wäre vielleicht eine Antwort auf die Herausforderungen der diversen Populismen zu denken, die sicher mehr sind als bloße Atavismen, aber doch auch keine Lösung für die Probleme, deren Symptome sie bloß sein können.

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Politikwissenschaft

Populismus als Symptom und Folge einer Vertrauenskrise der heutigen Demokratien Wie wirken ökonomische und kulturelle Konflikte zusammen? Frank Decker

1 Demokratie als Lebensform Demokratie ist nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform, ein allgemeines Gestaltungsprinzip sozialer Beziehungen. Damit ist nicht gesagt oder verlangt, dass alle gesellschaftlichen Beziehungen denselben demokratischen Regeln unterworfen werden wie die staatliche Ordnung – wenn sie hier anderen Regelungsprinzipien wie dem Markt oder der Hierarchie nachgeordnet bleiben, bewährt sich gerade darin ihre freiheitssichernde Funktion. Dennoch sind der Geist und die Prinzipien der staatlichen Ordnung, wie sie sich in der Verfassung und im Regierungssystem widerspiegeln, mit den Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft eng verwoben. Eine autoritäre Gesellschaft könnte einen demokratischen Staat weder stützen noch dauerhaft legitimieren. Demokratie in diesem Sinne gründet in einem von emanzipatorischen Werten getragenen Menschenbild. Ihr liegt der Glaube zugrunde, dass der Mensch, „wenn man ihn nur von den Fesseln einer ihn in seiner Entfaltung behindernden gesellschaftlichen Zwangsordnung befreie, auf Grund und mit Hilfe seiner Vernunft sein eigenes Leben und das der Gemeinschaft rational gestalten könne“ (Friedrich 1959, S. 561). Dieser Glaube verdichtet sich im Ideal des selbstbestimmten und in dieser Selbstbestimmung gleichberechtigten Bürgers, das die F. Decker (*)  Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_5

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Aufklärung geprägt hat. Die daraus abgeleiteten Freiheits- und Teilhaberechte machen den Kern der neuzeitlichen Demokratie aus. Erst wenn man die ideellen Grundlagen und das Wertefundament der Demokratie in die Betrachtung einbezieht, wird erklärbar, warum die als konsolidiert geltenden, funktionsfähigen demokratischen Systeme auf der Welt bis heute in der Minderheit sind. In der Politikwissenschaft haben sich die politische Kulturforschung und in ihrem Gefolge die Transformationsforschung diesen Zusammenhängen intensiv gewidmet. Der Begriff politische Kultur soll signalisieren, dass die in der Gesellschaft verbreiteten Werte und Ordnungsvorstellungen stets kulturell vermittelt sind; sie wurzeln in Erfahrungen, die historisch über große Zeiträume aufgebaut wurden und daher auch nur allmählich verändert werden können. Die Erforschung der kulturellen Grundlagen der Demokratie ist älter als das von Almond und Verba (1963) entwickelte Konzept der politischen Kultur. In seinem epochalen Werk über die „Demokratie in Amerika“ hatte Tocqueville (1835/1840) schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gezeigt, welche Bedeutung die – von ihm als „Sitten“ (mœurs) bezeichneten – Werthaltungen und Einstellungsmuster für die Herausbildung demokratischer Verhältnisse gewinnen. Richtig ins Bewusstsein rücken sollten diese Voraussetzungen freilich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Damals waren die Beobachter überrascht, dass es nicht gelingen wollte, das in Europa und Nordamerika entstandene Demokratiemodell in die sich von der Kolonialherrschaft befreienden Länder Afrikas oder Asiens zu „verpflanzen“. Der vom Fortschrittsoptimismus der Modernisierungstheorie inspirierte Glaube an die Übertragbarkeit demokratischer Strukturen mutet im Nachhinein naiv an. Obwohl es seither mehrere Demokratisierungswellen gegeben hat, bleibt die kulturelle Basis der Demokratie im globalen Maßstab schmal. Diese schmale Basis ist gemeint, wenn wir von den etablierten verfassungsstaatlichen politischen Systemen als „westlichen“ Demokratien reden (Hempfer und Schwan 1987).

2 Ökonomische und kulturelle Quellen der Demokratiezufriedenheit Auch hier befindet sich die Demokratie seit geraumer Zeit unter Druck. Aus der heutigen Rückschau können eigentlich nur die 1950er und 1960er Jahre als Ära der „demokratischen Stabilität“ gelten, ehe sich ab den 1970er Jahren die ersten Krisenzeichen bemerkbar machten. Ablesbar waren sie an der wachsenden Unzufriedenheit der Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie, die sich

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in der Folge auch im veränderten Wahlverhalten niederschlug. Während die „systemtragenden“ Volksparteien an Unterstützung verloren, nahm die Zahl der Nicht- und Protestwähler zu. Letzteres führte zur Entstehung neuer populistischer Herausforderparteien, die sich vor allem im rechten Spektrum einen festen Platz in den Parteiensystemen eroberten. Seit den 1990er Jahren hat sich die Vertrauenskrise nochmals deutlich verschärft. Wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie und fehlendes Vertrauen in deren Institutionen dürfen nicht mit einer verminderten Qualität der Demokratie gleichgesetzt werden. Deshalb sollte man sich hüten, die Nachkriegsjahrzehnte als „goldenes Zeitalter“ der Demokratie nostalgisch zu verklären. Zum einen kann die Unzufriedenheit auch einer kritischen Grundhaltung entspringen, die mit der Demokratie nicht nur vereinbar, sondern ihr auch ausgesprochen zuträglich ist. Deren Qualität wäre dann vor allem daran zu messen, ob die Bürger ihr als Staats- und Lebensform grundsätzlich zustimmen (Geißel 2011). Zum anderen muss man nach den Gründen der Zufriedenheit/Unzufriedenheit fragen. In den 1950er und 1960er Jahren war die Zufriedenheit hoch, weil es einen starken ökonomischen und kulturellen Zusammenhalt in der Gesellschaft gab, der es ermöglichte, das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie zu wahren. Dies galt freilich nicht für alle Bereiche: Frauen waren zum Beispiel von der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung noch weit entfernt, sexuelle Minderheiten wurden diskriminiert und sogar strafrechtlich verfolgt. Hier konnten bedeutendere Fortschritte erst ab den 1970er Jahren erzielt werden. Die „Ungleichzeitigkeit“ ist bei den Analyse des gesellschaftlichen Zusammenhalts mitzubedenken. Dieser speist sich im Wesentlichen aus zwei Quellen, die damit zugleich die (partei)politischen Grundkonflikte in den Gesellschaften markieren. Eine Quelle ist der ökonomische Wohlstand. Je stärker dieser anwächst und je gleichmäßiger er innerhalb der Gesellschaft verteilt ist, um so größer dürfte die Zufriedenheit mit der Demokratie ausfallen. Eine Schlüsselbedeutung gewinnen dabei die Daseinsvorsorge und der Sozialstaat. Einen hundertprozentigen Zusammenhang gibt es allerdings nicht: Manche Demokratien halten sehr große Einkommens- und Vermögensunterschiede aus, andere kommen auch mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit oder Phasen rückläufigen Wachstums zurecht (Schmidt 2008, S. 427). Dennoch gibt es eine klare empirische Evidenz, dass die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit eine maßgebliche Ursache für die seit den 1970er Jahren festzustellende Vertrauenskrise ist. Warum sollten die Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung, also diejenigen, die abgestiegen sind oder sich vom Abstieg bedroht fühlen, Institutionen und Akteuren vertrauen, die sie für ihre eigene Misere verantwortlich machen? (Zmerli und Newton 2011).

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Die andere Quelle des Zusammenhalts ist die kulturelle. Als Verbundenheitsund Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger stellt sie die wichtigste Determinante des sozialen Vertrauens dar. Dieses basiert auf gemeinsam geteilten Normen, weshalb es in der Forschung häufig als „generalisiertes Vertrauen“ bezeichnet wird. Generalisiertes Vertrauen unterscheidet sich von partikularem Vertrauen, das nur den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe – seien es Familien, Freunde, religiöse Glaubensgemeinschaften oder Angehörige eines kriminellen Clans – entgegengebracht wird. Soweit sie nicht gemeinwohlschädliche Ziele verfolgen wie die letztgenannten, sind solche Vertrauensbeziehungen in einer Demokratie ebenso gang und gäbe wie legitim. Zum Problem werden sie erst, wenn neben ihnen kein generalisiertes Vertrauen besteht. Wo die Menschen nur den Angehörigen ihrer Gruppen vertrauen, gedeihen Klientelismus, Korruption und religiöser Fanatismus. Demokratien sollten sich also bemühen, ein möglichst hohes Maß an generalisiertem Vertrauen zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Als Bedingungen dafür braucht es nach Warren (2018, S. 84 f.) einen Rechtsstaat, der allen die gleiche Sicherheit garantiert, einen Wohlfahrtsstaat, der soziale Absicherung unabhängig von Familienoder Gruppenzugehörigkeiten ermöglicht, und die Gewähr, dass öffentliche Einrichtungen nicht von Gruppeninteressen in Beschlag genommen werden. Generalisiertes Vertrauen kann also durch staatliche Politik beeinflusst werden, wobei die Herstellung rechtlicher Gleichheit sowie eines bestimmten Maßes an ökonomischer Gleichheit eine Schlüsselrolle spielen. Eine andere Frage ist, ob die Möglichkeit einer solchen Politik nicht ihrerseits an kulturelle Voraussetzungen gebunden ist, die sich der Beeinflussbarkeit möglicherweise entziehen. In der Demokratieforschung wird dies insbesondere mit Blick auf zwei Aspekte diskutiert: die ethnische Homogenität oder Heterogenität einer Gesellschaft und das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Sozialkapital.

3 Nationale Identität in der Einwanderungsgesellschaft Empirisch eindeutig belegen lässt sich, dass eine möglichst große Homogenität der Bevölkerung in ethnischer und religiöser Hinsicht der demokratischen Stabilität zugute kommt (Przeworski 1995). Historisch reflektiert wird dieser Zusammenhang im Konzept der Nation. Staats- und Nationswerdung bilden im neuzeitlichen Modernisierungsprozess eine enge Symbiose. Der Nationalismus war dabei zugleich die wichtigste Triebfeder der Demokratisierung, postulierte er doch die Überwindung jener dynastischen Prinzipien, die auch Nicht-Angehörige der Nation dem Willen des Herrschers unterwarfen.

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Fragt man nach den Ursachen der Konflikte, die den nationalen ­Zusammenhalt der heutigen Demokratien bedrohen, werden zwei verschiedene Typen von Konflikten häufig miteinander vermischt. Der eine Typ sind Konflikte, die durch das Vorhandensein von einer oder mehreren Nationen innerhalb eines Staatsverbandes charakterisiert sind. Diese verstehen sich als historische Gemeinschaft, die eine bestimmte Sprache oder Kultur teilen, verfügen über relativ festgefügte institutionelle Strukturen und konzentrieren sich in der Regel auf ein bestimmtes Territorium. Der andere Typ des kulturellen Pluralismus ist durch Migration bedingt, wobei man nach den Quellen wiederum grob zwischen Arbeits- und Flüchtlingsmigration unterscheiden muss. Hier entscheidet ein Staat, eine größere Zahl von Personen und Familien aus anderen Kulturkreisen im eigenen Land aufzunehmen und ihnen zu gestatten, einen Teil ihrer ethnischen und kulturellen Partikularität beizubehalten (Kymlicka 1995, S. 11 ff.). Von den erstgenannten Nationalitätenkonflikten sind nur eine begrenzte Zahl von Ländern betroffen – dies allerdings in zunehmenden Maße. Beispiele sind die sezessionistischen Bestrebungen in Belgien, Kanada, Großbritannien oder Spanien, die sich seit den 1970er Jahren deutlich verschärft haben. Bei den zuwanderungsbedingten Konflikten ist wiederum zum einen zwischen klassischen Einwanderungsländern und den historisch gewachsenen europäischen Nationen zu unterscheiden, wobei letztere sich nochmals in die Länder mit oder ohne koloniale Vergangenheit sowie die wirtschaftsstärkeren nordeuropäischen oder wirtschaftsschwächeren südeuropäischen Länder unterteilen lassen. All diese Länder sind, wenn auch in unterschiedlicher Weise und Intensität, von der Arbeits- und Flüchtlingsmigration aus kulturfremden Räumen betroffen. Darin unterscheiden sie sich von einer besonderen dritten Gruppe – den nach 1989 neu oder wieder entstandenen Demokratien Mittelosteuropas – die von starker Abwanderung geplagt sind und sich dennoch (oder gerade deshalb) gegen jegliche kulturfremde Zuwanderung stemmen. Auch Ostdeutschland fällt als postkommunistische Teilgesellschaft der Bundesrepublik in diese Gruppe. Wie sich die Zuwanderung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die staatsbürgerliche Solidarität auswirkt, ist Gegenstand der Debatte um die richtige Integrationspolitik. Normativ geht es dabei um die Frage, welche Art der Identifikation mit dem Aufnahmeland den Zuwanderern abverlangt werden kann. „Soll sie strikt politisch sein, im Sinne der Anerkennung der Autorität eines Korpus von Regeln und Prinzipien wie denen, die in der Verfassung eines Staates aufgeführt sind? Oder erfordert sie eine umfassendere Identifikation mit der Nation, der der Einwanderer beigetreten ist, wozu die Achtung und Anerkennung nationaler Symbole, das Sprechen der Landessprache, die Akzeptanz einer Variante der ‚nationalen Erzählung‘ sowie die Anerkennung der herausragenden Stellung

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gehören wird, die einige kulturelle Eigenarten im nationalen ­ Bewusstsein einnehmen, darunter möglicherweise auch eine bestimmte Religion?“ (Miller ­ 2017, S. 18). Für Einwanderer, die ihre kulturellen Wurzeln in nicht-liberalen Gesellschaften haben, kann insbesondere die letztgenannte, umfassendere Integrationsanforderung eine harte Zumutung darstellen. Umgekehrt stellt sich aus der Sicht der aufnehmenden Gesellschaft die Frage, welche Folgen es für sie hat, wenn die Integration der Einwanderer nicht gelingt. Maßgeblich für deren Erfolg dürften einerseits die Zahl der Migranten sein, andererseits das Tempo, mit dem sich die Migranten den Normen und Prinzipien der Aufnahmegesellschaft anpassen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das generalisierte Vertrauen. Internationale Vergleichsstudien wie das World Values Survey zeigen, dass dieses in den nichtliberalen Gesellschaften ein nahezu durchweg niedrigeres Niveau aufweist als in den etablierten Demokratien der Aufnahmeländer (vgl. Mattes und Moreno 2018). Bei einer zu hohen Zahl von Zuwanderern droht deshalb nicht nur das Vertrauen zwischen den Zuwanderern und Einheimischen Schaden zu nehmen, sondern auch das Vertrauen innerhalb der jeweiligen Gruppen (vgl. Collier 2014). Wie stark diese Negativwirkungen sind und von welchen Kontextfaktoren sie abhängen, ist in der Forschung noch weithin ungeklärt (vgl. Dinesen und Sønderskov 2018).

4 Von der Individualisierung zur „Gesellschaft der Singularitäten“ Damit ist auf die zweite Determinante des gesellschaftlichen Zusammenhalts verwiesen, das Sozialkapital. Dessen Neuentdeckung ist vor allem auf die Arbeiten des US-amerikanischen Politologen Robert Putnam zurückzuführen, die in den Sozialwissenschaften eine enorme Wirkung ausübten, indem sie das Vertrauenskonzept gegenüber früheren Ansätzen der Demokratie- und politischen Kulturforschung erweiterten und zugleich in einen eigenständigen Kontext rückten. Laut Putnam ist der durch Vertrauen bewirkte soziale und kulturelle Zusammenhalt der Bürger in einer Zivilgesellschaft, der sich an ihrem Engagement in freiwilligen Organisationen oder Netzwerken festmacht, der maßgebliche Faktor für die Qualität und Stabilität einer Demokratie. In der bahnbrechenden Studie „Making Democracy Work“ (1993) untersuchte er diese Zusammenhänge am Beispiel Italiens, wo das Sozialkapital zwischen dem Norden und Süden des Landes sehr unterschiedlich verteilt ist. In seinem zweiten wichtigen Werk, das unter dem Titel „Bowling Alone“ im Jahre 2000

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erschien, beschrieb Putnam, wie sich das Sozialkapital in den USA seit Ende des Zweiten Weltkrieges in einem schleichenden Prozess aufgelöst habe. Infolge der Ausbreitung individualistischer Selbsterfahrungswerte, der Durchsetzung des Fernsehens als dominierender Form der Freizeitgestaltung, der Technisierung menschlicher Kommunikationsbeziehungen und der erhöhten Mobilität verbrächten die Menschen ihre Freizeit nicht mehr gemeinsam mit anderen in Sportund Gesangvereinen, Kegelclubs und Wohltätigkeitsorganisationen. Stattdessen säßen sie vor ihren Fernsehgeräten oder PCs, gingen alleine zum Bowlen und beruhigten ihr soziales Gewissen mit Geldspenden für karitative Zwecke. Putnam reklamiert die Erfindung des Begriffs „Sozialkapitals“ nicht für sich, sondern verweist darauf, dass das Konzept in seinen Grundzügen bereits im frühen 20. Jahrhundert von einem Pädagogen namens Lyda Judson Hanifan (1920) entwickelt wurde. Hanifan definierte das Sozialkapital als Produkt informeller Nachbarschaftsbeziehungen und solidarischer Netzwerke in einer Gemeinde, das nicht nur dem einzelnen zum Vorteil gereiche, sondern zugleich der Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten Gemeinschaft und damit der allgemeinen Wohlfahrt diene. Der Grund dafür sei, dass die Netzwerke zur Entstehung von „Normen einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit“ beitrügen. Man tut etwas für die anderen, auch wenn man dafür keine unmittelbare Gegenleistung erhält, weil man weiß, dass die anderen dieses Verhalten irgendwann erwidern werden. Vertrauen wird damit zum „Gleitmittel“ des gesellschaftlichen Lebens. „Wenn wirtschaftliches und politisches Handeln in dichte Netzwerke sozialer Interaktion eingebettet sind, verringern sich Anreize für Opportunismus und Fehlverhalten“ (Putnam und Goss 2001, S. 21 f.). Der Begriff „Kapital“ verweist darauf, dass solche Netzwerke nicht einfach da sind – wie physisches und Humankapital müssen sie vielmehr aufgebaut und gepflegt werden. In sie zu investieren liegt dabei nicht nur im Interesse der Gemeinschaft selbst, sondern ist auch eine Aufgabe des Staates. Die Theoretiker des Sozialkapitals haben plausibel zeigen können, warum das Engagement in bürgergesellschaftlichen Vereinigungen sich positiv auf das soziale und politische Vertrauen auswirkt. Sie tun sich aber schwer, das genaue Verhältnis von Ursache und Wirkung zu bestimmen. Ist Vertrauen eine Folge des Engagements? Oder setzt das Engagement ein gewisses Maß an Vertrauen bereits voraus? Handelt es sich um eine reziproke Beziehung, stellt sich die Frage, welche Einflussrichtung überwiegt. Die Befunde der hierzu vorliegenden Studien geben darauf bisher keine klaren Antworten. Dies könnte auf konzeptionelle Schwächen zurückzuführen sein, wenn die Studien zum Beispiel zwischen den verschiedenen Formen des Sozialkapitals nicht genügend unterscheiden. Oder

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es liegt an der Unzulänglichkeit der verfügbaren Daten und/oder eingesetzten Methoden (vgl. Paxton und Ressler 2018). Vergleichende Längsschnittuntersuchungen belegen keinen allgemeinen Rückgang des Sozialkapitals, sondern einen Formenwandel. Die – in Putnams Terminologie – „brückenbildenden“ Vereinigungen, die individuelles Vergnügen mit kollektiven Zwecken verbinden, gehen zurück. Die neueren Formen sind individualistischer und weniger solidarisch – sie kennzeichnet „eine Art Privatisierung des Sozialkapitals“ (Putnam 2001, S. 781 f.). Festzustellen ist auch, dass sich das Sozialkapital zunehmend ungleicher verteilt. Vor allem die weniger wohlhabenden Teile der Bevölkerung halten sich vom gesellschaftlichen Engagement fern oder sind von ihm ferngehalten. Die Gründe dafür werden einerseits in der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit gesehen; andererseits liegen sie in der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals, also Bildung und Ausbildung, die in der heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft größere Bedeutung für die soziale Schichtung gewinnen als das ökonomische Kapital. Soziologen beschreiben den seit den 1950er Jahren beobachteten Prozess der Auflösung vormals identitätsstiftender Milieus und Gruppenbindungen mit dem Begriff der Individualisierung. Fiel der Beginn dieser Entwicklung in die Hochzeit der klassischen Industriegesellschaft, so hat sich die mit ihr einhergehende Pluralisierung und Fragmentierung der Gesellschaft im Übergang vom Industriezum Wissenszeitalter nochmals beschleunigt und verschärft. Der Sozialhistoriker Lutz Raphael (2019, S. 477) spricht von einer in den 1970er Jahren einsetzenden, etwa drei Jahrzehnte währenden Umbruchphase, an die sich mit dem Boom der New Economy, dem Siegeszug des Internets und der rasch voranschreitenden Globalisierung eine weiterte Phase gesellschaftlicher Umwälzungen unmittelbar angeschlossen habe. Für beide Phasen ist kennzeichnend, dass sie eine wachsende Zahl von Menschen hinterließen, die sich als Verlierer der Modernisierungsprozesse wähnten und/oder es tatsächlich waren. Wie ökonomische, kulturelle und politische Faktoren in diesen Prozessen zusammenwirken, hat der Soziologie Andreas Reckwitz (2017) in seinem Buch über die Gesellschaft der Singularitäten prägnant analysiert. Ökonomisch tue sich in der Spätmoderne eine doppelte soziale Schere auf – zum einen zwischen den Hochqualifizierten des expandierenden Kultur- und Wissenssektors und den Geringqualifizierten, die einfache Dienstleistungen erbringen oder sich außerhalb des Arbeitsmarkts befinden, und zum anderen zwischen den Erfolgreichen und weniger Erfolgreichen innerhalb des Kultur- und Wissenssektors. Kulturell fröne die neue, akademische Mittelklasse einem Lebensstil, der – von der Gesundheit über das Wohnumfeld bis zu Bildung, Erziehung und Freizeitgestaltung – hohen ästhetischen und moralischen Maßstäben folge, während die neue ­Unterklasse

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eine Entwertung der Arbeit erfahre, die sie auch in ihrer Lebensführung e­ ntwerte. Und politisch sei der Staat immer weniger in der Lage oder willens, in diese nach eigenen Gesetzen verlaufenden Prozesse steuernd einzugreifen Reckwitz (2017, S. 435 ff.) interpretiert den Wandel als „Ausformungen einer Krise des Allgemeinen“ und wirft die Frage auf, wie eine zumindest provisorische Rekonstitution des Allgemeinen innerhalb einer Gesellschaft der Singularitäten möglich sein könnte. Um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu erneuern, gelte es beides zu regulieren: die Wirtschaft „mit Blick auf Fragen sozialer Ungleichheit sowie des Arbeitsmarktes und das Kulturelle mit Blick auf die Sicherung allgemeiner kultureller Güter und Normen“ (Reckwitz 2017, S. 441, Hervorhebung im Original). Dazu müsse der Staat die passive Rolle, die er in der Vergangenheit gegenüber der Gesellschaft eingenommen habe, ablegen und wieder aktiver werden.

5 Neue Konfliktlinien in den Parteiensystemen Die politikwissenschaftliche Parteien- und Parteiensystemforschung hat die Gesellschaftsanalysen im Rahmen der Cleavage-Theorie aufgegriffen. Als Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan (1967) vor mehr als fünfzig Jahren ihre berühmt gewordene These von den „eingefrorenen“ Konfliktlinien prägten, konnten sie nicht vorausahnen, wie schnell die anschließende Entwicklung der Parteiensysteme in den westlichen Demokratien ihre Theorie auf die Probe stellen würde. Deren in den 1950er Jahren einsetzender und sich in den kommenden Jahrzehnten weiter beschleunigende Wandel war äußerlich einerseits an der nachlassenden Wählerunterstützung der Parteien des rechten und linken Mainstreams ablesbar. Andererseits betraten neue – ökologische, rechtspopulistische und regionalistische – Parteien die Bühne, von denen sich viele dauerhaft etablierten. Stand der wieder aufkommende Regionalismus in direktem Gegensatz zu Lipsets und Rokkans modernisierungstheoretisch geprägten Vermutung, wonach territoriale Gegensätze in den Industriegesellschaften zugunsten „funktionaler“ Konflikte an Bedeutung verlieren würden, so wurden die ökologischen und rechtspopulistischen Parteien in der Literatur vielfach als Folge neuer Konfliktlinien gedeutet, die die bestehenden, laut Lipset und Rokkan für die Herausbildung der Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert beiden hauptverantwortlichen Cleavages – das religiös-konfessionelle und das Klassencleavage – ergänzt hätten und quer zu diesen verliefen. Blickt man auf die Entwicklung der Wahlergebnisse in der Bundesrepublik seit 2016, lässt sich einerseits ein deutlicher Aufschwung der Rechtspopulisten

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feststellen. Auf der anderen Seite ist den Grünen gelungen, die SPD als stärkste Kraft im linken Lager abzulösen. Die Wanderungsanalysen zeigen, dass die AfD dabei auch frühere Wähler der Sozialdemokraten und – vor allem im Osten – Linkspartei zu sich herüberziehen konnte, während die Grünen im Gegenzug starke Einbrüche in das bürgerliche Lager von Union und FDP erzielten. Manche Parteien- und Demokratieforscher schreiben die Verschiebungen, deren Hauptleidtragende die traditionellen Volksparteien sind, einer vermeintlich neuen, erst im letzten Jahrzehnt virulent gewordenen Konfliktlinie zu. Diese gehe auf die Folgen der beschleunigten Globalisierung zurück und könne begrifflich an den Gegenpolen „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ festgemacht werden. Laut Wolfgang Merkel lässt sich dieser neue Konflikt auf die Frage herunterbrechen, ob (und wieweit) die Grenzen der Nationalstaaten geöffnet oder geschlossen werden (bleiben) sollen. Die „Grenzfrage“ beziehe sich dabei „umfassend auf Güter, Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräfte, Flüchtlinge, Menschenrechte oder aber die Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen zugunsten supranationaler Regime und transnationaler Politik“ (Merkel 2017, S. 9). Sie habe also eine ökonomische und kulturelle Dimension. Während die Kosmopoliten wirtschafts- und gesellschaftspolitisch liberale Positionen miteinander verbänden, vereinten die Kommunitaristen das ökonomische Schutzbedürfnis des Sozial- und Wohlfahrtsstaates mit dem politischen Selbstbestimmungsbedürfnis einer kulturell definierten Gemeinschaft. Die wichtigste Trennlinie bilde dabei die Sicht auf die Nation. Von einem universalistischen Begriff der Menschenrechte ausgehend, wollten die Kosmopoliten diese nach innen für fremde und globale Einflüsse öffnen und nach außen durch eine zwischenstaatliche, im Idealfalle supranationale Zusammenarbeit überwinden. Der Globalisierung stünden sie prinzipiell positiv gegenüber. Die Kommunitaristen hielten dagegen an einem partikularistischen Verständnis der Kultur und politischen Zugehörigkeit fest. Sie betrachteten die Globalisierung skeptisch und erwarteten von der nationalstaatlichen Politik, dass sie die Bürger vor deren vermeintlich negativen Auswirkungen schütze. Auf den ersten Blick mutet diese Gegenüberstellung plausibel an. Bei näherem Hinsehen stellt sich allerdings die Frage, ob der hier ausgedrückte Gegensatz nicht in Wirklichkeit eine Schimäre ist, weil ja die Menschen immer beides anstreben: individuelle Selbstentfaltung und gemeinschaftliche Einbindung. So wie sich viele „Kosmopoliten“ zugleich nach sozialer Erdung sehnen und durchaus restriktiv auftreten können, wenn die Öffnung für das Andere ihr eigenes Umfeld direkt betrifft, stehen die meisten Kommunitaristen kultureller Vielfalt und Zuwanderung positiv gegenüber, solange sie das Gefühl haben, die Kontrolle über die Öffnungsprozesse und damit über ihre eigene Lebenswelt zu

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behalten (vgl. Meyer 2018, S. 40). Die Begriffe liegen insofern auf unterschiedlichen Ebenen. Die eigentliche Trennlinie verläuft nicht zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen, sondern innerhalb der beiden Gruppen – zwischen wirtschaftsliberalen Verfechtern des globalen Wettbewerbs und Vertretern eines wertebezogenen, globalen Humanismus auf der einen Seite sowie zwischen einem identitären und liberalen Kommunitarismus auf der anderen Seite. So betrachtet weist der Gegensatz von Kosmoplitismus und Kommunitarismus über das in der Parteienforschung seit den 1990er Jahren weithin akzeptierte „neue“ Konfliktlinienmodell nicht wirklich hinaus, das – an die funktionale Dimension in Lipsets und Rokkans Schema anschließend – zwischen einem sozioökonomischen (verteilungsbezogenen) und einem kulturellen (wertebezogenen) Cleavage unterscheidet. Vom klassischen Modell hebt sich dieses vereinfachte Schema erstens darin ab, dass es bei der Betrachtung der Konfliktlinien weniger auf die Beziehungen der Parteien zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen rekurriert als auf die von ihnen vertretenen ­ideologisch-programmatischen Grundpositionen. Nachdem sich die Interessenlagen und Wertvorstellungen der Bürger in der nachindustriellen Gesellschaft von den harten Merkmalen der Sozialstruktur immer mehr abgelöst haben, werden diese Positionen auf der Wählerseite heute in erster Linie durch Einstellungsmerkmale reflektiert. Und zweitens tritt an die Stelle des religiös-konfessionellen jetzt ein allgemeines kulturelles Cleavage, bei dem liberale Haltungen wie Toleranz, nonkonformistisches Denken und Multikulturalität autoritären Haltungen wie Ordnungsdenken, Festhalten an konventionellen Lebensformen und Nationalstolz gegenüberstehen.

6 Polarisierung und/oder Segmentierung Die Theorien des postmaterialistischen Wertewandels und der Mainstream der heutigen Populismusforscher gehen übereinstimmend davon aus, dass das letztgenannte Wertecleavage gegenüber dem Verteilungscleavage an Bedeutung gewonnen hat, wobei der Rechtspopulismus häufig als Reaktion auf die linksliberale Identitätspolitik interpretiert wird (vgl. Fukuyama 2019). Hier könnte zugleich eine Erklärung für die zunehmende Polarisierung der Parteiensysteme und das Auftreten demokratiegefährdender Tendenzen liegen: Identitätspolitische Fragen sind als „Wahrheitsfragen“ hochgradig moralisch aufgeladen und von daher prinzipiell weniger für die Kompromissbildung geeignet als die ökonomischen Verteilungsfragen (vgl. Decker 2004, S. 247 f.).

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In den USA lässt sich dieser Rigorismus etwa bei den militanten Abtreibungsgegnern beobachten, in Europa bei den „Skeptikern“ der Zuwanderung (und – neuerdings – bei den Verfechtern eines strengen Klimaschutzes). Wer in der Abtreibung einen Verstoß gegen das göttliche Recht sieht oder wer glaubt, dass ein Land sich durch die Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen selbst „abschafft“ (Sarrazin 2010), wird denen, die Abtreibungen zulassen und die Zuwanderung ermöglichen, wenig Toleranz entgegenbringen. Der politische Gegner gerät so leicht zum Feind, dem man die moralische Integrität und damit zugleich die demokratische Legitimität grundsätzlich abspricht. Ein solcher Feind gehört nicht nur bekämpft, sondern muss ausgeschaltet werden. Dafür sind dann auch undemokratische oder ungesetzliche Mittel recht (vgl. Levitsky und Ziblatt 2018). Die Behauptung einer geringeren Priorität der Verteilungscleavages scheint mit Blick auf das Verschwinden des einstmals prägenden Klassenkonflikts gut begründet. Sie übersieht aber, dass die Verteilungskonflikte im Zuge des nachlassenden wirtschaftlichen Wachstums seit den 1970er  Jahren tendenziell größer geworden sind. Der Unterschied liegt darin, dass sich das Cleavage in eine Reihe von Unterkonflikten „verflüchtigt“ hat. Es gibt nicht mehr den einen großen, sondern eine Vielzahl von mittelgroßen, sich zum Teil überlappenden ökonomischen Konflikten – zwischen Steuerzahlern und Leistungsempfängern, sicheren und prekären Arbeitsverhältnissen, wirtschaftsstarken und wirtschaftsschwachen Regionen, dem öffentlichen und privaten Sektor, der jungen und der älteren Generation –, bei denen die Interessen der verschiedenen Gruppen immer weniger Übereinstimmungspunkte aufweisen. Auch der Umwelt- und Klimaschutz ist trotz seiner Wertebasiertheit primär der sozioökonomischen Konfliktachse zuzuordnen, da er – je nach Bereich unterschiedlich weitreichende – staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen erfordert. Hinzu kommt, dass sich eine genaue Trennlinie zwischen ökonomischen und wertebezogenen Konflikten häufig gar nicht ziehen lässt, da beide eng miteinander verwoben sind. Am deutlichsten zeigt sich das beim Thema Migration. Wertebezogene Konflikte über die kulturelle Zugehörigkeit der Zuwanderer verquicken sich hier mit verteilungsbezogenen Auseinandersetzungen um Löhne und staatliche Leistungen, die vor allem das untere Drittel oder Viertel der Bevölkerung, aber auch die um ihren Abstieg fürchtenden Mittelschichten betreffen. Dies gilt zumal, als der Wohlfahrtsstaat durch den globalen Wettbewerb – dessen Verlierer er eigentlich schützen soll – selbst unter Druck gerät. Wie das ökonomische und kulturelle Cleavage genau zusammenwirken, bleibt unter den Interpreten des Rechtspopulismus umstritten. Philip Manows (2018, S. 16) Feststellung, die kulturellen Konflikte dienten lediglich dazu, die ökonomischen Probleme „aufzuladen“, um sie dadurch politisch zu mobilisieren,

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dürfte in zweierlei Hinsicht zu kurz greifen. Zum einen setzt sich auch das kulturelle Cleavage aus unterschiedlichen Streitfragen und Unterkonflikten zusammen. Davon besitzen verteilungspolitisch nicht alle die gleiche Relevanz wie die Zuwanderung. Die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen nimmt zum Beispiel niemanden etwas weg. Zum anderen behalten die wertebezogenen Konflikte jenseits der verteilungspolitischen Aspekte eine eigenständige Bedeutung – und zwar umso mehr, je größer die kulturellen Unterschiede zwischen den Zuwanderern und der sie aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft sind. Hauptverlierer des Parteiensystemwandels sind die einstmals systemtragenden Volksparteien. Weil sie auf beiden Konfliktachsen „mittige“ und zum Teil voneinander wenig unterscheidbare Positionen vertreten, leiden sie unter der Polarisierung, während die ideologisch radikaleren Vertreter profitieren. Die Sorge vor einer „Stärkung der Ränder“, die bisweilen alarmistische Analogien zur Zwischenkriegszeit hervorbringt, darf aber den Blick auf die tieferen Wurzeln der Polarisierung nicht verstellen. Diese liegen in der Zersplitterung und Segmentierung der heutigen Gesellschaft, der von Reckwitz (2017) so bezeichneten „Krise des Allgemeinen“. Gerade hier könnte und müsste sich die „brückenbauende“ Funktion der Volksparteien neu bewähren, um Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsinn in die Demokratie zurückzuholen.

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„Der Herausforderung entgegentreten“ Zum Verhältnis von politischer Bildung und Rechtspopulismus Michael May 1 Einleitung In zwei Punkten scheinen sich die Vertreter/innen der politischen Bildung an den deutschen Universitäten und praxisnahen Institutionen einig zu sein – zumindest wenn man die Publikationen zum Thema „Rechtspopulismus und politische Bildung“ heranzieht. Zum einen wird der Rechtspopulismus als eine „Herausforderung“ (Deichmann 2019; Besand 2019; Schmitt 2018) für die politische Bildung interpretiert. Im Sammelband „Populismus und politische Bildung“ (Möllers und Manzel 2018b) fungiert „Herausforderung“ in vielen Beiträgen und bereits in den Überschriften als zentraler Topos. Unter Herausforderungen versteht man gemeinhin fordernde Aufgaben, die einen Impuls zum Tätigwerden darstellen und nicht ohne Weiteres durch die Anwendung von Routinen bewältigt werden können. Rechtspopulismus wird insofern als „gesellschaftliches und politisches Problem“ (Danner 2017, S. 508) einer „gespaltenen Gesellschaft“ (Achour 2018, S. 40) gefasst; „Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, ‚Nein-zum Heim‘-Bürgerinitiativen, die PEGIDA-Demonstrationen und ihre […] Ableger in anderen deutschen Städten sowie das gute Abschneiden der AfD“ (Beck und Karr 2016) bei Wahlen werden ins Feld geführt; „Gefährdungen“ (May 2019c) für die rationale politische Urteilsbildung werden identifiziert. Bereits in diesen Formulierungen deutet sich eine weitere semantische Facette des Rechtspopulismus als „Herausforderung“ an. Rechtspopulismus wird als eine Provokation oder sogar Bedrohung wahrgenommen – sowohl für die freiheitlich-demokratisch verfasste Gesellschaft und den Frieden wie auch für die politische Bildung M. May (*)  Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_6

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(Achour 2018, S. 40; Görtler 2019). Aus der Deutung des Rechtspopulismus als „Herausforderung“ für Demokratie und politische Bildung ergibt sich zum anderen scheinbar zwingend die didaktische Aufgabe: die Suche nach geeigneten Handlungsstrategien, mit denen man dem Rechtspopulismus auf dem Feld der politischen Bildung „angemessen entgegen treten kann“ (Möllers und Manzel 2018a, S. 8, der Topos des Entgegentretens beispielsweise auch bei Friedrich 2018). Für die politische Bildung bedeutet dies zu fragen, was angesichts der Herausforderung zu tun ist; es geht um die „Suche nach Bildungsangeboten gegen den erstarkenden Rechtspopulismus“ (Fischer 2018, S. 26). Um den spezifischen Stellenwert des Rechtspopulismus für die politische Bildung zu verstehen, ist folgende Beobachtung instruktiv: Niemand würde auf die Idee kommen, etwa Positionen und Argumentationsmuster der SPD, CDU, FDP oder der Grünen pauschal als „Herausforderung“ zu deklarieren und gesonderte Bildungsangebote und didaktische Strategien zu verlangen. Auch für die Positionen der Linken ist mir eine solche Forderung im politikdidaktischen Diskurs nicht bekannt. Die Ursache für diese spezielle Sichtweise auf den Rechtspopulismus liegt offenbar darin, dass hierin eine politische Richtung erkannt wird, die zumindest in Teilen mit dem formalen und inhaltlichen demokratischen Konsens der Bundesrepublik bricht. Der Rechtspopulismus nimmt damit (wie auch der Rechtsextremismus) in der politischen Bildung einen besonderen Stellenwert ein. Rechtspopulistische Positionen und Argumentationsmuster sind in dieser politikdidaktischen Erzählung nichts Normales, dem man mit den üblichen Mitteln der politischen Bildung begegnen könnte. Vielmehr muss in dieser Lesart mit dem Rechtspopulismus auf eine bestimmte Art und Weise ‚umgegangen‘, muss ihm ‚entgegengetreten‘ werden. Mit dieser Sichtweise auf den Rechtspopulismus als Herausforderung aktualisiert sich eine für Pädagogik und Didaktik typische Argumentationsfigur. Pädagogik und Didaktik erscheinen mitunter versessen darauf (und der Autor nimmt sich hier nicht aus), gesellschaftliche Missstände und Bedrohungslagen, die mit den (mangelhaften) Kompetenzen und Einstellungen der Individuen zu tun haben oder sich zumindest auch hierin zeigen, zu identifizieren und die Bedeutung der pädagogischen und didaktischen Arbeit zu legitimieren. Pädagogik reagiert hier auf „Defizitbestimmungen“ und stellt unter der Verwendung von „Wirkungsbehauptungen“ in Aussicht, die Defizite zu beheben oder Bedrohungen abzuwenden (Oelkers 2001, S. 23). Üblicherweise ist Pädagogik und Didaktik hierbei nicht Teil des Problems, sondern Mittel, um das Problem zu bearbeiten. Auch diese Sichtweise zeigt sich mitunter im aktuellen Diskurs, dennoch werden auch Stimmen deutlich, die die üblichen Mittel der politischen

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Bildung nicht für erfolgversprechend halten, um der ‚rechtpopulistischen Bedrohung entgegenzutreten‘ (z. B. Friedrich 2018; Langeder 2019). Das Vorhaben für diesen Beitrag besteht darin, die hier angedeuteten Kernmotive der aktuellen politikdidaktischen Erzählung, „Herausforderung“ und „Gegenstrategie“, näher zu beleuchten. Unter Berücksichtigung der politikwissenschaftlichen und soziologischen Diskussion werden unterschiedliche pädagogische Strategien vorgestellt und daraufhin befragt, welcher Stellenwert ihnen in der politikdidaktischen Diskussion zukommt.

