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German Pages 130 Year 2018
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 89
WALTER LEISNER
Stoische Ruhe in Mensch und Staat Senecas Denken und die Demokratie
Duncker & Humblot · Berlin
WALTER LEISNER
Stoische Ruhe in Mensch und Staat
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 89
Stoische Ruhe in Mensch und Staat Senecas Denken und die Demokratie
Von
Walter Leisner
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Diese Untersuchung steht unter Themenworten, die bisher kaum einen Raum in geltendem Staatsrecht gefunden haben: „Ruhe“ begegnet allen¨ ffentlichen Recht einer „Sicherheit und Ordnung“, vor allem als falls im O Problemfeld des Polizeirechts. Lucius Annaeus Seneca erscheint bisher in der Verfassungsgeschichte selten, in der Rechts- und Staatsphilosophie allenfalls als Autorenquelle einer Stoischen Weltsicht, in welcher ein Naturrecht als antikes Weltrecht beleuchtet wird. Bezu¨ge solcher Begegnungen, fast schon geistiger Funde, zu Grund¨ ffentlichen Rechts, speziell als vertiefende Gedanken zu einer sa¨tzen des O Staatslehre der Demokratie, liegen gewiss nicht auf der Hand; sie sind dennoch naheliegend. Die große unbestreitbare Ordnungskraft dieser Staatsform, wenn nicht geradezu ihre Legitimation, sie liegen ja in einer Menschenna¨he ihrer Staatlichkeit, welche ein „Mensch und Staat“ zu „Staat wie Mensch“ werden lassen will, in einem staatsrechtlichen NeoHumanismus, der dann selbst einen Ru¨ckgriff auf die Antike entbehrlich erscheinen la¨sst. Und dieser menschliche Staat soll ja gerade darin seinen Bu¨rgern ganz nahe sein und in allem bleiben, dass er alles aufnimmt, abbildet, umsetzt, was diese seine Menschen bewegt, darin ihn selbst zu einer flexiblen Ordnungsmacht werden la¨sst, in einer verfassungsrechtlichen „Offenheit“. Sie tra¨gt ihn auf ein Meer hinaus, auf dem aber das Staatsschiff „Fluctuat nec mergitur“, wie es die Devise der Stadt Paris, des historischen Zentrums organisierter Staatsgewalt, versprochen hat. Diese Demokratie als bewegte, bewegende Staatsform – und ihr gegenu¨ber nun die stoische Ruhe eines Ca¨sarenberaters aus Rom, der diese am Ende nur in erzwungenem Selbstmord finden konnte – ist ein gro¨ßerer Gegensatz, eine sta¨rkere Spannung denkbar als in dieser geistigen Frage? Doch „Les extreˆmes se touchent“, gerade deshalb wird dieses staatsrechtliche Wagnis unternommen. Dem Leser verlangt es viel ab, allzu vieles vielleicht: Assoziationen u¨ber wahre Abgru¨nde hinweg. Vor allem aber eine Nachsicht mit ho¨chstperso¨nlichen Pointierungen des Verfassers und damit auch seiner Selbst-Referenzen: Mit dieser Schrift hat er selbst staats-
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Vorwort
rechtliche Ruhe finden, seine bisherigen Gedanken ausmu¨nden lassen und sich von einem Staatsrecht verabschieden wollen – „systematisch“ – das ihn ein langes Leben nicht hat – zur Ruhe kommen lassen. Mu¨nchen, im Herbst 2017
Walter Leisner
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“ – Eine Grundfrage der Demokratie . 13 I. Demokratie: Staatsform in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. „Staatsform als Statik“ – Definition aus Souvera¨nita¨t? . . . . . . . . 13 2. Volkssouvera¨nita¨t: wesentlich (in) dynamische(r) Entwicklung . . 15 3. Der Verfassungsstaat: Demokratische Suche nach „Ruhe in rechtlicher Statik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Staatsrechtliche Statik-Vorbilder der Vergangenheit – Demokratischer Entwicklungszustand der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Tradition als Ordnungskraft in der Demokratie? . . . . . . . . . . . . 17 2. Staatsrecht der Gegenwart: Absage an statische Ordnungen . . . . 19 III. Staatsrechtliche Institutionenlehren: Kein Weg zur Erfassung demokratischer Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Staatsrechtliche Institutionenlehren: Rechtsformen, nicht Rechtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Allgemeine Staatslehre: Ein „institutioneller Versuch“ . . . . . . . . 23 3. Die Allgemeinen Staatslehren der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . 24 IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie . . . . . . . . . 25 1. Antike Philosophie: in staatspolitischen Auflo¨sungszusta¨nden . . 25 2. Attische Demokratie und Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Ro¨mischer Staat – Philosophien (s)einer Endzeit . . . . . . . . . . . . 28 4. Dynamik und Statik: „Gemischte Staatsphilosophie und demokratisches Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte in geistesgeschichtlicher Na¨he zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Seneca als „Referenz fu¨r Stoa und Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Seneca: ein „Klassiker des Staatsrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Menschlich-geistige Einheit einer „reichen Perso¨nlichkeit“ . . . . . 33
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Inhaltsverzeichnis 3. Senecas Staatsphilosophie – in Tradition zwischen Autorita¨t und Ruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4. Ru¨ckkehr zu stoischer Ruhe – mit Seneca – Heute? . . . . . . . . . . 37 II. Grundgedanken der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Erkenntnis nur in Ethik – Keine Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Virtus: Menschentauglich-Humanes, nicht „moralisch Gutes“ . . 39 3. „Der Mensch nach Natur“ – sein eigener Gott . . . . . . . . . . . . . 39 4. „Ruhe(n)“ ist alles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5. Reichtum, Gu¨ter: Externa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Ruhe – Welt „eigenen Denkens“, fern von anderen, „vielen“ Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 7. Der Tod – ein Abgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 III. Exkurs: Stoa und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Gemeinsame Grundsa¨tze – Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Trennendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 IV. Staatsrecht, Demokratie, Grundgesetz – und Stoa: Themenbehandlung in Schwerpunktvergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Die Problematik einer Zusammenordnung zu Schwerpunkten . . 45 2. Begegnungsra¨ume von Stoizismus und Demokratie – Inhaltsvorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
¨ berzeugungen und Demokratische (Grund-)EntscheiC. Stoische (Grund-)U dungen: Beru¨hrungen – Spannungen – Gegensa¨tze . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Freiheit in Eigenentscheidung: Individualismus in Ruhe . . . . . . 49 2. Menschliche Perso¨nlichkeit – Eigenentscheidung nach Gewissen 51 3. Leben nach Gesetzen der eigenen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. „Ernstes Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5. Staat und Freiheit in Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 6. Individualismus: gegen Massen-Unruhe der Mehrheit . . . . . . . . 58 7. Mensch, Staat – Freiheit in „Haltung“, nicht als Anspruchsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Inhaltsverzeichnis
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II. Erregung, Bewegung, Dynamik – oder Ruhe, in Mensch und Staat?. 62 1. (Gemu¨ts-)Bewegung und staatsrechtliche Dynamik der Demo¨ ber den Zorn“ (De ira) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 kratie: Senecas „U 2. Bewegung in „Zorn“: Begierde, Gewalt – Streben . . . . . . . . . . . 64 3. Unruhegru¨nde – Meinungsbewegungen, o¨konomische Begehrlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4. Strafrecht(stheorien), Staatliche Strafgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5. Erziehung, Aufstieg, Wettbewerb – ruhegefa¨hrdende Bewegung . 69 6. Der Tod: Ende von Erregung und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Staatsferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Staatsferne oder Staatsdienst: Eine Grundsatzfrage . . . . . . . . . . . 72 2. Entartungsgefahren der Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Wege zu „staatsnaher Staatsferne“: Transparenz der Person, Statik der Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Religion: In Mensch und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Der stoische Mensch und die Staatsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Religion und perso¨nlicher Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Religionsfreiheit und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 V. Besitz als Gefahr – Eigentum als Ruhe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Demokratisches Wirtschaften und Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Stoische Radikalkritik am „Besitz“, am Reichtum . . . . . . . . . . . 85 3. „Besitz“ zum/als Luxus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4. „Das Leben: Ein Spaß“ – Vom Reichtum zum Vergnu¨gen . . . . . 89 5. Der (Staats-)Denker und „sein Eigentum“ – Senecas widerspru¨chlicher Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa – von der Menschen- und Staatskunst des Gebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. „Wohltaten“, „Staatsgu¨te“ als Beherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Gu¨te als Milde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Staatsleistungen – u¨berflu¨ssig? Armut, Unglu¨ck als Chancen . . . 96 4. Wohltaten: Wie zu geben – wie zu empfangen? . . . . . . . . . . . . . 98 VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Sterben: ein stoisches Kapitel fu¨r Mensch und Staat . . . . . . . . . 101
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Inhaltsverzeichnis 2. „Verfassungsrechtliche Todeskultur“ fu¨r den Staats-Bu¨rger? Stoische Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. „Staats-Tod“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Tod: Spannung oder Scheideweg fu¨r „Stoa und Demokratie“? . . 106 5. Sterben: Stoische Selbstauflo¨sung von Mensch und Staat . . . . . . 109
D. Ausblick. Senecas Stoisches Denken: Nicht „die“ demokratische Staatsphilosophie, aber eine Sinnerfu¨llung von ihr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. „Gemischte Staatsform“ – „Gemischte Staatsphilosophie“? . . . . . . . . 111 1. Ein staatsrechtlicher Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Eine Mischung antiker Rechtsphilosophien . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Demokratisches Staatsrecht: Zwischen Mehrheitsentscheid und stoischer Regierungs-Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 E. Ergebnisse – Kurzfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. A. I., S. 13 bis 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. A. II., S. 17 bis 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. A. III., S. 22 bis 25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. A. IV., S. 25 bis 31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. B. I., S. 32 bis 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 6. B. II., S. 37 bis 42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7. B. III., S. 42 bis 45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 8. B. IV., S. 45 bis 48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 9. C. I., S. 49 bis 62 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 10. C. II., S. 62 bis 72 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) (C. II. 1. ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) (C. II. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 c) (C. II. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) (C. II. 4.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 e) (C. II. 5.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 f) (C. II. 6.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 11. C. III., S. 72 bis 79 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) (C. III. 1.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) (C. III. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) (C. III. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Inhaltsverzeichnis
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12. C. IV., S. 79 bis 83 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) (C. IV. 1.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) (C. IV. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) (C. IV. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 13. C. V., S. 83 bis 93 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) (C. V. 1.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) (C. V. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 c) (C. V. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 d) (C. V. 4.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 e) (C. V. 5.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 14. C. VI. S. 93 bis 100 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) (C. VI. 1.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) (C. VI. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) (C. VI. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 d) (C. VI. 4.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 15. C. VII., S. 101 bis 110 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) (C. VII. 1.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) (C. VII. 2.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) (C. VII. 3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 d) (C. VII. 4.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 e) (C. VII. 5.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 16. D., S. 111 bis 115 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) D. I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) D. II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“ – Eine Grundfrage der Demokratie I. Demokratie: Staatsform in Bewegung 1. „Staatsform als Statik“ – Definition aus Souvera¨nita¨t? a) „Demokratie als Staatsform“ abzugrenzen zu anderen Regierungsformen, ist ein dogmatisches Aufgaben-Erbe der aristotelischen staatsrechtlichen Begriffsjurisprudenz1. Diese versucht, in Fortsetzung platonischer Wesens-Idealvorstellungen2, die Entwicklungen von Staatsformen und deren Dynamik „aufzufangen“ in der begrifflichen Statik der „Entartungen“ und deren Vermeidung in Kombinationen – letztlich damit Evolutionen als solche3, dynamische Entwicklungskra¨fte aus der Staatsrechtsdogmatik auszublenden. Darauf beruht – noch immer – das gesamte „begriffliche Denkgeru¨st“ des geltenden, insbesondere das des „grundsatzgepra¨gten“ deutschen Staatsrechts4. Dogmatische Vorstellungen wie „Grundwerte“5, „Wesensgehalt“6, „Kernbereich“7 sind Auspra¨gungen 1 Begriffsjurisprudenz: ein kaum vertiefter Begriff des Staatsrechts, der meist mit dem Namen Paul Laband in Verbindung gebracht wird, dem ersten großen Systematiker dieser Materie; vgl. das Vorwort von dessen 1. Aufl. von „Das Staatsrecht des Deutschen Reiches“, 1876; vgl. dazu Leisner, W., Die Prognose im Staatsrecht. Zukunft in Vergegenwa¨rtigung, 2015, S. 31. 2 Zu diesem s. Leisner, W., Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart, 2014, insb. S. 22 ff., 122 ff. 3 Zu den Evolutionen vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 58 ff. 4 Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 12 ff. 5 Zu den „Verfassungswerten“ des Grundgesetzes, s. Rensmann, Th., Wert¨ berpositives Recht als Pru¨ordnung und Verfassung, 2007; Dieckmann, H.-E., U fungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes, 2006, S. 138 ff.; Di Fabio, U., Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, S. 1; Leisner, W., „Wertewandel“ und Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 313 m. Nachw.
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A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
dieser „Begriffsstatik“8. Mit ihr sollen entwicklungsma¨ßige „Wesensver¨ berzeua¨nderungen“ begrifflich ausgeschlossen, damit die politische U gungskraft der Demokratie mit einem religionsa¨hnlichen Geltungsanspruch von Ewigkeit(en) gesteigert werden9. b) Rechtlich erfolgt dies u¨ber einen „Souvera¨nita¨tsbegriff“, der „unwiderstehlichen (Staats-)Gewalt“, der (letztlich) dem Vo¨lkerrecht entlehnt und in das „interne“ Recht der Nationalstaaten eingefu¨hrt werden konnte, seit und zugleich mit der Entfaltung eines nationalstaatlichen Verfassungsrechts im 18. Jahrhundert. Hans Kelsen10 hat dies spa¨ter in seiner Norm(stufen)lehre gu¨ltig und bleibend dogmatisiert – wiederum letztlich in aristotelischer Statik. Zentralbegriff dieser staatsformpra¨genden Souvera¨nita¨tslehre ist der „Souvera¨nita¨tstra¨ger“, eine institutionell festgelegte, definierte, abgegrenzte politische Entscheidungs- und damit Machteinheit: „Monarch/ Fu¨hrer“, „Aristokratie/(herrschende) Ober-Schicht“, „Volk/Mehrheit Gleicher“. Eine dogmatische Bewa¨ltigung dieser institutionalisierten Souvera¨nita¨t ist nie voll gelungen11, weil der sie konstituierende Begriff einer „Unwiderstehlichkeit“ stets eine begrenzende Gegenbegrifflichkeit sogleich auf den Plan rief: die „Freiheit“. Sie ist allerdings, als solche, ebenso „rechtlich definitionsresistent“ geblieben in ihrer Begrifflichkeit wie „die Souvera¨nita¨t“12. Diese „Freiheit“ war Gegenbegriff zur „Gewalt“, damit zur Staatlichkeit als solcher, unter (der Geltung von) allen Staatsformen, bereits
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Zum Wesensgehalt s. Huber, P. M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 102 ff. 7 ¨ ffentlichen Recht, S. Nachw. bei Leisner, W. G., Existenzsicherung im O 2007, S. 92 ff. 8 Diese Begriffsstatik steigert sich zum Begriff von „Institutionen“, vgl. Leisner, Fn. 3, S. 58 ff. 9 Zu diesem Begriff der „Ewigkeit“ vgl. Leisner, W., Das Unendliche im Staatsrecht. Geltung, Dimensionen, Dynamik der demokratischen Verfassung, 2017, S. 99 ff. 10 Zu Kelsens Normbefehlen vgl. Leisner, Fn. 3, S. 30 f. 11 ¨ berblick und großangelegter Versuch einer Dogmatisierung bei Neuester U Schachtschneider, K. A., Souvera¨nita¨t. Grundlage einer freiheitlichen Souvera¨nita¨tslehre, 2015. 12 Zur „Freiheit als solcher“ vgl. Leisner, Unendlichlichkeit, Fn. 9, S. 39 ff., 108 f.
I. Demokratie: Staatsform in Bewegung
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in fru¨her Monarchie („Tyrannenmord“) 13. Deutlich bewusst und (damit auch bereits) institutionalisiert trat dies jedoch mit und seit der Demokratie in Erscheinung, in der Spannung zwischen „Volkswille“14 und Grundrechtlichkeit. Diese Freiheitsrechte wurden zu einer Art von „personalita¨tsgestu¨tzter Gegensouvera¨nita¨t“ des Menschen, in seinem Individualismus, gegen den Staat und dessen kelsenianisch verfestigte, dezisionistisch (Carl Schmitt) ausgeformte Norm-Befehlssouvera¨nita¨t.
2. Volkssouvera¨nita¨t: wesentlich (in) dynamische(r) Entwicklung a) In dieser Spannung steht die deutsche grundgesetzliche Ordnung seit dem Zusammenbruch des post-monarchischen Fu¨hrerstaats. Damit ist „Staatsformdefinition aus Rechts-Statik-Ruhe voll in demokratische Dynamik geworfen“, als „demokratische Staatsform in einer (dieser) wesentlichen Bewegung“, in immer neuen A¨ußerungsformen: - Einerseits wird „die Staatlichkeit“ als eine Macht aufgefasst, welche an sich immer neue Herrschafts-(Beherrschungs-)Formen hervorbringt, nunmehr beschwichtigend „Ordnungsformen“ genannt15, in Reaktion auf außer(staats)rechtliche Entwicklungen. Dies endet in unterschwelligen, aber doch stets gegenwa¨rtigen Vorstellungen von einer „Staats-Allmacht“16. Definitorisch kann es also nicht „Statik als RechtsRuhe“ geben, es gibt nur „staatliche Macht in Reaktion auf außerrechtliche Entwicklungen“, also „Staatlichkeit in Macht-Evolution“ – in Bewegung. - Zum anderen steht eben diese „Macht“ in laufender Spannung zu einer „Gegenmacht“ in Bewegung, die aus der individuellen, individualethisch
13 Vgl. Kern, F., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im fru¨hen Mittelalter, in: Buchner, R. (Hg.), 1970, S. 5 ff. 14 Vgl. Leisner, W., Das Volk. Realer oder fiktiver Souvera¨n?, 2005. Zur Bildung des Volkswillens dort S. 106 ff., 182 ff.; s. auch ders., Volk und Nation als Rechtsbegriffe der Franzo¨sischen Revolution, FS f. Liermann 1964, S. 96 ff. 15 Zum Wesen dieser Staatsgewalt vgl. Randelzhofer, A., in: HStR3 (Isensee/ Kirchhof, HG.), Bd. II., S. 143 ff. 16 Zur Staatsallmacht vgl. Leisner, Unendlichkeit, Fn. 9, S. 15 ff., 38 f.
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A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
entscheidenden Perso¨nlichkeit17 der Gewaltunterworfenen heraus wirkt. Sie orientiert sich im Namen der Freiheit an eben jenen außerrechtlichen Entwicklungen, welche „den Staat“ und seine Staatsgewalt pra¨gen. Aus diesem Spannungszustand erwa¨chst in der Demokratie, in einer dieser Staatsform wesentlichen laufenden Entwicklung, das jeweils geltende Recht, geordnet in Formen des Staatsrechts. b) Daraus ergibt sich die wesentliche staatsrechtliche Dynamik der Demokratie, als deren entscheidende Legitimation: ihre unvergleichliche Anpassungsfa¨higkeit in Ordnung an wechselnde außer(staats)rechtliche Lagen, die ja in sta¨ndiger Entwicklung stehen. Fu¨r die Demokratie gilt, wie fu¨r keine andere staatsrechtliche Ordnungsform, das klassische „Tempora mutantur et nos mutamur cum illis“. Darin ist sie die „menschenna¨chste Staatsform“. Eben darum aber steht sie ganz, in all ihren pra¨genden Formen, in voller Bewegung, in einer begrifflich unbegrenzbaren Un-Ruhe. Dies zeigt sich in all den staatsrechtlichen Zentralbegriffen, aus denen ihr doch staatsrechtliche Ruhe kommen soll, bis zu/in einem als solchen „normativierten Staat“: - Der Volksbegriff 18 ist, schon nach h. L. als ein „offener“, und er ist gerade in der Gegenwart in ma¨chtiger Bewegung. Migrationen haben dies voll ins Bewusstsein gehoben. - Das Wahlrecht steht, in erstaunlicher Weite, zur (meist rechtlich entscheidenden) Disposition der einfachen Mehrheit des Volkssouvera¨ns19. - Freiheit a¨ußert sich, in ihrer kaum eingrenzbaren Meinungsmacht, schon von Rechts wegen (Art. 5 GG) 20 in flutenden Bewegungen. Außerrechtliche Entwicklungen in naturwissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Bereichen bestimmen entscheidend Aktions- und Wirkungsmo¨glichkeiten der Bu¨rgerperso¨nlichkeit, damit deren staatsrechtliches Machtpotenzial, im Einfluss auf die Ordnung der Gemeinschaft.
17 Zur „Perso¨nlichkeit“ grdl. Leisner, W., Personalismus. Individualethik im Staatsrecht, 2015. 18 Zum Volksbegriff (in Bewegung) vgl. Leisner, Das Volk, Fn. 14, S. 57 ff. 19 Solange diese sich in den – immerhin weiten – Grenzen des Art. 38 GG ha¨lt. 20 Zur Weite des Meinungsbegriffs, vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 22.
II. Staatsrechtliche Statik-Vorbilder der Vergangenheit
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3. Der Verfassungsstaat: Demokratische Suche nach „Ruhe in rechtlicher Statik“ Diese demokratische Dynamik kann, ihrem Wesen nach, fu¨hren zu, ja enden in einem atem- und ziellosen Lauf der Macht, zu ihr hin. Politische Wissenschaft sucht diesen ganzen Vorgang zu beschreiben, rechtlich zu ordnen, ja zu begrenzen; darin „staatsrechtlich wirken“ kann sie nach ihrem Wesen aber nicht. Hier muss etwas wesentlich Juristisches einsetzen: Die staatsrechtliche Suche nach (Elementen) einer Statik (i. S. von vorsteh. 1.), welche aber in dieser Staatsform, wenn nicht verlorengegangen, so doch wesentlich abgeschwa¨cht (worden) ist. Diese Suche hat zu Formen einer Verfassungsstaatlichkeit gefu¨hrt. Doch in ihr hat sich diese „Ruhe“ bisher nicht finden, demokratische Dynamik sich nicht wesentlich abschwa¨chen lassen (vgl. vorsteh. 2. b)): Der „Wille des souvera¨nen Volkes“ schla¨gt durch, „Souvera¨nita¨t ist eben doch bisher (staats-)rechtlich nicht fassbar“21. Sie ist „Postulat“ geblieben, menschliche Willens-Setzung in Norm-Macht gegen „Politik“ – gegen demokratische Faktenmacht. Was kann hier dem Staatsrecht zu Hilfe kommen, rechtlich-normativ? Tradition/Verfassungsgeschichte (i. Folg. II.), Staatslehre/Staatsphilosophie (i. Folg. III.)? Stoisches Denken wurde immer wieder in diesen Rahmen beschworen, es verspricht Ruhe in Mensch und Staat. Ist dies aber auch ein demokratischer Weg? (i. Folg. B.).
II. Staatsrechtliche Statik-Vorbilder der Vergangenheit – Demokratischer Entwicklungszustand der Gegenwart 1. Tradition als Ordnungskraft in der Demokratie? a) „Staatsrechtliche Ruhe in institutioneller Statik“ ko¨nnte sich aus Ru¨ckgriffen in eine Vergangenheit ergeben, die als solche abgeschlossen, der also in Ruhe zu begegnen wa¨re, welche darin Vorbilder einer demokratischen Dynamik zu bieten vermo¨chte. Derartige Ru¨ckgriffe ko¨nnen als Gegenkra¨fte wirken wider einen Fortschritt, dem sich die Volksherrschaft verpflichtet fu¨hlt, den sie als politisch belebende Kraft umzusetzen ver21 ¨ berblick mit einem großangelegten Versuch einer staatsrechtlichen Neuester U Dogmatik bei Schachtschneider, Fn. 11.
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A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
sucht, in Entwicklungsdynamik; darin ko¨nnte wohl die erwa¨hnte Spannung in balancierender Ruhe gehalten werden, in einer zeitlosen, darin typisch rechtlich fixierenden Lage. In etwas wie einer Staatsrenaissance22 haben Staatslehre, ja Staatsrecht versucht, dies dogmatisch fassbar werden zu lassen, eben in statischer Rechtsbauweise, als beruhigender Ru¨ckgriff. b) Dies aber kann nur erfolgen in einem institutionell-machttra¨gerhaft orientierten, letztlich in einem statisch-vordemokratischen Rechtsdenken. Der Demokratie als solcher ist dies wesensfremd. Ruhe aus einer „Staatsrenaissance“ muss ihr eigentlich geradezu grundsa¨tzlich ein Gegenbegriff sein; denn eine solche „Demokratiegeschichte“ gibt es, auch historisch, nur als immer weitere, immer raschere, auch institutionelle Entwicklung, damit als Wandlung der Staatsform in der Zeit: Von der Notabeldemokratie zur egalita¨ren Massendemokratie; von Kooptationen zu Wahlen; von zensita¨rem und Drei-Klassen- zu allgemeinem Wahlrecht; u¨ber Frauen-, Jugend-, Fremdenwahlrecht auf geraden Wegen zu einer immer ma¨chtigeren Ersten Staatsgewalt. Was ist der aristokratisierend-bu¨rgerlichen Oberschichtendemokratie vor einem Jahrhundert noch mit der Massen-Medien-Volksherrschaft der Gegenwart gemeinsam? Eines gewiss nicht: eine sich in Staats-Statik versenkende Ruhe. c) „Tradition“ – das ist ein Beispiel-Referenz-Lehrbuch23 des Staatsrechts; aus ihr kommen aber nicht dessen belebende Entwicklungskra¨fte; sie ist zum Formularbuch der rechtlichen Staatsordnungsformen geworden, allenfalls in etwas wie institutionellen Entwicklungsprophetien mag man sich hier ergehen. Und selbst diese werden in gegenwa¨rtiger staatsrechtlicher Prognose immer nur in der jeweiligen Gegenwart, aus dieser heraus, wirksam. „Tradition“ ist eben doch nicht Renaissance geworden fu¨r Institutionelles Staatsrecht; sie bietet diesem etwas wie professorale Lehr/ Ordnungsschemata in der Gegenwart. In, aus der Vergangenheit kommt dem Staatsrecht Ruhe nicht – zuru¨ck.
22
1987.
Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der „guten Staatsformen“,
23 Leisner, W., Tradition und Verfassungsrecht zwischen Fortschrittshemmung ¨ berzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft, 2013. und U
II. Staatsrechtliche Statik-Vorbilder der Vergangenheit
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2. Staatsrecht der Gegenwart: Absage an statische Ordnungen a) Die Grundentscheidungen fu¨r Republik und Demokratie (Art. 20 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG) sind prinzipielle Absagen an alle Institutionen und ihre Ordnungskra¨fte, die fru¨her/bisher einer ausschließlich entwicklungsorientierten demokratischen Dynamik entgegenstanden, diese heute noch institutionell beruhigen ko¨nnten. Monarchie und Aristokratie bedurften als solche keiner expliziten, normativ begru¨ndeten staatsrechtlichen Statik. Sie trugen ihre u¨berzeitliche, rechtlich eben zeitlose Macht-Ruhe in sich, in einer Art von außerrechtlicher Institutionalita¨t in einem weiteren Sinn. Nur so konnte und kann noch heute englische Monarchie staatsrechtlich gedeutet werden. In dem ro¨mischem Rechtsdenken verpflichteten franzo¨sischen Monarchismus wirkten so die „Lois fondamentales du Royaume“, welche am Vorabend der großen Revolution von 1789 noch – vergeblich – in die neue Welt eines Rousseaus hinu¨bergerettet werden sollten; in ko¨niglichem Blut wurde dies erstickt. Monarchien und Aristokratien bedeuteten in der Historie ein „in Politik gelebtes, lebendiges Staatsrecht“, ohne dass dort ein Gegensatz zwischen Institutionalita¨t und Politik letztlich vorstellbar gewesen wa¨re. Die amerikanisch-franzo¨sische Wendung zur geschriebenen Verfassung war als solche nicht nur eine „institutionelle Za¨sur im Staatsrecht“: eine neue Staatsform wurde geboren, mit einem souvera¨nen Staats-Willen, der nur die Perso¨nlichkeit des Menschen/Bu¨rgers achten musste. Man mag dies sogar ein neues Menschen-Ko¨nigtum nennen. Der Mensch ist zum Monarchen geworden, Aristoi – Beste: das sind nun alle, ganz gleich. Von hier aus geht es weiter auf den außerrechtlich bestimmten Wegen der Fortschrittsdemokratie in die Unendlichkeit der Zukunft hinein24. In der Demokratie ist sie zum Rechtsbegriff geworden: Dies ist der große institutionelle – nein: Institutionen neuschaffende Bruch der demokratischen Staatsform. b) Es verschwinden die historischen Kra¨fte staatsrechtlicher Statik / Ruhe. Die Ordnungskra¨fte, welche in traditionsreichen staatsrechtlichen Vergangenheiten Gemeinschaften nicht nur gepra¨gt, sondern gehalten hatten, 24
Vgl. Leisner, Unendlichkeit, Fn. 9, S. 96 ff.
20
A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
stehen in der Gegenwart in Vorga¨ngen rascher Abschwa¨chung, hinter denen bereits ihr nahezu vo¨lliges Verschwinden sichtbar wird: - Die Familie lo¨st sich auf: Die Großfamilie ist bereits verschwunden. Die Kleinfamilie ist nicht mehr (allein) wesentlich gepra¨gt durch ein „Mann – Frau – Kind – Verha¨ltnis“ natu¨rlicher Art. Sie ist eine soziale Versorgungsbeziehung geworden. In sie schiebt sich zunehmend die Staatsgewalt in Betreuungs/Erziehungsleistungen, von Kindertagessta¨tten bis zu Studienstipendien, fla¨chendeckend in rasch zunehmender „Jugendwirklichkeit“. Im sozialen Aufstiegsstreben junger Menschen setzt sich staatliche Fortschrittlichkeit fort. Verbindungen zu einer Vergangenheit mit ihren Traditionen, wesentlich gepra¨gt durch Kenntnisse u¨ber Vorfahren und deren weiterwirkende Erziehungsideale und Leistungen, werden nicht nur schwa¨cher, sie sind bereits weithin verloren. Schon fu¨r den marxistischen Proletarier war „die Familie“ kein Lebensraum mehr, keine Entfaltungskraft. Fu¨r den „Kleinen Mann“, den in Parlamenten durch „Einen von Uns Vertretenen“, ist „die Familie“ kein solcher Lebensraum mehr. Unter dem Schutz des „Privatlebens“ verbirgt der Politiker sein eigenes familia¨res wie „unfamilia¨res“ Leben (im fru¨heren Sinn) – und das seiner Bu¨rger. Entscheidend ist in all dem, dass an den Stellen außerstaatlicher familia¨rer Statik nun „der Staat“, „die Gemeinschaft“ in die Ruder einzelmenschlicher Lebensentwicklungen (ein)greift. Damit dringt und dra¨ngt die ganze wesentlich demokratische Unruhe in „die Welt des Individuums“: Jetzt darf es heißen „Unruhe in Staat und Mensch“, und sei es auch nur in einem „Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare!“ - Die Religion hat u¨ber viele Jahrhunderte wahrhaft „Requiem aeternam“ – Ewige Ruhe – nicht nur nach dem Tode verheißen, sondern im Leben ¨ ber/Unzeitlicher Ruhe drehte sich gebracht, fu¨r Mensch wie Staat. In U der Allma¨chtige um sich und seine Scho¨pfung – letztlich, im Grunde bewegte er sich so wenig wie sie. Seine Statthalter auf Erden, Pa¨pste und Priester, Landesherren und Pastoren, strahlten diese Ruhe aus in die staatliche Gemeinschaft. Dies geschah u¨ber Kontakte mit Einzelmenschen, mochten sich diese auch „unmittelbar zu Gott“ fu¨hlen, in Beichtstu¨hlen fu¨r Ma¨chtige, in einem Staatskirchenrecht, in dem „ein Stu¨ck Ewigkeit“ ruhelose Politik immer wieder rechtlich „still stellen“ konnte. Dass all dies rasch zuru¨ckgeht in der gegenwa¨rtigen Demokratie, in Deutschland, Europa und anderswo – bedarf es dafu¨r noch staatsrechtlich u¨berzeugender Belege? Das Recht ist aus der Ruhe der
II. Staatsrechtliche Statik-Vorbilder der Vergangenheit
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Scho¨pfungsgeschichte in die Unendlichkeit des Weltalls geworfen. Es fliegt und fliegt – wohin? Gibt es u¨berhaupt ein Ziel? Zuru¨ck bleiben ethische Religionsreste. Schwerter sind nur mehr da zum Teilen von Ma¨nteln; am Tag des Heiligen Martin, dem 11. November, wurde einst – 1918 @ die Alte Zeit der monarchischen Staatsruhe in Compie`gne zu Grabe getragen. Kurz zuvor noch hatte sie ihre statische Ruhe verku¨ndet in Wilhelms II. „Es ist erreicht!“ Allerdings: „Nach Canossa gehen wir nicht!“: Bismarck war nicht nur in der Sozialversicherung ein Prophet der Demokratie. - Die „vordemokratischen Zeiten“ waren entscheidend gepra¨gt durch eine agrikole Wirtschaft; sie verbreiteten weithin physiokratische Ruhe im Staat, hielten ihn in der Aristokratie der Gutsherrlichkeit. Der Merkantilismus der Marktwirtschaft hat die Unruhe der Leistung in diese ruhige(re) Staatswelt gebracht. Ihre blutigen @ begrenzten – Entwicklungsdynamismen der Schlachten sollen nun durch den dauernden unblutigen Krieg des Wettbewerbs ersetzt werden – in neuer, ganz großer Unruhe; auch sie geht u¨brigens durchaus „weiter u¨ber Leichen…“ c) Dies alles zeigt nicht nur die politische Situation in der gegenwa¨rtigen Gemeinschaft, es ist dies die „geistige Lage unserer Zeit“ (Karl Jaspers), der geistige Standort – der geistige Lauf der Demokratie: aus fru¨her erbetener Statik („Zu uns komme Dein Reich – wie im Himmel also auch auf Erden“) in die unendliche Dynamik von staatsrechtlichen Weltraumflu¨gen. „Meine Ruh’ ist hin …, mein Herz ist schwer; ich finde sie nie und nimmer mehr“. Liegt im Gretchenwort das Schicksal des Staatsrechts, so wie es einst ein Brandenburger Jurist der Renaissance gerade den Deutschen zusprach: „Nos autem semper in infinitum…“? 25 Sollte die Nation der großen, klassischen – wahrhaft „klassischen“ Philologie“, eines Ulrich von Wilamowitz, eines Werner Jaeger, doch noch nach Su¨den schauen (du¨rfen), „das Land der Griechen mit der Seele suchend“? Ihr Gro¨ßter hat mit seinem Faust, seinen Freunden dieses Wort zugesprochen. Zuru¨ck? Muss es dann nicht heißen: „Hinauf“ (Friedrich Nietzsche), in eine ruhige Welt des Denkens?
25
Dies ist die Grundthese von Leisner, W., in: Die Unendlichkeit, Fn. 9.
22
A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
III. Staatsrechtliche Institutionenlehren: Kein Weg zur Erfassung demokratischer Dynamik 1. Staatsrechtliche Institutionenlehren: Rechtsformen, nicht Rechtsinhalte a) Das deutsche Staatsrecht hat sich immer technische Kontinuita¨t bewahrt, in der dogmatischen Herko¨mmlichkeit seiner Formen: Eine Institutionenlehre ist in der großen Allgemeinen Staatslehre Georg Jellineks und der Weimarer Zeit zu seinem Denkgeru¨st geworden; weit u¨ber den Raum deutscher Rechtsgeltung hinaus hat dies das Staatsrecht der Gegenwart ganz allgemein befruchtet, Tore der verfassungsrechtlichen Rechtsvergleichung geo¨ffnet. Geru¨st und Fassaden, Rechtsformen sind Voraussetzungen fu¨r Ra¨ume der inhaltlichen Rechtsruhe, die hinter ihnen gebaut werden, aus ihren Fenstern auf ruhelose Fluten und Flu¨sse schauen lassen. Doch solche Institutionen sind nur Plattformen der Gegenwart, Augen zum Schauen, nicht Geschautes – Inhalte. Mehr kann sie auch nicht bieten, eine solche staatsrechtliche Institutionenlehre der/in/aus Evolution, wie sie vorzustellen versucht wurde26. Ein Mehr, inhaltliche Wesensschau verbietet menschliche Beschra¨nktheit des Erkennens; u¨ber diese kantianische Erkenntnis hat bisher kein Weg hinausgefu¨hrt. b) Doch die Erkenntniswege sind verbessert, verbreitert zu/in neuen Perspektiven; daraus kann besser geschaut werden was sichtbar, geahnt werden was nicht erkennbar ist; dies vermag dann auch das Recht zu leisten, zu allererst das Staatsrecht. Seine Methoden ko¨nnen mit besseren Linsen sta¨rkere Sehkra¨fte verleihen, genauere Grenzbestimmungen ermo¨glichen. c) Institutionenlehren, -vergleiche werden als solche nie mehr bieten als Material zur Beschreibung staatsrechtlicher Dynamismen, allenfalls noch vorsichtige Prognosen gestatten aus Plattformen der Gegenwart. Doch diese Fernrohre mu¨ssen gehalten werden, in ruhigen Ha¨nden, in der Ruhe ihrer staatlichen Geba¨ude. So wird aus der Ruhe der Formenschau die ho¨here Scha¨rfe der Inhaltserfassung. Unerkennbarkeit einer Zukunft bleibt, ihre Un-Bestimmbarkeit, rechtliche Un-Fixierbarkeit. Doch es wa¨chst mit der Ruhe des Schauens die Bescheidenheit in immer noch gro¨ßerer Scha¨rfe 26
Leisner, Institutionelle Evolution, Fn. 3.
III. Staatsrechtliche Institutionenlehren
23
der Erfassung des „eben doch noch/bereits Erkennbaren“ einer Zukunft. Diese wird damit vielleicht „nur immer noch bedrohlicher in sich“. Doch der weise gewordene, der ruhige Mensch la¨uft nicht, geht nicht, stolpert nicht in sie hinein: Es ist ein ruhiges Schreiten, das ihn in seinen Staat hineintra¨gt. Es fu¨hrt den Menschen in seine kleine Zukunft – und aus ihr heraus, im Tode. d) Die Institutionenlehre des Staatsrechts ist (nur) Gegenstand, Materie dieses Schauens. Menschliches Denken „u¨berformt“ sie, in dem einzigen, was dem Menschen eine große Vergangenheit in Formen des Erkennens hinterlassen hat: in Philosophie, beginnend mit der antiken Staatsphilosophie. Die Griechen haben dem gegenwa¨rtigen Staatsrecht ihre Philosophie geschenkt, die Ro¨mer ihren Staat. Eine Staatsphilosophie der Gegenwart ist aber gefordert, vielleicht schon im Lauf: in humanistischem Ru¨ckgriff auf die Antike. Deren Na¨he wird heute umso deutlicher, mehr gefu¨hlt als erkannt, umgesetzt, als so Viele in ihrer „Suche mit der Seele“ in Staatsdenken sie immer wieder vor sich hertragen, wenigstens auf ihren Lippen. Das soll sich hier fortsetzen, in einem weiteren Versuch – einem stoischen.
2. Allgemeine Staatslehre: Ein „institutioneller Versuch“ Nicht nur die klassische – „die“ Staatslehre zeigt sich im Lehrgeba¨ude Georg Jellineks27. Es war dies der geistige Zustand der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, des Konstitutionalismus: Die historisch vorgefundenen Drei Staatsformen sollten in ihren Wesenszu¨gen erfasst werden, in etwas wie einer „Idealen Platonischen Wesensschau“. Sodann wurden sie, in aristotelischer Distinktionsdogmatik verbunden, vorgestellt und in ihrer „Gu¨te“ beurteilt. Eine Erfassung „der Demokratie“ als solcher kann so nicht gelingen, wurde auch gar nicht versucht, da ja nur ihre damals bereits staatsrechtlich durchgesetzten Elemente in jenem Gesamtgeba¨ude festgestellt und beurteilend untersucht werden konnten, wie sie eben der Konstitutionalismus jener Zeit bot. Damit lag dem eine gewaltenteilende Balancierung zu27
Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre, 1900.
