An den Wurzeln moderner Demokratie: Bürger und Staat in der Neuzeit 9783050046983, 9783050044569

In Alessandro Pinzanis Arbeit wird das Denken der Philosophen Machiavelli, Hobbes, Rousseau und Kant als Basis genommen,

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German Pages 383 Year 2009

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An den Wurzeln moderner Demokratie: Bürger und Staat in der Neuzeit
 9783050046983, 9783050044569

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Alessandro Pinzani An den Wurzeln moderner Demokratie

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

18

Alessandro Pinzani

An den Wurzeln moderner Demokratie Bürger und Staat in der Neuzeit

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004456-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Grafisches Centrum Cuno, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort und Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1. Vier Modelle aus der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Liberalismus im Kreuzfeld der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vier Wurzeln moderner Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhaben der vorliegenden Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike vs. neuzeitliche politische Philosophie? Gegen eine falsche Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Vergangenheit und Gegenwart: ein schwieriger Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Kriterien für die Auswahl der Bezugsautoren dieser Untersuchung . . . . . . . . . .

15 17 20 22 24 29

2. Machiavelli: Virtù des Fürsten und gute Ordnungen als Bedingungen der Moralität der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10. 2.11. 2.12. 2.13.

Die „Modernität“ von Machiavellis Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machiavellis Hauptproblem: die nationale Einheit Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . „L’antica virtù“: Machiavelli und die Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Fortuna und anderen Gottheiten: Machiavelli, das Mittelalter und der Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Polis zum republikanischen Rom: Machiavellis Beziehung zum florentinischen politischen Denken des Mittelalters und zum Bürgerhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machiavellis Anthropologie und die Rehabilitierung der Laster . . . . . . . . . . . . . Klassenkampf und republikanischer Expansionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machiavellis Geschichtsauffassung (I): Die zufällige Entstehung von Moral und Gesellschaft und der Zyklus der Verfassungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machiavellis Geschichtsauffassung (II): Die zwei Zyklen und der „außerordentliche Mann“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wohlgeordnete Republik (I): Die Herrschaft der Gesetze und die Vorzüge der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wohlgeordnete Republik (II): Die guten Sitten unter den Bürgern . . . . . . . Die wohlgeordnete Republik (III): Die bürgerliche Miliz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Bürgertugenden und Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 41 44 49 52 54 60 65 70 73 78 82 85

6

INHALT

3. Hobbes: Politische Macht und moralische Haltung als Mittel zur Friedenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8. 3.9. 3.10. 3.11. 3.12. 3.13. 3.14. 3.15.

Der historische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hobbes’ Menschenbild zwischen Natur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rationalität als Rechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Naturzustandsargument (I): Wie Hobbes seine anthropologische Prämissen gewinnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Naturzustandargument (II): Wie das Argument läuft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Narren und ihr Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gefangenendilemma und die Bündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Krieg der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Souverän als Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabe und Verpflichtungen des Souveräns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Moral bei Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Weisungen der Vernunft: Hobbes als Tugendethiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Religion als Instrumentum Regni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Souverän und die Erziehung des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Hobbes zwischen Liberalismus und Republikanismus? . . . . . . . . . . . . . .

88 92 97 100 102 106 109 111 114 116 121 125 130 136 139 142

4. Rousseau: Individuen zwischen Utopia und Weltverzicht . . . . . . . . . . . . . 146 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8. 4.9. 4.10. 4.11. 4.12. 4.13. 4.14. 4.15. 4.16. 4.17. 4.18. 4.19. 4.20.