2 Der politikdidaktische Blick auf den Rechtspopulismus Die Art und Weise, in der ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen als eine Herausforderung begriffen wird, hängt von der spezifischen Perspektive und den funktionalen Merkmalen des Gesellschaftsbereichs ab, von dem man auf dieses gesellschaftliche Phänomen blickt. So macht es auch einen Unterschied, ob man den Rechtspopulismus als parlamentarische/r Vertreter/in einer Partei, als Demokratieinitiative einer Gemeinde oder als Lehrer/in wahrnimmt. In der Politik stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem Rechtspopulismus in den Parlamenten. In der Zivilgesellschaft wird diskutiert, wie man mit Menschen, die beispielsweise in Chemnitz oder Köthen demonstriert haben, umgehen soll und im Bildungsbereich steht zur Debatte, welche Rolle Schule und Unterricht bei dem Umgang mit dem Rechtspopulismus spielen können. Die Herausforderung ist in unterschiedlichen Handlungskontexten je verschieden. Während es für die etablierten Parteien im parlamentarischen Bereich, also einer relativ vermachteten Sphäre, um machtpolitische Optionen geht (Stimmenmaximierung, Verhinderung von Wählerabwanderung), im Bereich der weniger vermachteten Zivilgesellschaft hingegen um Diskursgestaltung (welche Urteile sind zulässig, was ist sagbar, wie lassen sich Grenzen des Sagbaren gestalten?), so stehen im Bereich der (politischen) Bildung – jenseits von Stimmenmaximierung oder Diskursdominanz – wiederum spezifische pädagogische Ziele und Strategien im Mittelpunkt. Die Funktionsbeschreibung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ist also dafür verantwortlich, auf welche Weise der Rechtspopulismus als Herausforderung wahrgenommen wird. An dieser Stelle soll es lediglich um die Art und Weise gehen, wie die (politische) Bildung bzw. die Politikdidaktik auf den Rechtsextremismus blicken und ihn als „Herausforderung“ konstruieren. Um den Blick der politischen Bildung auf den Rechtspopulismus zu rekonstruieren, ist es hilfreich, sich die zentralen Aufgaben der politischen

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Bildung zu vergegenwärtigen. Politische Bildung ist Teil der Allgemeinbildung und kann als eine individuelle Verfasstheit, aber auch als eine pädagogische Tätigkeit gekennzeichnet werden. Eine klassische Funktionsbestimmung der pädagogischen Tätigkeit stammt von dem Theologen und Pädagogen Friedrich Schleiermacher (1778–1834), der hier den theoretischen Rahmen liefern soll. Nach Schleiermacher strebt jegliche pädagogische Tätigkeit einerseits danach, die als bedeutsam erachteten Normen, Werte, Praktiken und Wissensbestände einer Gesellschaft zu verstetigen („Erhalten“), andererseits danach, die vorgefundene Gesellschaft zu entwickeln („Verbessern“) (Schleiermacher 1994, S. 64). Für die politische Bildung heißt dies, dass die demokratischen Prinzipien und Institutionen, wie sie beispielsweise im Konzept der ­freiheitlich-demokratischen Grundordnung verankert sind (Bundesverfassungsgericht 1952), bewahrt werden, aber auch, dass etwaige Verkrustungen und Schieflagen der ‚real existierenden‘ Demokratie, wie sie prominent beispielsweise mit der Diagnose der ­„Post-Demokratie“ (Crouch 2017) beschrieben wurden, korrigiert werden sollen. Erhalten und Verbessern lassen sich somit durchaus auch als Grundrichtungen der politischen Bildung identifizieren. Dies prägt nun aber erheblich den Blick, den die politische Bildung auf das Phänomen des Rechtspopulismus richtet, und die Einschätzung dieses Phänomens. Wie bereits erwähnt, sehen viele Vertreter/ innen der politischen Bildung im Rechtspopulismus eine Gefährdung für die ­freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Wahrung des Friedens. Eine genaue Analyse der Demokratiebedrohung erfolgt im politikdidaktischen Diskurs in der Regel nicht. Wie dem auch sei, die politische Bildung sieht sich durch den Rechtspopulismus in einer ihrer zentralen Funktionen herausgefordert: in der Erhaltung des „demokratische[n] Miteinander[s] und [des] formalen Bestand[s] der Demokratie selbst“ (Achour 2018, S. 40). Pädagogik und politische Bildung können Gesellschaft natürlich nie direkt, gleichsam auf politischem Wege „verbessern“. Der Ansatzpunkt von Pädagogik und politischer Bildung ist immer die Bildsamkeit und die Bildung der jungen Generation, die – wenn sie der pädagogischen Intervention entwachsen ist – die Dinge richten soll. Bei Schleiermacher korrespondiert mit „Erhalten“ und „Verbessern“ deshalb die ebenfalls doppelgleisige Aufgabe, bei den Schüler/innen sowohl Kenntnisse und Fähigkeiten auszubilden, die in der vorgefundenen Gesellschaft von Bedeutung sind, als auch kreative Entfaltungsspielräume und Individualität zu ermöglichen, die der Entwicklung der Gesellschaft neue Impulse geben können. Schleiermacher bezeichnet diese beiden Aspekte als die „universelle und die individuelle Richtung der Erziehung“ (Schleiermacher 1994, S. 67). Das typisch pädagogische Mittel für dieses Vorhaben besteht darin, die

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„universellen“ und „individuellen“ Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler/innen zu entwickeln. In der politischen Bildung wird hierfür eine Reihe von domänenspezifischen Kompetenzen vorgeschlagen, die gleichermaßen Universalität und Individualität, Einfügung und Abweichung, Anpassung und Widerstand, Bewahrung und Verbesserung miteinander versöhnen sollen. Es handelt sich um gleichsam schwach-universalistische Kompetenzen, die nicht frei von normativ gehaltvollen Standards sind, aber ein erhebliches Maß an individueller Selbstentfaltung ermöglichen. Im Einzelnen geht es um politisches Wissen, politische Urteilskompetenz, politische Handlungskompetenz und politische Einstellungen (Detjen et al. 2012, ich vernachlässige an dieser Stelle andere Kompetenzmodelle der politischen Bildung und weiche bei der Beschreibung der Kompetenzen teilweise von der Referenzliteratur ab). Politisches Wissen meint die Ausprägung individueller Konzepte von beispielsweise „Ordnung“, „Entscheidung“ oder „Gemeinwohl“, die im Spannungsfeld fachwissenschaftlicher Erkenntnisse und individuellen Verstehens erfolgt. Politische Urteilskompetenz umfasst die Fähigkeit, politische Positionen und Einschätzungen entwickeln und unter Berücksichtigung der Kriterien von Effizienz und Legitimität sowie verschiedenen Perspektiven begründen zu können. Politische Handlungskompetenz richtet sich auf die Fähigkeit, sich in den politischen Prozess einbringen zu können, beispielsweise durch Artikulation, Argumentation, Verhandeln oder Entscheiden, aber auch durch Wahl, Demonstration, Protest oder Boykott. Unter politischen Einstellungen werden schließlich, neben allgemeinem Interesse für Politik, einer skeptischen Demokratieloyalität u. ä., unterschiedliche politische Grundorientierungen (z. B. sozialistisch, konservativ, liberal, libertär) verstanden, die die Schüler/innen unter Wahrung eines demokratischen Grundkonsenses entwickeln sollen. Betrachtet man die Kompetenzen, die durch politische Bildung angestrebt werden sollen, so wird ersichtlich, dass sich in ihnen die „universelle“ und die „individuelle“ Richtung der pädagogischen Tätigkeit vereinen. Zwar geht es darum, gesichertes politisches Wissen über politische Ordnungsmodelle, Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Problemlagen zu vermitteln, dabei sollen aber die individuellen Verständnisse der Schüler/innen nicht übergangen werden. Auch bei politischer Urteilsbildung zeigen sich beide „Richtungen“, weil hierbei die Kriterien von Effizienz und demokratischer Legitimität (Grundund Menschenrechte) Berücksichtigung finden sollen, ohne den Schüler/innen aber ein bestimmtes Urteil aufzudrängen. Die Urteilsfindung selbst bleibt den Schüler/innen anheimgestellt. Ähnlich die politische Handlungskompetenz: Zwar implizieren die Formen politischen Handelns formale Kompetenzen und

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die Wahrung demokratischer Standards wie Gewaltfreiheit und die physische Integrität des politischen Opponenten, aber für welche Sache sich die Schüler/ innen einsetzen und welcher Mittel (zwischen Artikulation und zivilem Ungehorsam) sie sich bedienen, wird nicht festgelegt. Schließlich sollen die Schüler/innen zur Ausprägung politischer Grundorientierungen befähigt und ermutigt werden, um welche es sich dabei handelt, bleibt aber ihnen überlassen – solange sie sich am demokratischen Grundkonsens orientieren. Es wird also deutlich: politische Bildung ist normativ nicht indifferent und auf demokratische Standards orientiert, eröffnet dabei aber Selbstentfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen.

3 Rechtspopulismus als „Herausforderung“ für die politische Urteilsbildung In der politikdidaktischen Diskussion ist diese „Herausforderung“ durch den Rechtspopulismus am ausführlichsten im Hinblick auf die politische Urteilsbildung und insbesondere die Rolle von Unwahrheiten und Lügen (vgl. die Beiträge in Deichmann und May 2019) sowie die Emotionalisierung politischer Urteile herausgearbeitet worden (vgl. die Beiträge in Besand et al. 2019; Frech und Richter 2019). Ich möchte im Folgenden – ohne diese umfangreiche Diskussion vollständig berücksichtigen zu können – einige Aspekte der „Herausforderung“ der politischen Urteilskompetenz konkretisieren. Unter politischer Urteilsbildung wird, wie bereits erwähnt, die Fähigkeit verstanden, eine politische Position zu einem politischen Phänomen zu finden und diese Position unter Berücksichtigung der Kategorien der Effizienz und Legitimität sowie verschiedener Perspektiven öffentlich zu begründen (Massing 2003). Das Begründungskriterium der Effizienz bedeutet, von korrekten Tatsachenbehauptungen wie etwa triftigen Zweck-Mittel-Beziehungen auszugehen. Was im politischen Urteil behauptet wird, muss eine Entsprechung in der wirklichen Welt haben. Falschaussagen, Tatsachenverdrehungen und Lügen sind ausgeschlossen. Zudem muss die Begründung aber auch Legitimitätskriterien entsprechen, d. h., auch tragfähige Wertmaßstäbe müssen zur Geltung kommen. Nicht alles, was politisch machbar oder effizient ist, ist moralisch auch geboten. Legitim sind demnach solche Urteile, die sich in ihren Begründungen auf Demokratie und Menschenrechte berufen können. Damit korrespondiert die Forderung, dass eine gute Begründung die unterschiedlichen Perspektiven der von einem Urteil Betroffenen berücksichtigen soll (Akteur, Adressat, System). Vor allem erscheinen solche Urteile ausgeschlossen, die einseitig egozentrisch und nicht auf Verallgemeinerbarkeit, Menschenrechte und Ausgleich orientiert sind.

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Politische Urteile sind – da sie sich auf die verbindliche Regelung des Zusammenlebens der Menschen richten – für die Öffentlichkeit bestimmt und müssen aufgrund dieser Bestimmung Eigenschaften aufweisen, die es erlauben, das Urteil einem öffentlichen Diskurs auszusetzen, es zu rechtfertigen sowie Perspektiven- und Interessenkoordination zu ermöglichen. Sie sind demnach auf dialogische Praxis hin ausgerichtet. Zwei Eigenschaften erscheinen für das Urteilen in dialogischer Praxis besonders bedeutsam: Zum einen müssen politische Urteile grundsätzlich reversibel sein, mit Irrtum und Fehlbarkeit rechnen, also nicht im Gewand unhinterfragbarer Dogmen daherkommen. Zum anderen ist eine gewisse Differenziertheit notwendig, die Zwischentöne zulässt und dichotom-pauschalisierendes Argumentieren ausschließt. Nur wenn diese Merkmale gegeben sind, sind es auch die Bedingungen für Ausgleich und Perspektivenkoordination. Wie verhält sich nun aber der Rechtspopulismus dazu? Es ist hier nicht möglich, den Begriff und die Merkmale des Rechtspopulismus in ganzer Breite zu diskutieren. Es sollen nur solche Aspekte herausgegriffen werden, die für das Konzept der politischen Urteilsbildung bedeutsam sind: Üblich ist eine Heuristik, die zwischen politischer Ideologie und Programmatik, politischen Stilmitteln sowie der politischen Organisationsform und Bewegungspraxis unterscheidet (Decker 2018). Vor dem Hintergrund politischer Urteilskompetenz als Bildungsziel sind vor allem die politische Ideologie und Programmatik sowie die politischen Stilmittel des Rechtspopulismus relevant. Im rechtspopulistischen Diskurs werden zwei ideologische Differenzmarkierungen transportiert, zunächst vertikal zwischen einem „normalen“, „einfachen“, moralisch „reinen Volk“ auf der einen Seite und einer „abgehobenen“, systemtragenden und moralisch verwerflichen Elite auf der anderen Seite, sodann horizontal zwischen dem „normalen Volk“ als homogene Eigengruppe und vorgeblich abweichenden Fremdgruppen wie Homosexuellen, Migrant/innen, Muslimen etc. (Decker 2018, S. 360). Diese – wenn auch „dünnen“ (Michael Freeden) – ideologischen Merkmale sind mit programmatischen Aussagen verwoben. Angesichts des Bildungsziels politischer Bildung sind vor allem kulturpolitische und politisch-institutionelle Programmatiken von Bedeutung (Decker 2018, S. 360 ff.). Kulturpolitisch stehen Schutz und Stärkung der nationalen oder kulturellen Identität im Mittelpunkt, politisch-institutionell eine möglichst unmittelbare Geltendmachung des (imaginären und moralisch überhöhten) „Volkswillens“ (Decker 2018, S. 361 f.). Institutionell bedeutet dies die Infragestellung einiger zentraler grundgesetzlicher Prinzipien wie des Pluralitätsprinzips, des Repräsentationsprinzips, des freien Mandats sowie der effektiven Kontrolle durch Opposition und Justiz (Voßkuhle 2018).

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Rechtspopulismus nutzt darüber hinaus argumentative Stilmittel wie den „Rückgriff auf Common-Sense-Argumente, die Vorliebe für radikale Lösungen, die Verbreitung von Verschwörungstheorien und das Denken in Feindbildern, [den] Tabubruch und die Provokation, die Verwendung von biologistischen und Gewalt-Metaphern, Emotionalisierung und Angstmache“ (Küpper 2017, S. 17; Wodak 2016). Nun wird deutlich, inwiefern sich die politische Bildung durch den Rechtspopulismus, zumindest im Hinblick auf ein zentrales Bildungsziel, die politische Urteilskompetenz, herausgefordert sieht: Erstens gerät – etwa durch Common-Sense-Argumentation und Verschwörungstheorien – die Tatsachen­ orientierung im rechtspopulistischen Diskurs unter Druck. In der politischen Theorie, Soziologie und Medienwissenschaft sowie der Politikdidaktik trifft dieses Phänomen auf breites Interesse und wird unter den Schlagworten Postfaktizität, Lüge und Bullshit diskutiert (van Dyk 2017; Deichmann und May 2019). Zweitens gerät – vor allem durch eine starke Orientierung an der Eigengruppe sowie die Abkehr vom Universalismus und Multilateralismus („America first!“ sowie die anderen „First!“-Spielarten) – die Werteorientierung des politikdidaktischen Urteilskonzepts unter Druck. Zwar spielt die Orientierung an Legitimitätsfragen, Moral und Werten eine bedeutende Rolle im rechtspopulistischen Diskurs. Aber es handelt sich hierbei nicht um verallgemeinerbare Werte. Einseitig positiv wertebesetzt, ja moralisch überhöht ist im Rechtspopulismus vor allem die Eigengruppe. Legitim ist eine Politik, die für die Wahrung der eigenen Identität sowie Gruppeninteressen einsteht (siehe für ausführliche Analysen auch May 2019b, c). Neben dem neuen Umgang mit Fakten und universellen moralischen Werten unterläuft der rechtspopulistische Diskurs drittens auch die zentralen Prinzipien einer dialogischen Urteilsbildung, die Reversibilität und Differenziertheit politischer Urteile. Der Absolutheits- und Radikalitätsduktus verträgt sich nicht mit der grundsätzlichen Vorläufigkeit politischer Urteile, und der dichotome Argumentationsstil inklusive des Denkens in Feindbildern verhindert ein abwägendes Urteilen. Beides ist aber nötig, um die unhintergehbare Pluralität von Interessen und Perspektiven in der Gesellschaft zu koordinieren. Am Beispiel der politischen Urteilsbildung lässt sich erkennen: Herausgefordert wird durch Rechtspopulist/innen die „universelle“ Richtung der politischen Bildung, nicht die „individuelle“, die auch von Rechtspopulist/innen immer wieder betont wird (etwa wenn „Neutralität“ der Lehrerschaft eingefordert wird). Rechtspopulist/innen kritisieren die Festlegung der politischen Bildung auf demokratische Standards der politischen Urteilskompetenz, Handlungskompetenz sowie der politischen Einstellungsbildung („universelle Seite“), nicht die von der politischen

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Bildung ebenfalls betonte Garantie eigenständiger und ungegängelter Entfaltung in diesen Kompetenzbereichen. Individuelle Selbstentfaltung ist dem Rechtspopulismus eine Garantie dafür, dass Schüler/innen im Unterricht auch rechtpopulistische Positionen vertreten und Urteile fällen können und damit das gesellschaftliche Sagbare verschoben wird, ohne mit „universellen“ Standards der demokratischen Urteilsbildung gemaßregelt zu werden. Im Gegensatz zur politischen Bildung, die die „universelle“ und „individuelle“ Richtung gleichermaßen verfolgt und die Gestaltung dieses Spannungsverhältnisses als Bedingungen politischer Bildung in der Demokratie betrachtet, löst der Rechtspopulismus mit seinen Forderungen nach Neutralität der Schule und der Lehrer/innen dieses Spannungsverhältnis einseitig zugunsten eines politischen „anything goes“ auf.

4 Die Suche der politischen Bildung nach „Strategien“ gegen den Rechtspopulismus Der Rechtspopulismus mit seinem wahrgenommenen Bedrohungspotenzial sowohl für das „demokratische Miteinander und den Bestand der formalen Demokratie“ (Achour 2018, S. 40) als auch für die Bildungs- und Kompetenzziele setzt in den Reihen der politischen Bildung auch eine Suche nach „Gegenstrategien“ in Gang. Diesen Strategien wird die Aufgabe zugewiesen, dem Rechtspopulismus entgegenzutreten und die Bedrohung abzuwenden. Ich möchte in diesem Kapitel die in der politischen Bildung vorfindbaren Überlegungen zu solchen Strategien systematisieren und erläutern. Die Grundlage hierfür soll allerdings die Sichtung von Strategien sein, die in der nicht bildungs- und schulbezogenen Literatur, sondern in politikwissenschaftlichen, soziologischen und zum Teil auch feuilletonistischen Texten zum Vorschein kommen. Der Grund für dieses Vorgehen besteht darin, dass sich auch die politische Bildung von diesen Überlegungen inspirieren lässt und oftmals auch die politikwissenschaftlichen und soziologischen Analysen (z. B. zu den Ursachen des Rechtspopulismus) rezipiert, um Konsequenzen für die eigene Profession zu ziehen (am deutlichsten bei Besand 2019).

4.1 Strategien in der fachwissenschaftlichen Diskussion Die Vielfalt der Argumentationslinien in der fachwissenschaftlichen Diskussion ist so groß, dass im Folgenden idealtypische Argumentationen kondensiert

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werden sollen. Das Vorgehen bei der Darstellung der fachwissenschaftlichen Theoriediskussion muss aufgrund der Fülle an Literatur selektiv und unvollständig bleiben. Als hilfreich erwies sich dabei die Systematisierung von Helmut Dubiel (Dubiel 1986, S. 49 f.), der zentrale Impulse für die Darstellung lieferte. Idealtypisch heißt, dass die vorgestellten Argumentationslinien soweit überzeichnet und zugespitzt sind, dass sie sich in der Realität so nicht (oder nur in Einzelfällen) wiederfinden lassen; häufig treten dort Mischformen auf. Für alle vorzustellenden Argumentationslinien gilt, dass es sich dabei um – ebenfalls wieder mehr oder weniger – explizit herausgearbeitete Figurationen von identifizierten Ursachen des Rechtspopulismus einerseits und sich daraus logisch ergebenden Strategien andererseits handelt. Das Nachdenken über Strategien impliziert unabhängig davon, ob dies auch von den Autoren reflektiert wird, spezifische Vorstellungen über die Ursachen des Rechtspopulismus. Aus diesem Grund stelle ich die Strategien im Folgenden als Ursache-Strategie-Figurationen dar; es handelt sich dabei um die Figurationen von Pathologie und Therapie, Repräsentationslücke und Respons sowie Wesen des Politischen und Konflikt. • Pathologie und Therapie: Die erste Strategie betont die Verwerfungen der Moderne und die rasante Modernisierung der Gesellschaft mit samt ihrer Entwicklung zu einer hyperkompetitiven Wirtschaft. Ursächlich für den Rechtspopulismus sind in dieser Lesart die „Folgen steigender Lohnkonkurrenz“ und der „allmähliche Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen, der die Polarisierung zwischen Arm und Reich verschärft“ (Decker 2018, S. 357). Diese Ursachenzuschreibung erkennt die Empfänglichkeit für den Rechtspopulismus vor allem bei denjenigen, die sich diesem System am härtesten ausgesetzt sehen. „Es handelt sich in der Regel um gut ausgebildete, nicht schlecht verdienende und durchaus angesehene Personen, die aufgrund von Degradierung im Beruf, im Gefolge der Schließung sozialer Kreise oder nach der Aussortierung auf ‚Winner-Takes-All-Märkten‘ von der ‚Angst vor Mindereinschätzung‘ (so Theodor Geiger schon 1930) erfasst worden sind“ (Bude 2016, S. 350). Neben der Betonung wirtschaftlicher Aspekte, verweist eine ähnlich gelagerte Argumentation auf die Pathologien des politischen Systems, die häufig mit dem Begriff der „Postdemokratie“ (Crouch 2017) zusammengefasst werden. Demnach seien die westlichen Demokratien zunehmend durch eine Schließung politischer Beteiligungsprozesse gekennzeichnet; zwar werde weiterhin ein formales Demokratiespektakel mit Wahlen etc. abgehalten, die wichtigsten Entscheidungen fänden aber hinter verschlossenen Türen ohne Beteiligung der breiten Massen statt. Vor allem Ostdeutsche hätten Erfahrungen mit wirtschaftlichen Degradierungen (­Treuhand)

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und politischen Überlagerungen (Anschluss an das Bundesgebiet ohne ­Verfassungsdiskussion) gemacht (Mau 2019; Rehberg 2017; Rehberg et al. 2016). In beiden Aspekten, Modernisierung und Postdemokratie, so kann man zusammenfassen, sind somit Ohnmachtspotenziale und Anerkennungsverluste eingelagert, die für Rechtspopulismus empfänglich machen. Selbst diese hier nur angedeutete Ursachenbeschreibung für den Rechtspopulismus legt eine spezifische Strategie nahe: Wenn die Ursachen in der Pathologie der modernen westlichen Demokratie liegen, dann stehen letztlich zwei therapeutische Richtungen zur Verfügung. Die erste kann als Heilung durch Veränderung der Verhältnisse bezeichnet werden. Wenn die Umstände „krank“ machen, dann erscheint es als probates Mittel, die Umstände zu ändern. Es bedürfe „auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene einer Politik, die ökonomischen und sozialen Zusammenhalt der Gesellschaften wieder stärker in den Mittelpunkt rückt“, der „Absicherung gegen die durch den Wettbewerb entstehenden Risiken“ (Decker 2018, S. 367). Die zweite therapeutische Richtung zielt auf die bessere Vorbereitung der Individuen selbst und deren Fähigkeit zur Bewährung in rauen Zeiten. „Bildung und Ausbildung“ werden zentral, „um sich für den Wettbewerb zu wappnen“ (Decker 2018, S. 367), aber auch, um die Menschen zu ermächtigen, sich in die Politik und die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzubringen. • Repräsentationslücke und Respons: Die zweite Strategie geht von einer Repräsentationslücke als Ursache für die Entwicklung des Rechtspopulismus aus. Obwohl es in der Bevölkerung nach wie vor eine signifikante Gruppe von Menschen gibt, die national-konservative Positionen vertritt, so könnte man dieses Argument zusammenfassen, haben sich in der Gesellschaft kaum gesellschaftliche Akteure inklusive Parteien gefunden, die diese Positionen konturiert in den politischen Prozess einbrachten. In diesem Zusammenhang ist die Rede von der „Entkräftung der bundesrepublikanischen Hegemonialpartei, der CDU/CSU“ (Leggewie 2018, S. 69). Wehrpflicht, Ehe zwischen Mann und Frau, Atomenergie – allesamt Kernpunkte konservativer Politik der letzten Jahrzehnte – wurden unter Beteiligung der CDU abgeschafft bzw. liberalisiert. So betont vor allem Werner J. Patzelt immer wieder: „PEGIDA und AfD konnten aufkommen, weil die etablierten Parteien zwischen CDU und rechtem Narrensraum eine Repräsentationslücke hatten entstehen lassen“ (Patzelt 2016, S. 74). Entsprechend postuliert Hans-Joachim Maaz, der Hallenser Psychoanalytiker: „Begriffe wie Patriotismus, Heimat, Tradition, Nation, Sprache, Kultur und Religion vermitteln doch hohe Werte, die Halt und Zugehörigkeit ermöglichen und die bei einer zunehmend globalisierten,

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global vernetzten und damit unüberschaubaren Welt zur Grundlage sozialer Geborgenheit werden“ (Maaz 2016, S. 360). Die Repräsentationslücke als Ursache des Rechtspopulismus liegt natürlich auf einer anderen Ebene als die Identifikation von gesellschaftlichen und politischen Pathologien. Bei der Pathologie-These stehen tieferliegende Entwicklungstreiber im Mittelpunkt, während bei der Lücken-These gefragt wird, weshalb die rechtpopulistischen Parteien und Gruppierungen erstarken konnten. Rechtspopulistische Weltbilder werden im Zuge der Lücken-These weniger scharf kritisiert und eher – wie gesehen – mit Verständnis bedacht. Folgerichtig besteht die strategische Forderung im Umgang mit dem Rechtspopulismus eher darin, Repräsentationslücken zu vermeiden und entsprechende Politikangebote bereitzuhalten. Es wird betont, den Bürger/innen mit „Perspektivwechsel und Empathie“ (Patzelt 2016, S. 77) zu begegnen, um authentisch vermitteln zu können, dass die Anliegen und Sichtweisen der Bürger/innen ernstgenommen und nicht von vornherein als Pathologie eingeschätzt werden. • Wesen des Politischen und Konflikt: Während die erste Strategie die Ursachen des Rechtspopulismus vornehmlich in gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen (‚Winner-Takes-All-Märkte‘ und Mitbestimmungsdefizit) und den damit verbundenen Ohnmachtserfahrungen und Anerkennungsverlusten sieht und die zweite Strategie den politischen Erfolg des Rechtspopulismus in aufgeworfenen Repräsentationslücken erkennt, so versteht die dritte Strategie den Rechtspopulismus, durchaus in Analogie zur zweiten Strategie, als eine schlicht im politischen System vorfindbare politische Orientierung. Zwar werden in entsprechenden Texten auch tieferliegende Ursachen, wie die oben erwähnten Pathologien und Repräsentationslücken thematisiert, das Auftreten des Populismus wird aber vor allem mit dem politischen Prozess selbst identifiziert. So arbeitet Stephan Lessenich die diversen Konfliktlinien der gegenwärtigen Demokratie als „soziale Tatsache“ (Lessenich 2019, S. 19) heraus. „Der moderne Prozess der Demokratisierung war immer ein soziales Ringen um Beteiligung, Mitbestimmung, Berechtigung“ (Lessenich 2019, S. 19). Im Rechtspopulismus sieht Lessenich eine Bewegung, die etablierte Vorrechte nicht nur gegen „Finanzkapital und Superreiche“, sondern auch gegen Frauen, Migrant/innen und jugendliche Ökoaktivist/innen verteidigen will (Lessenich 2019, S. 93). Chantal Mouffe erkennt das Wesen der Politik und Demokratie im Konflikt. „Demokratie erfordert eine Form der Wir-Sie-Unterscheidung […]“ (Mouffe 2010, S. 22). Gründe für das Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa lägen darin, dass die Zumutungen der Konsenspolitik, die keine klaren

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Unterscheidungen zwischen den Parteien mehr erkennen lässt, dass der „Konsens in der Mitte“ (Mouffe 2010, S. 87) Widerspruch herausfordert. Man könnte mit Mouffe argumentieren, dass das politische System auf die Konsenspolitik reagiert, indem es mit dem Rechtspopulismus eine neue politische Kraft stärkt und dem systemischen Funktionsprinzip, dem Konflikt, wieder zu seinem Recht verhilft. Im Anschluss an diese Deutung, der Identifizierung des Aufkommens des Rechtspopulismus mit dem politischen Prozess selbst, können nun zwei Strategien plausibilisiert werden, die beide einer konfliktorientierten Strategiefamilie zugeordnet werden können. Es geht in beiden Untervarianten nicht, wie in der responsiven Strategie, darum, Repräsentationslücken zu schließen und den Rechtspopulist/innen entgegenzukommen, sondern darum, ihnen etwas entgegenzusetzen. Der Modus des Konflikts wird dabei aufrechterhalten – wenngleich in sehr verschiedenen Ausprägungen. – In einer dialogischen Variante stehen Gespräch, Kompromiss und wenn möglich Konsens im Mittelpunkt. Ein idealtypischer Vertreter dieser Variante ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Direktor der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter. Richter meint: „Weil die Demokratie grundsätzlich auf Partizipation und Integration aller basiert, kann die Logik der Ausgrenzung, die einzelne Teile der Bevölkerung gegen andere betreiben, nicht mit der Logik der Ausgrenzung erwidert werden“ (Richter 2018, S. 82). Und: zum „offenen politischen Dialog […] gibt es keine vernünftige Alternative“ (Richter 2018, S. 28). Man könnte es auch so formulieren: Wir können in einer Demokratie nicht so tun, als gäbe es bestimmte politische Positionen nicht, auch wenn sie uns nicht gefallen. Demokratie heißt, sich nicht nur mit seinen Freunden, sondern auch mit seinen politischen Gegnern auseinanderzusetzen. – In einer repulsiven Variante wird eine härtere Gangart angeschlagen. Hier geht es nicht darum, zu überzeugen oder Rechtspopulist/innen auf die eigene Seite zu ziehen, sondern vielmehr im Konflikt die Oberhand zu gewinnen und den Diskus zu dominieren. Die repulsive Variante lässt sich wiederum in verschiedene Instrumente differenzieren: Ignorieren und Themenwechsel wurde beispielsweise von Jürgen Habermas vorgeschlagen, der es für einen Grundfehler hält, um die „‚besorgten Bürger‘ […] herumzutanzen“, und die Notwendigkeit sieht, die „eigentlichen“ Probleme, d. h. die zerstörerischen Kräfte eines entfesselten globalen Kapitalismus, zu thematisieren (Habermas 2016; Leggewie 2018, S. 79). In vielen Texten wird auch die Brandmarkung der Rechtspopulist/innen empfohlen und

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praktiziert. Der Modus dieser Strategie ist der der Enthüllung erkannter Absichten und Implikationen der Rechtspopulist/innen („Sagen, was ist“, Leggewie 2019, S. 176 ff.). So empfiehlt ebenfalls Habermas, die Rechtspopulist/innen als das „abzutun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus“ (Habermas 2016). Andere Autor/innen stellen den völkischen und rassistischen Charakter der Rechtspopulist/innen heraus und streben damit an, das Anliegen zu diskreditieren (Kocyba 2016; Rucht und Teune 2015). Der jüngst verstorbene Psychologe und Philosoph Carlo Strenger (2015) hat dieser Strategie mit seinem Konzept der „zivilisierten Verachtung“ ein ganzes Buch gewidmet. In enger Verbindung mit der Brandmarkungsstrategie steht die Strategie der Mobilisierung von Gegenöffentlichkeiten. Die „Abstimmung mit den Füßen“ bei antipopulistischen Kundgebungen („Wir sind mehr!“) wie auch bei der täglichen Begegnung mit rechtspopulistischen Äußerungen ist hiermit angesprochen (Leggewie 2019, S. 165 ff.). In einer formelleren Variante schlägt Claus Leggewie (2018, S. 79 f.) die Nutzung der rechtlichen Instrumente unserer wehrhaften Demokratie vor, was u.  a. die konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze betrifft, wenn Rechtspopulist/innen gegen sie verstoßen. Schließlich erkennt der selbe Autor auch den grundgesetzlich garantierten Widerstand als ultima ratio und gibt Hinweise, wie dies im Einzelnen zu bewerkstelligen wäre (Leggewie 2018, 2019, S. 80 ff., 181).

4.2 Strategiediskussion in der politischen Bildung Welche Strategien werden nun aber in der politischen Bildung diskutiert? Zeigen sich Parallelen zur fachwissenschaftlichen Diskussion, gibt es Leerstellen und was ist davon zu halten? Anders als im voranstehenden Abschnitt sollen hier die Strategien nicht nur unter Ausklammerung des Geltungscharakters vorgestellt, sondern auch bezüglich ihrer Eignung als pädagogische Strategien diskutiert werden. Dies bedeutet, dass sich die Strategien daran messen lassen müssen, ob sie den oben mit Schleiermacher eingeführten funktionalen Anforderungen pädagogischer Tätigkeit, der Weitergabe demokratischer Standards und der Ermöglichung von Selbstentfaltung, genügen. Ich nutze die bereits eingeführte Systematisierung von therapeutischen, responsiven und repulsiven Strategien und kann mich aufgrund der Ausführungen des letzten Abschnitts recht knapp halten. • Pathologie und Therapie: Die therapeutische Strategie in der politischen Bildung ist äußerst prominent. Ähnlich wie in der fachwissenschaftlichen

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Paralleldiskussion erkennt diese Strategie die Ursachen des Rechtspopulismus in den ungünstigen wirtschaftlichen („Winner-Takes-All-Märkte“) und politischen („Postdemokratie“), aber auch schulischen Bedingungen. Schule wird dabei als Vorbereitungsfeld für diese Gesellschaft und selbst als ein Wettbewerbsraum (Kompetenzorientierung) gedeutet, in dem Schüler/innen Degradierungserfahrungen sammeln und Anerkennungsverluste erleiden, die wiederum für rechtspopulistische Aufwertungsversprechen empfänglich machen. Diese Argumentationslinie ist zwar bislang vor allem in der Diskussion um Rechtsextremismus und Schule vertreten worden (Helsper et al. 2006), scheint aber auch für die Rechtspopulismusdiskussion in der politischen Bildung funktional zu sein. Betont werden auch die institutionellen Verwicklungen von Schule und Unterricht in die Reproduktion identitärer und rassistischer Weltbilder (Gomolla 2018; Messerschmidt 2018). Mit Blick auf die sich anschließende Strategie lassen sich auch hier zwei therapeutische Richtungen identifizieren. – Die Heilung durch Veränderung der Verhältnisse richtet sich nicht, wie noch in der fachwissenschaftlichen Diskussion, auf gesellschaftliche, sondern schulische Verhältnisse. Schule soll möglichst die Abwertungspraktiken der Gesellschaft nicht reproduzieren, sondern als ein Anerkennungs- und Wertschätzungsraum gestaltet werden, in dem sich Schüler/innen durch demokratische Prozesse auch einbringen können (Elverich 2011; Görtler 2019, S. 67 f.; May 2020; Schütze 2019; ­Stainer-Hämmerle 2017, S. 38). – Die zweite Strategie kann wieder in Analogie zur fachwissenschaftlichen Diskussion als ein „Fit Machen“ der Individuen (Achour 2018, S. 44) gekennzeichnet werden. Der therapeutische Hebel setzt hier nicht bei den Umständen, sondern bei den Schüler/innen selbst an – ein Ansatz, der zum Kernanliegen der schulischen politischen Bildung gerechnet werden kann. Hierunter fallen vor allem – „politisches Wissen bildet“ (Achour 2018, S.  41) – Aufklärungsmaßnahmen wie Wissensvermittlung zur Demokratie und Aufklärung über die Funktionsweise des Rechtspopulismus (Sprachbilder, Widersprüche, Entstehungsgründe etc. „entlarven“, Stainer-Hämmerle 2017, S. 37) sowie die Rolle von Medien. Aber auch sozialkognitiv ausgerichtete Trainings und Kontaktinterventionen, die die Schüler/innen auf den Umgang mit „multiple perspektives“ (Westheimer 2019, S. 12), „Konflikten […] sowie der Diversität der Lebensformen“ (Achour 2018, S. 44) vorbereiten, sind zu nennen. In der Schule verschmilzt diese Strategie zur Doppelaufgabe, Schüler/ innen wertschätzend und verständnisvoll (für ihre rechtspopulistischen

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­ issensbestände) entgegenzutreten, ihnen aber auch behutsam die „Korrektur W und Transformation von Wissen“ (Schmitt 2018, S.  105) zuzumuten. Die ­ Pathologie-Therapie-Strategie kann als relativ unumstritten gelten. Anerkennungsgesättigte und diskriminierungsfreie Schulverhältnisse sowie Wissens- und Kompetenzvermittlung gehören zu den üblichen Anforderungen an politische Bildungsprozesse. • Repräsentationslücke und Respons: Der Kern der responsiven Strategie bestand darin, die entstandene Repräsentationslücke wieder mit Politikangeboten zu füllen, die von Menschen mit rechtspopulistischen Weltsichten angenommen werden können. Eine ähnlich gelagerte Strategie könnte man sich für die politische Bildung vorstellen. Demnach dürfte politische Bildung rechtspopulistische Positionen nicht aus den Bildungsprozessen heraushalten, sondern müsste auch den Schüler/innen ein rechtspopulistisches Deutungsangebot unterbreiten, getreu dem Beutelsbacher Grundsatz: Was in Gesellschaft und Wissenschaft kontrovers ist, muss es auch im Unterricht sein. Denn, so könnte die Argumentation lauten, rechtspopulistische Positionen befinden sich nun einmal in der Gesellschaft und können nicht als illegitim aus dem politischen Prozess ausgeschlossen werden. „Sollte jedoch die politische Bildung noch an der Idee der politischen Freiheit und an der Idee von Bildung statt Erziehung hängen, würden anti-liberale populistische Ideen als legitime in der Schule behandelt und nicht bekämpft“ (Moulin-Doos 2018, S. 93). Rechtspopulistische Positionen wären damit ein Deutungsangebot, das Schüler/innen legitimerweise annehmen könnten. In der Realität findet man solche Argumentationen kaum, eher das Gegenteil ist der Fall. Politische Bildner tun sich schwer damit, etwa AfD-Vertreter zu einer Podiumsdiskussion o. ä. einzuladen. So meint etwa Gabi Elverich, dass das Kontroversgebot nicht so weit gehe, dass man „rechtspopulistische Positionen in den demokratischen Konsens“ (Elverich 2017, S. 59) integrieren könne. • Wesen des Politischen und Konflikt: Auch Positionen, die das Wesen des Politischen als Konflikt betonen (wie es im letzten Kapitel deutlich geworden ist) und die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus in den Mittelpunkt stellen, sind in der politischen Bildung eher rar. Selten findet man Äußerungen wie: „Es geht [beim Rechtspopulismus] um Politik, um eine parteiliche Interpretation der Sinnenwelt. […] Es geht hauptsächlich um verschiedene politische Ansichten und nicht immer um das Gute versus das Böse“ (Moulin-Doos 2018, S. 96). Für die politische Bildung würde dies bedeuten, nicht (nur) „Aufklärungsarbeit“ zum Thema Demokratie und Rechtspopulismus zu betreiben, sondern die unterschiedlichen politischen – auch rechtspopulistischen – Positionen in der Gesellschaft und der Schulklasse

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im Konflikt aufeinander zu beziehen. In dieser Lesart ist der R ­ echtspopulismus für die politische Bildung „ein Glücksfall“ (Stainer-Hämmerle 2017, S. 30), weil er den Konflikt im Klassenzimmer in Gang bringt. Politische Bildung „can be enacted through the elements of populism, by which teachers and students can articulate themselves as subjects as members of a democratic public“ (Mårdh und Tryggvason 2017, S. 611). Der Konflikt zielt in dieser Strategie dann nicht vornehmlich darauf, mein Gegenüber in einem „Lehrgespräch“ zu überzeugen, sondern Positionen zu klären, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Positionen herauszuarbeiten und bestenfalls Kompromisse zu schließen. Es muss an dieser Stelle noch angemerkt werden, dass die konfliktorientierte Strategie der politischen Bildung eine dialogische, keine repulsive ist. Im Mittelpunkt stehen das Gespräch und die verbale Auseinandersetzung von Vertreter/innen unterschiedlicher politischer Positionen. Repulsive Maßnahmen (Ignorieren, Brandmarken, Gegenmobilisierung etc.) werden nicht diskutiert, weil sie ein Rücksetzungs- und Verletzungspotenzial implizieren, das für die Aufrechterhaltung von Lernbereitschaft dysfunktional ist.