24
A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
grunde, wie sie kurz vorher in Gneists Englischem Staatsrecht28 ihre rechtsvergleichenden Anknu¨pfungen gefunden hatte. Es war dies also eine Staatslehre in der Form einer Lehre der Institutionen. Mit deren A¨nderung musste sie nicht nur an einem Gewicht verlieren, das in der klaren Herausstellung der jeweiligen Grundzu¨ge der Institutionen lag; sie bu¨ßte entscheidend an Erkenntniswert ein fu¨r ein „Wesen staatsrechtlicher Aufgaben und Lo¨sungen“, insbesondere fu¨r das „Wesen der Demokratie“ als eines dynamischen Entwicklungszustandes. Dass sie weitergetragen, ja -gepflegt wurde, geschah eher „faute de mieux“ – einer vertieften Staatsphilosophie, die mehr ha¨tte sein mu¨ssen als eine Allgemeine Staatslehre.
3. Die Allgemeinen Staatslehren der Weimarer Zeit Selbst in ihrer „klassischen“ Entwicklungsphase der Weimarer Zeit29 konnte die Allgemeine Staatslehre nicht „Staatsphilosophie“ bieten, sondern im Inhaltlichen eben doch nur institutionelle Ordnungslehren: - Bei Kelsen geschah dies in einem begrifflichen Denk- und Formengeru¨st fu¨r die Einordnung politischer Entscheidungen. Deren Wesen, ihre Inhalte sind darin „grundsa¨tzlich wegdefiniert“. Dynamik und Statik sind nicht Kategorien dieser Staatslehre. Sie kann also zwar den demokratischen Mechanismus beschreiben und ihn aus sich selbst heraus rechtfertigen30. Gerade in der demokratischen Dynamik diesen „staatsrechtlichen Verlust der Mitte“ einer in Statik ruhenden Ordnung suchen und wiederfinden – das kann sie nicht. - Carl Schmitt hat in seiner Schwerpunkt-Entscheidungslehre das Problem Bewegung – Ruhe, Dynamik und Statik im Staat nicht als solches ausgegrenzt; im Dezisionismus wurde es aber auf „den Befehl“ konzentriert, es folge dieser „zum Angriff“ oder als „Infanterie hat Ruh!“. Dies ist eine Staatslehre der institutionellen Effizienz, nicht ausgerichtet, nach Perspektiven, auf Bleibendes – (sich) A¨nderndes; beides kann ja
28 Gneist, R. von, Das heutige englische Verwaltungs- und Verfassungsrecht, 2 Ba¨nde, 1857. 29 ¨ Uberblick bei Isensee, J., Verfassungstheorie, in: Depenheuer/Grabenwarter, Hg., 2010, S. 21 ff. 30 Kelsen, H., Vom Wert und Wesen der Demokratie, 2. Aufl., 1929.
IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie
25
Dezision sein: Der Diktator in souvera¨ner Ho¨henruhe – wie seine Befehle, welche Welten vera¨ndern: Obersalzberg und Stalingrad. - Smends Integrationslehre ist dem Wesen der Demokratie wohl am na¨chsten gekommen; er hat ihre Institutionen in ihren Zusammenfassungskra¨ften vielfa¨ltiger Entwicklungen und deren Potenzialen gesehen und zu ordnen versucht. Doch auch seine Lehre kennt zwar den Bewegungszustand, welchen die Volksherrschaft ordnen will/muss, indem sie ihn in ihre Institutionen einleitet. Damit mag rechtliche Beruhigungswirkung verbunden sein; staatsrechtliche Positionen zu „Ruhe und Bewegung“ als solche werden damit nicht bezogen. Rechtsphilosophische Schau auf Inhalte des Staatsrechts wird in all dem nicht geboten. Alles bleibt Rechtsinstitutionenlehre als solche, nicht einmal in einer Prima¨r-Perspektive auf Dynamik oder Statik gerichtet. So wird zwar Verfassungsa¨nderung zum Zentralproblem31 @ aber rein formal, ohne Urteil u¨ber Gu¨te oder Gefahr der Vera¨nderung, u¨ber „Ruhe im Staat“.
IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie 1. Antike Philosophie: in staatspolitischen Auflo¨sungszusta¨nden a) Bisher wurde hier eine „Kritik von historisch/traditionellen Ru¨ckgriffen“ versucht, welche dem gegenwa¨rtigen Wesen der „Demokratie in offenem32 Entwicklungslauf“ nicht (mehr) gerecht werden ko¨nnen. Dies bezog sich auf die Begriffe „Dynamik und Statik“ als zentrale Beurteilungskategorien dieser, u¨berhaupt der staatlichen Ordnung, und es war eine Kritik an Versuchen rechtshistorisch vergleichender Institutionenbetrachtung33; sie werden dem geistigen Zustand der Gegenwart nicht gerecht, wie er sich staatsrechtlich in der Demokratie entfaltet34. Dieser kann nicht allein aus den herko¨mmlichen dogmatischen Vorstellungen einer 31 32 33 34
Grdl. Ehmke, H., Grenzen der Verfassungsa¨nderung, 1953. Zur „Offenheit“ vgl. Leisner, Unendlichkeit, Fn. 9. S. 18. Vgl. vorsteh. III. Vgl. vorsteh. II.
26
A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
„Souvera¨nita¨t in Spannung zur Freiheit“ beurteilt und fortentwickelt werden. „Die Demokratie der Gegenwart“ – das ist eben keine statisch-institutionell erfassbare „Staatsform“, es ist dies ein „Ordnungszustand in Entwicklung“, vielleicht eine Staatsform, ja eine Staatlichkeit in Auflo¨sung35. Es zeigen sich hier allerdings Potenzen, Ordnungskra¨fte, in Ruhe wie in Bewegung, wie sie in der Demokratie als großem Ordnungsraum, als einem wahren „Reich“ bereits untersucht worden sind36. Vieles spricht dafu¨r, dass sich auch diese Ordnungskra¨fte erscho¨pfen, dass ihre staats-haltenden, eben doch institutionellen Kra¨fte sich abschwa¨chen, dass sich Staatlichkeit verliert in zerfasernder Rechtspraxis, im Gerechtigkeitsrecht der zivilistischen Praxis37. Suche nach einer „Staatlichkeit“ als solcher in derartigen Abschwa¨chungsperioden, wenn nicht schon Auflo¨sungszeiten der Staatlichkeit ist daher angesagt – gerade weil sich diese ja immer mehr in Rechtstechnik perfektioniert, damit Freiheiten des Menschen bedroht. b) Auf alles ist also in diesem „Auflo¨sungszustand fru¨herer Ordnung in neue Machttechniken“ zu blicken, was Staat und Mensch einander na¨her bringt, sie in solcher Na¨he ha¨lt – gerade, vor allem in der Demokratie. Dass sie der raschen Bewegung fa¨hig ist, zeigen ihre Institutionen, ihre rechtlichen, rechtstechnischen Normfluten38. Diese Auflo¨sung der Ordnung in Befehl(svielfalten) entspricht nun in Vielem den beiden großen Auflo¨sungszusta¨nden der Antike, der Attischen Demokratie und des Ro¨mischen Reiches. Dass sich auf ihnen Neues, bahnbrechend Grundlegendes entwickeln konnte, bis in die neueste Zeit, a¨ndert nichts an der auflo¨senden Staats35 Leisner, W., Die Demokratische Anarchie. Verlust der Ordnung als Staatsprinzip, 1982. 36 Zusammengefasst in Leisner, W., Das demokratische Reich. Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 2004, 2. u¨berarbeitete und zusammengeordnete Auflage von Leisner, W., Der Triumph (1985); Staatsrenaissance (1987); ¨ berblick in Leisner, InstituDer Monumentalstaat (1989); Staatseinung (1991). U tionelle Evolution, Fn. 3, S. 105 bis 130. 37 Worin denn auch, vor allem im Staatsrecht, „privatisierende Tendenzen“ sich ¨ ffentlichen Rechts“, Von der Hozeigen, vgl. Leisner, W., Privatisierung des O heitsgewalt zum gleichordnenden Privatrecht, 2007 vor allem zu einzelnen Entwicklungen, S. 110 ff. 38 Leisner, W., Krise des Gesetzes. Die Auflo¨sung des Normenstaates, 2001, insb. S. 123 ff.
IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie
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bildlichkeit, wie sie auch heute gegenwa¨rtige Demokratieentwicklung bietet, gegenu¨ber zentralen Formen fru¨herer Statik. Darin ist also ist die Gegenwart der Antike „staatsgrundsa¨tzlich nahe“ – wenn es Derartiges gedanklich geben kann. Diese Auflo¨sung erfolgt in Dynamik, sie ist deren Ergebnis. Ruhe als ihren wahrhaft „ewigen Gegenpol“ bringt, lehrt nicht allein die Historia Magistra des institutionellen Staatsrechts39. Staatsphilosophie wa¨re eigentlich gefordert, damit Blick auf Antike Staatsphilosophie, insbesondere in deren „geistigen Lagen“, zuletzt im „Decline and Fall of the Roman Empire“40 – von Platon also bis Seneca
2. Attische Demokratie und Platonismus a) Die erste große Staatsauflo¨sung in Demokratie wurde von Platon geschaut, philosophisch gedeutet, historisch fortgesetzt in der „Akademie“; aristotelische Peripatetik hat sie im Thomismus bis ins Mittelalter menschenbelehrend, staatsbeherrschend fortwirken lassen. Sie kam aus dem Erkenntnisbemu¨hen der griechischen Naturphilosophie, erfuhr bereits in der Sokratik ihre ethische Vollendung, wenn nicht Wende, setzte sich fort im gnoseologischen Erkenntnisbemu¨hen des spa¨ten Platonismus, weiterwirkend in den Lehren Plotins. Diese Staatsphilosophie hat dem demokratischen Staatsrecht der Gegenwart bleibende Mahnungen hinterlassen41; als institutionelles Programm, als Lehre fu¨r eine demokratisch-dynamische Demokratieentwicklung kann, sollte sie auch heute begriffen werden. b) Ruhe hat dieser Platonismus in seiner Ethik gebracht, in einer bewundernswerten menschlichen, einer geistigen, darin letztlich auch staatlichen Statik, bis in die thomistische Staatslehre, wie sie der Katholizismus noch in die neueste Zeit, vor allem in seiner Sta¨ndestaatlichkeit, institutionell fortgetragen hat42. Es waren dies eindrucksvolle Ausla¨ufer einer antiken staatsrechtlichen Institutionen-Philosophie. 39
Leisner, A., Historia Magistra des Staatsrechts, 2003. Gibbon, E., The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776 bis 1788. 41 Leisner, Platons Idealstaat, Fn. 2. 42 Ein großfla¨chiges Bild dieses wahren Neo-Universalismus bietet bereits Othmar Spann in seinem „Der wahre Staat“, 1921. 40
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A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
Doch wie stark sind heute noch ihre mahnenden Ordnungspotenziale gegenu¨ber der gegenwa¨rtigen Ordnungsdynamik einer Volksherrschaft, in welcher immer mehr die berauschenden Erfolgsmeldungen der exakten Wissenschaft zu atemlosen Umsetzungsversuchen fu¨hren? Was verloren gegangen ist, verloren werden musste, ist eine Ruhe, wie sie Platon am Ende seiner Spazierga¨nge noch in seinem Staat finden konnte, nicht aber die attische Demokratie. Ein Ruhe-Erbe von ihr kann also nur gefunden werden in „Spa¨terem“, dort, wo „noch Staat war“, in Vorstellungen der Gegenwart noch immer als solcher erkennbar: in Rom.
3. Ro¨mischer Staat – Philosophien (s)einer Endzeit a) Rom hat keine Philosophie des Staates hinterlassen, wohl aber „den Staat“. Bei Cicero floss, vor allem in „De officiis“, alles zusammen, was er aus seinen griechischen Lehrjahren mitgebracht hatte nach Rom, in eine – auch schon wie bei Platon – zerfallsbedrohte Ro¨mische Ordnung. Sie ist der heutigen geistigen wie politischen Lage Europa¨ischer Staatlichkeit noch mehr vergleichbar als das niedergehende Athen. Gerade deshalb ist all das, was dort staatsrechtlich gedacht wurde, heutiger staatlicher Lage im deutschrechtlichen Raum nahe, wenn nicht zunehmend vertraut. Vor allem gilt dies, nach der staatsrestaurativen Augusteischen Periode, fu¨r das ihr folgende Jahrhundert. Wirtschaftlicher Aufschwung in mediterranen Vernetzungen hatte ein Wohlleben geschaffen, jedenfalls fu¨r eine soziopolitische Oberschicht. Sie wollte und konnte Bildung umsetzen in Politik, Erziehung zu ihr fast wie zu Fru¨hzeiten der Sophistik. So fand sie zu Betrachtungen ihrer Welt in etwas wie einer Staatsphilosophie. b) Nicht mehr um Gnoseologie ging und geht es immer dort, wo politische Macht liegt, sondern um deren Domestizierung, im wahren Wortsinn. Zum Problem wird damit die Heilung von all dem, was der Staat mit den Mitteln seiner Gewalt nicht u¨berwinden kann, sondern bestehen lassen muss, vielleicht gar hervorbringt an menschlichen Sorgen, aber auch in Versuchen, neue und alte A¨ngste zu u¨berwinden: Luxus und Vergnu¨gen, Furcht vor deren Abschwa¨chung oder gar Ende. Hier begegnen sich Ro¨mische Spa¨tzeit und eine demokratische Gegenwart auf breiter Front, mag letztere auch dieser Vergleich beleidigen. In Spaß-Suche wird Zeit verbracht, ja sie soll heute „die Uhren stehen lassen“ – ganz anders als im ¨ de befu¨rchtet „Rosenkavalier“, wo dies erst in einer Nach-Vergnu¨gungs-O
IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie
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¨ konomische und mediale Vergnu¨gungskultur“ wird gesucht, bis wird. „O zur Spektakel-Freude an politischem Streit. Ist das aber die staatsferne Ruhe eines Cicero in seinem Tusculum, des Horaz in seinen Sabiner Bergen? Die ro¨mische Oberschicht sah dies anders, bis in kaiserliche Na¨hen hinauf. Epikureismus und Stoa waren die geistigen Kurven jener Zeit, beide in einem: Suche nach Ruhe, das alles so bleibe, wie es das große Augusteische „Es ist erreicht!“ vorbauen, vorleben, vor-erleben ließ. Beide Weltweisheiten, aus einheitlichen griechischen Wurzeln, waren ja auch keineswegs unu¨berbru¨ckbare Gegensa¨tze; keiner hat es deutlicher gefu¨hlt, geschrieben als ein Kaiserberater, der in Selbstmord endete43: Die einen wollten in Ruhe genießen, die anderen Ruhe als Genuss. Den ruhelosen Genuss der Gegenwart suchten beide nicht, denn immerhin waren da vielleicht Neureiche, nicht aber in Politik aufgestiegene „kleine Leute“. „Um den Kaiser“ – da war noch immer Großer Ro¨mischer Staat in all seiner Wu¨rde, in und aus Bildung, (noch) nicht (nur) das Spektakel: Panis et Circenses. c) Jedenfalls bevor das Colosseum gebaut wurde, und gelegentlich auch noch nachher, bei Epiktet und Marc Aurel, war da noch immer „Staat“, nicht (nur) Demokratie. In dieser Lage konnte etwas wirken wie eine Staats-Philosophie der Macht. Dass sie in epikureischem Vergnu¨gungsdenken eines Tages untergehen ko¨nnte, das war zwar diesem ersten, wahrhaft kaiserlichen Jahrhundert in den Angstvorstellungen eines Tacitus bereits bewusst. Doch es schien ja „die Historie noch zu halten das große Rom“ des Livius. Solche Ahnungen, vielleicht schon A¨ngste, nahm allerdings damals bereits bewusst das große staatsphilosophische Denken im Spa¨ten Rom auf: Die Stoa. Gewiss suchte und fand sie altro¨mische Wurzeln und Vorbilder im Ro¨mischen Milita¨rstaat, der Wiege des Reiches. Doch dieses sollte nun, in wahrer Majesta¨t, nicht Gewalt, wachsen, vielleicht enden in imperialer Entfaltung: in stoischer Ruhe. Des Kaisers Berater hat dies vor-geschrieben, vor-gelebt. So ist eine Ro¨mische Staatsphilosophie eigener Art geworden, in dem geistigem Erbe des Lucius Annaeus Seneca. Dem widmen sich die folgenden Ausfu¨hrungen: Was bedeuten sie, ko¨nnen sie Ruhe bringen in die demokratische Gegenwart, gibt es etwas in der gegenwa¨rtigen Staats-Form, in deren geistigen Jahren der Gegenwart, wie „Stoische Ruhe in Mensch und Staat“? 43 Seneca z. B. in De otio, insbesondere im Verhalten gegenu¨ber einer bereits weithin niedergehenden Staatlichkeit.
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A. Einleitung: „Dynamik“ und „Ruhe“
4. Dynamik und Statik: „Gemischte Staatsphilosophie und demokratisches Staatsrecht“ a) Zielvorstellung der folgenden Untersuchung ist eine staatsrechtliche, nicht eine philologische. Es geht nicht darum, die historische Bedeutung einer Seneca-Lektu¨re darzustellen, als eines staatsrechtlichen Lehrbuchs, dem ein weiteres Kapitel fu¨r die demokratische Gegenwart hinzuzufu¨gen. Thema ist es auch nicht, eine mo¨glichst erscho¨pfend-genaue Darstellung des Werksinhalts von Senecas Schriften zu bieten, sein Denken zu kla¨ren, zu erga¨nzen. Die literarische Perso¨nlichkeit des Autors ist als solche nicht Gegenstand44. Betrachtet wird er hier aus der Sicht des geltenden, vor allem des deutschen Staatsrechts – wie wenn er ein Lehrer desselben wa¨re. Die wesentlichen Inhalte seines Denkens sollen ermittelt und im Lichte der staatsrechtlichen Dogmatik der Gegenwart beurteilt werden. Dabei geht es nicht prima¨r um heutige Realisierungschancen im Einzelnen, nicht Rechtspolitik soll prima¨r geboten werden. Herauszustellen ist, welche stoischen Ansa¨tze aus Senecas Schriften Anknu¨pfungspunkte im gegen¨ ffentlichen Recht finden (ko¨nnten); damit mo¨gen dann allerwa¨rtigen O dings Einscha¨tzungen u¨ber deren Entwicklungschancen verbunden sein. b) Hinter diesen Ausfu¨hrungen steht ein Vorversta¨ndnis, das offenzu¨ berzeugung von dem einmaligen Gewicht, der hohen legen ist: Die U Gestaltungskraft antiken Denkens in einer Zeit, die sich mit ihren Staatsvorstellungen immer weiter vom Ro¨mischen Recht, nicht nur von dessen – zeitweiliger – staatsromantischer Verehrung entfernt. Es ist das Vorversta¨ndnis von einer Einmaligkeit des historischen „Ersten Wortes“, man mag darin eine staatsrechtliche Version der literarischen Homer-Bewunderung finden. c) Doch es soll diese, durchaus zuzugebende, Rechtsromantik auch dogmatisch ein Versuch sein: auf dem weiten Weg u¨ber Humanismus und Antike zu zeigen, wie das Recht, das Staatsrecht vor allem, tieferes philosophisches Nachdenken verlangt, noch immer. Stoische Mahnungen 44
S. zur Stoa: Edelstein, L., The meaning of Stoicism, 1966; Pohlenz, M., Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 4. Aufl. 1970 bis 1972. Zu Seneca s. auch Griffin, M. T., Seneca: A philosopher in Politics, 1975; aus fru¨herer Zeit Kreyher, J., Seneca und seine Beziehungen zum Urchristentum, 1887; Ribbeck, W., Seneca und sein Verha¨ltnis zu Epikur, 1887; Baumgarten, M., Seneca und das Christentum, 1895; Rubin, S., Die Ethik Senecas, 1901.
IV. Antike Philosophie als Staatsphilosophie der Demokratie
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sollten als Anruf verstanden werden, in einer Welt der Wirtschaft und ihrer Praxis, zu (mehr) Staatsphilosophie im antiken Sinn. Stoizismus und Epikureismus bieten nicht nur Staatsweisheiten, es finden sich hier Staatstheorien fu¨r die Gegenwart. Gerade ihre Na¨hen, wie sie bei Seneca sich zeigen, bedeuten eine Mahnung an die Staatsrechtsdogmatik: Seit Aristoteles folgt sie einem Ideal gemischter Staatsformen, in deren institutionellem Verbund. Deutlich sollte erkannt werden, dass es auch etwas geben kann, wie eine „gemischte Staatsphilosophie“, zur rechtlichen Bewa¨ltigung von politischen Grundsatzproblemen der Gegenwart. Seneca bietet eine solche in der Verbindung seines stoischen Denkens mit epikureischem Wohlgefu¨hl. Darin soll im Folgenden vor allem jene stoische Ruhe im Vordergrund stehen, die alles ha¨lt: Mensch und Staat. Und zu dieser These wollen dann die Betrachtungen am Ende nochmals zuru¨ckkehren.
B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte in geistesgeschichtlicher Na¨he zur Gegenwart I. Seneca als „Referenz fu¨r Stoa und Staatsrecht“ 1. Seneca: ein „Klassiker des Staatsrechts“ Wie immer Seneca philologisch-literarhistorisch zu verstehen, zu beurteilen sein mag – fu¨r das Folgende ist er mit seinen Schriften eine „Inhaltliche Referenz fu¨r stoische Philosophie als Staatslehre“ stets gewesen, er ist es noch heute. Als ihr Vertreter hat er in unvergleichlicher Weise u¨ber Jahrhunderte in der europa¨ischen Verfassungsgeschichte gewirkt. Nur wenige „klassische griechische Autoren“ haben eine vergleichbare Bedeutung in der staatsrechtlichen und pa¨dagogischen Geistesgeschichte erlangt45. Daher ist es legitim, ihn als „den Vertreter“, als „die Referenz“ fu¨r stoisches Denken schlechthin einzufu¨hren. Dass er nur als spa¨terer repra¨sentativer Verbreiter eines bereits durch viele andere, akademische, peripatetische, kynische, epikureische Philosphemata angereicherten, vera¨nderten, abgeschwa¨chten Stoizismus in Erscheinung treten mochte, a¨ndert nichts an seiner beispiellosen historischen Bedeutung fu¨r das Staatsrecht als Bildungsmacht. In heutiger Sicht mag er darin zugleich als einer der gro¨ßten fru¨hen Politologen erscheinen. Im Folgenden geht es bei seinen Zitaten nicht um stoisch-philosophische Originalita¨t, sondern um repra¨sentative Verbreitungs-Wirksamkeiten, entscheidend gesteigert sind diese durch eine lateinische Sprach45 Bereits die bedeutende Seneca-Ausgabe von dessen Philosophischen Schriften, die Bipontina von 1782 (L. Annaei Senecae Philosophi Opera Bd. I., S. XXVIII ff.) berichtet in einer beeindruckenden Weise von Editionen seit 1475, in deutlicher Frequenzintensivierung seit 1515 und im 17., abnehmend im 18. Jahrhundert.
I. Seneca als „Referenz fu¨r Stoa und Staatsrecht“
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form, in deren monumentalisierend-thesenhafter Pra¨zision der Stil des Tacitus bereits die Philosophie, ja das Staatsrecht erreicht und formt. Seneca ist kein philosophisch-literarisches Original, und doch ist er, als eine Gestalt, die hinter dem Folgendem steht, ein wahrer Klassiker des Staatsrechts.
2. Menschlich-geistige Einheit einer „reichen Perso¨nlichkeit“ Das Thema „Senecas Denken in der Demokratie“ mag als ein verfassungshistorisches Wagnis, wenn nicht als ein staatsrechtlicher Denkfehler erscheinen. „Seneca war kein Demokrat“ – in keinem auch nur denkbarem Versta¨ndnis. Als vermo¨gender spanischer „Migrant“ ins Zentrum der ro¨mischen Weltordnung tretend, immer in der Na¨he zum Mittelpunkt dieser Macht lebend, als Fu¨rstenberater, -diener, -knecht – wie immer heutige Demokratie dies nennen mag – kannte er staatsrechtlich nichts anderes als Absolutismus, im spa¨teren, klassisch-verfassungshistorischen Versta¨ndnis. Menschlich war er etwas wie eine aristokratische Erscheinung einer Oberschicht, unter einem in seiner Macht schon sinkenden Sonnenko¨nigtum des Ca¨sarismus. Wirtschaftlicher Reichtum trug ihn, immer wieder, in der Beratung der Macht, zu erwerben, zu gebrauchen – in Geringscha¨tzung wegzuwerfen. Ein verbannter „sale bourgeois“ als Professor des Staatsrechts, nicht ein staatsferner Poet am Tische der Ma¨chtigen, in Sehnsucht nach ro¨mischen Bergen wie Horaz46: so ist Seneca zu sehen. Ihm konnte niemand etwas nehmen, von seiner Perso¨nlichkeit, von seinen geistigen Gu¨tern; all dies lag gespeichert in seinem Denken, floss aus ihm in seine Feder. Sein ganzes Leben war darin eine Einheit, er in ihm: Kein Held, kein Star, kein Heiliger – einfach nur ein Bu¨rger in einem schier unendlichen ro¨mischen Welt- wie Staats-All. Nicht ein staatsromantisch zu Verehrender wie Sokrates, ein geradezu journalistisch u¨berpointierender, ein in Ironie zugleich kleiner und großer Schreiber – und doch ein staatsleitender Denker. Zu Zeiten fast etwas wie ein Philosophen-Ko¨nig im platonischen Sinn, vor nur zu oft blutigen Kulissen.
46 Leisner, W., Staatsferne Privatheit in der Antike. Horaz: In Machtdistanz das Leben genießen, 2012.
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
In all dem ist Seneca nicht nur ein Vertreter, er ist ein Vor-Bild fu¨r das Staatsrecht, in „seiner“ Staatsphilosophie. Sein Selbstmord mochte durch Staatsmacht erzwungen werden – es war das Ende eines letzten Aktes, programmiert in einem Leben, in dem er selbst seine Trago¨die(n) zu Ende gespielt hat47. Dieses Leben (um)schloss seine Perso¨nlichkeit in einer Einheit, in der Reichtum, Macht und Geist immer wieder zusammengefunden hatten, zusammen weggingen (in einem stoischen „Exi!“) aus diesem menschlichen Gastmahl, dieser menschlichen Existenzform. Erzwungen oder freiwillig – auch dies scheint geradezu aufgehoben bei ihm in der einen stoischen Ruhe. Diese Perso¨nlichkeit hat stets Bewunderung geweckt, darin das literarische Wirken des Autors begleitet und versta¨rkt. Doch vor allem galt diese Verehrung dem Staatsphilosophen eines Absolutismus in einem weiten Sinn.
3. Senecas Staatsphilosophie – in Tradition zwischen Autorita¨t und Ruhe Die Editionsgeschichte der Werke Senecas zeigt deutliche Frequenzschwankungen der Ausgaben48: a) Der Humanismus der Renaissance hat Seneca als antiken Autor entdeckt, ihn gelesen vor allem als eine der „ausgegrabenen“ antiken Quellen, vom Ende des 15. bis in den Beginn des 17. Jahrhunderts. In dieser Zeit entstand und entfaltete sich, vor allem in Italien, mit Einflu¨ssen nach Frankreich, das moderne Staatsdenken. „Der Staat als solcher“ wurde entdeckt, in den politischen Lehren eines Macchiavelli bereits systemhaft ausgebildet. Als solcher aber war er begrifflich noch nicht voll formiert oder gar zu einem staatsrechtlichen Systemzentrum ausgebaut. In dieser Periode konnte Seneca nicht mehr bedeuten als eine diese Entwicklung begleitende, in antiker Philosophie sie bereichernde Form staatsordnender Politologie: Der stoisch-ruhige Mensch als beruhigende Autorita¨t in ro¨mischrechtlich vorgestellter Machtordnung: Der Mensch unter seinen fu¨rstlicharistokratischen Autorita¨ten als Weltbu¨rger in Ruhe. 47
Des Seneca Trago¨dien sind im Folgenden nicht Betrachtungsgegenstand. Ihre geistige Macht-, Schicksals-, Ordnungswelt ko¨nnte sich allenfalls als eine anhangsweise Fortsetzung zu einer Schau auf die griechische Trago¨die darstellen. 48 Vgl. Fn. 45.
I. Seneca als „Referenz fu¨r Stoa und Staatsrecht“
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b) Eine entscheidende Einflusswende fu¨r Senecas Schriften trat ein mit den Anfa¨ngen des Absolutismus, in Frankreich vor allem: Die Editionen ha¨uften sich, das (post)humanistische neue Bildungsinteresse machte „Se´ne`que“ vor allem dort zum beherrschenden Bildungsautor. Gallikanisches Staatskirchentum sah in ihm einen (un-?)bewussten Propheten, wenn nicht gar Vorla¨ufer des Christentums (vgl. i. Folg. III.). Mit ihm schien der Staat, das Reich des Sonnenko¨nigs, aus seiner Machttranszendenz, seinen imperialen Vorbildern „herab zum Einzel-Menschen“ zu finden. Er hatte sich „in stoischer Ruhe“ einzufu¨gen als Untertan in die ruhig-bewegungslose Welt der absoluten Monarchie. In ihr war der Staat so in Ruhe vorgestellt wie der Mensch, der er ja war: „L’Etat c’est moi“. Herrscher beugten sich jesuitischen Beichtva¨tern, Ko¨nige geistlichen Trauerrednern49. Der Mensch war im Ko¨nig zum Staat geworden; nun sollte dieser in menschlicher Ruhe „stehen bleiben“: in dem Staats-Menschentum des Colbertschen Verwaltungs- und Wirtschaftsstaates. Zugleich wirkte u¨ber Seneca antike Bildung in stoischer Ruhe: Die Bu¨rger sollten in Ruhe gehalten bleiben, unter einer Autorita¨t von Gottes Gnaden (par la Graˆce de Dieu). Senecas Werke wurden zu Erziehungsbu¨chern bis hinauf in Adelspala¨ste, in Ko¨nigsho¨fe, in jenen Zeiten der ersten großen Prinzenerziehung eines Fe´ne´lon. Die Aristokratie hob sich in stoischer Vorbildlichkeit zuna¨chst in wahrer, bald aber immer mehr gespielter Strenge ab von ihren Untertanen. c) Und er bewegte sich doch, dieser absolute Staat, hinein in die Vergnu¨gungswelt des Louis XIV-Barocks; und der Stoizismus blieb auch dann noch immer Halt seiner Macht. Seneca-Editionen werden ruhiger, philologischer, klassischer und – seltener. In der beginnenden Antik-Klassik der Louis XVI-Zeit geriet diese Staatsphilosophie in die Spannungslage zwischen der weiterlaufenden Staatsmechanik des Uhrmacher-Ko¨nigs und der autorita¨tsfeindlichen Aufkla¨rung. Doch Stoizismus war noch weiter beherrschend, selbst in der antikisierenden Fru¨hzeit der Franzo¨sischen Revolution. Robespierres Rigorismus forderte ro¨misch-republikanische Unerschu¨tterlichkeit – und fand sie auch beim verhassten Gegner – von Charlotte Corday bis zur Guillotine der Place de la Concorde. Wo SenecaLektu¨re nicht mehr wirkte, gab Senecas Tod antik-republikanische Kraft.
49 Bossuet, J.-B., begegnet als „der“ Staatstheologe – Staatsphilosoph des Absolutismus, vor allem in seiner „Politique tire´e de l’Ecriture Sainte“, 1709.
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
d) Napoleon brauchte gerade dieses Vor-Bild des stoischen Menschen, und war es selbst fu¨r viele, bis an sein Ende von St. Helena50. Das Empire war doch das wiedererstandene Ro¨mische Reich – beratungsbedu¨rftig, (zu) schlecht beraten, deshalb dann untergehend. Stoizismus wurde ganz groß gespielt: in der Beratung, in der Renaissance ro¨mischer Milita¨rstaatlichkeit. Hunderttausende Gefallener konnten ihre Augen jedenfalls (noch) in stoischer Ruhe schließen, soweit ihnen die Aufkla¨rung nicht schon ihren Bon Dieu genommen hatte, den der letzten Stunde. Von Dantons „Courage et encore du courage“, bis nach Waterloo: „La Garde meurt et ne se rend pas!“ Das war vorgelebter Stoizismus, unerschu¨tterlich in menschlichen Existenzen – wie der des Seneca. Selbst auf Besiegte griff dies u¨ber: Ein preußischer Ko¨nig konnte nach Jena verku¨nden: „Ruhe ist jetzt die erste Bu¨rgerpflicht“. Bald wandelte sich dies in die Todesbereitschaft des Blu¨cherschen Preußentums. e) Der Liberalismus, mit ihm das „große neue Staatsrecht“ in Frankreich und Deutschland, konnte Senecas Ruhe fu¨r Mensch und Staat nicht mehr vertiefend nachvollziehen. Sein Mensch war zum Freiheitsbu¨rger der unbegrenzten Mo¨glichkeiten der Ma¨rkte geworden. Er mochte zwar philologisch-erzieherisch das Land der Griechen noch immer mit der Seele suchen, mit seinen Kra¨ften aber sammelte er Reichtu¨mer, nicht ohne ¨ bersiedlungen in seine Kolonien, in die zahllose Blicke und Reisen, U La¨nder der unbegrenzten Mo¨glichkeiten. Liberale Staatlichkeit war in ihrem Kolonialismus eben so unruhig wie ihre Menschen. War Seneca bereits fu¨r die Aufkla¨rer nicht mehr eine, oder gar „die“ Bildungslektu¨re gewesen, so ging sein Bildungseinfluss nun erst recht zuru¨ck. Cicero, Horaz, Tacitus waren die Lektu¨ren fu¨r Jungbu¨rger, die nicht „ruhen“, sondern etwas „erreichen“ sollten, die dem wilhelminischen „Es ist erreicht!“ zustrebten. Virtus – das war nun extrovertierte Erfolgskraft, Leistungssta¨rke, nicht eine in sich ruhende, auf sich selbst nur blickende Selbstbespiegelung. „Eigentum“ blieb zwar liberales Heiligtum – eine Art von Staatsrechtstempel –, aus dem Wagners Drache dem Siegfried zurief: „Hier lieg’ ich und besitz’. Lass mich schlafen!“. Doch das „neidige Schwert“ sollte seine Ruhe beenden. Stoische Philosophen durften allenfalls u¨berleben als 50 Zusammenfassung dargestellt in Leisner, W., Napoleons Staatsgedanken auf St. Helena, 2006.
II. Grundgedanken der Stoa
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akademische Abscha¨umhelfer der Jugend. Fu¨r viele liberale Aktivbu¨rger waren sie bereits – Abschaum. f) In Sozialismus und Kommunismus hat stoisches Denken keinen Platz. Wo sozialer Aufstieg alles ist, wird Ruhe zur Bremse, wo der Mensch so total in Gemeinschaft gedacht wird, kann er in ihr nicht Ruhe finden. Er wird im Staat nicht gesto¨rt – er geht in ihm staatsrechtlich auf, bald ist er (nichts mehr als) ein Ra¨dchen in dieser Dynamik. Virtus als ein „In sich selbst Ruhen“ ist entweder nichts, oder (Ergebnis) ein(es) Ausbeutertum(s). Dies alles la¨sst sich sogar christlich wenden: Wo bleibt in der Ruhe denn – der Na¨chste, der Hilfsbedu¨rftige, Seligmachende? Diese kurze „Literarhistorie“ der staatsrechtlichen Wirksamkeit Senecas legt schon eine Frage nahe:
4. Ru¨ckkehr zu stoischer Ruhe – mit Seneca – Heute? Fallen diese, die folgenden Gedanken nicht vo¨llig aus der Zeit, haben sie ¨ berlegungen zu einem „demokratischen Staat“? Was u¨berhaupt Platz in U soll in ihm begonnen werden, der nicht aus Ruhebu¨rgern herauswirken will, sondern aus einer Aktivbu¨rgerschaft, der auf dieser nicht „ruht“, sondern sich mit ihr bewegt, in marktwirtschaftlicher Dynamik, in „Materialismus“, in einem oft und zu rasch gescholtenem „Amerikanismus“? Darf der sozial(istisch)e Mensch ruhen, wo er doch aufsteigen kann, soll, muß? „Fun“ braucht er, Spaß u¨berall und in allen Formen als Ent-Spannung; er findet sie doch nicht in etwas wie Ruhe. Beta¨ubung ist um ihn, in ihm u¨berall, ob er sie sucht oder nicht. Dies ist nicht stoische Ruhe in ku¨hlem Bewusstsein – es ist ihre Negation, ihr Gegenteil. Aus dieser sich selbst beta¨ubenden Lage kommt „alle Kraft, allen Menschen, aller Staatlichkeit“ – und da soll in ihnen nach Ruhe gesucht werden, gar noch in der Demokratie, der Staatsform der Dynamik (A. I.)? Das ist kein Programm – es ist ein Wagnis.
II. Grundgedanken der Stoa Ob und wie weit der Stoizismus als solcher ein geschlossenes Denkgeba¨ude darstellt, als „System“ wirken kann, mag hier offen bleiben. Senecas Schriften bieten jedenfalls ein solches nicht. Sein literarisches phi-
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
losophisches Erbe zeigt vor allem Einzelschriften als Schwerpunktkapitel: in den zusammenfassenden Zentralschriften De vita beata, De ira, De beneficiis. Ku¨rzere, zum Teil nicht voll erhaltene Bu¨cher, verdeutlichen diese Schwerpunkte, so etwa De tranquillitate animi, De constantia sapi¨ berentis, De clementia, De brevitate vitae. Angereichert werden diese U legungen in weit verstreuten Bemerkungen in den „Epistulis“, zu ganz unterschiedlichen, ja disparaten Fragen. „Prinzipien der Stoa“ werden als solche nicht aufgestellt; gerade deshalb aber sollen die Grundgedanken dieser Philosophie als solche hier zuna¨chst herausgestellt werden, damit sodann eine Zuordnung zu Themen und Gegensta¨nden des geltenden Staatsrechts erfolgen kann (i. Folg. IV.). Diesem Programm entspricht schließlich die Kapitelabfolge in Hauptteil C.
1. Erkenntnis nur in Ethik – Keine Metaphysik Die stoische Philosophie kennt, jedenfalls in ihren Inhalten bei Seneca, keine „Metaphysik“ im aristotelischen, ja bereits im platonischen Sinn (Phaidon). Von der fru¨hen griechischen Naturphilosophie, welche die Erkenntnislehren der Realita¨t gepra¨gt hatte, sollte sie sich weit entfernt halten, ja in Ethik verabschieden. Menschlicher Erkenntnisdrang mag Gnoseologie fordern51. Doch Wahrheit und Irrtum kommen hier immer aus dem Menschen, beziehen sich allein auf ihn und sein individuelles Verhalten. Stoische Staatswahrheit52 liegt allein im richtigen, menschlichen, in einem humaner Virtus entsprechendem Verhalten. Die GottesVorstellung erscho¨pft sich in der Hypothese, wenn nicht nur Forderung, einer einheitlichen Weltregierung in moralischem Ordnen. Sie umschließt den Menschen, wie alles, was außerhalb von ihm ist, fu¨hrt all dies zusammen. Darin ist bereits die wesentliche Staatsna¨he zum Menschen grundgelegt, ja diese staatliche Ordnung kann keine andere sein als die einer inneren, moralischen Disziplin der menschlichen Perso¨nlichkeit. „Staat wie Mensch“ ist die grundlegende Konsequenz daraus. Daher bereits kann das Thema nur lauten: „Ruhe in Mensch und Staat“. Dieser Staat braucht nicht definiert zu werden, er ist „als solcher“ gar nicht Objekt einer 51
Seneca, Epistulae ad Lucilium (i. Folg. Ep.), 31: Erkenntnisse von Wahrem und Falschem. 52 Staatswahrheit im Sinne des Betrachtungsgegenstandes von Leisner, W., Die Staatswahrheit. Macht zwischen Wille und Erkenntnis, 1998.