Auf der Suche nach dem verlorenen Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unschuld, Fall und Erlösung: Rousseaus Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rousseau zwischen Antike und Moderne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Diskurs und die Attacke auf das Ancien Régime . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur und Geschichte: der zweite Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach dem Naturmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom amour de soi zum amour propre: der lange Weg ins Verderbnis . . . . . . . Bürgertugend, Vaterlandsliebe und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Auftauchen des Gemeinwillen und der gerechte Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gemeinwille, die Herrschaft der Gesetze und das stumme Volk . . . . . . . . Das Gewissen des bourgeois und das des citoyen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der große Manipulator und die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das unrealisierbare Modell: Rousseaus idealer Staat zwischen Verklärung der Wirklichkeit und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zwei Verfassungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (I): Der Einfluss von Montesquieu Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (II): Rousseaus Tugendbegriff . . . Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (III): Nationale „Kinderspiele“ . . . Fazit: Rousseaus idealer Staat als geschlossene Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .

147 149 153 155 157 160 163 169 175 177 180 185 187 192 196 202 208 211 212 216

INHALT

7

5. Kant: Die Republik der rationalen Teufel und die Moralisierung der menschlichen Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7. 5.8. 5.9. 5.10. 5.11. 5.12. 5.13. 5.14. 5.15. 5.16. 5.17. 5.18. 5.19. 5.20. 5.21.

Kants Republikanismus neu entdeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moral und Politik bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbestimmung, Volkssouveränität und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Begriff der Republik: seine geschichtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . Wirkung und Gegenwirkung: der vorkritische Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idealität und Notwendigkeit des Republikbegriffs: die erste Kritik und die Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Vertrag „eigentümlicher Art“: die Republik im Gemeinspruch . . . . . . . . . Wie wird Souveränität ausgeübt? Respublica phaenomenon und respublica noumenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die rechtliche Unzulässigkeit vom Widerstand und die faktische Kraft der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Freiheit gezwungen? Das „teleologische“ Modell Kants . . . . . . . . . . . . . . . Das krumme Holz und die Frage der Unmündigkeit der Bürger . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der selbstständige Bürger zwischen Erziehung und Emanzipation . . Kants Tugendethik wiederentdeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Reich der Zwecke als politische Gemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht und Moral (I): ein kompliziertes Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht und Moral (II): rechtbürgerlicher und ethischbürgerlicher Zustand . . . Recht und Moral (III): innere Rechtspflichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trennungsthese und politische Tugenden: rationale Teufel als gute Bürger . . Moralisierung durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants demokratische Tugenden: Kritik als Bürgertugend? . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Republikanisierung vs. Republikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222 224 227 229 230 234 237 242 248 254 258 263 269 273 276 280 281 287 292 295 302

6. Eine Art Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

Fehlende Perspektiven bei unseren Bezugsautoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was kommt zuerst: tugendhafte Bürger oder gute Institutionen? . . . . . . . . . . . Politische Tugenden, Bürgertugenden und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratie zwischen republikanischer Verklärung der Vergangenheit und liberalem Verzicht auf Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306 310 312 315

7. Republikanismus, Liberalismus und Demokratie heute . . . . . . . . . . . . . . . 320 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7.

Die Wiederentdeckung einer „vergessenen“ Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Varianten des Republikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Stimmen zum Republikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ideal der „civic community“ und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Starke Demokratie“ und die Frage direktdemokratischer Institutionen . . . . . Wertneutralität oder liberale Bürgertugenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratische Institutionen und Bürgermoralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320 325 328 333 337 340 347

8

INHALT

7.8. Demokratische Öffentlichkeit als Ort politischer Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . 352 7.9. Müssen wir unsere Art und Weise, Demokratie zu denken, neu denken? . . . . 355

Anhang: Vier soziologische Lesarten mit philosophischer Bedeutung . . . 359 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380