5 Von der Therapie zum Konflikt? Es wird deutlich, dass die in diesem Beitrag vorgestellten Strategien, Therapie, Respons und Konflikt, einen unterschiedlichen Stellenwert einnehmen. Therapie setzt auf die Bearbeitung der Ursachen des Rechtspopulismus und möchte Anerkennungsverluste vermeiden sowie Wissens- und Kompetenzdefizite ausgleichen. Es handelt sich um die prominenteste Strategie in der politischen Bildung. Respons sieht die Ursachen eines ‚vagabundierenden‘ Rechtpopulismus in der ‚Ausbürgerung‘ nationalkonservativer Positionen aus dem politischen Spektrum und strebt an, den Schüler/innen auch ein Angebot rechtspopulistischer Weltdeutungen in der Schule zu unterbreiten, das gleichberechtigt neben anderen steht. Konflikt identifiziert schließlich das Aufkommen des Rechtspopulismus mit dem politischen Prozess selbst und plädiert gleichsam für eine ­demokratisch-agonale Integration von Positionen, die nicht wenige als undemokratisch bezeichnen würden. Im Gegensatz zur ersten Strategie brechen die beiden letzten und in der politischen Bildung weniger prominenten Strategien mit dem weit verbreiteten Konsens, politische Bildung müsse dem Rechtspopulismus „entgegentreten“. Man könnte vielleicht sagen, dass diese beiden letzten Strategien die Aufgabe politischer Bildung darin sehen sicherzustellen, dass sich politische Positionen artikulieren können, und zu organisieren, dass diese

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Positionen im Bildungsprozess nicht unwidersprochen bleiben. Im ersten Fall ist politische Bildung selbst Konfliktpartei, im zweiten organisiert sie den Konflikt. Was ist nun aber von den Strategien zu halten? Bislang wurde der Geltungscharakter der Strategien politischer Bildung weitgehend ausgeklammert. Der Beitrag soll nun aber mit einigen Anmerkungen zur Eignung der Strategien in der politischen Bildung schließen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass – wie bereits ausgeführt – die Perspektive der politischen Bildung als eine pädagogische Disziplin entscheidend ist. Ob eine Strategie geeignet ist, hängt immer von den Akteuren und dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext ab (Besand 2019, S. 377). Meine Einschätzung ist, dass aus pädagogischer Sicht alle genannten Strategien hilfreich sein können, aber jeweils unterschiedliche Funktionen der pädagogischen Tätigkeit in den Mittelpunkt rücken und dadurch auch an spezifische Grenzen kommen. Zur Erinnerung: Die pädagogische Tätigkeit ist oben im Anschluss an Schleiermacher in ihrer erhaltenden und ihrer verbessernden Funktion beschrieben worden, wobei Erhaltung durch die Tradierung von Wissens- und Kompetenzbeständen erreicht werden soll, Verbesserung durch die Ermöglichung von individuellen Urteilen. Die therapeutische Strategie versucht unter Aufbringung von Anerkennung und Verständnis, den gesellschaftlichen Konsens, insbesondere die Orientierung an den Grund- und Menschenrechten, durch Integration und die Weitergabe von „sicheren“ Wissens- und Kompetenzbeständen zu garantieren. Damit erfüllt sie die pädagogische Funktion der Erhaltung demokratischer Standards in der Gesellschaft. Es ist somit ein Irrtum, politische Bildung würde neutral sein und sich gegenüber den gegebenen gesellschaftlichen Normen und Werten indifferent verhalten können. Probleme treten bei dieser Strategie allerdings immer dann auf, wenn politische Bildung unter Verdacht gerät, Agent einer „autoritären Demokratie“ (Bürgin und Eis 2019) zu sein, bei der es darum geht, die Schüler/ innen auf einen vorgeblich klaren politischen Grundkonsens einzuschwören und Abweichendes als demokratiegefährdend zu legitimieren. Hier werden „Kinder und Jugendliche nicht als politische Subjekte adressiert“ (Bürgin und Eis 2019, S. 21) und als Therapiefall entmündig. Auch unterrichtspraktisch stößt die therapeutische Strategie an Grenzen, insbesondere dann, wenn sie nicht als Prävention bei ‚unbelasteten‘ Schüler/innen auftritt, sondern als Intervention bei rechtspopulistischen Positionen in der Klasse. Noch so behutsames und anerkennungssensibles Intervenieren der qua Amt mit Deutungshoheit ausgestatteten Lehrkraft kann hier von den Schüler/innen als Belehrung aufgefasst werden und zu Rückzug und Schließung führen (siehe die empirischen Rekonstruktionen bei May 2018). Responsive und konfliktorientierte Strategien versuchen unter Bezugnahme auf ein agonales Verständnis des Politischen, den Schüler/innen

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­elbstentfaltungsmöglichkeiten zu gewähren. Rechtspopulistische Sichtweisen S sollen (sieht man einmal von Lüge, Tatsachenverdrehung und Extremismus ab) sowohl als Teil des politischen Spektrums legitimiert werden als auch – neben anderen Positionen – im Prozess der politischen Bildung „satisfaktionsfähig“ sein. Damit ermöglicht politische Bildung eine Abweichung vom Konsens und eröffnet individuelle Entfaltungsspielräume – auch wenn dies in rechtspopulistischen Urteilen mündet. Kritiker mögen einwenden, dass dies nichts mit „Verbesserung“ (Schleiermacher) zu tun haben kann. Indes birgt die formelle Möglichkeit individueller Entfaltung als Verbesserungsvehikel die Gefahr, dass die inhaltlichen Ergebnisse nicht immer Gefallen finden. Und es wäre ja auch vollkommen absurd, würde die politische Bildung Positionen aus dem Unterricht ausschließen, die in der Gesellschaft eine gewissen Bedeutung erlangt haben. Dem mit Praxis und Theorie des ­DDR-Staatsbürgerkundeunterrichts vertrauten Autor sei die Anmerkung erlaubt, dass damit die Gefahr der ‚Zweisprachigkeit‘ verbunden ist (May 2019a). Die stärkere Berücksichtigung responsiver und konfliktorientierter Ansätze erscheint damit nötig – zumindest wenn man am Unterschied von Extremismus und Populismus festhält, es sich nicht um klar verfassungsfeindliche Positionen handelt (Jesse und Panreck 2017) und Mitschüler/innen nicht Gefahr laufen, Schaden zu nehmen. Das Problem dieser Strategien liegt in einer Vertiefung der Spaltung der Schülerschaft (und Gesellschaft). Unterrichtspraktisch setzt die Politikdidaktik der letzten Jahrzehnte viele Hoffnungen in die kontroverse Unterrichtsgestaltung und die Konfliktorientierung. Mittlerweile werden Stimmen laut, die darin auch Schwierigkeiten entdecken. Eine konfliktorientierte und kontroverse Unterrichtsgestaltung wird von bestimmten, nicht wenigen Schüler/innen als große Belastung erlebt und führt selten zu einer Lockerung und Irritation der mitgebrachten Urteile (Boeser-Schnebel et al. 2016). Die emotionale Involviertheit in das eigene Urteil verhindert mitunter einen souveränen, selbstreflexiven Umgang damit und führt zu Verhärtungen. Didaktisch wären hier alternative Strategien gefragt, die eine mentale Lockerung ermöglichen und fremde Perspektiven in den Möglichkeitshorizont der Schüler/innen rücken, ehe man im Konflikt aufeinander trifft (John et al. 2020).

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Populismus und Demokratie in Europa und Lateinamerika Isabelle-Christine Panreck

1 Populismus – weites und gespaltenes Feld? Mag Theodor Fontanes Metapher des weiten Feldes etwas abgegriffen daherkommen, beschreibt sie doch recht passend die Ausmaße der Populismusforschung. Führten in den 1980ern noch gut 300 englischsprachige Monografien die Termini „populism“ oder „populist“ im Titel, verdoppelte sich die Zahl in den 2000ern auf mehr als 700 (vgl. Kaltwasser et al. 2017, S. 9). Die elektoralen Erfolge der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) seit ihrer Gründung im Jahr 2013 ließen auch die deutschsprachige Literatur über populistische Parteien und Bewegungen anschwellen. Zugleich durchbricht Populismus die Mauern des Elfenbeinturms: Die Debatte um Definitionen, Formen und Ursachen bewegt die breite Öffentlichkeit. Allein zwischen 2014 und 2018 steigerte sich die Zahl der Nennungen von „Populismus“ und „Populist“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung von knapp 500 auf über 1100.1 Entsprechend vielfältig sind die Versuche, Populismus begrifflich und konzeptionell zu fassen – nicht selten handeln sie sich den Vorwurf des „conceptual stretching“ ein (vgl. van Kessel 2014). Neigt die Forschung nicht auch geografisch zur Überdehnung im Streben, lateinamerikanische wie

1Suche

im F.A.Z.-Archiv und Süddeutsche Archiv, Zeiträume 1. Januar 2014 bis 31. Dezember 2014 sowie 1. Januar 2018 bis 31. Dezember 2018.

I.-C. Panreck (*)  Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_7

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ost- und westeuropäische sowie jüngst auch afrikanische (vgl. Resnick 2017), asiatische (vgl. Kenny 2017), nordamerikanische (vgl. Levitsky und Ziblatt 2018) Strömungen unter einem Schirm zu vereinen? Der Überblick des ausladenden Forschungsfeldes ist Gegenstand dieses Beitrags. Er richtet seinen Blick besonders auf links- und rechtspopulistische Kräfte in Europa und Lateinamerika. Zunächst führt er in die Debatten um den Begriff „Populismus“ ein, wobei der differierenden Bedeutung von Links- und Rechtspopulismus besondere Aufmerksamkeit zukommt (Abschn. 2). Es schließt sich eine Reflexion des Verhältnisses von Populismus und Demokratie unter Berücksichtigung der verschiedenen Definitionen beider Termini an (Abschn. 3). Die folgenden Abschnitte sind vergleichend angelegt und richten ihr Augenmerk zunächst auf Rechtspopulismus in Europa und Lateinamerika (Abschn. 4), dann auf Linkspopulismus in Lateinamerika (Abschn. 5). Es folgt ein Blick auf theoretische Erklärungsversuche, wann Links-, wann Rechtspopulismus reüssiert (Abschn. 6). Der Ausblick behandelt die Frage, ob die jeweiligen Hegemonien in Lateinamerika und Europa in Zukunft umschlagen werden (Abschn. 7).

2 Begriffsdebatten In der Debatte um Links- und Rechtspopulismus offenbart sich in Deutschland eine gewisse Schieflage: Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht der Rechtspopulismus wohl auch deshalb, weil der parteiförmige Linkspopulismus in Europa eine wenig bedeutsame Rolle spielt (vgl. Jesse et al. 2019). Die Lateinamerikaforschung indes zeichnet das Bild des Populismus in inversen Farben: Seit den 1930ern prägen populistische Kräfte die politische Landschaft, besonders in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Auf den klassischen Populismus in den 1930ern und 1940ern, der vormals exkludierten Gruppen – insbesondere der armen Bevölkerung – eine Stimme verliehen hatte, folgte eine neoliberale Spielart in den 1990ern, die sich zuvorderst durch ihre Elitenkritik hervortat. Unter den radikalen Populismus fallen die sozialistisch inspirierten Regierungen von Hugo Chávez (Venezuela 1999 bis 2013), Evo Morales (Bolivien 2006 bis 2019) und Rafael Correa (Ecuador 2007 bis 2017) (vgl. La Torre 2017, S. 195– 203). Nicht nur diese Gegensätze in der Empirie, sondern auch die Begriffsdebatten nähren Zweifel, ob es sich bei dem weiten Feld nicht auch um ein gespaltenes handelt: Wer den internationalen Forschungsstand überblickt, dem eröffnen sich weithin zwei Diskurse, die allenfalls bedingt verzahnt sind. In Europa überwiegen Definitionsversuche, die Populismus „ideational“ (Mudde und Rovira Kaltwasser

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2018, S. 1669) auffassen. Das an den lateinamerikanischen Fällen orientierte Verständnis von Populismus als Logik des Politischen ist deutlich weniger verbreitet. Unter ideationale Definitionsversuche von Populismus fallen etwa Auffassungen von Populismus als dünne Ideologie (vgl. Mudde 2004) oder Stil (vgl. Moffitt 2016). Sie fußen auf der Gegenüberstellung von „Volk“ und „Elite“, wobei das „Volk“ als moralisch rein, die „Elite“ als notorisch korrupt gilt. Als dünne Ideologie nach Freeden (1996) lässt sich Populismus mit einer Wirtsideologie verbinden: Aus einer Liaison mit dem Sozialismus tritt er als Linkspopulismus hervor. Verschmilzt er mit Nationalismus, erscheint er als Rechtspopulismus. Für Karin Priester schlagen beide Populismen einen „dritten Weg“ ein: Rechtspopulismus laviere zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus, Linkspopulismus suche einen Kompromiss zwischen Marxismus und Kommunismus sowie Sozialdemokratie (vgl. Priester 2017, S. 51). Zentral hierfür ist die Konstruktion des „Volkes“: Wie beide Populismen gegen die Elite revoltieren, versteht sich der Linkspopulismus als inklusiv, der Rechtspopulismus indes verfolgt ein ausschließendes Volksverständnis. Sind beide Populismen globalisierungskritisch, verbindet der Linkspopulismus dies mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber neoliberaler Politik (vgl. Priester 2017, S. 54), der Rechtspopulismus argumentiert mit nationaler Souveränität und ethnischer Homogenität. Moffitts Verständnis von Populismus als Stil ergänzt den Kern aus Antagonismus von Volk und Elite 1) durch die Elemente einer charismatischen Führerschaft 2), des geschickten Nutzens von (Massen-)Medien als Bühne 3) und der Kultivierung einer Krise 4) (vgl. Moffitt 2016). Was besticht, ist das Betonen des konstruktivistischen Potenzials von Populismus: Er sei mithin nicht nur eine Reaktion auf eine bestimmte Problemlage, sondern er gestalte auch die Realität über seine politische Agitation. Zugleich hat Moffitts Ansatz seinen Preis: Über die politischen Programme der Populisten trifft er kaum Aussagen (vgl. Panreck 2019, S. 37). Mithin ist das Pfund des ideationalen Begriffsverständnisses seine Operationalisierbarkeit für empirische Analysen. Die theoretische Unterfütterung mutet indes dürftig an. Ganz anders verhält es sich bei der Definition von Populismus als Logik des Politischen: Theoretisch komplex versucht sie nicht, Merkmale eines Phänomens, sondern dessen politische Dimension zu erfassen. Die vom Argentinier Ernesto Laclau entwickelte Theorie wurzelt im gemeinsam mit Chantal Mouffe verfassten Werk „Hegemonie und radikale Demokratie“ (1985) und entfaltete bis in die 1990er überwiegend im lateinamerikanischen Diskurs über Populismus Reichweite (vgl. Herschinger 2017, S. 130 f.). Erst im letzten Jahrfünft – und damit nach Laclaus Tod im Jahr 2014 – stößt der Ansatz auch in Europa auf gewisse Resonanz, besonders nach Mouffes öffentlichkeitswirksamen Plädoyer

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für einen linken Populismus (vgl. Mouffe 2015, 2018). Populismus als Logik betont das stetige Wechselspiel der Hegemonien als Urprinzip des Politischen: Eine (charismatische) Führungsperson verkettet eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen und verhilft dem unterdrückten Anliegen zur (zeitweiligen) Hegemonie (vgl. Laclau 2007; Marchart 2017; Nonhoff 2007). Ob aus einer (Repräsentations-)Krise ein linker oder rechter Populismus hervorgeht, ist für Mouffe (2018) offen. Auch sie folgt der Unterscheidung von Links- und Rechtspopulismus anhand des Volksbegriffs: Neige der Rechtspopulismus zu einem ethnisch fundierten, geschlossenen ethnos, halte der Linkspopulismus die Grenze fluide: Ob Arbeiter, Ausländer, die vom Abstieg bedrohte Mittelschicht, feministische Gruppen, die LGBT-Gemeinde oder Umweltschützer – sie alle können nach Mouffe ein linkes demos bilden, solange sie für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit einstehen und gegen den Elitenkonsens aufbegehren (vgl. Mouffe 2018, S. 35).

3 Populismus und Demokratie In welchem Verhältnis stehen Populismus und Demokratie? Wer die printmedialen Debatten sowie die zahlreichen Online-Foren überblickt, mag sich über die Frage wundern – die überwiegend pejorative Verwendung des Populismusbegriffs in der Alltagssprache Europas ist offenkundig. Nicht selten gehen „hate speech“ und Populismus Hand in Hand (vgl. Boswell 2015, S. 318). Zugleich: Obschon sich die Frage nach dem Verhältnis von Populismus und Demokratie Sozial- und Geisteswissenschaften aufdrängt, markiert er für Kaltwasser, Taggart, Ochoa Espejo und Ostiguy noch im Jahr 2017 ein Desiderat (vgl. Kaltwasser et al. 2017, S. 18). Dem Vergleich von „populistischer Demokratie“ (vgl. La Torre 2016a, S. 70) und „liberaler Demokratie“ wohnt eine gewisse Asymmetrie inne. Idealtypische Konzeptionen liberaler Demokratie – oftmals europäischer Prägung – stehen realtypischen Beschreibungen populistischer Demokratie – eher lateinamerikanischer Prägung – gegenüber. So fassen Gratius und Rivero (2018, S. 40 f.) unter den Terminus der liberalen Demokratie eine plurale und diverse Gesellschaft, ein Gleichgewicht zwischen den Gewalten sowie ihre Trennung in Exekutive, Legislative und Judikative, Unabhängigkeit der Medien, begrenzte Macht, „checks and balances“, rationale Diskurse, Vielfalt der politischen Parteien, repräsentative Institutionen und politische Parteien, Parteienwettstreit und wenige Elemente direkter Demokratie. Die populistische Demokratie fuße indes auf der Vorstellung einer homogenen Gesellschaft und einer Abgrenzung des „Volkes“,

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Vormacht der Exekutive und Kontrolle der Wahlen, Kontrolle der Medien, absolute Macht, vollständige Verwirklichung der Volkssouveränität, dauerhafte und manipulierte Wahlen, emotionale Diskurse, Polarisierung in „Wir“ und „die anderen“, Identität von Volkswillen und Anführer, ein hegemoniales Projekt als Basis von Politik, häufige Wahlen und Volksbefragungen. Wer die Listen vergleicht, kommt kaum umhin, den Terminus „populistische Demokratie“ als Paradoxon abzutun. Jedoch sagen die Merkmale wenig über die theoretische Symbiose von Populismus und Demokratie aus. Im ideationalen Begriffsverständnis offenbaren sich gewisse Friktionen. Erscheinen Populismus und Demokratie im Verständnis von Populismus als dünner Ideologie aufgrund perzipierter Institutionen- und Pluralismusfeindschaft unvereinbar (vgl. Müller 2016; Priester 2017), liegen Populismus und Demokratie aus Sicht der Stil-Definition auf unterschiedlichen Ebenen – sowohl demokratischer als auch nicht-demokratischer Populismus sind denkbar (vgl. Jesse und Panreck 2017; konzeptionelle Überlegungen zur Erfassung antidemokratischen Verhaltens bei Mannewitz 2018). Im Falle der Definition von Populismus als Logik des Politischen ist das Spannungsverhältnis komplexer und abhängig davon, ob Ernesto Laclaus oder Chantal Mouffes Denkweise rezipiert wird. Aus dem gemeinsam verfassten Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ gingen zwei theoretische Stränge hervor. Widmete sich Laclau der Bedeutung von Populismus als Logik des Politischen, entwickelte Mouffe das Modell agonaler Demokratie. Für Laclau steht die hegemoniale Verkettung loser Anliegen in populistische Forderungen durch einen leeren Signifikanten im Vordergrund. Mouffe indes betont die Vielfalt an Positionen in einer konfliktgeladenen politischen Öffentlichkeit als normatives Konstrukt zum Wandel des feindlichen Antagonismus in einen gegnerischen Agonismus. Die zwei Denkpfade bleiben einander aber verbunden, trotz aller Friktionen. Richtet Laclau sein Augenmerk auf die Konstruktionslogik sozialer Kollektive, wendet sich Mouffe einer normativ gedachten Absicherung des radikaldemokratischen Pluralismus zu (vgl. Hildebrand und Séville 2015, S. 28). Im Gegensatz zur normativ-poststrukturalistischen Denkweise Mouffes ist Laclaus Populismus­ modell nicht zwangsläufig an einen normativen Demokratiebegriff gebunden. Populismus kann immanent betrachtet sowohl mit Autoritarismus als auch mit Demokratie Hand in Hand gehen. Pointiert heißt es bei Hildebrand und Séville (2015, S. 36): „Der leere Ort kann genauso durch einen plebiszitären Autoritarismus oder durch einen ethnonationalistischen Diskurs hegemonisiert werden, deren leere Signifikanten durch die Person des Führers oder die vermeintliche Organizität eines

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Volkskörpers kompensiert und durch den Ausschluss eines identifizierbaren parasitären Anderen stabilisiert werden. Exakt diesen Bedrohungen der Demokratie sucht Mouffes agonistischer Pluralismus entgegenzutreten, indem essentialistische Freund-Feind-Unterscheidungen inkriminiert werden.“2

In ihren Plädoyers für einen linken Populismus greift Mouffe (2018) sichtbarer als zuvor auf Laclaus Populismusbegriff zurück. So knüpft sie an das von Laclau postulierte konstitutive Verhältnis zwischen Anführenden und Volk an. Letztgenanntes versteht Laclau nicht als ein organisches Ganzes, sondern als eine Verkettung hegemonialer Interessen. Ein geteilter Begriff oder ein gemeinsames Thema webt in der Funktion des (nahezu) leeren Signifikanten ein verbindendes Band durch die Vielfalt der Positionen. Selbst und gerade, wenn der leere Signifikant durch eine politische Führungsperson verkörpert wird, können loseste Anliegen unter Schaffung eines konstitutiven Außen zu einer Hegemonialkette verknüpft werden. Diese Konstruktion des „Volkes“ sowie die Identifikation dessen mit seinem Sprecher oder seiner Sprecherin als leeren Signifikanten markieren das Zentrum des Laclau’schen Denkens (vgl. Laclau 2006; 2007, S. 67–83; 2017, S. 235). Obwohl er keinen Hehl aus seiner Präferenz für linke politische Projekte macht, ist sein Modell zunächst programmatisch ungebunden (vgl. Žižek 2006, S. 554): Der Streit um Hegemonie ist ein immerwährender – und nicht etwa mit der Emanzipation der Arbeiterklasse verknüpft. In den Momenten, in der eine Hegemonie verkrustet und durch eine neue emanzipative Bewegung aufgebrochen wird – die Wurzeln im Denken Gramscis (1971) enthüllen sich –, ist das Politische lebendig. Ob in einem demokratischen oder nicht-demokratischen System – neue populistische Hegemonialketten weisen auf eine Repräsentationslücke auf der Angebotsseite der etablierten Kräfte hin: Sie sind taub gegenüber weiten Teilen der Bevölkerung. Für Mouffe (2007a) gießen Konsensstreben und das Negieren von Konflikten Wasser auf die Mühlen populistischer Akteure und Akteurinnen, die zum Sprachrohr der Ungehörten werden. Ist diesen erst eine Stimme gegeben – so die These –, mündet die neue Sichtbarkeit der bisher Anteillosen in demokratische Teilhabe (siehe auch eindrucksvoll Rancière 2014, S. 83–85). Zur Herstellung demokratischer Verhältnisse fordert Mouffe eine vibrierende öffentliche Sphäre, die Ausschlüsse überwindet und Konflikte zulässt (vgl. Mouffe 2007a, S. 41). Kommt

2Ausführlich

zur demokratischen Qualität des Laclauschen Volksbegriffs siehe Bedorf und Kissler in diesem Band. Wie diese gegen Laclau einwenden, existiert eine Logik des Politischen außerhalb des Populismus.

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dem Politischen so eine herausgehobene Kraft zu, tritt Mouffe zugleich für starke Institutionen zur Kanalisierung der Konflikte ein, etwa Parlamente (vgl. Mouffe 2007b, S. 16). Direktdemokratische Elemente können eine Strategie sein, sind aber kein zwingendes Moment von Demokratie (vgl. Mouffe 2018, S. 82). Die Denkerin grenzt sich von Michael Hardt, Antonio Negri und Paolo Virno ab, die einen Exodus aus den (staatlichen) Institutionen fordern (Mouffe 2014, S. 107–120). Das Ideal des Kommunismus verwirft sie: „Was es zu problematisieren gilt, ist die Vorstellung des ‚Kommunismus‘ an sich, weil damit fälschlicherweise die antipolitische Vision einer Gesellschaft konnotiert ist, in der Antagonismen eliminiert worden und Gesetze, der Staat und andere regulierende Institutionen irrelevant geworden sind. […] Antagonismen, Auseinandersetzungen und Uneindeutigkeit wird es in der Gesellschaft immer geben, und die Notwendigkeit von Institutionen, die sich mit ihnen befassen, wird niemals verschwinden. […] Daher gilt es, sich vom Mythos des Kommunismus als transparenter und versöhnter Gesellschaft – der eindeutig das Ende der Politik einschließt – zu verabschieden.“ (Mouffe 2014, S. 30 f.)

Den Staat versteht Mouffe folglich weder als rein bürokratisch noch kommunitaristisch begründet. Welche Werte institutionalisiert werden, ist Ergebnis des politischen Streits von Staatsbürgern, die in der Achtung von demokratischen Spielregeln eine gemeinsame politische Identität ausbilden (vgl. Bruell und Mokre 2018, S. 28 f.). Jenseits dieser Reflexionen des Politischen, des Populismus als seiner Logik und der demokratischen Zähmung hegemonialer Prozesse bleiben Laclau und Mouffe jedoch vage. Insbesondere Mouffes normative Reflexion über eine neue liberale Demokratie wirft Fragen auf: Welche Reformen liberaler Demokratie müssten folgen, um die Konflikthaftigkeit des Politischen abzubilden? Wie müsste Populismus institutionell eingehegt werden, damit er sich in demokratischen Bahnen vollzieht? Es sind eben diese Fragen, die für Kaltwasser, Taggart, Ochoa Espejo und Ostiguy Dringlichkeit entfalten. Es geht ihnen zuvorderst darum, wie Populismus gestaltet sein muss, damit er dem demokratischen Anspruch gerecht wird (vgl. Kaltwasser et al. 2017, S. 18). Solange Antworten auf diese Fragen fehlen, gilt die Ambivalenz von Populismus und Demokratie (vgl. statt vieler Tormey 2018, S. 270 f.). Populismus kann Gruppen eine Stimme verleihen, die sich nicht repräsentiert fühlen, und Themen außerhalb des Sichtfeldes der Eliten benennen. Ferner fördert Populismus die politische Lösung von Konflikten, statt diese der ökonomischen oder juristischen Sphäre zu überlassen. Schließlich kann Populismus die öffentliche Debatte beleben. Zugleich birgt er die Gefahr, die institutionelle Säule der Demokratie

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zugunsten der Volkssouveränität auszuhöhlen. Das Berufen auf Mehrheiten kann Minderheitenrechte verletzen. Im Zuge von Regierungsbildungen erschwert die mögliche neue Konfliktlinie zwischen populistischen und nicht-populistischen Akteuren und Akteurinnen das Schmieden von Koalitionen. Ohnehin sind Kompromisse aufgrund des populistischen Stilmittels der Moralisierung von Konflikten erschwert (vgl. Mudde und Kaltwasser 2012, S. 20–22). Wie bereits die Auflistung nahelegt, scheint der Einfluss populistischer Parteien und Bewegungen von ihrer Rolle als Oppositions- oder Regierungskraft abhängig. So hatten Mudde und Kaltwasser schon 2012 die Hypothesen aufgestellt, Populismus zeige in der Opposition sowohl in konsolidierten als auch in unkonsolidierten Demokratien eher positive Effekte, als Regierungspartei in konsolidierten Demokratien eher negative Effekte, in nicht konsolidierten Demokratien erheblich negative Effekte (vgl. Mudde und Kaltwasser 2012, S. 25). Klaus von Beyme pflichtet dem gut ein Jahrfünft später zumindest mit Blick auf wenig konsolidierte Demokratien bei: Sieht er die negativen Effekte des Rechtspopulismus auf die liberalen Demokratien Westeuropas als gering an, erscheint ihm der osteuropäische Rechtspopulismus durchaus ruinöses Potenzial zu entfalten (vgl. Beyme 2018, S. 106). Ferner ist das Unterscheiden in Regierungsund Nichtregierungskraft in Komparation von Links- und Rechtspopulismus gleichermaßen überzeugend, so Yascha Mounk: „In the face of the populists’ claim to be the sole representatives of the popular will, politics quickly becomes an existential struggle between the real people and their enemies. For that reason, populists on both the left and the right are likely to turn increasingly illiberal as their power grows. Over time, they come to regard anybody who disagrees with them as a traitor and conclude that any institution that stands in their way is an illegitimate perversion of the people’s will“ (Mounk 2018, S. 46).

Mit Blick auf Lateinamerika – langjähriger Hochburg linkspopulistischer Regierungen – bestätigt de La Torre (2016a, S. 73 f.) die Differenz zwischen Oppositions- und Regierungszeiten: Außerhalb der Regierungsverantwortung trugen die linkspopulistischen Kräfte zur Inklusion marginalisierter Bevölkerungsgruppen bei, indem sie neue Identitäten konstruierten. Sie ließen sich im Zuge von Wahlen ins Amt heben. Dort angelangt, offenbarte der linke Populismus seine autoritäre Seite. Die öffentliche Sphäre und die zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden ebenso kontrolliert wie die Ergebnisse von Wahlen. Die Nähe zum Schmitt’schen Freund-Feind-Denken schlug sich in der mystifizierten Vorstellung eines homogenen Volkes nieder – freilich zuvorderst in Ecuador und Venezuela, weniger in Bolivien.

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4 Rechtspopulismus in Europa und Lateinamerika Die elektorale Stärke rechtspopulistischer Parteien in nahezu allen Staaten Europas wirft Fragen nach Ursachen auf. Der Forschungsstand unterscheidet weithin drei Dimensionen zur Erklärung der Wahlerfolge: Die soziokulturelle Dimension richtet ihr Augenmerk auf die (neue) Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus (vgl. Merkel 2016). Neigt der Kosmopolitismus zu globalisierter Ökonomie, kultureller Liberalisierung, offenen Grenzen und supranationaler Governance, stärkt der Kommunitarismus den Solidaritätsgedanken auf lokaler oder nationaler Ebene – Grenzen erscheinen als Schutz, besonders des Sozialstaats (vgl. Nölke 2017, S. 77). Gilt in Deutschland etwa die Partei die Grünen als kosmopolitisch, projiziert sich die AfD als ihr kommunitaristischer Kontrapart (vgl. Jesse 2019, S. 119). Unter die sozioökonomische Dimension fallen die Enttäuschungen jener, die sich vom Sozialstaat vernachlässigt fühlen oder soziale Deprivation fürchten. Als Verlierer und Verliererinnen in Zeiten von Modernisierung und technologischem Fortschritt kehren sie der traditionellen Sozialdemokratie zugunsten rechtspopulistischer Kräfte den Rücken (vgl. Decker und Lewandowsky 2017, S. 27; eindrucksvoll Eribon 2010). Die politischgesellschaftliche Dimension prangert Konsensdenken und mangelnde Unterscheidbarkeit der (Volks-)Parteien an (vgl. Mouffe 2014). Sofern die Elite als abgehoben und selbstreferenziell wahrgenommen wird, haben a­ nti-elitäre Rhetorik und Verweise auf den „gesunden Menschenverstand“ leichtes Spiel. Was die rechtspopulistischen Parteien Europas eint, sind ihre Skepsis gegenüber der Europäischen Union auf der vertikalen Ebene („Elitenkritik“) sowie ihre Versuche, das Volk horizontal gegenüber „Fremdem“ abzugrenzen, etwa anhand der Kategorien race und gender (vgl. zur Intersektionalität beider Ajanovic et al. 2018, S. 643–650). Im Vordergrund steht das Polemisieren gegen Migration – in Frankreich und den Niederlanden gehörte es gewissermaßen zur Gründungs-DNA des Front National (heute Rassemblement National) und Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (PVV). In den nordischen Ländern stand sie allerdings zunächst im Schatten einer tief greifenden Kritik am Zustand des Wohlfahrtsstaates und dem Steuersystem (vgl. Taggart 2017, S. 251 f.). Auch in Deutschland war die AntiMigrationsrhetorik zunächst zweitrangig (vgl. Berbuir et al. 2015, S. 171–173). Die Partei hatte sich in erster Linie aus Protest gegen die europäische Währungspolitik gegründet, weshalb ihr Charakter als „rechtspopulistisch“ vorläufig umstritten war (vgl. Decker 2016, S. 9–13). Das gemeinsame Thema „Immigration“ darf somit keineswegs über nationale Differenzen hinwegtäuschen: Insbesondere in den Niederlanden und Frankreich

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offenbart sich die anti-Immigrationshaltung in tief verwurzelter Islamophobie (vgl. Taggart 2017, S. 251 f.). In Belgien indes geht das Schüren von Angst gegen Migration Hand in Hand mit Segregationstendenzen. Die Partei Vlaams Belang nährt sich in weiten Teilen von einer flämischen Identität in Abgrenzung gegenüber dem „Fremden“ in Form von Migrantinnen und Migranten sowie in Gestalt des wallonischen Südens des Landes (vgl. Rochtus 2019, S. 235 f.). In Italien überwiegen seit Matteo Salvinis Neuausrichtung der Partei Lega (Nord) 2013 die Feindbilder Migration und Islam gegenüber einstiger segregationistischer Abgrenzung gegenüber dem Süden (vgl. Grasse und Grimm 2019, S. 331 f.). In den jüngeren Demokratien Osteuropas spielen nationale Identitätsprobleme eine dringliche Rolle: Hetze gegen Immigration und Minderheiten tifft auf junge Parteiensysteme, schwächere Institutionalisierungsgrade und von doppelter Modernisierungswucht getroffene Bevölkerungen – die Transformationserfahrungen der frühen 1990er wirken nach (vgl. Beyme 2018, S. 63–69). Mit Blick auf die Regierungsbeteiligung rechtspopulistischer Parteien offenbart sich ein gemischtes Bild. In Osteuropa stellen rechtspopulistische Kräfte mit Viktor Orbans Fidesz (1998–2002, seit 2010) in Ungarn sowie der Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) von Jarosław Kaczyński in Polen (2015 bis 2019 in Alleinregierung) die Regierung. In Westeuropa sorgten die Beteiligungen der FPÖ an den Kabinetten Schüssel I und II 2000 bis 2005 sowie Kurz I 2017 bis 2019 auch jenseits der österreichischen Grenzen für Aufsehen. Außerhalb Europas wurde Donald Trump für zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter überraschend zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt – trotz des antidemokratischen Potenzials, das ihm Steven Levitsky und Daniel Ziblatt nachweisen (vgl. Levitsky und Ziblatt 2018). Beleidigende und verletzende Sprache sei indes nicht erst mit Trump in die nordamerikanische Debatte eingezogen, argumentiert Oscar Winberg, diese Form rechtspopulistischer Agitation bereits vor Trumps Wahlerfolg findend (vgl. Winberg 2017). Die genannten Beispiele widersprechen der Absicht, rechtspopulistische Kräfte aus politischer Regierungsverantwortung fernzuhalten. Die Strategie des „cordon sanitaire“ gilt indes nicht weltweit als erste Wahl im Umgang mit Rechtspopulismus. Abgesehen von Schweden spielte ein solcher in den nordischen Ländern kaum eine Rolle: Zwischen 2001 und 2011 sowie 2015 und 2019 unterstützte die Dänische Volkspartei die Mitte-Rechts-Minderheitsregierungen Dänemarks. In Finnland gelangten die ­ Wahren Finnen 2015 in Regierungsverantwortung, allerdings spaltete sich die Partei nach nur zwei Jahren. Tradition hat die Unterstützerrolle rechtspopulistischer Parteien in Norwegen: Von 1997 bis 1998 sowie 2001 bis 2005 trat die Fortschrittspartei als Dulderin der Mitte-Rechts-Minderheitskoalition

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auf. 2013 wurde sie Teil einer Minderheitskoalition, wobei die Partei 2017 die Wiederwahl erreichte (ausführlich bei Jochem 2019, S. 277–287). Galt Lateinamerika lange als weißer Fleck auf der Karte des Rechtspopulismus, änderte sich dies mit der Wahl Jair Bolsonaros zum Präsidenten Brasiliens im Herbst 2018. In der Tat hatte Bolsonaro mit seiner emotionalen, pauschalisierenden Elitenkritik einen erfolgreichen Wahlkampf geführt – wie kein anderer Kandidat beherrschte er die sozialen Medien, insbesondere Twitter und Facebook. Da die ihn unterstützende Kleinstpartei Partido Social Liberal kaum Zugang zu offiziellen Werbezeiten in Radio und Fernsehen hatte, drängte sich dieses Vorgehen gewissermaßen auf (vgl. Maihold 2019). Obgleich die politische Karriere des Militäroffiziers bis in die 1980er Jahre zurückreicht und der ständige Parteiwechsler neun verschiedenen Parteien angehört hatte, gelang ihm die Inszenierung als Außenseiter, der weniger mit politischen Inhalten als mit scharfer Kritik an der „politischen Klasse“ punktete – zuvorderst bei männlichen Mittelschichtwählern ohne parteipolitische Bindung (vgl. Langevin 2017). Günther Maihold führt den Wahlerfolg daher weniger auf rechtspopulistische Überzeugungen in der Bevölkerung zurück als auf die Ablehnung der politischen Elite (vgl. Maihold 2019). Die tief greifende ökonomische Krise Brasiliens, eine Reihe an Korruptionsskandalen sowie die Unsicherheit auf den Straßen – die Zahl der Tötungsdelikte liegt deutlich über dem weltweiten Durchschnitt – verleihen dieser These Gewicht (vgl. Chagas-Bastos 2019, S. 93–95; Rovira Kaltwasser 2018). Bolsonaros fremden- und frauenfeindlichen Provokationen führten zu Vergleichen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte (vgl. Chagas-Bastos 2019; Rangel und Vinhaes Dultra 2018). Bolsonaros Regierungsamt steht auf wackeligen Füßen: In Anbetracht des zersplitterten Vielparteiensystems Brasiliens muss der Präsident in beiden Kammern um Mehrheiten werben – ein eigene solide Mehrheit hat er nicht (vgl. Maihold 2019).

5 Linkspopulismus in Lateinamerika und Europa Anders als in Europa sind linkspopulistische Kräfte in den Regierungen Lateinamerikas keine Seltenheit: Ob Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador – die als „radikale Populisten“ geltenden ehemaligen Präsidenten erlangten weltweite Aufmerksamkeit (vgl. La Torre 2017, S. 195). Die Ursachen ihres Erfolgs sind mannigfaltig. ­Korruptionsskandale erschütterten das politische Gefüge der Staaten – dies minderte das Vertrauen

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in Institutionen und trieb die Suche nach alternativen Demokratieformen an: „Traditional political parties collapsed as political outsiders rose to power on platforms that promised to eliminate corrupt politicians, use constitution making to revamp all existing institutions, experiment with participatory forms of democracy, abandon neoliberalism, strengthen the state, and implement policies to redistribute income“ (La Torre 2016b, S. 188). Das Missbehagen gegenüber der Politik in Form von Privatisierungen der 1980er und 1990er diente als Nährboden für einen linken Populismus. Hand in Hand hiermit ging die Perzeption der neoliberalen Politik als Ergebnis internationaler Integration. Hatten die nationalen Eliten nicht auf Druck der USA die eigene Souveränität an die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds (IWF) verkauft? Mit ihren Versprechen sozialer Gerechtigkeit und Solidarität unter den lateinamerikanischen Völkern sowie einer multipolaren Weltordnung jenseits US-amerikanischer Dominanz konnten die Linkspopulisten punkten (vgl. La Torre 2016b, S. 188 f.). Die Idee einer unabhängigen bolivarischen Gemeinschaft (und Identität) wurde zum neuen Sehnsuchtsort einer emotional gestalteten Politik (vgl. Bartra 2017, S. 136). So fußte die Popularität der Linkspopulisten auch auf dem Versprechen, die Grenzen des Volkes neu zu ziehen und zuvor exkludierte Gruppen zu berücksichtigen, insbesondere die indigene Bevölkerung. Neben sozioökonomischer Ungleichheit (vgl. Stavrakakis et al. 2016, S. 52) existierte in der Verteilung der Bürgerrechte nicht selten eine Lücke zwischen Verfassungsanspruch und -wirklichkeit: „In Latin America, there is a duality between the official recognition of rights in constitutions and the rhetoric of state officials and the weak implementation of these same rights in everyday life. The rule of law is tenuous at best; at worst, the law appears to serve only the interests of the powerful few“ (La Torre 2017, S. 208). Zuvorderst Morales in Bolivien verhalf der indigenen Bevölkerung zur Teilhabe an den politischen Konflikten der Öffentlichkeit, indem er indigene zivilgesellschaftliche Organisationen ebenso förderte wie indigene Kandidatinnen und Kandidaten bei Wahlen. Sein Programm entsprach dem Durst nach postkolonialer Gerechtigkeit (vgl. La Torre 2016b, S. 189–191). Mit Blick auf die Kategorie Geschlecht für die Neukonstruktion des „Volkes“ offenbart eine Studie von Mudde und Kaltwasser (2015, S. 35 f.) ein widersprüchliches Ergebnis. Einerseits zeigten die Linkspopulisten im gemeinhin recht patriarchalen Diskurs Lateinamerikas sexistisches und traditionelles Verhalten, andererseits gäben sie sich mit Blick auf Geschlechterpolitik progressiv. Mithin, so die Autoren, gingen die Forderungen aber nicht über den Status quo der (nord-)europäischen Geschlechterverhältnisse hinaus.

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Mündet die Konstruktion des Volkes in Homogenisierung, wie von Gratius und Rivero (2018, S. 41) befürchtet? De la Torre zieht ein gespaltenes Fazit. Die Praxis des Venezolaners Chávez überdehnte den Einheits- und Unteilbarkeitsgedanken. Zugleich ist in Bolivien eine gewisse Pluralität des Volkes sogar in der Verfassung angelegt, die den bolivianischen Staat als plurinational und kommunitaristisch definiert. Dennoch neigte auch der langjährige Präsident Morales dazu, sich als einziger Vertreter des Volkes zu inszenieren. Kritische Stimmen galten nicht selten als vom Ausland gesteuert (vgl. La Torre 2016b, S. 191). Mit Aufflammen der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2009 schien auch in Europa der Nährboden für linkspopulistische Parteien gegeben (vgl. March 2011, S. 121). Entstand nicht jenes sozioökonomische Pulverfass, das der Neoliberalismus in Lateinamerika schon in den 1990ern entzündet hatte? Wer den Erfolg linkspopulistischer Parteien einzig anhand eines Überdrusses nicht-sozialistischer Wirtschaftssysteme messen will, greift zu kurz. Mobilisierend wirkt auch, was Priester unter den Begriff „Partikularismus“ fasst: das Abrücken vom Universalismus auf der philosophischen und von neoliberaler Globalisierung auf der politischen Ebene (vgl. Priester 2017, S. 54). Es tut sich ein Paradoxon auf, gilt der Linkspopulismus doch als inklusiv und die Grenzen des „Volkes“ ausweitend – anders als sein rechtspopulistischer Gegenpol, der das „Fremde“ zu dämonisieren scheint. Nölke will den theoretischen Widerspruch auflösen, indem er die kommunitaristische Idee in eine linke und eine rechte Variante aufsplittet – so müsse das Bestehen auf eine Solidargemeinschaft nicht in Ausschluss münden (vgl. Nölke 2017, S. 77–83). Das Erstarken linkspopulistischer Bewegungen im Zuge und nach der Krise lässt die sozioökonomische These zunächst von Gewicht erscheinen: Aus dem 2004 geschmiedeten griechischen Wahlbündnis Syriza ging im Jahr 2012 die gleichnamige Partei hervor, die italienische Bewegung Movimento 5 Stelle gründete sich im Jahr 2009, die spanische Bewegung Podemos im Jahr 2014, La France Insoumise im Jahr 2016. Alle vier Parteien protestierten gegen staatlich verordnete Austeritätspolitik, für die sie Parteien in der Mitte des politischen Spektrums ebenso verantwortlich machten wie die repräsentierenden Institutionen des internationalen Kapitals, die Macht der Banken und die globale Wirtschaft (vgl. Damiani 2019, S. 296; Drake 2018; ferner Stavrakakis und Katsambekis 2014). Im Falle von La France Insoumise und Podemos offenbaren sich Verbindungen zum lateinamerikanischen Linkspopulismus. Jean-Luc Mélenchon habe Maduros Regime verteidigt und bei Íñigo Errejón wird eine Bewunderung für Morales festgestellt (vgl. Kaltwasser 2018).