II. Grundgedanken der Stoa
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besonderen Disziplin: Erkannt, bestimmt, entwickelt wird er aus dem Menschen heraus, da er „ist wie dieser“.
2. Virtus: Menschentauglich-Humanes, nicht „moralisch Gutes“ Diese alles bestimmende Ethik ist nun aber nicht ein „Verhaltenskodex“, ein „Verhaltenskatalog des Guten“, weder in Zehn-Gebote-Tafeln, noch in den Zwo¨lf Tafeln der ro¨mischen Gemeinschafts- und Staatsordnung aufgeschrieben, „von außen“ an den Menschen herangetragen. Die so eminent moralisch gepra¨gte stoische Philosophie verzichtet geradezu auf eine materiale Ethik im Sinne der neueren Philosophie, die sich aus ihr heraus in Vorschriften entfalten ließe. Es ist dies vielmehr eine „HaltungsEthik“, in der sich allenfalls gewisse „Grundhaltungen“ unterscheiden lassen. Stets richtet sich der menschenbildende Blick sogleich zuru¨ck auf dieses zu gestaltende, zu sichernde Wesen – auf seine „Gestalt“ im Sinne der griechischen Skulptur, in welcher der Ko¨rper den Geist ausdru¨ckt, die „geistige Haltung“. Ist sie „menschentauglich“ in ihrem Mittelpunkt der Ruhe, so strahlt sie Leistungsfa¨higkeit des Richtigen aus.
3. „Der Mensch nach Natur“ – sein eigener Gott Seine ethische Orientierung findet der Mensch nicht im Gehorsam gegenu¨ber irgendwelchen „Geboten von außen“, sondern allein in sich selbst. In seiner Natur liegt sein geistiges wie sein ko¨rperliches Wesen. Beide schließen sich zu einer Einheit zusammen, die dann u¨bergreifen kann in Staats-, ja in Weltordnung. Dieser „Natur“ aber entspricht nur eines: Ruhelagen, statische Bewegungslosigkeit, in der allein der ideale platonische Mensch der griechischen Skulpturen erkennbar wird, daher dann, gewissermaßen als untergeordnetes Accidens, auch „sein“ kann. Ein Paradox: Ideal ist geradezu ein Handeln in Bewegungslosigkeit. Darin „ist“ der Mensch alles, was u¨berhaupt es geben kann, in diesem bewegungslosen „Sich Drehen in sich selbst“, wie es spa¨ter thomistische Scholastik dem Scho¨pfergott zugeschrieben hat. Weder der Mensch noch die (seine) politische Staatsgewalt bedarf einer Kraft, die sie ha¨lt, legitimiert: In der Existenz als Mensch, als menschengleiche Staatsmacht, in einem
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
„Natur Sein“, daraus handeln Ko¨nnen liegt alle einzelmenschlich-ethische Kraft, alle „naturrechtliche Macht“ dieser menschengleichen Staatsgewalt. Darin hat die Stoa bereits „den Menschen nur in der Umwelt“ gesehen, verortet, zugleich „Naturrecht“ fu¨r ihren Staat grundgelegt, in einem ganz besonderen, voll „natu¨rlichen“ Sinn.
4. „Ruhe(n)“ ist alles Ruhe ist alles fu¨r die Stoa. Sie bestimmt sich nicht aus Ungesto¨rtheit. Sto¨rungen wehrt sie ab, sie prallen ab an ihr, sie kennt sie nicht eigentlich. „Sie alle bleiben außerhalb“, als externa, non ad nos. Was sich bewegt, zeigt nicht Kraft – es verliert die seine. Kraft wird letztlich gar nicht gebraucht, wo der Mensch „ist“, sich nicht bewegen muss, bleiben kann und wird. Eben dies gilt auch fu¨r die Macht, fu¨r den menschengleichen Staat: Er „ist“ ganz einfach in seiner Macht, bedarf darin weder einer Begru¨ndung oder Rechtfertigung, noch einer beweisenden Aktion. Thomistisch gesprochen: Der Staat „ist ganz in potentia“, in jedem Sinne des Wortes, auch in dem der Virtualita¨t, in deren „Ko¨nnen in Ruhe“, nicht „in actu“, in der Gewalt (samkeit) eines „Mu¨ssens“ oder gar „Aufzwingens“: Er „ha¨lt“ die Menschen in seiner Ruhe, so wie die Menschen ihn in der ihren „halten“, die nun die seine sein wird. Irgendwo mag da irgendetwas auch geschehen, erlaubt sein in dieser bewegungslosen Welt menschlicher Macht, doch es bleibt stets weit entfernt von ihren Zentren, von deren wesentlichen Grundlagen: Ruhe – dieses Wort ist fu¨r den Staat so fundamental wie fu¨r den Einzelmenschen. Ruhe verlangt nicht, sie bedeutet Unerschu¨tterlichkeit, ein Ruhen auf etwas wie einer Basis, die niemand verru¨cken kann als der, welcher sie tra¨gt: der Mensch im Tode, der Staat im Zusammenbruch seiner Macht – nicht weil er nicht mehr handeln ko¨nnte, sondern weil er bereits in Bewegung verschwunden ist. Dann ist auch „seine Ruh’ hin“, sein Leben.
5. Reichtum, Gu¨ter: Externa Diese „Ruhe“, deren Erreichung und Bewahrung das einzige Gebot und das Endziel aller stoischen Ethik, all dieser Philosophie darstellt, bestimmt ausschließlich das Verha¨ltnis des Menschen, damit auch des Staates, zu
II. Grundgedanken der Stoa
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allem „A¨ußer(lich)en“: Eigentum, Besitz, alle „Gu¨ter“ vermitteln vielleicht „Annehmlichkeiten“, welche die Ruhe „weiter“ werden lassen, gewissermaßen abfedern; Voraussetzungen eines „glu¨cklichen“, eines menschengerechten Lebens sind sie nicht. Wo sie sich in „Vergnu¨gungen“ steigern zu Genuss (voluptates), beginnt ihre Herrschaft u¨ber den Menschen, die ihn aus „seiner Ruhe“ wirft. Essentialia, wesentliche Grundlagen oder Ziele des Denkens und Handelns du¨rfen sie nicht sein, denn sie fu¨hren notwendig zu Bewegungen einer „Gier des Habens“ – „Wollens“, welches sich der Ruhe eines Besitzes u¨berlagert, diese bru¨chig werden la¨sst. Die Unruhe ihrer Suche kann nicht getrennt werden von der Ruhe des Besitzes, ja sie beherrscht sie sogar; denn „Vergnu¨gung“ ist ein Vorgang, kein Zustand wie die Ruhe. Relativierung des Besitzdenkens sieht dieses nur als einen „Weg“, ein Instrument fu¨r etwas ganz Anderes: zur Ruhe, zur Tranquillitas animi. Das ist nicht nur (die) „Wirtschaftsphilosophie“ – es ist die Ethik schlechthin, die Philosophie des Stoizismus.
6. Ruhe – Welt „eigenen Denkens“, fern von anderen, „vielen“ Meinungen Nicht nur „Dinge“ sto¨ren die Ruhe, Gu¨ter in ihren Versuchungen zu Erwerb und Genuss. Fremdes Denken, Meinungen anderer strahlen bewegende Kra¨fte aus, welche vordringen (ko¨nnen) bis in das Ruhe-Zentrum stoischen Denkens. Eine „Streitkultur“ kann es daher nicht geben, weder als Lebensform der Menschen, noch als Organisationsraum ihrer Staatlichkeit. Wahrheitssuche erfolgt in ruhigem, eingleisig-perso¨nlichem Denken, nicht im Trial and Error der Diskussion, in Unruhe zwischen Mehrheit und Minderheit, Pro und Contra. Allenfalls sind dies Ausgangspunkte, Instrumente zur Ruhe; werden sie zum Ziel, so ist jene verloren. Dynamik lo¨st sie auf in Bewegung, zwischen Angst und Hoffnung, Zustimmung und Kritik, in dauerndem Wechselspiel. Nicht in solchen, allenfalls instrumentalen, Vorga¨ngen erscho¨pft, definiert sich Staatlichkeit. Sie lebt in ruhiger Willenseinheit wie ihre Menschen, in augusteischem Reichsdenken, in dem selbst ein unruhiger Nero noch imperialem, stoischem Rat anfa¨nglich zuga¨nglich war.
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
7. Der Tod – ein Abgang Und wenn dies aufho¨rt, so werden Bu¨hnenvorha¨nge des Lebens vorgezogen. Sie decken nicht den Ausgang eines Lebens, sondern den Abgang seiner Akteure im ruhig hingenommenen, ja letztlich selbstgewa¨hlten Tod. Er schenkt die „letzte Ruhe“ – ein scho¨nes deutsches Sprachbild – nimmt nichts weg, da alles nur geliehen war/ist. „Und wir befinden uns besta¨ndig auf der Flucht“, dieser Nachsatz ist – nicht stoisch: Ein Leben in dieser wahren Welt-Weisheit hat sich schon in Ruhe verwandelt; es nimmt diesen seinen stoischen Gang im Abgang des Sterbens – „Exi!“ Dies ist die Gedankenwelt der Stoa, weiterlebend in Seneca und seinem geistigen Erbe, das es nun gegenu¨berzustellen, soweit mo¨glich einzufu¨hren gilt in das Verfassungsdenken einer demokratisch gepra¨gten Gegenwart. Bevor dies aber – in Teil C – zuna¨chst in den zentralen Grundsatzbereichen, sodann in Einzelheiten versucht wird, gilt es, in gebotener Ku¨rze, einen Raum auszuleuchten, in dem noch immer geistige Grundlagen, Aktions- und Entfaltungskraft liegen fu¨r demokratisches Denken der Gegenwart: im Staatskirchenrecht, soweit dies ins Grundgesetz u¨bernommen ist.
III. Exkurs: Stoa und Christentum Gemeinsames und Gegensa¨tzliches findet sich hier, ha¨lt sich vielleicht die Waage:
1. Gemeinsame Grundsa¨tze – Gebote a) Weltordnungsdenken will herrschen in fester, wenn auch nur letzter Statik. „Gottesherrschaft“ mag es genannt werden – oder Naturordnung. In „Naturrecht“ hat es kirchliche Dogmatik zum staatlich-diesseitigen Gebotsystem verdichtet. Seneca spricht von jenem „Gott“, den der Mensch findet – letztlich in sich selbst, in seiner Gottesabbildlichkeit, einer Imago Dei-Lehre (so wu¨rde dies in katholischer Dogmatik zu nennen sein): Ganz ernst genommen auch im Staat. Der Mensch als sein eigener perso¨nlicher Gott, ein solcher nicht „deistisch-u¨berall“, sondern humanistisch im eigenen Geist, im eigenen Herzen.
III. Exkurs: Stoa und Christentum
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b) Der Mensch – unmittelbar zu Gott: Dieser protestantische Grundgedanke ist nichts als eine andere Seite dieses humanistischen Deismus. Tiefster stoischer Individualismus dringt zu einer Gott-Mensch-Einheit vor, welche das Christentum im „Menschsein“ verehrt. c) Tugendlehre fu¨r Mensch und Staat – Ethik als Dogmatik ist gemeinsame Ordnung des religions-psychologischen Denkens im Stoizismus wie im Christentum. In christlicher Kirchenlehre konnte dies letztlich nie wirklich getrennt werden: Virtus fu¨hrt doch die einen in Heiligkeit zum verdienten Paradies, fu¨r die anderen ist sie schon Paradies auf Erden – in Ruhe. d) Relativierung des Irdischen, der Gu¨ter als etwas A¨ußerliches, war stets eine besonders Gott wohlgefa¨llige, letztlich eine monarchische Lebensform. „Gu¨ter: Gebrauch nur als Weg zum Heil“ ist noch immer o¨konomische Grundnorm christlichen wirtschaftlichen Denkens. Fu¨r den Stoiker sind die Gu¨ter ein weiches Bett, nicht bereits ein ruhiger Schlaf. e) „A¨ußeres“, „Externa“ sind Kulissen, nicht rollenbestimmend in einer Come´die humaine, einer Divina Commedia in Staatlichkeit auf Erden. In diesen Ra¨umen ist „der Mensch nur Gast auf Erden, strebt (s)einer ewigen Heimat zu“, in Bescheidenheit des Dienens – der Stoiker setzt dies um in seinem Leben, im Ru¨ckzug auf sein Einziges, sein Ich, in sich ruhend, „unausgreifend“, nicht „spielend mit, vor Kulissen“. f) Genusssucht ist den einen Su¨nde, den anderen Irrweg. „Jedermann“ ist ein stoischer Ruf auf Treppen zu einem Dom. g) Hilfsbereitschaft als Menschlichkeit judiziert der Allma¨chtige der Christen im Letzten Gericht – fu¨r den Stoiker ist sie natu¨rliche Pflicht des Menschen, so selbstversta¨ndlich, dass sie fu¨r ihn zur vorgegebenen externen Welt wird. In Mitmenschlichkeit erlebt das Individuum sein eigenes Menschsein als ho¨chstes Gut; sie soll „alles um ihn“ beruhigen.
2. Trennendes a) Ganz oben steht hier die christliche Vorstellung von einem Perso¨nlichen Gott. Das Christentum ruht in seinem Perso¨nlichen Gott, als Maß alles Menschlichen, als dem Gesetzgeber alles „Humanen“. Der stoische Mensch findet dies(en) in sich selbst, er ist sich selbst „Gott genug“. Sein personifizierender Deismus kennt keinen „Gott-Vater“, keine kirchliche
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
Instanz, u¨ber welcher dieser zu ihm sprechen ko¨nnte. Er fu¨hrt nur Selbstgespra¨che – Soliloquia. b) „Glaube“ ist keine Kategorie stoischen Denkens; dieses wirft sich nicht in solche Unendlichkeiten, es erfa¨hrt sich selbst, wenn es auf seine Ruhe ho¨rt, auf seine eigenen Anrufe. Ihm muss nichts „gelehrt werden“, nicht „allen Vo¨lkern“, allen Staaten und ihren Menschen. Ruhe wird gelebt und erlebt, ihre Ethik reicht nicht in die Dogmatik einer „Erkenntnis in Glauben“ hinauf. c) Gute Werke, verdienten Himmel gibt es nicht in den Ga¨ngen der Stoa, deren Schmucklosigkeit darin dem Protestantismus nahe ist. Menschliche Tropha¨en ha¨ngen nicht an ihren Wa¨nden. Vollends fremd ist dort aber ein Schweizer Calvinismus, welchem Wohlstand in dieser Welt auch Glu¨ck verheißt in einem Jenseits, wie es die Stoa eben nicht kennt. d) Su¨nde ist kein stoisches Wort, da es niemanden gibt, den sie beleidigen ko¨nnte. Nur Irrtum kann es geben, Wegverfehlungen – ein bis heute unverlorenes Erbe des sokratischen Platonismus. Fremd-Erlo¨sung ist daher undenkbar in dieser geistigen Welt der Ruhe, in der sich Mensch und Staat selbst erlo¨sen von allem, was unwichtig ist: non ad nos. e) Ora et labora des Benediktinismus ist, in solchem Dualismus, kein stoisches Ideal. Beides ist nicht getrennt zu sehen, es klingt wesentlich zusammen und „ineinander – in stoischer Ruhe“. Weder ein „Credo“ – „Ich habe doch geglaubt“, noch eine Grabinschrift „Man hat sich bemu¨ht“ wird einen Gott ru¨hren, der nicht ho¨ren kann auf Glaube, Hoffnung, Liebe, weil es ihn so wenig gibt wie es ein Wesen Mensch geben sollte als robotende staatliche Leistungsmaschine. f) Missionarisch ist wesentlich das Christentum: „Gehet hin und lehret“, gegenu¨ber Menschen und (deren) Staaten. Der Stoiker kennt nur sein eigenes „Studium“, seine individuelle Denkklause: Er ist Einsiedlermo¨nch, nicht christlicher Sozialarbeiter, nicht Verku¨nder eines Glaubens, den es ja als solchen gar nicht geben kann. Am Ende seines Lebens wird er „gefunden und eingegraben“, nicht „im Umstand anderer, einer Gemeinde“, „unter Umsta¨nden“ auf eine Reise in die Ewigkeit geschickt, mit einer „letzten Predigt“, „letzten Worten“. g) Tod ist dem Christen tiefer Ernst, erster Schritt auf dem Weg zum Gericht, Er-Lo¨sung vom Diesseits, Verdichtung seiner Hoffnungen, ¨ berlebende. Der stoische fruchtbar in seinen A¨ngsten fu¨r Sterbende und U
IV. Staatsrecht, Demokratie, Grundgesetz – und Stoa
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Mensch wird, soll „einfach gehen“, ein platonisches Gastmahl verlassen, satt mit dem epikureischen Stoiker Horaz, „ganz einfach“ mit einem Seneca, den seine Ruhe heilt von allen Leiden des Gifts, das er im Diesseits zu sich nehmen kann – darf, muss… Sind dies nun alles nur „Externa“, A¨ußerlichkeiten – oder doch sta¨rkere Spannungen, tiefere Antithesen? Mit Blick auf die Gegensta¨nde Staat, Verfassung, Grundgesetz soll dies nicht beantwortet, vielleicht aber doch in Ansa¨tzen gekla¨rt werden – bereits in den Menschen.
IV. Staatsrecht, Demokratie, Grundgesetz – und Stoa: Themenbehandlung in Schwerpunktvergleichen 1. Die Problematik einer Zusammenordnung zu Schwerpunkten ¨ berlegungen begegnet von vorne a) Die Ordnung der folgenden U herein einer konzeptuellen Hu¨rde, die sie als solche nicht u¨berspringen, allenfalls schrittweise-vorsichtig umgehen kann: Hier sollen ja Schemata und Inhalte eines Denkens zusammengeordnet werden – geltendes Staatsrecht und Stoizismus @ im Lichte des literarischen Erbes Senecas, das beides pra¨gt, vielleicht sogar auszeichnet: Sie sind nicht in einer festen Ordnung zu fassen, aus welcher heraus sodann Gemeinsamkeiten in Kapitel-Titeln oder gar in Inhaltsna¨he leicht(er) festzustellen wa¨ren, in einzelnen Vergleichsoperationen, vielleicht gar auf einer Gesamtebene derselben, in einem Systemvergleich: Der Stoizismus begegnet philosophisch kaum, schon gar nicht in Schriften des Seneca, als ein System oder auch nur in eindeutigen Leitkategorien eines solchen. Schwerpunktbehandlungen in Einzeltraktaten sind u¨berliefert, daneben die „Briefe an Lucilius“, verstreute philosophische Gedanken, welche jene Einzel-Behandlungen nur in disparater Form, immerhin aber ho¨chst beachtlich, anreichern. In zahlreiche Thesen la¨sst sich all dies zergliedern, weiter aufgliedern; zu einem „System“ wird es allenfalls in einer alles u¨bergreifenden Grundvorstellung von „Ruhe in Mensch und Staat“. b) Beim Beziehungsgegenstand „(geltendes) Staatsrecht des Grundgesetzes“ begegnen a¨hnlich Anordnungsprobleme einer Behandlung. Auch
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
hier kann von einem Gesamt-System kaum die Rede sein. Eine „Grundgesetzliche Ordnung“ als geschlossenes System gibt es (noch immer) nicht; die Staatsform der Demokratie soll, nach verbreitetem, wenn nicht herrschendem Versta¨ndnis, eine Offenheit verlangen, welche in Verfassungs¨ ffnungen einzubauen versucht: normative recht allenfalls immer weitere O Grundentscheidungen, die dann aber eine staatsgestaltende Volkssouvera¨nita¨t stets noch weiter aufzubiegen vermag. c) Nun gelten aber die folgenden Bemu¨hungen einer Zusammenordnung, einem Auffinden stoischer Gedanken in grundgesetzlicher Ordnung, gerade in ihren vorstehend aufgezeigten, dogmatisch relevanten, historischen und gegenwa¨rtigen Grundlagen. Nahe liegt daher eine gliedernde Ordnung der staatsrechtlich wesentlichen Behandlungsinhalte nach einem Schwerpunktkriterium: Leitgedanken des Stoizismus sind in ihren Beziehungen zu, ihrer Beziehbarkeit auf gegenwa¨rtige staatsrechtliche „Grundgedanken“, fassbar vor allem in deren „Grundsa¨tzen“, zu Grundentscheidungen hochzurechnen53; Normen sind in normativen Schwerpunktgehalten des Grundgesetzes zu betrachten. Dies zwingt zu großfla¨chiger Schematisierung bei der Zusammenordnung, insbesondere in der Suche nach stoischen Gedanken(elementen), Problemanknu¨pfungen in der geltenden Verfassung, mo¨gen sie dort auch in Beispielhaftigkeit auf- und immer wieder zuru¨cktreten. Vorwu¨rfe einer unvollsta¨ndigen Schwerpunkterfassung werden sich nicht entkra¨ften lassen. Die vielfa¨ltige, oft schillernde Beleuchtung, in der Seneca seine Grundanliegen darstellt, mag Unklarheit bringen, bis zur Verschwommenheit. Ein materienaufgliedernder Zugriff muss dennoch problematischen Systemvergleich ordnend ersetzen.
2. Begegnungsra¨ume von Stoizismus und Demokratie – Inhaltsvorschau Ausgangspunkt muss die Inhaltlichkeit der Schriften des Seneca sein. Sie, Spannung in oder gar Gegensatz zu ihr im Verfassungsrecht, gilt es ja aufzusuchen. a) Individualismus, in Ruhe, aus ihr, muss Ausgangspunkt bleiben. Sie begegnet vor allem im ersten Teil von „De vita beata“, sowie in „De con53 Wesentliches findet sich dazu bereits bei Sommermann, K.-P., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997.
IV. Staatsrecht, Demokratie, Grundgesetz – und Stoa
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stantia sapientis“. Es ist dies die „Grundstellung des stoischen Menschen“, damit die Grundvorstellung von seiner Staatlichkeit. Auch im Grundgesetz kommt nichts vor dieser Freiheit, alles aus ihr. Kollektivismus ist hier weit entfernt, dort unbekannt. b) Staatsrecht/Strafgewalt, Ordnung in Dynamik @ sie wirken in menschlicher Erregung. All dies ist zu beruhigen, in Mensch wie Staat, der wie jener ordnen will, darin aber ebenfalls nicht immer „seine Ruhe“ findet. Stoische Ruhe im Staat ist damit ein humanes Grundthema in „De ira“, einer der zentralen stoischen Schriften. Gerade aus ihrem Gegenpol, der „Staatsaktivita¨t“ heraus, in deren Zentrum, der Strafe, wird dies deutlich. c) Staatsdienst – Staatsferne bezeichnen mehr eine Haltung als ein Verhalten des Menschen, das seine Staatlichkeit durchwirkt und pra¨gt, auch wo sie deren Macht fern bleibt. Dies wird geschildert in „De tranquillitate animi“, begleitet den Menschen in Gedanken u¨ber sein „De otio“ zu einer betrachtenden Ruhe, in welcher der Mensch sich selbst erzieht, ausbildet, sich und seine Staatsgedanken, fern von Meinungen anderer, von politischem La¨rm, Demagogie. d) Religion findet der Mensch in seiner eigenen Schau von Natur und Welt. Sie fu¨hrt ihn zu einem Deismus, in dem sein Staat humanes Leben ordnend erfu¨llt. Was findet sich davon in einer Demokratie, die in/trotz ihren Staatskirchennormen auf etwas gegru¨ndet sein ko¨nnte wie einen Staats-Deismus, der Religion „nicht molestieren“, sondern sie in ihrer eigenen Welt in (Staats-) Ruhe lassen will? „De providentia“ – ein Licht auf Wegen eines solchen Denkens? e) Gu¨tiger Staat begegnet im Lauf der politologischen Rechtfertigung von „De clementia“. In einem viel breiteren Versta¨ndnis tritt er dem Menschen, der Mensch damit sich selbst gegenu¨ber, in all jenen Wohltaten, welche im Hauptwerk „De beneficiis“ behandelt werden. „Gescha¨ft“ wird hier geradezu dogmatisiert, der Austausch(vertrag): Leistungen gegen, um, ohne Dank. Von schenkenden Menschen zum Sozialstaat konnte Seneca noch keine Beziehungslinien ziehen: Fu¨r das Staatsrecht der Gegenwart liegen sie „auf der Hand“. f) Gu¨ter, Besitz verlangen nach Ordnung im Geist der Menschen wie in der Machtwirklichkeit des Staates. Bringen sie das „glu¨ckselige Leben“? „De vita beata“, das wohl wichtigste Werk des Seneca, stellt in seinem 2. Teil diese Frage, in einer Distanz, welche (Um-)Verteilung geschehen lassen
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B. Senecas Stoa: Staatsrechtliche Inhalte
mag, immerhin aber die Annehmlichkeit des Reichtums zu scha¨tzen weiß: Geld macht nicht glu¨cklich, aber es „beruhigt ungemein“ – stoisch? g) Tod ist – noch immer – kein systematisch behandeltes Thema des Grundgesetzes54. Fu¨r den Stoiker ist er Erfu¨llung im Ende, nicht Unglu¨ck oder Aus-Flucht, sondern Abgang in Ruhe. Sollte nicht auch die so lebendige Demokratie dieses Tor sehen, rechtlich o¨ffnen – zur ganz großen Ruhe, damit diese schon das Leben erfu¨lle, es nicht verku¨rze? „De brevitate vitae“ und die „Consolationes“ – das ist mehr als Tro¨stung: Es ist Leben in stoischer Ruhe. Dieses Programm gilt es nun zu er-fu¨llen.
54 Leisner, W., Der Tod im Staatsrecht, Sterben in der Demokratie. Befehl, ¨ berwindung. 2016, hat hier einen ersten systeErlaubnis, Vermeidung, Folgen, U matischen Versuch unternommen: In Richtung auf eine „Staatsrechtliche Todesordnung“.
¨ berzeugungen C. Stoische (Grund-)U und Demokratische (Grund-)Entscheidungen: Beru¨hrungen – Spannungen – Gegensa¨tze I. Individualismus 1. Freiheit in Eigenentscheidung: Individualismus in Ruhe a) Freiheit – dieser demokratische Kernbegriff erscheint nicht als eine zentrale Kategorie stoischen Denkens; in ihr ist eher ein „Endzustand“ als ein „Anspruch“ zu sehen als Ausgangspunkt einer Lebens- und Staatsordnung: In einem (Ko¨nig-)Reich sind wir geboren; Freiheit, das ist: (einem) Gott gehorchen. Dies aber bedeutet: Sich selbst Herr sein, in einem Zustand unbeweglicher Ruhe, die eben den Menschen zu „seinem Gott“ werden la¨sst. Nur einen Gehorsam gibt es: gegenu¨ber der Eigenentscheidung55. Kontakte, Freundschaften – all dies ist mo¨glich, aber nicht scha¨dlich. Es ist dies jedoch eine Welt fu¨r „Gute“, nicht fu¨r „Schlechte“ – Schwache: Diese (ver)fehlen (den Weg); „peccant“, ihnen fehlt der Schiedsrichter, sie sind dann auf sich selbst gestellt56. „Mit anderen“ – das bedeutet fu¨r sie Zwang zur Unruhe. In die Bewegung zwischen Teilen – Geteiltem gera¨t darin das Individuum, das doch wesentlich „Unteilbare“. Fremdes darf man also nicht in sich aufnehmen, in diesen menschlichen Entscheidungssituationen, Eigenentscheidungen mo¨gen einfach-bescheidenes, in sich begrenztes Leben bedeuten, auf Bereicherung in Kritikresistenz verzichten lassen57. Diese Genu¨gsamkeit na¨hert sich kynischen Idealen, definiert stoische Ruhe, ra¨t darin sogar zu einer Staatsferne58.
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De vita beata 15/16. Ep. 10: sibi relicti. Ep. 123: spernere iudicia et voces alienas. Ep. 58.
¨ berzeugungen C. Stoische (Grund-)U
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Grundsa¨tzlicher ist Individualismus fu¨r „den Einzelmenschen“ wohl nie gefordert worden, hinu¨berwirkend in alle Gemeinschaft, in die Staatlichkeit, bis hinauf in einen „human(istisch)en Deismus“. b) Auf einen ersten Blick scheinen staatsrechtliche Aufgabenstellungen, staatliche Grundentscheidungen fu¨r Freiheit in eine ganz andere Richtung zu weisen, gerade in der Demokratie des Grundgesetzes. Hier wird ja Gemeinschaftsleben geordnet, nicht menschliches Innenleben; der freie Mensch greift hinaus, dreht sich nicht nur im Innenraum eines stillen Ka¨mmerleins um „sein“ Denken. Freiheit zu etwas wird prima¨r geschu¨tzt, zu(r) (Verwirklichung von) Verfassungswerten59, nicht (vor allem) von etwas; Freedom from Fear ist demokratische Politik, allenfalls ein Anfang von (amerikanischem) Staatsrecht, das sich aber erst und prima¨r entfaltet hat im freien Zugriff auf die Gu¨ter dieser Welt. Es ist dies eine „Welt von Gu¨tern“ des unternehmenden Menschen, nicht des ruhigen weisen Beraters eines Kaisers, der „das Reich“ regiert, die große staatsrechtliche Ordnung in Ruhe. Sind all dies nicht Entfernungen zwischen den Gegensta¨nden dieser Betrachtungen? Zeigt die sozialstaatliche Demokratie60 des „gemeinschaftsgebundenen“ animal sociale u¨berhaupt grundsa¨tzliche Gemeinsamkeiten mit einem solchen Individualismus, der Vielen als nichts anderes erscheinen mag denn als „Radikal-Individualismus“ – wenn nicht geradezu als verfassungswidriger Egoismus? Doch darin ist weit mehr grundgesetzliche Demokratie als es kollektivistisches Denken wahrhaben mag. In den Grundentscheidungen der Volksherrschaft liegt gerade dieses stoische Gedankengut. Wenige Hinweise genu¨gen: Wu¨rde61 zeigt sich nur in Entscheidungen, in denen der Tra¨ger in sich ruht, die letztlich aus ihm selbst kommen; Menschenwu¨rde als „Staatsgrundlage“ kann lediglich solches gestalten, als verbindlich anerkennen. Der Verfassungs-Hauptteil der Grund-Rechte sieht sie vor allem als Abwehr, als Schutz einer „Haltung in Freiheit“, nicht als „Anspru¨che auf Gu¨ter“. Das gesamte Staatsorganisationsrecht baut auf den Prinzipien einer 59
Vgl. zu den Verfassungswerten des Grundgesetzes Fn. 5. ¨ berblick bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Vgl. den U GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 99, der allerdings in deren Gehalten zutreffend auch den Schutz des Individuums sieht und betont. 61 Vgl. zum Wu¨rdebegriff Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 1 ff. m. Nachw. 60
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Verantwortung auf, die nicht in „fremde Positionen flieht“, sondern eigene aufbaut, verteidigt: Gehorsam ist hier aus „Fremdbestimmung zu Eigenu¨berzeugung geworden“; u¨bernimmt er za¨hneknirschend nur „aliena“, so hat der „Volks-Vertreter“, der „Staats-Diener“ nicht nur seine eigene Freiheit verloren, er hat sie seinem Staat genommen. In diesem Sinn war der „Beamte“62 eine wahrhaft stoische Figur. Was sich von seiner „Mentalita¨t“ (noch) erha¨lt, ist ein ganz ferner, aber ein wahrer Abglanz des Stoizismus. Der demokratische Richterstaat63 will ihn sich in der Unabha¨ngigkeit seiner Urteiler64 erhalten. Alles was wirkt in solchen Richtungen ist bleibende stoische Staatlichkeit.
2. Menschliche Perso¨nlichkeit – Eigenentscheidung nach Gewissen a) Fu¨r die Stoa ist Aufgabe und Pflicht im Leben eine laufende Selbsterkenntnis in Ruhe; sie beginnt nicht in Gescha¨ftigkeit65 immer wieder ein neues Leben, fu¨hrt ein solches nicht unter sta¨ndigem Ortswechsel66. Sie erfu¨llt sich in Selbstbewusstwerdung, diesem scho¨nen Wortsinn der „ConScientia“67, in einem „Erkenntnisstreben mit/in/von sich selbst. Sie erfolgt „im Gewissen“ als „Gewissenserforschung“68. Darin glaubt der Mensch nicht(s), er be/verurteilt69 nicht irgendwelche Meinungen, u¨berhaupt nichts „Fremdes“ – immer nur sich selbst. Sein Leben la¨uft aber in ¨ berzeugung(ssuche) ab, nicht in „Meinen“ und „Glauben“. U
62 Zur Beamtenmentalita¨t Leisner, W., Beamtentum, Hg. v. Isensee, J., 1995, u. a. S. 112 ff., 131. 63 Klassisch bereits die Analyse von Lambert, E., Le Gouvernement des Juges, 1936. 64 Leisner, W., Das Letzte Wort. Der Richter spa¨te Gewalt, 2003, insb. S. 179 ff. 65 Zu den Grundregeln der „Erledigung von Gescha¨ften“ vgl. De providentia. 66 Ep. 28. Es gilt eben „Locum non animum mutant qui trans mare currunt“. 67 Ep. 23. 68 De vita beata 2. 69 Zu einem „non malle credere quam iudicare“, De vita beata 1.
¨ berzeugungen C. Stoische (Grund-)U
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b) Ein solches Gewissen kennt das Grundgesetz, es sieht den Menschen in dessen Kraftfeldern70, in seinen wichtigsten Entscheidungen in Freiheit, in seinem privaten Leben (Perso¨nlichkeitsrecht, Art. 4 GG) wie in seinem ¨ berzeugungen definiert72. Staat71. „Meinungen“ werden allerdings in/aus U Meinungsfreiheit ist notwendiges Instrument dieser Demokratie, nicht aber ihr Wesen und Ziel: Sie liegen in einem in Meinungskampf sich bildenden u¨berzeugten Verhalten des Menschen, Ziel ist die freie Gewissensentscheidung (Art. 4 GG), nicht die „Freiheit des Gewissens“. Dies verlangt einen weit ho¨heren Stellenwert fu¨r eine Perso¨nlichkeit des Menschen und sein Gewissen in Selbsterkenntnis, fu¨r eine wahre Gewissenserforschung. Demokratie soll wirklich Fremdbestimmung verdra¨ngen, vor allem dort, wo sie am tiefsten, am gefa¨hrlichsten wirken ko¨nnte: in der Allmacht eines Bildungsstaates. Seneca kennt ihn nur in „Selbststudien“, die auch dem Staat nu¨tzen werden73. Bildungsgescha¨ftigkeit gegenwa¨rtiger Volks-Staatlichkeit ist ihm fremdbestimmende Sto¨rung des Denkenden, des Sapiens; dieser ist allerdings nicht als solcher schon ein abgehobenes Wesen, lebt er doch sta¨ndig „in Bemu¨hen“74, aber eben in einem „Eigen-Streben“. Eines ist also stoische Mahnung an das demokratische Staatsrecht: Anerkennung einer Perso¨nlichkeit in Gewissensethik!
3. Leben nach Gesetzen der eigenen Natur a) Ein Individualismus in Freiheit, der nicht ausgerichtet ist auf eine transzendente Welt, kann eine Ordnungsinstanz, er wird seinen „Gesetzgeber“ nur in sich selbst finden, im Menschen als seinem eigenen Befehlshaber. Dies ist dann jene stoische Freiheit, die einem, die „ihrem“ Gott gehorcht – sich selbst. Diese Natur ist mehr Ordnungs-Welt als OrdnungsInstanz. Insbesondere ist alles Schwere, Schwierige im Leben „Naturgesetz“; der Denkende weiß, dass alle Schwierigkeiten der Zeiten „Natur-
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Leisner, Perso¨nlichkeit, Fn. 17. Art. 38 GG – in einer Wahl als „politischer Gewissensentscheidung“. 72 Zum Markt der Meinungen (Art. 5 GG); BVerfGE 124, 300 (320). 73 Grundthese von De otio sapientis. 74 Zum sta¨ndigen „studierenden“ Selbst-Bemu¨hen des Menschen s. De vita beata 20. 71
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gesetz(e) sind“75. Dagegen lehnt er sich nicht auf, wu¨rde ihn dies doch in seiner Ruhe sto¨ren. Er wird also „naturgema¨ß leben“, aber nicht nach Geboten einer Natur, die ihm a¨ußere Grenzen setzt, sondern nach seiner Natur76. Diese Natur „fliegt zum Guten“; alles Gute im, fu¨r den Menschen liegt in ihr. Aber nicht alles ist „gut“, was ihr entspricht, „irgendwie“ aus ihr kommt, nicht all dies ist „wertvoll“ fu¨r den Menschen, denn sein „Gutes“ kann ihn nur erreichen u¨ber seine Vernunft. Sie aber befiehlt ihm, nichts „A¨ußeres“ zu suchen, zu erstreben77. „Seine Natur“ als „seine Gesetzgeberin“ findet der Mensch also allein in sich, in seinem Denken – und Verhalten – in Ethik: Dies ist seine Unerschu¨tterlichkeit, die Constantia sapientis: Freiheit nur nach, aus dieser Natur, der eigenen, humanen. b) Das Staatsrecht des Grundgesetzes kennt einen solchen „festen Standpunkt“ in der Anthropozentrik seiner „wu¨rde-vollen“, selbstwertigen menschlichen Freiheit. Doch es vermag dies als sein Ordnungskonzept nicht voll durchzuhalten, fla¨chendeckend zu verfolgen: Die menschenumgebende Wirklichkeit will die Verfassung ja ordnen, sie in ihren Normen anerkennen, rezipieren, ja sie abbilden78, optimal – soweit es eben ihre Anthropozentrik zula¨sst. Im Umweltrecht wird dies zur „Problemfront“: Hier steht immer deutlicher rechtlich eine „Eigengesetzlichkeit der Natur“ grenzziehend einer Anthropozentrik gegenu¨ber. Dies kommt vor allen o¨konomisch begru¨ndeten Nu¨tzlichkeitsvorstellungen, wie es dem Wesen der marktwirtschaftlichen Demokratie eben entspricht. In Wirtschaftsethik79 ko¨nnte diese Staatlichkeit eine Na¨he zu stoischem Denken finden. Doch wie sollte sie den Eingang erreichen in den demokratischen Staat der Vergnu¨gungen, in sein Colosseum? Kirchentage als Events – das ist la¨ngst Vergangenheit. Flu¨chtlingshilfe ist zwar nicht „Vergnu¨gen“, wohl aber findet sie Befriedigung zuna¨chst einmal „extra se“, unstoisch „außerhalb von sich“. Ist Demokratie nicht doch „Innenwelt nach Außenwelt“, Stoizismus dagegen Umkehr eines solchen Lebensversta¨ndnisses?