Vorwort

1907 veröffentlichte Benedetto Croce ein Buch mit dem Titel „Was ist lebendig, und was ist tot in Hegels Philosophie“ (Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel, Bari, 1907). Croce nahm sich vor, jene Elemente der Hegelschen Philosophie hervor- und aufzuheben, die nach seiner Meinung dem erbarmungslosen Zahn der Zeit hatten widerstehen können, und die man zum Aufbau einer neuen idealistischen Philosophie hätte verwenden können. Wenn man die Interpretationen klassischer Philosophen liest, die aus der Feder vieler gegenwärtiger Denker stammen, hat man häufig den Eindruck, dass sie in demselben Geist wie jenes Buch Croces verfasst wurden, und dass sie darauf abzielen, die Elemente auszusortieren, die für die Theorien der (nur angeblichen) Interpreten noch von Nutzen sein könnten: Man denke z. B. an Galston’s Aufsatz „What Is Living and What Is Dead in Kant’s Practical Philosophy“, der Croces Titel wörtlich übernimmt, wenn auch mit einem anderen Bezugsautor als Hegel (Galston 1993). Einer der meist ge- und missbrauchten Autoren ist in dieser Hinsicht eben Kant, dessen politisches Denken sich viele wichtige Denker der Gegenwart, von Rawls bis Habermas, angeeignet haben, quasi um ihren eigenen Theorien durch Berufung auf Kants unzweifelbare Bedeutung für das politische Denken eine größere Autorität zu verleihen. Ein ähnliches Schicksal erging und ergeht noch heute auch den drei anderen Denkern, die Gegenstand dieser Arbeit sind: Machiavelli, Hobbes und Rousseau. Auf der Suche nach dem, was „lebendig“ in ihrem Denken war, haben viele Exegeten jene Aspekte vergessen oder ausgeblendet, die diese Autoren von uns auf unüberwindliche Weise fernhalten. Von ihnen benutzte Begriffe wie „Republik“, „Demokratie“, „Staatsbürger“, „Moralität“ oder „Tugend“ werden oft nicht im ideengeschichtlichen Kontext interpretiert, sondern für die gleichlautenden gegenwärtigen Begriffen gehalten, sodass es z. B. immer wieder Interpreten gibt, die meinen, Rousseau und Kant seien Gegner der Demokratie, nur weil sie eine Regierungsform verurteilen, die sie zwar Demokratie nennen, die mit unserem Begriff der Demokratie jedoch wenig gemeinsam hat. Andererseits gibt es auch viele Exegeten, die das Werk klassischer Philosophen ausschließlich historisch interpretiert wissen wollen und für welche die begrifflichen Unterschiede unüberbrückbar sind, sodass es überhaupt sinnlos ist zu versuchen, die Argumente eines Machiavelli oder Hobbes für gegenwärtige Debatten noch zu benutzen. Kein lebendiger Dialog wäre danach mit den Klassikern möglich: Die einzig angebrachte Beziehung zu ihren Werken wäre vielmehr die einer respektvollen, ja sogar ehrfürchtigen, philologisch akribischen Exegese. Ich werde in dieser Arbeit einen dritten Weg gehen. Während ich auf philologische und geschichtliche Korrektheit nicht verzichten möchte, verfolge ich gleichzeitig ein

10

VORWORT UND DANKSAGUNGEN

Ziel: das Denken von Autoren wie Machiavelli, Hobbes, Rousseau und Kant als Basis zu nehmen, um die Reflexion über die Beziehung von Individuum und Staat neu zu beleben. Mein langfristiges Ziel (das ich durch weitere Werke zu erreichen hoffe) ist es, eine Theorie zu entwickeln, die der neuen Rolle gerecht wird, die den Staatsbürgern gegenwärtiger Demokratien in einem Zeitalter zukommt, in dem einzelstaatliche Souveränität durch jene Phänomene ausgehöhlt wird, die wir im Ganzen als Globalisierung bezeichnen. Im vorliegenden Werk werde ich mich jedoch darauf beschränken, die Positionen unserer vier Denker zu analysieren und auf die gegenwärtige Debatte um den Staatsbürger zu beziehen, da sich viele Teilnehmer der Debatte auf eben diese Denker berufen (z. B. die Neu-Republikaner auf Machiavelli und Rousseau, die Liberalen auf Hobbes oder Kant usw.). Ich werde weitgehend auf eine direkte Auseinandersetzung mit der Literatur um die von mir berücksichtigten Autoren verzichten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Ein solches Unternehmen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen – umso mehr, als es sich um Denker handelt, die zu den am häufigsten diskutierten und analysierten (manchmal sogar psychoanalysierten, wie vor allem im Fall von Rousseau) zählen. Nur in manchen Fällen werde ich auf einzelne Interpretationen eingehen – und zwar immer dann, wenn sie besonders relevante Aspekte aufzeigen.