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Bemerkenswert: Traditionelle linkspopulistische Parteien – etwa die Partei Die Linke in Deutschland oder die Socialistische Partij in den Niederlanden – konnten kaum von der Krise profitieren (vgl. Katsambekis und Kioupkiolis 2019, S. 3). Die Einordnung beider als linkspopulistisch ist umstritten. Mit Blick auf die Partei Die Linke gilt dies für die Wissenschaft wie die innerparteiliche Wahrnehmung (vgl. March 2011, S. 118 f.; Priester 2017, S. 54). Auch im Falle der italienischen Movimento 5 Stelle scheiden sich die Geister (vgl. Drake 2018, S. 57 f.). Allerdings steht hier nicht der populistische Charakter per se, sondern die ideologische Ausrichtung auf der Links-Rechts-Achse auf dem Prüfstand: Ihr Flirt mit der rechtspopulistischen UKIP auf EU-Ebene und die restriktiven Positionen in Fragen von Flucht und Migration verbinden sie mit rechtspopulistischen Parteien (vgl. Priester 2017, S. 55). Welche Rolle spielen Partikularismus und Gemeinschaft für den europäischen Linkspopulismus? In einer europaweiten vergleichenden Fallstudie kontrastierten Andrés Santana und José Rama das Elektorat „linker“ und „linkspopulistischer“ Parteien. Ihr Ergebnis: Wer eher gegen supranationale Organisationen und gegen Immigration ist, votiert eher für linkspopulistische als für linke Parteien (vgl. Santana und Rama 2018, S. 565). Wie qualitative Fallstudien ergeben, scheinen die Motive hierfür jedoch weniger in einer latenten Fremdenfeindlichkeit denn im Hang zum Souveränitätsgedanken zu liegen. Britische linkspopulistische Kräfte berufen sich in erster Linie auf ökonomische, nicht politische Souveränität (vgl. March 2017, S. 295). Auch Griechenland attestiert Chryssogelos ein weit verbreitetes Gefühl des Ausverkaufs von Souveränität durch nationale Eliten (vgl. Chryssogelos 2017, S. 480). In Osteuropa weisen populistische Parteien indes Schlagseite zum Nationalismus auf: Verbreitet seien nationalistische populistische Parteien mit linken Einsprengseln (vgl. March 2011, S. 141–148). Der Linkspopulismus, resümiert Luke March, kennt das „gefährliche Andere“ auf der horizontalen Ebene nicht und richtet sein Augenmerk auf die Inklusion der Ausgeschlossenen (vgl. March 2017, S. 298). Wie weit diese Inklusion gehen soll, ist in der Praxis jedoch umstritten. Für Dispute sorgt die Frage, welche Konsequenzen aus dem inklusiven Volksverständnis für die Bedeutung staatlicher Grenzen zu ziehen sind. Im Sommer 2018 sorgte dies etwa für hitzige Debatten innerhalb der Reihen der deutschen Partei Die Linke. Zwar verabschiedete sie unter Federführung von Bernd Riexinger und Katja Kipping mehrheitlich ein Papier gegen Abschiebungen und für „offene Grenzen“ (vgl. Die Linke 2018), doch widersprach die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht dieser Linie. Die Aufstehen-Gründerin lehnt offene staatliche Grenzen jenseits der Aufnahme von Asylsuchenden ab (vgl. Wagenknecht 2018).

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6 Wann Links-, wann Rechtspopulismus? Trotz der zahlreichen Versuche, Populismus definitorisch zu fassen oder seinen politischen Kern offenzulegen, sind Erklärungsansätze rar, warum mal der linke, mal der rechte Populismus überwiegt. Dies mag auch in der Vorliebe der Politikwissenschaft für die wenig abstrakte Mesoebene wurzeln (vgl. statt vieler Beyme 2006). Die wohl prominentesten globalen Ansinnen, Ursachen für die ideologische Ausprägung des Populismus zu finden, stammen denn auch aus der Ökonomie bzw. politischen Ökonomie. Aufsehen im deutschen Wissenschaftsdiskurs erregte die Studie Philip Manows. Populistischer Protest richte sich in Südeuropa „linkspopulistisch eher gegen die ‚neoliberale‘ Wirtschaftsordnung, also die freie Bewegung von Gütern und Kapital, sowie die fiskalpolitische Zurückhaltung des Staates (‚Austerität‘); in Nordeuropa eher gegen Migration, also rechtspopulistisch gegen die freie Bewegung von Personen (vgl. Manow 2018, S. 20). In Großbritannien und Osteuropa erhalte ferner die These der „Abgehängten“ Gewicht, besonders in strukturschwachen ländlichen Regionen (vgl. Manow 2018, S. 21, 118, 130). Manow schließt seine Studie über Europa an den globalen Vergleich Dani Rodriks (2018) an. Nährboden für populistische Akteure – egal welcher Spielart – sind für Rodrik technologischer Wandel, Märkte, die nach dem Motto „the winner takes it all“ funktionieren, Erosion des Arbeitnehmerschutzes sowie große Lohnunterschiede. Die einzelnen Merkmale seien mit der Globalisierung verknüpft und riefen eine populistische Reaktion hervor (­„Backlash-These“) (vgl. Rodrik 2018, S. 13). Zugleich lassen sich die gesellschaftliche Konflikte in Zeiten der Globalisierung auf zwei Dispute verdichten: erstens, eine ethnonationale-kulturelle, zweitens eine einkommensbasierte Klassenkonflikt­ linie. Beide nutzen populistische Kräfte angebotsseitig zur Mobilisierung des Elektorats: Der Rechtspopulismus greife auf die identitätsbasierte Linie zurück und erkläre Ausländerinnen und Ausländer sowie Minderheiten zu Sündenböcken für die negativen Folgen der Globalisierung, Linkspopulistinnen und -populisten betonten indes den Klassenkonflikt und beschuldigten die reiche Elite und große Unternehmen. Welche Botschaft auf höhere Resonanz stoße, bestimme die Perzeption der Globalisierung im Alltag der Wählerinnen und Wähler: Wird die Globalisierung über die Sichtbarkeit von Migration erfahrbar, stärkt dies den Rechtspopulismus. Nehmen die Wählerinnen und Wähler sie als Finanzkrise und Programme der internationalen Institutionen zur Regelung der Ökonomie (etwa IWF) wahr, erhält der Linkspopulismus Aufschwung. Da Globalisierung in Lateinamerika und Südeuropa als „Haifischkapitalismus“ perzipiert wird, punkte

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in diesen Ländern der Linkspopulismus. Im restlichen Europa indes trete Globalisierung in erster Linie durch Migration in die Öffentlichkeit, weshalb hier der Rechtspopulismus reüssiere. Die USA versteht der Ökonom als Sonderfall, da hier beide Gesichter der Globalisierung für starken Links- und Rechtspopulismus sorgten (vgl. Rodrik 2018, S. 24–27). In seiner Hinwendung zum Populismus erhebt Rodrik nicht den Anspruch, die ganze Wahrheit zu erfassen. Er strebt an, zentrale Mechanismen zur Erklärung von empirischen Beobachtungen ausfindig zu machen. Gegenbeispiele führen sohin nicht zur Widerlegung des Modells (vgl. Rodrik 2017, S. 89–110). Modelle reüssieren, indem sie Komplexität reduzieren. Zugleich haben sie ihren Preis. Bei Rodrik schleicht sich ein gewisser Hang zur Monokausalität ein. Obgleich der Autor zwischen einer soziokulturellen und einer sozioökonomischen Konfliktlinie unterscheidet, ist die tief greifende Ursache für ihn ökonomisch bedingt: „What may look like a racist or xenophobic backlash may have its roots in economic anxieties and dislocations“ (Rodrik 2018, S. 25). Offen bleibt die Frage, welches Gewicht der gesellschaftlich-politischen Dimension für das Entstehen von Linksoder Rechtspopulismus zukommt. Sie umfasst – wie oben ausgeführt – das Konsensstreben in der Elite sowie die mangelnde Unterscheidbarkeit der Parteien. Der als homogen und abgehoben charakterisierten Elite wird mithin eine gewisse ideologische Schlagseite unterstellt. So ruhte der Erfolg Chávez’ im Venezuela der 1990er Jahre auch auf der Perzeption der Elite als „neoliberaler Block“. In Deutschland wettert die AfD mobilisierend gegen das Bild einer „linken/grünen Elite“. Sofern anstelle eines ideationalen Populismusverständnisses die Überlegungen von Laclau und Mouffe ins Feld geführt werden, drängt sich überdies die Frage nach der Bedeutung des politischen Systems auf. Die Führungsperson und deren Konstruktion des „Volkes“ stehen im Zentrum von Laclaus Populismustheorie. In der politischen Praxis hängt die Intensität der Beziehung von „Volk“ und seinen Sprecherinnen und Sprechern von der Organisation des Regierungssystems als parlamentarisch oder präsidial ab. Obwohl Personalisierungen – etwa in Wahlkämpfen – in beiden Systemen verfangen, geht das Maß an Identifikation mit einer Spitzenpolitikerin oder einem Spitzenpolitiker in präsidialen über das in parlamentarischen Regierungssystemen hinaus (vgl. Holtz-Bacha et al. 2014, S. 164–168). Hängt die Existenz eines Populismus also von der Beziehung von „Volk“ und seinen Sprecherinnen und Sprechern ab, so ist ein Erfolg in Präsidialsystemen, wie sie in Lateinamerika vorherrschen, wahrscheinlicher als in parlamentarischen Systemen. Mouffes Plädoyer für einen linken Populismus trifft daher in den meisten europäischen Regierungssystemen auf porösen Grund – ist auch hierin eine Ursache für das schwache Abschneiden von „Aufstehen“ und seinem Gesicht Sahra Wagenknecht zu sehen?

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7 Ausblick – Umschlagen der Hegemonien? Dominanz des Linkspopulismus in Lateinamerika, Dominanz des Rechtspopulismus in Europa – zwar verbietet der Blick in die Empirie dichotomes SchwarzWeiß-Denken, aber der Tendenz nach ist die These unbestritten. Ist ein Umschlagen der jeweiligen Hegemonie zu erwarten? Das Scheitern des letzten der drei großen lateinamerikanischen Linkspopulisten sowie der Wahlerfolg Bolsonaros in Brasilien befeuerten Debatten um eine rechtspopulistische Wende Lateinamerikas – die zahlreichen Friktionen auf dem Kontinent freilich unterschätzend. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wende gilt als gering, trotz des teils schwachen Abschneidens der politischen Linken in Wahlen und Umfragen (vgl. Main und Codas 2016; Rovira Kaltwasser 2018). Auch zeigte Bolsonaro dem Vertiefen der lateinamerikanischen Vernetzung bislang die kalte Schulter – seine erste internationale Reise führte ihn nicht, wie traditionell üblich, nach Argentinien, sondern in die USA, die er als natürliche Verbündete sieht (vgl. Chatin 2019, S. 116). Als Primat seiner Außenpolitik nennt er die Verbesserung von Wirtschaftsbeziehungen – insbesondere mit der nordamerikanischen Supermacht (vgl. Maihold 2019). Außerhalb Brasiliens finden sich in Argentinien mit Mauricio Macri und in Chile mit Sebastián Piñera zwar konservative, aber nicht rechtspopulistische Politiker (vgl. Rovira Kaltwasser 2018). Nach den ersten Monaten im Amt scheint Bolsonaro jedoch mit dem letztgenannten einen engeren Kontakt pflegen zu wollen (vgl. Maihold 2019). Dennoch – so Kaltwasser (2018) – fehle in Lateinamerika (jenseits des brasilianischen Sonderfalls) der Nährboden für Rechtspopulismus, da sozioökonomische Konflikte das im europäischen Rechtspopulismus vorherrschende Thema der Migration marginalisierten. Seit 2015 wirbt Chantal Mouffe für einen linken Populismus in Europa – sieht es sich nicht mit der Krise des Kapitalismus inmitten eines populistischen Moments? Gilt die Absage an den Neoliberalismus im Lateinamerika der späten 1990er als Nährboden für die langjährigen linkspopulistischen Regime Boliviens, Ecuadors und Venezuelas, feiern linkspopulistische Kräfte in Europa nur selten elektorale Erfolge. In Frankreich gewann Mélenchon bloß schwache sieben Prozent bei der Präsidentschaftswahl 2017. In Deutschland scheiterte Sahra Wagenknechts Versuch, mit „Aufstehen“ ein schlagkräftiges linkspopulistisches Bündnis zu schmieden (vgl. Rucht 2019, S. 17 f.). Die Mehrheit des am 7. Januar 2020 gewählten spanischen Regierungschefs Pedro Sánchez und seines Bündnisses aus PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und Podemos ist hauchdünn. Abgesehen von Griechenland sowie mit Abstrichen der ideologisch schwammigen Fünfsterne-Bewegung in Italien konnten sich bisher keine

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l­inkspopulistischen Regierungen etablieren. Ein Umschlagen der Stärke des Rechtspopulismus zugunsten linkspopulistischer Kräfte in Europa ist derzeit nicht absehbar.

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Populismus in der politischen Theorie Manon Westphal

1 Einleitung In der politischen Theorie sind Auseinandersetzungen darüber, was Populismus ist, eng verzahnt mit Auseinandersetzungen über die normative Frage, was Populismus für die Demokratie bedeutet. Liberale Theoretiker*innen und radikaldemokratische Theoretiker*innen kommen zu unterschiedlichen Urteilen über die Kompatibilität von populistischer Politik mit Demokratie – zum Teil, weil sie Populismus unterschiedlich definieren und zum Teil, weil sie unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was demokratische Politik auszeichnet. Dieser Beitrag stellt drei einschlägige politiktheoretische Perspektiven auf Populismus vor (Abschn. 2) und arbeitet die Gründe für die divergierenden normativen Urteile über das Verhältnis von Populismus und Demokratie heraus (Abschn. 3). Anschließend werden Perspektiven für eine mögliche Weiterentwicklung der politiktheoretischen Debatte über Populismus konturiert (Abschn. 4). Erstens sollte die Auseinandersetzung über Möglichkeiten eines demokratischen Populismus weiterentwickelt werden. Wie exemplarisch anhand der Positionierungen von Jan-Werner Müller und Chantal Mouffe gezeigt wird, ist die diesbezügliche Debatte bisher unbefriedigend. Von der einen Seite wird die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung populistischer Politikformen verneint, indem schlicht eine notwendige Verbindung von Populismus und Anti-Pluralismus postuliert wird. Von der anderen Seite wird das produktive Potenzial eines Linkspopulismus behauptet, ohne dass die Charakteristika eines solchen Populismus ausbuchstabiert oder die politischen Effekte, anhand derer der demokratische Charakter M. Westphal (*)  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_8

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populistischer Politik zu bemessen wäre, beschrieben werden. Zweitens sollte die politiktheoretische Debatte vermehrt Ergebnisse aus der Populismusforschung zu Ursachen des Erfolgs populistischer und aktuell insbesondere rechtspopulistischer Akteur*innen berücksichtigen, um das Verhältnis zwischen Populismus und Demokratie weniger abstrakt und stärker unter Berücksichtigung der konkreten gesellschaftspolitischen Kontexte des gegenwärtigen „populist moment“ (z. B. Galston 2017; Mouffe 2019) reflektieren zu können.

2 Politiktheoretische Perspektiven auf Populismus Es lassen sich grob drei Positionen zum Populismus in der politischen Theorie unterscheiden (Jörke und Selk 2017, S. 127 ff.). Der ersten Position zufolge ist Populismus ein ambivalentes Phänomen. Repräsentativ für diese Position ist Margaret Canovans Argument, demzufolge populistische Politik zwar oft in Konflikt steht mit demokratischen Prinzipien, aber anzeigt, wenn das Spannungsverhältnis zwischen zwei konträren Logiken der Demokratie aus der Balance geraten ist. Demgegenüber argumentieren Theoretiker*innen innerhalb des Spektrums liberaler politischer Theorien, wie insbesondere Nadia Urbinati und Jan-Werner Müller, dass populistische Politik etwas prinzipiell Gefährliches für die Demokratie ist. Die gegenteilige Einschätzung findet vor allem im Feld radikaler Demokratietheorien eine Stimme: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe argumentieren, dass populistische Politik ein wichtiges demokratisches Potenzial hat. In diesem Abschnitt werden die Kernideen dieser drei Positionen dargestellt.

2.1 Populismus als ambivalentes Phänomen Margaret Canovan stellt fest, dass es nicht möglich ist, den Populismus über die Spezifizierung einer politischen Ideologie zu definieren. Anders als die ideologischen „Ismen“ wie der Sozialismus, der Liberalismus oder der Nationalismus zeichne sich der Populismus nicht durch ein Set von Prinzipien oder politischen Zielen aus, das die mit diesem Begriff bezeichneten politischen Phänomene teilen (Canovan 2005, S. 78 f.). „Populism does not fit this pattern. There is no acknowledged common history, ideology, programme or social base, and the term is usually applied to movements from outside, often as a term of abuse.“ (Canovan 2005, S. 79) Das einzige Merkmal, das die diversen „Populismen“ eint, ist ein diskursives – nämlich der Bezug auf „das Volk“ als die letztgültige Quelle legitimer politischer Herrschaft (Canovan 2005, S. 80). Canovan stellt die Frage

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in den Mittelpunkt, warum politische Akteur*innen regelmäßig auf der Klaviatur des populistischen Diskurses spielen und politische Forderungen unter Bezugnahme auf die Souveränität „des Volkes“ artikulieren. „How is it that populists who are widely regarded as threats to democracy can claim that they themselves are the real democrats, expressing what the people really think and articulating concerns ignored by politicians but close to the people’s hearts?“ (Canovan 2005, S. 83). Canovan argumentiert, dass die Demokratie zwei „Gesichter“ hat. Das eine ist das erlösende („redemptive“) Gesicht, das andere ist das pragmatische Gesicht (Canovan 1999, S. 8). Canovan nimmt hier Bezug auf Michael Oakeshott und dessen These, dass europäische Politik charakterisiert ist durch eine Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Logiken, nämlich einer „politics of faith“ und einer „politics of scepticism“ (Canovan 1999, S. 8). Während die Politik des Glaubens – und zwar unabhängig davon, ob sie durch religiöses oder säkulares Denken fundiert ist – Regierungshandeln die Fähigkeit zuschreibt, Perfektion und Erlösung herbeizuführen, hat die Politik des Skeptizismus ein solches Zutrauen nicht und richtet sehr viel moderatere Erwartungen an Regierungshandeln, wie etwa den Erhalt von politischer Ordnung und eine Einhegung politischer Konflikte (Canovan 1999, S. 8). Canovan greift diese Unterscheidung für ihre Charakterisierung der beiden Gesichter der Demokratie auf. Einerseits ist die Demokratie eine Erlösungsvision („redemptive vision“), die das Erreichen von Perfektion unter der Bedingung für möglich erachtet, dass das Volk seine Geschicke selbst in die Hand nimmt (Canovan 1999, S. 10). Andererseits ist die Demokratie eine pragmatische Regierungsform, die ein komplexes Konstrukt von Regeln und Praktiken umfasst, das erforderlich ist, um die Konflikte in modernen Gesellschaften unter Kontrolle zu halten (Canovan 1999, S. 10). Canovan argumentiert, dass die Demokratie auf beide Logiken angewiesen ist. Demokratische Wahlen etwa sind in pragmatischer Hinsicht ein gewaltfreier Weg, politische Macht zu verteilen, während sie gleichzeitig auch ein Ritual demokratischer Erneuerung verkörpern (Canovan 1999, S. 11). Ohne den inspirierenden und mobilisierenden Glauben an die Möglichkeit demokratischer Erneuerung würden Wahlen und andere demokratische Institutionen geschwächt und an Legitimität einbüßen (Canovan 1999, S. 11). Für Canovan besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem zweigesichtigen Wesen der Demokratie und dem Aufkommen populistischer politischer Artikulationsformen. Wenn die spannungsreichen Logiken aus der Balance geraten und das pragmatische Gesicht dominiert, füllen populistische Akteur*innen, die Politik im Sinne der vox populi-Logik betreiben, das Vakuum auf der Erlösungsseite. „When too great a gap opens up between haloed

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democracy and the grubby business of politics, populists tend to move on to the vacant territory, promising in place of the dirty world of party manoeuvring the shining ideal of democracy renewed“ (Canovan 1999, S. 11). Damit bietet Canovan eine Erklärung für das wiederkehrende Aufkommen des Populismus an. Weil die Spannung zwischen den zwei Gesichtern konstitutiv ist für die Demokratie und somit stets die Gefahr eines Ungleichgewichts besteht, wird der Populismus, welcher sich von diesem Ungleichgewicht nährt, selbst etablierte Demokratien immer wieder heimsuchen (Canovan 1999, S. 14). Somit formuliert Canovan eine politiktheoretische Position, die keine Wertung des Populismus als ein eindeutig problematisches oder eindeutig produktives politisches Phänomen vornimmt. Einerseits steht der Anspruch populistischer Akteur*innen, die Stimme des Volkes unmittelbar und oft durch eine einzelne Person zu vertreten, in einem Konflikt mit demokratischen Prinzipien (Canovan 1999, S. 14). Andererseits spielt der Populismus eine wichtige Rolle für die Demokratie. Weil er die Erlösungslogik reaktiviert, wo die demokratische Praxis für eine überbordende Dominanz der pragmatischen Logik sorgt, ist er ein wichtiger Ausgleichsmechanismus für die Demokratie als ein sich selbst korrigierendes System. „[D]emocratic institutions need an occasional upsurge of faith as a means of renewal“ (Canovan 1999, S. 14).

2.2 Die kritische Perspektive Andere politische Theoretiker*innen stellen Gefahren des Populismus in den Vordergrund. Nadia Urbinati etwa warnt vor der Annahme, dass der Populismus demokratisch ist oder zu einer Verbesserung des demokratischen Charakters von bestehenden Demokratien beitragen kann (Urbinati 1998, S. 116). Im Gegenteil: Populismus verkörpert Urbinati zufolge eine radikale Infragestellung parlamentarischer Politik und sorgt für eine Entstellung („disfigurement“) der Demokratie (Urbinati 2014, S. 129). Die These, dass Populismus ein demokratisches Potenzial birgt, könne nur im Lichte einer populistischen Interpretation von Demokratie plausibel erscheinen. Nach dieser Interpretation dient Demokratie dazu, eine unmittelbare Identität zwischen Regierten und Regierenden herzustellen (Urbinati 1998, S. 116). Politische Institutionen wie Parlamente und Parteien, die den Willen des Volkes auf indirekte Weise vermitteln, sind aus dieser Sicht hinderlich, weil sie einer Artikulation der direkten Repräsentationsbeziehung zwischen Regierten und Regierenden im Wege stehen – „the populist

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leader bypasses intermediary associations, like parties and traditional media, and holds quotidian communication with ‚his people‘ in order to prove he is always identified with them“ (Urbinati 2019, S. 120). Mit dieser Idee einer direkten Repräsentationsbeziehung ist die Annahme verbunden, dass die politische Gemeinschaft über eine homogene Identität verfügt, die von den Regierenden unmittelbar abgebildet werden kann. Im Lichte einer konstitutionellen Interpretation von Demokratie, die liberalen Werten verpflichtet ist, erweist sich dieses populistische Demokratieverständnis als hochgradig undemokratisch. Die Idee einer unmittelbaren Repräsentation eines homogenen Volkswillens öffne dem Regieren durch Akklamationen Tür und Tor und sorge dafür, dass Populist*innen letztlich nur noch sich selbst und nicht mehr den Regierten gegenüber verantwortlich sind (Urbinati 1998, S. 119). Für eine konstitutionelle Demokratie, die unter Demokratie nicht Einheit und Massenmobilisierung, sondern „equal freedom of expression of each as single“ (Urbinati 1998, S. 121) versteht, sind repräsentative Institutionen und Wahlen jedoch elementar. Die Institution der individuellen Stimmabgabe erkennt an, dass Bürger*innen unabhängig voneinander und nicht homogenisierbar sind (Urbinati 1998, S. 120). In der populistischen Demokratie verkommen Wahlen zu einem bloßen Ritual, in dem der immer schon bestehende wahre Wille des Volkes Abbildung finden soll (Urbinati 2019, S. 119). Einer abweichenden Minderheit kommt in diesem Modell nur die Rolle des „partisan-enemy“ zu (Urbinati 2014, S. 143). Sofern man gleiche individuelle Rechte, Meinungsverschiedenheiten und Streit für konstitutive demokratische Werte und Institutionen, die diese Werte schützen, für unverzichtbar in der Demokratie hält, komme man deshalb nicht umhin, im Populismus Antithesen demokratischer Politik verkörpert zu sehen. „[I]f one does not want to renounce a notion of democracy that incorporates the limitation of power, a bill of rights, and discussion as the peculiar form of political life, one is forced to conclude that populism is not an expression of democracy“ (Urbinati 1998, S. 122). Eine ähnliche Position wird von Jan-Werner Müller vertreten. Müller argumentiert, dass zwei Dinge konstitutiv sind für den Populismus: erstens eine Abgrenzung gegenüber dem „Establishment“ und zweitens ein Anti-Pluralismus (Müller 2016a, S. 19, b, S. 193). Das erste Merkmal allein, die Abgrenzung gegenüber der Elite unter Beanspruchung eines demokratischen „Wir“, impliziere noch kein problematisches Verhältnis zur Demokratie. „Wenn aus einem populistischen ‚Wir sind das Volk‘ so etwas würde wie ein ‚Auch wir sind das Volk‘, dann wäre dies ein völlig legitimer zivilgesellschaftlicher Anspruch derer, die sich vergessen fühlen oder die de facto ausgeschlossen

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wurden. So waren es beispielsweise in der amerikanischen Verfassungsgeschichte oft genug die Unterdrückten und Marginalisierten, die sich auf das demokratische ‚Wir‘ berufen haben. Allerdings um an das Versprechen einer ‚more perfect union‘ zu erinnern und für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen – und nicht, um andere auszugrenzen.“ (Müller 2016a, S. 21)

Aber genau darum, um die Ausgrenzung anderer, gehe es populistischer Politik. Populist*innen beanspruchen nicht, einen (vergessenen) Teil des Volkes zu repräsentieren, sondern sie beanspruchen, das ganze und wahre Volk zu repräsentieren (Müller 2016a, S. 26). Es ist dieser Anspruch, den Müller als Anti-Pluralismus beschreibt: „der moralische Alleinvertretungsanspruch, welcher Populisten wirklich zu Populisten und deren Verhältnis zur Demokratie so problematisch macht“ (Müller 2016a, S. 44). Für Pluralität ist in dem populistischen Demokratieverständnis kein Platz. Wie Urbinati betont auch Müller, dass demokratische Institutionen für Populist*innen lediglich Instrumente für die Legitimierung eines durch sie immer schon repräsentierten Volkswillens sind (Müller 2016b, S. 193 f.). „[W]enn Populisten ein Referendum fordern, dann nicht, weil sie einen offenen Diskussionsprozess unter den Wählern auslösen wollen, sondern weil die Bürger bitte schön bestätigen sollen, was die Populisten immer bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben“ (Müller 2016a, S. 45). Für Populist*innen gehören all diejenigen, die nicht ihrer Meinung sind, auch nicht zum „wahren Volk“ (Müller 2016a, S. 53). Müller und Urbinati stehen damit für eine kritische Perspektive auf Populismus, die unter Verweis auf antipluralistische und anti-institutionelle Merkmale populistischer Politik der Idee eine Absage erteilt, dass Populismus ein demokratisches Potenzial innewohnt.

2.3 Die affirmative Perspektive Eine oft als Gegenpol zu der kritischen Perspektive verstandene Position wird von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vertreten. Die radikaldemokratischen Theoretiker*innen argumentieren, dass populistische Politik eine produktive Rolle in der Demokratie spielen kann. Laclau schließt in seiner Auseinandersetzung mit dem Populismus unmittelbar an das gemeinsam mit Mouffe verfasste Werk Hegemony and Socialist Strategy (2001) an und beschreibt Populismus als eine politische Logik von Prozessen sozialer Veränderungen, die sich mittels Artikulationen von Äquivalenz und Differenz vollziehen (Laclau 2005, S. 117). Die zentrale Überlegung hierbei ist, dass sich politische Identitäten bilden, indem sich verschiedene Elemente einer sozialen Formation kollektiv von einem

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Anderen abgrenzen. Mit der gemeinsamen Differenz entsteht eine Gemeinsamkeit, die die interne Heterogenität zwar nicht beseitigt, aber überlagert; die so miteinander in Beziehung gesetzten Elemente erlangen eine identitätsstiftende Äquivalenz (Laclau und Mouffe 2001, S. 128 f.). Die Idee radikaler Demokratie gibt dieser politikontologischen These eine normative Wendung. Für Laclau und Mouffe ist die radikale Demokratie eine politische Praxis, in der sich politische Identitäten durch eine kollektive Kritik an Ungerechtigkeiten etablierter Regeln und Institutionen formieren und für politische Veränderungen im Sinne einer Vertiefung von Gleichheit und Freiheit kämpfen (Laclau und Mouffe 2001, S. 184). Laclau verbindet die politikontologischen Überlegungen der Diskurstheorie mit Überlegungen zu dem Wesen des Populismus, indem er betont, dass eine über geteilte Differenzen konstruierte Äquivalenz einer Bezeichnung bedarf, um für die involvierten Akteur*innen als eine gemeinsame politische Identität erfahrbar zu werden. „[I]f an equivalential link is going to be established between them, some kind of common denominator has to be found which embodies the totality of the series“ (Laclau 2005, S. 95). Genau diese Funktion erfüllt nach Laclau der Bezug auf das Volk in populistischer Politik: Er gibt den äquivalenten Elementen einen identitätsstiftenden Namen. Laclau betont, dass dieser Name, weil seine Funktion darin besteht, heterogene demokratische Forderungen zu vereinen, notwendig ein „empty signifier“ ist, ein Begriff ohne eine substanzielle Bedeutung (Laclau 2005, S. 98). Wäre der Name des Volkes nicht leer, könnte er nicht die Gemeinsamkeit der heterogenen Forderungen repräsentieren, weil diese ausschließlich in der geteilten Opposition zum Status Quo und nicht in einer positiv bestimmbaren Eigenschaft besteht. Laclaus Ansatz hat zwei wichtige Konsequenzen. Weil er Populismus als eine diskursive Artikulation beschreibt, die der politischen Aufgabe dient, kollektive Identität zu konstruieren, ist Populismus erstens nicht mit einem spezifischen ideologischen Gehalt verbunden. Die populistische Logik kann sowohl von linker als auch von rechter Seite bemüht werden – als ein leerer Name ist „das Volk“ für die Verbindung von politischen Forderungen mit verschiedenen Inhalten verwendbar (Laclau 2005, S. 117 f.). Zweitens sind die Grenzen zwischen den Positionen, die populistische Artikulationen einschließen und denjenigen, die sie ausschließen, nicht klar zu ziehen. „[P]recisely because that name is not conceptually (sectorially) grounded, the limits between the demands it is going to embrace and those it is going to exclude will be blurred, and subjected to permanent contestation. From this we can deduce that the language of a populist discourse – whether of Left or Right – is always going to be

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imprecise and fluctuating: not because of any cognitive failure, but because it tries to operate performatively within a social reality which is to a large extent heterogenous and fluctuating.“ (Laclau 2005, S. 118).

Anders als Laclau knüpft Chantal Mouffe stärker an die normative Idee radikaler Demokratie an, indem sie den Unterschied zwischen Rechts- und Linkspopulismus akzentuiert und letzteren als eine politische Intervention mit demokratisierendem Potenzial beschreibt. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien ist Mouffe zufolge der Effekt einer mangelhaft von Pluralität und Streit geprägten Demokratie. So argumentiert sie, dass es dem „Demagogen“ Jörg Haider und der FPÖ im Kontext einer langen Phase der großen Koalition in Österreich ein Leichtes gewesen ist, gegen die Regierungskoalition zu mobilisieren (Mouffe 2005, S. 60 f.; siehe auch Mouffe 2007, S. 87–89). Problematisch ist der Rechtspopulismus Mouffe zufolge nicht aufgrund seiner Bezüge auf „das Volk“ an sich. „The problem lies in the way in which this ‚people‘ is constructed. What makes this populist discourse right-wing is its strongly xenophobic character, and the fact that in all cases immigrants are presented as a threat to the identity of the people“ (Mouffe 2005, S. 69, Hervorhebung durch M. W.). Mouffe warnt jedoch vor einer moralisierenden Kritik am Rechtspopulismus und fordert stattdessen eine genuin politische Antwort. Eine solche Antwort vermag ihrer Ansicht nach der Linkspopulismus zu bieten – „in the present conjuncture it provides the adequate strategy to recover and deepen the ideals of equality and popular sovereignty that are constitutive of a democratic politics“ (Mouffe 2018, S. 9). Anders als der Rechtspopulismus konstruiere der Linkspopulismus „das Volk“ nicht auf exkludierende Weise. Vielmehr verknüpfe er demokratische Forderungen von marginalisierten oder prekarisierten Gruppen, etwa von Arbeiter*innen, Immigrant*innen und der Unsicherheit erfahrenden Mittelklasse (Mouffe 2018, S. 24). Der Linkspopulismus ist für Mouffe die gefragte politische Intervention der Stunde, weil er einerseits (wie der Rechtspopulismus) das Potenzial hat, die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteilte mit dem Status Quo und den Eliten politisch zu artikulieren, aber andererseits (anders als der Rechtspopulismus) auf eine Vertiefung und Erweiterung von Demokratie zielt.

3 Gründe für die divergierenden normativen Urteile Die dargestellten Positionen markieren ein Spektrum an sich substanziell unterscheidenden Perspektiven auf das Verhältnis von Populismus und Demokratie. Allerdings sollte geklärt werden, an welchen Stellen die Ansätze

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tatsächlich divergieren und wo Anknüpfungspunkte und Überlappungen bestehen, denn diese werden durch eine unzureichend differenzierte Einteilung in affirmative Perspektiven, kritische Perspektiven und in Perspektiven, die eine ambivalente normative Bedeutung des Populismus betonen, verschleiert. Die Differenzen der einschlägigen politiktheoretischen Positionen resultieren in relevanten Hinsichten aus divergierenden Beschreibungen des Phänomens Populismus sowie aus unterschiedlichen Zugängen zu der Frage nach dem demokratischen Potenzial von Populismus. Dass unterschiedliche Verständnisse von Populismus maßgeblich für entsprechend unterschiedlich ausfallende normative Bewertungen sind, lässt sich über eine Gegenüberstellung der kritischen und der affirmativen Perspektiven verdeutlichen. Während Urbinati und Müller argumentieren, dass der ­Anti-Pluralismus ein konstitutives Merkmal von Populismus ist, argumentiert Mouffe, dass sich der Linkspopulismus, anders als der Rechtspopulismus, gerade durch die Abwesenheit einer anti-pluralistischen Konstruktion des Volkes auszeichnet. Der Anti-Pluralismus ist Mouffe zufolge kein Merkmal von Populismus per se, sondern das Merkmal einer spezifischen Form von Populismus. Weil sich Mouffes positive Einschätzung des demokratischen Potenzials von Populismus auf den Linkspopulismus beschränkt und sie die kritische Einschätzung teilt, sofern es um den Rechtspopulismus geht, ist die Differenz zwischen der affirmativen Perspektive und der kritischen Perspektive maßgeblich auf die Differenz der jeweils zugrunde gelegten Verständnisse von Populismus zurückzuführen. Die Autor*innen sind sich nicht darüber uneins, ob „der“ Populismus gefährlich oder produktiv für die Demokratie ist, sondern darüber, ob der AntiPluralismus ein konstitutives oder ein variables Merkmal von Populismus ist. Neben unterschiedlichen Verständnissen von Populismus sind auch unterschiedliche Zugänge zu der Frage nach einem demokratischen Potenzial von Populismus ausschlaggebend für die divergierenden Einschätzungen der Bedeutung von Populismus für die Demokratie. Dies lässt sich anhand einer Kontrastierung der Positionen von Canovan auf der einen und von Müller und Urbinati auf der anderen Seite illustrieren. Insofern Müller und Urbinati argumentieren, dass Populismus die Demokratie gefährdet, weil er ­ anti-pluralistisch ist, konzentriert sich ihre Analyse des Verhältnisses von Populismus und Demokratie auf Eigenschaften des Populismus. Canovans Analyse hingegen fokussiert die Effekte populistischer Politik auf die Demokratie. Populismus fungiert als ein wichtiges Korrektiv in der Demokratie, weil und insofern er eine verlorengegangene Balance zwischen den zwei „Gesichtern“ der Demokratie – dem erlösenden Gesicht und dem pragmatischen Gesicht – wiederherstellen kann. Weil sie in ihrer Analyse des Verhältnisses von Populismus und Demokratie diese Unterscheidung zwischen Eigenschaften des Populismus und

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Effekten des Populismus macht, attestiert Canovan dem Populismus als eine ambivalente normative Bedeutung: Obwohl populistische Politik oft beansprucht, den Volkswillen unmittelbar abzubilden, und damit Eigenschaften aufweist, die mit demokratischen Prinzipien konfligieren, kann populistische Politik eine positive Rolle in der Demokratie spielen, weil sie trotz dieser problematischen Eigenschaften produktive Effekte auf die Konfiguration des demokratischen Diskurses haben kann. Hätte Canovan in ihrer Auseinandersetzung mit der Frage nach dem demokratischen Potenzial von Populismus nicht beide Dimensionen in den Blick genommen, sondern sich lediglich auf Eigenschaften des Populismus konzentriert, hätte sie gegebenenfalls keine sich deutlich von der Perspektive Urbinatis und Müllers unterscheidende Position beschrieben. Es ist die Berücksichtigung von Eigenschaften und Effekten des Populismus, auf deren Grundlage sie zu ihrer spezifischen Einschätzung des Populismus gelangt. Diese Beobachtungen veranschaulichen, dass die Differenzen zwischen affirmativen und kritischen Perspektiven sowie Perspektiven, die eine ambivalente normative Bedeutung des Populismus betonen, nicht aus unterschiedlichen Bewertungen ein und desselben Gegenstandes resultieren. Der Gegenstand Populismus wird unterschiedlich definiert und die Frage nach dem demokratischen Potenzial von Populismus wird aus verschiedenen Winkeln – mit Blick auf die Eigenschaften des Populismus oder mit Blick auf die Effekte von Populismus – beantwortet. Allerdings lassen sich die Differenzen der drei einschlägigen politiktheoretischen Perspektiven nicht ausschließlich mit den diesbezüglich bestehenden Unterschieden erklären. Das jeweils vorausgesetzte Verständnis von Demokratie und genauer davon, was eine im Sinne der Demokratie produktive Form von Politik auszeichnet, spielt ebenfalls eine elementare Rolle. Wie dargestellt wurde, kritisiert Urbinati den Populismus nicht allein dafür, dass er anti-pluralistisch im Sinne eines moralischen Alleinvertretungsanspruches ist, sondern sie führt auch die anti-individualistische und anti-institutionelle Komponente populistischer Politik als Argumente für die Inkompatibilität von populistischer Politik und Demokratie an. Urbinati zufolge ist die populistische Konstruktion eines gegen die Elite in Stellung zu bringenden kollektiven Willens des Volkes anti-demokratisch, weil sie in der „equal freedom of expression of each as single“ (Urbinati 1998, S. 121) die zentrale normative Grundlage der Demokratie identifiziert. Laclaus Bewertung des Populismus als der Logik von Politik schlechthin entspringend sowie Mouffes Beschreibung des Linkspopulismus als eine produktive politische Intervention beruhen demgegenüber auf der Annahme, dass das Wesen von Politik im Allgemeinen und von demokratischer Politik im Besonderen in der Konstruktion von und in Konflikten zwischen kollektiven Identitäten besteht.

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„Selbst in Gesellschaften, die sehr individualistisch geworden sind, wird die Notwendigkeit kollektiver Identifikationen nie verschwinden, da sie für die Seinsweise des Menschen konstitutiv ist. Auf dem Gebiet der Politik spielen diese Identifikationen eine zentrale Rolle, und ihre affektive Bindung muß von Demokratietheoretikern in Betracht gezogen werden.“ (Mouffe 2007, S. 40)

Es ist diese Annahme von der konstitutiven Funktion kollektiver Identitäten für das Politische, die Laclaus These fundiert, dass „das Volk“ als ein identitätsstiftender Name zentral für Politik per se ist, und ebenso von Mouffe vorausgesetzt wird, wenn sie argumentiert, dass ein Linkspopulismus eine Radikalisierung der Demokratie herbeiführen kann (Errejón und Mouffe 2016, S. 123). Die Spezifika der jeweils zugrunde gelegten Politik- und Demokratieverständnisse – auf liberaler Seite ein Fokus auf den Schutz gleicher Freiheiten des Einzelnen und auf radikaldemokratischer Seite ein Fokus auf die Bedeutung kollektiver Identitäten – sind maßgeblich verantwortlich dafür, dass die kollektive Referenz der populistischen Logik aus liberaler Sicht als eine Gefahr für die Demokratie und aus radikaldemokratischer Sicht als ein produktiver Modus demokratischer Politik verstanden wird. Die Differenzen der drei einschlägigen politiktheoretischen Perspektiven auf Populismus speisen sich somit aus einem Konglomerat von Gründen. Die politischen Theoretiker*innen schreiben Populismus unterschiedliche Eigenschaften zu und sie beantworten die Frage nach dem demokratischen Potenzial von Populismus mit Blick auf die Eigenschaften oder die Effekte populistischer Politik sowie im Lichte unterschiedlicher Verständnisse von demokratischer Politik. Die vorgenommene Einteilung der Ansätze ist daher nur als grobe Unterscheidung dienlich, weil sie einseitig auf die Differenzen hinsichtlich der normativen Bewertung abstellt. In der politiktheoretischen Debatte über Populismus sind tatsächlich aber konzeptionelle, methodische und normative Fragen eng miteinander verwoben.