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De vita beata 15. De vita beata 3. 77 Ep. 124. 78 Staatsrechtliche „Abbildungslehren der Wirklichkeit“ greifen hier aus, ge¨ berzeugungen. messen an stoischen U 79 Zur Wirtschaftsverfassung des GG vgl. Leisner, W., Der Fo¨rderstaat. Grundlagen eines marktkonformen Subventionsrechts, 2010, S. 40 f.; ders., Prognose, Fn. 1, Anm., 83. 76
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4. „Ernstes Staatsrecht“ a) Stoisches Denken ist immer und u¨berall, allgemein in Philosophiegeschichte und Ethik, praktisch in seinem pa¨dagogischen Wirken, in besonderer Weise gesehen und „vor-gestellt“ worden als ein Aufruf, dem „Ernst des Lebens“ zu folgen in ernstem Einzelleben des Individuums. Spielerische Pa¨dagogik ist dazu ein Gegen-Wort; „Spiel“ findet sich nicht bei Seneca. Sport darf nicht u¨berscha¨tzt werden80, betrifft er doch eine Ko¨rperlichkeit, welche menschliches Schwergepa¨ck bedeutet, die „Seele“ verdeckt81, ihre Unerschu¨tterlichkeit82 gefa¨hrdet. Das Severum, der Ernst, ist stoischer Schlu¨sselbegriff gerade als eine Strenge83; „Ernste Orte“ (loca seria) sind Heiligtu¨mer (sancta) fu¨r dieses Denken84. Ernst spricht (sich aus) in Schweigen an diesen heiligen Stellen85. Vertrauen bedeutet Ernst, bis in Grenzenlosigkeit86. Eine Kultur des Todes ist Mittelpunkt des ¨ bel, sondern deren Ende87, nicht Stoizismus: Er ist nicht das Gro¨ßte der U 88 zu fu¨rchten , sondern stets zu be-denken im Leben, dort schon vorwegzunehmen89. Exi! Tritt ab – aber von einer Bu¨hne des Dramas, nicht der Komo¨die. Freude (laetitia) mag ein ruhiger Besitz „dem Leben hinzufu¨gen“, er hat darin allein „einen gewissen Wert“; doch dies bleibt „indifferent“, eine Marginalie fu¨r Mensch und Staat90. b) So sollte „eigentlich“ auch der Staat des Grundgesetzes vorgestellt werden in einer Wu¨rde des Staates (Partsch), die aus der Menschenwu¨rde erwa¨chst, diese nicht nur schu¨tzt, sondern wider-spiegelt, darin „ist“. Doch dies ist vielleicht letztlich doch nur ein Relikt aristokratisch-monarchischen Denkens. In seiner Monumentalita¨t91 gera¨t der Staat heute grundsa¨tzlich in Gefahr, vor allem in vielen a¨ußeren Zeichen, von den „Staatsbauten“ bis zu 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Ep. 14. Ep. 27. De vita beata 27; De providentia 5; De constantia sapientis, passim. Ep. 23. Ep. 52. De vita beata 26. Ep. 3. Ep. 4. Ep. 24. Ep. 25. De vita beata 22. Partsch, K.-J., Die Wu¨rde des Staates, 1967.
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Uniformen und Titeln. Wu¨rde, einst auch in Staats-Ernst: Was ist davon geblieben? Eine Welt der Sport-Events in Spielen, der medialen Unterhaltung. Ist dies, soll dort noch etwas lebendig sein vom stoischen Ernst? Noch immer begegnet manches von ihm in der gegenwa¨rtigen Verfassungswelt; in ihr wird weiter u¨berall gedient, es muss gedient werden, schon zum Gewinn in einer Marktwirtschaft; er wird (noch) bereitwillig geteilt, mehr: er muss geteilt werden im Ernst einer Sozial-, etwa einer Flu¨chtlingshilfe. Dass all dies „Verhalten (auch) Spaß machen soll“, reicht noch immer nicht zu „Wohlta¨tigkeit als Fun“, zu einem „Helfen als Event“. Einem Sozialismus, in welchen Formen immer, durfte noch nie der Vorwurf spielerischer Fro¨hlichkeit, organisatorischer Leicht(fert)igkeit gemacht werden. Dem Kommunismus begegnen heute bereits Viele, @ und wohl spa¨ter auch die Geschichte – mit einem „Bonjour, Tristesse“. Doch nicht nur solches gesellschaftliches Leben im Staat, auch gegenwa¨rtige Staatlichkeit als solche verliert sich zunehmend in immer weiteren Fernen zu stoischen Idealen, in einer Anspannung der Sportswelt und ihrer Fo¨rderung, in der Entspannung einer unter-haltenden staatsgeschu¨tzten Medienwelt. Eine demokratische Politik soll nicht nur den blutigen Ernst eines Robespierre ablegen, von Hetze zur Mahnung u¨bergehen; in Divertimenti muss sie gespielt werden, auf parlamentarischen Diskussions- und Rednerbu¨hnen, mo¨glichst u¨berall. „Allzu ernst“ wird dies in einer Demokratie nicht mehr genommen, welche doch ihre sta¨ndige Kritik bereitha¨lt, ihre Opposition, ihre Freiheit der Meinung; sie muss ja nicht von „Ernst“ gepra¨gt sein, sollte sie auch immerhin noch eine „ernsthafte“ sein92. Und von einem Sterben, einem Verschwinden ihrer ho¨chstwertigen Menschen will diese Staatsform ohnehin mo¨glichst wenig nur wissen. Ist sie nicht schon – aus allem stoischem Ernst gefallen? Noch immer (und noch la¨ngst) nicht – solange ihre Schulen, elementare und „ho¨here“, noch nicht zu medialen Spiel(wies)en geworden sind; solange Ironie und Humor noch nicht alles pra¨gende „deutsche Vorzu¨ge“ sind, solange noch etwas von Ernst, und sei es in Aufregung, Wut, Beleidigung sich erha¨lt, vielleicht austobt in Parlamenten und Diskussionsrunden; und vor allem, solange Geld und Gut noch nicht allein in Lotto und Spielbanken verdient werden, sondern in der Arbeit der Marktwirtschaft, solange diese sich noch nicht erscho¨pft in medialer Werbung zum 92 Zur „ernsthaften Meinung“ vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 22 m. Nachw.
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Vergnu¨gen. Stoischer Ernst war nie ein Attribut der Wirtschaft, doch ernstes Bemu¨hen hat sie stets getragen. Und ein Sozialist konnte ernst auf sein Grab schreiben: „Man hat sich bemu¨ht“. Demokraten ko¨nnen, sollten es nicht oft genug wiederholen. Individualismus kann es nur geben, wenn der Mensch ernst genommen wird, sich ernst nimmt und seinen Staat. Gibt es diesen Ernst noch (lange) in Demokratie?
5. Staat und Freiheit in Dauer a) Ruhe in Mensch und Staat bedeutet Dauer in Kontinuita¨t, bereits an sich, begriffs-wesentlich. Nach Seneca existieren diese beide Wesen in beruhigtem Denken, beide, das eine aus dem anderen, unerschu¨tterlich in ihrer Standfestigkeit, der „Constantia sapientis“93, welche sie nicht nur durchwirkt, sondern geradezu konstituiert. Einheit der menschlichen Perso¨nlichkeit – Staatseinheit sind darin Schlu¨sselbegriffe fu¨r jedes Staatsrecht; dieses ist auf Kontinuita¨t gegru¨ndet und in Folgerichtigkeit94, wie das menschliche Leben. Kurzfristigkeit ist ihm fremd; ein ta¨gliches „Vixi“ in der grammatischen Ruhe des zusammenfassenden Perfekts95 la¨sst es lange, geradezu endlos dauern96, so wie es die Normgeltung aller Staatlichkeit grundsa¨tzlich fu¨r sich in Anspruch nimmt. Nur in einem Leben aber, das „nichts verschiebt“, alles in Ruhe um-fasst, wird die Zeit „unser“, ein tempus nostrum97, a` l’e´chelle humaine, sie la¨uft nicht dem Menschen wie seinem Staat davon98, von Zufall zu Zufall99. Diese du¨rfen nicht zu menschlichen oder gar zu staatlichen Unglu¨cksfa¨llen werden, die Virtus ha¨rtet sie gegen das Unglu¨ck100. Nicht in einer Gescha¨ftigkeit sollte sie sich verlieren, dem wesentlich Un-Dauernden. Dagegen schu¨tzen die stoischen Regeln eines non nimis, ne ultra101. Dauer liegt in nachdenklichem 93
In der „Constantia sapientis“. Ep. 120. 95 Ep. 12. 96 Das ist die Botschaft von „De brevitate vitae“. 97 Ep. 1. 98 Ep. 49. 99 De vita beata 4. 100 De vita beata 26. 101 De tranquillitate animi 4 ff. 94
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Schweigen102, in einer Muße, die ganz wesentlich angelegt ist auf Dauer103, nicht in einem Vergnu¨gen, das „ver-geht“104. Ein Weg nicht zu, sondern in solcher Dauer ist nicht zuletzt der Besitz105, der nicht ein allzu großer oder kleiner sein soll106, weil sonst aus ihm gerade Unterbrechungen der Dauer drohen – in Unruhe. b) Diese Philosophemata erscheinen – die soeben hervorgehobenen Begriffe zeigen es – geradezu als Einzel-Kapitel einer Allgemeinen Staats-, ja einer Verfassungslehre des Grundgesetzes. Hier kommt auch die integrierende Gesamtbedeutung eines Begriffes der Dauer, gerade fu¨r die grundgesetzliche Ordnung zum Ausdruck. Ihre so zahlreichen Vera¨nderungen seit 1949107 zeigen immerhin ein deutliches Schwergewicht in staatsorganisatorisch-rechtstechnischen Bereichen, in einer dort begegnenden A¨nderungsintensita¨t. In den Grundrechten und den fundamentalen Konzepten der Gewaltenteilung ist diese Verfassung jener Dauervorstellung gerecht geworden, wie sie im Begriff einer Constitution liegt, in der „Stat Ius“ – „und es bewegt sich (doch!) nicht“, das Menschenbild: ¨ ber große Erschu¨tterungen hinweg konnte es in der grundgesetzlichen U Ordnung ohne tiefere, breitere Risse erhalten werden. Darin allein schon kommt dieser Verfassung Ordnungskraft von staatsphilosophischer Qualita¨t zu, ein „stoischer Gehalt“, der den Zufall auffa¨ngt in „außerordentlichen Haushaltsansa¨tzen“ (Art. 109 a, 110 bis 112, 115 Abs. 2) und im Verteidigungsfall (Art. 115 a ff.). Dass eine allzu „redselige“, normierungsfreudige Verfassungstechnik nicht Ausdruck eines „schweigenden Ernstes“ dieses Volkssouvera¨ns ist, mag noch hingenommen werden, nicht aber eine solidarisierende Umverteilungsbereitschaft, welche die Dauerwirkungen einer Eigentumssicherung (Art. 14 GG) bedroht. Die feste Zeitabschnittsordnung der Wahlperioden wirkt eher stabilisierend als in Diskontinuita¨t. Deren notwendige Er-
102
De vita beata 26. De otio sapientis. 104 De vita beata 7, Ep. 51. 105 De vita beata 21 ff. 106 De tranquillitate animi. 107 ¨ berblick der A¨nderungen des Grundgesetzes in Jarass/Pieroth, GG S. den U 12. Aufl. 2012, Einleitung Rn. 3. 103
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scheinungen im grundgesetzlichen Verfassungsrecht108 heben die grundsa¨tzliche „Kontinuita¨t als Verfassungsgrundsatz des Grundgesetzes“ nicht auf. Dass eine Ordnung in der verfassungsrechtlich festgelegten Marktwirtschaft der Gescha¨ftigkeit seiner Bu¨rger Raum lassen muss, darf nicht zu einem „Staatsaktivismus“109 fu¨hren, der darin Aktivbu¨rgertum integrieren, auf ho¨herer Ebene sogar potenzieren will. Die Rechtsstaatlichkeit der Normenordnung insbesondere ist es, mit ihrem ausgebauten Vertrauensschutz110, in der nicht nur die Verfassung, in der die gesamte Rechtsordnung grundsa¨tzlich auf Dauer angelegt ist. Dies alles ist „Verfassungsstoizismus“. Er sollte sich nicht verlieren in der revolutionsfreudigen staatsromantischen Verfassungsdynamik eines „scha¨umenden Volkswillens“. Hier ist individualethische Perso¨nlichkeitsphilosophie gefordert111, und sie sollte sich in einer Todesordnung einen wu¨rdigen Abgang sichern112 fu¨r den Menschen, der im Leben seinen Staat begleitet hat, in Ruhe, in einer dauernden patriotischen Liebe.
6. Individualismus: gegen Massen-Unruhe der Mehrheit a) Doch die Demokratie war in der Antike keine stoische Staatsform. Dieses Staatsdenken erscheint eher als ein Abgang aus einer solchen, als ihre Auflo¨sung in private Ruhe und o¨ffentliche Gewaltautorita¨t, bis in die Kaiser-Beratung des Seneca. „Herrschaft wechselnder Mehrheit“, nach dem Willen, vielleicht gar in einem „Aufstand der Massen“113, ihrem „Widerstand als Staatsrettung“ (Art. 20 Abs. 4 GG) – all dies la¨sst sich nicht als eine, in einer verfassungsrechtlichen Synthese auflo¨sen, es bezeichnet einen grundlegenden Gegensatz, einen kaum u¨berbru¨ckbaren Abstand zwischen demokratischem und stoischem Denken, jedenfalls auf einen ersten 108
Zur Diskontinuita¨t in den Verfassungen vgl. Leisner, A., Kontinuita¨t als Verfassungsprinzip, 2002, S. 385 ff. 109 Leisner, W., Staatsaktionismus, JZ 2009, S. 873 ff. 110 S. dazu Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 292 ff. 111 Zu einer „Perso¨nlichkeitsphilosophie“ des Staatsrechts s. Leisner, W., Personalismus, Fn. 17. 112 Leisner, W., Der Tod, Fn. 54; fu¨r die Stoa ist dies eben ein Abgang in Ruhe. 113 Ortega y Gasset, J., Der Aufstand der Massen, dt. 1931.
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staatsrechtlichen Betrachtungs-Blick. Nach der Stoa darf der Mensch nicht nach Art der Tiere der vorausgehenden, vorangehenden Masse folgen, „wohin man geht“114, er hat sich zu richten dahin, „wohin zu gehen ist“. Als Bestes darf nicht gelten, was breite Zustimmung findet. Denn das Volk (er-)dru¨ckt sich selbst in seiner Masse, so dass keiner in ihr fallen kann, der nicht einen anderen mitzieht – eine wahrhaft vernichtende bildhafte Kritik der „Herdenmoral“ am Eingang zu einem „glu¨ckseligen Leben“. Die Masse ist zu meiden, als solche ist sie bereits Sto¨rung der Ruhe, als „turba“ geradezu lateinisch-wortbegrifflich115. „Das Volk“ ist Verteidiger seines ei¨ bels“, es ist der schlechteste U ¨ bersetzer der Wahrheit116. Die genen „U Mehrheit ist nicht sanior pars, sondern „eben darin“ „schlechterer Teil“ des Volkes. In ihm ist die Zahl der Bewunderer ebenso groß wie die der Neider. Vergnu¨gungen sind plebejisches Glu¨ck117. b) Senecas stoische Gegenposition ist eindeutig, und sie erscheint bis ins Einzelne geradezu als eine Gebotsliste wider demokratische Praxis, ja demo¨ ffentlichkeit reden, kratische Rechts- und Staatsgrundsa¨tze: Wenig in der O 118 u¨berhaupt nur zu Wenigen sprechen ! Der Demokrat dagegen ist der ¨ ffentliche Mensch“, er will zu mo¨glichst Vielen stets reden. Maximal soll „O seine Vernetzung ihn im Kreis seiner Freunde, jedenfalls seiner Partner bestimmen – mo¨glichst eng soll dieser Kreis des Stoikers119 sein. Er kennt keine gescha¨ftige Begehrlichkeit120 @ der Demokrat tra¨gt die seine in seinen Staat, aus „seiner Wirtschaft“ bis in die Staatsspitze, als ein Optimum demokratischen Fu¨hrens, in Machtstreben. Die Stoa weicht den Unsicherheiten eines Glaubens aus, sie will beurteilen (ko¨nnen) 121. Demokratie nimmt unsichere Meinungen auf, als einen Weg zur Wahrheit (Art. 5 GG). Ihr Strafrecht setzt sie ein zu einer mo¨glichst raschen „Ru¨ckIntegration des Ta¨ters“ in eine Mitte ihrer Masse, in deren Lebensgewohnheiten. Das Sozialstrafrecht dient immer weniger zu ethischer Bes114
Sie zeigt: Non qua eundum est, sed qua itur, De vita beata 1. Ep. 7, 56. 116 Jenes Volkes, das ohnehin der „schlechteste Interpret der Wahrheit ist“, De vita beata 2. 117 Ep. 39. 118 Ep. 27. 119 De tranquillitate animi 7. 120 De tranquillitate animi 11 ff. 121 De vita beata 1. 115
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serung, wie sie aber dem Stoiker am Herzen liegt122. Ihn beherrscht Besitz nicht, er fu¨hrt ihn in geistige Ho¨hen – den Demokraten dagegen in die „vulga¨ren“ Niederungen der Stadien, der Vergnu¨gungssucht123. Jener bleibt allein in der Muße seiner Studien124. Der Tod allerdings erreicht auch den Demokraten stets nur in einer stoischen Einsamkeit – deshalb schaut auch demokratisches Staatsrecht so leicht „weg vom Sterben“125. – Jeder stirbt allein… Solche Fernen lassen sich in der Tat nicht u¨berbru¨cken, und auch gewiss nicht durch den Willen eines Allma¨chtigen Staates. Zu einer gewissen Verbindung derart gegensa¨tzlicher Positionen kann der Stoizismus allenfalls eines beitragen, in staatsrechtlicher Bescheidenheit: Eine Kraft der Ma¨ßigung126, wirkt dann aus einem moralischen Wesen des Einzelmenschen heraus, in den Staat hinein; in einer Milde, die sie als Staats-Tugend zeigen muss127, ist sie vor allem „Pflicht in Ruhe“ des Staatslenkers – nun auch des Volkes als seines eigenen Fu¨hrers? „Hier stock’ ich schon …“. Seneca musste sterben durch Staatsfu¨hrer-Willen, Sokrates durch den des selbst sich fu¨hrenden Volkes…
7. Mensch, Staat – Freiheit in „Haltung“, nicht als Anspruchsgrundlage a) Das Ergebnis dieser Betrachtungen zu „Mensch und Staat“ als „Einzelwesen“ – denn auch der „Staat“ kann nur als ein solches rechtlich vorgestellt werden – la¨sst sich aus der Sicht des stoischen Individualismus wie folgt na¨her mehr beschreiben als definieren: „Die Freiheit“ gibt es hier – anders als in der Demokratie128 – „als solche“, als einen „Gesamtzustand“, nicht nur in einzelnen Auspra¨gungen oder Schutzbereichen, wie das demokratische Staatsrecht sie auffasst und schu¨tzen will. Sie liegt in einer einheitlichen Ruhe, nicht in einem „Recht auf freie Entfaltung“, welches Art. 2 Abs. 1 GG aber nicht zu definieren vermag, es sei denn u¨ber 122 123 124 125 126 127 128
De clementia 1. Teil. De vita beata 26. De otio sapientis. Leisner, Der Tod im Staatsrecht, Fn. 54. De vita beata 25. De clementia a. A. Vgl. Leisner, Personalismus, Fn. 17.
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„Grenzen“ ganz unterschiedlicher Art, Normstufenqualita¨t, Schutzwirkungen. „Die Freiheit“ – das ist vielleicht ein Wortgebrauch aus der Begrifflichkeit der Integrationslehre129, obwohl auch diese sie eben sieht als ein Instrument zur Herstellung eines menschlichen, staatlichen Zustandes, der aber als solcher nicht rechtlich na¨her bestimmt werden kann. Fu¨r den Stoizismus bedeutet sein Individualismus Freiheit als ein zustandsma¨ßiges „Es ist erreicht!“ – diese Lage ist wenigstens absehbar, voraussehbar130 als Bewusstseinslage einer Zeit. Sie ist bereits ein staatsrechtlicher Begriff. Aus ihr heraus wird die Gemeinschaft der Individuen geordnet, „die Ruhe, die Tranquillitas animi – et corporis“131. Sie wird, wie bereits erwa¨hnt, nicht bestimmt als „Freiheit zu“ – was gar nicht mo¨glich wa¨re, angesichts der Unendlichkeit der „externen“, der in dieser gar nicht erfassbaren Welt. Sie kann nur als rechtlicher Beziehungs-Fixpunkt gesehen werden, im Sinn einer „Freiheit von“, dogmatisch: als ein Schutzbereich, aus dessen Wesen heraus, nicht als eine Anspruchsgrundlage in ihren Grenzen. b) Darin liegt ein fundamentaler Unterschied im Grundansatz zwischen „stoischem“ und „demokratischem“ Denken. Dieses letztere findet sein begriffliches Zentrum, seinen staatsrechtlichen Mittelpunkt in jener „freien Wahl“ – obwohl dies in Art. 38 GG noch nicht einmal redaktionell in den Rang von staatsrechtlichen Grundentscheidungen erhoben worden ist. Demokratie stellt ihre Freiheit wesentlich vor als Erlaubnis, als Anreiz zu, als Schutz eines wa¨hlenden Zugreifens auf Objekte eines menschlichen Handelns. Aus dessen Gegensta¨nden mehr noch: aus dessen Dynamik heraus wird hier allein rechtlich geordnet, exemplarisch im staatsrechtlichen Wahlrecht. Fu¨r dieses ist der indiviual-menschliche Zustand, in dem es ausgeu¨bt wird, nur eine eher a¨ußerliche Facette: durch Wahlfreiheit132 und Wahlgeheimnis wird eine Entscheidungsruhe nur punktuell abgesichert gegen ganz bestimmte, „augenblickliche“ Bedrohungen, nicht „konstitutiv-rundum“ bestimmt in einer „Ruhe des Wa¨hlenden“: Er soll ja, in zeitlich konzentrierter Wahlwerbung wie in zu verfolgendem Meinungskampf (Art. 5 GG), dauernd „heilsamer Unruhe“ ausgesetzt werden, diese als Aktivbu¨rger sta¨ndig sogar selbst hervorbringen. 129
Leisner, Institutionelle Evolution, Fn. 3, S. 31 f. Leisner, Prognose, Fn. 25, S. 19 ff., 44 ff. 131 Ep. 14, 102. 132 Achterberg, N./Schulte, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 138 Rn. 124 ff., 151 ff. 130
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Doch ein Bru¨ckeneinsturz oder gar -abriss wa¨re nicht die staatsphilosophische Antwort, welche das Problem dieser Betrachtungen wesentlich verdient: diese mu¨ssen sich, gerade als mo¨glicher philosophischer Grundsatzbeitrag zu einem Staatsversta¨ndnis, der hegelianischen Problematik stellen: Ist hier nur Antithese, befruchtet Stoizismus nur als eine solche das Staatsrecht – oder gibt es etwas wie Beru¨hrungen, Anfa¨nge einer Synthese133. Deshalb muss die Betrachtung weiterfu¨hren, hinein in das, was der Masse, der Mehrheit, dem Volk weit na¨her liegt – in „den Zorn“, die scha¨umende Bewegung in demokratischer Dynamik.
II. Erregung, Bewegung, Dynamik – oder Ruhe, in Mensch und Staat? 1. (Gemu¨ts-)Bewegung und staatsrechtliche Dynamik der Demokratie: ¨ ber den Zorn“ (De ira) Senecas „U a) Seneca hat eine seiner bedeutendsten Schriften, De ira, dem „Zorn“, der „Erregung“ gewidmet. Es ist dies gewissermaßen fu¨r ihn Prototyp fassbarer Gefu¨hlsbewegung, dessen, was in seiner Dynamik Unruhe hervorruft – erst recht auch in der Welt des Staates, die doch stoische Ruhe ausstrahlen soll. Das „Gefu¨hl“, welches hier Bewegungs-Causa ist, tieferer Grund, wenn nicht geradezu Wesen menschlichen wie staatlichen Handelns, Verhaltens – es hat nun zwar als solches kaum begrifflich Eingang gefunden in die staatsrechtliche Dogmatik. Allenfalls im „Staatsgefu¨hl“ mochte es dort gelegentlich begegnen, in einer Unbestimmbarkeit des Patriotismus, in, zu dem es sich kollektiv steigern konnte. Nicht aber konnte es als etwas gesehen werden, das aus dem Individualismus einer menschlichen Perso¨nlichkeit erwa¨chst, oder gar aus deren Anspruchs- und Schutzrechten. Immerhin ist das demokratische Gemeinwesen eines solchen „Zornes“ in noch ganz anderer, organisierter, bewegender Wallung fa¨hig als der Einzelmensch; Erregung ist dort also weit mehr ordnungsbedu¨rftig in Kanalisierung als im Bereich der Einzelperso¨nlichkeit. Demokratischer Volkszorn ist eine Erscheinung, in welcher der demokratische 133 Vgl. Leisner, W., Antithesentheorie fu¨r eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998, S. 861 ff.
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Staat als solcher hervortritt, er ist geradezu heilig als eine Form der Gemeinschaftsu¨berzeugung, als Staatsgrundlage, unerbittlich mit der ganzen Entru¨stung einer „wehrhaften Demokratie“. Heilig ist dies in ihr bereits in der Ernsthaftigkeit einer politischen Kritik, die sich zu „Heiligem Zorn“ ¨ berzeugung von der Gu¨te der Formen und Aufgaben eines „wahren einer U Staates“ steigern mag, der Demokratie als bester aller mo¨glichen Staatsformen. b) Diese Gemu¨tsbewegung des „Zornes“ in einem weiteren Sinn ist gewichtige, wenn nicht geradezu „die Bewegungs-, darin eine staatsrechtliche Handlungs-, ja Legitimationskraft der Demokratie“. In ihr wirkt sie in jener Dynamik, welche ihr eigen ist, in der sie von jeher eingesetzt worden ist, in ihrer marktwirtschaftlichen Flexibilita¨t, ihrer Anwendungsbereitschaft von Fru¨herem, ihrer Reformoffenheit fu¨r das staatsrechtlich „Bessere“, welches Entwicklungen der Realita¨t umsetzt. Eine Intensita¨t des Wollens kommt hier zum Ausdruck, in der Begeisterungsfa¨higkeit des „politischen Menschen“ in der Volksherrschaft, in einer quasi-allma¨chtigen Unerbittlichkeit ihres Staatswillens als „Recht“, als das „Richtige“ in Mensch und Staat. c) Dieser „Zorn“ aber ist geradezu der Gegenpol, wenn nicht der politische Todfeind eines Stoizismus. Wie soll er, und sei es mit einem „Blick zuru¨ck im Zorn“, sich na¨hern jener Ruhe, in welcher die Stoa sich sieht, in einer menschlichen, ja staatlichen Unbewegtheit, Unbeweglichkeit? Wie soll in diesem Gemu¨tszustand „Haltung angenommen“ und „aufrechterhalten“ werden? Tiefgru¨ndige Antithesen brechen hier auf zwischen Volksherrschaft und der Staatsphilosophie der Stoa. Ko¨nnen sie sich befruchten, erga¨nzen, in einer „Bewegung in Ruhe“, einer sich in sich drehenden dynamischen Staatsbewegtheit, die darin, zu sich und in sich, stets den Einzelnen „mitnimmt“, bei sich ha¨lt, ja (allein) aus seiner Ruhe Kraft zu scho¨pfen vermag? Stoische Ruhe als Spiegel- weil Gegenbild der Demokratie, als ihre Erlo¨sung aus dem Zorn von Menschen und Staat – das erscheint daher geradezu als ein notwendiges Einleitungskapitel zur Behandlung jener einzelnen A¨ußerungsformen von Mensch und Staat, wie sie sodann in der Fortsetzung dieses Kapitels (unten III. ff.) Untersuchungsgegensta¨nde sind. Gerade hier bereits muss die tiefe „Antithese Volksherrschaft – Menschliche Ruhe“ suchen nach Synthesen in einem ma¨ßigenden Zusammenfu¨hren, zu einer Verbindung, aus der dann etwas geboren werden kann wie der sich ruhig in sich bewegende Staat.
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2. Bewegung in „Zorn“: Begierde, Gewalt – Streben a) „Wer immer strebend sich bemu¨ht, den werden wir belohnen“ – den Menschen, den Staatsmann, der „sich bemu¨ht hat“. So kann Stoizismus nur denken, wenn dies „in Ruhe abla¨uft“. Er blickt nun wirklich „zuru¨ck im Zorn“ auf die „gesteigerte (Gemu¨ts-)Bewegung“, die nicht nur gelegentlich ausufert, die vielmehr reißend dahinstu¨rmt in Begierden und in Gewalt, in „Rachestu¨rmen“, von Schmerzen ausgelo¨st, von ihnen bestimmt wird134. Dieser Zorn hat „an sich“ seinem Wesen nach, gar keinen „Gegenstand“, als Gemu¨tsbewegung nichts Radikales135. Er ist etwas wie ein kurzfristiger Wahn, ein Anfall geistiger Umnachtung, wie dies bereits seine a¨ußeren Zeichen deutlich werden lassen136. Derartige „Zorn-Bewegungen“ haben wesentlich desintegrative Folgen, in der Perso¨nlichkeit des ¨ berEinzelmenschen wie fu¨r die staatliche Gemeinschaft137. In solcher U zeugung setzt sich sokratisches Denken fort, in Vorstellungen vom Verbrechen als Krankheit: Diese (Zornes-) Bewegung kommt eben nicht aus der „wahren Natur des Menschen“; sie bringt ihm daher auch keinerlei Nutzen, sie ist nicht getragen von oder gar zu rechtfertigen aus einem Nu¨tzlichkeitsdenken heraus. Ein solcher Bewegungsschwung, eine Aufbruchstimmung, hat lediglich negativ zu beurteilende Gru¨nde (i. Folg. 3.), ist daher einfach nur und als solche zuru¨ckzudra¨ngen (i. Folg. 4.). b) Derartige Vorstellungen erwachsen nicht nur aus etwas wie einem u¨bersteigerten philosophisch-ideologischen Vorversta¨ndnis vom Ho¨chstwert einer Ruhe, welche jede Dynamik ausschalten mo¨chte, aus Mensch und Staat. Sie geben Anlass zu einem Nachdenken u¨ber Erregungszusta¨nde allgemein, denn diese letzteren bezeichnet bei Seneca der Begriff des Zornes; und hier tritt die Staatsform der Demokratie in den Blick, in etwas wie einer Staatspsychologie. Ihre fundamentale Rationalita¨t, die einer (aus ihren Wahlen heraus) rechnenden, berechnenden und berechenbaren Staatsform138, darf nicht 134
De ira I, 4. De ira I, 6. 136 De ira I, 4, 5. 137 De ira I, 6, 9. 138 Diese Rationalita¨t ist die notwendige Folge, wenn nicht bereits eine Grundlage einer „in Normen rechnenden“ Rechtsstaatlichkeit. 135
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eine staatsrechtliche Flexibilita¨t begru¨nden, in welcher „Volkswille nicht ab-, sondern u¨berscha¨umt“, um in vielgebrauchten Bildern zu bleiben. Ein „Volkszorn“, der zum „Staatszorn“ wird, Vergangenheitsbewa¨ltigung als Vergangenheitsbeschimpfung – all dies sollte keinen Platz finden in den beruhigenden Schranken einer demokratisch-staatstragenden Gerichtsbarkeit139. „Richtermoral“140, darf nicht „in Empo¨rung ausbrechen“, sie wa¨re dann nicht volksnah, sondern demokratievergessen; Polizei dra¨ngt zuru¨ck, sie schla¨gt sich nicht mit Demonstranten. Gefu¨hlsausbru¨che sollten demokratische Politiker nicht als „volksnah“ empfehlen („Einer von uns“), dem Wa¨hler „Politik mit Herz verkaufen“ – in Wahrheit verlassen sie damit jene ku¨hle Rationalita¨t, ja ein wirtschaftliches Nu¨tzlichkeitsdenken, wie sie der Demokratie als einer Marktwirtschaft der Meinungen eigen sein und bleiben mu¨ssen, sollen hier nicht bereits auch vom Staat erste Schritte gegangen werden auf Wegen unfriedlicher Gewalt. Der Zorn, das Schreckensbild des Stoizismus, ist eben ein schlechter Ratgeber einer Demokratie, dieser gerade in ihrer Vielfalt141 wesentlich „beratbaren Staatsform“142. Das Erste Buch von Senecas De ira ist also nicht einschla¨fernde Lektu¨re, es ist ein Weckruf an Demokraten.
3. Unruhegru¨nde – Meinungsbewegungen, o¨konomische Begehrlichkeiten a) Erregung des Menschen, wie in der von ihm getragenen demokratischen Staatlichkeit, kommen oft, du¨rfen aber nie ausbrechen, aus formalen Gru¨nden, in Reaktionen auf „beleidigendes Verhalten (contumelia)“143. Den denkenden Menschen, den sapiens, kann Derartiges ebenso 139 Alle Sachverhalte sind so zu behandeln, wie wenn man ta¨glich vor einem Richter stehen mu¨sste, De ira III, 36. 140 S. dazu Leisner, W., Das Letzte Wort. Der Richter spa¨te Gewalt, 2003. Die Unabha¨ngigkeit des Richters muss diesen auch vor eigenen Emotionen schu¨tzen (S. 63 ff., 79 ff.). „Machtbewusstsein“ (S. 135 ff.) darf dies nicht verdra¨ngen. Moralisierendes Richtertum (S. 199 ff.) birgt gerade hier Gefahren. 141 ¨ ffentlichen Rechts, Grdl. Leisner-Egensperger, A., Vielfalt – ein Begriff des O 2004, grds. S. 32 ff. 142 Zur Staatsberatung in der Demokratie, vgl. Voßkuhle, HStR3 (Isensee/ Kirchhof, Hg.), Bd. 3, S. 425 ff. 143 De constantia 10 – 13.
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wenig erreichen wie seinen Staat, den man, in seinen Ho¨hen, gar nicht beleidigen kann. Sie stehen u¨ber jedem ra¨chenden Zorn, mit dem sie sich doch nur in die Niederungen der Angreifer bega¨ben. Dort aber, so lehrt es Seneca, im „vulgus“, in der Masse, und schon beim „Kleinen Mann“, aus dem sich diese in Vielzahl zusammensetzt, ist Sensibilita¨t fu¨r, Reaktivita¨t gegen „beleidigendes Verhalten“ verbreitet; eine wesentliche „Beleidigbarkeit“, bringt, aus einem Bewusstsein eigener Unsicherheit, Schwa¨che, Abwehrbereitschaft hervor. Diese Meinungssensibilita¨t der Masse fu¨hrt aus stoischer Sicht zu einem Fehlverhalten gegenu¨ber Meinungen und ihren Fu¨hrerschaften: „Waghalsigkeit“ wird honoriert in ihrem „Wagemut“ (audacia), mit der jemand „Meinungen in die Debatte wirft“, in deren Ring steigt; ruhige Besonnenheit erscheint nicht selten als demokratische Schwa¨che, obwohl doch ein und dasselbe Volk wieder nach Frieden ruft144 @ kurze Bemerkungen von Seneca, aus denen ein Traktat u¨ber Medien und Journalismus entwickelt werden ko¨nnte. So kommt es zu jenem Reden, das u¨ber Gerede aus Kleinstem hinaufwa¨chst zu einer Spitzenmacht und sogar die Frage aufwirft, ob „die Sprache“ dem Menschen nicht zu seinem Unglu¨ck von der Natur gegeben worden ist145. Vor allem aber ist es die Unersetzlichkeit146 einer Gier nach Geld, aus der ein „Herumschreien“ entsteht, ein Grund privaten und o¨ffentlichen Unglu¨cks, so dass am Ende Richter (nur mehr) zu entscheiden haben, wessen Habsucht die gerechtere sein ko¨nnte147. b) Diese Kritik der Gru¨nde unruhiger Bewegung erreicht geradezu die Zentren von Grundentscheidungen und Staatszusta¨nden der Demokratie: Formal ergeht sie sich in „Fluten von Meinungen“148, inhaltlich vor allem in einem wirtschaftlichen Streben, in einem so weiten Sinn (Art. 5 GG), dass sogar ihre Staatsmacht in Ka¨uflichkeitsgefahr gera¨t. Korruptionsa¨ngste begleiten sie wie ein Gespenst: Bevor dies Staatsgrundsa¨tzlichkeit erreicht, mag sie es „verfassungsrechtlich wegnormieren“; in der Praxis dringt es aber immer wieder vor in die Staats-Auktionssa¨le der demokratischen Wahlen 144
De ira III, 41. De ira III, 34. 146 De ira III, 31 f. 147 De ira III, 33. 148 Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) begu¨nstigt aber nicht nur solche Vielfalt (vgl. Leisner-Egensperger, Fn. 141), damit derartige „Gesetzesfluten“ im demokratischen Staat (vgl. Leisner, W., Die Krise des Gesetzes. Die Auflo¨sung des Normenstaates, 2001, insb. S. 123 ff.). 145
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und Wohltaten, in so viele Ra¨ume, in denen „Staatsgu¨te“ sich ausbreitet149. Senecas Welt ist diese demokratische Staatsdynamik der o¨konomisierten Staatlichkeit fremd; dort ist man reich in Machtna¨he, von Kaisers Gnaden – oder arm in Verbannung; in beidem aber bleibt man begu¨tert im Nach-Denken u¨ber Ruhe- und Unruhegru¨nde.
4. Strafrecht(stheorien), Staatliche Strafgewalt a) Seneca lehrt eine ethische Staatsphilosophie, nicht ein Gesinnungsstrafrecht. Einen denkenden Menschen kann Ungerechtigkeit beru¨hren, nicht aber verletzen, beleidigen150. Der sapiens kennt seine Gro¨ße, Ho¨he, er lebt in ihr, verachtet das stolze Gehabe anderer, wird dadurch so wenig beleidigt wie durch ein Kind151. Beleidigung kann es also nicht, daher darf es Rache nicht geben. „Staatsbeleidigung“ ist in einer solchen Vorstellungswelt eine Absurdita¨t. Beleidigung von Staatsorganen, vom Staatsoberhaupt bis zum polizeilichen Ordnungshu¨ter, kann allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Ordnungssto¨rung in besonderer Weise geahndet, gera¨cht, vergolten werden. Ein Vergeltungsstrafrecht hat u¨berhaupt keinen Platz in der Welt der stoischen Philosophie. Die gro¨ßte Strafe fu¨r den Ta¨ter ist es ja – Unrecht getan zu haben152, mag man ihn auch zu solcher Gewissenserforschung, also zum Nach-Denken u¨ber sich und seine Tat, nicht rechtlich zwingen ko¨nnen. Ein Strafrecht gibt es letztlich fu¨r den Stoiker u¨berhaupt nicht, fu¨r ihn sind Ta¨ter allenfalls Ruhesto¨rer, Adressaten, im Grunde geradezu Objekte eines Polizeilichen Ordnungsrecht. Selbst ein Abschreckungsstrafrecht ist abzulehnen, wenn es u¨ber Schaffung und Erhaltung von Ruhe und Ordnung hinausgeht, auf dem Weg u¨ber das Innere des Ta¨ters derartiges bewirken will: Denn solche Strafe mag zwar Furcht hervorrufen. Sie aber erzeugt nur wieder @ Unruhe153. Vor allem aber ist Strafen als solches ethisch fragwu¨rdig, weil im Grunde Heuchelei: „Der Mensch ist allemal 149 Vgl. dazu grds. Leisner, W., Der gu¨tige Staat. Die Macht der Geschenke, 2002, sowie i. Folg. VI. 150 De constantia 1 – 4. 151 De constantia 10 ff. 152 De ira III, 26. 153 De ira III, 6 ff.