Danksagungen Die vorliegende Arbeit beruht auf dem Text, den ich als Habilitationsschrift beim Philosophischen Seminar der Universität Tübingen im Oktober 2003 vorgelegt habe, und der in Februar 2004 angenommen wurde. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung haben die Verfassung dieses Werkes unterstützt: die erstere durch die Finanzierung eines Forschungsprojektes über moralische Grundlagen der Demokratie (unter der Leitung von Otfried Höffe), die letztere durch die Gewährung eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums, das mir einen neunzehnmonatigen Forschungsaufenthalt an der Columbia University in New York ermöglichte. Otfried Höffe, Thomas Pogge und Nadia Urbinati haben mir geholfen, das ursprüngliche Konzept zu fokussieren und das gesamte Projekt zu verwirklichen. Bedanken möchte ich mich auch bei den vielen Kollegen, die mir bei der Ausarbeitung einzelner Teile bzw. einzelner Fragen durch ihre Anmerkungen, Anregungen und Kritik geholfen haben. Allen voran seien erwähnt: Oliviero Angeli, Luiz Bernardo Leite Araujo, Lorenzo G. Baglioni, Aysen C. Bilgen, Maria de Lourdes Alves Borges, Carla De Pascale, Sônia T. Felipe, Marina Lalatta Costerbosa, Luíz Moreira Gomes, Katja Laubinger, Bernd Ludwig, Reidar Maliks, Lukas Mayer, Jean-Christophe Merle, Maria Moneti Codignola, Robert Pippin, Alberto Pirni, Peter Rinderle, Felipe Simmel, Debora Spini, Álvaro de Vita,

VORWORT UND DANKSAGUNGEN

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Allen Wood und Christoph Wolgast. Weiterhin möchte ich danken: den Kollegen der Oberseminare von Prof. Höffe in Tübingen; den Kollegen vom Department of Philosophy und vom Department of Political Sciences der Columbia University, New York; den Dozenten und Studenten der Postgraduiertenprogramme der philosophischen Fakultäten der PUCRS von Porto Alegre und der UFSC von Florianopolis und den Kollegen des „Gruppo di ricerca nazionale sulla Filosofia Classica Tedesca“ (Universitäten von Padua und Florenz), mit denen allen ich einige Kapitel dieser Arbeit diskutiert habe. Danke auch an Susanne Roemer, Marianne Ott-Haug, Laura Sherr und Edeltraut Wolski für ihre unschätzbare Hilfe bei unzähligen bürokratischen Fragen. Holger Müller und Frank Hermenau haben dem Text zu einer sprachlichen Gestalt verholfen, die er ursprünglich nicht besaß. Mein besonderer Dank geht an Herrn Dr. Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag für die hervorragende Lektoratsarbeit und für die Freundlichkeit und den Enthusiasmus, mit denen er die Veröffentlichung dieses Buchs begleitet hat. Ich habe diesem Projekt einige Jahre meines Lebens gewidmet. Mein Dank geht an all die Menschen, die mir in dieser Zeit nahe gestanden haben, allen voran meinen Eltern Anna und Giovanni und darüber hinaus: Sabrina, Marco, Cristina, Birgit, Martin, Karin, Frank, Vivian und Bruce, Thorsten, Adolf, Tobias, Ilaria, Manuela, Jutta, Pilar, Silvia, Carlo, Steffi und Peter, David und Antonia, Marion und Herwarth, David und Michael, Emil, Draiton und Elke, Christine und Tony, Hollie, Felix und Paula, Gabriel: Danke, thank you, grazie, gracias, obrigado ...