4 Perspektiven für die politiktheoretische Debatte Im Folgenden sollen Perspektiven für eine mögliche Weiterentwicklung der politiktheoretischen Debatte über Populismus konturiert werden. Hierfür zeige ich zunächst exemplarisch, welche konzeptionellen und argumentativen Klärungen im Lichte der vorgenommenen Bestandsaufnahme wünschenswert erscheinen (Abschn. 4.1). In einem zweiten Schritt lenke ich den Blick dann auf einen blinden Fleck der bisherigen Debatte und argumentiere, dass die

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d­ emokratietheoretische Auseinandersetzung mit Populismus stärker Fragen nach den strukturellen Ursachen des aktuellen Erfolgs populistischer Akteur*innen und nach möglichen demokratischen Antworten auf diesen Erfolg in den Fokus stellen sollte (Abschn. 4.2).

4.1 Möglichkeiten eines demokratischen Populismus Es ist nicht allein deshalb wichtig, die Rolle der aufgezeigten Parameter für die Differenzen der einschlägigen Positionen in der Debatte herauszustellen, um zu klären, was genau die strittigen Punkte in der Debatte sind und wo die Positionen zum Teil doch weniger weit auseinander liegen, als es allein unter Betrachtung der normativen Schlussfolgerungen bezüglich des demokratischen Potenzials von Populismus den Anschein hat. Eine Beschreibung der Gründe für die divergierenden normativen Schlussfolgerungen ist auch deshalb wichtig, weil sie Impulse für die Formulierung von Aufgaben liefern, über deren Bearbeitung sich die politiktheoretische Auseinandersetzung über Populismus weiterentwickeln lässt. Dies soll hier exemplarisch mit Blick auf die Differenz der affirmativen und der kritischen Perspektive veranschaulicht werden. Ich habe hervorgehoben, dass ein wichtiger Grund für den Dissens zwischen Vertreter*innen der affirmativen und Vertreter*innen der kritischen Perspektive die jeweils vorausgesetzten Verständnisse von Populismus sind und der eigentlich strittige Punkt hier ist, ob es eine Form von Populismus oder ob es Formen von Populismus gibt, die auf eine Vertiefung der Demokratie hinwirken kann oder hinwirken können. Eine um die Klärung des Verhältnisses von Populismus und Demokratie bemühte politiktheoretische Debatte sollte dieser Frage verstärkt Aufmerksamkeit widmen, weil die Argumente sowohl für als auch gegen einen demokratischen Populismus gegenwärtig unzureichend differenziert sind. Indem Müller und Urbinati die Vorstellung von einem „moralisch reinen, homogenen Volk“ (Müller 2016a, S. 42) und die Weigerung, pluralistisch organisierte politische Verfahren als Wege der Konfliktaustragung zu akzeptieren, zu notwendigen Merkmalen von Populismus erklären, wird einer potenziell zielführenden Debatte über einen demokratischen Populismus von vornherein der Weg verstellt. Ein Linkspopulismus kann vor dem Hintergrund einer solchen Definition nur eine Variation der gleichen demokratiefeindlichen Form von Politik sein, die auch der Rechtspopulismus verkörpert – mit dem einzigen Unterschied, dass sie ideologisch anders gefüllt ist. Müller argumentiert entsprechend in seiner Entgegnung auf die affirmative Perspektive, dass Laclau und Mouffe in ihrem Bemühen, „das Wort Populismus von dem schlechten ­Beigeschmack zu

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befreien“ (Müller 2016a, S. 121), leugnen und im schlimmsten Fall legitimieren, was zum „das Selbstbild der Populisten“ dazugehöre: eine Wahrnehmung politischer Gegner als Feinde, „die es möglicherweise gar zu vernichten gilt“, und damit eine Absage an eine institutionell eingehegte Politik (Müller 2016a, S. 121 f.). Aus mindestens zwei Gründen ist Müllers Entgegnung auf die affirmative Perspektive nicht zufriedenstellend. Erstens nimmt sie das theoretische Argument der Gegenseite nicht ernst. Mouffe betont, dass es jenem Linkspopulismus, von dem sie produktive politische Interventionen erhofft, gerade nicht darum geht, eine institutionell eingehegte Politik zu unterlaufen, sondern darum, eine Transformation bestehender Institutionen durch demokratische Prozeduren zu erwirken. „The strategy of left populism seeks the establishment of a new hegemonic order within the constitutional liberal-democratic framework and it does not aim at a radical break with pluralist liberal democracy and the foundation of a totally new political order“ (Mouffe 2018, S. 45). Müller unterstellt Mouffe auf Basis seiner eigenen Populismus-Definition, die eine pluralistische Orientierung ausschließt, etwas Unmögliches zu fordern, anstatt sich mit der These auseinanderzusetzen, dass die Artikulation einer Opposition zwischen Volk und Elite in den Dienst einer Politik gestellt werden könnte, die demokratische Prozeduren respektiert und auf eine Vertiefung von demokratischen Werten zielt (und die seiner Definition zufolge dann gar kein „richtiger“ Populismus wäre). Zweitens vereinheitlicht die Populismus-Definition, vor deren Hintergrund Müller Mouffes These zurückweist, das Verhältnis zwischen populistischer Politik und Demokratie auf eine Weise, die der Vielfalt von Phänomenen populistischer Politik nicht gerecht wird. Wie die empirische Populismusforschung zeigt, unterscheiden sich Phänomene populistischer Politik substanziell in Hinsichten, die für eine Bewertung des Verhältnisses von Populismus und Demokratie relevant sind. Mudde und Kaltwasser (2013) beispielsweise gelangen in ihrer Untersuchung von Populismen in Europa und in Südamerika zu dem Schluss, dass es exklusivistische und inklusivistische Formen von Populismus gibt. Während inklusivistische Formen von Populismus die materielle, politische und symbolische Integration von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen anstreben, geht es exklusivistischen Formen von Populismus um den Ausschluss von Gruppen in diesen Dimensionen (Mudde und Kaltwasser 2013, S. 158). Zwar liefert der Hinweis auf die Existenz inklusivistischer Populismen (die Mudde und Kaltwasser zufolge auch nicht vollkommen frei von exklusivistischen Elementen sind) für sich genommen keine Rechtfertigung für Mouffes normative These, dass eine linkspopulistische Intervention die richtige Antwort auf den gegenwärtigen Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen wäre. Aber er zeigt, dass eine

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Populismus-Definition, der zufolge mögliche Formen von Populismus lediglich ideologische Variationen desselben anti-demokratischen politischen Phänomens darstellen können, eine normative Vorentscheidung trifft, die sie zu einer unzureichend differenzierten Grundlage für eine Diskussion etwaiger Möglichkeiten eines demokratischen Populismus macht. Mouffe wiederum hat ihre These, dass ein Linkspopulismus eine demokratische und in der Tat demokratisierende Antwort auf den politischen Erfolg rechtpopulistischer Akteur*innen in westlichen Demokratien bieten könnte, unzureichend begründet. Erstens ist unklar, worin genau das besondere politische Potenzial der populistischen Artikulation einer Opposition zwischen Volk und Elite bestehen soll. Zwar hat Laclau deutlich gemacht, was die Idee des diskursiven Ansatzes ist: Das „Volk“ ist ein Name, der – gerade weil er inhaltlich leer ist und nicht etwa die Vision einer ethnisch homogenen Gemeinschaft impliziert – einer Pluralität unterschiedlicher Identitäten eine kollektive Identität stiften kann. Mouffe legt nahe, dass das Scheitern der etablierten sozialdemokratischen politischen Kräfte die Bündelung von progressiven politischen Projekten unter dem Dach einer populistischen Artikulation zum Gebot der Stunde macht (Mouffe 2018, S. 4 f.). Damit wird aber eine Alternative zwischen den Politiken der sozialdemokratischen Akteur*innen einerseits und einer populistischen Artikulation progressiver politischer Projekte andererseits konstruiert, die keineswegs selbsterklärend ist. Warum sollten nicht andere (leere) Namen als das „Volk“ jene bündelnde, kollektive Identität stiftende Funktion erfüllen können? Zweitens erläutert Mouffe nicht, was die erhofften politischen Effekte der Formierung einer neuen linkspopulistischen Bewegung sind. Canovans Analyse hat gezeigt, dass es wichtig ist, für eine Bewertung des demokratischen Potenzials von Populismus sowohl die Eigenschaften populistischer Politik als auch die politischen Effekte populistischer Politik zu berücksichtigen. Auch wenn sich der von Mouffe diskutierte Linkspopulismus als eine pluralistische Bewegung beschreiben lässt, die den Namen des „Volkes“ für eine Bündelung von demokratischen Projekten nutzt und nicht für die Akklamation eines homogenen Volkswillens, ist die Frage nach den Effekten einer linkspopulistischen Intervention im breiteren politischen Diskurs damit nicht beantwortet. Mouffe geht von positiven Effekten aus, ohne jedoch zu benennen, worin diese positiven Effekte genau bestehen sollen. Danny Michelsen etwa argumentiert von einer skeptischen Warte aus, dass die Konstruktion einer Opposition zwischen Volk und Elite tendenziell dafür sorge, dass die relevanten politischen Konflikte in einem antagonistischen statt in einem agonistischen, gezähmten Modus ausgetragen werden – und damit ein zentrales Anliegen von Mouffes Theorie einer agonalen

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Demokratie konterkariert werde (Michelsen 2019, S. 7). Ohne solchen Bedenken ein systematisch begründetes alternatives Szenario möglicher politischer Effekte linkspopulistischer Interventionen entgegenzusetzen, stellt die affirmative Perspektive keine zufriedenstellende demokratietheoretische Position dar. Die Debatte über Möglichkeiten eines demokratischen Populismus, die aktuell sowohl auf kritischer als auch auf affirmativer Seite von starken normativen Postulaten und einem Mangel an differenzierter Argumentation bezüglich wichtiger konzeptioneller und normativer Fragen geprägt ist, sollte über eine Beschäftigung mit den skizzierten Fragen weiterentwickelt werden.

4.2 Ursachen des Populismus und die Krise der Demokratie Was in der politiktheoretischen Debatte über Populismus bisher insgesamt zu wenig thematisiert wird, sind die Ursachen des politischen Erfolgs populistischer Akteur*innen bzw. – insofern es um den Kontext westlicher Demokratien geht – des Erfolgs rechtspopulistischer Akteur*innen. Zwar bieten die einschlägigen Theoretiker*innen Erklärungen für das Aufkommen populistischer Politik und den politischen Erfolg rechtspopulistischer Parteien. Canovan identifiziert als Ursache des Populismus ein Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen dem pragmatischen Gesicht und dem erlösenden Gesicht der Demokratie und Mouffe macht in einer übermäßig konsensorientierten politischen Praxis die zentrale Ursache für den Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen aus (siehe Abschn. 2). Allerdings ist das Spektrum an Diagnosen zu den Ursachen des Erfolgs rechtspopulistischer Akteur*innen in der Populismusforschung breiter. Eine politiktheoretische Debatte, die nicht bloß das Phänomen Populismus definieren und hinsichtlich seines Verhältnisses zu demokratischen Werten und demokratischen Institutionen normativ bewerten will, sondern auch reflektieren möchte, warum westliche Demokratien gegenwärtig einen „populist moment“ (z. B. Galston 2017; Mouffe 2019) erleben und was nach diesem „populist moment“ kommen könnte, sollte sich mit diesen Ursachendiagnosen auseinandersetzen. Zwei vielbeachtete Erklärungsansätze der Populismusforschung nennen ökonomische Ungleichheit und einen cultural backlash als die ausschlaggebenden Faktoren in den gesellschaftlichen Kontexten in Europa und Nordamerika, die den politischen Erfolg rechtspopulistischer Parteien der letzten Jahre ermöglicht haben (Inglehart und Norris 2016; Mudde und Kaltwasser 2018, S. 1673). Dem ersten Ansatz zufolge sorgen Umstände wachsender ökonomischer Ungleichheit, zunehmende ökonomische Unsicherheit sowie reale soziale Abstiegserfahrungen

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dafür, dass sich immer mehr Bürger*innen von den etablierten Parteien abwenden und ihr Kreuz bei rechtspopulistischen Parteien machen (Inglehart und Norris 2016, S. 2). Der cultural backlash-Ansatz verweist auf die „stille Revolution“ eines Wertewandels, der eine Hinwendung zu post-materialistischen Werten vorangetrieben hat, und identifiziert eine Abwehrreaktion vor allem seitens älterer, weißer, männlicher und weniger gebildeter Teile der Bürger*innenschaft als eine maßgebliche Motivation, rechtspopulistische Parteien zu wählen (Inglehart und Norris 2016, S. 3). Die Debatte über diese Erklärungsansätze hat sich ausdifferenziert. Es wird unter anderem auf die Verwobenheit der ökonomischen und kulturellen Erklärungsfaktoren (z. B. Decker und Lewandowsky 2017, S. 26 f.) und auf die Relevanz ökonomischer Erklärungsfaktoren über die Schaffung von „Modernisierungsverlierern“ hinaus verwiesen (Manow 2018). Auch werden wichtige Zusammenhänge mit politischen Faktoren akzentuiert. Insbesondere die Rolle etablierter linker Parteien, die sich einerseits einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und andererseits (auf eine mit neoliberalen Politiken gut vereinbare Weise) einer Agenda post-materialistischer Werte verschrieben haben, steht im Fokus kritischer Diagnosen (z. B. Fraser und Jaeggi 2018, S. 196–206; Jörke und Nachtwey 2017). Die politiktheoretische Debatte sollte diese Erklärungen des Erfolgs (rechts-) populistischer Akteur*innen einbeziehen, weil sie auf diese Weise einen differenzierten Diskurs über mögliche Reaktionen auf den „populist moment“ führen kann. Insofern der gegenwärtige populistische Moment als Ausdruck einer Krise der Demokratie zu verstehen ist (z. B. Diehl 2016), sollte sich die politiktheoretische Debatte nicht nur um konzeptionelle Klärungen der Charakteristika von Populismus sowie um Beschreibungen des Verhältnisses von Populismus und demokratischen Prinzipien bemühen. Eine Beschäftigung mit diesen Aufgaben ist zwar einerseits unerlässlich für eine Auseinandersetzung mit der Frage nach angemessenen Reaktionen auf die aktuelle Herausforderung des Rechtspopulismus. Je nachdem, ob entsprechende Analysen zu dem Schluss kommen, dass populistische Politik Demokratie (nur) gefährdet oder (auch) auf konstruktive Weisen beleben kann, legen sie unterschiedliche Grundsteine für die Konturierung von Antworten auf den populistischen Moment. Andererseits ist es für die Konturierung solcher Antworten ungenügend, die Charakteristika von Populismus und das Verhältnis von Populismus und demokratischen Prinzipien zu bestimmen. Um zielführend diskutieren zu können, worin potenziell produktive politische Reaktionen auf die gegenwärtige populistische Herausforderung bestehen könnten, gilt es erstens zu untersuchen, inwiefern die Ursachendiagnosen aus der Populismusforschung auf demokratische Defizite der Gesellschaften Europas und Nordamerikas hinweisen, und zweitens der Frage nachzugehen, wie sich diese Defizite beheben ließen.

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Angesichts dieser Perspektiven für eine wünschenswerte Weiterentwicklung der Debatte wird der Wert einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Thema Populismus sichtbar. Politische Theoretiker*innen können kritische Gegenwartsdiagnosen bereitstellen und Thesen zu plausiblen Zusammenhängen zwischen bestimmten Formen politischer Ordnung bzw. bestimmten politischen Diskursbedingungen und dem vermehrten Aufkommen populistischer Politik begründen, wie beispielsweise Mouffe es tut, wenn sie den Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen in europäischen Ländern auf lange Phasen konsensorientierter Politik vor allem in den Kontexten großer Koalitionen zurückführt. Aber politische Theoretiker*innen sollten hierbei auch die Ergebnisse der empirischen Populismusforschung einbeziehen und jene Bandbreite an Faktoren berücksichtigen, die diese Forschung als relevant für den Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen ausweist. Gleichzeitig steht die empirische Populismusforschung bei der Überprüfung der konkurrierenden Erklärungsansätze zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen gegenüber, was unter anderem die Aufgabe mit sich bringt, die „Modernisierungsverlierer“ – These zu verfeinern und besser zu erklären (Mudde und Kaltwasser 2018, S. 1674 f.). Zu einer Bewältigung dieser Aufgabe können politische Theoretiker*innen beitragen, indem sie aus dem Fundus der Demokratietheorie schöpfen, um Interpretationen der Zusammenhänge relevanter politischer, ökonomischer und kultureller Faktoren zu entwickeln. Von zentraler Bedeutung sind politiktheoretische Beiträge zu einer interdisziplinären Debatte über Populismus außerdem mit Blick auf das bisher vernachlässigte Bemühen darum, mögliche demokratische Antworten auf den gegenwärtigen Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen zu entwickeln. Solche Antworten lassen sich schließlich nicht aus empirischen Ergebnissen ablesen, sondern müssen aus einer Kritik des Status Quo sowie aus einer Reflexion über politische Gestaltungspotenziale resultieren, die zwar ein empirisch informiertes Verständnis vom Wesen und von den Ursachen populistischer Politik voraussetzen, aber im Kern eine an normativen Argumentationen orientierte Beschreibung potenzieller Alternativen zum Status Quo erfordern. Diese Aufgabe sollte in den Fokus der Auseinandersetzung politischer Theoretiker*innen mit der Herausforderung des Rechtspopulismus rücken.

5 Fazit Ziel dieses Beitrags war es, einen Überblick über Perspektiven auf Populismus in der politischen Theorie zu geben und Perspektiven für Weiterentwicklungen der Debatte zu konturieren. Es wurden drei einschlägige Ansätze unterschieden.

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Der erste, von Margaret Canovan vertretene Ansatz bewertet Populismus als ein ambivalentes Phänomen, weil er einerseits Eigenschaften aufweise, die mit demokratischen Prinzipien konfligieren, andererseits aber die Funktion erfüllen könne, ein aus der Balance geratenes Verhältnis zwischen spannungsreichen „Gesichtern“ der Demokratie zu korrigieren. Eine kritische Perspektive wird prominent von Nadia Urbinati und Jan-Werner Müller vertreten. Beide argumentieren, dass Populismus eine Gefahr für die Demokratie darstellt, weil er die Idee eines homogenen Volkes impliziere und zentrale Werte liberaler Demokratien wie vor allem Pluralismus und Minderheitenschutz unterminiere. Eine affirmative Perspektive hingegen konturieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Während Laclau Populismus als eine Logik des Politischen per se beschreibt, argumentiert Mouffe, dass eine progressiv ausgestaltete Variante populistischer Politik wichtige demokratisierende Effekte auf den politischen Diskurs haben kann. Ich habe gezeigt, dass die Differenzen der drei einschlägigen Bewertungen des Populismus aus einem Konglomerat an Gründen resultieren und dass insbesondere die Frage, was Populismus ist, von den politischen Theoretiker*innen auf für ihre normativen Urteile weichenstellende Weisen unterschiedlich beantwortet wird. Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme habe ich als ein erstes Desiderat für die weitere Debatte eine Vertiefung der kontroversen Diskussion über Möglichkeiten eines demokratischen Populismus benannt. Ein zweites Desiderat habe ich mit Blick auf einen blinden Fleck der bisherigen politiktheoretischen Auseinandersetzung mit der Herausforderung des Rechtspopulismus konturiert: Es sollte stärker um die Frage nach möglichen demokratischen Antworten auf den politischen Erfolg rechtspopulistischer Akteur*innen gehen. Insbesondere weil diese Frage nicht ohne eine Berücksichtigung der Ursachen des Erfolgs rechtspopulistischer Akteur*innen beantwortet werden kann, wird an dieser Stelle der notwendig interdisziplinäre Charakter einer fundierten und an den drängenden Problemen der politischen Praxis orientierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Populismus deutlich.

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Diehl, Paula. 2016. Die Krise der repräsentativen Demokratie verstehen. Ein Beitrag der politischen Theorie. Zeitschrift für Politikwissenschaft 26 (1): 327–333. https://doi. org/10.1007/s41358-016-0059-7. Errejón, Íñigo, und Chantal Mouffe. 2016. Podemos: In the name of the people. London: Lawrence & Wishart. Fraser, Nancy, und Rahel Jaeggi. 2018. Capitalism. A conversation in critical theory. Cambridge: Polity. Galston, William A. 2017. The populist moment. Journal of Democracy 28 (2): 21–33. https://doi.org/10.1353/jod.2017.0021. Inglehart, Ronald F., und Pippa Norris. 2016. Trump, Brexit, and the rise of populism: Economic have-nots and cultural backlash. HKS Faculty Research Working Paper Series RWP16-026, 1–52. DOI: https://doi.org/10.2139/ssrn.2818659. Jörke, Dirk, und Oliver Nachtwey. 2017. Die rechtspopulistische Hydraulik der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie alter und neuer Arbeiterparteien. Leviathan 45 (Sonderband 32): 163–186. https://doi.org/10.5771/9783845287843-160. Jörke, Dirk, und Veith Selk. 2017. Theorien des Populismus zur Einführung. Hamburg: Junius. Laclau, Ernesto. 2005. On populist reason. London: Verso. Laclau, Ernesto, und Chantal Mouffe. 2001. Hegemony and socialist strategy. Towards a radical democratic politics. London : Verso (Erstveröffentlichung 1985). Manow, Philip. 2018. Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin: Suhrkamp. Michelsen, Danny. 2019. Agonistic democracy and constitutionalism in the age of populism. European Journal of Political Theory (online first): 1–21. https://doi. org/10.1177/1474885119871648. Mouffe, Chantal. 2005. The ,End of Politics‘ and the challenge of right-wing populism. In Populism and the mirror of democracy, Hrsg. Francisco Panizza, 50–71. London: Verso. Mouffe, Chantal. 2007. Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mouffe, Chantal. 2018. For a left populism. London: Verso. Mouffe, Chantal. 2019. The populist moment. Simbiótica 6 (1): 6–11. Mudde, Cas, und Cristóbal Rovira Kaltwasser. 2013. Exclusionary vs. inclusionary populism: Comparing contemporary Europe and Latin America. Government and Opposition 48 (2): 147–174. https://doi.org/10.1017/gov.2012.11. Mudde, Cas, und Cristóbal Rovira Kaltwasser. 2018. Studying populism in comparative perspective: Reflections on the contemporary and future research agenda. Comparative Political Studies 51 (13): 1667–1693. https://doi.org/10.1177/0010414018789490. Müller, Jan-Werner. 2016a. Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: Suhrkamp. Müller, Jan-Werner. 2016b. Was ist Populismus? Zeitschrift für Politische Theorie 7 (2): 187–201. https://doi.org/10.3224/zpth.v7i2.03. Urbinati, Nadia. 1998. Democracy and populism. Constellations 5 (1): 110–124. https:// doi.org/10.1111/1467-8675.00080. Urbinati, Nadia. 2014. Democracy disfigured. Opinion, truth, and the people. Cambridge: Harvard University Press. Urbinati, Nadia. 2019. Political theory of populism. American Review of Political Science 22 (1): 111–127. https://doi.org/10.1146/annurev-polisci-050317-070753.

Politolinguistik

Populistische Sprache, verdorbene Sprache? Semantische Kämpfe und Moralismus Johannes Schaefer 1 Einleitung „Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen.“ (Sternberger et al. 1957, S. 7) Im Vorwort zu seinem „Wörterbuch des Unmenschen“ wies Dolf Sternberger auf den engen Zusammenhang von Sprache und Demokratie hin. Ist die Gefährdung der Demokratie durch den Sprachgebrauch extremistischer Akteure weithin unbestritten (vgl. Ebling et al. 2013) ringt die politikwissenschaftliche Sprachforschung mit Blick auf den populistischen Sprachgebrauch um ein eindeutiges normatives Votum. Die Zahl an Beiträgen, die auf das Gewicht von Sprache für den elektoralen Erfolg von Populisten hinweist, ist Legion (vgl. Januschek 1998a, S. 312; Reisigl 2002, S. 149; Januschek und Reisigl 2014b, S. 7; Januschek 2014; Reisigl 2014, S. 74 f.; Olschanski 2017; Stanyer et al. 2017, S. 359 ff.). Das Thema ist Konjunkturen unterworfen: Anfang der 1990er widmen sich vereinzelte Studien dem Sprachgebrauch der Republikaner (vgl. Schelenz 1992; Bredehöft und Januschek 1994). Um die Jahrtausendwende führt das Erstarken der FPÖ zu einer Serie von Veröffentlichungen (vgl. Januschek 1992; Wodak et al. 1997; Januschek 1998a, b; Reinfeldt 2000; Wodak 2000; Wodak und Pelinka 2002; Wodak und Reisigl 2002; Reisigl 2002; Wodak 2003). Nach der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) im Jahr 2013 sorgt es erneut für Kontroversen (vgl. Januschek und Reisigl 2014a; Römer und Spieß 2019a). Es gilt nun, das Forschungsfeld zu durchmessen: Welche zentralen

J. Schaefer (*)  Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_9

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Erkenntnisse liegen in der Politolinguistik vor? Welche „weißen Flecken“ offenbaren sich auf der Landkarte des populistischen Sprachgebrauchs? In welchem Verhältnis stehen populistische Sprache und liberale Demokratie? Dieser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den Forschungsstand (Kap. 2), bevor er ausgehend von dem Versuch eines Merkmalskatalogs (Kap. 3) die Voraussetzungen liberaler Demokratien und populistischer Sprache erst theoretisch (Kap. 4) und dann am Beispiel der AfD empirisch untersucht (Kap. 5 bis 8). Dabei geht die Studie qualitativ-verifikationistisch vor und fußt auf den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2017 und den Beiträgen zur Generaldebatte 2018. Das Fazit führt die einzelnen Argumentationsstränge zusammen und blickt auf das Bedrohungspotenzial populistischer Sprache (Kap. 9).

2 Lückenhaft bestelltes Feld – die politolinguistische Populismusforschung Die politolinguistische Populismusforschung lässt sich grob in drei Felder unterteilen: Erstens rückt die Frage nach dem Wesenskern des Populismus – was ist Populismus – und damit verbunden seine demokratische Qualität – in welchem Verhältnis stehen Populismus und liberale Demokratie? – in den Mittelpunkt. Während einige Autoren die Demokratiekompatibilität von Populisten a priori ausschließen (vgl. Januschek 2014; Wengeler 2019), halten sie andere sogar für grundsätzlich wahrscheinlich (vgl. Niehr 2019). Zweitens liegt das Augenmerk auf den Strategien und sprachlichen Mitteln des Populismus. Drittens wird die Frage durchdrungen, wie „Populismus“ als wissenschaftliche Kategorie begriffsgeschichtlich zu deuten ist. Knobloch untersucht seine Verwendung als Stigmawort (vgl. Knobloch 2007). Die Überdehnung des Phänomens in der politischen Auseinandersetzung war unter dem Hashtag #schmopulism bereits Gegenstand von Twitter-Debatten. Der Verdacht ist berechtigt, dass „Populismus“ nicht selten undifferenziert als reiner Kampfbegriff zur Ausgrenzung unliebsamer politischer Gegner gebraucht wird: „Der Populismusvorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente“ (Dahrendorf 2003, S. 156). In der politolinguistischen Forschung kommt diese Perspektive aber ­bislang zu kurz. Die Antworten auf die zentralen Fragen der Forschung über die Sprache der Populisten sind vielfältig. Ein Überblick des heterogenen Forschungsfeldes geben zwei Sammelbände aus der Reihe der Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (vgl. Januschek und Reisigl 2014a; Römer und Spieß 2019a). Für Januschek und Reisigl stehen Mittel und Semantiken, die Beziehungen politischer Akteure und

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Anhänger im Zentrum des Interesses (vgl. Januschek und Reisigl 2014b, S. 10 f.), Römer und Spieß fragen „wie Populismus im öffentlich-politischen Raum in unterschiedlichen Diskursen sprachlich sichtbar wird, welche sprachlichen Strategien für das Handeln populistischer Akteure typisch sind und nicht zuletzt, welche Handlungsziele dabei verfolgt werden“ (Römer und Spieß 2019b, S. 14). Offen bleibt die Frage, ob ein typisch „linker“ populistischer Sprachgebrauch existiert: Schließt Martin Reisigl einen solchen nicht aus (Reisigl 2014, vgl. auch Reisigl 2012), hat Populismus für Franz Januschek „systematisch Rechtsextremismus im Gepäck“ (Januschek 2014, S. 61 f.). Nach Karin Stögner und Ruth Wodak wäre es indes kurzgegriffen, populistischen Sprachgebrauch allein an den rechtsextremistischen Rand zu verweisen (vgl. Stögner und Wodak 2014). Der mithin unscharf verwendete Terminus „Populismus“ wirft die Frage auf, was aus politolinguistischer Perspektive unter „populistischem Sprachgebrauch“ zu verstehen ist. Die Antworten streuen breit. So finden sich Charakterisierungen wie „inhaltsbezogener Modus der politischen Artikulation“ (Reisigl 2012, S. 141), „politischer Diskurs“ (Januschek 2014, S. 61), „rhetorisches Verfahren“ (Wolf 2018, S. 79) oder „rhetorischer Stil“ (Wodak 2015, S. 32). Worin wurzelt die Heterogenität? Zum einen dient das Etikett weltweit zur Bezeichnung sehr unterschiedlicher Politiker und Bewegungen, zum anderen wird der Begriff zuweilen auf einzelne Kampagnen oder Slogans „normaler“ Parteien angewendet, ohne dass die Parteien als „populistisch“ klassifiziert werden (vgl. Januschek 1998b, S. 201). Die Doppelbedeutung von Populismus – wissenschaftlicher Terminus einerseits, politischer Kampfbegriff andererseits – erschwert es, das Phänomen zu erfassen (vgl. Niehr 2019, S. 24) und auf seine Verträglichkeit mit demokratischen Verhältnissen zu überprüfen. So versteht Wodak Populismus als rhetorischen Stil, „der den ‚kleinen Mann und die kleine Frau‘, das Volk, gegen die ‚da oben‘ stellt; eine Rhetorik, die sich an das Volk wendet und vorgibt, für das Volk zu sprechen“ (Wodak 2015, S. 32). Für sie gilt: „Jeder und jede PolitikerIn ist notwendigerweise populistisch, denn jede und jeder will ja viele ansprechen und für viele sprechen“ (Wodak 2015, S. 32). Daher versteht sie – anders als Reisigl (vgl. Reisigl 2012) und ähnlich der Position Wolfs (vgl. Wolf 2018) – Populismus als inhaltlich leer (vgl. auch Laclau 2007; Mouffe 2018): „Rechts- oder links-populistisch wird eine solche Rhetorik nur dann, wenn sie mit ganz bestimmten Inhalten aufgeladen wird – etwa mit genauen Definitionen, wer nun das ‚echte Volk‘ sein soll, für das eingetreten wird; welche die genauen Ziele sein sollen, die anscheinend dem Volk am Herzen liegen“ (Wodak 2015, S. 32). Im Einklang mit den theoretischen Werken von Mouffe und

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Laclau schließt ihr Populismuskonzept daher auch die Existenz linkspopulistischer Bewegungen mit ein. Zugleich droht die Gefahr der Begriffsüberdehnung, wenn alle Politiker „notwendigerweise populistisch“ (Wodak 2015, S. 32) sind. Dem entgegen steht die Position Reisigls, für den Populismus ein inhaltlich definierbares Phänomen ist: „Populismus ist ein inhaltsbezogener Modus der politischen Artikulation und ein komplexes Syndrom. Er gliedert sich prototypisch nach zwei Antagonismen. […] Konkreter gesagt besteht der Modus der populistischen Artikulation inhaltlich im affirmativen Bezug auf das zu vertretende Volk und gleichzeitig im Angriff interner und externer Feinde“ (Reisigl 2012, S. 141). Populismus ist für ihn nicht unbedingt an die Oppositionsrolle im politischen Streit gebunden, sondern kann auch von Regierungsparteien vertreten werden. Der weitverbreiteten Annahme, linker Populismus sei inkludierend und rechter Populismus exkludierend (vgl. Priester 2012; Mudde und Rovira Kaltwasser 2013; Stavrakakis 2017, S. 532; Wengeler 2019), hält er entgegen: „Linkspopulismus verhält sich aufgrund seines reduktionistischen Volksverständnisses nämlich ebenfalls exklusiv, und auch Rechtspopulismus weist da, wo Volk als schichtübergreifende Nation vorgestellt wird, ein inklusives Moment auf, obzwar dieses mit nationsinternem Homogenisierungsdruck und fremdnationaler Ausschließung einhergeht“ (Reisigl 2012, S. 143, vgl. auch Stögner und Wodak 2014, S. 160). Ist es also – anders als Mouffes Plädoyer für einen linken Populismus nahelegt (vgl. Mouffe 2018) – unmöglich, einem „exkludierenden“ Populismus einen „inkludierenden“ entgegenzusetzen? Wengeler argumentiert grundsätzlich, wenn er den Oberbegriff „Populismus“ für linke und rechte Parteien schon aus normativen Vorüberlegungen ablehnt. Einen positiven Begriff von Linkspopulismus zu etablieren sei angesichts der „momentanen politisch-ideologischen Gemengelage […] kaum erfolgsversprechend“ (Wengeler 2019, S. 257). Mithin seien die inhaltlichen Differenzen zu groß, so unterschieden sich die politischen Absichten zu stark: Inklusion statt Exklusion, Rationalität statt Irrationalität, humanitär begründete statt menschenfeindlicher Konstruktionen von Gruppen (vgl. Wengeler 2019, S. 256). Doch Wengelers Argumentation bietet Kritikern Angriffsfläche. Wer den Populismusbegriff schon aus normativ-strategischen Gründen auf links nicht anwenden will, liefert Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Ist „Populismus“ nun eine analytische Kategorie oder doch nur eine strategische Waffe, die man aus eben diesen Erwägungen heraus auf links nicht, auf rechts aber sehr gerne anwendet? Zweifel nährt auch die Empirie: Wenn sowohl ein Viktor Orban als auch ein Hugo Chavez den „Willen des Volkes“ gegen die „korrupten Eliten“ in Stellung bringen, warum sollen sie nicht beide Populisten heißen dürfen?

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3 Populistischer Sprachgebrauch – Versuche eines Merkmalskatalogs Wie bereits der Streifzug durch die Debatten um die Definition von Populismus und seine linke bzw. rechte Ausprägung erhellt, steht in politolinguistischen Studien der Rechtspopulismus im Vordergrund. Einigkeit über die sprachlichen Mittel und Strategien rechtspopulistischer Akteure herrscht indes nicht, wie ein Blick in die verschiedenen Merkmalskataloge zur Charakterisierung rechtspopulistischer Sprache aufzeigt. Reisigl erkennt zehn „Prinzipien“ rechtspopulistischer Rhetorik, darunter das Mittel der schwarz-weiß-malerischen Freund-Feind-Dichotomisierung und Sündenbockkonstruktion, die Praxis der Komplexitätsreduktion durch drastische, vereinfachende Veranschaulichung, Hypostasierung und Personalisierung, das Muster, „sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen“ und „zu reden, wie einem oder einer der Schnabel gewachsen ist“, das Prinzip der abwertenden Beschimpfung der politischen Gegnerinnen und Gegner, die Logik der Froschperspektivierung, der Modus der Suggestion, dass der politische Redner oder die politische Rednerin Sprachrohr des Volkes, „jemand von euch und mit euch und für euch sei“, das Prinzip der pathetischen Dramatisierung und Emotionalisierung, die Praxis der Wiederholung, das Mittel der kalkulierten Ambivalenz und das Prinzip der Erlösungs- bzw. Befreiungsverheißung (vgl. Reisigl 2002, S. 166 ff.). Dabei bleibt seine Herleitung der zehn Merkmale im Dunklen. „In rhetorischer Hinsicht sind es vor allem zwei Mittel, ohne die Populismus und populistische Rhetorik […] nie auskommen: die Synekdoche und der Topos des Volks“ (Reisigl 2012, S. 142). Die Synekdoche, so fährt Reisigl fort, „stellt als semantische Figur des Mitmeinens den zentralen Tropus der Repräsentation, und damit auch der politischen Repräsentation, dar“ (Reisigl 2012, S. 142). Diese populistische Synekdoche sei eine generalisierende Synekdoche, bei der eine Bezeichnung für das Ganze auch für einen Teil davon stehe (vgl. auch Felder 2017, 2018). Der Topos des Volkes, so Reisigl, „und seine Pervertierung zum suggestiven argumentum ad populum sind das zentrale Argumentationsmuster eines jeden Populismus der eine Behauptung oder Forderung begründen oder einen behaupteten politischen Status quo delegitimieren möchte. Auf eine Formel gebracht, besagt dieses Muster: Wenn das Volk etwas Bestimmtes will, wünscht, fordert, benötigt, dann soll das Gewollte, Gewünschte, Geforderte, Benötigte Realität werden“ (Reisigl 2012, S. 142). Ruth Wodak unterscheidet sechs Merkmale und sechs sprachliche Mittel von Rechtspopulismus (vgl. Wodak 2016, S.  83  ff.). Zu letztgenannten zählt sie manichäische Unterscheidungen, Ad-hominem-Argumente sowie

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­ erallgemeinerungen und ambivalente, verharmlosende und unaufrichtige EntV schuldigungen, eine Sündenbockstrategie durch Schuldabschiebung, die Topoi der Geschichte und des Retters zur Konstruktion revisionistischer historischer Narrative, irreale Szenarien zur Konstruktion von Verschwörungstheorien und zu guter Letzt kalkulierte Ambivalenz und Provokation (vgl. Wodak 2016, S. 84). Januschek betont indes die unterschiedliche Verwendung von Modalpartikeln wie ja, doch, denn, die einen Konsens unterstellen und von Modalverben wie können, wollen, sollen, müssen, mögen, die je nach Verwendung einen Zwang implizieren (vgl. Januschek 1998a, S. 314 ff.). Allerdings ist seine Liste als eine erste Annäherung zu verstehen, so beruht sie auf der schmalen empirischen Basis einer Rede des damaligen FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider. Ekkehard Felder nennt kollektive Selbstzuschreibungen zur Bündelung von Individualmeinungen, die Infragestellung institutioneller Rollenausübung durch Distanzierungsmarker, rhetorische Legitimation durch Bezugnahme auf das „Volk“ und die rhetorische Figur des für das Volk sprechenden „Führers“ als Spezifika populistischer Sprache (vgl. Felder 2017). Felder bezeichnet letzteres als eine Anmaßung, die er aber nicht nur bei Populisten beobachtet. Darunter versteht er „die unberechtigte Inanspruchnahme von Gültigkeitsbedingungen und das Überschreiten von Befugnissen“ (Felder 2017, S. 45) und bezeichnet sie als „aus demokratietheoretischen und -praktischen Gründen abzulehnen“ (Felder 2018, S. 38). Tatsächlich ließe sich mit Reisigl einwenden, dass diese Anmaßungen den Modus der Repräsentation darstellen (vgl. Reisigl 2012, S. 142). Für Thomas Niehr und Jana Reissen-Kosch sind die Merkmale rechtspopulistischer Sprache ein besonderer Volks- und Elitenbegriff, eine Argumentationsstrategie, die in einfachen Lösungen für komplexe Probleme besteht, die Verwendung historisch belasteter Wörter, die Verwendung spezieller Neologismen, kalkulierte Tabubrüche sowie Verschwörungstheorien (Niehr und Reissen-Kosch 2018). Eine deduktive Herangehensweise wagt Joachim Scharloth (Scharloth 2017). Er leitet aus der Populismusdefinition von Karin Priester (Priester 2012) Kategorien für eine Analyse ab. Scharloth folgt einer korpuslinguistischen Vorgehensweise. Er betrachtet einen vorher definierten Textkorpus, die Wahlprogramme, und untersucht diese auf quantitative Häufigkeiten von bestimmten Wörtern, Wortgruppen oder -arten. Er zeigt beispielsweise, dass die AfD überdurchschnittlich häufig Wörter der Wortgruppe „Manipulation“ und „Betrug“ verwendet. Seine Arbeit offeriert damit eine deduktive linguistische Operationalisierung des Populismusbegriffs (vgl. Scharloth 2017, ähnlich Rooduijn und Pauwels 2011). Die teils sehr unterschiedlichen Auflistungen sprachlicher Merkmale und Strategien offenbaren eine zentrale Herausforderung der politolinguistischen

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Populismusforschung: Die Abgrenzung spezifisch populistischer Sprache von „ganz normaler“ politischer Sprache fällt schwammig aus. Einige vermeintliche Merkmale sind wenig trennscharf, was ihre Operationalisierung erschwert. So hebt Wengeler hervor, dass „in der politolinguistischen Literatur immer schon die Konstruktion einer Wir-Gruppe und einer Outgroup sowie die Aufwertung der eigenen und die Abwertung der gegnerischen Position als allgemeine Merkmale politischer Sprache festgehalten“ (Wengeler 2019, S. 255) wurden. Auch für andere in der Literatur diskutierte Merkmale, ließe sich dieser Einwand erheben. So sind Tabubruch und Provokation gerade in Wahlkämpfen ein probates Mittel aller Parteien. Auch Januschek unterstreicht, dass „es sich als sehr schwierig [erwies], typisch Populistisches unvoreingenommen festzustellen. Denn in sehr vielen Fällen musste man sagen, dass Elemente, die einem auf den ersten Blick als populistisch erschienen, in Reden anderer PolitikerInnen ebenso vorstellbar waren“ (Januschek 1998a, S. 314 f.). Kurzum: Einige Merkmale populistischer Sprache scheinen exklusiv populistisch zu sein, andere Merkmale kommen zwar gehäuft bei populistischen Akteuren vor, sind aber auch in der Sprache nichtpopulistischer Parteien zu beobachten. Um beides sauber zu trennen, braucht es freilich einen systematisch angelegten Vergleich, der nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Sprachgebrauch von Populisten und Nicht-Populisten sucht. Sonst bleibt völlig unklar, welche Merkmale genuin populistisch oder nur bei Populisten häufiger sind, welche Charakteristika Ausdruck einer spezifischen linken oder rechten Ideologie oder doch von Populimus an sich sind. Merkmale wie „die Topoi der Geschichte und des Retters zur Konstruktion revisionistischer historischer Narrative“ (vgl. Wodak 2016) könnten eben weniger durch den Populismus als vielmehr durch rechte Ideologie bedingt sein. Umgekehrt erscheint es wahrscheinlich, dass manichäische Unterscheidungen eher ein Merkmal populistischer als rechter Sprache sind. Die oft nur anekdotische Herleitung der Merkmale oder deren a priori Annahme (vgl. auch Schaefer 2019) vernebelt den Blick. Ziel sollte daher sein, ein „Minimalverständnis“ populistischer Sprache zu entfalten. Hierfür erscheinen Einzelfallstudien ebenso zentral wie vergleichende Arbeiten, etwa in Form von korpuslinguistischer Kärrnerarbeit an Texten aus dem linken und rechten politischen Spektrum. Aus dem bisherigen Forschungsstand geht das Gewicht des „Volksbegriffs“ für den populistischen Sprachgebrauch ebenso hervor wie die Versuche populistischer Akteure, den politischen Diskurs moralisch aufzuladen sowie ihr Streben, eine Krise der Demokratie zu konstruieren (vgl. insbesondere Wodak 2016). Diese drei Merkmale sollen daher die folgende Beantwortung der Frage nach der Demokratieverträglichkeit populistischen Sprachgebrauchs anleiten.