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bo¨se“; was jeder von uns am anderen tadelt, wird er in seinem eigenen Busen finden, gute Gru¨nde fu¨r eine Tat wird es immer geben154. Und nicht zuletzt: Strafen kostet so viel kostbare Zeit (und Geld) … b) Gerade dies letztere, aber auch all die anderen stoischen Bedenklichkeiten sind Mahnungen an die Demokratie der Gegenwart, an die Reaktionen ihrer Staatlichkeit auf Verletzungen ihrer Ordnung. Ihr ganzes Staatsschutz-Strafrecht sollte daher auf einen stoischen, gerade damit aber auf einen demokratischen Pru¨fstand gestellt werden155. Indem es den „politischen Ta¨ter“ verfolgt – letztlich eben doch – wird es sich immer wieder in Verfassungsrechtfertigungsversuchen verfangen, in die Gefahr eines Gesinnungsstrafrechts geraten. Seine einzige diskutable Ru¨ckzugslinie ist denn auch, heute bereits, die demokratisch herrschende Grenzziehung zwischen „freiem Denken @ und ka¨mpferischer, gewaltsamer, darin dann zu bestrafender Vertretung im Durchsetzungsbemu¨hen eigener Meinungen“. Im Ansatz ist dies durchaus stoisch gedacht: Der sapiens darf revolutiona¨r ja denken in seiner stillen Studierstube, solange er nicht Steine wirft als Demonstrant. Doch die so erlaubte (auch stoische) Ruhe des staatsumstu¨rzlerischen Nachdenkens und die Gewalt als bewegende Staatserschu¨tterung – sie geraten immer wieder, staatsrechtsbegrifflich, in die Gefahr, sich zu verfangen u¨ber die Problematik des Gewaltbegriffs, des „Aufwiegelns“, „Anreizens“, wie es vom Denken der Menschen notwendig ausgeht. Und Art. 5 Abs. 3 GG – ist dies nicht doch ein Maulkorb fu¨r Wissenschaftler? Diese tiefe stoische Problematik kann nicht umgangen werden auf Wegen in demokratische Gerichtssa¨le. Dass diese „zuviel Zeit kosten“, als Formen ho¨lzerner, mechanistischer Perso¨nlichkeitserforschung am Ende den Staat als solchen, nicht (nur) seine Organe, einer Ironie preisgeben, die rasch in „Staatsverdrossenheit“ umschlagen kann – das alles sind zwar Gefahren fu¨r eine demokratische Staatsform. Sie sollte und kann aber doch wohl in gerichtlichen Ordnungsrufen zu einer – allerletzten @ Beruhigung finden, in juristischem Denken. Ein solches Gelingen ist geradezu verfassungsrechtliche Aufgabe und Verantwortung der Medien, darin sind sie in ihren Be-richten, zusammen mit den Gerichten, etwas wie das „Letzte Aufgebot der Demokratie“; und sie sind es andererseits, welche in ihr alles laufend bewegen, aus seiner Ruhe reißen: Das ist nicht ein stoisches 154 155
De ira III, 27 f. De clementia I.
II. Erregung, Bewegung, Dynamik
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Staatsrechts-Paradox, sondern eine Mahnung an den Gesetzgeber des staatlichen Straf(verfahrens-)Ordnungsrechts: Nicht allzu viel poenalisierend ordnen, nicht allzu viele Richter und Verfahren! Gerade hier muss zwar gehandelt werden – stets aber „zur Ruhe“, „in ihr“.
5. Erziehung, Aufstieg, Wettbewerb – ruhegefa¨hrdende Bewegung a) Von besonderer Bedeutung ist es, in einer stoischen Perspektive, dass Dynamik in Mensch und Staat nicht zur Form einer systematischen Gewohnheit wird, mit Senecas Worten: Der Zorn (ira) darf nicht ausufern in eine generelle Bereitschaft zu derartigen Gefu¨hlsbewegungen, in eine Haltung in Zornmu¨tigkeit, in iracundia. In seiner Ha¨ufigkeit kann ein solcher „Affekt“, gerade in der Ausu¨bung der Staatsgewalt, in Grausamkeit ausarten, welche dann „rasende Wut“ nur zu leicht im Gefolge hat156. Allerdings mo¨gen auch andere Affekte als der Erregungszustand des Zornes zu derartigem fu¨hren, durchaus auch Ku¨hle, ja Ruhe, verstandeskontrollierte Systematik. Besondere Bedeutung gewinnt jedenfalls eine „Erziehung gegen Erregung“; sie muss sich bereits gegen Anfangs-Gru¨nde solcher Unruhe richten, daru¨ber hinaus aber andauernd wirken. Pa¨dagogik ist zwar an sich kein Schwerpunkt stoischen Staatsdenkens, fu¨hren ihre Anstrengungen doch nur zu ha¨ufig u¨ber, ja in eine Fremdbestimmung, welche dem freiheitlichen Individualismus dieses Denkens diametral zuwiderla¨uft. Es soll sich dieses ja auch in einer Selbsterziehung bewa¨hren und erscho¨pfen, die in mo¨glichst tiefer, vollsta¨ndiger Gewissenserforschung erfolgt157. In einer zu systematischer Erziehungsstaatlichkeit gesteigerten Staatsordnung kommt es fast notwendig zu Formen kollektivierender Fremdbestimmung, zusammen mit und durch andere, eine Lage, die aus stoischer Sicht nur zu einer schweren Gefahr fu¨r freiheitlichen Individualismus werden kann. Vielmehr soll eben jene Selbsterziehung in allem und jedem bereits die ersten Regungen einer Erregung beka¨mpfen158. Sie wird also vor allem eine Viel-Gescha¨ftigkeit (Polypragmosyne) zu¨geln, welche diesem Zustand Gelegenheiten und Gru¨nde bietet, sich zuviel vornimmt, aus einer 156 157 158
De ira III, 5. De ira III, 36. De ira II, 18; III, 1 ff., 10.
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Frustration des Nicht-Erreichens heraus erst recht neuen Bewegungsdrang erzeugt, in einer fatalen Spiralwirkung159. Streit vor allem ist zu meiden, wenn es sein muss sogar durch ein Schmeicheln, das Recht zu geben scheint, jedenfalls nichts fu¨r sich allein erreichen will. Denn der Wettstreit (contentio) steigert sich selbst immer weiter hinauf. Leichter ist es, einem Wettkampf fernzubleiben, als aus ihm auszuscheiden, und sei es in Selbstentscheidung160. Nicht der Streit heilt Wunden, sondern eine Zeit, die man vergehen lassen muss, um seine eigene Erregung zu ma¨ßigen. Denn nichts la¨sst sich genau betrachten, was noch im Fluss ist161. b) Einem demokratischen Staatsrecht der Gegenwart mag vieles von dem als harte Gegenposition erscheinen, die es nicht einnehmen kann, auf die es sich nicht einmal zubewegen will. Seine Aufstiegsideologie ist ja nicht die aristokratische Geisteshaltung des arrivierten Kaiserberaters162. Sie will sich selbst belohnt sehen, in ihren erregenden, schwierigen, unruhigen, aber gerade darin dauernden Anstrengungen, durch materielle Werte des Erreichten, nicht in selbstgefa¨lliger Ruhe, die als solche „nichts bringt“. In heilsamer Unruhe muss sie sich bewegen, die in sich selbst bereits Existenzberechtigung findet, in einem „Man hat sich (doch) bemu¨ht“. Die Zeit soll darin doch nicht im Vergehen Wunden heilen, es gilt vielmehr „Nu¨tzet die Zeit!“ als Wahlspruch, gerade weil sie selbst ja vergeht, nichts aber letztlich vergehen la¨sst. Aus dem Wettbewerb will der Stoiker selbst ausscheiden, mo¨glichst bald – fu¨r die Demokratie liegt in der Konkurrenz geradezu ihr innerstes Wesen163, das, was sie am weitesten entfernt ha¨lt von aller Ruhe. Und der Streit vor ihren Gerichten ist der letzte Halt dieser Staatsform, nicht eine Auflo¨sungserscheinung ihrer Ruhe. Deshalb kennt ihre dynamische Beweglichkeit kaum Grenzen. Mo¨glichst alles will sie stets vera¨ndern, wenn no¨tig in zorniger Angestrengtheit: Sachen, Geistesschwa¨chen, ja natu¨rliche Vorga¨nge164, und sei es in deren restaurativer Wiederholung. Immer ist sie auf dem Weg, diese Staatsform des souvera¨nen Volkes, nie angekommen beim ruhigen Menschen. 159
De ira III, 6 f. De ira III, 8. 161 De ira III, 13 f., vgl. Leisner, Die Prognose, Fn. 1. 162 Zum „Aufstieg“ Ep. 75. 163 Vgl. grdl. Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip. Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit und Konkurrenz der Staatsorgane, 2012, insb. S. 14 ff., 101 ff. 164 De ira II, 18. 160
II. Erregung, Bewegung, Dynamik
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Die ruhige Selbstgewissheit dieses Wesens in der Welt eines Seneca wirkt aber doch gerade auf die Volksherrschaft, vielleicht sogar letztlich entscheidend: Diese Ruhe rechtfertigt eine Dynamik, die sie sucht, um sich nicht in reinem Selbstlauf zu verlieren. Sie stellt diese selbst her in „abgelaufenem Wettbewerb“, sie „ist selbst darin noch in actu“, „Dynamik“ tritt in eine „potentia“ zuru¨ck, um es thomistisch-philosophisch auszudru¨cken. Demokratie ist hier wie, in allem, Weg, nicht Ziel – die (stoische) Philosophie aber, entgegen verbreiteter Auffassung, eben doch nicht Wegweiser, sondern Ziellinie. Eines braucht gerade die Volksherrschaft, und sie findet es in der Staatsphilosophie Senecas: Ihre „letzte Ruhe“ in beweglichen Zielen; Dauererregung ist ja in der Tat Geisteskrankheit. Solange Demokratie lebendig ist, u¨berlebt sie immer wieder, rasch allerdings, gerade in ihrer Erregung @ auch die ira des Stoizismus.
6. Der Tod: Ende von Erregung und Bewegung a) Der Tod steht im Mittelpunkt stoischen Denkens, u¨ber den Men¨ bel verstanden, sondern als schen wie u¨ber den Staat, hier wird er nicht als U Ende allen Unglu¨cks, nicht als Unfall, sondern als ein „Aus-Laufen“, ein „Abtreten“165. Es ist ihm ja vor allem eines eigentu¨mlich: Das Ende aller Bewegung bringt er in der Starre der vollen Ruhe. Da der Staat auf ¨ berzeugung von Stoa und Menschen sich gru¨ndet – eine gemeinsame U Demokratie – muss er nach jener Philosophie auch in seinem Sterben betrachtet werden, mit all seiner Dynamik. Auch er steht unter der ganzen Problematik des kurzen menschlichen Lebens – De brevitate vitae im Sinne des Seneca: Seine Zeit wird durch alles verku¨rzt, seine Kra¨fte werden geschwa¨cht durch Staatsaktivita¨ten um Bedeutungsloses, Meinungen und Annahmen (opiniones, praesumtiones), in denen sich gerade jene Dynamik ergeht, die ihren eigenen Untergang normativ in Verfassung wegdefinieren will, ein Ende ihrer Staatlichkeit nicht einmal zu denken vermag. Der rastlose Staat ist gerade darin „dauernd“, ja „ewig“; der Aktivbu¨rger wird noch im Rollstuhl zur Wahl gefahren, er regiert noch von ihm aus – Finanzen und Staat.
165
Ep. 24; na¨her dazu unten VII.
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b) Hier zeigt sich die weite, starke Spannung zwischen einer Demokratie, welche im Grunde „wegschauen will vom Tode“166, eine staatsrechtliche Todeskultur noch kaum kennt – und einem Stoizismus, der das Sterben nicht nur nicht fu¨rchtet, sondern es gewissermaßen, in sta¨ndiger Nachdenklichkeit, bereits in sein Leben hineinnimmt, u¨ber den Tod nicht nur zu Lebzeiten nach-denkt und voraus-, sondern ihn gewissermaßen im Leben bereits vorwegnimmt167. Mo¨nchisch-beschauliche Lebensideale werden hier sichtbar, in einer Demokratie, welche den Vorrang des benediktinischen „Ora“ aufgehen la¨sst in einem rastlosen „Labora“ ihrer berufsta¨tigen Marktwirtschaft. Betende Beschaulichkeit ist eine Mentalita¨t, eben eine „Haltung in Ruhe“, welche die Demokratie allenfalls zulassen, nie aber fo¨rdern kann. Sie widerspricht zutiefst ihrem Wesen erregbarer, sta¨ndig erregter Dynamik. Wo der Lauf das Ziel ist, kann es nur immer neue La¨ufe geben – den sta¨ndigen demokratischen Wettkampf. Eines nur hat er zu bringen, zu sichern: Die dauernde Beweglichkeit einer Staatsform, die sich so in „ewige Dauer“ selbst versetzt, in all ihren Grundentscheidungen. Siegespalmen gibt es hier nicht, nur Entfaltungsra¨ume der Freiheit @ Chancen168. Deshalb gilt fu¨r die Volksherrschaft, trotz all ihrer Hemmungen und Langsamkeiten: „Eppur si muove“, in sta¨ndiger Dynamik: Denn wer sich nicht mehr bewegt, ist schon tot im Leben. Wenn aber eben dies Stoizismus wa¨re…?
III. Staatsferne 1. Staatsferne oder Staatsdienst: Eine Grundsatzfrage a) Fu¨r den Stoizismus eines Seneca stellt sich hier eine schwierige, aber eine Grundsatzfrage fu¨r die Beurteilung seines Denkens als einer „Staatsphilosophie“. Hier treten Mensch und Staat nicht in einer wesentlichen Verbindung auf, wie sie fu¨r die Volksherrschaft ja selbstversta¨ndlich ist: auf ¨ ffentliches Macht-Recht gespielt verschiedenen Bu¨hnen wird vielmehr O 166
Dies ist das Zentralthema von Leisner, W., Der Tod im Staatsrecht, Fn. 54. Ep. 24. 168 In einer demokratischen Chancengleichheit, in welcher sogar die dort so „statische“ Gleichheit ein Ende findet. 167
III. Staatsferne
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und private Freiheit. In Grundsa¨tzlichkeit wird dies behandelt, in einzelnen Richtungen entfaltet; und es ist dieses Verhalten zu denken in einer bedingten Schwebe, nicht als eine Entscheidung, welche der sonst doch so entschlossene Stoiker bietet, die er in Traktaten schwerpunktma¨ßig behandelt wie in Einzela¨ußerungen. Die stoische Muße (otium) vor allem ist es, welche durch Staatsna¨he gefa¨hrdet wird, im Staatsdienst: Von dieser soll man sich also grundsa¨tzlich entfernen, jener sich na¨hern169. Doch einiges kann man aus der Staatsna¨he immerhin „u¨bernehmen“170: Seneca sieht sich als einen jener Stoiker, welche „zum Staat geschickt wurden“, „abgeordnet“ gewissermaßen, die nicht selbst dorthin gegangen sind, sich beworben oder gar sich gedra¨ngt haben. Zur Begru¨ndung dieser Haltung wird sogar der Konsens mit dem Epikureismus gesucht171: Staatlichkeit als vulga¨re Massenbewegung ist grundsa¨tzlich zu fliehen172. Lage und Fa¨higkeiten des Einzelnen sind die jeweils entscheidenden Voraussetzungen einer Lebenswahl in diesem ¨ ffentlichem mag, darf es geben, doch kein Sinne173. Bescha¨ftigung mit O „Leben und Sterben“, kein Aufgehen darin. Bleiben muss stets die Ruhe des Otium, der Ru¨ckzug in seine Abgeschiedenheit174. Denn auch, gerade hier bescha¨ftigt sich ja der Denkende mit seiner Res publica. Schreiben und Lehre, professorales Leben nach fru¨herem, vielleicht schon weithin vergangenem Versta¨ndnis ist auch „Staatsdienst“. – So endet Senecas De otio in dieser scho¨nen Hommage an die große Deutsche Universita¨t. Doch stets sind die menschlichen Grenzen entscheidend: Gesundheit, vor allem aber jene perso¨nliche Autorita¨t, welche der Wissenschaftler im Staat so oft sucht, selten dorthin mitbringt – das sind die Voraussetzungen fu¨r jeden Staatsdienst. „Anketten lassen“ darf sich dort der Staats-Denker nicht175. In kritischer Distanz muss er aus seinem Otium heraus diesem Staat stets gegenu¨berstehen, ihn meiden, wo er verdorben ist176. Dies ist die stoische 169 170 171
necas. 172 173 174 175 176
Ep. 36. De tranquillitate animi 1 ff. Dies klingt a. A. von De otio geradezu wie eine Selbstentschuldigung SeEp. 36. De tranquillitate animi 4 ff. Ep. 174. De tranquillitate animi 4 f. De otio.
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Ruhe gegenu¨ber dem Staat, sie ist nie „in ihm“ – stets zu ihm ein Gegenu¨ber. b) Sind dies alles fu¨r eine Demokratie nicht schwer versta¨ndliche Regeln, problematisch in ihrer Umsetzung? „Der demokratische Politiker“ wird hier ebenso wenig beschrieben oder gar als Ideal zugrunde gelegt wie Staatsrechtslehre als u¨berzeugter Aktivismus in einer religionsnahen Demokratie-Theologie, welche „Verfassungstreue“ (Art. 5 Abs. 3 GG) mit Bu¨cherverbrennungen durchsetzen will, oder gar Staatsfeinden geistige Scheiterhauen errichtet. Etwas wie eine Zweitrangigkeit des Staatlichen ist mehr spu¨r- als erkennbar in dieser Staatsphilosophie, die eine Staatslehre im Sinne der Gegenwart nicht bieten will, noch weniger konkrete staatsrechtliche Vorschla¨ge. In einer Grundstimmung, die an Gleichgu¨ltigkeit grenzt, wird der Staat nicht einmal in dienstlichen Kontakten „so ganz ernst genommen“; eine „moralische Anstalt“ ist er gewiss nicht, vielmehr etwas doch insgesamt eher Indifferentes fu¨r den Denkenden, in dessen Welt. Jedenfalls und vor allem eines ist ihm aufgegeben: den Menschen zu lassen in dessen Ruhe, die dann auch zu der des Staates wird. Die selbstversta¨ndliche Freiheit einer Muße, eines ruhigen Freiseins von Gescha¨ften, hat diese Gewalt zu achten, zu beschu¨tzen, sich nicht in Staatsgescha¨ftigkeiten zu dra¨ngen oder gar in den Patriotismus einer Staatsbegeisterung. Solche Enthusiasmen kennt die Stoa schon grundsa¨tzlich nicht, am wenigsten in einer Staatsdienst-Beflissenheit. Die ruhige Beamtenmentalita¨t177 des Dienens erreicht hier nicht die Ho¨hen einer Staatsmoral. „Ruhe und Staat“, in einem wie im anderen178 @ das ist hier schon zu relativieren. „Der Staat“ mag ein Beruhigungsmittel sein, er ist aber auch, wenn nicht vor allem, ein Sto¨rfaktor, der in Schranken zu halten ist von den Menschen, in der Ruhe von deren auch staatsrechtlicher Geistigkeit. Ein Nachtwa¨chterstaat ist dies nicht, es ist dies grundsa¨tzlich in Liberalismus gedacht, nimmt darin alles auf, was dem Deutschen Staatsrecht aus dieser seiner großen Zeit (noch) geblieben ist. Da ist wahrhaft Staat in Ferne, vielleicht in Unendlichkeit – aber eben auch der Mensch: bedeutend gerade in Staats-Perspektive, in dieser seiner Weitsicht(igkeit).
177
Vgl. dazu Leisner, W., Beamtentum, Schriften zum Beamtenrecht und zur ¨ ffentlichen Dienstrechts, 1968 bis 1991 (Isensee, J., Hg.), 1995, Entwicklung des O S. 112 ff., 131. 178 S. dazu („Staat wie Mensch“), Leisner, Personalismus, Fn. 17, S. 57 f.
III. Staatsferne
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Wo immer aber die Demokratie den Menschen in (seiner) Ruhe la¨sst – da ist sie die stoische Staatsform par excellence, und dies in Vielem.
2. Entartungsgefahren der Staatlichkeit a) Senecas Stoizismus ist darin geradezu Radikaldemokratismus, dass er das bedeutendste von dieser Staatsform aufnimmt, in staatsphilosophische Ho¨hen steigert: demokratische Selbstkritik. Gewiss ist und bleibt dies stets Individualkritik, schon weil eine solche Haltung dem Einzelmenschen vorbehalten ist in seinem Erkenntnisstreben, in seiner Selbstkritik. Ein solches „Gewissen“179, seine Erforschung, kann es im Staat(srecht) nicht geben, vor allem nicht in der Demokratie: Dort ist ja das Volk der schlechtest-mo¨gliche Interpret der Wahrheit180, nicht ein Organ der Erkenntnis einer Staatswahrheit181; machtsteigernde Redner sind deren Feinde, ko¨nnen es jederzeit werden. Massenmeinungen, Mehrheitswille, gesellschafts-demokratischer Mainstream, dies alles ist gerade deshalb, und seinem Wesen nach, nicht Stimme einer Vox populi – Vox Dei nach neuerem kirchen-demokratischem Versta¨ndnis182, nicht Ausdruck einer kollektiven Gewissenserforschung. Wenn der Staat seine Gewalt einsetzen will um abschreckende Furcht zu erzeugen, so zeigt sich darin vor allem seine Unsicherheit183. Dies ist keine Sicherung des Menschen, gegen solchen staatlichen „Schutz“ ist vielmehr – Schutz zu suchen, wahre Abwehr in einer einzelmenschlichen Ruhe. Hass, Neid, Verachtung sind zu meiden184, im Leben des Menschen, kann eine Volksherrschaft sie vermeiden? Sie sucht doch, mit ihrem Volkssouvera¨n, dauernd nach Luxus in Ba¨dern185, will nur immer noch anders essen, trinken, schlafen – danach wieder
179
Ep. 23. De vita beata 2. 181 Leisner, Die Staatswahrheit, Fn. 52. 182 In der Demokratie wird es dazu auch nicht in „Demokratisierung der Kirche(n)“, vgl. Leisner, W., Gott und Volk. Religion und Kirche in der Demokratie. Vox Populi – Vox Dei, 2007, ins. S. 131 ff. 183 Ep. 105. 184 Ep. 14. 185 Ep. 185. 180
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aufstehen186, sich bewegen. Bedarf der Mensch gegen einen solchen Staat, in dem er Schutz finden sollte, nicht umgekehrt dringend des Schutzes? b) Staatsrechtliche Problemerkenntnisse in diesem Sinn wird niemand der Demokratie als Staatsform absprechen. In ihren „Werten“ akzeptiert sie, im Grundsa¨tzlichen jedenfalls, Vorstellungen, auf die sich jede Gewissenserforschung gru¨nden muss; eine solche versucht sie zumindest, geradezu in organisationsrechtlicher Form, in ihrer Gerichtsbarkeit. Verfassungsjudikatur als Form demokratischer Selbstbewusstwerdung, in normativ wirkender Gewissenserforschung, @ das ist mehr als ein Wort: eine typisch „staatsgewaltige“ Anstrengung, Schutz zu bieten gegen Entwicklungen, die nicht als Bedrohungen von außen, sondern als Selbstgefa¨hrdung der Demokratie bereits deutlich zu sehen sind187. Und dies vollzo¨ge sich nicht in der selbstsicheren Selbstto¨tung des ruhigen stoischen Menschen, sondern aus einer Staatsgewalt heraus, die aus sichernder Ordnung zur Bedrohung wu¨rde. Dagegen steht und wirkt alles, was in einer Eigenkontrolle der Staatsgewalt grundrechtlich und organisationsrechtlich in der Demokratie entwickelt wird. Ihre Gewissenserforschung heißt Selbstkontrolle, von innen und außen, mit einem bedrohten Bu¨rger als Polizisten und Ankla¨ger zugleich. Gerade in all dem aber muss dieses Staatsrecht die Staatsferne ihrer Bu¨rger achten, befestigen, steigern, darf sie diese nicht einsetzen als Agenten und Spitzel, sondern als „staatsinterne Kontrolleure“, auch darin wieder – in einer gewissen Staatsferne @ wie „Staatsanwa¨lte, die gegen den Staat ermitteln“. Was alles an praktischen Problemen hinter diesen Worten steht, la¨sst sich hier nur andeuten: Es ist letztlich nichts anderes als der staatsferne Bu¨rger in der Staatlichkeit, als ihr Kontrolleur. Dieser Mensch wirft sich nicht als Bu¨rger in den Staat; er klopft aber an dessen Tore: unabla¨ssig.
186
Ep. 132. Dem hat der Verf. bereits 1979 die zusammenfassende Monographie: „Demokratie – Selbstzersto¨rung einer Staatsform“ gewidmet. 2. Aufl. Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefa¨hrdeten Staatsform, S. 1 ff., gefolgt von Gefa¨hrdungen durch die Gleichheit (S. 199 ff.), die Demokratische Anarchie (S. 451 ff.) und den „Fu¨hrer“ (S. 789 ff.). 187
III. Staatsferne
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3. Wege zu „staatsnaher Staatsferne“: Transparenz der Person, Statik der Institutionen a) Vertrauen ist kein stoisches Wort; bei Seneca begegnet es selten und nur beila¨ufig: gegenu¨ber anderen Einzelnen, wenigen aber guten Freunden188. Der Staat, „die anderen“ werden nie solche Freunde sein, fehlt dort doch jenes Individuell-Einmalige, es wird ja schematisiert in Gleichheit, eingeebnet in Staatsphilosophie, sogar darin noch aus philosophischen Ho¨hen herabgezogen. Statt einschmeichelnder, sich anbiedernder Na¨he lehrt Seneca eine Transparenz in Individualismus: Handle nicht so, dass, nach kantianischer Ethik, Dein Verhalten zur allgemein-verbindlichen Norm werden ko¨nnte! Verhalte Dich aber stets so, wie wenn (irgend)jemand Dich dabei beobachte189. Big Brother is watching you. Transparenz ist zutiefst stoisch gedacht; das Leben darf durch Eitelkeit nicht verspiegelt190, nicht in Perso¨nlichkeitsschutz ausgeblendet werden. Der Denkende hat nichts zu verbergen, aber auch nichts vorzuzeigen in einer ostentatio in cultu et victu. Er hat nichts Exemplarisches an sich191, er stellt sich (in) einer ¨ ffentlichkeit, die aber nur die seine ist, wie er sie sich selbst herstellt192. O Seine eigene Natur ist es allein, die ihn dahin leitet. Ihre Flu¨gel tragen (ihn) zu einem (individuellen) Guten193. Studium, organisiertes Denken, das ist es, was frei macht in solcher staatsnahen Staatsferne, nicht in der emsigen Einzelsuche der Philologie, sondern in philosophischer Vertiefung194. Hier wird dann alle Zeit zur Gegenwart195, auch, ja gerade die Tradition, als Betrachtungsgegenstand staatsorientierten Denkens. Bildung ist alles in dieser stoischen Vorstellungswelt – aber (nur) eine solche, in der sich der Einzelmensch letztlich „selbst ausgreifend“ ausbildet, seine griechische Statuengestalt aus Stein heraustreten la¨sst, aber in Wahrung von dessen unerschu¨tterlicher Festigkeit – nicht in einem behauenden, modellierenden Eingriff durch andere, insbesondere durch die 188
Ep. 3. Ep. 25. 190 Ep. 5. 191 ¨ V 2015, Zur Problematik des Vorbildes im Staatsrecht vgl. Leisner, W., DO S. 1002 ff. 192 Ep. 25. 193 Ep. 1, 50: Die Natur „fliegt“ zum „Guten“. 194 Ep. 88. 195 Ep. 41. 189
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Vielen. Staatsrecht als Staatsferne und Staatsna¨he zugleich – das ist Senecas Staatsphilosophie, wenn es denn u¨berhaupt eine solche bei ihm gibt. Mit der genießerischen Ruhe eines Horaz196 verbindet sie immerhin eines: Denken in Natur, und letztlich doch auch so manche epikureische ¨ berzeugung; darin reicht sie zuru¨ck in die Anfa¨nge griechischer „PhiloU sophie aus – und als – Naturkraft“. b) Das geltende Staatsrecht kann einen solchen Zugang zu seinen Ordnungsgegensta¨nden nicht ohne jenes Erstaunen sich o¨ffnen sehen, welches Wege in ein Philosophieren, auch und vor allem u¨ber den Staat, begleitet, u¨berhaupt erst ero¨ffnet. Doch so manchem staatsrechtlichem Kernwort der Gegenwart begegnet man gerade bei Seneca: Eine Transparenz ist es vor allem, in der sich ja der menschliche Staat zeigen soll, weil auch sein staatskonstitutiver Bu¨rger sich in ihr „vor-stellt“, nicht „voraus“. Seine schu¨tzwu¨rdige Perso¨nlichkeit ist gerade darin des staatlichen Schutzes bedu¨rftig, dass sie sich in solcher Transparenz entfalten und bewegen, sich ausbilden kann. Und darin wird Bildung, in der Vertiefung von Bemu¨hungen des Denkens, in wahren Studien, zu „dem“ Weg zu einem „stoischen Staat“. Stoisches Staatsrecht, gerade auch in der statischen Ruhe seiner Institutionenschau, lenkt den Blick auf den „wahren“ Staat (Othmar Spann), den stoischen, der o¨konomisch-politische Unruhen der Realita¨t in sich aufnimmt, „rezipiert“, sie in sich beruhigt. Das stu¨rmische Meinungsmeer der Demokratie ist in deren Staatsrecht von den sicheren Ufern der menschlichen Ruhe aus zu betrachten, der Denkende muss sich nicht in seine Fluten werfen, er darf nicht „mit-schwimmen“, im Grunde nur „getragen“ werden von ihnen. Senecas Staatsphilosophie – und hier bietet er eine solche – ist ein Aufruf zu staatsrechtlichen Betrachtungen in der Statik der Institutionen; nur sie gibt – und dann erst – den Blick frei auf ihre Evolutionen, die aber immer wieder in staatliche Statik mu¨nden. Der Staat als ruhiger Hafen – so wie ihn eine lange, große „Kultur der Ku¨stenmalerei“ seit dem 17. Jahrhundert ¨ ffnungen“ in zeigt: sonnenbeschienen nicht sturmgepeitscht, in seinen „O 197 staatsrechtlicher Offenheit . Senecas Staatsphilosophie ist darin stoische Vertiefung in Nachdenklichkeit, nicht Stufenleiter zu einem hastigen 196
S. Leisner, W., Staatsferne Privatheit in der Antike, Scho¨nburger Schriften zu Recht und Staat 2012, insb. S. 76 ff. 197 S. dazu Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine ¨ ffentlichen Rechts, 2009, S. 53. Grundform des O
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„Aufstieg in Gewinnzonen“. Staat – das ist keine Leiter fu¨r Politiker, sondern eine Plattform fu¨r Betrachter; und genauer sieht man ihn nicht durch Staatsmikroskope, sondern allein in einer gewissen Staatsferne.
IV. Religion: In Mensch und Staat 1. Der stoische Mensch und die Staatsreligion Stoizismus ist in christlicher Tradition religionsnah gedeutet, gelehrt, rezipiert worden198. Doch darin liegt keine Na¨he seines Denkens zu einer grundgesetzlichen Ordnung, welche Reste eines Staatskirchenrechts in ihrem Staats-Kirchenkapitel bewahrt hat, in der Erwa¨hnung eines perso¨nlichen Gottes199 (i. Folg. 2.). Immerhin aber stellt sich nicht nur in Ankla¨ngen einer Selbstvergo¨tterung des Menschen in Individualismus200 (vgl. vorsteh. I.), oder in einem Natur-Deismus201 die Frage, ob denn Religion fu¨r den Stoiker Seneca nicht doch nur etwas „ganz A¨ußeres“ ist, auch wo sie sich nicht in A¨ußerlichkeiten verliert, etwas „ganz, ganz Fernes“, „non ad nos“ und mit Beziehung auf unsere Ruhe. Gott – tot, sanft ruhend in stoischer Ruhe? Oder doch lebendig im Herzen der Menschen – irgendwo, irgendwie? Dies sind Fragen an eine stoische Staatsphilosophie, gerade in einer Zeit, in welcher sie als Ruhesuche in Unruhen zu etwas wie einer Ersatzreligion werden ko¨nnte. Eben weil sie in ihren Grundeinstellungen weit weniger als solche deutlich ist im allgemeinen Bewusstsein, begleitet ihr Denken menschliche und staatliche Aktivita¨ten zunehmend, wie sich zu Eigentum und in Formen der Staatsgu¨te202 zeigen wird. Hier ist jedoch bereits etwas aufzugreifen, vielleicht zugrunde zu legen, was in stoische Na¨hen zum Staat fu¨hrt, in die einer „Staatsphilosophie“ – gerade aus der Staatsferne dieses Denkens heraus, in der es soeben er198
Betrachtet man Kirche und Demokratie in der Perspektive der (staatskirchenrechtlich-theologischen) Zwei-Reiche-Lehre (vgl. dazu Leisner, Gott und Volk, FN 182, S. 52 ff.), so steht jedenfalls stoisches Denken weit na¨her dem kirchlichchristlichen als der Dynamik der Volksherrschaft. 199 I. Folg. 2. 200 S. vorsteh. C. I. 201 S. vorsteh. B. II. 3. 202 Dazu i. Folg. V., VI.
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schien203. Der Staat ist ja fu¨r Seneca etwas wesentlich Fernes fu¨r den Menschen – und ihm doch nahe gerade in dieser Schau aus, auf Distanz. Dies mag paradox klingen, doch es la¨sst sich in Staats-Kirchenrecht u¨bersetzen: „Religion – Weg zu Gott u¨ber den Staat, oder zum Staat u¨ber Gott?“ Beides ko¨nnte sich ja in einer „stoischen Fernsicht aus unendlicher Ruhe“ verbinden. Gerade der demokratische Staat hat etwas Gott-A¨hnliches, in seinem Allmacht-Anspruch auf Erden. Bietet er, im Staatsdenken, ein Makroskop, das u¨ber ihn hinausschauen la¨sst, in eine Unendlichkeit204 des religio¨sen Glaubens, wa¨re dieser Staat gewissermaßen ein Prototyp Gottes in seiner stoischen Form? Oder gilt die Umkehr: Es ero¨ffnet staatsrechtliches Denken Wege ins Jenseits in einer Analogia Entis, wie sie ja gerade thomistisch-katholische Theologie sucht?
2. Religion und perso¨nlicher Gott a) Ein perso¨nlicher „Gott der Gebote“ als Gesetzgeber u¨ber Menschen ist dem Stoizismus fremd; einen Glauben an ihn, ethische Rechtfertigung daraus, kennt er nicht. Fremdbestimmung durch Offenbarungsreligion aus einem ho¨heren Willen ist ihm unbekannt; daran scheitern letztlich Versuche, in Seneca einen Propheten oder gar einen Vertreter des Christentums zu sehen. „Gott“, den er ja sta¨ndig im Munde fu¨hrt – er bildet ihn „nach seinem Bild und Gleichnis“ (Ernst Haeckel), aber nicht in atheistischer Gottesleugnung, sondern in personalistischer Gottesfindung in sich selbst. In einem Reich sind wir geboren. Gott zu gehorchen – das ist fu¨r Seneca Freiheit205. Dieses Wesen wird als Agonotheta vorgestellt, als ein Wettkampfrichter menschlichen Lebens206; es wird beseelt von einem menschlichen animus, der sich in sich bewegt in Ethik, aus dieser heraus in die Welt wirkt, diese ordnet, gerade auch in Staatlichkeit, aber immer wieder in sich zuru¨ckfindet207. Dieser Gesetzgeber kennt und erlaubt dem Menschen und dessen Gemeinschaften nicht Vergnu¨gungen („voluptates“) als Staatszweck, oder auch nur als einen Mittelpunkt; denn dies wu¨rde eine 203
Vorsteh. III. Zur Unendlichkeitsdimension der Religion, damit auch des Staats-KirchenRechts, vgl. Leisner, Das Unendliche im Staatsrecht, FN 9., S. 61 f., 83. 205 De vita beata 15. 206 De providentia 1 – 3. 207 De vita beata 7. 204
IV. Religion: In Mensch und Staat
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Unruhe in Bewegung ins menschliche Leben bringen, in der dieses jenem Gott nicht gehorchen ko¨nnte208, stoisch gewendet: seine Go¨ttlichkeit, seinen ganzen Ho¨chstwert verlo¨re. Ein „Gott“ im Sinn des Christentums wird fu¨r den Stoiker auch nicht darin zum Ansprache-, zum Anrufpartner des Menschen, dass diesem ¨ bles“ widerfa¨hrt, Schlechtes, so dass er mit (auch) als einem „Guten“ – „U einem Pater Noster um Befreiung davon bitten mu¨sste. Denn eine stoische Vorsehung schickt ihm schon deshalb nichts „Bo¨ses“, weil all dies ihn als einen Denkenden ja nicht „trifft“, sondern nur va¨terlich erzieht, bessert209. b) Dieser Stoizismus mag von (s)einem Gott sprechen – eine „Religion“ im Sinne des Grundgesetzes ist dies nicht. Allenfalls handelt es sich um eine Weltanschauung, welche das Grundgesetz aber in gleicher Weise schu¨tzt wie religio¨sen Glauben, den der Stoiker eben nicht kennt: sie muss daher auch nach geltendem Verfassungsrecht insoweit von „Religion“ nicht abgegrenzt werden210. Die Stoa erkla¨rt, wie eine Religion, auf eine umfassende Weise den Sinn der Welt und des menschlichen Lebens211; darin kann auch von einem „Bekenntnis“ zu ihr gesprochen werden, im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG. Andererseits ist Stoizismus auch nicht „die“ Weltanschauung des Grundgesetzes, eine von dessen Grundentscheidungen, oder ein dessen Grundentscheidungen „besonders nahes Denken“; denn seine Grundauffassungen werden eben in gleicher Weise verfassungsrechtlich geschu¨tzt wie der religio¨se Glaube. Dass dieser im Staats-Kirchen-Recht des Grundgesetzes noch eine besondere Sicherung seiner Organisation erfa¨hrt (Art. 140 ff. GG), dass diese durch Kirchenvertra¨ge verfassungskra¨ftig geschu¨tzt wird, a¨ndert daran nichts. Was in diesen Betrachtungen also herausgestellt werden kann, aufzusuchen ist, sind punktuelle, vielleicht bereichsma¨ßige Gemeinsamkeiten von Grundgesetz und Stoizismus, nicht letzterer als eine oder gar „die“ Staatsphilosophie des Grundgesetzes. Dies verbietet schon eine Invocatio Dei in der Verfassung, welche deutlich, wenn nicht gar zu allererst, auf eine Rezeption von religio¨sen Normgehalten im Sinne des Christentums hindeutet. Andererseits kann der Gehalt dessen, was Seneca gerade in der historischen Periode und in dem staatspolitischen Umfeld der Stiftung des Christentums hinterlassen hat, als ein Prototyp fu¨r 208 209 210 211
De vita beata 15. De providentia 1 f. BVerwGE 90, 1 (4). BVerfGE 105, 279 (292).
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das verstanden werden, was in der grundgesetzlichen Ordnung als eine „Weltanschauung“ gesichert wird: in Vielem in einer anderen als der christlichen Sicht, aber doch keineswegs in einer in Gegensa¨tzlichkeit dazu gesteigerten Spannung. Gerade deshalb ko¨nnen gewisse stoische Grundu¨berzeugungen – wie hier gezeigt werden soll – grundgesetzliche Kategorien und Grundentscheidungen kla¨ren und bereichern. Kirchen/religionsverfassungsrechtlich ist also von einem gewissen Erga¨nzungs- und Verdeutlichungsverha¨ltnis der stoischen und der grundgesetzlichen Ordnungsvorstellungen auszugehen.
3. Religionsfreiheit und Toleranz Die besondere Na¨he des Erbes Senecas zum Christentum, wie sie lange Zeit in der Verfassungsgeschichte mehr zugrunde gelegt als definiert oder gar dogmatisiert worden ist, pra¨gt sich nicht zuletzt aus in der „Offenheit“ eines verfassungsrechtlichen Religionsbegriffs, der hier in der Offenheit einer Toleranz der Religionsfreiheit begegnet. a) Der Stoizismus ist gerade in seiner Ruhe, der Grundlage, dem Ziel seiner Grundu¨berzeugungen, eine Weltanschauung der Toleranz. Er will ¨ berfla¨chlichkeit (levitas), noch beunsich weder verlieren in deistischer O ruhigen in missionarischer Insistenz (pertinacia) 212. Seine denkerische Idealgestalt la¨sst sich nicht „sto¨ren“ durch eifernde Bekenner, sein Ma¨rtyrertum ist stiller Abgang, und sei es im Selbstmord. Der Stoiker steht unerschu¨tterlich wie der Fels in der Brandung, schaut „von oben herab“ auf religions-dogmatische Querelen213, die er aus seiner Ethik heraus ohnehin nicht in Wahrheitsstreben auflo¨sen ko¨nnte. „Wahrheit“ als Feind der ¨ berzeugung aus. „Religio¨se Toleranz – darin dru¨ckt sich tiefe stoische U Halluzinationen“ um eine Gottesgestalt will die Stoa nicht kennen, nicht deren Dichter214. Seine Virtus hu¨tet der Stoiker nicht in belehrendem Reden, er hu¨llt sie in Schweigen wie ein Heiligtum, sein philosophisches sacrum. Stoizismus ist Milde, vor allem in ihrer Staatsgewalt215. Zwar zeigt ¨ berheblichkeitsfehler Starker. Sie sie sich nicht in Barmherzigkeit, einem U 212 213 214 215
De tranquillitate animi 14. De vita beata 27, 28. De vita beata 26. De clementia.