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4 Liberale Demokratie: Balance zwischen Volkssouveränität und Konstitutionalismus Als normative Kontrastfolie zum Populismus soll an dieser Stelle die liberale Demokratie dienen, wie sie ideengeschichtlich einerseits auf der Säule der Volkssouveräntität bei Rousseau, andererseits auf der Erkenntnis von John Stuart Mill beruht, dass in einer Demokratie „die Gesellschaft selbst der Tyrann“ (Mill 2016, S. 11) werden könne. Die liberale Demokratie verbindet also zwei sehr unterschiedliche Prinzipien: Volkssouveränität und Konstitutionalismus (vgl. stellvertretend für viele Rensmann 2006, S. 73). Sie begrenzt die „Herrschaft des Volkes“ durch ein rechtsstaatliches Korsett. Demgegenüber sticht bei der Sprache der Populisten das konstruierende Potenzial (vgl. Jesse und Panreck 2017, S. 64) ins Auge. Eine fruchtvolle Operationalisierung dieses Demokratieverständnisses findet sich in Wolfgang Merkels Modell der „embedded democracy“ (Merkel 2004). Es folgt der Idee, dass eine funktionierende Demokratie in verschiedene interne und externe Voraussetzungen „eingebettet“ ist (vgl. Merkel 2004, S. 36). Auf seine fünf internen Teilregime wird im Folgenden zurückgegriffen, da sie für eine Demokratie unmittelbar konstituierend sind. Nach Merkel sind freie, gleiche und faire Wahlen, aktives und passives Wahlrecht für die Bevölkerung das erste und zentrale Teilregime einer Demokratie. Politische Freiheiten sind Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und stellen das zweite Teilregime dar, mit bürgerlichen Rechten – dem dritten Teilregime – meint Merkel negative Freiheiten gegenüber dem Staat und damit die Begrenzung staatlicher Macht. Hinter der Idee der horizontalen Verantwortlichkeit als viertem Teilregime verbirgt sich die Idee des Systems von „checks und balances“. Effektive Regierungsgewalt meint, dass die Macht tatsächlich und ausschließlich bei den gewählten Vertretern – und nicht etwa beim Militär – liegt. Dies stellt das fünfte und letzte Teilregime dar. Defekte in einzelnen Teilregimen führen zu unterschiedlichen Formen von defekten Demokratien (vgl. Merkel 2004, S. 49 ff.). So wird eine Demokratie ohne politische Freiheiten zu einer exklusiven, ohne bürgerliche Rechte oder horizontale Verantwortlichkeit zu einer illiberalen und ohne effektive Regierungsgewalt zu einer Enklavendemokratie. Bei der illiberalen Demokratie unterscheidet Merkel zwischen einer antiliberalen und einer delegativen Variante, je nachdem ob die bürgerlichen Rechte oder die horizontale Verantwortung beeinträchtigt werden.

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5 Fallstudie – die Alternative für Deutschland und ihr Sprachgebrauch In der Beziehung zwischen populistischer Sprache und Demokratie kommen der Aufspaltung des demos und der Kritik am Zustand der Demokratie besondere Bedeutung zu. Dabei meint „Aufspaltung des demos“ Wörter oder Sätze, in denen das Volk nicht als Ganzes begriffen, sondern in mehrere Gruppen „aufgespalten“ und infolge dessen nur die eine Gruppe als Adressat von Politik benannt wird. Mit „Kritik am Zustand der Demokratie“ sind Wörter oder Sätze gemeint, in denen eine hohe Unzufriedenheit mit dem demokratischen Status quo zum Ausdruck kommen. Für beide Merkmale finden sich Belege im Sprachgebrauch der AfD. Die Schlüsselwörter, die dabei von Gewicht sind, lauten „Demokratie“ und „Volk“. So stellt die AfD den Erhalt des „eigenen Staatsvolks“ als „vorranginge Aufgabe“ dar und verknüpft diese Idee mit der Familienpolitik: „Der Erhalt des eigenen Staatsvolks ist vorrangige Aufgabe der Politik und jeder Regierung. Dies kann in der derzeitigen demografischen Lage Deutschlands nur mit einer aktivierenden Familienpolitik gelingen“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 37). Daraus leitet sie weitere Forderungen ab: „Daher sind Maßnahmen zur mittelfristigen Erhöhung der Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung unverzichtbar“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 37) und begründet dies mit dem Wohl zukünftiger Generationen: „Wir wollen unseren Nachkommen ein Land hinterlassen, das noch als unser Deutschland erkennbar ist“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 28). Den kränklichen Zustand der liberalen Demokratie in Deutschland begründet die AfD mit Mängeln vor allem in der rechtsstaatlichen Säule: der freiheitlichdemokratischen Grundordnung, der Souveränität und der Korruption. So fordert die AfD: „Die Rechtsstaatlichkeit muss wiederhergestellt werden“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 7). Die Souveränität des Volkes werde durch die Europäische Integration ausgehöhlt: „Mit den Verträgen von Schengen, Maastricht und Lissabon wurde rechtswidrig in die unantastbare Volkssouveränität eingegriffen“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 7). Hieraus leitet die Partei folgende Motivation und Forderung ab: „Wir wollen den souveränen, demokratischen Nationalstaat erhalten“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 7) und auch: „Das Volk muss wieder zum Souverän werden“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 8). Schuld hat die „politische Klasse“ oder die „Oligarchie“: „Es hat sich eine politische Klasse herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Diese Oligarchie

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hat die Schalthebel der staatlichen Macht, der politischen Bildung und des informationellen und medialen Einflusses auf die Bevölkerung in Händen“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 8). Diese wird lexikalisch in die Nähe von Kriminalität, Korruption und Diktatur gerückt, was sowohl durch Neologismen wie „Meinungsdiktat“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9) wie auch mit etablierten Begriffen wie „Kungelei“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9) geschieht. Wer sich konkret hinter diesen nebulösen Zuschreibungen verbirgt, offenbart sich nur an wenigen Stellen: „Die Allmacht der Parteien und deren Ausbeutung des Staates gefährden unsere Demokratie“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9). Besonders die CDU und Kanzlerin Angela Merkel rücken ins Visier der Rechtspopulisten: „Im Gegensatz zur CDU und ihrer Kanzlerin halten wir das deutsche Volk für ebenso mündig wie das der Schweizer, der Briten, der Franzosen, der Italiener und der Niederländer. Entgegen anderslautender Behauptungen entscheiden Bürger in Schicksalsfragen der Nation weitsichtiger und gemeinwohlorientierter als macht- und interessengeleitete Berufspolitiker“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9).

6 Kampf um die symptomfunktionale Leistung: Wem gehört die Demokratie? Wie verhält es sich mit der Bedeutung von „Demokratie“ und „Volk“ bei der AfD? Die AfD beschreibt im ersten Kapitel ihres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2017 „Verteidigung der Demokratie in Deutschland“ eine innere und eine äußere Krise der deutschen Demokratie. Von außen droht die europäische Integration die Herrschaft des Volkes zu untergraben, von innen bedrohen die Parteien die Demokratie. Obwohl die Antworten der AfD gewisse Friktionen offenbaren in der Frage, ob die Demokratie nun verteidigt (vgl. Alternative für Deutschland 2017, S. 7), erhalten (vgl. Alternative für Deutschland 2017, S. 7) oder wiederhergestellt werden muss (vgl. Alternative für Deutschland 2017, S. 8), grenzt sie ihr Demokratieverständnis deutlich von dem der „Parteien“ und „Berufspolitiker“ ab. Implizit unterscheidet die AfD zwischen zwei Formen von Demokratie: einer vermeintlich besseren, der „unmittelbaren Demokratie“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9) und einer schlechteren, der „Parteiendemokratie“. So heißt es: Würde das Volk direkt abstimmen, wäre das Ergebnis ein anderes. Parteien sind in dieser

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Sichtweise nicht notwenige Mittler im demokratischen Streit, welche die Vielzahl an Positionen artikulieren und aggregieren, sondern sie erscheinen als verfälschende Instanz des „wahren Volkswillens“. Kurzum: Nur direkte Demokratie sei echte Demokratie, in der repräsentativen Demokratie komme der Volkswille nicht ausreichend oder nicht richtig zur Geltung. So entsteht eine kontextuelle Opposition zwischen „Partei“ einerseits und „Demokratie“ andererseits. Die argumentative Strategie der AfD zielt darauf, andere Parteien im Konkreten sowie die „politische Klasse“ im Allgemeinen als unverträglich mit der „wahren“ Demokratie zu rahmen. Sie wenden den Demokratiebegriff gegen die Parteien. Zugleich folgt aus dieser Konstruktion eines Gegensatzes von „Parteien“ und „Demokratie“ noch kein ausgefeilter Gegenentwurf eines Demokratieverständnisses. Jenseits vager Plädoyers für die „direkte Demokratie“ offenbart sich kein Plan für ein neues Regierungssystem, das eine direkte Konfrontation zu Merkels IV. Teilregime, der horizontalen Verantwortlichkeit, erkennen lässt. Dennoch initiieren die Rechtspopulisten so einen Kampf um das Wort „Demokratie“. Im „Kampf um Wörter“ wird unterschieden zwischen Bedeutungskonkurrenzen und Bezeichnungskonkurrenzen: Unter „Bedeutungskonkurrenz“ fällt ein Zustand, in dem verschiedene Bedeutungen für denselben Begriff vorliegen. Eine Bezeichnungskonkurrenz liegt hingegen vor, wenn zwei unterschiedliche Wörter für dieselbe Sache existieren (vgl. Klein 2014, S. 73 ff.). Wenn verschiedene Bedeutungen für denselben Begriff miteinander „ringen“, ist auch von semantischen Kämpfen die Rede (vgl. Klein 2014, S. 73). Indem Populisten den Demokratiebegriff strategisch gegen die anderen Parteien wenden, zwingen sie diese in eine Auseinandersetzung: Wer ist der wahre Feind der Demokratie? So entspannt sich ein „leerer“ semantischer Kampf. Leer ist dieser semantische Kampf, da keine klare Bedeutungskonkurrenz erkennbar ist. So artikuliert die AfD eine deutliche Kritik am Zustand der Demokratie und sie beschreibt die Parteien als Gefährder derselben, aber eine alternative Bedeutung formuliert sie nicht. Dennoch versuchen beide Seiten – Populisten und Nicht-Populisten – den Demokratiebegriff für sich zu behaupten und gegen die jeweils andere zu verwenden. Was Josef Klein unter das Schlagwort „symptomfunktionale Leistung einer Vokabel“ (Klein 2014, S. 82) fasst, ist keine Form des semantischen Kampfes im eigentlichen Sinne. Vielmehr geht es laut Klein darum, welcher politischen Gruppierung ein Begriff zugerechnet wird. Die Bedeutung selbst spielt dabei eine nachrangige Rolle.

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7 Bedeutungskonkurrenz: Volk – demos oder ethnos? Ist der Kampf um den „Demokratiebegriff“ somit weithin „leer“, gilt dies nicht für den semantischen Kampf um das „Volk“. Rechte Populisten zielen auf die Priorisierung von ethnos vor demos. Populismus ist damit ein Kampf um die Frage „Wer ist das Volk?“. Diese berührt eines der Grundprobleme der politischen Theorie wie Jan-Werner Müller anmerkt (vgl. Müller 2016, S. 132): „Fragen der demokratischen Inklusion lassen sich nicht demokratisch entscheiden. Denn wer sagt, die Grenzen der Demokratie sollten vom Demos bestimmt werden, muss ja erst einmal feststellen, wer zum Demos gehört – … was ja gerade die Frage war“ (Müller 2016, S. 132). Die AfD trennt zwischen „ethnisch Deutschen“ und „juristisch Deutschen“. So heißt es im Wahlprogramm: „Der Erhalt des eigenen [Hervorhebung durch den Autor, J.S.] Staatsvolks ist vorrangige Aufgabe der Politik und jeder Regierung. Dies kann in der derzeitigen demografischen Lage Deutschlands nur mit einer aktivierenden Familienpolitik gelingen“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 37). Sie führt nur wenige Zeilen später aus: „Daher sind Maßnahmen zur mittelfristigen Erhöhung der Geburtenrate der einheimischen [Hervorhebung durch den Autor, J.S.] Bevölkerung unverzichtbar, auch um unsere Sozialversicherungssysteme zu stabilisieren“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 37). Die Unterscheidung zwischen einer einheimischen und einer nicht einheimischen Bevölkerung ist hier offenkundig, ebenso wie im folgenden Zitat: „Wir wollen unseren [Hervorhebung durch den Autor, J.S.] Nachkommen ein Land hinterlassen, das noch als unser Deutschland erkennbar ist“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 28). Die Forderung der AfD, bei der Staatsbürgerschaft wieder zum Abstammungsprinzip zurückzukehren, stützt den Eindruck: Das „Volk“, an das sich die AfD wendet, ist das „ethnisch deutsche“, nicht das „juristisch deutsche“. Die AfD wendet sich also nur an eine bestimmte Gruppe bzw. schließt bestimmte Gruppen von ihrem Adressatenkreis aus. Zugleich meidet die Partei eine offensive Opposition zum Teilregime der politischen Freiheiten, indem sie von der Forderung nach einer Entrechtlichung dieser Gruppen absieht.

8 Moralismus: Wer ist gut, wer ist böse? Den stark polarisierenden Zuschreibungen von Populisten ist Moralismus inhärent, der sich in ihrer Sprache widerspiegelt (vgl. auch Mudde und Kaltwasser 2012, S. 8). Das liegt erstens an der populistischen Nomination und

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­ rädikation, also an der Art wie andere Akteure benannt und welche EigenP schaften ihn zu- oder abgesprochen werden. Dabei greifen Populisten auf moralische Kategorien zurück und sie prangern primär die mangelnde moralische Integrität ihrer Gegner an, anstatt sich auf eine Argumentation über das Für und Wider der einzelnen politischen Vorschläge einzulassen. Auch die Unterscheidung zwischen dem „Volk“ und den „Eliten“ ist – zweitens – moralisch. Die idealtypische Trennung zwischen dem „Volk“ und den „Eliten“ beruht nicht auf dem tatsächlichem Machtverhältnis, sondern allein auf einer moralischen Annahme (vgl. Mudde und Kaltwasser 2012, S. 8). Besonders deutlich wird dies bei Populisten in Regierungsverantwortung, wie Viktor Orban oder Donald Trump. Die AfD spricht von einer „politischen Klasse“, „deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 8). Mit Begriffen wie „Kungelei“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9), „Parteisoldaten“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 10) und „Parteibuchwirtschaft“ (Alternative für Deutschland 2017, S. 9) zeichnet sie das Bild einer korrupten Parteienlandschaft. Dieses Unterstellen von „schlechten Absichten“ gilt laut Lübbe als politischer Moralismus: „Politischer Moralismus [ist auch] […] die rhetorische Praxis des Umschaltens vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität“ (Lübbe 1989, S. 120). Diese Moralisierung der Debatte – die nicht nur von den Populisten betrieben wird, im Populismus aber notwendigerweise enthalten ist – führt zu einem unerfüllten Geltungsanspruch. Dem Gegenüber wird Wahrhaftigkeit abgesprochen. Das Gelingen von kommunikativem Handeln rückt in Ferne: Aus einem offenen Kampf unterschiedlicher Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft wird in der Sprache der Populisten ein Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“. Die Grundlage der rationalen Argumentation wird porös, ist Moral doch nicht verhandelbar. Damit führt die dem Populismus inhärente Moralisierung zu einer qualitativen Verschlechterung der politischen Debatte, in der giftige Schlagabtausche sachliche Auseinandersetzungen ablösen.

9 Populismus – eine Bedrohung für die liberale Demokratie? Der Beitrag eröffnete die eigene Argumentation mit der Feststellung, die Sprache der Populisten sei trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen noch immer ein Desiderat. In der Tat fehlt ein Gesamtbild in Form eines klaren Merkmalkatalogs,

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der populistische Sprachgebrauch eindeutig abgrenzt. Bereits die Begriffsverständnisse der Autoren streuen breit, in der Frage, ob eine linke und eine rechte Ausprägung zu unterscheiden sind, tun sich Gräben auf. Folglich herrscht auch keine Einigkeit in der Frage, welche sprachlichen Strategien charakteristisch für den Populismus sind und wie sich dieser zur Demokratie verhält. Das Ziel des Beitrags konnte, wollte und sollte nicht sein, mit einer neuen Operationalisierung populistischer Sprache aufzuwarten. Vielmehr standen das Vermessen des Forschungsfeldes sowie das Beispiel des Sprachgebrauchs der AfD im Vordergrund. Die Ergebnisse beider Abschnitte legen eine ambivalente Beziehung von Populismus und Demokratie nahe. Gegen das demokratiefeindliche Potenzial populistischer Sprache spricht zunächst das idealtypische Argument, populistische Sprache sei inhaltsleer. So handelt es sich nicht im Wesentlichen um „Sprache“, sondern um „Sprachkultur“. Ihre genuinen Merkmale sind erstmal ideologieneutral und damit nicht normativ aufgeladen. Theoretisch ist die Sprache der Populisten auf einer anderen Ebene angesiedelt als das hier vorangestellte normative Verständnis der liberalen Demokratie. Begriffe wie „Volk“ und „Demokratie“ können ideologisch verschieden aufgeladen werden – liberal und inklusiv, illiberal und exklusiv. Für die Aushöhlung der Demokratie durch populistischen Sprachgebrauch spricht indes die negative Haltung von Populisten zum demokratischen Status quo und der Versuch, den Demokratiebegriff für sich zu besetzen. „Demokratie“ dient ihnen als Waffe und Schild zugleich. Als Waffe erlaubt er den Angriff auf die „Eliten“, denn diese würden die Demokratie gefährden. Indem sich Populisten als Verteidiger der Demokratie inszenieren, nutzen sie diese als Schild – frei nach dem Motto: Kann denn ein Verteidiger der Demokratie ihr Angreifer sein? Zugleich rühren Populisten an einer Existenzfrage der Demokratie: „Wer ist das Volk?“. Schließlich neigen Populisten dazu, ihre Sprache moralisch aufzuladen. Ist dies zwar nicht per se antidemokratisch, kann das Beharren auf moralischer Überlegenheit der Demokratie doch die Luft zum Atmen nehmen, weil Kompromiss und Ausgleich erschwert werden. Hiermit nagt populistischer Sprachgebrauch an einer offenen und fairen Debattenkultur. Diese aber ist grundlegend für die friedliche Austragung von Konflikten in liberalen Demokratien. Was bedeutet das für den Umgang mit populistischer Sprache? Sternberger ließ auf seinen berühmten, eingangs zitierten Satz die Aufforderung folgen: „Seien wir auf der Hut!“ (Sternberger et al. 1957, S. 7) Seine Warnung hat auch über 60 Jahre nach Erscheinen nicht an Aktualität eingebüßt.

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Städtebau/Architektur

Der „Mitte“ ist grundsätzlich zu misstrauen Über „Rechte Räume“, populistische Rekonstruktionsvorhaben und die Frage der Ideologie Stephan Trüby 1 Einleitung Mit dem internationalen Aufschwung rechtspopulistischer, rechtsradikaler und rechtsextremistischer Politikformen werden nicht nur auch Aussagen zur Kultur im Allgemeinen, sondern auch zur Architektur im Besonderen getätigt – dies soll im Folgenden deutlich werden. Der Architektur- und Städtebau-Diskurs ist immer wieder auf das Thema des Populismus zu sprechen gekommen: Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Ausgabe der Zeitschrift ARCH + 162 „Die Versuchung des Populismus“ (Oktober 2002), in der sich neben einem schlicht „Populismus“ betitelten historischen Überblick über Versuche einer „populären Ästhetik“ im Architektur- und Städtebau-Diskurs nach 1945 aus der Feder von Jean-Louis Cohen (Cohen 2002) auch einige Untersuchungen zur – spätestens nach dem Mord an dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn 2002 – aufgeheizten politischen Situation in den Niederlanden finden. Darauf folgte das Buch What People Want: Populism in Architecture and Design (Shamiyeh und DOM Research Laboratory 2005). Insbesondere letztere Publikation verdammte den Populismus keineswegs, sondern versuchte ihn als eine positive Herausforderung zu begreifen. Derlei kann von folgenden Veröffentlichungen nicht behauptet werden, die die Raumnahmen von Rechtsradikalen und Rechtsextremisten

S. Trüby (*)  Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_10

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i­nsbesondere in Deutschland zur Sprache bringen: die Bücher Braune Kameradschaften. Die militanten Neonazis im Schatten der NPD (Röpke und Speit 2004), Der Kampf um Räume. Neoliberale und extreme rechte Konzepte von Hegemonie und Expansion (Kellershohn und Paul 2013) oder Erinnerungsorte der extremen Rechten (Langebach und Sturm 2015). Auch eine aktuellere Ausgabe der Zeitschrift ARCH + ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen: die ARCH + 235 „Rechte Räume. Bericht einer Europareise“ vom Mai 2019, die vom Verfasser und seinem Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart in Kooperation mit der ARCH + -Redaktion konzipiert wurde (Trüby 2019). Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Begriffe Rechtspopulismus, -radikalismus, -extremismus sowie Faschismus definiert. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, dass der Begriff „Rechtspopulismus“ für viele der zu schildernden Phänomene als verharmlosend erachtet werden muss, aber durchaus auf viele der in jüngerer Zeit vor allem in Deutschland zu verzeichnenden Rekonstruktionsphänomene passend erscheint. In einem dritten Schritt wird am Beispiel der 2018 abgeschlossenen Teilrekonstruktion der Neuen Frankfurter Altstadt der Beweis erbracht, dass Rekonstruktionen im Allgemeinen und Altstadt-Rekonstruktionen im Besonderen zum taktischen Arsenal von Rechtsradikalen gehören, Gehör in der „Mitte der Gesellschaft“ zu finden. Schließlich wird in einem vierten und letzten Schritt auf Handlungsmöglichkeiten gegen „Rechte Räume“ eingegangen, die der Verfasser vor allem in der Benennung und Dokumentation ideologischer Gehalte von Architekturen und urbaner Räume sieht. Es ist eben nicht so – wie jüngst in der englischen Zeitschrift Architects’ Journal unter dem Titel „Judge architecture on its merits, not on the politics of its designer“ zu lesen war (Finch 2020), dass es völlig egal ist, was Architekt*innen so (politisch) denken, wenn sie planen und entwerfen. Architektur ist nicht zuletzt eine intellektuelle Praxis – hierfür steht auch die weit mehr als zweitausendjährige Geschichte der Architekturtheorie.

2 Rechtspopulismus, Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus, (Neo-)Faschismus – ein paar einleitende Begriffsklärungen Doch was ist eigentlich mit „Rechtspopulismus“, „Rechtsradikalismus“, „Rechtsextremismus“ und „(Neo-)Faschismus“ gemeint? Und wie verhalten sich diese Strömungen zum Konservatismus? Mit Ernst Hillebrand sei unter „Rechtspopulismus“ im Folgenden „kei[n] klar definierte[s], einheitliche[s]“ Konzept

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verstanden (Hillebrand 2015, S.  9), sondern: „Ein kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich am ehesten noch im soziokulturellen Bereich finden: in einer Präferenz für das Gewohnte, das Nationale, das Vertraute und in einer dezidierten Abneigung gegenüber den etablierten Mainstreamparteien und den amtierenden liberalen Eliten.“ Rechtspopulisten, so Hillebrand, sind keineswegs ein „Problem für die etablierten konservativen Parteien“, keineswegs „eine Art Verteilungskampf im rechten Lager“, ganz im Gegenteil: Sie „gewinnen ihre Wähler in einem nicht unerheblichen Maße aus traditionellen Wählermilieus der linken Mitte“. Mit Folgen, die aus verschiedenen Ländern bekannt sind, etwa aus Polen, Österreich oder Ungarn: „Der Abfluss von aus einfachen sozialen Verhältnissen stammenden Wähler zu den Rechtspopulisten droht die Machtperspektive der linken Mitte dauerhaft zu schwächen.“ Als Ursache dieser Entwicklung macht Hillebrand eine wachsende „Kluft zwischen öffnungsorientierten, liberal-kosmopolitischen Eliten und ­ nationalistisch-protektionistischen Bevölkerungsgruppen“ aus (Hillebrand 2015, S. 8). Er beklagt die „Aushöhlung der Demokratie“ im „Mehrebenensystem von Nationalstaaten und Europäischer Union“, in dem für eine signifikante Anzahl von Bürger*innen „das gewünschte Maß an Teilhabe und Repräsentativität“ immer mehr verloren zu gehen scheine: „Das Vertrauen, die Dynamiken des Kapitalismus durch demokratische Politik einhegen zu können, ist im neoliberalen Finanzkapitalismus deutlich geschwunden.“ Gleichzeitig warnt Hillebrand vor allzu ökonomistischen Erklärungsmodellen – und empfiehlt, die „kulturellen und gesellschaftlichen Dimensionen der Verunsicherung von Wählern“ (Hillebrand 2015, S. 12) stärker zu berücksichtigen: „auch in gut funktionierenden Volkswirtschaften – das zeigen die Beispiele der Schweiz oder Dänemarks – können Rechtspopulisten erfolgreich sein und die politische Agenda (mit)bestimmen. Es wird daher eines sehr viel breiteren, das ganze Spektrum der Verunsicherungsgefühle abdeckenden Ansatzes bedürfen, um dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben.“ Für die allermeisten der in diesem Artikel thematisierten kulturellen Entwicklungen kann der Begriff des „Rechtspopulismus“ jedoch als eher inadäquat und zumeist auch verharmlosend betrachtet werden. Viele der im Folgenden zu beschreibenden Phänomene sollten daher besser nicht als „rechtspopulistisch“, sondern als „rechtsradikal“ bezeichnet werden. Was ist damit genau gemeint? Die deutschen Verfassungsschutzbehörden definieren „Radikalismus“ im Allgemeinen und „Rechtsradikalismus“ im Besonderen als „überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits ‚von der Wurzel (lat. radix) her‘ anpacken will“ (verfassungsschutz.de. 2020a). Sie konzedieren: „Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer

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seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird, jedenfalls nicht, so lange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt.“ Erst dann, wenn Radikale den demokratischen Verfassungsstaat durch Taten aktiv zu beseitigen versuchen, sprechen die deutschen Verfassungsschutzbehörden von „Extremismus“ – der dann entsprechend auch beobachtet wird. Im Glossar des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der auf www.verfassungschutz.de abrufbar ist, wird vor diesem Hintergrund der „Rechtsextremismus“ folgendermaßen definiert: „Unter Rechtsextremismus werden Bestrebungen verstanden, die sich gegen die im Grundgesetz konkretisierte fundamentale Gleichheit der Menschen richten und die universelle Geltung der Menschenrechte ablehnen. Rechtsextremisten sind Feinde des demokratischen Verfassungsstaates, sie haben ein autoritäres Staatsverständnis, das bis hin zur Forderung nach einem nach dem Führerprinzip aufgebauten Staatswesen ausgeprägt ist. Das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, aus der u. a. Fremdenfeindlichkeit resultiert. Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder ‚Rasse‘ bestimme den Wert eines Menschen. Offener oder immanenter Bestandteil aller rechtsextremistischen Bestrebungen ist zudem der  Antisemitismus. Individuelle Rechte und gesellschaftliche Interessenvertretungen treten zugunsten kollektivistischer ‚volksgemeinschaftlicher‘ Konstrukte zurück (Antipluralismus).“ (verfassungsschutz.de. 2020b) Wenngleich diese Unterscheidung von Radikalismus und Extremismus brauchbar erscheint, so sei dennoch die „Extremismustheorie“, die dem Extremismusverständnis der deutschen (ebenso wie beispielsweise die österreichischen) Verfassungsschutzbehörden zugrunde liegt, in Frage gestellt. Denn sie besagt erstens, dass ein angeblich ideologiefreier Staat Äquidistanz sowohl zum Rechts- als auch zum Linksextremismus halten solle – und zweitens, dass es so etwas wie eine besonnene „Mitte“ der Gesellschaft gäbe, die stets fern jeglichen Extremismus sei (vgl. Bruns et al. 2014, S. 24). Doch wer sich auch nur etwas mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland beschäftigt hat, der weiß: Nichts davon ist richtig. Der „Mitte“ ist grundsätzlich zu misstrauen. Entsprechend vertritt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer die These – etwa in seiner zehnjährigen Studie Deutsche Zustände –, dass sich rechtsextreme Einstellungen gerade auch in dieser ominösen „Mitte der Gesellschaft“ finden lassen (vgl. Bruns et al. 2014, S. 25). Mit Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl ist die Extremismustheorie darüber hinaus auch insofern zu kritisieren, als sie nicht unterscheidet, „ob sich Gruppierungen gegen die aktuelle, bürgerliche Demokratie wenden, weil sie Demokraten per se ablehnen (wie die ‚Rechtsextremen‘) oder weil sie ihnen nicht demokratisch genug ist und mehr

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Demokratie verlangt wird (wie dies vermeintlich ‚Linksextreme‘ tun).“ Die Autor*innen folgern entsprechend: „Die Extremismustheorie dient also lediglich der eigenen Selbstversicherung sowie der Nivellierung und Banalisierung rechtsextremer Ideologie seit 1945.“ Die Kritik an der Extremismustheorie sollte aber nicht als Aufruf zur Abschaffung des Verfassungsschutzes missverstanden werden. Dass dies kontraproduktiv wäre, zeigt beispielsweise der Blick in die USA, wo es gar keinen Verfassungsschutz gibt und der Rechtsextremismus nicht nur staatlich gar nicht beobachtet wird (vgl. Grumke 2001, S. 23), sondern sogar durch das First Amendment, also den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten aus dem Jahre 1791, geschützt ist – jedenfalls so lange er nicht terroristisch agiert. Lediglich privat finanzierte Watchdog-Organisationen wie die Anti-Defamation League (ADL) etc. sorgen dort für organisierten Widerstand gegen Rechtsextremist*innen – mit begrenztem Erfolg. Gerade um den Rechtsextremismus im Sinne eines antidemokratischen Umsturzprojektes nicht aus dem Blick zu verlieren, sei er im Folgenden verwendet – wohlgemerkt nicht im Sinne einer Extremismustheorie, sondern im Sinne eines Steigerungsbegriff des zwar zu kritisierenden, aber auch von der Meinungsfreiheit gedeckten „Rechtsradikalismus“ (vgl. Bruns et al. 2014, S. 26). Der klarste Beweis für die Inexistenz einer „besonnenen Mitte der Gesellschaft“, den das 20. Jahrhundert geliefert hat, ist der Faschismus. Ihn hat Peter Sloterdijk einmal als einen „plötzlichen Royalismus von unten“ definiert: „Das Volk emaniert aus seiner dunklen Mitte einen Mann, in dem es ganz bei sich zu sein wähnt.“ (Sloterdijk 2004, S. 639) In ähnlicher Weise argumentiert Zeev Sternhell, der den Faschismus gleichsam mittig aus der Gesellschaft aufsteigen lässt und ihn auch nicht „irgendeiner bestimmten sozialen Klasse“ zuordnet (Sternhell 2019, S. 7): Faschismus, so der israelische Historiker, wandte sich „seit seinen Anfängen sowohl an die jeweiligen intellektuellen Eliten als auch an die unwissende Landbevölkerung“. Dies wird gerade in der Entstehungsphase des Faschismus deutlich, dessen ideologische Wurzeln laut Sternhell eben nicht, wie vielfach behauptet, im Italien des frühen 20. Jahrhunderts zu finden sind, sondern bereits vorher im Frankreich der Jahre zwischen 1880 und 1890 festgestellt werden können. Dort habe sich zum ersten Mal „eine Allianz zwischen Theorien“ herausgebildet, „die von den unterschiedlichen Spielarten des Sozialismus – entweder nicht-marxistisch, anti-marxistisch oder tatsächlich post-marxistisch – und dem Nationalismus abgeleitet wurden“ (Sternhell 2019, S. 22) und vor allem mit dem Namen Maurice Barrès (1862–1923) verbunden ist, der auch als erster den so gut wie immer antisemitisch grundierten Begriff „Sozialistischer Nationalismus“ prägte, und zwar während der Dreyfus-Affäre Mitte der 1890er (Sternhell 2019, S. 35). Die breite intellektuelle Bewegung der Jahre nach

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1890, so ­Sternhell, „war vor allem eine Bewegung der Revolte, der Revolte gegen die Welt des Rationalismus und des Denkens in den Kategorien von Ursache und Wirkung, der Revolte gegen Materialismus und Positivismus, gegen die Mittelmäßigkeit des bürgerlichen Gesellschaft und gegen die Verwirrungen der liberalen Demokratie.“ (Sternhell 2019, S. 24) Gegen die als dekadent wahrgenommene „Welt des alten, bürgerlichen Europas“ (Sternhell 2019, S. 69) sollte eine neue Zeit antreten: die Zeit des Faschisten, „der die Welt vom bürgerlichen Geist befreit und eine Sehnsucht nach Reaktion und Wiedergeburt weckt, die gleichzeitig geistig und physisch, moralisch, sozial und politisch sein sollte“ (Sternhell 2019, S. 63). Als Alternative zum liberalen und friedfertigen Bürger und zum städtischen Händler warb der Faschismus, so Sternhell, für „den Barbaren und den Ritter des Mittelalters“: „Als Ersatz für den europäischen Rationalismus boten sie das Gefühl, die Empfindsamkeit und die Gewalt. Und anstelle des degenerierten Mannes einer Filzpantoffel-Zivilisation, dem körperliche Anstrengung widerlich geworden war, boten sie den Kult des Körpers, der Gesundheit und des Lebens in freier Natur.“ (Sternhell 2019, S. 70) Mit schrecklichen Folgen für Millionen von Menschen. Und: mit Konsequenzen auch für die Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau – bis in die heutige Zeit hinein.

3 Rechte Räume – eine Typologie1 Die aktuelleren Konsequenzen rechtspopulistischer, rechtsradikaler bzw. rechtsextremistischer oder auch neofaschistischer Ideologien lassen sich zu einer viergliedrigen Typologie zusammenfassen, deren erster Typus mit „Wohnhäuser für letzte und nicht ganz so letzte Deutsche“ umrissen werden kann. Den nur scheinbar unverdächtigen Anfang markiert in diesem Zusammenhang das Wohnhaus des Dichters Botho Strauß in der Uckermark. An Strauß’ rechtslastiger Taktung dürfte spätestens seit Oktober 2015 kein Zweifel mehr bestehen, denn damals durfte er im Spiegel seine Glosse „Der letzte Deutsche“ veröffentlichen. Darin konstatiert er Sätze wie: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.“ (Strauß 2015) Dazu passend

1Der

folgende Abschnitt ist die leicht aktualisierte Fassung eines Artikels, der in der ARCH + 228: „Stadtland – Der neue Rurbanismus“ (April 2017) erschien. Zuvor war eine Kurzfassung unter dem Titel „Rechte Räume“ am 1. September 2016 in DIE ZEIT erschienen.

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fabuliert Strauß von der „Flutung des Landes“, um dann in zähneknirschendem Fatalismus zu resümieren: „Dank der Einwanderung der Entwurzelten wird endlich Schluss sein mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur. Der sie liebt und ohne sie nicht leben kann, wird folglich seine Hoffnung allein auf ein wiedererstarktes, neu entstehendes ‚Geheimes Deutschland‘ richten.“ Derlei Äußerungen fielen bei Strauß nicht gänzlich unerwartet vom Himmel, denn zwölf Jahre zuvor, 1993, hatte er schon einmal in dieselbe Kerbe geschlagen, als er in seinem Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ beklagte, dass wir „in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit“ nicht mehr verstehen würden, „dass ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen“. Entsprechend geriet der Text denn auch zum Impulsmoment des 1994 erschienenen Sammelbandes Die selbstbewusste Nation, unter reger Beteiligung einschlägig bekannter rechter Schwerdenker. Mitten in die Empörungswellen um seinen „Anschwellenden Bocksgesang“ hinein bezog Botho Strauß ein ca. 80 km nördlich-östlich von Berlin gelegenes Landhausrefugium in der Uckermark. Das Anwesen im Dörfchen Grünheide besteht aus zwei Häusern: einem Gäste- und einem großen Haupthaus, beide strahlend weiß gestrichen und bedeckt von Satteldächern aus roten Ziegeln. Es ist ebenso real existierendes Bauwerk wie imaginärer Ort; mehr noch: ein rurales Grand Guignol der gebildeten Stände. Seit Ernst Jüngers Residenz im Stauffenberg’schen Forsthaus zu Wilflingen hat kein zweites Dichterhaus in Deutschland derart viel journalistisches Futter für den kleinen Grusel zwischendurch geboten. So blickten 2003 Ingo Niermann und Joachim Bessing mit ihrer Dichten Beschreibung „Hier wohnt Botho Strauß“ das Alltägliche vor Ort so lange an, bis es monströs zurückblickte. 2007 folgte Volker Weidermanns Visite des Hauses mit seinem FAZ-Stück „Der große Laubangriff“, die vor den Toren des Anwesens endet: „Ein Ort, an dem sich zum Beispiel ein Glück finden ließe, eine Zufriedenheit im bloßen schönen Schauen. Oder aber eine Weltverachtung, eine Menschen-, Zivilisations- und Gesellschaftsverachtung, Endzeitprophetien, Freude auf den Weltensturz.“ Und 2013 gab Hubert Spiegel den embedded journalist, als er in seinem ebenfalls in der FAZ unter dem Titel „Der alte Junge“ erschienenen Bericht von einer Wanderung mit dem Dichter vermerkt: „Der Leviathan ist sein Nachbar.“ Die Basis für derartige Engführungen von Wohnort und WeltbildExegese hatte 1997 der Dichter selbst geliefert, und zwar mit seinem Buch Die Fehler des Kopisten, das über weite Strecken aus schwer erträglichem Räsonieren besteht, das ums eigene Haus in der Landschaft kreist, durch die Strauß mit Sohnemann stiefelt. Im Tonfall eines NPDlers steht dort tatsächlich geschrieben: „Die Deutschen waren fünf oder sechs Jahre von ihrer G ­ emeinschaft berauscht.