V. Besitz als Gefahr – Eigentum als Ruhe?
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ist aber auch weit entfernt von jeder Versuchung zu religionskriegerischer Grausamkeit. In all dem liegen Lehren fu¨r das Staatsrecht des Grundgesetzes: b) Fu¨r das Grundgesetz ist Toleranz stets ein Stein des Anstoßes gewesen – geblieben, in einer unklaren Symbiose positiver und negativer Glaubensfreiheit216, nicht zuletzt weil das Christentum sich in diesem Sinne verstand, in seinem Redegebot „Ja, Ja – Nein, Nein!“, seinem „Wer nicht fu¨r mich ist, ist gegen mich“. Doch die Verfassung will „sich selbst“ so nicht entscheiden, dies ihren Bu¨rgern nicht aufdra¨ngen, sich Freiheit bewahren und ihnen. Darin ist sie stoisch wenn nicht gedacht, so doch praktiziert (worden). Ihre Freiheit der Toleranz ruht ebenso in sich wie der stoische Mensch, in einer Ruhe, die nicht „molestiert“, weil sie sich nicht molestieren lassen will, dies nicht no¨tig hat. Das Grundgesetz kann, aus dem Christentum heraus, nicht zu „seiner“ Toleranz finden, es begegnet hier nur dem strafenden Gott, der in Ho¨llen hinabsteigt – aber eben auch hinabschickt. Nur die stoische Ruhe eines sich in sich drehenden Allerho¨chsten – und sei es der Mensch selbst – schafft eine individualistische Distanz217 zwischen Bu¨rgern, in der Toleranz nicht nur mo¨glich wird, sondern zu einem ho¨chsten Gebot. So praktiziert denn diese Verfassungsordnung einen Stoizismus weit mehr als sie ihn in den Grundsa¨tzen ihrer Unruhe-Ordnung218 kultivieren kann.
V. Besitz als Gefahr – Eigentum als Ruhe? 1. Demokratisches Wirtschaften und Stoizismus a) „Die Wirtschaft“ hat zunehmende Bedeutung gewonnen im Staatsrecht der neuesten Zeit. Seine wesentlich als solche meist „un-o¨konomischen Formulierungen“ haben sich immer mehr wirtschaftlichem ¨ konomie als Denken geo¨ffnet. Doch weiterhin sind zentrale Bereiche der O solcher nicht Gegensta¨nde der grundgesetzlichen Dogmatik: „Vertrag“
216 Vgl. BVerfGE 93, 1 (32), nicht nur beim Schulgebet, E 52, 223 (241, 246 ff.). 217 Vgl. vorsteh. I. 218 Vgl. vorsteh. II.
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etwa, „Wettbewerb“219, „Staatswirtschaft“ nur als Beispiele. Auch im Grundgesetz wirken letztlich vor allem, wenn nicht ausschließlich, Ordnungsvorstellungen (aus) einer physiokratisch-agrikolen Welt fort, angereichert allenfalls in handwerklich-kleinunternehmerischem, oder gar in einem allgemeinen, dem aber entsprechenden, sta¨ndestaatlichen Denken. Antike Traditionen haben dies, prinzipiell, eher befo¨rdert, wenn nicht grundgelegt. Ein „Wirtschaftsverfassungsrecht“ als solches ist erst vor weniger als einem Jahrhundert in das staatsrechtliche Bewusstsein getreten. Eine „o¨konomische Staatsphilosophie“ gilt es wohl noch immer mehr zu entdecken als zu entfalten. b) Vor diesem Hintergrund ist das Thema „Stoizismus als Staatsdenken in ¨ konomie“ zu betrachten. Hier zeigt sich, geradezu exemplarisch, die soO eben dargestellte Entfernung der Antike von einer sie in Verfassungsrecht aber doch forttragenden „Humanistischen Tradition“ in Problemstellungen der Gegenwart. Die immer noch geschichtlich verankerte Eigentumsdogmatik tritt im geltenden Staatsrecht zusehends zuru¨ck, in ihrer Orientierung auf stoische Werte der Sicherung des Bu¨rgers in seiner Ruhe. Der zentrale Platz, den sie doch, so mo¨chte man denken, einnehmen sollte, in einer beruhigenden, ja quietistischen Staatsordnung – er wird gewissermaßen immer mehr „demokratisch weg-dynamisiert“: in einen neuen Perso¨nlichkeitsschutz220 hinein, in die Bewegung des beruflichen Erwerbens, in einer Staatswirtschaft, welche als solche nicht mehr vor allem den sicheren Hafen einer „Paga di Stato“ bietet, keine beamtliche Ruhe, sondern unternehmerische Aktionsbereitschaft. Diese ist fo¨rderungswu¨rdig und -fa¨hig durch den Staat, der Menschen darin (hoch-)ha¨lt als Bu¨rger, durch andere, organisierte Menschen. c) Dies war es, was in den vorstehenden Betrachtungen im Mittelpunkt stand auf Seiten der Demokratie: Ein Individualismus mit dem Vorrang der Perso¨nlichkeit (vorsteh. I.), in dem Eigenentscheidung zwar vorkommt, aber als Mittel, nicht als Ziel; eine politische Bewegungsdynamik, die nicht in die Ho¨hle von Wagners besitzendem Drachen fu¨hrt, sondern sich mit Siegfrieds schneidendem Schwert Wege bahnt in Zuku¨nfte, und sei es in die verbrennenden alten Ordnungsstaatlichkeiten von Walhall (vorsteh. 219 Zu ersterem vgl. Leisner, Vertragsstaatlichkeit, Fn. 197; zur Konkurrenz Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip. Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit und Konkurrenz der Staatsorgane, 2011, ins. S. 47 ff. 220 Zu den Schutzfunktionen dieses „Sicherungseigentums“ vgl. Leisner, W., „Eigentum“ in HbStR3, Bd. VIII., 2010, insb. Rn. 119 ff.
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II.) – dies ist die Grundstimmung des Grundgesetzes. Eine Staatsform ist es (vergl. vorsteh. III.), die nicht „feste Burg“ sein soll, aus der Raubritter Wegezo¨lle heimbringen zu Ma¨chtigen, sondern ein großes Unternehmen der Gu¨terbewegungen, u¨ber Pa¨sse und Engstellen hinweg, in den Weltraum geo¨ffnet, in Ho¨hen vernetzt, verbunden. In all dem wurden bereits tiefreichende Spannungen sichtbar zwischen dem Staatsdenken eines Seneca und der Demokratie der Gegenwart. Dies la¨sst sich nun noch vertiefen, wenn Besitz zum Untersuchungsgegenstand wird – zwischen Stoizismus und gegenwa¨rtiger Volksherrschaft. Jedes Eigentum sollte vielleicht fu¨r solches Philosophieren ein Ort sein, ein Hort seiner Ruhe. Bedarf es aber hier sichernder Verstecke, wenn die Tonne eines Diogenes genu¨gen kann, zu dem ja die Sa¨ulen der Stoa immer wieder hinfu¨hren221?
2. Stoische Radikalkritik am „Besitz“, am Reichtum a) Es ist nicht das „Eigentum“, der (staatliche) Schutz des Besitzens, mit dem sich der Stoizismus befasst – es ist der (Zustand des) Besitz(es) als solcher, dessen Wesen und seine Wirkungen; wer sie im kritischen Blick hat, wird, muss jenes Eigentum inhaltlich notwendig relativieren. Und Senecas Stoizismus pra¨sentiert sich immer wieder, in zahlreichen A¨ußerungen, als eine wahre Radikalkritik des Besitzens. Die Gu¨ter der Welt aber sind es nicht als solche, sondern ihre Innehabung, welche geradezu „die stoische Gefahr“ darstellen; „der Reiche“ ist das Feindbild, nicht „der Eigentu¨mer“, der „gro¨ßere Besitz“, nicht „das Kleinere Eigentum“222. Ma¨ßiges Eigentum steht ja nicht in dieser Kritik223. Die Faszination des Besitzes als solche, der „falsche Glanz von Gold und Geld“224, das ist es, was der Stoiker dort vor allem sieht. Daraus erwa¨chst jene Dynamik, in welcher der Geiz225, im Grunde doch eine Ruhe des Besitzens, eben doch ausbricht in die Pleonexia, ein „immer mehr, immer 221
Hier zeigen sich ja deutliche Verbindungslinien zur kynischen Philosophie. Vgl. dazu aus fru¨herer Zeit Leisner, W., „Kleineres Eigentum“ – Grundlage unserer Staats- und Wirtschaftsordnung (zusammen mit Otmar Issing, 1976). 223 De tranquillitate animi 8 f. 224 Ep. 115. 225 Ep. 89. 222
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noch anderes besitzen Wollen“226. Eigentumsbegierde bringt Machtwillen hervor, kann sich in ihm aber nicht befriedigen. Sie wird in eine Dauerbewegung der Gu¨ter geworfen, die eben kommen und gehen @ voru¨bergehen. Der stoische Denkende hat sich stets, eben in Ruhe, vorzubereiten auf ihren Verlust227. Daher ist Armut, zu welcher dies fu¨hren mag, an sich, in sich nichts Schlechtes, zu Meidendes228. Wer unter Bedu¨rftigkeit leidet – ein unstoisches Wort –, dem werden auch die Gu¨ter (bald) zur Last werden: Denn der Grundfehler, das vitium, liegt eben im denkenden Bewusstsein, im animus des Besitzenden, nicht in den Gu¨tern: Sie liegen als solche außerhalb dessen, womit sich stoische Philosophie bescha¨ftigt; deshalb findet sich in ihnen gefa¨hrliches Sto¨rungspotenzial, kommt der Mensch ihnen zu nahe in Besitz. b) In dieser stoischen Radikalkritik liegt, so erstaunlich es auf den ersten Blick auch anmuten mag, eine kompromisslose Frontstellung, zuna¨chst und vor allem, gegen einen marxistischen Sozialismus, nicht gegen eine Demokratie, die sich ebenfalls gegen diesen stellt. Den Kommunismus fu¨hrt ja die Hochscha¨tzung der Gu¨ter als Hort der Glu¨ckseligkeit zur Forderung von deren Vergemeinschaftung. Diese Radikallo¨sung beinhaltet zwar die Aufhebung der Gu¨ter-Bedeutung fu¨r den Menschen, mit all ihrem vom Stoizismus gebrandmarkten Gefahrenpotenzial. Da es nun aber im Kommunismus all das nicht mehr fu¨r den Menschen geben kann, nicht auf ihn wirken darf, sondern im Staat, in dessen verteilendem Wirken laufend aufgehoben wird, geht die ganze – wenn auch nur virtuelle – „Armutsphilosophie“ der stoischen Ruhe dann ins Leere. Fu¨r die Stoa gilt also ¨ bel ist, kann Umverteilung nicht zum umgekehrt: Wenn Armut kein U Heilmittel werden. c) Gerade darin wird die radikale Ablehnung eines Kommunismus als Vita beata aber auch zur Frontstellung gegen die sozialstaatliche Demokratie. Auch sie tra¨gt ja die Vorstellung vom glu¨ckselig machenden Gu¨terbesitz weiter, gerade darin will sie den Menschen in seinem „Kleinen Eigentum“ sichern. Fu¨r einen Seneca mag dies kein Grund-Irrtum sein229, es ist aber auch kein heeres Ho¨chstziel seiner staatlichen Ruhe. Aus dem Besitz als einem nach der Stoa menschlich/philosophisch Indifferentem kann kein 226 227 228 229
Ep. 119. Ep. 98. Ep. 17. Vgl. i. Folg. 5.
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Verfassungswert sich entwickeln, auch nicht in einem menschlichen Bewusstsein, das hier nach der Sicherheit der Ruhe sucht; durch die Gu¨ter wird sie ja eher verdra¨ngt. Eben solche bereits relativierende stoische Grund-Gedanken kommen allerdings demokratischen Verfassungsvorstellungen der Gegenwart doch nahe: Ihre Sozialstaatlichkeit hat nichts mehr von der marxistisch-ideologischen Grundsa¨tzlichkeit des Staates als eines Macht-Gottes auf Erden, der hier sein Gu¨terparadies bepflanzt, es durch das flammende Schwert seiner Staatsgewalt bewachen la¨sst. All dies liegt „demokratischer Ideologie“ fern. Wenn es u¨berhaupt etwas wie eine solche gibt, so eben doch in der Freiheitsvorstellung einer Perso¨nlichkeit, die vor allem darin schutzwu¨rdig ist und schu¨tzbedu¨rftig. Demokratischer Eigentumsschutz als Perso¨nlichkeitsschutz230: darin begegnen sich Volksherrschaft und stoische Anthropozentrik, hier nun in einer staatsrechtlich wahrhaft zentralen Position. Eine Staatslehre des Eigentums muss aus stoischer Sicht daran gemessen werden, wozu sie Eigentumsgebrauch zula¨sst, wozu er ihr auch ein staatsbedeutsames Gut ist. Und stellt sie dahin nicht einen Wegweiser auf, wenn es in Art. 14 Abs. 2 GG heißt: „Der Gebrauch des Eigentums (also doch dessen Besitz! Der Verf.) soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“, den Vielen, also wieder den Menschen? Oder ist dies doch nur – demokratisch-soziale Umverteilung? Hier steht man wohl an einem Scheideweg von Stoizismus und Demokratie.
3. „Besitz“ zum/als Luxus? a) Staatsphilosophisch geht es nicht darum, wie geltendes Staatsrecht zum Besitz als solchem steht; fu¨r den Stoizismus jedenfalls ist er nur ein Instrument, allenfalls ein Mittel, nicht ein Weg zu seinem Glu¨ck (vgl. i. Folg. 5.). Entscheidend ist vielmehr, gerade nach Seneca, welche Zielvorstellungen sich aus ihm ergeben, fu¨r Mensch und Staat, was er auf den Wegen dahin fu¨r sie zu bewirken vermag, oder droht. Im Vordergrund steht hier etwas, wofu¨r das u¨berzeugungsstarke Wort aus der franzo¨sischen Revanche-Machtpolitik heute bereits gilt: „Immer daran denken – nie davon sprechen!“: Luxus.
230
Fn. 220.
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„Luxus“ ist ein stoisches Reizwort; es steht fu¨r „schlechten Reichtum“231, der zu Begierden fu¨hrt, zu jenen cupiditates, welche alle Ruhe sto¨ren, sie in bedrohliche Bewegung treiben: Immer noch mehr wird erstrebt, stets noch anderes232. In jener Eitelkeit reizt sich dies selbst immer weiter, in der es sich zeigen will (ostentatio) 233, sich selbst und, in diesem Spiegel, anderen. Luxus ist ja nur negativ definierbar, aus einem u¨berschießenden Reichtum, jenseits von Bedu¨rfnissen, letztlich also doch aus diesen. Der Denkende des Stoizismus aber ist eben nicht „bedu¨rftig“, allenfalls allein einer Lage: der Ruhe. Zur Deckung der Bedu¨rfnisse la¨sst er sich nicht aus seiner Ruhe treiben, am wenigsten durch seinen Staat. Diesen sieht Seneca nirgends auch nur irgendwo in etwas wie einer durch Einnahmen, in Staatsbesitz zu deckenden Bedu¨rftigkeit; all dies kommt in seiner Welt schlechthin nicht vor. Noch weniger darf er etwas erlauben wie einen „Staatsluxus“: Er ko¨nnte ja nicht anders vorgestellt werden, denn als eine Form von „u¨berschu¨ssiger Macht“. „Macht als Staatsluxus“ ist aber in der stoischen Ruhe-Welt so undenkbar wie die vielen kleinen Anla¨ufe seiner Selbstbesta¨tigung in privatem Luxus des ta¨glichen Lebens. Der Stoiker flieht dessen „angenehme Orte“234, vor allem die von ergeizig-wortreichen politischen Bu¨hnen235; es ist doch solcher Wortluxus ebenfalls nur ein Weg zu dem, was der Mensch erstrebt, aber nicht wirklich braucht, was er nur gebraucht zu seinen strebenden Bemu¨hungen. Wenn etwas von stoischem Denken entfernt, von dessen „heiligen Orten“, so ist es Luxus. b) Luxus – diesen Vorwurf wird nicht leicht jemand heutiger Volks¨ berhangangebots an Freiheitssicheherrschaft machen, es sei den eines U rungen, in einem Rechtswegestaat. In der sozial(istisch)en Grundeinstellung in Sozialstaatlichkeit soll ja jedem nur geleistet werden „nach seinen Bedu¨rfnissen“; darin erscho¨pft sich geradezu diese Ordnungsaktivita¨t, der Rest ist „Ruhe in der Erfu¨llung“ all dessen, was als Bedu¨rfnis erstrebt werden konnte. „Was dru¨ber ist, ist Mu¨h’ und Plag’“ einer Staatsform, die zwar in der Begrenzung, ja Beseitigung dieses Luxus ihre Kra¨fte schwa¨chen mag, in ihm aber sicher nicht „ihre Erfu¨llung“ findet. Trifft sich darin nicht ihr „Kleiner Mann“ mit dem vornehmen ro¨mischen Kaiserberater? Selbst 231 232 233 234 235
Ep. 89. Ep. 119. Ep. 5, ostentatio. Ep. 51. Ep. 52.
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wenn jener „aufsteigen“ will in Stufen, so kann auch dies stoisch gewendet werden, als philosophischer Fortschritt, in immer tiefere Ruhe, in einem immer noch sicherer beruhigten menschlichen Leben236. Die Volksherrschaft trifft sich also, politisch-real, mit stoischem Ernst in der Ablehnung eines „luxe insolent“, wie sie dem Ernst der Franzo¨sischen Revolution entsprach. Sie erschla¨gt die Macht in ihrem Bad, den Luxus in seinen Ba¨dern237. „Gleicher Luxus fu¨r Alle“ – das mag man vielleicht auf utopischen Schmierereien lesen; eine demokratische Staatsmaxime wird es nie sein. Seneca war einer von jenen, welche der privatrechtlichen Ideal-Verpflichtung entsprechen: „Geld hat man zu haben!“. Was wollte er mehr? Der besitzende Stoiker ist also … Demokrat.
4. „Das Leben: Ein Spaß“ – Vom Reichtum zum Vergnu¨gen a) Die voluptas ist „das“ Zielwort stoischer Grundsatzkritik am Besitz238. In fast schon ermu¨dender „(Gegen-)Bewegung“ @ der einzigen, welche der Stoizismus wirklich kennt – wird immer wieder jenes Genießen gegeißelt, an dem die Stoa ja, trotz so mancher Gemeinsamkeiten, ihre rote Trennungslinie zum Epikureismus entlangzieht, unu¨berschreitbar. „In Ruhe genießen“ – das ist eben stoischem Denken ein Widerspruch in sich, auf seinen Grabsteinen steht nicht „Man hat sich vergnu¨gt“. Denn diese voluptas ist wesentlich Bewegung: Ein „immer mehr“, „immer scho¨ner“ – und eben ein „immer reicher“ in zu- und ausgreifender Unruhe. Nicht der post-sexuelle Befriedigungszustand wird ja erstrebt im Genuss, nicht der Schlaf nach dem Essen. Das spielerische Vergnu¨gen liegt im Ablauf, in der „Show“, die man mit Lust verfolgt, die nicht in Ruhe betrachtet wird. Dieses Leben im Volks-Theater, im Fernseh-Kolosseum der plebejischen Masse, es ist fu¨r den aristokratisierenden Kaiserberater die Existenz des „niederen Volkes“, von dem man sich abzuheben hat239. In diesen billigen Vergnu¨gungen sucht und findet es ja den Genuss eines Reichtums, der ihm 236 237 238 239
Ep. 75 Wie Charlotte Corday den Tyrannen Marat. De vita beata 3. Ep. 39.
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versagt bleibt außerhalb dieser Vor-Stellungen, in jedem Wortsinn. Und zur Apologie eines gewissen Wohlstandes fu¨r den denkenden Menschen240 geho¨rt es vielleicht sogar, dass er sich damit eben abheben kann von solchen Spektakeln, hinein, hinauf in die Ho¨hen stoischer Selbsterkenntnis. Dort „ho¨rt der Spaß auf“, in ernster Lektu¨re, in der philosophischen Ruhe der Studierstuben, und in den Ga¨ngen von Pala¨sten, auf denen „letzte Machtberatung“ sich verliert241. Machtspiele, Machtberatung als Vergnu¨gen – derartiges hat es fu¨r einen Seneca nicht gegeben. Reichtum zum Vergnu¨gen kann ein Ziel sein, glu¨ckliches Leben kann es nicht bedeuten, im Gegenteil: er fu¨hrt geradewegs in die loca amoena des Genusses, in die Theater der Eitelkeiten. Die stoische Ruhe mag solche aufsuchen – zum Guten; sie braucht sie nicht zum Genuss. Stoisches Leben ist ernst, weder Fun noch Relax sind seine Inhalte. b) Jene Demokratie, welche dem Luxus gegenu¨ber so nahe sich bewegt bei stoischem Denken – hier beginnt sie aber doch andere Wege zu gehen: wenn sie dem Vergnu¨gen begegnet, es sucht. Die heutige Volksherrschaft war nicht von ihren Anfa¨ngen an eine Staatsform des Vergnu¨gens, konzentriert auf große Theaterbauten und Veranstaltungen fu¨r ein „niederes Volk“. Eine intellektuelle, weithin auch soziale Mittel/Oberschicht wollte, gerade umgekehrt, das Volk zu Ho¨herem erziehen. Solche „Bildung zum Aufstieg“, nun allerdings vor allem im wirtschaftlichen Bereich, ist bis heute ein Schwerpunktziel u¨berzeugter, darin u¨berzeugender Demokratie geblieben. Doch etwas hat sich inzwischen entwickelt, geschuldet nicht zuletzt dieser Staatsform: Ein „Volks-Reichtum“, ein Massenwohlstand sucht Unterhaltung fu¨r seine immer weiter in die Welt hinausblickenden, wenn darin auch nicht notwendig im fru¨heren Sinn geistig aufgestiegene Massen-Menschen – nicht zuletzt um sie in dieser Unter-Haltung fernzuhalten von allzu viel Aktivbu¨rgertum. Wenn sich dieser Volkssouvera¨n schon keinen Luxus in Formen der Vergangenheit leisten will, ihn gar nicht mehr brauchen kann in einer egalisierten Welt, so will er doch wenigstens sein „Lied auf die Freude“ singen: Seine Massen-Millionen werden sich dann umarmen, Vergnu¨gungen jeder Art in Umarmungen jeder Form mitfern-sehen, nach-empfinden, nach-vollziehen in Emotionen. Der Weg von Demokratie u¨ber Verteilung und Massenwohlstand zu Volksvergnu¨gen muss unausweichlich beschritten werden. Die Verfassung mag alles ordnen, 240 241
I. Folg. 5. Ep. 108.
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darin ernst bleiben, in ihren fu¨r Nicht-Juristen lange(weilende)n Sa¨tzen kommt „Vergnu¨gen“ nicht vor, nicht einmal die Vergnu¨gungsteuer242. Doch allzu ernst will diese Staatsform nicht genommen werden; „Spaß muss sein“ in ihr, wenn nicht in Wahlka¨mpfen und Parlamentsreden, so spa¨testens u¨ber unza¨hlige Sendungen und Veranstaltungen, in deren Talks immer wieder auch Staats-Vergnu¨gen geboten wird. Besitz und verbreite(r)tes Eigentum haben in diese Welt des Vergnu¨gens gefu¨hrt. Kann man bereits formulieren: Nicht „Der Kongress tanzt“, sondern der Volkssouvera¨n? Und da soll eine Stoa warnen vor solchen Tanzsa¨len, sie mit verstaubten Studierstuben tauschen wollen? Was soll schlecht sein an einem Besitz, wenn er nur einem zusteht: dem Volk (-ssouvera¨n), seinen Massen? Sollen sie mit ihm, in ihm nicht „Spaß haben“, in allem und jedem, sogar (noch) an ihrem Staat?
5. Der (Staats-)Denker und „sein Eigentum“ – Senecas widerspru¨chlicher Stoizismus a) Die deutliche Eigentumskritik, welche, wie dargelegt, den Stoizismus so tief pra¨gt, richtet sich gegen Reichtum, gegen das „gro¨ßere Eigentum“. Grund dafu¨r ist aber nicht, wie im Sozialismus, dass solche Gu¨termacht andere zu beherrschen trachtet, sondern dass Besitz irrefu¨hrt, zu einem Luxus, zu Vergnu¨gungen als den „falschen Zielen des Eigentumsgebrauchs“. Existenzsicherende beruhigende Wirkung wird ebenso wenig zum Thema wie Abwehrfunktionen und -formen dieses Rechts des Eigentums gegen „Ruhesto¨rungen“ aller Art. Senecas Denken bleibt stehen bei Zweck/Zielbetrachtung des Besitzes, damit letztlich bei der Frage einer Legitimation des Besitzes als solchen. Nicht seine „Sozialscha¨dlichkeit“ ist hier das Problem, wie sie doch die Verfassungsdogmatik der neuesten Zeit beherrscht; die „Menschenscha¨dlichkeit“ des Besitzes wird geradezu zum geistigen Stolperstein fu¨r den Stoiker in einem Mittelpunkt seiner wichtigsten Schrift243: Die Antwort lautet: Großen Philosophen ist stets vorgehalten worden, sie lebten nicht nach ihrer eigenen Tugendpredigt; und Seneca trifft dieser 242 Mag dies auch bereits die Verf.rspr. bescha¨ftigen – als Zusta¨ndigkeitsproblem, vgl. BVerfGE 40, 56 (64); 42, 38 (41); 123, 1 (14 f.). 243 De vita beata 17 – 23.
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Vorwurf vor allem: In Kaiserna¨he ist gut philosophieren, selbst in Verbannung auf Zeit. Dass der Stoiker „sich wegdenken will von seinem eigenen Besitz“, wenn fu¨r ihn gilt: „Alles ist uns nur geliehen und wir befinden uns besta¨ndig auf der Flucht“, weil er Eigentum nur als Geschenk sehen darf 244 @ ist das u¨berhaupt u¨berzeugende Philosophie? Genu¨gt es, dass der stoische Reiche seine Gu¨ter nicht wegwirft, weil er sie „non amat sed mavult“245, sie nicht in seinem Geist (animus) aufnimmt, sondern nur in sein Haus, das er allen o¨ffnen kann, selbst den kontrollierenden Vielen? „Eigentum ist mein Besitz, ich bin nicht der seine“, so hat sich Seneca zu entschuldigen versucht. Und wenn die Gu¨ter eine Fro¨hlichkeit hinzufu¨gen, die aus Tugend erwa¨chst – haben sie dann nicht doch etwas an Wert (aliquid pretii) 246? Sind all das aber nicht nur scho¨ne Worte? Auch im Haus „Guter Reicher“ hat plu¨nderndes Volk stets noch etwas gefunden… Um es mit einem Wort zu sagen: Hier wird Stoizismus „sozial unglaubwu¨rdig“. Geld ist nicht alles, aber es beruhigt kolossal. Was ist eine solche Staatsweisheit wert, in einer Gegenwart, in der nicht Reiche Kaiser beraten, sondern Arme, Flu¨chtlinge Schlange stehen? b) Seneca bietet keine u¨berzeugende Eigentumsphilosophie. Seine Bemerkungen u¨ber Bedu¨rftigkeit, u¨ber den „armen Reichen“247, sein Rat, „in Fastenzeiten sich der Armut zu na¨heren“248 – klingt das nicht geradezu zynisch? Darauf genu¨gt auch nicht als Antwort: Der Denkende versuche eben eine solche Haltung249, und auch nicht die philosophiegeschichtliche Feststellung einer Na¨he von Stoizismus und Kynismus in so manchem, sicher in diesem, entscheidenden, Bereich. Hier hat Seneca zu gegenwa¨rtigen Eigentumsproblemen grundsa¨tzlich schlechthin nichts zu bieten; denn dies ko¨nnte nur eine „Armut im Geiste“ sein. Wenn er als solcher Berg-Prediger zu verstehen ist, so bleibt er aber die entscheidende staatsrechtliche Antwort schuldig: Wie er es denn nun halte mit seinem „Eigentum als/in Ruhe“? Diese allgemeine Beruhigungswirkung des Besitzes bleibt ebenso bei ihm im Zwielicht wie ihre Bedeutung vor allem fu¨r die
244 245 246 247 248 249
De vita beata 20. De vita beata 21. De vita beata 22 – 33. Ep. 119: vulgo divites sunt pauperi. Ep. 18. De vita beata 20.
VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa
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nach der Stoa doch so zentral wichtige Eigenentscheidung250. Damit sie in eigentumsgesicherter Ruhe falle, mu¨sste doch den Blick zu allererst auf diese Sicherungseignung, auf die entsprechenden staatlichen Mechanismen lenken, die solches gerade u¨ber das Eigentumsrecht gewa¨hrleisten sollen. Ein Philosophieren allein u¨ber die ethische Gefa¨hrlichkeit eines schlechten, egoistischen, weil luxurio¨s-vergnu¨gungssu¨chtigen Eigentumsgebrauchs von Reichen – das kann geltendem Verfassungsrecht viel nicht bringen. Hier wird eine grundsa¨tzliche Schwa¨che jener stoischen Philosophie offenbar, die eben, in ihrer aristokratisierenden „Eigentumslehre als Erziehungslehre fu¨r Reiche“ nicht ohne Grund entscheidend an Einfluss verloren hat – seit Beginn der modernen wirtschaftspolitischen Entwicklung im 18. Jahrhundert. Gro¨ßere Bedeutung kann sie hier wohl kaum erlangen fu¨r eine „Soziallehre des Eigentums“, mehr allerdings wohl doch wenn es nun geht um „Das Geben“.
VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa – von der Menschen- und Staatskunst des Gebens 1. „Wohltaten“, „Staatsgu¨te“ als Beherrschung Seneca war Berater der ho¨chsten ro¨mischen Staatsmacht. Zum faktischen Herren ließ ihn das werden u¨ber alle Rechte, Vorrechte, u¨ber Privilegien als Staatsgeschenke. Fu¨r das Staatsrecht der Gegenwart bedeutet Derartiges „Gutes Tun“: der Staat legitimiert sich aus seiner „Staatsgu¨te“; zu allererst in ihr verschleiert er Macht und Einfluss auf alles Außerstaat¨ ber „Staatswohltaten“ wird ja eingewirkt auf das Leben der lich-Private. U Menschen. Dies kommt von einer Staatlichkeit, die ihrerseits solcher „Gu¨te anderer“ nicht bedarf, da sie sich ja wesentlich in ihrer „Gewalt“ stets ha¨lt, Begu¨terte zum Geben zwingt. Private Hilfsbereitschaft in Krisenlagen ist willkommene Versta¨rkung fu¨r staatliche Bataillone, doch sie ist nicht mehr als ein Train, der verwundete Soldaten und Flu¨chtlinge begleitet, versorgt. Der Staat mag darin ethisch handeln (wollen). Im Grunde aber hat er solches no¨tig allenfalls im Sinn einer sehr allgemeinen Legitimation. Viel ma¨chtiger ist ein ganz anderes darin: Das Staatsgeschenk als Beherr250
Etwa Ep. 37, 123.
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schungsinstrument, vor allem in einer Umverteilung, welche verfassungsrechtliche Gleichheit zur Macht werden la¨sst251. Dies sind einleitende Worte zu einem Kapitel u¨ber den „Stoizismus und den Sozialstaat der Gegenwart“: Der Stoiker kennt, braucht diesen Staat nicht als einen „Super-Gutmenschen“, der Moral aus seinen Kassen in den vergoldenden Fluten des antiken mythischen Strom des Paktolos verstro¨mt. Seneca aber hat eines seiner Hauptwerke, die fu¨nf Bu¨cher De Beneficiis hinterlassen als ein Erbe zu einem uralten, einem sta¨ndigen Staatsthema: „Die Macht der Geschenke“, „Macht durch Wohltaten, durch Gutes Tun“. Dies geschieht bei ihm, in dieser Schrift vor allem, in jener spro¨den Ehrlichkeit, die einem staatsweisen Berater eigen ist, der Gu¨te nicht braucht in seiner stoischen Ruhe, sie aber aus dieser heraus einsetzen kann zu etwas, das heutiges Recht unter einem ganz anderen Namen kennt, das es aber – da sei wirklich Gott vor! – nicht kennen darf: als korrumpierende, korrupte Macht des Gebens. Als allzu harte Kritik der Sozialstaatlichkeit mag dies kritikabel sein – als ein stoisches Schlaglicht aus einer hier gar nicht so fernen Antike aber sollte es erhellen ko¨nnen: Stoa als Beunruhigung der Gegenwart – gerade in ihrer „Ruhe in Mensch und Staat“. Man mag es als „Para-dox“ sehen, jedenfalls geht es an „allgemein Angenommenem vorbei“, wie der griechische Sinn jenes Wortes dies – auch – ausdru¨cken mag. Dies ist Aufgabe, wenn auch Wagnis der Wissenschaft gerade im Sinne Senecas252. Und es geht ja gar nicht um Umverteilung, sondern um „austeilende Gerechtigkeit“253.
2. Gu¨te als Milde a) „Gu¨te als Nach-Hilfe fu¨r Bedu¨rftige“ – derartiges kommt bei Seneca nicht vor, jedenfalls nicht als selbstzweckhafte Legitimation von Mensch und Staat. Seine Schrift fu¨r Nero „De clementia“ – fu¨r (fru¨he) Christen geradezu ein objektiv-historischer Zynismus – endet denn auch254 in einer 251 Grds. Leisner, W., Der gu¨tige Staat. Die Macht der Geschenke, 2000, insb. S. 32 ff. 252 Ep. 31. 253 Vgl. etwa Vogel, K., Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Staatsrecht, StuW 1977, S. 97. 254 De clementia Kap. III.
VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa
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Definition der Staatsmilde – nicht Staatsgu¨te! – aus ihrem Gegenteil: der Grausamkeit. Mit dieser letzteren kann sich die Macht nur selbst schaden, wie dort eingehend, wenn auch in Argumentationsformen eines staatsrechtlichen Paternalismus, nachgewiesen wird. Barmherzigkeit – das ist nur eine Schwa¨che. In einer Milde hat die Staatsgewalt, hat ihr Kaiser zu handeln, wie dies ja auch der Einzelmensch Seneca von sich soll sagen ko¨nnen: mitis in omnes255. Sie aber geht vom „Staats-Haupt“ aus (von dem ja auch verwesender Geruch stets zuerst ausgeht…). Sie ist daher eine Eigenschaft der Herrschenden, nach dem Beispiel der Go¨tter und deren olympischer Ruhe. So wird diese Clementia Principis von Anfang der Schrift an entwickelt. Sie bedeutet Ma¨ßigung der Staatsmacht, dieser insbesondere als einer Strafgewalt256; nur so la¨sst sich ein „Machtvakuum“ verhindern. Ein Herrscher, der immer straft, vereinsamt notwendig; er erstarrt wie ein Midas in seinem Gold, mit dem er sich doch Freunde erkaufen ko¨nnte, so mo¨chte man dies in antiker Mythologie weiterdenken. Doch dem Stoiker sind auch solche amici nichts wert; sein Freund ist Gespra¨chspartner, bewusstseinsbildendes Medium fu¨r die Ruhe des Denkens, nicht zu einer Diskussion, die alles in Kritik angreifen will257. Gu¨te ist also stoische Herrschaftsmaxime, im Leben des Einzelmenschen findet sie sich allenfalls als eine Haltung in Selbst-Beherrschung, in der das Otium, die Muße zum beherrschbaren Eigen-(Be-)Reich des Menschen wird. b) Solche Vorstellungen sind nicht die einer demokratischen Sozialstaatlichkeit; sie stehen ihr nicht entgegen – sie laufen an ihr vorbei. In ihr soll gerade etwas (an)geboten werden, was nicht von Oben geschenkt wird, sondern von unten gefordert werden darf. Das Geschenk erfreut doch im Grunde den Bedu¨rfnislosen, gerade darin liegt sein Wesen, es erfu¨llt nicht Anspru¨che. Gerade an dieser Stelle wa¨re etwas angesagt, wie eine „sozialstaatliche Gewissenserforschung“: Wird hier geleistet zur Befriedigung von Bedu¨rfnissen, welche eine gebieterische rechtliche Intensita¨t erreicht haben – oder nicht doch auch, vielleicht gar allein, zum Erhalt von Machtpositionen? „Die“ demokratische Grundsatzfrage der Wahlgeschenke stellt sich hier in ihrer ganzen, schneidenden Unausweichlichkeit: Sind sie Antworten auf Bedu¨rfnisse eines „Volksmannes“ (heute muss es „Volks255 256 257
Ep. 103. Vgl. oben II. 4. De tranquillitate animi 7.
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menschen“ heißen), die erfu¨llt werden von einem, der „dem Volk aufs Maul schauen“ muss (Luther) – oder sind da nicht nur in ihren Zusta¨ndigkeiten verkleidete „Volksfu¨hrer“ (Dem-agogen) 258, die sich auf den schwankenden Geru¨sten ihrer Rostra, auf ihren Macht-Plattformen festhalten (wollen) – durch Staatsgeschenke, in ihnen als „unsere Gewa¨hlten“? Stoische Gu¨te ko¨nnte, als Gegengift wider solche Entartungen der Volksherrschaft, in deren Organismen in der Tat nur eindringen, gerade aus deren organisierter Volksna¨he heraus, wenn dieser Vorgang eben doch nicht seinem Wesen nach „Herrschaft durch Staatsgu¨te“ erzeugen sollte, von Menschen, die mit ihrer „Gu¨te“ den Staat erobern, besetzen, beherrschen wollen. So ko¨nnte Demokratie in ihrer Gu¨te zu einem menschlichen Staat fu¨hren und gefu¨hrt werden, in „Ruhe in Mensch und Staat“. Doch ist solche Demokratie nicht doch eine Ordnung, eine Welt, die Go¨ttern vorbehalten ist ( J. J. Rousseau), die go¨ttlichen Vorbildern folgt259, wie es im ersten Teil von „De clementia“ heißt?