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Zur Strafe mussten sie tausend Jahre lang u­ntersuchen, wie es dazu kommen konnte.“ (Strauß 1997) Zu Recht warf ihm Thomas Assheuer in DIE ZEIT ein „Raunen […] in Runenschrift“ vor (Assheuer 1997). Die Strauß’sche Engführung von Landhaus-Elegie und deutschnationalem Gedankengut findet ihr Echo in der „metapolitischen“ Fusion von Landhaus und völkischem Gedankengut, die der AfD-Politiker Björn Höcke betreibt – mit dem Unterschied allerdings, dass der Fatalismus des traurigen Dichters durch kämpferische Aggression ersetzt wird. Im typisch alarmistischen Jargon seines Milieus fürchtet Höcke (nicht nur) seit der so genannten „Flüchtlingskrise“ 2015 ein „Aussterben des deutschen Volkes“, in seiner Partei sieht er auch die „letzt[e] evolutionär[e] Chance für unser Land“ (Bednarz 2015). Seit 2008 lebt Höcke im Dreihundertseelen-Dorf Bornhagen im Landkreis Eichsfeld an der Grenze zwischen Thüringen und Hessen. Folgt man den detektivischen Recherchen des Publizisten und Soziologen Andreas Kemper, dann spielt dieser Ort eine zentrale Rolle im schriftstellerischen Frühwerk des Politikers, das er unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ im NPD-Magazin Eichsfeld-Stimme publiziert hat. Im Jahre 2012 erschien dort ein Ladig-Text mit dem Titel „Ein Dorf in Thüringen“, in dem zu lesen steht: „Kennen Sie Bornhagen? […] Auf dem Berg über dem Dorf thront die weitbekannte Burg Hanstein. Sie gilt als eine der romantischsten Burgruinen Mitteldeutschlands. Nach der Besteigung des Burgbergs lockt die historische Herberge „Klausenhof“, 2007 & 2008 zum besten Gasthaus Thüringens gekürt, zur Einkehr. […] Der dem Gasthaus gegenüber gelegene Hang ist mit einer kleinen protestantischen Kirche, einem alten Pfarrhaus und einer alten Schule bebaut.“ (Kemper 2016) Dieses Pfarrhaus befindet sich seit 2008 im Besitz von Björn Höcke; er bewohnt es gemeinsam mit seiner Frau Monika und vier Kindern. Das schindelbewehrte Haus lässt sich mit Ladig/ Höcke als Ankerpunkt von radikalen nationalistischen Ambitionen lesen, von heimatlicher Scholle aus den Deutschen in höchster Dringlichkeit das Kinderkriegen mittels finaler Rettungsejakulate einzubleuen – und die so entstandene Volksgemeinschaft durch eine nationalsozialistisch inspirierte „organische Marktwirtschaft“ zu versorgen. Was unter „organischer Marktwirtschaft“ zu verstehen ist, mag am Beispiel einiger jüngerer so genannter „völkischer Siedlungen“ deutlich werden, die in den letzten Jahren vornehmlich im ostdeutschen ländlichen Raum und in geringerer Dichte auch in Bayern, Hessen, Niedersachsen sowie ­Schleswig-Holstein entstanden sind. Damit ist der zweite Typus der Typologie rechter Räume angesprochen. Denn viele NPD-Kader, aber auch AfD-Affine, suchen – von Abscheu gegenüber jeglicher großstädtischer Multikulti-Lebensweise erfüllt – ihr Heil zunehmend auf dem Land. Fernab von Menschen mit

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imaginierten oder realen Migrationshintergründen siedeln sie sich vor allem in ­Mecklenburg-Vorpommern an. Dort proben rechte Siedler*innen besonders gerne den „Erhalt des deutschen Volkes“ – in extrem billig zu erwerbenden Immobilien. Zunächst als freundliche Nachbarn getarnt, unterwandern sie Vereine, Kindergärten und Schulen – und lassen bisweilen ganze Landstriche ins latent Rechtsextreme kippen. Ihr Programm lautet vertraut und schien überwunden: „Blut und Boden“. Unter diesem Motto wollen „völkische Siedler“ als irgendwie blutsmäßig verbundene „Volksgemeinschaft“ entschlossen gegen einen befürchteten „Volkstod“ anleben. Viele der neurechten Siedler – darunter finden sich einige ganz harmlos scheinende Biobauern – greifen damit auf Denkfiguren zurück, die, bevor sie im Nationalsozialismus und seiner Tötungsmaschine scharf gemacht wurden, in die ausgehenden Kaiserzeit und die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückdatieren. So erfreut sich gerade bei rechtsradikalen Biobauern das so genannte „Artamanentum“ einer gewissen Beliebtheit. Darunter wird eine ­völkisch-agrarromantische Jugendbewegung verstanden, die, 1925 in München im Bund Artam e. V. begründet, eine bäuerliche Besiedelung des „Lebensraums im Osten“ im Schilde führte. 1934 ging sie in der Hitlerjugend auf. Als größte Artamanen-Siedlung wurde in den 1930er Jahren bei Güstrow das Dörfchen Koppelow gebaut, und eben dort siedelten sich kurz nach der Wiedervereinigung auch einige Neo-Artaman*innen an. Wie in der überaus lesenswerten Forschungsarbeit über Völkische SiedlerInnen im ländlichen Raum darlegt ist (Schmidt und Amadeu-Antonio-Stiftung 2014), proklamierten Neo-Artaman*innen bereits 1992 in ihrer eigenen Hauspostille, den Artam-Blättern, die Absicht, ein „artgemäßes Leben nicht nur als Freizeitbeschäftigung zu pflegen. Wir wollen die politische Lage in unserem Land (der Welt!), sowie die Umweltsituation als Herausforderung“ betrachten (Schmidt und ­Amadeu-Antonio-Stiftung 2014, S. 9). Ein paar Dörfer weiter Richtung Osten, in Klaber in der Mecklenburgischen Schweiz, werden die Raumgreifungsversuche der Neuen Rechten besonders deutlich. In einer konzertierten Aktion zogen ein Steinmetz, eine Buchbinderin, eine Hebamme, ein Kunstschmied und weitere Personen – darunter viele Rechtsradikale – in einige leerstehende Häuser und übernahmen nach und nach fast das gesamte Dorfleben. Geübteren Beobachter*innen dürfte die Entzifferung der politischen Einstellung dieser Gruppe leicht fallen, wenn der Blick auf eine Stele im Vorgarten des Steinmetzes fällt, die einen „Irminsul“ genannten Weltenbaum darstellt. Derlei Symbolik diente auch den Artamanen der 1920er und 30er Jahre als Ausweis ihrer gegen das Christentum gerichteten nordisch-heidnischen Gesinnung. Auch beim Schmied finden sich Bezüge zu derlei Mythologien, etwa wenn auf einem Messergriff der nordische Gott Odin mit seinen Raben Hugin und Munin

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zu finden ist (Schmidt und Amadeu-Antonio-Stiftung 2014, S. 22). Schmidt ist zuzustimmen wenn sie schreibt, dass die Siedlungsprojekte in Koppelow, Klaber und anderswo keineswegs als Kurzzeitphänomene zu unterschätzen, sondern als Versuche zu werten sind, „eine langfristige Beeinflussung der Alltagskultur“ zu bewirken (Schmidt und Amadeu-Antonio-Stiftung 2014, S. 8). Ebenso zuzustimmen ist der Politologin und Rechtsextremismus-Forscherin Andrea Röpke, wenn sie in der b­äuerlich-handwerklichen Orientierung der Gruppe sattsam bekannte antisemitische Statements von sich selbst als „schaffend“ wahrnehmenden Tatmenschen wiedererkennt, die sich gegen das Bild vom „raffenden, internationalen jüdischen Finanzkapital“ abzugrenzen versuchen (vgl. Schmidt und Amadeu-Antonio-Stiftung 2014. S. 9). Nicht nur verstrahlte Rechtsesoteriker*innen und rechtsextreme Handwerker*innen mit Hang zum Hinterwäldlerischen arbeiten an einer n­euvölkischem Siedlungspolitik, sondern auch eloquente Großstadt-Erfahrene, wie das Beispiel Udo Pastörs zu zeigen vermag. Pastörs, ein zu Wohlstand gekommener ehemaliger Kaufmann, Uhrmacher und Zeitsoldat – und von Januar bis November 2014 Bundesvorsitzender der NPD –, lebt seit 1999 gemeinsam mit seiner Frau Marianne Pastörs im mecklenburgischen Lübtheen. Dort besitzt die Familie einige Immobilien, so auch Häuser am zentralen Thälmannplatz. Zunächst wohnte die Familie im Ortsteil Benz-Briest in einem Haus in der Hauptstraße, das Teil eines NS-„Reichsmusterdorfes“ war; an einem der Dorfhäuser war sogar bis 2007 ein Hakenkreuz im Giebel zu finden, dann wurde es überfliest. Fast zeitgleich zogen die Pastörs ein paar Kilometer nach Süden, in eine Villa im Naturpark Mecklenburgisches Elbetal, die nur unter der Auflage hätte errichtet werden dürfen, dass dort eine Baumschule entsteht. Doch zu der ist es nie gekommen. Errichtet wurde auf einem 25 Hektar großen Grundstück ein herrschaftliches Haus, auf dessen Eingangstür eine schnurgerade, 65 m lange, von deutschen Eichen flankierte Zufahrtsstraße führt. Doch das Anwesen an einer Landstraße mit dem sprechenden Namen Zum Reizen, das vom mehrfach wegen neonazistischer Umtriebe vorbestraften Lüneburger Bauunternehmer Manfred Börm nach dem Vorbild eines Wehrhofes aus dem Memelland geplant und gebaut wurde, soll nur ein Anfang sein. Denn Pastörs plant sein persönliches deutsches Musterdorf. Von rechten Jugendlichen ließ er bereits neben dem Haupthaus ein Zweifamilienhaus aus rotem Backstein errichten; weitere sollen folgen. Innerhalb eines Jahrzehnts ist es also den Pastörs und weiteren NPD-Gleichgesinnten gelungen, in der Region Wurzeln zu schlagen. Bei der Kommunalwahl 2014 kam die NPD auf fast 11 %.

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Ladigs (und damit wahrscheinlich: Höckes) Ode an die über dem Pfarrhaus thronende Burg Hanstein ließ es bereits anklingen: Die Wohnorte der ­Letztdeutschen benötigen, um politische Brisanz zu entfalten, Orte der Sammlung und der Einübung von völkischen Gemeinschaftserfahrungen – für die sich neben so genannten „Thing-Häusern“ (in Grevesmühlen in Nordwestmecklenburg zum Beispiel steht eines), die oftmals kaum mehr als umgenutzte Schuppen darstellen, vor allem Rittergute und eben Burgen anbieten. Damit ist der dritte Typus rechter Räume angesprochen. Die Orte dieses Typus’ warten mit dem unschätzbaren Vorteil auf, sich nicht nur als monumentale Wegmarken über Jahrhunderte hinweg ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben zu haben, sondern auch anschlussfähig an nationalromantische Traditionen und Vorstellungen ständisch-autoritärer Gesellschaftsordnungen zu sein. Entsprechend tummelt sich auch der eine oder andere Burgenfreak im rechtspopulistischen bis rechtsextremen Milieu; Peter Feist etwa (nicht zu verwechseln mit dem renommierten Kunsthistoriker Peter H. Feist). Der 1960 in Ost-Berlin als Sohn von Manfred Feist, dem Bruder Margot Honeckers, geborene Autor, hat zahlreiche Bücher und Broschüren zu Burgen verfasst, so Burg Eisenhardt in Belzig (1995), Burg Rabenstein (1995), Schloss Wiesenburg (1995), Die Schönburg (1997), Burg Ziesar (1997), Burg Anhalt (1997), Wasserburg zu Gommern (1998) oder Burgen in Fläming (1998), allesamt im Kai-Homilius-Verlag aus Werder an der Havel erschienen, welcher sich mit dem von Jürgen Elsässer herausgegebenen Querfront-Magazin Compact recht gut über Wasser hält. Im Oktober 2014, so berichtete die taz, war Feist damit aufgefallen, bei einer der montäglichen Berliner „Mahnwachen für den Frieden“ umstandslos „Nationalen Sozialismus“ und „Knast für Journalisten“ gefordert zu haben (Jakob 2015). Im Juni 2016 trat er gemeinsam mit Höcke und dem Wiener Identitären-Führer Martin Sellner auf dem rechten „Alternativen Kulturkongress“ in Bielefeld auf – und sprach zum Thema „Außenpolitische Souveränität am Beispiel deutsch-russischer Beziehungen“. Als letztdeutsches Mekka dieser neurechten Burgenromantik kann das Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt betrachtet werden, das sich seit 2002 im Besitz des bereits erwähnten Publizisten Götz Kubitschek und seiner Frau Ellen Kositza befindet. Das Anwesen, 1208 erstmalig urkundlich erwähnt, dient nicht nur als Lebensmittelpunkt des Paares, seiner diversen Tiere und seiner sieben Kinder, ist nicht nur Sitz des Kubitschek’schen Rechtsaußen-Verlages Antaios und seiner Zeitschrift Sezession, sondern fungiert auch als Zentrale des ebenso staatsfeindlich wie staatstragend sich gebenden Instituts für Staatspolitik (IfS), bei dem Elsässer, Feist, Höcke, Sellner und viele weitere Protagonisten der

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n­ euvölkischen Bewegung des Öfteren zu Gast sind. Innen dominiert das Mobiliar von Andreas Paul Weber (1893–1980), einem völkisch-antisemitischen Illustrator, Mitstreiter von Ernst Niekisch und Teilzeit-Möbeldesigner. Außen gemahnt die heilige Heruntergekommenheit des Anwesens an ranzige Vereinsgaststätten mit Draußen-nur-Kännchen-Tristesse – was der Chuzpe von Kubitschek und seiner Mitstreiter, sich als Ordnungsverteidiger zu gerieren, eine unfreiwillige Komik verleiht. Dennoch stellen sich immer wieder Nachahmungseffekte ein, so bei dem Kubitschek-Freund André Poggenburg, dem sachsen-anhaltinischen Rechtsaußen-Politiker und zeitweiligen AfD-Landesvorsitzenden, der sich seit 2007 ebenfalls als Rittergut-Besitzer wähnen darf, und zwar des Rittergutes Nöbeditz, welches seit 1266 urkundlich verbürgt ist. Nachdem sich Poggenburg, Besitzer einer kleinen Firma, die sich auf die Reparatur von Autokühlern spezialisiert hat, mit dem Kauf des Gutes heillos übernommen hatte, drohte der Bankrott des Politikers. Erst sein Einzug als Abgeordneter in den Magdeburger Landtag dürfte ihn bis auf Weiteres finanziell saniert haben. Nun könnte eintreten, was er einer Lokalzeitung kurz nach Kauf des Hauses prophezeit hatte: „Hier soll richtig Leben auf dem Hof einkehren. Mit vielen Tieren, damit unser Hängebauchschwein Rudi, das schon mehrfach ausgebüchst ist, nicht mehr so allein ist.“ (Müller et al. 2016). Der Kubitschek-Poggenburgsche Weg zum Schloss als Weg zum Tier resp. Schwein findet seine Blaupause im Werdegang von Karl-Heinz Hoffmann. Der nunmehr 82-jährige Neonazi mit Hang zur Operettenhaftigkeit – von ihm zirkulieren Fotos von Spaziergängen mit einem Puma –, bewohnte mit der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, seiner Privatarmee, die zeitweise mehr als 400 Mann umfasste, ab 1974 zunächst das Nürnberger Schloss Almoshof und ab 1978 das Schloss Ermreuth östlich von Erlangen, welches im „Dritten Reich“ als NSDAP-Gauführerschule gedient hatte. Nach dem Fall der Mauer zog es auch ihn in die ostdeutsche Provinz; 2004 kaufte er mit seiner Lebensgefährtin Franziska Birkmann das 1551 erstmalig urkundlich erwähnte Schloss Kohren-Sahlis in Sachsen, zu dessen ehemaligen Bewohnern auch der anti­ semitische Dichter Börries Baron von Münchhausen gehört hatte, der 1944 von Adolf Hitler in die „Gottbegnadeten-Liste der wichtigsten Schriftsteller“ aufgenommen wurde. Für den Unterhalt des stark sanierungsbedürftigen Anwesens, dessen Bausubstanz zum Großteil aus dem 18. Jahrhundert stammt und zu dem neben einem Haupthaus auch ein Torgebäude, Ställe, Lagerhäuser, eine Kegelbahn, eine Brennerei und ein Rokokopark gehören, gründete Hoffmann die „Fiduziarische Kulturstiftung Schloss Sahlis“, als deren „Kurator“ er fungierte. In dieser Funktion etablierte er, der gelernte Porzellan- und Schildermaler, eine

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Biozucht von Wollschweinen mit über 100 Tieren. Stefan Schirmer zitierte den Rechtsextremisten in DIE ZEIT mit der Beteuerung, keinesfalls ein Nazi zu sein, sondern „ein sozialistischer Öko-Faschist“ (Schirmer 2016). Für seine als „gemeinnützig“ deklarierte, nicht nur von Schweinen, sondern auch von rechten Kameradschaften bevölkerte „Kulturstiftung“ erhielt er vom Freistaat Sachsen sogar 130.000 EUR Fördergeld. Doch es half alles nichts: Im Jahre 2012 fand Hoffmanns Wille zum Leben auf großem Fuß ein vorläufiges Ende; das Schloss wurde 2017 zwangsversteigert. Wenngleich die architektonische „Metapolitik“ der Letztdeutschen sich primär im Ruralen abspielt – in einsamen Domizilen, auf Dörfern, in entlegenen Ritterguten, Burgen und Schlössern –, so gilt es festzuhalten, dass rechte Räume sich keineswegs nur auf Landpartien beschränken. Im Gegenteil: Die völkischen Interventionen in der Pampa sollten als Komplement von Architekturanstrengungen betrachtet werden, die in deutlich urbaneren Gefilden verortet sind. Damit sei der vierte und letzte Typus rechter Räume vorgestellt. Diese vielgestaltigen Anstrengungen sind allesamt in der Schnittmenge von Architektur und Erinnerungskultur zu verorten. Sie sollen einem neuen Deutschland zuarbeiten, über das der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt einmal ebenso kritisch wie mit guten Gründen geschrieben hat, dass es „nicht von einer anderen Zukunft, sondern von einer anderen Geschichte“ träumen würde (Oswalt 2000, S. 56). Dieser „anderen Geschichte“ ist man auf innerstädtischem Terrain vor allem mithilfe von Rekonstruktionen auf der Spur. Wenngleich die allermeisten Rekonstruktionsvorhaben in Deutschland von einer recht breiten Parteienlandschaft mitgetragen werden – nicht nur rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien wollen rekonstruieren –, so fällt doch auf, dass in der Architekturberichterstattung deutscher neurechter Zeitschriften fast ausschließlich Rekonstruktionsthemen zu Wort kommen. Im Chemnitzer Magazin Blaue Narzisse etwa, dem ausländerfeindlichen Leib- und Magenblatt rechter Jugendmilieus, plädiert Maximilian Zech für mehr „Schönheit und Traditionsbewusstsein in der Baukunst“ (Zech 2014), glaubt diese im wiederaufgebauten Berliner Adlonhotel erkennen zu können – und führt die Kritik an derlei Bauvorhaben auf die angeblich nach wie vor „unantastbaren Autoritäten“ Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe zurück; offenkundig scheint der Autor bis dato weder von der Selbstkritik der Architekturmoderne, die sich spätestens seit den 1950er Jahren Bahn gebrochen hat, noch von der Postmoderne vernommen zu haben. Auch der Architekturgeschichtsprofessor Peter Stephan von der FH Potsdam versucht Rekonstruktionsthemen mit rechten Gesellschaftskreisen zu vermählen. Er gehört zu den wichtigsten Fürsprechern eines Wiederaufbaus etwa der Potsdamer

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Garnisonskirche. Mit öffentlichen Veranstaltungen und einem Forschungsprojekt an seiner Hochschule versucht er die Geschichte dieses 1968 gesprengten Bauwerks vom „Tag von Potsdam“ zu entkoppeln, also dem 21. März 1933, als Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg sich vor der Garnisonskirche die Hand gaben – und damit die verheerende Allianz nationalsozialistischer und deutschnationaler Kräfte besiegelten. Wer die (mittlerweile unter dem Namen „Frank Stephan“ firmierende) Facebook-Seite von Stephan besuchte, weiß, woher der reaktionäre Wind weht, der den Wiederaufbau der Garnisonskirche als Symbolbau eines zu allem bereiten deutschen „Christentums“ zu beflügeln versucht. Bei Stephans Betätigung in den sozialen Medien kann man auf Wutspuren gegen eine „linke Gesinnungsdiktatur“, gegen die „Scheiße“ einer frauen- und migrantenfreundlichen Sprache, auf Pegida-Verstehertum, Kreuzzüge-Verharmlosung und Islamhass stoßen. Die Rekonstruktion einer „anderen“ Geschichte korrespondiert bei vielen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten mit der Marginalisierung der „einen“ Geschichte. Entsprechend äußerte sich Björn Höcke in einem Interview mit dem amerikanischen Sender CBN am 10. März 2016: „Die Deutschen sind einseitig fixiert auf ihre dunklen Seiten. Wir haben einen Schuldkult entsprechend ausgeprägt, der es uns unmöglich macht, ein gesundes Nationalbewusstsein, einen lebendigen Patriotismus zu entwickeln.“ (Höcke 2016). Beim so genannten „Kyffhäusertreffen“ am 4. Juni 2016, zu dem der völkisch-nationalistische „Flügel“ der AfD eingeladen hatte, deklamierte Höcke: „Ein Volk, das keine Denkmäler mehr errichtet, sondern nur noch Mahnmale, hat keine Zukunft.“ Was dies architektonisch und erinnerungspolitisch konkret bedeutet, macht ­Höcke-Freund André Poggenburg deutlich, wenn er sich in monumentaler Verkommenheit über die „unschöne Ästhetik“ des Berliner Holocaust-Mahnmal ereifert: „Das finde ich ästhetisch völlig daneben und der Sache auch nicht zuträglich.“ (Eichler 2016) Hemmungslos empfiehlt er den Abriss des Eisenman-Werkes: „Man könnte etwas anderes hinstellen, auf weniger Platz, mit viel mehr Atmosphäre.“ Der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon, der wegen Antisemitismus-Vorwürfe auf Druck des AfDCo-Bundessprechers Jörg Meuthen und gegen den Widerstand einiger Parteikolleg*innen seine Fraktion zeitweilig verlassen musste, äußerte sich in ganz ähnlicher Weise über das ­Holocaust-Mahnmal, als er gegenüber dem SWR am 2. Juni 2016, also rund 75 Jahre nach dem beispiellosen nationalsozialistischen Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden, bekundete: „im Zentrum des Gedenkens sollte was Positives stehen. Wenn das [Holocaust-Mahnmal, S.T.] irgendwo an der Peripherie ist, […] habe ich nichts dagegen.“ (SWR 2016).

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4 Die Neue Frankfurter Altstadt – eine politische Rechtsaußen-Initiative2 Es scheint, als würde sich die Rekonstruktionsarchitektur in Deutschland derzeit zu einem Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten entwickeln. Denn nicht nur die bereits erwähnte geplante Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonkirche geht auf eine Rechtsaußen-Initiative zurück, auch die vielgelobte und äußerste populäre Neue Frankfurter Altstadt verdankt sich der politischen Initiative von Rechtsradikalen mit Verbindungen ins extremistische Milieu: Es war Claus Wolfschlag, der 1966 geborene völkische Autor der Neuen Rechten, der zwar seine seriöse Seite mit sporadischen Veröffentlichungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Offenbach-Post zu wahren versuchte, der seine ersten Aufsätze Ende der achtziger Jahre in der NPD-nahen Zeitschrift Europa veröffentlichte, der seitdem in stramm rechten Blättern wie der Jungen Freiheit, den Burschenschaftlichen Blättern, der Preußischen Allgemeinen Zeitung oder auch in Götz Kubitscheks rechtsradikaler Sezession publiziert, der selbst offene Antisemiten-Blätter wie Zur Zeit sowie die nationalrevolutionär bis rechtsextrem orientierten Zeitschriften Wir selbst bzw. Volkslust mit eigenen Beiträgen beliefert… – dieser Claus Wolfschlag war es, der im September 2005 als Fraktionsmitarbeiter jenen Antrag Nr. 1988 der „Freien Wähler BFF (Bürgerbündnis für Frankfurt)“ formulierte, ihn dem BFF-Stadtverordneten Wolfgang Hübner überreichte, damit dieser ihn im Stadtparlament einreicht. In der Folge wurde 2006 der BFF-nahe Verein „Pro Altstadt e. V.“ gegründet, sodann der kurz zuvor noch preisgekrönte Wettbewerbsentwurf für das Areal von KSP Jürgen Engel Architekten für das Areal gekippt – und nach und nach der Weg frei gemacht für die Rekonstruktion von fünfzehn Altstadthäusern zwischen Dom und Römer. Die Website des Pro Altstadt e. V. benennt heute Wolfschlag und Hübner als „Väter der Wiederaufbau-Initiative“. Auf die Frage, ob er sich denn wirklich als „Vater der Neuen Altstadt“ sieht, antwortete Wolfschlag einmal in einem Gespräch mit Philipp Sturm und Moritz Röger: „Das Ganze lag ja wie eine Gaswolke in der Luft. Es brauchte nur noch einen, der das Streichholz anzündet. Und das war ich.“ (Wolfschlag 2018).

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folgende Abschnitt ist die leicht aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst am 8. April 2018 unter dem Titel „Wir haben das Haus am rechten Fleck“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung publiziert wurde. Eine Langfassung erschien im September 2018 in Philipp Sturm und Peter Cachola Schmal (Hrsg.). 2018. Die immer neue Altstadt. Bauen zwischen Dom und Römer seit 1900. Berlin: Jovis.

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Wolfschlags zündende Idee hatte leichtes Spiel in einer Metropole, in der Musealisierungs- und Historisierungstendenzen in der Altstadt schon um 1900 einsetzten (vgl. Welzbacher 2010). Nach 1945 war es vor allem die 1951 abgeschlossene Rekonstruktion des Goethehauses im Großen Hirschgraben durch Theo Kellner, die als „Schlüsselbau lokaler und nationaler Selbstverortung nach der ‚Stunde Null‘“ (Welzbacher 2010, S. 63) gelten darf. Walter Dirks, Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, gehörte zu den artikuliertesten Gegnern dieser Rekonstruktion. Er begründete seine ablehnende Haltung damit, dass nur die Schicksalsannahme Goethe-würdig sei; dass es entscheidend sei, „die Kraft zum Abschied [zu] haben, zum unwiderruflichen Abschied“; dass man „sich selbst und niemanden in frommer Täuschung vorschwindeln“ sollte, das Haus sei „eigentlich doch da“. (Rodenstein 2010) Hinter Dirks Haltung stand – aus heutiger Sicht völlig zurecht – die Sorge, dass man mit einer Rekonstruktion die Spuren des Nationalsozialismus und damit auch der eigenen Schuld löschen wollte. Wenig später ging Frankfurt erst so richtig in die geschichtsrevisionistischen Vollen, und zwar mit der Rekonstruktion der Ostzeile des Römerbergs, die von 1981 bis 1983 erfolgte. Unter größtem Protest vieler Architekt*innen und Denkmalpfleger*innen und auf dünnster bauhistorischer Informationsgrundlage entstand ein Quartier teils frei erfundener Geschichtssimulation. Das Frankfurt unter Oberbürgermeister Walter Wallmann zwischen 1977 und 1986, in das die Komplettierung der Ostzeile fällt, brachte den ersten Versuch einer westeuropäischen Stadt hervor, das Lokale mittels historisierender Referenzen in den Dienst einer globalen Standortpositionierung zu stellen (vgl. Bideau 2011);einer neoliberalen Standortpositionierung, die ihre Macher derzeit in Gefahr bringt durchzudrehen. Denn mit ihr könnten illiberale Ideologeme in den Mainstream vermeintlich kultursinniger Stadtbürgerlichkeit eingespeist werden. Für nichts anderes steht Wolfschlags Architekturtheorie, die zusammengefasst in einem längeren Aufsatz vorliegt, und zwar in „Heimat bauen“ aus dem Jahre 1995. In dem Text, der in dem vom ehemaligen NPD- und ­DVU-Funktionär Andreas Molau herausgegebenen Sammelband Opposition für Deutschland erschienen ist (und in dem u. a. der Stuttgarter Rechtsextremist und Bauunternehmer Hans-Ulrich Kopp (Lautenschlager + Kopp), der Münchner NPD-Aktivist Karl Richter und der Holocaust-Leugner und Neonazi Germar Rudolf mit Einlassungen vertreten sind), plädiert Wolfschlag für eine Aufwertung des Architekturthemas in rechten und rechtsradikalen Kreisen: „wer von Volk und Heimat reden will, kann von der Architektur (in und mit welcher das Volk ja schließlich lebt) wohl nicht schweigen.“ (Wolfschlag 1995, S. 114) Im Folgenden schimpft er über die „Asyllobby“ und „die herbeigewünschten fremden Völker“ (Wolfschlag 1995, S. 115) – und empfiehlt einen sofortigen Stopp von Neubauten: „Jede weitere Bautätigkeit versiegelt zusätzlich ökologisch wertvolles Grünland oder

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fördert zumindest die weitere Verstädterung des deutschen Siedlungsgebietes.“ Moderne Architektur lehnt Wolfschlag grundsätzlich ab, vor allem „weil sie sich der Erde“ schäme: „Eine menschliche Architektur möchte ihre Verwurzelung mit der Erde wieder sichtbar machen.“ (Wolfschlag 1995, S. 127) Wenngleich Wolfschlag mit historisierenden Modellstädten wie dem von Léon Krier für Prince Charles erbauten Poundbury in Dorset durchaus sympathisiert, sieht Wolfschlag die Zukunft des Bauens nicht in einem Krier’schen Klassizismus – der ist ihm dann doch zu internationalistisch –, sondern in einer „national gesinnteren“ Formensprache: „Großdenkmale wie das Leipziger Völkerschlachtdenkmal von 1913, zahlreiche ­Bismarck-Türme, die am organischen Jugendstil ausgerichteten Tempelentwürfe des Malers Fidus oder die in der NS-Zeit fertiggestellte Ordensburg Vogelsang von Clemens Klotz können als Anregungen dienen, wie eine sorgfältig platzierte, nicht antikisierende Monumentalität aussehen kann. Wuchtige Natursteinblöcke, die wie ein frühzeitliches Hünengrab in die Landschaft herauszustrahlen scheinen. Rundungen und Höhlen passen eher in nordische Gefilde als glatte marmorne Pfeilerreihen.“ (Wolfschlag 1995, S. 134) Exakt zehn Jahre später, im ­Altstadt-Rekonstruktionsantrag der BFF-Fraktion im Römer, schluckte derselbe Ideologe Kreide und warb erfolgreich für eine „Stadtheilung“, für die Rückgewinnung einer Frankfurter „Seele“ – um dann in einem 2007 erschienenen Artikel in der Quartalszeitschrift Neue Ordnung, die das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes im Rechtsextremismus verortet, wieder deutlicher zu werden: Unter dem Titel „Rekonstruktion. Zur Wiedergewinnung architektonischer Identität“ ruft Wolfschlag zum Ende des „Schuldkultes“ mithilfe einer „Wiedergewinnung des historischen Bauerbes“ auf (Wolfschlag 2007, S. 25). Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier weder um einen Aufruf zum Abriss von Fachwerkhäusern (vgl. Tichy 2018) noch darum, allen Unterstützer*innen von Rekonstruktionen rechtes Gedankengut zu unterstellen. Ebenso wenig geht es darum, Rekonstruktionen als solche zu skandalisieren. Rekonstruktionen im Sinne von Wiederherstellungen nach Katastrophen und Kriegen sind eine historische Selbstverständlichkeit. So brachte der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg eine beachtliche Bandbreite verschiedenster kulturell überzeugender Architekturpositionen hervor (Falser 2009), von denen gerade die „Kompromissformen“ zwischen den beiden Extrempositionen „idealisierende Rekonstruktion“ und „Abriss von Kriegsruinen und moderner Neubau“ – denkt man etwa an Rudolf Schwarz’ Paulskirche in Frankfurt am Main (1947–1948) oder an Hans Döllgasts Alte Pinakothek in München (1946–1957) – zu Meisterwerken von bleibendem Wert führten. Nicht zuletzt auf diese Vorbilder berief sich denn auch das Team um David Chipperfield bei der Rekonstruktion des Neuen Museums in Berlin (1996–2009), mit der der gänzlich zerstörte N ­ ordwestflügel

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und der Südostrisalit in enger Anlehnung an die ursprünglichen Volumina und Raumfolgen neu errichtet und die erhaltenen Bauteile restauriert und ergänzt wurden. Entstanden ist ein virtuoses Amalgam von Vergangenheit und Gegenwart, das die Brüche der Geschichte sichtbar hält und auch künftigen Generationen komplexes Anschauungsmaterial für die Diskontinuitäten der Zeitläufte bietet. Ganz anders die Neue Frankfurter Altstadt: Zu skandalisieren ist hier, dass die Initiative eines Rechtsradikalen ohne nennenswerte zivilgesellschaftliche Gegenwehr zu einem aalglatten Stadtviertel mit scheinbar bruchlosen Wiederholungsarchitekturen führte; historisch informiertes Entwerfen verkommt damit zum unterkomplexen Heile-Welt-Gebaue, das der Verblödung seiner Liebhaber*innen zuarbeitet, indem es Geschichte auf ein eindimensionales Wunschkonzert reduziert. Vergangenheit soll für dieses Publikum wie geschmiert laufen, und zwar in Richtung einer alternativen Historie für Deutschland. Einer Historie, in der der Nationalsozialismus, die deutschen Angriffskriege und der Holocaust maximal Anekdoten zu werden drohen. Erschreckenderweise war es nur ein Architekturkritiker, der die Neue Frankfurter Altstadt förmlich in der Luft zerriss, und zwar Niklas Maak. Er legte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schlüssig dar, dass es sich bei dem vielgelobten Stadtteil de facto um ein „sozial desinfiziertes Bild“ einer mit öffentlichen Geldern teilsubventionierten Luxuswohnanlage handelt, deren etwaigen Vorzüge man nur mit einer dringend notwendigen Bodenrechtsreform verallgemeinern kann: „Hier muss eine neue Architekturdebatte ansetzen: Wem gehört der Grund; wer entscheidet, was gebaut wird, wie steuert man in einem Augenblick, in dem offenbar wird, dass die Stadt, wenn man sie den reinen Kräften des Markts überlässt, sich selbst als Zivilisationsmodell abschafft, ihre Entwicklung, ohne in lähmende Planwirtschaft zu verfallen? Bei diesen Fragen geht es um Machtstrukturen, nicht um Bilder.“ (Maak 2018).

5 Renaissance der Ideologie im Sinne einer Bewusstmachung von Ideologie3 Die durch den Verfasser dieser Zeilen mit dem Beitrag „Wir haben das Haus am rechten Fleck“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erbrachte Offenlegung jener politischen Hintergründe, die 2018 zur Teilrekonstruktion

3Der

folgende Absatz ist die leicht aktualisierte Fassung einer Textpassage, die zuerst unter dem Titel ­„Altstadt-Opium für’s Volk“ in der ARCH + 235 „Rechte Räume. Bericht einer Europareise“ (Mai 2019) erschienen ist.

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der Frankfurter Altstadt führten, haben nicht nur zu einer heftigen Debatte in nationalen und internationalen Feuilletons geführt – die professionelle Architekturkritik in Deutschland verhielt sich bemerkenswerterweise (mit Ausnahme Maaks) größtenteils unkritisch gegenüber dem Projekt, ganz im Gegenteil zum Gros der Wissenschaftssphäre –, sondern auch Hunderte von Emails und Online-Kommentaren gezeitigt, mit teils justiziablem Inhalt inklusive Todes­ drohungen. Diese Reaktionen zeigen brennglashaft auf, auf welche künftige Auseinandersetzungen die Wissenschaftssphäre und der Journalismus in politisch zunehmend polarisierten Zeiten zusteuern: einer eher kritischen Wissenschaftssphäre, die die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Architektur zu benennen versteht, steht eine in weiten Teilen unkritisch gewordene Architekturkritik gegenüber, die in vielen Fällen allen Ernstes den Eindruck vermitteln wollte, das Modell „Neue Frankfurter Altstadt“ ließe sich in denselben zentralen Lagen, mit denselben stadträumlichen und handwerklichen Qualitäten mit etwas gutem Willen verallgemeinern. Ist es den knapper gewordenen Budgets im ­(Print-)Journalismus und der Sorge um schrumpfende Leserschaften geschuldet, dass in so vielen Qualitätsmedien so wenig Investigationsbereitschaft an den Tag gelegt, so viel Altstadt-Opium für’s Volk verabreicht wird? Der Frankfurter Altstadtstreit zeigt auch, dass ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Wort zurück auf die Tagesordnung (nicht nur) architektonischer Debatten kommen sollte: die Ideologie. Denn der revisionistischen Architektur-Ideologisierung der Neuen Rechten, die mit Camouflage-Slogans wie „Schönheit“, „Heimat“, „Tradition“, „Identität“ oder „Seele“ hantiert, ist nur mit einer emanzipatorischen Gegen-Ideologisierung beizukommen, mit der entweder diese Begriffe zurück erkämpft oder verlockende Alternativen angeboten werden. Beides dürfte nicht einfach werden – zumal die neoliberalisierten Zeitläufte die scheinbare Ideologielosigkeit zur ultimativen Ideologie erhoben haben. Dass mitten in Frankfurt ein geförderter Wohnungsbau für Bestverdiener*innen entstehen konnte, ist der vielleicht schlagendste Beweis für das geschmeidige Funktionieren dieser im Habitus der Ideologielosigkeit daherkommenden Super-Ideologie. Doch es gibt erste Anzeichen für eine Renaissance der Ideologie im Sinne einer Bewusstmachung von Ideologie. Arno Brandlhuber, einer der vielleicht interessantesten deutschen Gegenwartsarchitekten, hat vor einiger Zeit „die vielleicht verständliche Angst gerade der Deutschen, sich dem Thema der Ideologie anzunähern und sie geradezu auszuklammern aus dem eigenen Tun“ zu einer zentralen „Schwachstelle der architektonischen Produktion“ in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg erklärt (Brandlhuber 2016). In einem Interview forderte er: „Architektur muss […] ideologischer werden.“ (Brandlhuber 2016). Dem ist beizupflichten. Eine ideologisch bewusster gewordene Architektur würde

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ihre politisch-ökonomischen Ziele präziser formulieren – gemeinsam mit der Politik oder auch in Antithese zu ihr. Der Kritik käme die Rolle zu, im Bewusstsein einer ideologischen Verfasstheit alles Gebauten zu werten und dabei ein Mindestmaß an Distanz und Kritikbereitschaft zu wahren. Und der Theorie käme zum einen die Rolle zu, sich von der Ideologie zu emanzipieren, indem sie ihren eigenen ideologischen Charakter dialektisch verarbeitet. (Zima 1992, S. 60) Zum anderen müsste sie das Paradoxon aller gebauten Umwelt ausformulieren: dass Architektur und Städtebau immer politisch sind und es gleichzeitig eine Volatilität der politischen Bedeutungen von architektonischer Form gibt.

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Theologie und Populismus: Kollisionen und Klärungen Walter Lesch

1 Einleitung Es ist nicht selbstverständlich, die Theologie zum interdisziplinären Gespräch über Fragen des Populismus einzuladen. Denn der Status von Theologie als Partnerin im universitären Kontext ist heute aus verschiedenen Gründen geschwächt. Die Zeiten der Akzeptanz einer Fakultät für Theologie als „Königin der Wissenschaften“ sind längst vorbei, da es sich aus der Perspektive der Kritikerinnen und Kritiker weder um eine Wissenschaft wie jede andere noch um eine privilegierte Position im Streit der Fakultäten handelt, sofern die traditionelle Struktur von Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und der später stark ausdifferenzierten Philosophischen Fakultät vorausgesetzt wird. Trotz ihrer institutionellen Marginalisierung ist die Theologie in Kontroversen um den Populismus präsent, und zwar mit einem unverkennbar kritischen Profil: als Mahnerin vor einem rauer gewordenen gesellschaftlichen Klima und vor beunruhigenden Tendenzen zu Menschenverachtung und Ausgrenzung durch Radikalisierungen am rechten Rand eines erweiterten Parteienspektrums. Diese mahnende Stimme lässt aufhorchen, weil sie neugierig macht auf einen sich als wissenschaftlich verstehenden Diskurs, der anders als in Politologie, Soziologie oder anderen thematisch und methodisch plausiblen Disziplinen keine unmittelbare Expertise zur Analyse des Populismus aufweisen kann. Dieser Beitrag möchte zeigen, dass bei genauerem Hinsehen Zusammenhänge zwischen Religion und Populismus erkennbar werden, deren Erforschung durchaus auch in den Zuständigkeitsbereich einer universitär verorteten Theologie fällt. W. Lesch (*)  Université catholique de Louvain, Louvain-la-Neuve, Belgien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I.-C. Panreck (Hrsg.), Populismus – Staat – Demokratie, Staat – Souveränität – Nation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30076-0_11

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Dabei gilt es, eine weitere Irritation zu bedenken, die für unser Thema relevant ist. Theologie ist nicht der verlängerte Arm der Kirchen, hat aber als wissenschaftliche Reflexion christlicher Praxis in Geschichte und Gegenwart durchaus einen Bezug zu den kirchlichen Aussagen über die Gefahren des Populismus. Derartige Verlautbarungen sind inzwischen ein fester Bestandteil der Beiträge zum Streit um den Populismus (vgl. Diakonie Deutschland 2018; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2019). Auch wenn die Theologie nicht eine bloße Ideologielieferantin für kirchliche Stellungnahmen ist, bilden entsprechende Stellungnahmen einen Bezugspunkt für die theologische Debatte: sowohl zustimmend und argumentativ unterstützend, als auch kritisch und differenzierend. Wer einfache Antworten auf komplizierte Fragen bevorzugt, wird von den folgenden Ausführungen enttäuscht sein. Denn die Ausgangsthese des Beitrags ist die im Titel angedeutete Doppelperspektive von Kollisionen und Klärungen. Es geht um unvermeidbare Kollisionen in der harten Auseinandersetzung mit Ideen, Haltungen, politischen Strategien und konkreten Verhaltensweisen, die nach ethischen Standards inakzeptabel sind. Es geht aber auch um Klärungen in einem Disput, der nicht einfach damit beendet werden kann, dass die Stigmatisierung des Populismus jegliche Aufklärung über Beweggründe und Unrechtserfahrungen blockiert. Die Theologie hat im interdisziplinären Gespräch die Chance, ihr zugleich gesellschaftskritisches und selbstkritisches Potenzial unter Beweis zu stellen. Sie ist gesellschaftskritisch, weil die politischen Entwicklungen am rechten Rand eine christliche Theologie nicht gleichgültig lassen können. Religion ist gegen einen menschenverachtenden und ausgrenzenden Populismus zu positionieren. Sie ist selbstkritisch, weil Theologie keine Belehrungen aussprechen kann, sofern ihre eigene Haltung zum Populismus ambivalent ist, sofern man den größeren Zusammenhang betrachtet und nicht nur faschistische Extreme, über deren Verurteilung rasch Einigkeit zu erzielen ist. Denn Religion als gesellschaftliches Phänomen hat bisweilen populistische Züge und könnte deshalb unter einer verzerrten Wahrnehmung leiden. Soweit erweist sich der Populismus trotz der anfänglichen Skepsis als fachlich relevantes Thema mit einer breiten Palette von Aspekten, die in den folgenden vier Abschnitten – Definitionen (Abschn. 2), Krise der Demokratie (Abschn. 3), Erklärungsversuchen (Abschn. 4) sowie Strategien (Abschn. 5) – diskutiert werden sollen.