3. Staatsleistungen – u¨berflu¨ssig? Armut, Unglu¨ck als Chancen a) Der Stoizismus war nie eine Weltanschauung fu¨r die Masse, eine Lebensphilosophie fu¨r den „Kleinen Mann“, fu¨r „Einen ( jeden) von uns“. Es war die Sicht des Denkers, der von einer geistig-aristokratischen TurmPlattform seiner Ruhe auf die besonnten Fluren seines geordneten Reiches „schaut“. „Gestehe, dass ich glu¨cklich bin!“ – so spricht nicht nur er, es schreibt dies ein Seneca seiner Nachwelt in seinen „De vita beata“. Diejenigen mag er damit u¨berzeugen, welche in gleicher Beruhigung seine Haltung annehmen, sie sich bewahren (ko¨nnen). Dann ist in der Tat ¨ bel, sie ist geradezu ein Gut, das zu noch Ho¨herem „realiter“, Armut kein U fu¨hrt: zu einer philosophischen Lebenshaltung260. Staatsgeschenke ko¨nnten dies eher entwerten als befo¨rdern. Furcht vor dieser Armut als einer Gefahr muss stoisches Denken in seiner gu¨tergelo¨sten Freiheit in Ruhe u¨berwinden261, mit Verlusten rechnen, sie einkalkulieren in menschliche Lebensplanung. Der Staat hat darin allerdings ein Hort zu sein gegen alle 258 259 260 261
S. Leisner, Das Volk, Fn. 14, S. 185 f. De providentia 1 – 3. Ep. 17. Ep. 13.
VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa
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Furcht, in der menschlichen Geborgenheit einer Freedom from Fear. Darin mag selbst der „starke Staat“ an sich wohl zu fordern sein, „Staatsgu¨te als stoischer Ausdruck der Sta¨rke“. Doch all dies la¨sst sich nicht mit einer „menschlichen Notwendigkeit von Staatshilfen“ begru¨nden. Denn der Mensch, wie sein Staat, hat ja Leiden nicht als solches zu fu¨rchten, als Unglu¨ck, das ihn niederdru¨ckt: (er)tragen soll er sie in Geduld262. Dann werden seine Kra¨fte gesta¨hlt, sein Bewusstsein wird gescha¨rft: In stoischer Ruhe darf er nun Unglu¨ck geradezu als Chance begreifen. Im Wettkampf des Lebens fu¨hrt ihn ein Gott heraus aus einer „Unta¨tigkeit im Schatten“263. Denn diese ist nicht die Muße des Denkenden, sondern eher Genuss als Gefahr; wird denn im Schatten das gelesen, was wahrhaft glu¨ckseliges Leben als Lektu¨re, als Studium braucht? Soll, darf sich aber ein moderner Sozialstaat derartiges (auch nur) vorhalten lassen? b) Von solcher Sozialphilosophie – wenn sie u¨berhaupt diesen Namen verdient – ist die Sozialstaatlichkeit264 der Demokratie weit entfernt, schon in ihrem Ansatz; und sie bewegt sich rasch immer weiter in die Gegen¨ bel, sondern auch richtung. Ihre Grundannahme ist: Armut nicht nur als U noch als Rechtsgrundlage von Anspru¨chen gegen die Gemeinschaft, auf Deckung von Bedu¨rfnissen. Bedu¨rftigkeit nicht als Chance zu ruhigem, durch Befriedigungsstreben ungesto¨rtem Nachdenken, sondern als niederdru¨ckende Gefa¨hrdung aller menschlichen Fa¨higkeiten, daher einer Menschenwu¨rde (Art. 1 GG) als solcher. Und ihr Gegenu¨ber, der helfende Staat, hat Staatsgu¨te nicht einzusetzen als Ausdruck (s)einer tatsa¨chlichen „Sta¨rke von oben“, sondern einer „rechtlichen Verpflichtung“, die ihm „von unten“ begegnet, eben aus dieser Bedu¨rftigkeit seiner Bu¨rger heraus. ¨ berwindung in Wohlstand fu¨hrt u¨ber Studien und einen StufenNur ihre U Aufstieg in Bildungsstaatlichkeit vielleicht doch noch zu jenem denkenden Menschen der Stoa, der aber eben in seinem Ha¨uschen zu sehen ist, nicht allzu lang an seinem Platz in geregelter Arbeitszeit. All dies wozu? Damit ein solcher Sozialmensch sich entspanne, sich ausruhe, nicht vom Nichtstun,
262
Ep. 67. De providentia 3 f. 264 Sozialstaatlichkeit – es gilt dies, wie immer man den Begriff erfu¨llt. Immerhin steht etwa seine Bedeutung bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 58 ff. stoischem Denken nahe. 263
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sondern von einer Arbeit, von welcher nur Unmenschlichkeit zynisch behaupten konnte, sie „mache frei“ … Dies ist moderne Sozialphilosophie, ernst und folgerichtig gedacht – nur allerdings mit einer Folge belastet: Wohin soll diese vita beata, soll dieses Glu¨ckselige Leben des Grundgesetzes fu¨hren? Zu immer mehr ma¨ßigem Reichtum des Stoikers265 @ das wa¨re doch wohl ein Widerspruch in sich. Zu einer „heilsamen Unruhe sta¨ndigen Forderns“! Hier liegt der eigentliche, der tiefe Unterschied der „Sozialstaatlichkeit“, im gegenwa¨rtigen Versta¨ndnis, zu stoischem Denken, der geradezu ein Gegensatz wird. Der rast-los dynamische Wohlstandsstaat darf nicht ruhen in denkendem Quietismus. Nur seine (Hilfe zur) Bewegung macht frei, fu¨hrt zur Befreiung aus Arbeitslagern. Dass solche Staatsleistungen aber auch, wesentlich vielleicht, jedenfalls am Ende, gerade zu einem Quietismus des Sozialbu¨rgers fu¨hren ko¨nnten, dessen Staat dem dann, irgendwann, in o¨ffentlicher Mittellosigkeit gerade darin noch folgen mu¨sste: eine solche Gleichsetzung von Mensch und Staat wird in der Mechanik der demokratischen Staatsleistungen in so weiter Ferne gesehen, dass sie irreal bleibt. Zu einem „Ziel fu¨r die Staatsgewalt“ kann es schon deshalb gar nicht werden – als ein „sozialistisches Paradies“. Die eigentliche stoische, letztlich eine kynische Frage stellt sich in diesem System der Staatsleistungen gar nicht; sie lautet ja: Was ist (denn so) schlecht an (der) Armut? Sind Gu¨ter schlechthin Glu¨ck – oder dessen Sto¨rung, die seiner Ruhe? Darf, sollte die Demokratie diese Frage sich aber u¨berhaupt stellen, etwa gar mit einem Blick auf Senecas staatsleistendes Besitzbu¨rger-Denken? Ob es eine demokratische Antwort darauf gibt oder nicht – einer Frage, eines Nachdenkens ist das wohl wert.
4. Wohltaten: Wie zu geben – wie zu empfangen? a) Seneca gibt darauf allgemein Antworten266 in De beneficiis, Buch I. bis IV., im Einzelnen praktische Regeln in Buch V. Doch all dies gilt fu¨r private Wohltaten, an sozialen Staatsleistungen la¨uft es vorbei, schon in seinem Ansatz. Denn der Autor will ja Gebende und Empfangende ein265 266
De tranquillitate animi 8 f. De beneficiis I – IV., im Einzelnen praktische Regeln V.
VI. Der „Gu¨tige Staat“ der Stoa
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heitlich als „gute Menschen“ sehen. Einen „animus tribuentis“, eine „Geber-Gu¨te“ – kann es das im Staat u¨berhaupt geben? Und jene Dankbarkeit, welche sodann breit auf Empfa¨ngerseite in/als Ethik von Seneca behandelt wird267, die aber nicht durch Strafen zu erzwingen ist, sie kann doch bei Sozialleistungen begrifflich gar nicht verlangt werden, da diese ja einen Rechtsanspruch erfu¨llen; soll sie etwa in „Staatstreue zuru¨ckbezahlen“? Oder sollte man sie doch gar durch Strafen erzwingen? Fu¨r den Stoiker ist dies ein Widerspruch zu seiner paternalistischen Grundauffassung268. Ein Sozialstrafrecht ist hier undenkbar. Nu¨tzlichkeit schließlich als Grund und Maßstab zugleich von Staatsleistungen269? Wohlta¨tigkeit ist aber kein marktwirtschaftliches Verhalten, Go¨tter gewa¨hren sie nicht in Erwartung von Gegenleistungen. Darf ein Staat so leisten, der stoische „menschliche Gott auf Erden“? Denn dies nimmt die Stoa hier ganz ernst: Er darf es nicht. In all dem begegnen sich die Stoa und die Demokratie der Staatsleistungen eben nicht. Auch der Volksstaat sollte kein Sozialstrafrecht kennen, es jedenfalls ethisch abmildern. Und: Ein materielles Nu¨tzlichkeitsdenken muss selbst dem Staat der Marktwirtschaft fremd bleiben; er befestigt seine Ordnung in Bu¨rgerzufriedenheit. Wie aber steht es nun mit Einzelregelungen stoischer Wohlta¨tigkeit und staatlichem Sozialrecht in der Demokratie270? b) Dank kann es hier nicht geben, es wa¨re dies nur eine Antwort auf Wohltaten als Beherrschungsformen (ab V. 5.). Der Staat gibt doch sich selbst keine Wohltaten in Leistungen an seine Bu¨rger271. Dank an den Staat durch Sta¨rkung seiner Ordnungslegitimation – ist dies staatsrechtlich fassbar? Die Stoa ha¨lt aber an sich schon wenig von Dankbarkeit, kommt es doch auf die Intentio des Gebenden, nicht des Empfangenden an272. Wohltaten du¨rfen hier auch aufgezwungen, Leistungen auch zuru¨ckgefordert werden: Vielleicht ist „Staatsdank“ nur „vergessen worden“, treten die Leistungswirkungen ja erst spa¨ter ein, um dies objektiv-rechtlich zu 267 268 269 270 271 272
De beneficiis II. De beneficiis III. De beneficiiis IV. De beneficiis V. De beneficiis V, 17 ff. De beneficiis V, 18 f.
100
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wenden273. Entzogen werden ko¨nnen Wohltaten durchaus274, wie bereits angedeutet. Und sodann wird die staats-ethische Kernfrage gestellt, wenn auch allein in individualethischer Form: Erfolgen Staatsleistungen nur im eigenen Interesse, seitens des Staates, also nur in dem seiner eigenen Legitimation allgemein, seiner Ordnungsbefestigung in concreto? Seneca anerkennt durchaus „gemischte Gru¨nde fu¨r Wohltaten“ – folgerichtig fu¨r ein Denken, das sich ja im Geben selbst vollendet, menschlich. Mag dies dann vielleicht auf den menschen-nahen, aus Individuen sich aufbauenden Staat der Demokratie u¨bertragen werden? c) Insgesamt ist diese stoische Philosophie der Wohltaten demokratischem Denken im Grundsa¨tzlichen wie in Einzelgrundsa¨tzen doch immer wieder nahe. Dass sie nicht den gewaltsam oder auch (nur) rechtlich fordernden Bu¨rger kennen will, der als Proletarier aus der Armut seiner Bru¨cken-Lager aufbricht zu Plu¨nderungen in Schlo¨ssern, jedenfalls aber in Umverteilung demokratischer Egalita¨t – das nimmt der Sozialstaatlichkeit der Demokratie allerdings nicht ihre stoischen Kra¨fte. Wer den Volksstaat als Gemeinschaft von Menschen (auch) „stoisch ernst nimmt“, der darf ihn durchaus als Leistungsstaat sehen. Dies la¨sst sich selbst dann noch vertreten, wenn der Staat damit den „denkenden bu¨rgerlichen Intellektuellen“ umverteilend in etwas dra¨ngt, was dieser „Bu¨rger als Bourgeois“ fru¨her bereits als „Armut“ empfunden ha¨tte: Gerade er soll doch nur – endlich – ebenfalls in der Demokratie stoisch denken, wie Seneca (auch) in seiner Verbannung… Wa¨re Stoizismus also nicht doch etwas wie eine demokratische Staatsphilosophie der Geschenke? Wenn selbst Gegensa¨tze sich anziehen (ko¨nnen), so ist dies u¨berzeugt zu bejahen. Und dass Seneca hier als Bourgeois denkt, im Sinne des fru¨hen Sozialismus – was a¨ndert dies? Ist es nicht Zeit, ihn zuru¨ckzuholen in demokratische Staatsberatung, aus seiner bisherigen geistig-staatsrechtlichen Verbannung unter der Demokratie? Ist Zeit dafu¨r noch, bevor eine Demokratie stirbt, bevor sie an ihr Ende denken muss, ihren Tod? Kann nicht die Todesbereitschaft im Denken der Stoa diesen Tod gerade verschieben, aufhalten, verhindern im Staat, indem sie all dies u¨berwindet im Menschen? Daru¨ber ist nun vor(aus)-, nicht nachzudenken in einem letzten Kapitel. 273 274
De beneficiis V, 22. De beneficiis V, so beginnt auch VI.
VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?)
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VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?) 1. Sterben: ein stoisches Kapitel fu¨r Mensch und Staat a) Seneca, der Autor der hier durch die Wandelga¨nge der Stoa gefu¨hrt ¨ ber Ruhe hat er ein Leben hat, fand seinen/ihren Ausgang im Selbstmord. U lang nachgedacht, geschrieben, im Grunde nur u¨ber sie. Doch daru¨ber, ob, dass, wie auch/gerade sie endet – u¨ber diesen Tod als solchen hat er nur sehr ¨ bel, sondern das wenig Nach-Denken hinterlassen. Das Sterben ist kein U 275 ¨ Ende aller Ubel (malorum) . Nicht zu fu¨rchten ist der Tod, u¨ber ihn ist nachzudenken276 @ wie aber, worin? Gerade daru¨ber hat Seneca nichts gelehrt. Er sieht ihn nur als „La porte ouverte“ (Andre´ Gide) 277. Nur eine Mahnung ist zu ho¨ren: „Geh durch sie – hinaus!“ „Stirb und Werde“? Um das Leben kreist seine stoische Philosophie, fu¨r Mensch und Staat, nicht um dessen Ende. Dass es „die Uhren alle, alle stehen“ la¨sst, wie es im Rosenkavalier eine a¨ngstliche Frau sich wu¨nscht, das steht nur hinter diesem Denken, in einer Weltweisheit des Lebens: Dieses sollte nicht durch nichtige Inhalte verku¨rzt werden. Es ist dies das (einzige) Thema des Lebensweisen Seneca278. Demokratisch unsteter Flexibilita¨t, Gescha¨ftigkeit mag er seine Kritik der Bewegung vor Augen halten279; sie will erfu¨llbares, darin la¨ngeres Leben lehren, nur darauf richten sich auch stoische Prognosen und ihre Grenzen280, die dem Zufall keinen sto¨renden Raum geben281. Dass die Zeit la¨uft – wohin? Doch nur ihrem Ende entgegen282 @ das sto¨rt den Denkenden nicht, er fu¨rchtet die Furcht nicht in seiner lebendigen Freiheit283, die ihn vor Drohungen schu¨tzt.
275 276 277 278 279 280 281 282 283
Ep. 4. Ep. 24. De providentia. De brevitate vitae. Vgl. oben II. 6. Ep. 58, auch 96. Ep. 87. Ep. 49. De vita beata 5.
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Ein Todeskapitel284 als Ausklang stoischen Betrachtens? Nein, nur ein weiteres Kapitel Leben wird aufgeschlagen im Tod; daran a¨ndert dessen Ernst nichts, den niemand mehr verinnerlicht als eben der Stoische Mensch285. Das ist aber Come´die humaine (Balzac), ein ganz einfaches „La Commedia e` finita“. Exi – Geh! 286 b) Ist dies (fast) alles nicht demokratisch gedacht, u¨ber Menschen und Staat? Der Volksstaat will doch den „sto¨rungsfreien“ Menschen; gerade deshalb soll das menschliche Wesen ungesto¨rt leben in sozialer Transparenz, in der Sto¨rungsfreiheit der Gesundheitsvorsorge, in allen Sicherungen eines immer weiter auszubauenden Perso¨nlichkeits(rechts)schutzes. Wenn die Stoa eine Kultur des Zu-Lassens bietet, des Zu-Zulassenden, die ganz einfach Halt macht (aber) nur vor einem: vor der Natur des Menschen – warum sollte dies nicht die Weltsicht einer Staatsform sein, die sich der Wirklichkeit so nahe fu¨hlt, sie abbilden, wenn nicht in sich hineinnehmen mo¨chte, die ihrer Menschen, mit und in ihnen? Mo¨glichst sto¨rungsfrei leben (und leben lassen) – am natu¨rlichen Ende abtreten – ist dies nicht geradezu demokratischer Stoizismus pur? Genu¨gt nicht fu¨r das Staatsrecht in den Erziehungssa¨len dieser Staatsform der @ leise… @ Mahnruf eines Lehrers Seneca, wie ihn jeder Schu¨ler kennt: Etwas mehr Ruhe, bitte!
2. „Verfassungsrechtliche Todeskultur“ fu¨r den Staats-Bu¨rger? Stoische Grenzen a) Ihren Einzelmenschen in Ruhe, als ihr Ziel und Zentrum, will die Stoa „sterben lassen“, sein Ende so ganz einfach hinnehmen in dessen ganzer Unausweichlichkeit. Selbst wenn er sich diesen Tod selbst gibt, eben wie etwas ganz Natu¨rliches. Kann da eine „rechtliche Todeskultur“ u¨berhaupt ein Anliegen sein, widerspra¨che dies nicht der Großen Freiheit des menschlichen Lebens, an, in dessen Ende? Der Einzelmensch ist das einzige Wesen, das stoisches Denken u¨berhaupt kennen kann. Darf formuliert werden: „Staat“ gibt es hier nicht wie/weil auch keinen Tod als dessen, letzten, Regelungsgegenstand? Das Sterben „tritt ein“, ganz einfach, es regelt sich selbst, im Totenbett tritt alles, von ihm treten alle zuru¨ck, nicht 284 285 286
Ep. 5. Ep. 23, 51. Vgl. bereits oben B. II. 6.
VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?)
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in eine Ewigkeit, sondern hin zu zahllosen neubeginnenden Leben. Die Stoa ignoriert alles Rechtsfa¨hige, Rechtsfo¨rmige am Tod, er ist ihr, ganz einfach, jenes Nichts, in das er fu¨hrt. Ein Rest von Nihilismus? Wenn es einen solchen geben ko¨nnte, er mu¨sste stoisch gedacht werden. Doch dies wa¨re ein Verfassungsrecht fu¨r Dostojewskis Da¨monen, die nur in Selbstmord enden, deren Leben nicht, nie in stoischer Ruhe auslaufen wird. Denkt nicht in all dem Seneca, der Berater eines Weltherrschers, ganz unstaatlich, allein eben doch einzelmenschlich? Ist der Tod nicht ein letzter Pru¨f-, ein Wegstein, an dem sich Stoizismus und Staatsrecht endgu¨ltig trennen mu¨ssen? Der eine stirbt mit dem Menschen – das andere ist nicht unsterblich, wie es sich fu¨hlen mag (Art. 79 Abs. 3 GG); es lebt dieser „Staat“, allerdings, allenfalls, weiter in einem „Außen“, einem Outer Space, der auch die menschliche Physik „nichts angeht“, weil er ja endgu¨ltig außerhalb jeder Physis liegen bleibt, in Natur. b) Menschen(tum), Menschliches u¨berhaupt, das ist groß, paradox: ¨ ber-Menschliches, das die Demokratie in sich hineinetwas geradezu U nehmen mo¨chte, in ihren Staat als dessen Grundlage und Legitimation. Doch in stoischer Sicht ist sie dessen jedenfalls in einem gar nicht bedu¨rftig: in einer „Todeskultur ihres Staatsrechts“, welche mehr verspra¨che als gehalten werden kann, auf Erden: Ein rechtliches Wirken u¨ber das Sterben hinaus. Wenn fu¨r eine solche staatsrechtliche Todeskultur geworben wurde287, so muss dem nun, jedenfalls aus stoischem Denken, doch eine Grenze gesetzt werden, und zwar alsbald. Ein Jenseits – das ist nichts „fu¨r uns“ – non ad nos! 288. Stoa ist nicht Religion, und das Staatsrecht kann seinen Denkinhalt nicht zur Staatsreligion werden lassen. Gerade darin, dass in stoischem Denken alsbald Grenzen einer Todeskultur sichtbar werden, kann diese „ganz Diesseitsordnung“ bleiben – und doch in eben dieser Grenzziehung Wegweiser aufstellen in eine ganz andere Welt, auch die eines christlichen Gottes. In diesem Sinn sind die ruhigen Todesvorstellungen der Stoiker keine Antithese zu einer „Duldung des Jenseits in Staatsreligion“; sie stellen eine Frage, welche auch diese letztere beantworten will/kann. Hier wird auch eine letzte innere Spannung der Stoa, dieser so ruhigen Welt-Anschauung, sichtbar: Sie setzt ihren Menschen zuru¨ck in einen Radikal-Individualismus – und dann weist sie ihm, an seinem Ausgang zum Tod, nur einen Weg ins Nichts? Sollten also diese Betrachtungen 287 288
Leisner, Der Tod im Staatsrecht, Fn. 54. Vgl. IV. 2.
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Seneca und sein Denken nicht doch, in einem Allerletzten, so verstehen (lernen), wie ihn jahrhundertelange Tradition hat sehen wollen: vielleicht nicht als einen Vor-La¨ufer, wohl aber als einen ruhigen Begleiter auf „Strecken von“ Wegen – anderswohin, in ein Jenseits? Das Staatsrecht mit seiner Todeskultur kann dann eines leisten: Sa¨rge Toter begleiten, kurze Zeit lang, mit verlo¨schenden Kerzen. Den Weg „weiter – hinaus“: den erleuchten Lichter der antiken Philosophie und einer Religion, geboren in Senecas Zeit, jedem einzelnen Menschen (nur) aus ihm selbst heraus.
3. „Staats-Tod“? a) Fu¨r den Stoizismus kann das keine Fragestellung sein. Da er seine philosophie-tragende Ethik allein u¨ber einen Individualismus des in sich ruhenden Menschen aufbaut, muss ihm die Gemeinschaft als solche Teil der Außenwelt sein, non ad nos. Beachtlich, zu organisieren ist er nur darin, dass er Sto¨rungen dieser Ruhe abha¨lt vom Menschen. Ein „wie der Mensch – so der (sein) Staat“289 ist hier nicht vorstellbar, daher auch nicht etwas wie ein „Staats-Tod“ im Sinne des menschlichen Sterbens, das ja auch als solches nicht einen stoischen Mittelpunkt bildet290. Griechische Erfahrungen mochten etwas derartiges kennen, eine attische Demokratie, welcher ein Demosthenes vorgezogene Todesreden halten konnte. Die ro¨mische Res publica war gerade fu¨r die augusteische Generation eines Senecas eine dauernde Realita¨t, in der Ewigkeit der vergilianischen Mauern des Hohen Rom291, uneinnehmbar, unzersto¨rbar, aus einem geschichtlichen Fatum heraus, das der Stoiker in Ruhe hinzunehmen, darin zu u¨berwinden hatte. Es kam ja, so schien es, aus der Ewigkeit der ro¨mischen Historien, setzte sich fort in der Gestalt der Caesaren, all dies politischmenschenfern, „von Ro¨mischer Ewigkeit zu Ewigkeit“292. Staats-Ende, Staats-Tod – das ist ganz einfach kein stoisches Thema, weder aus dem Denken noch aus den perso¨nlichen Erfahrungen eines Seneca heraus. Vielleicht hat es nie eine historisch na¨her bekannte Zeit gegeben, in welcher „Ewiger Staat“ so u¨berzeugt von Dichtern besungen, selbstversta¨ndlich war fu¨r philosophisches Denken. Und gerade aus diesem heraus sollte sich in 289 290 291 292
Vgl. Leisner, Personalismus, Fn. 17, S. 59 f. Vorsteh. 2. Vergil, Aeneis, I, 5. De providentia a. E.
VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?)
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diesem selben Rom die ewige Staatskirche ja siegreich eines Tages entfalten: In hoc signo vinces – in unstoischem Gottesglauben ewig, wenn auch vielleicht sterbend in den Herzen von Demokraten, in Gegenwart… b) Warum sollte das Staatsrecht, in seiner „ro¨mischen Kodifikation“ eine ratio scripta, die Frage eines, seines Todes dann u¨berhaupt stellen? Hat es nicht die stoische Antwort bereit: „Staatstod? Non ad nos!“? Ist es nicht nur die historische Krankheit, intensiv seit Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire, der diese Reichsidee293 in die „historische Krankheit“ gebracht hat? Ist das Staatsrecht nicht dabei, von dieser zu genesen in einer Demokratieu¨berzeugung von der u¨berzeitlichen Identita¨t dieser Staatsform des Unsterblichen Volkes? In all diesen Stro¨mungen, unterirdisch – unbewusst, vereinigen sich ¨ berzeugungen. Die normative Oberfla¨che demokratische und stoische U des Verfassungsrechts konnten sie erreichen in der naiven republikanischen Fru¨h-Begeisterung fu¨r die „republikanische Form des Staates, welche nicht Gegenstand einer Verfassungsa¨nderung sein kann“, wie es 1884, durchaus noch in der Tradition eines antik-revolutiona¨ren Republikanismus, in Frankreich konstitutionalisiert wurde. Deutsche in Niederlage gedemu¨tigte Staatsbescheidenheit hat dies 1949 ins Grundgesetz u¨bernommen (Art. 79 Abs. 3 GG), ohne allzu langes Nachdenken294, ganz einfach in einer faktischen Selbsterkenntnis, vielleicht doch noch in einem Recht von antikem Staats-Idealismus. Doch sodann ward auf eben diesem Grund postulierter, optimaler Ewigkeit ein beispiellos festes, dichtes Normengeba¨ude errichtet. In zahllosen Verfassungsa¨nderungen wurde es ausgebaut, doch seinen Tod brauchte es nie zu fu¨rchten unter der Kuppel einer verfassungsrechtlichen Ewigkeit. Ihre Wo¨lbung wurde erweitert: Die Wiedervereinigung wurde staatsrechtlich begangen, als habe dieser Staat seine Todesgefahr verstanden, sie „wegnormiert“, in Anfang und Ende des Grundgesetzes. „Herr, Dir in die Ha¨nde sei Anfang und Ende, sei Alles ¨ berzeugung zu ihrem gelegt!“ Spricht so nicht mit Goethe demokratische U Staat, dem todesunfa¨higen Wesen? 1945 hat es den Staatstod u¨berstanden, ist in einen Kyffha¨user-Schlaf gefallen, in der wiedervereinigten Bundes-
293
Wie sie auch in Staatslehre und Staatsrecht noch immer „nachschwingt“, vgl. Leisner, Das demokratische Reich, Fn. 36. 294 Nachw. b. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 79 Rn. 31.
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republik jedoch auferstanden; was soll da ein „Staatstod“ dieser Staatsform anhaben?
4. Tod: Spannung oder Scheideweg fu¨r „Stoa und Demokratie“? Der Tod ist nicht ein, er ist geradezu „das“ Kriterium einer Beurteilung eines Spannungs- oder Erga¨nzungsverha¨ltnisses zwischen Stoa und Demokratie – oder ihrer, wenigstens teilweise integrierten Einheit. Das zeigt sich im Grundsa¨tzlichen (a), im typisch Einzel-Menschlichen (b) wie bei einer auf Staatlichkeit konzentrierten Betrachtung (c). a) „Demokratie“ war stets nicht nur „eine Staatsform“, sie war „entschiedener Staat“, von ihren Anfa¨ngen an, ein Gebotssystem mit Entscheidungsanspruch, bis hin zur Totalita¨t des Schierlingbechers fu¨r Sokrates, zu den Guillotinen der Franzo¨sischen Revolution. Ihr „Volk“ konnte, und kann noch heute anders nicht vorgestellt werden denn als ein Souvera¨n in rastloser Bewegung295, „allma¨chtig“ nicht (nur) in potentia, in einem „normativ alles regeln Ko¨nnen“, sondern in actu, in einem sta¨ndig auch „irgendetwas Entscheiden“. Staatlichkeit ist eine Beruhigungsmechanik, deren Ideal stoische Ruhe ist – das ist hier aber nicht politische Realita¨t, nicht rechtliches Ordnungsziel, es ist in dieser Welt gar nicht vorstellbar. Ein Sterben kann es hier nicht geben. Beim Menschen ist es zu ignorieren, als einem Wesen, das ja als solches nicht entscheidet, im Staat nur zusammen mit anderen, immer (noch) weiter Lebenden. Freiheit herrscht in dieser Demokratie. Doch auch sie wird (nur) als Bewegung vorgestellt, prima¨r nicht in einer Ruhe geschu¨tzt. Wenn diese ihre „Beweglichkeit“ aufho¨rt im Tode, so ist dies unbeachtlich fu¨r eine Volksherrschaft, die „sich doch bewegt“, weiter, in neuen, noch lebenden Menschen, als ein perpetuum mobile. Sterben – das zeigen auch hier Demokratie und Stoa in einer „Blickpunktgemeinschaft Individuum“, von der aus aber in ganz verschiedene Richtungen geschaut wird: Hier (nur) bis zum Ende des Menschen, dort in die Unendlichkeit der Rechtsgeltung demokratischer Staatlichkeit.
295
S. oben IV.
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Dieses Unendliche ist fu¨r die Volksherrschaft eine Legitimation, aus der grundsa¨tzlich end-losen Wirkung ihrer Normen heraus296; sie ko¨nnen nicht sterben, immer nur aus sich, „aus Normen neuen Staat geba¨ren“ (Kelsen). Fu¨r eine Stoa, die nicht nur auf dem Menschen den Staat aufbaut, sondern ihn „aus ihm heraus denkt“, gibt es dieses Unendliche nicht: Im Einzelnen erlischt sie, ihr, „das Licht es lo¨schet aus, nun wird es Nacht im Haus“ (Richard Wagner, Tristan, 3. Akt); mit dem Menschen stirbt zugleich „sein Staat“, das einzige, was von diesem staatsrechtlich u¨berhaupt interessieren, Betrachtungsgegenstand sein kann. Einen Staat jenseits dieses Todes gibt es nicht – hier ist nur Auflo¨sung, Nichts. Tod ist kein Weg in Unendlichkeiten eines Jenseits. Im, am Tode scheiden sich so die „Geister“ gegenwa¨rtiger „Diesseitsdemokratie in Jenseitsoffenheit“ – und einer Stoa, die „nur ihren Menschen kennt“, der in seiner Ruhe allenfalls den „letzten Saum des Kleides“ einer Unendlichkeit beru¨hren darf. b) Der Mensch, das Individuum erscheint in demokratischer und in stoischer Sicht jeweils als ein anderes, vielleicht ein „ganz anderes“ Wesen (Karl Barth), in articulo mortis, im Augenblick seines Todes, schon wenn es diesen „vor Augen hat“, also vielleicht bereits in seinem Bewusstsein, ein Leben lang. Fu¨r die Stoa ist dem Menschen dieses Existieren auf der Welt ¨ bel vorals solches „der Gu¨ter ho¨chstes“ nicht, der Tod also nicht als U zustellen297. Todesvermeidung als Selbstzweck , als ho¨chstrangiges Verbot an die Staatsgewalt (Art. 102 GG), als Vernichtung des Tra¨gers des ho¨chsten Verfassungswert der Menschenwu¨rde (Art. 1 GG): all dies wird im stoischen Denken nicht nur relativiert, es ist geradezu abgewertet zum Sterben als einer „ewig dauernden Sto¨rung“ – zugleich aber auch aufgewertet zu etwas, das nicht u¨ber den Menschen hereinbricht, sondern in seinem Herrschaftsraum liegt: Tod ist als solches etwas „ad nos“; wir sind seine Herren, ko¨nnen ihn kommen lassen und gehen, in Eigen- und Staatsvorsorge, auf Zeit. Fu¨r die Stoa ist Selbstmord Erfu¨llung, in der Demokratie jedenfalls Gegenstand einer Ausnahmeerlaubnis298. Deutlicher ko¨nnte nicht zum Ausdruck kommen, dass „der Staat fu¨r jene Demokratie (nur) ein Mittel zum Zweck ist“, zu einem „Zustand der Allgemeinheit in Sicherheit und Ordnung“ – wa¨hrend fu¨r die Stoa, fu¨r ihr Denken, ihre Haltungen, menschliche Werte erst jenseits von all dem 296 297 298
84 ff.
Vgl. Leisner, Unendlichkeit, Fn. 9, insb. S. 96 ff. Ep. 4, 14. Zum Selbstmord vgl. Leisner, Der Tod im Staatrecht, Fn. 166, S. 55 ff.,
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¨ berzeugungen C. Stoische (Grund-)U
beginnen – u¨brigens letztlich gleich, ob es eine solche „Allgemeine Ruhe“ gibt oder nicht. Vertieft muss hier u¨ber den Tod nicht nachgedacht, er muss nicht mit allen individuellen und staatlichen Mitteln verhindert werden; er ist – das stoische Eigentum des Menschen, nicht Staatsbesitz. Der Tod ist bei uns, dem Menschen allein gilt und geho¨rt er. Fu¨r den allma¨chtigen Staat der Demokratie ist er so „wesentlich inexistent“ wie fu¨r den Allma¨chtigen am Kreuz: Der demokratische Staat feiert ta¨glich, stu¨ndlich Auferstehung, in neuen Menschen seines unsterblichen Volkes. c) Staat in Gemeinschaft ist fu¨r die Demokratie ihr Wesen, ihr „Gesicht“, ihre Augen, mit denen allein sie erkennen kann, ordnen, entscheiden. Er selbst ist darin ein sacrum, etwas Heiliges in Selbstverehrung, ihrer Erzwingung – letztlich aber doch nichts, an dem man sich so vergehen ko¨nnte, dass der Tod dafu¨r eine Strafe sein du¨rfte; und nichts, wofu¨r man in Staatsverteidigung sterben mu¨sste, „wie das Gesetz es befahl“, einst, nun nicht mehr in ihrer Gewissensfreiheit geschu¨tzten Bu¨rgern (Art. 4 Abs. 2 GG). Ein Sterben kann sich der stoische Mensch nur selbst befehlen. Fu¨r ein „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben mu¨ssen“ – dafu¨r sind Unza¨hlige gestorben, aber es war falscher Stoizismus. In diesem stirbt jeder ganz allein fu¨r sich, aus sich heraus, aus seinem Todesbefehl, dem seiner Natur, nach einem Schicksal, das er in Hinnahme u¨berwindet299, als Zufall verachtet300; es ist nicht wie in der Demokratie als Unfall zu beklagen – und zu entsorgen. Dieser demokratische Staat droht, nein: er will sich in Dynamik verlieren301, in Ta¨tigkeit, in der Erledigung seiner Gescha¨fte – wenn mo¨glich der seiner Bu¨rger. Er „ist“ erst „in seiner Aufgabe“, wird in ihr erstmals fu¨r das Staatsrecht u¨berhaupt erkennbar302. In ihm u¨bernimmt er, in Allma¨chtigkeit als Allgescha¨ftigkeit, sozialisierend die Gescha¨fte seiner Bu¨rger, nimmt sie „darin mit“, „in sich hinein“ – als sei es in eine Unsterblichkeit, die er selbst fu¨r sich rechtlich definiert (Art. 79 Abs. 3 GG). Darin aber – u¨bernimmt er sich in den Augen des Stoikers, handelt er ultra vires,
299
De providentia 5. Ep. 13, 16, 87. 301 Vgl. vorsteh. II. 302 In der Lehre von den „Staatsaufgaben“, vgl. dazu die Darstellungen im HStR3, Bd. 4. 300
VII. Tod: Ewige Ruhe fu¨r Mensch und Staat (?)
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lo¨st sich in seinen Aufgaben selbstgefa¨hrdend auf 303. Tod als Selbstauflo¨sung in Selbstu¨berscha¨tzung, schon zu Lebzeiten: Eine Mahnung der Stoa an den Menschen, den sie kennt304, zu richten aber auch an einen Staat, den sie nicht kennen will, u¨ber dessen Ra¨nder, „Grenzen in Menschen“ sie nur nachdenkt in stoisch-ruhiger Bescheidenheit. Der Tod als eine Linse fu¨r die Schwa¨che menschlicher Augen: Dies (allenfalls) ist diese „Haupt- und Staatsaktion“ der Demokratie. In ihr soll sich ihr Souvera¨n aber nicht selbst beerdigen. In ihr u¨berlebt er – sich selbst? Diese Frage sollte (sich) das Staatsrecht nicht stellen (du¨rfen), vielleicht bereits aus dem Gebot einer Staatstreue (Art. 5 Abs. 3 GG).
5. Sterben: Stoische Selbstauflo¨sung von Mensch und Staat a) Doch bevor demokratischer Staatszorn es erreicht, darf demokratisches Staatsrecht vor und u¨ber den Tod seines Menschen, seines Staates doch noch einmal nachdenken – stoisch. Wer diesen Seneca aufnimmt, u¨ber seine Effekte, Effekthaschereien hinwegliest, die ihn lange Zeit als unsterblich haben erscheinen lassen, auf den wirkt doch bleibend sein tiefer stoischer Ernst, den eine demokratische Gegenwart in „ihrer Staatlichkeit als Spaß“ nicht vergessen darf. Denn ihre Menschen mu¨ssen, auch in ihr, eben sterben, sollte sie auch kein Jenseits erwarten. Die Stoa will nicht tro¨sten, nicht einmal in den Consolationen des Seneca; vielleicht aber vermag sie es gerade darin, mehr als anderes Denken. Sie nimmt das Ende des Menschen so hin, dass er es sich sogar selbst zu geben bereit ist, wie der Kaiserberater – und sei es unter dem Zwang von „A¨ußerem“. Beherrschen kann er dies nicht, er will es gar nicht ordnen. Er erlebt das Ende so ganz einfach, mit einer selbstversta¨ndlichen Notwendigkeit, die weit u¨ber die jeden Rechtszwangs hinausgeht. Dieses „TodErleben im Leben“, Stoische Ruhe als Ewige Ruhe schon in der einzigen Ewigkeit, die der Mensch kennen kann, weil er sie er-lebt, sta¨ndig im 303
Leisner, W., Demokratie: Selbstzersto¨rung einer Staatsform, 1979, 2. Aufl., in: ders., Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefa¨hrdeten Staatsform, 1998, S. 31 ff. 304 De tranquillitate animi, 4 – 7.
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¨ berzeugungen C. Stoische (Grund-)U
Angesicht des Todes: All das lehrt stoische Philosophie. Kann sie darin auch Staatsphilosophie sein? b) Sie darf es, muss es, denn gerade die Demokratie stellt ihr staatsrechtliche Fragen, die sie nicht allein beantworten kann, u¨ber die sie aber mit-diskutieren darf, in einem gewissermaßen staatsrechtlich-parlamentarischen Halbrund der Staatsphilosophie. Fu¨r die Vertreter des Staatsrechts, den Verfasser, der als solcher Seneca lesen durfte, ist dies eine Selbstversta¨ndlichkeit. Der Mensch darf sich nicht allzu ernst nehmen in stoischem Ernst, gerade dieser warnt ihn davor. Sein Ende im Tod sollte (auch etwas) wie eine – „Selbstauflo¨sung in Philosophie“ sein. In Ruhe kann der Mensch das Ende seines eigenen Lebens erwarten, ja es herbeifu¨hren. In noch gro¨ßere Ruhe darf er in seinem ¨ ffentlichen Recht, seiner Verfassungsgeschichte blicken auf Kommen O und Gehen, „Rise and Fall“ von Staaten, Nationen, Staatsformen, von Reichen im vollen Wortsinn. Die Stoa lehrt im Grunde eines (nur): All dies, sich selbst und sein eigenes Sterben, ernst nehmen, gerade deshalb aber nicht „allzu ernst“. Sollte darin etwas zu finden sein wie eine Relativita¨tstheorie des Staatsrechts? Auch hier la¨uft ja nicht Tragik ab, sondern, in stoischer Fro¨hlichkeit (hilaritas) ein Satyrspiel, von Lebens-, im Staat von Machttrunkenen dargestellt. Tod? „La Commedia e` finita“. „Geht heim!“ Wohin? Ins Nichts, ins Jenseits? Die Stoa weiß es nicht. Sie legt keine Kra¨nze nieder. Sie ist kein StaatsBegra¨bnis. An den Kreuzen am Weg selbst geht sie voru¨ber – zu ihrem Tod, irgendwohin – in „ihrem Leben“ …
D. Ausblick. Senecas Stoisches Denken: Nicht „die“ demokratische Staatsphilosophie, aber eine Sinnerfu¨llung von ihr Diese Betrachtungen versuchten stets mit der Stimme des stoischen Kaiserberaters zu sprechen, doch sie ho¨ren sie mit den Ohren eines Demokraten. So manche Dissonanzen wurden laut, aber eben doch auch beruhigende Kla¨nge dieses stoischen Denkens in Ruhe. ¨ bernommenen, mag der Dem hier Vorgestellten, durchaus nicht voll U Vorwurf eines großbu¨rgerlich-aristokratisierenden Elitarismus gemacht werden. Er ist nicht nur hin-, er ist ernst zu nehmen, wie es gerade stoisches Denken verlangt. Nicht diese Haltung als solche, aber eben doch „etwas von ihr“ sollte bleiben, vielleicht in Staats-Renaissancen wiederkommen in „diese unsere Demokratie“, in „dieses unser Land“, wie es ein fru¨herer Kanzler, wenn auch nicht immer in einem geistigen Sinne, ansprach.