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2 Definitionen Auf der Ebene der Begriffsklärungen ist noch einmal auf das hier zur Sprache gebrachte Vorverständnis von Theologie einzugehen. Das mag nach einem Selbstbespiegelungsdiskurs für Insider aussehen, ist aber für die weiteren Ausführungen wichtig, um einige Weichenstellungen im Blick zu haben. Vorausgesetzt wird hier ein bestimmtes Verständnis von öffentlich relevanter Theologie, die je nach gesellschaftlichem und religionsrechtlichem Kontext in unterschiedlichen Organisationsformen und mit unterschiedlichen Programmen auftreten kann. Für den deutschen Kontext ist die im weltweiten Vergleich keineswegs selbstverständliche Verankerung des Faches „Evangelische Theologie“ oder „Katholische Theologie“ als Fakultät oder Institut an staatlichen Universitäten bekannt. Dies beinhaltet einerseits eine konfessionelle Identität mit den entsprechenden staatskirchenrechtlichen Regelungen, andererseits eine Verpflichtung auf transparente und exzellente Wissenschaftsstandards in Lehre und Forschung sowie in universitären und gesellschaftlichen Dienstleistungen. Dabei gibt es progressive und konservative Tendenzen, wie sie auch in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften anzutreffen sind. Hinzu kommt jedoch die doppelte Loyalität gegenüber kirchlichen Autoritäten, die speziell im Fall der katholischen Kirche über die Erteilung der Lehrerlaubnis mitzuentscheiden haben, und in der Anerkennung von verfassungsgemäßen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Praxis. Nach optimistischer Lesart ist gerade die universitäre Einbettung von Theologien eine Garantie für eine intersubjektive Arbeit, die sich an Erkenntnisgewinn und wissenschaftlicher Überprüfbarkeit orientiert und nicht an doktrinären Festlegungen. Anders gesagt: Theologie ist ein kritisches Gegengewicht zu religiöser Naivität und zu institutioneller Rechthaberei. Sie entzaubert die nicht zu rechtfertigenden Ansprüche und verhält sich argumentativ zu Potenzialen der christlichen Tradition in Geschichte und Gegenwart. Mit einem solchen Habitus hat sie eine maximale Distanz zu jeglicher Art von Populismus und hat mit größerer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, selber Zielscheibe populistischer Kritik zu werden. Denn sie repräsentiert in gewisser Weise ein „elitäres“ Projekt einer Beschäftigung mit Religion, die sich auf dem Prüfstand wissenschaftlicher Analysen zu bewähren hat. Eine solche Theologie misstraut der Demagogie der einfachen Antworten und den unreflektierten Formen von Gläubigkeit und Frömmigkeit. Was für Außenstehende paradox ist, gehört zum Markenkern von universitärer Theologie: Sie entwickelt mit nachvollziehbaren Methoden eine religionskritische Sichtweise und zieht vernünftige Argumente einem blinden Glaubensgehorsam, subjektiven Befindlichkeiten und gemeinschaftlichen

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Zwängen vor. Damit macht sie sich nicht bei allen Gläubigen sowie Religionsfunktionärinnen und Religionsfunktionären beliebt, leistet aber letztlich mit ihrem aufklärerischen Anspruch einen Beitrag zu einer Religion, die vor dem Pluralismus der Weltanschauungen und den Diskursregeln öffentlicher Vernunft keine Angst haben muss. Für Leserinnen und Leser, die nicht mit der Binnenstruktur von Theologie vertraut sind, sei noch darauf hingewiesen, dass es die Theologie als monolithischen Block gar nicht gibt. In der Regel werden theologische Lehre und Forschung in einer ausdifferenzierten Vielfalt von Einzeldisziplinen praktiziert, die sich den folgenden vier Sektionen zuordnen lassen: einer exegetischen Sektion, die sich mit biblischer Literatur und deren Kontexten beschäftigt; einer historischen Sektion, in der es um die Geschichte des Christentums geht; einer systemischen Sektion, in der Grundlagenforschung, Reflexion der Glaubenstradition und Ethik zusammenkommen; einer praktischen Abteilung, in der es um die Analyse der gelebten Praxis von Christinnen und Christen geht, also auch um die unterschiedlichen Formen von Gemeindeleben, Liturgie, Religionsunterricht, usw. Das Wissen um diese innerfachliche Vielfalt ist hilfreich, um die ganze Palette möglicher Beiträge zu Fragen des Populismus zu verstehen. Ein historischer Zugang hat einen anderen Fokus als eine praktischtheologische Fragestellung. Eine ethische Reflexion (sie bildet den fachlichen Hintergrund des Autors dieses Beitrags) geht anders vor als eine textwissenschaftliche Aufarbeitung biblischer und anderer Quellen. Das Wissen um diese Ausdifferenzierung erleichtert die Identifizierung der gewünschten Schwerpunkte und Expertisen. Es versteht sich von selbst, dass jede theologische Sektion in engem interdisziplinären Austausch mit anderen universitären Fächern steht, die jeweils methodisch und inhaltlich den theologischen Diskurs bereichern. Der Vollständigkeit halber sei auch angemerkt, dass dieser starke Wissenschaftsbezug sich auch in einem Paradigmenwechsel zu einem anderen Typ religionsbezogener Forschung entwickeln kann: zur Religionswissenschaft, die sich als konfessionell ungebunden versteht und ein ähnliches Themenspektrum wie die Theologie bearbeitet. Hinzu kommt die Ausweitung des Blicks auf die nichtchristlichen Religionen. Dahinter steht eine wissenschaftspolitisch relevante Option für eine Haltung der Neutralität, die eine christliche Theologie wegen ihrer Verflechtung mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft nicht im gleichen Maß beanspruchen kann. Das führt dazu, dass bei einer skeptischen Haltung gegenüber der konfessionellen Theologie nur die Religionswissenschaft als Ankerdisziplin religionsbezogener Forschung akzeptiert wird. Das Gesamtbild der möglichen

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Zuordnungen von Religionen und Disziplinen ist in den meisten Ländern erheblich in Fluss geraten, sodass es zu neuen Institutionalisierungen kommen kann. Nichtchristliche Religionen wie der Islam haben ihren Platz im Feld religionswissenschaftlicher Fachbereiche, können sich aber auch als neue Theologien etablieren. Diese Rahmungen mögen für Nichtspezialistinnen und -spezialisten entweder irritierend oder unerheblich erscheinen, haben jedoch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Art und Weise, wie aus der Perspektive einer professionellen Beschäftigung mit Religion(en) ein gesellschaftliches Phänomen wie der Populismus wahrgenommen wird. Insbesondere die wissenschaftsorganisatorische Verortung der Beschäftigung mit dem Islam sowohl aus der Binnen- als auch aus der Außenperspektive verdient besondere Beachtung, da diese Religion ja ein wesentlicher Gegenstand von Kontroversen ist, die nicht zuletzt durch populistische Polemiken ausgelöst werden. Jeder neue Studiengang für die Vorbereitung auf den islamischen Religionsunterricht an Schulen, für die Ausbildung von Imamen oder religionswissenschaftliche Kompetenzzentren zum Islam steht unter der besonderen Beobachtung durch eine teilweise skeptische Öffentlichkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Populismus ist sowohl aus theologischer als auch aus religionswissenschaftlicher Sicht naheliegend und wünschenswert, vielleicht für die Theologie noch dringlicher als für die Religionswissenschaft, da theologisches Denken und Arbeiten noch unmittelbarer von populistischen Tendenzen herausfordert ist. Und zwar nicht nur als ein neutrales Gegenüber, sondern auch im Sinne einer theologischen Haltung, die kritisch Position bezieht und nicht nur empirisch betrachtet (vgl. Lesch 2017). Trotz der verschiedenen Methoden und Erkenntnisinteressen sind die Arbeitsweisen komplementär, zumal sie sich ohnehin in interdisziplinären Konstellationen begegnen. Eine exklusiv theologische oder kirchliche Sichtweise ist gar nicht wünschenswert. Allerdings ist es ein berechtigtes Anliegen, über die Positionierung der Theologie – in diesem Beitrag ist in der Regel die christliche Theologie gemeint – mehr zu erfahren. Nach diesen Vorbemerkungen zur Definition der fachlichen Perspektive steht ein weiteres Problem zur Diskussion: die genauere Bestimmung des hier vorausgesetzten Begriffs von Populismus. So etwas wie eine genuin theologische Definition kann es nicht geben, da die Theologie das sozial- und politikwissenschaftliche Vokabular aus den zuständigen Disziplinen übernimmt. Demnach ist Populismus eine Strategie des Machterwerbs und der Machterhaltung durch die Bezugnahme auf die Autorität des „Volkes“ (populus), dessen als offenkundig legitim behauptete Anliegen gegen die Machenschaften einer Elite in Stellung gebracht werden. Diese Strategie gibt es in rechts- und linkspopulistischen Varianten mit diffusen ideologischen Gehalten, die sich mit unterschiedlichen

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politischen Projekten kombinieren lassen. Letztlich muss sich jeder öffentlich vertretene Geltungsanspruch auf die Kritik gefasst machen, sich populistischer Mittel zu bedienen, wenn mit Appellen an den „gesunden Menschenverstand“ oder an die nicht weiter zu legitimierenden Anliegen einer mehr oder weniger homogenen Gemeinschaft operiert wird. Man könnte also auch Religionen vorwerfen, sich populistischer Strategien der Verführung von Massen zu bedienen, wenn missionierend um eine Ausweitung der Einflusssphäre gerungen wird oder wenn eine behauptete kulturelle Einheit als religiös geprägte Einheit, wie zum Beispiel ein „christliches Europa“, behauptet wird. Wenn die Theologie den Populismus zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, dann befasst sie sich nicht nur mit einem ihr wesensfremden und potenziell feindlichen Gegenüber. Sie entdeckt wie in einem Spiegel auch eigene Merkmale, die Affinitäten zum Populismus haben können und eventuell von populistischen Ansichten infiziert sind. Jede Beschäftigung mit dem Populismus ist immer auch eine kritische Selbstanalyse, die mit einer Aufklärung über das Kommunikationsverhalten einhergeht. Von Populismus ist ja in den meisten Fällen als einem gegen reale oder fiktive Gegnerinnen und Gegner gerichteten rhetorischen Kampfbegriff die Rede. Abgesehen von linkspopulistischen Strömungen, die das Label als stolze Selbstetikettierung verwenden (vgl. Mouffe 2018), ist der Rechtspopulismus mit dem Stigma einer Außenseiterrolle verbunden, die jenseits der Grenzen eines demokratischen Konsenses verortet wird. Wer mit rechtspopulistischen Slogans unterwegs ist, verlässt den Boden des üblicherweise Akzeptablen, kokettiert eventuell aber auch mit Tabuverletzungen und operiert mit der Infragestellung einer Mentalität, die als Diktat politischer Korrektheit diffamiert wird. Es ist nicht gerade erfolgversprechend, mit Kampfbegriffen nüchterne Analysen vorzunehmen und konstruktive Gespräche in Gang zu bringen, zumal ja gerade dem Gegenüber vorgeworfen wird, er reduziere öffentliche Kommunikation auf ein simples Freund-Feind-Schema. Debatten rund um den Populismus finden meistens in einer schon vergifteten und durch Polemik gekennzeichneten Kommunikationssituation statt. Populistinnen und Populisten sind immer die Anderen: die uneinsichtigen Extremistinnen und Extremisten, die eine Gefahr für den sozialen Frieden darstellen, die Diskursverweigererinnen und -verweigerer, Hetzerinnen und Hetzer sowie Polarisiererinnen und Polarisierer. Es sieht nicht so aus, als seien diese aus der Sicht ihrer Kritikerinnen und Kritiker verirrten und verwirrten Menschen leicht auf den Weg der Verständigung zurückzuholen. Nun ist die Theologie ja nicht gerade dafür bekannt, in scharfen gesellschaftlichen Kontroversen eine besonders robuste Konstitution zu haben. Der beinahe schon pastorale Gestus, die extremen Abweichlerinnen

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und Abweichler therapeutisch zu erreichen und mit guten Argumenten wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen, ist ein frommer Wunsch. Falls Religionen eine friedenstiftende und dialogfördernde Funktion zukommt, dann können Polarisierungen nicht mit Gleichgültigkeit hingenommen werden. Es ist eine im besten Sinn praktisch-theologische Aufgabe, populistische Ausdrucksformen ernst zu nehmen, zumal sie nicht nur in irgendwelchen exotischen Sonderwelten vorkommen, sondern mitten in christlichen Gemeinden (vgl. Polak 2018). Populismus ist ein Thema der Theologie, weil seine Merkmale mitten in vermeintlich christlich geprägten Strukturen und Lebenswelten vorkommen. Kirche und Theologie sind auch unmittelbarer betroffen, wenn es um autoritäre Denkmuster, identitäre Obsessionen, Antipluralismus, Demokratieskepsis, Elitekritik und Fremdenfeindlichkeit geht – und zwar in den eigenen Reihen. Diese Populismusanfälligkeit der eigenen Tradition bedarf einer besonders gründlichen Wahrnehmung, um Schieflagen sichtbar zu machen. Es reicht nicht, die Schuld in anderen Ideologien zu suchen. Gerade die Kirchen kommen aus einer Geschichte, in der Autoritarismus und hierarchische Strukturen üblich waren und zum Teil noch bestimmend sind. Bei ihrer Kritik am „Genderwahn“ finden Rechtspopulistinnen und -populisten Verbündete in rechtskatholischen und evangelikalen Kreisen (vgl. Behrensen et al. 2019). Diese Verwicklungen machen einen theologischen Zugang zum Populismus besonders schwierig, andererseits aber auch reizvoll, um die blinden Flecken und Schuldverstrickungen der eigenen Geschichte auf die Spur zu kommen. Immer noch auf der Ebene der vorbereitenden begrifflichen Klärungen ist darauf hinzuweisen, dass die sozialwissenschaftlich so nebulöse Kategorie des „Volkes“ auch in theologischem Gewand anzutreffen ist. In biblischen Texten ist die Rede vom „Volk Gottes“, das in der katholischen Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einem Leitbegriff eines erneuerten Kirchenbildes wird (vgl. Bergner 2018). Alle Getauften bilden ein Gemeinschaft von Mitgliedern, die mit gleicher Würde ausstattet sind – ungeachtet der an Weiheämter gebundenen spezifischen Leitungsaufgaben. Eine Gemeinde kennt im Idealfall weder ethnische Ausgrenzung noch elitäre Führungszirkel. Im Grunde genommen ist die Vorstellung von Gottesvolk ein revolutionäres Gegenbild zur Klerikerkirche. Die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise der Institution zeigt, dass dieser Anspruch auf Gleichheit in der Praxis noch lange nicht eingelöst ist. Ein theologisch gehaltvolles Verständnis von Volk ist inklusiv angelegt und verbietet jegliche Diskriminierung und Stigmatisierung. Eine „Theologie des Volkes“ wäre somit das Gegenteil von Populismus, da sie Chancen zu einer basisdemokratischen Erneuerung der vormals undemokratischen Institution bietet. Freilich ist die Zuerkennung der Rechte der Getauften an die Zugehörigkeit zur religiösen

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Gemeinschaft gebunden, die zwar mitten in der säkularen Umgebung angesiedelt ist, sich jedoch als eine Form der Vergemeinschaftung sui generis versteht. Somit sind Gemeinsamkeiten und Konflikte mit weltlichen Sozialformen vorprogrammiert. Neben den zahlreichen Verbindungslinien zwischen einer theologischen Semantik von Volk, Volkskirche, Volksfrömmigkeit, usw. und den Wortfeldern von Populismus und populären politischen Programmen bestehen Überschneidungen im Bereich der Mentalitäten. Konservative religiöse Milieus können ein Nährboden für populistische Weltbilder sein, die sich emphatisch auf eine zu bewahrende religiöse Identität und deren Abgrenzung gegen fremde Einflüsse beziehen. Traditionelle Auffassungen von Nation, Staat, Autorität, Kultur, Familie, Ehe und Geschlechterverhältnissen haben oft einen Resonanzboden in religiösen Milieus und in Gruppen, die Affinitäten zu populistischen Denkmustern und Ängsten aufweisen. Religionen können noch so komplizierte Theologien hervorbringen; im Grunde bedienen sie doch auch das Bedürfnis nach einfachen Antworten, übersichtlichen Weltbildern und Heilsversprechen. Obwohl in der gegenwärtigen Gemengelage die christlichen Kirchen in unmissverständlicher Klarheit gegen den Rechtspopulismus Stellung beziehen und diese bemerkenswerte Haltung weitgehend von theologischen Stimmen bestätigt wird, kann nicht geleugnet werden, dass trotz aller Mahnungen populistische Muster mitten in Gemeinden und manchmal auch in Leitungsstrukturen anzutreffen sind (vgl. Strube 2013, 2017a, b). Der Populismus bedient sich eines leicht zugänglichen Repertoires antidemokratischer und antiaufklärerischer Tendenzen, die es in allen Religionen gibt (vgl. Zúquete 2017). Deshalb ist auch das Christentum gegen populistische Versuchungen nicht immun und tut gut daran, gegen Vereinnahmungsversuche wachsam zu sein. Die perfide Instrumentalisierung des Kreuzes als Symbol der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) ist ein Beispiel für den Kampf um eine Deutungshoheit, da in den Kirchen völlig andere Vorstellungen von Patriotismus, Europa, Islam und Abendland vertreten werden (vgl. Orth und Resing 2017). Die Theologie hat eigentlich gar nicht die Wahl, ob sie sich nun mit dem Populismus beschäftigen will oder nicht. Sie muss es tun, weil ihr das Thema durch den Gang der Ereignisse aufgezwungen wurde und das Ansehen der christlichen Botschaft für die eigene politische Agenda instrumentalisiert wird (vgl. Bednarz 2018; Marzouki et al. 2016). Sich diesem politisch und zivilgesellschaftlich zu führenden Kampf zu stellen, ist eine Frage der intellektuellen Redlichkeit sowie der kirchlichen und der staatsbürgerlichen Verantwortung (vgl. Möhring-Hesse 2019). Dabei ist weder Panikmache noch Verharmlosung hilfreich. Dass die universitäre Theologie sich größtenteils

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aufseiten der Rechtspopulismus-Gegner und -Gegnerinnen befindet, beflügelt populistische Fantasien von einem elitären Projekt, das sich mit allen Mitteln den Anliegen des „wahren Volkes“ verweigert und mit der Moralkeule eines pluralistischen und kosmopolitischen Ideals gegen die „einfachen Leute“ vorgeht, die um ihre Wünsche nach Sicherheit, Übersichtlichkeit und nationalen Stolz betrogen werden. Theologie ist sowohl elitär (sofern darunter die Orientierung an hohen wissenschaftlichen Standards verstanden wird) als auch volksnah (sofern sie ihre Fragen aus den tatsächlichen Sorgen und Nöten der Menschen generiert und sich nicht mit der Wiederholung traditioneller Formeln begnügt). Theologie dient nicht der Selbstbehauptung und ideologischen Absicherung einer Religion, sondern der Überprüfung der Argumente, die für und gegen die Plausibilität von Glaubenshaltungen und Wertorientierungen vorgebracht werden können. Dabei geht die Theologie nicht völlig ergebnisoffen vor. Sie positioniert sich eindeutig, wenn es Menschenhass, Diskriminierungen, Diffamierungen, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und anderen Auswüchsen einer faschistoiden Gesinnung entgegenzutreten gilt. In dieser Hinsicht sind die Zeiten für eine sowohl kirchliche als auch zivilgesellschaftliche Verantwortung tragende Theologie ungemütlicher geworden, da sie die Komfortzone ihres Elfenbeinturms definitiv verlassen muss und in der Arena politischer Auseinandersetzungen Rede und Antwort zu stehen hat. Die hier skizzierte Gegenwartsdiagnose von Zusammenhängen zwischen Populismus und Religion schließt nicht aus, dass es auch Varianten von Populismus gibt, die konsequent religionsfeindlich oder gegenüber religiösen Fragen indifferent sind. Das bedeutet nicht, dass die Theologie sich nicht auch für solche Tendenzen interessieren sollte, da die wichtigsten Auseinandersetzungen ohnehin nicht um eine Glaubensdoktrin, sondern um moralische Fragen ausgefochten werden. Da eine christliche Ethik sich der Argumentationsweisen säkularer Vernunft bedient, ist es für sie selbstverständlich, bei solchen Debatten nicht abseits zu bleiben, sondern die Gründe vorzubringen, die gegen Autoritarismus, Antipluralismus, Hass, Gewalt und Ausgrenzung sprechen: in der Gesellschaft wie in den Reihen der Kirche.

3 Krise der Demokratie Aus politikwissenschaftlicher Sicht wird der Populismus in erster Linie als Krisensymptom liberaler Demokratie wahrgenommen, wobei auch regelmäßig die Ambivalenz des Anliegens zur Sprache kommt, dem „Volk“ Gehör zu verschaffen. Das ist ja eigentlich ein urdemokratisches Anliegen, das eher Unterstützung als

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Argwohn verdiente. In diesem Sinne gibt es auch programmatische Ansätze einer Theologie der Befreiung, die sich vor allem im Kampf gegen die Repression durch autoritäre Regime in Lateinamerika entwickelt haben. Die Berücksichtigung der „Stimme des Volkes“ ist insofern ein begrüßenswerter Impuls im Ringen um mehr Demokratie und um eine maximale Einbeziehung von Menschen, die marginalisiert zu werden drohen. Etymologisch tragen die Wortbildungen um die griechischen oder lateinischen Wurzeln der verwendeten Wörter nicht viel zur Klärung bei. Denn worin sollte genau der trennscharfe Unterschied zwischen einem guten „demos“ und einem problematischen „populus“ liegen? Diese Fragen fielen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Theologie, wenn diese nicht ein historisch gewachsenes, systematisch reflektiertes und praktisch gelebtes Verhältnis zu politischen Organisationsformen entwickelt hätte, sodass die komplexen Zusammenhänge zwischen Religion und Politik ein zentraler Themenbereich religionsbezogener Forschung sind (vgl. Meireis und Schieder 2017). Das Christentum ist von einer randständigen Minderheitsreligion im römischen Imperium zu einer dominanten Kraft geworden, die über Jahrhunderte den spannungsreichen Beziehungen zwischen Thron und Altar, weltlichen und spirituellen Angelegenheiten, Staat und Kirche ihren Stempel aufgedrückt hat. Unter den Bedingungen von Aufklärung, Modernisierung und Säkularisierung haben sich diese Kräfteverhältnisse zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt grundlegend verändert. Eine vernünftige Religion verzichtet auf Machtprivilegien, ohne sich vollständig in ein privates Abseits drängen zu lassen. Politik und Religion sind prinzipiell als getrennte Bereiche anzusehen, weil friedliche Koexistenz in Zeiten des weltanschaulichen Pluralismus auf die Neutralität der öffentlichen Sphäre angewiesen ist. Hier begegnen sich Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen als Freie und Gleiche und ohne das Bedürfnis nach ideologischer Homogenisierung der Gesellschaft. Demokratische Strukturen und Verfahren bewähren sich gerade dann, wenn sie Vielfalt abbilden und Konflikte moderieren können. Mit dem Modell einer liberalen und rechtsstaatlich abgesicherten Demokratie haben die christlichen Kirchen erst in der Gegenwart ihren Frieden gemacht, sodass die selbstkritische Vergewisserung kirchlicher Demokratietauglichkeit keine rhetorische Floskel ist (vgl. Henze 2019). Wenn sie sich heute in der Auseinandersetzung mit populistischen Strömungen als entschiedene Verfechterinnen einer menschenrechtlich fundierten Demokratie positionieren, gerät leicht in Vergessenheit, dass sie vor gar nicht so langer Zeit für ihre anti-modernen, antipluralistischen und anti-demokratischen Präferenzen bekannt und manchmal auch gefürchtet waren. Genau wegen dieser Konstellation ist auch die christliche Kollision mit dem Populismus so aufschlussreich für die selbstkritische Reflexion

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eines unabgeschlossenen Lernprozesses. Es ist in gewisser Weise eine Begegnung mit alten Gespenstern einer antimodernistischen Festungsmentalität, in der kein Platz für Mitbestimmung, Toleranz und Anerkennung von Diversität war, dafür aber um so mehr eine ausgeprägte Neigung zu Autoritarismus, charismatischen Führungspersönlichkeiten, Kampf gegen Abweichler, Diskriminierung von Lebensformen und Fixierung auf kollektive Identitäten. Es ist wohl auch diese unheimliche Nähe zu überwunden geglaubten Mentalitäten, die eine genauere Betrachtung des Aufeinandertreffens von Christentum und Populismus zwischen „Wahlverwandtschaften und Fremdzuschreibungen“ (Pickel 2018) so spannend macht. Das Ankommen in einer Kultur des demokratischen Ringens um die besseren Argumente, das Organisieren von Mehrheiten und zeitlich befristeten Regierungsaufträgen will so gar nicht zu dem Bild einer ihres Wahrheitsanspruchs sicheren Religion passen. Zumindest die katholische Kirche hat weiterhin in ihrer rechtlichen Verfasstheit die Struktur einer absoluten Monarchie, die der Entscheidungsbefugnis des römischen Lehramts eine große Machtfülle zugesteht. Einerseits hat die Kritik der Hierarchie – nicht zuletzt durch den Skandal des sexuellen Missbrauch – begonnen, sodass Laien und Kleriker ihre Aufgaben neu bestimmen; andererseits bleibt der Vorbehalt gegenüber einer Fundamentaldemokratisierung, die als Angriff auf den Wesenskern der Tradition gesehen wird, über deren religiösen Anspruch das letzte Wort in Fragen von Glauben und Moral doch nicht durch Mehrheitsentscheide verfügt werden könne. In dieser Hinsicht herrscht zwischen Kirche und Demokratie eine gewisse Fremdheit, die sich auch in der Diagnose der Krise der Demokratie niederschlagen muss. Aus konventioneller kirchlicher Sicht ist die Demokratie „ein weltlich Ding“, dessen Dysfunktionen man zwar bedauern mag, weil man sich nach stabilen Verhältnissen sehnt. Traditionell sieht sich die Kirche als eine nach eigenen Regeln konstituierte und regierte Gemeinschaft, was regelmäßig bei arbeitsrechtlichen Konflikten sichtbar wird. Es gibt aber einen tieferen Grund für ein theologisches Interesse an politischen Verhältnissen. Unter dem Namen „Politische Theologie“ werden höchst unterschiedliche Theorien zusammengefasst, die um den Zusammenhang zwischen theologischen und politischen Kategorien kreisen. Moderne Politik hat sich so stark von religiösen Ordnungsvorstellungen emanzipiert, dass nicht mehr pauschal behauptet werden kann, politische Ansprüche seien säkularisierte Formen vormals theologisch besetzter Konzepte. Das mag im Mittelalter und in der frühen Neuzeit der Fall gewesen sein, als normative Leitbilder von Königtum, göttlich legitimierter Macht und Souveränität noch eng mit religiöser Semantik

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aufgeladen waren. Mit der Säkularisierung und Delegitimierung solcher Machtgefüge haben sich die für politisches Handeln einzufordernden Begründungen verschoben. Staatliches Handeln wurde durch seine Rückbindung an verfassungsrechtliche Normen und menschenrechtliche Standards entzaubert und muss sich der schwierigen Aufgabe des Respekts vor individueller Freiheit und der Achtung von Regeln in Verfahren kollektiver Willensbildung stellen. Eines der praktisch erfolgreichsten Modelle der Organisation von wechselnden Mehrheiten ist die repräsentative parlamentarische Demokratie, in der Bürger und Bürgerinnen nicht direkt, sondern über die Arbeit der von ihnen gewählten Vertreter gesetzgeberisch tätig werden. Dieses Modell befindet sich heute in einer tiefen Krise, weil die Aufsplitterung der Parteienlandschaft die Meinungsbildung und die Vereinbarung von plausiblen Koalitionen erschwert. Die Gewählten werden dann oft als Akteure in einer parlamentarischen Sonderwelt gesehen, die sich von den Anliegen des „Volkes“ entfernt. Wenn nicht mehr sicher ist, zu welchen ungewollten Bündnissen abgegebene Stimmen addiert werden, entsteht der Eindruck von einer politischen Elite, die abgehoben ist und sich verselbständigt. Die populistische Kritik an repräsentativer Demokratie liebäugelt mit der Möglichkeit einer direkten Beteiligung, um kollektive Befindlichkeiten zu artikulieren und Kurswechsel zu erzwingen. Die christlichen Kirchen hatten sich ganz gut damit zurechtgefunden, den Gedanken politischer Repräsentation wertzuschätzen. Sie kennen das Konzept der Repräsentation aus einer religiösen Vorstellungswelt, in der wir Repräsentationen des Heiligen begegnen, nicht aber den Glutkern religiöser Überzeugungen direkt berühren. Repräsentationen sind zivilisierte Formen der Sichtbarmachung des nur schwer Darstellbaren. Der populistische Rückgriff auf die unmittelbar zur Geltung zu bringende Autorität des Volkes als dem obersten Souverän begibt sich auf ein heikles Gelände, sobald Vermittlungsstrukturen und Ausbalancierungen im Widerstreit der Meinungen übersprungen werden. Aus populistischer Sicht kann mit guten Gründen eine Revitalisierung einer erstarrten Demokratie eingefordert werden. Dieser Anspruch ist jedoch problematisch, wenn die Vielfalt konkurrierender Sichtweisen durch die vermeintliche Evidenz der „Stimme des Volkes“ beiseitegeschoben wird. Die Wucht populistischer Mobilisierung hängt mit ihrer Vorliebe für kraftvolle und homogene Gemeinschaften zusammen, die sich gegen Fremde abschotten und die eigene Stärke feiern (vgl. Reno 2019). Während Demokratie Vielfalt inszenieren und produktiv zu einem fairen Interessenausgleich führen will, neigt die populistische Verschärfung von Volkssouveränität zu einer Fokussierung von Solidarität auf die Mitglieder eben dieses Volkes, das keine zu großen Abweichungen von imaginierten Standards einer kulturellen und

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ethnischen Identität duldet. Populistische Bewegungen mit mehr oder weniger großer Affinität zum Christentum hat es geschichtlich schon in vielen Varianten gegeben. Sie begleiten die Modernisierung von Gesellschaften wie religiöse Fundamentalismen, die modernitätsresistenten Schatten von Religionen sind. Neu ist an der gegenwärtigen Situation die Beschleunigung und Vervielfachung von Krisensymptomen, die mit Destabilisierungen westlicher Demokratien und transnationaler politischer Ideale zusammenhängen. Wenn sich der Eindruck verstärkt, dass Parlamente die Stimmungslage im Land nicht mehr adäquat abbilden, wenn der Prozess der europäischen Einigung mit Skepsis und Feindseligkeit betrachtet wird und wenn Steuerungsdefizite im Bereich der Zuwanderung Sorgen bereiten, entsteht eine gefährliche Mischung von wütenden Affekten gegen eine demokratische Rahmenordnung, die noch zuvor als die beste aller möglichen Optionen anerkannt wurde. Mit der semantischen Verschiebung von der Vorstellung eines heterogenen und auf Einheit in Vielfalt gedachten demokratisch sich artikulierenden Volkes zu einem Fremdes und Bedrohliches ausschließenden Volk gleitet der vielbeschworene Konsens der Demokraten in einen Dissens, weil die Selbstverständlichkeiten von Pluralismus, Inklusion und Solidarität nicht mehr geteilt werden. Die christlichen Theologien und Kirche sind nicht einfach neutrale Beobachterinnen einer sie nur indirekt berührenden politischen Situation. Sie profitieren so sehr von stabilen demokratischen Verhältnissen, dass sie im Eigeninteresse und vor allem auf der Basis ihres Menschenbildes und ihrer moralischen Überzeugungen mit allen Kräften ihre zivilgesellschaftliche Verantwortung für die Förderung demokratischer Inklusion wahrnehmen müssen. Das ist kein Randthema einer ansonsten auf Sinnfragen, Spiritualität und Rituale spezialisierten Religion; es liegt im Zentrum eines aufklärerischen und entschiedenen Engagements gegen die Kräfte, denen an einer Zerstörung einer breiten Wertebasis gelegen ist. Die Ausgrenzung von Geflüchteten, das Schüren der Angst vor Migration und das Spiel mit dem Feuer eines nationalistischen Weltbildes sind Angriffe auf die Fundamente einer demokratischen Gesellschaft, in der die Respektierung von Grundrechten nicht von bestimmten Identitätsmerkmalen abhängig gemacht werden darf. Rückwärts gewandte Beschwörungen eines „christlichen Abendlands“ sind wirklichkeitsfremde und zynische Manöver, die sich bestimmt nicht auf eine besonders ernsthafte Umsetzung einer christlichen Ethik berufen. Deshalb mischen sich Kirche und Theologie in die aktuellen politischen Debatten ein, um eine Instrumentalisierung ihrer Tradition zu entlarven und um advokatorisch für jene Menschen einzutreten, die zu Opfer populistischer Hetze zu werden drohen. Es lässt sich nüchtern darlegen, dass die

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Berufung rechtsextremer Parteien auf „christliche Werte“ blanker Hohn ist, da die politischen Optionen zu den ethischen Standards des Christentums im Widerspruch stehen (vgl. Heimbach-Steins et al. 2017).

4 Erklärungsversuche Zur Erklärung der Entstehung von Populismus ist die Theologie wiederum auf die Expertise anderer Disziplinen angewiesen, die teilweise schon miteinander kooperieren (vgl. DeHanas und Marat 2019). Sollte sie dabei eine spezifische Perspektive einbringen können, so hat diese sehr viel mit den schon mehrfach erwähnten Affinitäten zwischen religiösen Weltbildern und populistischen Haltungen zu tun. Durch die Sensibilität für diesen Zusammenhang können theologische Diskussionen über Blockaden und Sackgassen im Prozess der Modernisierung angestoßen werden, in denen nicht nur von oben heraus geurteilt und verurteilt wird. Bei den Erklärungsversuchen sind zwei Ebenen zu unterscheiden: die genealogische Sicht auf die Entstehung von Frustration und Wut und die normative Sicht auf die oft kontraproduktiven Versuche einer Bewertung, die von den Angesprochenen als arrogant und distanziert empfunden wird. Das Syndrom des Populismus ist durch Abstiegsängste, Verzweiflung über Nichtbeachtung und Wut auf vermeintliche Konkurrenten zu charakterisieren. Im Gegenzug zu diesen negativen Gefühlen wird das motivierende Bild der Zugehörigkeit zu einer starken und schützenden Gemeinschaft gezeichnet, die sich vornehmlich ihrer Mitglieder annehmen soll und für diejenigen, die nicht zum engeren Kreises des „Volkes“ gehören, keine Verantwortung und Fürsorgepflichten zu übernehmen bereit ist. Vom Populismus infizierte Gesellschaften gleichen einem „Königreich der Angst“ (Nussbaum 2019), in dem Missgunst und Misstrauen gesät werden (vgl. Palaver 2019). Es soll nicht behauptet werden, dass die Ängste von Menschen, die sich auf den rechten politischen Rand zubewegen, aus der Luft gegriffen sind. Globalisierung, Turbokapitalismus und individuelle Planungsunsicherheit machen Angst und finden ein Ventil in der Suche nach Sündenböcken. Doch das Gefühl der Benachteiligung und Überforderung hat Gründe, die zur Kenntnis zu nehmen sind. Es ist kein Zufall, dass die rechte Radikalisierung durch die Migrationskrise seit 2015 zugenommen hat. Den Vertreterinnen und Vertretern eines liberalen, weltoffenen und pluralismusfreundlichen Diskurses ist es nicht ausreichend gelungen, von den Vorzügen ihrer Sichtweise zu überzeugen. Im Gegenteil: Sie haben ohne es zu wollen den Verdacht genährt, als Profiteure einer transnationalen, europäischen und kosmopolitischen Lebensweise die Elite zu verkörpern, die sich über die

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Befindlichkeiten jener hinwegsetzt, die nicht in solchen Netzwerken leben können oder wollen. Diese Spaltung der Gesellschaft darf nicht ignoriert werden, weil sonst nur Schuldzuweisungen in beide Richtungen formuliert werden. Religiöse Praktiken und Sinnangebote sind an beiden Seiten des Spektrums anzutreffen. Es gibt den volkstümlichen und unterkomplex agierenden Zugang ebenso wie die intellektuelle und sozialethisch argumentierende Sicht, die heute eher mit liberalen Milieus sympathisiert. Die universalistischen Appelle christlicher Ethik wirken einerseits motivierend, andererseits entmutigend, sofern die Einsicht in die Verpflichtungen zu einer inklusiven Solidarität und zu gleichen Grundrechten für alle als Überforderung empfunden wird. Deshalb tut sich die Theologie mit einer umfassenden Erklärung populistischer Phänomene so schwer. Hätte das Christentum wirklich noch einen prägenden Einfluss auf die Gesellschaft, dann dürfte es bestimmte Exzesse von Fremdenangst und Europaskepsis ja gar nicht geben. Polen und Ungarn sind zwei beunruhigende Beispiele für kirchliche Positionen, die sehr deutlich von dem in Westeuropa vorherrschenden „Konsens der Demokraten“ abweichen. Hinzu kommen die besonderen Sensibilitäten, die in Deutschland im Umgang mit dem Rechtspopulismus anzutreffen sind.

5 Strategien Die Kernkompetenzen der Theologie liegen weder in der umfassenden Ursachenanalyse noch in der strategischen Bekämpfung des Populismus durch eine effiziente praktische Arbeit in Gemeinden, Schulen, Erwachsenbildung und Sozialverbänden. Vor beiden Aufgaben kann sich theologische Arbeit dennoch nicht drücken, wenn sie zivilgesellschaftlich ein wichtiger Akteur sein will. Strategien im Kampf gegen Rechtspopulismus müssen der Skepsis begegnen, mit Ideen eines „Gutmenschentums“ nicht viel ausrichten zu können und im Zweifelsfall nur noch heftigere Gegenreaktionen zu provozieren. Noch mehr als die universitäre Theologie sind die Kirchen mit der Notwendigkeit konfrontiert, konkret zur Präsenz von Rechtspopulismus in den eigenen Gemeinden und bei öffentlichen Veranstaltungen wie Kirchentagen oder Katholikentagen umzugehen. Soll der Dialog versucht werden oder ist er von Anfang an zum Scheitern verurteilt und obendrein mit dem Makel behaftet, Extremistinnen und Extremisten eine Plattform für ihre unerträglichen Ansichten zu geben? Stimmt es, dass Rechtspopulisten und -populistinnen nicht lernfähig sind und dass sie sehr wahrscheinlich die ganze Hand nehmen, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht? Über diese grundsätzlichen Weichenstellungen

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wird in den Kirchen heftig gestritten. Dabei überwiegt die Strategie der klaren Fronten, mit denen rote Linien gezogen werden sollen, die auf keinen Fall zu überschreiten sind, weil sie als Zugeständnis oder als Schwäche ausgelegt werden könnten. Jede Strategie einer Diabolisierung rechter Bewegungen wird deren Reaktion provozieren, in den durch demokratische Wahlen legitimierten Strukturen eine Normalisierung ihrer Präsenz zu erreichen. Die Auseinandersetzung mit dem Populismus hat zur Wiederbelebung eines Postulats geführt, das geschichtlich mit dem Widerstand gegen totalitäre Regime verbunden war: die Idee des „status confessionis“, wie Dietrich Bonhoeffer sie im Kampf der Bekennenden Kirche gegen den Nationalsozialismus verwendete. Eine solche Notwendigkeit zum kirchlichen Bekenntnis tritt ein, wenn jedes Gespräch mit dem Gegner und jedes Schweigen kompromittierend sein würde. Es ist eine Frage der Treue zu den eigenen Auffassungen von Glaube und Moral, menschenverachtenden Ideologien den Kampf anzusagen und sich auf keine Vermittlungsversuche einzulassen (vgl. Collet et al. 2020). Während Christinnen und Christen früher als Dissidentinnen und Dissidenten in subtiteln dogmatischen Angelegenheiten exkommuniziert wurden, wäre heute darüber nachzudenken, ob sich jemand nicht außerhalb der Gemeinschaft positioniert, wenn er oder sie meint, christliche Überzeugungen mit dem Hass auf Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Gender-Identität vereinbaren zu können. Damit muss das Risiko eingegangen werden, mit weiteren Polarisierungen zu leben – nicht im Sinne einer unantastbaren Glaubensdoktrin, sondern zugunsten der unantastbaren Würde von Menschen, die nicht Opfer völkischer Wahnvorstellungen werden dürfen. Rassismus und Kirchenzugehörigkeit sind unvereinbar. Das ist letztlich eine Frage des Gottes- und Menschenbildes, also eine Glaubenshaltung (vgl. Sandler 2017; Hempelmann und Lamprecht 2018; Harasta und Sinn 2019), und nicht nur ein Ergebnis ethischer Reflexion, die auch mit säkularen Mitteln vertreten werden kann. Der Überblick über die Gründe für eine theologische Beteiligung am interdisziplinären Gespräch über den Populismus hat gezeigt, dass die christliche Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht und dass es keine Option ist, sich dieser Auseinandersetzung entziehen zu wollen. Schon zu oft haben Kirchen und Theologien in politischen Grundfragen geschwiegen oder die falschen Allianzen bedient und reaktionäre Sichtweisen auf Demokratie, Nation und Menschenrechte ideologisch verstärkt. Die unausweichlich gewordene Einmischung erfordert eine robuste Streitkultur, in der die Schwächen des eigenen Standpunkts nicht ausgeblendet werden. Deshalb ist es erforderlich, die Schuldgeschichte der Verstrickungen in rassistische und antisemitische Diskriminierungen ohne Vorbehalte und in ökumenischer Kooperation aufzuarbeiten

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und das Profil der heute notwendigen ethischen Argumentation logisch stringent und in der Sache kompetent zu schärfen. Das ist eine Dienstleistung, die Kirche und Gesellschaft von einer universitären und somit öffentlich subventionierten Theologie erwarten dürfen und müssen. Freilich verstärkt das in populistischen Kreisen den Vorwurf, eine solche Theologie sei wie die Kirche Teil des verabscheuten „Systems“, ähnlich wie die öffentlich-rechtlichen Medien. Doch diese Kollisionen sollte niemanden daran hindern, an den dringend notwendigen Klärungen im Interesse der Zukunftsfähigkeit liberaler Demokratie zu arbeiten, die auch ohne die Konfrontation mit dem Populismus unter Druck geraten ist und über ihre Legitimation Rechenschaft ablegen muss. Dabei werden theologische und religionswissenschaftliche Projekte von ihren internationalen Vernetzungen profitieren und aus Ländervergleichen lernen (vgl. Dard et al. 2019).

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