I. „Gemischte Staatsform“ – „Gemischte Staatsphilosophie“? 1. Ein staatsrechtlicher Humanismus Dass diese Staatsform gerade in Deutschland ihre „Ruhe suchen“ sollte, halten ihr alle wohlmeinenden Kritiker vor, auch wenn sie sich stets in Staatstreue u¨ben mu¨ssen. Wer am Ende – in Betrachtungen u¨ber „das Ende“ (C am Ende) nur diese Mahnung ausspricht, macht sich vielleicht einer Banalita¨t schuldig. Doch ist es wohl auch eine Staatswahrheit305, die einzige vielleicht, die es in demokratischer Rechtswelt geben kann, nach deren Staatsrecht geben darf. Dies spricht aber – davon hat Seneca jedenfalls den Verfasser u¨berzeugt – zugleich eine dra¨ngende Staatsaufgabe an, die einzige, welche heute allgemein und selbst unter der wenig duld305
S. Leisner, Die Staatswahrheit, Fn. 52.
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D. Ausblick
samen Volkssouvera¨nita¨t, anerkannt ist: Die Notwendigkeit gemischter Staatsformen, nach der aristotelischen Staatslehre. Dies ko¨nnte sodann zu etwas fu¨hren, was als ein entscheidender „Schritt in Staatsgrundsa¨tzlichkeit“ in der Klassischen Allgemeinen Staatslehre der Weimarer Zeit306 bereits angedacht, vielleicht schon aufgenommen worden ist: Sie verstand sich doch im Grunde als ein ordnendes StaatsrechtsDenken, damit in Na¨he jedenfalls zu einer Rechtsphilosophie, welche das Verfassungsrecht seit den revolutiona¨ren Unruhen, Ende des 18. und wa¨hrend des ganzen 19. Jahrhunderts, nie mehr voll hatte erreichen ko¨nnen, obwohl gerade mit Kant deren Grundlagen in dieser Zeit gelegt worden waren. Die Ruhe seines „Ewigen Friedens“, so ko¨nnte eine (gewagte) These lauten, ist historisch erkannt worden – und zur gleichen Zeit Seneca mit seiner Ruhe verschwunden aus einem Staatsrecht, das sich aus der Staatstheorie mehr und mehr zuru¨ckzog. Einen langsam-vorsichtigen Ru¨ckweg zu Reichtu¨mern vergangener Staatsphilosophie wollten die hier vorgelegten Betrachtungen beschreiten, in einer Entfaltung des Gemeinguts der gemischten Staatsform als der besten zu einer „Staatsphilosophie“, die allerdings erst zu entdecken wa¨re in der Suche nach einer Mischung aus philosophischen Denkstro¨men u¨ber Menschen und Staat – Staat wie Mensch, also: Demokratie in ihrem vollen Sinn.
2. Eine Mischung antiker Rechtsphilosophien Gerade der Kronzeuge dieser Betrachtungen, Seneca, hat diesen Gedanken einer „gemischten Philosophie“ aufgenommen, immer wieder angesprochen: In seiner Na¨he zu epikureischem307, ja kynischem Denken, und in seinem platonischen Ruhe-Idealismus. Seine Zeit hat solches in ihrer philosophischen Lage, in ihrem Bildungsstand, ihrem (Staats-)Recht bereits gelebt. Seneca hat uns all das „am Ende, in seinem Ende“ – hinterlassen. „Ru¨ckgriff auf die Antike“ findet nun sta¨ndig statt308, in Staatslehre, Staatsphilosophie. Sie sollte in aristotelischem Distinktionsund platonischem Integrationsdenken zusammenwachsen, in einer Suche 306 Sie bleibt gu¨ltiger Ausgangspunkt jeder demokratischen Staatslehre, vgl. Leisner, Institutionelle Evolution, Fn. 3, S. 29 ff. 307 Vor allem eben in seiner geistigen Na¨he zu Epikur, vgl. B. II. 308 Leisner, Institutionelle Evolution, Fn. 3, S. 16 ff.
II. Demokratisches Staatsrecht
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nach der, nach einer vorsichtigen Mischung von Staatsphilosophien zu einem „Richtigen (Staats-)Recht“. Damit ist eine Ru¨ckbesinnung in staatsrechtlichem Humanismus grundsa¨tzlich gefordert. Eine Zeit, welche ihre humanistischen Gymnasien verbal o¨ffnet zu „allen ho¨heren Schulen als Gymnasien“, sie gleichzeitig aber zu schließen beginnt, „statistische Erkenntnisse“ zeigen es, fu¨r die „alten“, die „toten“ Sprachen: Ist diese Zeit u¨berhaupt noch in einer geistigen Lage zu solcher Ru¨ckkehr, zu einer „Zukunft als Vergangenheit“309? Untersuchungen haben mit Fragen zu beginnen und mit ihnen zu enden, es sei denn, sie du¨rften sogleich rechtlich entscheiden, mit Staatsgewalt…
II. Demokratisches Staatsrecht: Zwischen Mehrheitsentscheid und stoischer Regierungs-Beratung Dies sollte hier gezeigt werden, als eine literarische Wegweisung zu einem der mo¨glichen „Ziele einer Staats-Mischung“ in Stoizismus. Und es sollte deutlich werden fu¨r eine Demokratie, die doch auf einen ersten Blick310 alles andere zu suchen scheint, „zu sein“, als stoische Ruhe. Antithetisches Denken311 mag als eine breite Straße dahin sich o¨ffnen, in eine Synthese der Mischungen fu¨hren: aber nur, wenn andere staatsphilosophische Straßen auch gegangen werden – zugleich. Sollte ein solcher Vielwege-Weg staatsrechtlich mo¨glich sein? Diese Betrachtungen bringen keine gewisse Erkenntnis, wohl aber eine Hoffnung, eine Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck: Gegenwa¨rtiges demokratisches Denken ist lebensfa¨hig, sinnfa¨hig und -tra¨chtig nur darin, dass es sich lo¨st aus der Einbahn eines Mehrheitsdenkens als Staatswahrheit, Entscheidung als Wahrheit nur darin. Die Demokratie braucht, wie keine andere Staatsform, die denkende Perso¨nlichkeit an ihrer Spitze, in Ruhe, und sei es auch nur die des NichtHandelns, ja vielleicht gar Nicht-Denkens. Institutionen einer Staatsfu¨h309
Leisner, Prognose, Fn. 25. Vgl. vor allem C. I. 311 Zum antithetischen Denken vgl. Leisner, Antithesen-Theorie fu¨r eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998, S. 861 ff. 310
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D. Ausblick
rung kann sie schaffen, die einfach nur „aus ihrem Sein heraus wirken“, als Force tranquille eines Mitterand, die allein in ihren Mo¨glichkeiten ma¨chtig ist, u¨ber sie nachdenken, sich beraten lassen kann. Die Mehrheit des flutenden Volkswillens darf, muss bewegen – sich aber auch stets letztlich brechen an den Kaimauern einer Staatlichkeit in stoischer Ruhe, einer, der Ordnung. Fleet in being: darin war Englische Weltmacht, darin liegt Staatsrecht in Macht. Der Stoizismus kann Mehrheiten sehen, in a¨ußerem Geschehen wahrnehmen. Herrschen muss er aus einer monarchisch-pra¨sidenziellen Ruhe heraus, u¨ber politische Entscheidungen, die in aristokratischem Denken fallen. Sie alle mu¨ssen offen sein fu¨r diese Beratung, wie sie ein Seneca geben konnte, in staatsrechtlicher Ruhe, @ und sie weitergeben kann. Dies ist dann gemischtes Staatsrecht in einer Staatsformmischung aus Staatsphilosophie. In ihr hat die Stoa ihren Platz, nicht den einzigen, aber einen sinngebenden, sinn-schweren. Sie stellt sich die Demokratie vor als einen Zustand beruhigter, beruhigender Politik, als ein Ordnungsziel aus individual-menschlicher Haltung, in Gespra¨chen, nicht immer nur in Streit, in ¨ berschwang. Alles was Nachdenklichkeit, nicht allein in begeisterndem U dahin fu¨hren kann, ist in dieser Staatsform daher stoisch gedacht, wenn auch nicht allein in solchen Bahnen. Es sind einzelmenschliche Haltungen, die so in den Staat der Demokratie hineinwirken: Sie sollte nicht immer, nicht allein, aber eben auch stets eine nachdenkliche Staatsform sein, geleitet von besonnenen Fu¨hrern, vor allem aber beraten von Gestalten, die aus ihrer Perso¨nlichkeit heraus jene Ruhe in das demokratische Regieren tragen, aus dem dann eine wahrhaft optimale Staats-Politik erwachsen kann, in einer Mischung von Staatsphilosophie aus Machtgenuss und Machtferne. Seneca ist eine Lektu¨re fu¨r Regierungsberater312, gerade in der Demokratie. Und mo¨ge sie ihnen nicht ein Ende bereiten, wie dem Sokrates! Denn staatsrechtliche Beratung glaubt an „demokratische Werte, die wandeln wie Menschen“, sich in Wahrheiten verwandeln, so wie jener einst in den Schutzgo¨ttern seiner Stadt seinem Ende begegnete. Beratendes Denken mo¨chte so Go¨ttliches in seiner eigenen stoischen Ruhe sehen (du¨rfen), nicht zu einem Handeln wird es treiben wie ein unruhiger Imperator, der seinem Berater Seneca nur die Ruhe des Todes u¨brigließ.
312
Zur Staats- und Regierungsberatung s. Voßkuhle, Fn. 142.
II. Demokratisches Staatsrecht
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Stat Ius: Demokratie in stoischer Ruhe – wenigstens zu Zeiten: Wa¨re das nicht ein idealer Staat, auch wenn er nicht von Platons „Philosophen als Ko¨nigen regiert“, sondern nur beraten wu¨rde – in Staatsrecht? Dies wird der letzte Wunsch eines jeden Beraters von Ma¨chtigen sein, dem eines gelungen ist: Macht nicht als ein Mu¨ssen sehen zu lassen, sondern als ein Du¨rfen – ein Geschenk, wahrhaft im Sinne des scho¨nsten Buches, das daru¨ber geschrieben wurde: De beneficiis – von Lucius Annaeus Seneca.
E. Ergebnisse – Kurzfassung 1. A. I., S. 13 bis 17 Demokratie ist als „Staatsform“ an sich in rechtlicher Statik vorzustellen, in „Grundwerten“ und einem „Wesensgehalt“, festgehalten in einer Souvera¨nita¨tsvorstellung vom „Letzten Wort“. Gleiches gilt grundsa¨tzlich fu¨r eine Freiheit als individual-menschliche Gegen-Souvera¨nita¨t. Doch die Demokratie sieht sich immer mehr in eine Dynamik geworfen, in der wesentlichen Bewegtheit des Volkswillens, der als Macht reagiert auf die sta¨ndige Bewegung der Verha¨ltnisse – wie dies ja auch der vom Staat geschu¨tzten freien menschlichen Perso¨nlichkeit eigentu¨mlich ist. Im Volksbegriff selbst, im Wahlrecht, in der Meinungsfreiheit bewegt sich diese Staatsform in einer unbegrenzbaren Unruhe, aus der sie auch in Verfassungsstaatlichkeit nicht leicht zu einer Stoischen Ruhe finden kann, die sogar eher als ihr Gegenbegriff erscheint.
2. A. II., S. 17 bis 21 Statische Ruhe-Stu¨tzen des Staatsrechts schwa¨chen sich gegenwa¨rtig ab, brechen gar weg. „Ruhe im Staat(srecht)“ ko¨nnte gefunden werden in Ru¨ckgriffen auf fru¨here Formen und Erfahrungen, in einer „Staatsrenaissance“. Doch fu¨r die Demokratie ist dies eher ein Gegenbegriff: Sie hat sich stets und immer rascher gewandelt. Tradition nach Verfassungsgeschichte ist hier mehr ein staatsrechtliches Referenz-, als ein Lehrbuch. Monarchien, Aristokratien verschwinden, mit all ihren statischen Stu¨tzen, als politische gelebte Verfassungen, im dynamischen Republikanismus der Fortschrittsdemokratie. Herko¨mmliche Familienbindungen lo¨sen sich, der Staat u¨bernimmt ihre Erziehungsaufgaben. Religion oder gar Staatskirchenrecht bestimmen nur mehr in „Restbesta¨nden“ das Gemeinschaftsleben der Demokratie, nicht mehr als Stationen auf Wegen in „Ewige Ruhe“. Die Wirtschaft hat sich aus agrikoler Gutsherrlichkeit in unruhige Wettbewerblichkeit entwickelt. Dies ist die „geistige Lage unserer Zeit“ – in
E. Ergebnisse – Kurzfassung
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Demokratie verfasst. Ist in ihr „Statik in Staats-Ruhe“ bereits „staatlich verloren“?
3. A. III., S. 22 bis 25 Staatsrechtliche Institutionenlehre ist kein Weg zur Erfassung demokratischer Dynamik, sie versperrt ihn. Ihre Prognostik beschra¨nkt sich auf eine Gegenwart, zu der sie die Zukunft werden la¨sst. Gefordert ist daher Staatsphilosophie in humanistischem Ru¨ckgriff auf die Antike. Allgemeine Staatslehre, in ihrer klassischen Form bei Georg Jellinek, war Institutionenlehre und Verfassungsvergleich. Die „Unruhige Demokratie“ konnte sie dagegen in deren Wesen nicht erfassen. In der „klassischen Staatslehre“ der Weimarer Zeit wurde bei Kelsen demokratische Unruhe in Normativita¨t „wegdefiniert“, Schmitt entließ sie in Entscheidungen, bei Smend erscheint sie in Integration als aufgehoben. Staatsrecht bleibt Institutionenlehre.
4. A. IV., S. 25 bis 31 Gegenwa¨rtige Demokratie ist nicht ordnend zu erfassen, in institutionellen Ru¨ckgriffen auf Formen einer staatsrechtlichen Statik; sie ist ein Ordnungszustand in Entwicklung, vielleicht ein Auflo¨sungszustand fru¨herer rechtlicher Formen in neue Machttechnik. Dies entspricht den großen „Ordnungsauflo¨sungen“ der Antike: der Attischen Demokratie und des Ro¨mischen Reiches, in ihren Erscheinungsformen und Bewa¨ltigungsversuchen in antiker Staatsphilosophie. In Athen hat dies im Platonismus zu einer Individualethik als Staatsethik gefu¨hrt. Ro¨mische Staatlichkeit wird von deren Ausla¨ufern, in Epikureismus und, vor allem, der Stoa, in etwas wie Endzeit-Philosophien begleitet: im Pflichten-Denken Ciceros, in der Vergnu¨gungssuche der Epikureer, besonders aber in einem Stoizismus, wie er, in ro¨mischer Version, in Individual- und Staatsrechtlichkeit bei Seneca begegnet. Daher stellt sich die Frage, ob der aristotelischen Staatsformen(Kombinations-)Lehre gegenwa¨rtig nicht eine demokratische Staatsphilosophien-Mischung entsprechen sollte, in einer in a¨hnlichen Entwick-
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E. Ergebnisse – Kurzfassung
lungen stehenden geistigen Lage der Gegenwart, insbesondere im Staatsrecht. Ein stoischer Beitrag dazu wird hier versucht.
5. B. I., S. 32 bis 37 Senecas geistiges Erbe zeigt in seinen Wirkungen immer wieder Na¨hen zu staatsrechtlichen Entwicklungen der Gegenwart. Fu¨r viele Generationen hat er beispiellose staatspolitische Erziehungsbedeutung erlangt. Dieser Autor war eine reiche, volle Perso¨nlichkeit, Staatsberater im Zentrum der Macht, bewundert in seinem Stil – und in seinem Sterben, Vertreter einer stoischen Staatsphilosophie, der in sich ruhenden Autorita¨t. Die Editionsgeschichte seiner Werke erreichte, nach dem Humanismus der Renaissance, Ho¨hepunkte im franzo¨sischen Absolutismus, wirkt aber weiter bis in den antik-stoischen Heroismus der Franzo¨sischen Revolution und Napoleons Milita¨rstaatlichkeit. Im Liberalismus verlor sein strengruhiger Ernst an staatspa¨dagogischem Einfluss, in Sozialismus und Kommunismus ging sein Individualismus verloren in Gemeinschaftsdenken. Ru¨ckkehr zu stoischer Ruhe, mit Seneca „in die Demokratie“ – ein Wagnis.
6. B. II., S. 37 bis 42 Grundgedanken des Stoizismus zu „Mensch und Staat“, wie Seneca sie bietet, sind: - Metaphysik ist fu¨r die Stoa nicht Gegenstand, Erkenntnis(lehre) gibt es hier allenfalls in Individualethik. Folge ist ein grundsa¨tzliches „Staat wie Mensch“, Staatslehre aus, in menschlicher Ruhe. - Virtus – ein stoischer Zentralbegriff – ist nicht ein Verhalten nach einem Gebotskatalog „materialer Ethik“, der von außen an den Menschen herangetragen wird: Sie ist dessen „Haltung“, in welcher der Ko¨rper den Geist ausdru¨ckt. „Menschen-tauglich in Leistung“ muss diese Haltung sein. „Richtig“ verha¨lt sich der Mensch nur in Ruhe: In sich selbst. - Der Mensch, „sein eigener Gott“, findet diese Ruhe geradezu in einem Sein, ja sogar Handeln, in Unbewegtheit. Mensch und Staat bedu¨rfen
E. Ergebnisse – Kurzfassung
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nicht legitimierender Kra¨fte von „Außen“. Im Staat ist alles naturrechtliche Macht dieser menschlichen Staatsgewalt, Umwelt-Schutz des Menschen in dessen Natur-Recht. - Ruhe(n) ist alles, fu¨r Mensch wie Staat(sgewalt). Sie bedu¨rfen darin nicht der Rechtfertigung oder des Beweises durch Aktion. Rechtliche Grundlage ist immer ihre Unerschu¨tterlichkeit. Sie verschwindet, ganz natu¨rlich, im Tod des Menschen, im Staatsende in der politischen Wirklichkeit. - Reichtum, Gu¨ter – das sind Externa (A¨ußerlichkeiten) fu¨r den Menschen, die allenfalls seine Ruhe „abfedern“, ihn nicht in Besitzgier beherrschen du¨rfen. Wirtschaft gibt es nur in Ethik. Stoische Ruhe ist eine „Welt des eigenen Denkens“. Meinungen anderer sto¨ren sie, einer „Streitkultur“ bedarf es nicht, welche sie auflo¨sen ko¨nnte in Bewegung zwischen Angst und Hoffnung. Ruhe kommt aus der Willensrealita¨t des Menschen, und in einem ruhigen, imperialen Staat. - Tod ist Abgang in die letzte, dauernde Ruhe, in einem akzeptierten, sogar in einem selbstgewa¨hlten Ende.
7. B. III., S. 42 bis 45 Senecas Stoizismus zeigt viel Gemeinsames mit christlichen Vorstellungen: Weltordnungsdenken in Naturrechtlichkeit, einen „Menschen unmittelbar zu (s)einem Gott“, eine Tugendlehre fu¨r Mensch und Staat, ethische Dogmatik, Relativierung „irdischer“ Gu¨ter, Genusssucht als Irrweg/Su¨nde, Hilfsbereitschaft als Menschlichkeit: in all dem konnte Seneca in der Geschichte als „fru¨he(ste)r Christ“ erscheinen. Doch in Grundsa¨tzlichem erscheint hier auch Distanz zum Christentum: Einen Perso¨nlichen Gott, eine Kirche, die in ihrem Glauben zu ihm fu¨hren ko¨nnte – all das gibt es im Stoizismus nicht. Mit guten Werken kann kein Himmel verdient werden; Wohlstand auf Erden verheißt ihn nicht. Benediktinisches Ora et Labora spricht nach der Stoa nicht einen betenden und leistenden Menschen (an); dieser ist ein ruhiges Wesen, der andere in Ruhe la¨sst, nicht auch noch Vo¨lker lehren will, in Mission geistig be¨ bergang ins herrschen, machtma¨ßig in Staatsrecht. Tod ist ihm kein U Jenseits, sondern ein einfacher Abgang.
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E. Ergebnisse – Kurzfassung
8. B. IV., S. 45 bis 48 Bedeutet dies Na¨hen oder doch – weite – Distanzen zwischen Seneca und einem Grundgesetz mit seinen immerhin christlichen Traditionen? Nicht mit einem System-Anspruch ist das zu untersuchen, sondern in bescheideneren Schwerpunktvergleichen, gerade weil ja die grundgesetzliche Ordnung sich in einer gewissen Offenheit darstellen will. Eine nach Materien aufgliedernde Behandlung soll hier geboten werden: In Inhaltsvorausschau zeigt sie sich, weithin Senecas Hauptschriften entsprechend: Individualismus und Perso¨nlichkeitsschutz (De vita beata), Strafrecht/Strafgewalt (De ira), Staatsdienst – Staatsferne (De tranquilitate animi, De otio sapientis), Religion (De providentia), Gu¨tiger Staat (De beneficiis), Gu¨te, Besitz (De vita beate), Tod (De brevitate vitae, Consolationes). – All dies ist wesentlich angereichert in den Epistulae ad Lucilium.
9. C. I., S. 49 bis 62 a) Freiheit bedeutet fu¨r die Stoa nicht prima¨r ein Wahlrecht in Entscheidung, sondern Entscheidung aus eigener Individualita¨t heraus, mit Blick auf andere, auf (deren) Gu¨ter, in einer Kollektiv-Situation. In der Grundgesetzlichen Ordnung wird dies vor allem bereits aufgenommen in der Wu¨rde des Einzelnen, staatsorganisatorisch etwa in einem Beamtenstatus oder in richterlicher Unabha¨ngigkeit. b) Die Perso¨nlichkeit des Menschen entscheidet, aus dessen Gewissen ¨ berzeugung. Meinungskampf (Art. 5 GG) ist nicht heraus, in freier U Staatsziel, sondern Staats-Instrument. Entscheidend ist das Selbst-Bewusstsein des Denkenden, fu¨r die Stoa wie nach dem Grundgesetz. c) „Ein Leben nach Gesetzen der eigenen Natur“ des Menschen – dies ist die stoische Version des Naturrechts. Nicht alle „Natur außerhalb des Menschen“ aber bringt Gutes, sondern nur eine in ethischer Vernunft erkannte. Diese Anthropozentrik beru¨hrt sich mit der des Grundgesetzes, in dessen Vorstellung von Umwelt. Zunehmend soll sie allerdings, gegenwa¨rtig, Grenzen finden in einer Eigenwertigkeit der Natur. Demokratische Gescha¨ftigkeit und Vergnu¨gungssuche wa¨re aber „Innenwelt nach Außenwelt“ – Umkehr der Stoa. d) „Stoischer Ernst“ ist ein noch immer allgemein anerkannter Kennzeichnungs-Begriff. „Spiel“ ist kein Kennwort der Stoa, bei Seneca spielt es
E. Ergebnisse – Kurzfassung
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keine Rolle. Ernste Orte kennt er als Heiligtu¨mer, ernstes Schweigen, ein Leben, das in Seriosita¨t den Tod bedenkt – vorwegnimmt. In solch ernster Wu¨rde sollte auch der Staat des Grundgesetzes pra¨sentiert, ja in Monumentalita¨t vorgestellt werden. Doch zunehmend verliert sich dies gegenwa¨rtig in einer Mentalita¨t des „Spielens“: im Sport, dessen Aufnahme durch die Massen, in der Medienwelt, in einer Marktwirtschaft als Lotterie des Wagnisses, in Politik als Schauspiel. Diese Demokratie wa¨chst (nicht nur) dort, sie muss (aber) zuru¨ckfinden in die Stoa: Ernster Mensch in ernstem Staat. e) Ruhe verlangt Dauer in Kontinuita¨t. Der Stoizismus findet sie in der Einheit der Perso¨nlichkeit, der die des Staates entspricht, aus ihr wa¨chst. Von ihr fa¨llt alle zufa¨llige Gescha¨ftigkeit ab. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes a¨ndert sich in organisatorischen Einzelheiten, nicht aber in ihren Grundrechts-Grundlagen. Kontinuita¨t sichert sie in Rechtsstaat und Vertrauensschutz – in Verfassungsstoizismus. f) Seneca, der Kaiser-Berater, sieht in den (wechselnden) Mehrheiten nur einen Unruheherd, im „Volk“ die vulga¨re Masse, plebejisches Vergnu¨gen; dem widmet er eine vernichtende Kritik der Herdenmoral. Seinem schweigenden Menschen steht der vielredende, „vernetzte“ Demokrat gegenu¨ber, in seiner Begehrlichkeit, in seinen unsicheren, verunsichernden Meinungen, seinem Strafrecht, das nicht bessern, sondern in die Masse hinein re-integrieren will – schwer u¨berbru¨ckbare Distanzen, die sich allenfalls in Staatsmilde verringern lassen. g) Stoisch ist es gedacht, Mensch, Freiheit, Staat in Haltungen zu sehen, als Zusta¨nde, nicht als Anspruchsgrundlagen. Anders als fu¨r die Demokratie ist hier Freiheit ein Gesamtzustand, der im Menschen selbst „erreicht ist“ – wenigstens werden kann. Wahlen, dieser Mittelpunkt demokratischen Denkens, ko¨nnen fu¨r eine solche Philosophie nicht „heilsame Unruhe“ sein, sondern nur Sto¨rung, allenfalls sekunda¨re Ordnungsinstrumente. Sind in all dem nur Antithesen zu sehen zwischen Senecas Stoizismus und gegenwa¨rtiger Demokratie – oder doch auch Synthesen(bereiche)?
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10. C. II., S. 62 bis 72 a) (C. II. 1. ff.) (Gemu¨ts-)Bewegung ist eine Kraft, welche der Demokratie Dynamik verleiht, ja in ihr geradezu als legitimierende Kraft eingesetzt wird. Vom Staatsgefu¨hl u¨ber einen Patriotismus bis zur „Entru¨stung“, ja zum Volkszorn, wirkt sie auf die Staatlichkeit in unerbittlicher Strenge. Fu¨r Seneca ist allerdings jede Art von „Zorn“ geradezu Gegenpol zu seiner stoischen Ruhe. b) (C. II. 2.) Gemu¨ts/Gefu¨hlsbewegungen, bis hin zu „Zornausbru¨chen“, welcher Art immer, sind unvereinbar mit stoischer Ruhe wie mit der Rationalita¨t der demokratischen Staatsform. Diese ist wesentlich „beratbar“ in gericht (sa¨hn)lichen Verfahrensga¨ngen, die der Vielfalt ihrer Anla¨sse im Ergebnis in Abwa¨gung gerecht werden. Emotionale Judikatur hat hier keinen Platz. c) (C. II. 3.) Unruhegru¨nde („Beleidigungen“) du¨rfen nach der Stoa nicht zu Rache fu¨hren, Meinungsextreme nicht honoriert werden, wie so oft in der Demokratie. Unersa¨ttliche Gier aus deren Marktwirtschaft dra¨ngt Mensch und Staat(sorgane) in die Korruptionsversuchungen einer „Staatsgu¨te“. Hier mahnt Seneca demokratische Grundsa¨tze an. d) (C. II. 4.) Strafrecht ist fu¨r den Stoiker grundsa¨tzlich problematisch; dem Sto¨rer begegnet Polizei. Abschreckung erzeugt nur Furcht – neue Unruhe. Und wir alle sind „bo¨se“. Staatsrechtliche Grenzen erlaubten Denkens – Sanktionen gegen menschliches Handeln – das mag noch stoisch gedacht sein; nicht gilt dies aber fu¨r einen „Staatsschutz“. Der Ruf „Ruhe!“ im Gerichtssaal? Gerade noch …
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e) (C. II. 5.) Erziehungsanstrengungen des Einzelnen oder des Staates ko¨nnen aus der Sicht der Stoa die zu erstrebende Ruhe in Fremdbestimmung, vor allem aber in einer Viel-Gescha¨ftigkeit gefa¨hrden, welche in stoischem Denken auch den Wettbewerb, das demokratische Grundprinzip, kritisch sehen la¨sst. f) (C. II. 6.) Dem Tod des Menschen begegnet der Starke mit Gleichmut, als Ende ruhesto¨render Dynamik. Demokratie la¨sst gerade deshalb „wegschauen vom Tod“, sollte aber bei einer zu entwickelnden Todeskultur Anleihen nehmen bei jenem Denken.
11. C. III., S. 72 bis 79 a) (C. III. 1.) Staatsferne oder Staatsna¨he? Diese Grundsatzfrage, gerade fu¨r Seneca, sollte in einer ruhigen inneren Staatsdistanz beantwortet werden, in deutlicher Spannung zum „demokratischen Aktivbu¨rger“, zu einer Politikbegeisterung, vielleicht aber auch zu monarchisch begru¨ndeter Beamtenmentalita¨t. Staat das sollte ein Beruhigungsmittel sein, seine Ruhe findet der Mensch dort nicht. b) (C. III. 2.) Die Staatsgewalt der Demokratie als solcher la¨sst sich „im Namen der Wahrheit“ oder in furchterregender Gewalt gegen demagogische Entartungen der Staatsformen nicht einsetzen. Stoische Gewissenserforschung versucht der Staat organrechtlich, letztlich aber ist sie Sache des Menschen. Er muss solchen Entwicklungen als Kontrolleur von außen letztlich immer entgegenwirken (ko¨nnen). c) (C. III. 3.) Stoisches Ziel ist etwas wie eine „staatsnahe Staatsferne“ des Menschen. Er „wirft sich nicht in Vertrauen in den Staat“, u¨bertra¨gt auf diesen viel-
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mehr seine eigene, ruhige innere Transparenz. Sie befiehlt nicht, sie o¨ffnet sich der Kritik, beruhigt diese aber in der Statik ihrer Institutionen. Fu¨r Seneca ist dies die „Offenheit des statisch-statuenhaften Staatsrechts“.
12. C. IV., S. 79 bis 83 a) (C. IV. 1.) ¨ berzeugung, keine ReliDer Stoizismus ist keine kirchengebundene U gion, sondern allenfalls eine Weltanschauung im Sinn des Grundgesetzes. Zur „Ersatzreligion“ wird er auch nicht in dem Sinn, dass er einen Verbindungsweg darstellen ko¨nnte zwischen staatsrechtlichem Individualismus und einem wie immer vorgestellten Jenseits. b) (C. IV. 2.) Vorstellungen von einem perso¨nlichen Gott, Glaube an ihn, ist dem deistischen Individualismus Senecas fremd. Sein Stoizismus mag als personale Weltsicht verfassungsrechtlichen Schutz genießen, religio¨se Erkenntnisse aus Selbsterkenntnis bereichern; bei ihm geht es aber um diese, nicht um personalistisch-transzendente, religio¨se Erkenntnisse. Zentrum bleibt die Personalethik. c) (C. IV. 3.) In der Offenheit (s)einer Weltanschauung begegnet der Stoizismus ¨ berzeugungsfragen. Grundzu¨gen der Toleranz des Grundgesetzes in U Seine Staatlichkeit zeigt hier die Milde einer Ruhe, fern von sektiererischem Eifer. Stoisches Ma¨rtyrertum ist stiller Abgang in Selbstmord. Die Stoa ¨ berzeugung; diese erlaubt dem Menschen belehrt nicht, sie will Selbst-U auch das Grundgesetz. Stoa will noch weit mehr Toleranz als die unruhige Demokratie.
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13. C. V., S. 83 bis 93 a) (C. V. 1.) Wirtschaftliche Ziele und Probleme beherrschen zunehmend das Staatsrecht der Gegenwart – dennoch hat sich dort bisher noch keine „o¨konomische Staatsphilosophie“ entwickelt. Das Thema einer in Eigentum gesicherten Perso¨nlichkeit wird geradezu „wegdynamisiert“ in der flutenden Bewegung der Demokratie, der es um Erwerb geht, nicht um Besitz. La¨sst sich hier u¨berhaupt noch Verbindendes finden zu einem stoischen Individualismus mit seinem Vorrang der Entscheidung aus Perso¨nlichkeit? b) (C. V. 2.) Die Stoa lehnt radikal die Faszination des Besitzes ab; Armut ist ihr kein ¨ bel: sie wird in ruhigem menschlichen Bewusstsein u¨berwunden, nicht in U kommunistischer Umverteilung. Soweit demokratische Sozialstaatlichkeit eine solche zum Selbstzweck werden la¨sst, nicht nur zur Sta¨rkung der menschlichen Perso¨nlichkeit einsetzt, trennen sich die Weg von Stoizismus und Volksherrschaft. c) (C. V. 3.) In einem begegnen sich Stoizismus und Demokratismus: in der Frontstellung gegen einen „Luxus“, der fu¨r den „Kleinen Mann“ so wenig „Bedu¨rfnis“ ist wie fu¨r den Denker. Und fu¨r Seneca fu¨hrt dies auch zu Ablehnung eines jeden „Staatsluxus“, selbst in Machtdenken. d) (C. V. 4.) Das Vergnu¨gen (voluptas) ist der Erzfeind der Stoa, der Kaiserberater verachtet Po¨belspiele des Volkes. Die Demokratie hatte historisch begonnen in a¨hnlichem Ernst ihrer Großen Revolution, in Volks-Erziehung als Aufstieg in Denken. Nun verliert sie sich zunehmend in einem MassenSpaß, den ihr Massen-Wohlstand beschert. Selbst an ihrem Staats-Theater der Demokratie will sie noch „Fun“ finden (lassen).
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e) (C. V. 5.) Seneca setzt sich, wie viele Denker, dem Vorwurf aus, als „reicher Eigentu¨mer“ seine Lehren nicht zu leben. Dies zu widerlegen gelingt ihm nicht unter Hinweis auf die Annehmlichkeit des Besitzes. Hier ist stets eine menschliche Schwachstelle seines, wie u¨berhaupt des aristokratischen Stoizismus geblieben. Die „sichernde Ruhe des Eigentums“ ist auch in der Stoa nicht hinreichend thematisiert.
14. C. VI. S. 93 bis 100 a) (C. VI. 1.) Eine der wichtigsten Schriften des Kaiserberaters ist sein Lehrbuch der Menschen- und (Staats-)Gu¨te De beneficiis. Doch das Zentralproblem des demokratischen Eigentumsrechts, die „Beherrschungsmacht der Geschenke“, wird dort nicht behandelt – nur die „Technik“ des Schenkens und Empfangens. b) (C. VI. 2.) Staatsgu¨te zeigt sich fu¨r Seneca vor allem in der Milde, insbesondere strafrechtlicher Sanktionen. Sie ist Regierungskunst aus Selbstbeherrschung, nicht Bedu¨rfnisbefriedigung der Macht, nicht demokratisches (Wahl-)Geschenk zur Machterhaltung, sondern Ausdruck dessen, was heute „reine Humanita¨t“ heißen ko¨nnte. c) (C. VI. 3.) Fu¨r Senecas Stoizismus ist Armut kein Unglu¨ck, Unglu¨ck eher Chance. Gute Staatlichkeit ist nur als eine Ordnung vorstellbar, die sich nicht in Gu¨te erscho¨pft. Sozialstaatlichkeit setzt andere Priorita¨ten. Armut schafft hier Anspru¨che, „heilsame Unruhe“ des Forderns. Ist aber nicht doch ein Glu¨ck aus denkender Ruhe wertvoller als alle Staatsleistungen?
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d) (C. VI. 4.) Der Philosoph hat sich am Ende seiner „Wohltaten-Dogmatik“ eingehend dazu gea¨ußert, wie Leistungen zu geben, zu empfangen sind. Dank kann, braucht es hier nicht zu geben, Entziehung ist mo¨glich. Wohltat ist ethische Leistung – zu und aus Moral, nicht Marktwirtschaft. Auch der Staat „schenkt sich darin nichts an Legitimation“; er befestigt sich in Ruhe – wie der Mensch.
15. C. VII., S. 101 bis 110 a) (C. VII. 1.) ¨ ber ihn denkt er nicht vertiefend Den Tod hat Seneca selbst geu¨bt. U nach, es sei denn in einem menschlichen Ernst, der in Ruhe abtreten will. Er bietet darin Lebens-, nicht Todesphilosophie. – Nicht anders handelt eine Demokratie, die Staatsform der Lebensvorsorge, nicht einer Todeskultur. Gemeinsam ist: „Etwas mehr Ruhe im Leben, bitte!“ b) (C. VII. 2.) Die Stoa sieht den Tod, ganz einfach, als ein natu¨rliches Ende. Eine rechtliche Ordnung in „staatlicher Todeskultur“ kann fu¨r sie kein Thema sein. In ihrem Radikal-Individualismus mag sie den Tod nihilistisch betrachten. Dass der Staat ihn als offene Tu¨r behandelt, Demokratie in Jenseitsoffenheit – der Stoizismus verbietet es nicht. c) (C. VII. 3.) Einen konkreten Staatstod, ein Ende von Staatlichkeit, kann es fu¨r den Stoiker Seneca nicht geben, schon weil bei ihm alles aus individualistischer Ethik kommt, aber auch weil seine Generation ihr Rom fu¨r die Ewigkeit gebaut sah. Darin trifft er sich mit einer Demokratie, der „ewigen“, unsterblichen Staatsform (Art. 79 Abs. 3 GG), in welcher 1949 Deutschland seinen Tod u¨berstanden sah.
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d) (C. VII. 4.) Der Tod ist „das“ Beurteilungskriterium des Verha¨ltnisses von Stoa und Demokratie. Letztere „ist“ (legitimiert) in allma¨chtiger staatlicher Entscheidungs-Bewegung, wie in individueller Wahlfreiheit – alles „grenzenlos gedacht“. Todesvermeidung hat hier nicht ho¨chsten Rang. Fu¨r die Stoa ist der Tod etwas, das „dem Menschen geho¨rt“, bis zum Selbstmord, wertig immer aus einem „Denken in Ruhe“ heraus. Fu¨r den Staat als Gemeinschaft(swert) muss der Demokrat nicht mehr sterben; fu¨r die Stoa ist der Staat als solcher gar kein Wert. In all dem begegnen sich, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gru¨nden, Stoizismus und Demokratie. e) (C. VII. 5.) Die Stoa lehrt Sterben als Selbstauflo¨sung des Menschen in seiner Ruhe, beginnend schon im Leben; darin auch Ruhe des Staates. So wird sie sogar zu einer „Staatsphilosophie aus dem Menschen“ – wie dies ja auch das letzte Ziel der Demokratie ist. In diesem wahrhaft stoischen Ernst begegnen, erga¨nzen sich beide.
16. D., S. 111 bis 115 a) D. I. Der Stoizismus bietet also vielleicht keine „Staatsphilosophie als solche“, wohl aber ethische Individualphilosophie zu philosophischer Staatserkenntnis. Darin fu¨hrt er aristotelisches Denken der „gemischten Staatsform“ fu¨r die Demokratie weiter, zu einer „gemischten Staatsphilosophie“ fu¨r sie, zu einem Gemeinschaftsdenken, dem die Stoa entscheidendes Individualdenken hinzufu¨gt. In dieser „gemischten Staatsphilosophie“ ist etwas lebendig wie „staatsrechtlicher Humanismus“. Und dies in einer Zeit des Sterbens des „alten, echten“ humanistischen Gymnasiums… b) D. II. Die Demokratie kann „ihre Staatsphilosophie“ nicht finden allein in Betrachtungen zu Mehrheiten und deren Entscheidungen. Stoische Ruhe wird sie nur erreichen, wenn Pra¨sidentieller Monarchismus und partei-
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politischer Aristokratismus in ihrem Staatsrecht zusammenwirken mit dem Egalitarismus der „Majorita¨t“. In der „Ruhe der Staatsberatung“ in Wissenschaftlichkeit, in einem so erweiterten „Philosophen-Ko¨nigtum“ liegt eine große demokratische Chance. Seneca zeigt sie noch heute der ruhelosen Volksherrschaft. Nicht Machtwille @ Ruhe im Denken sollte die Volksherrschaft im Letzten halten.