Zitierweise

Machiavelli Die Zitate aus Machiavellis Werken werden folgenderweise gekennzeichnet: Kürzel des Titels (oder ganzer Titel) mit Angabe von Buch bzw. Gesang (römische Zahl) und eventuell Kapitel, Paragraph oder – im Fall der Gedichte – Zeile (arabische Zahl); Kürzel SW (für: Sämtliche Werke, hg. von J. Ziegler, 8 B.de, Karlsruhe 1832-1841), Angabe von Band (römische Zahl) und Seite (Beispiel: D III, 1; SW I, 262). Im Fall des Principe bezeichnet die römische Zahl das Kapitel. Für die Titel werden folgende Kürzel benutzt: As. Amb. D DFR IF Ing P PD Satzung di scusa

L’asino (Der gold’ne Esel) Dell’Ambizione (Der Ehrgeiz) Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Betrachtungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius) Discursus Florentinarum Rerum (Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz) Istorie Fiorentine (Florentiner Geschichte) Dell’Ingratitudine (Die Undankbarkeit) Il Principe (Vom Fürsten) Parole da dirle sopra la provisione del danaio, facto un poco di proemio et (Über die Anschaffung von Steuergeld)

Hobbes Im Kapitel 3 beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf den Leviathan. In den anderen Kapiteln wird hingegen die Kürzel Lev. benutzt. DH Lev.

De Homine. Zitiert wird aus: Vom Menschen / Vom Bürger, hg. von G. Gawlick, Hamburg 1959 Leviathan. Zitiert wird aus: Leviathan, hg. von I. Fetscher, Frankfurt a. M. 1984

ZITIERWEISE

13

Rousseau Falls nicht anders angegeben, wird zitiert aus: J.-J. Rousseau, Soziophilosophische und Politische Schriften, Düsseldorf/Zürich 1981. CGP CS DEG DI DSA EP Em. LA LB LM NH Obs.

OC OL PCC PN Rev.

Consideration sour le gouvernement de la Pologne (Betrachtungen über die Regierung Polens) Contrat Social (Vom Gesellschaftsvertrag) De l’état de guerre (Vom Krieg) Discours sur la cause et l’origine de l’inegualite parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste) Discours sur l’economie politique (Abhandlung über die politische Ökonomie) Émile. Zitiert wird aus: Emil oder Über die Erziehung, hg. von L. Schmidts, Paderborn u. a. 131998 Lettre à d’Alembert. Zitiert wird aus: J.-J. Rousseau, Schriften, hg. von H. Ritter, München/Wien 1978, Bd. 1, 333-474 Lettre à Christophe de Beamont (Brief an Christophe de Beaumont); zitiert wird aus: J.-J. Rousseau, Schriften, hg. von H. Ritter, München/Wien 1978, Bd. 1, 497-589 Lettres écrites de la Montagne (Briefe vom Berge) Nouvelle Héloise Observations de Jean-Jacques Rousseau de Geneve sur la Réponse qui a été fainte à son Discours (Bemerkungen von J.-J. Rousseau aus Genf über die Antwort des Königs von Polen auf seine Abhandlung); zitiert wird aus: J.-J. Rousseau, Schriften, hg. von H. Ritter, München/Wien 1978, Bd. 1, 67-92 Œuvres complètes, publiée sous la diréction de B. Gagnebin et M. Raymond, Paris, Bibliothêque de la Pléiade, 1959-69 (auf die Kürzel folgen die Angabe des Bandes in römischer Zahl und der Seite in arabischer Zahl) Essai sur l’origine des languages ... (Versuch über den Ursprung der Sprachen) Projet de constitution pour la Corse (Verfassungsentwurf für Korsika) Prefation à Narcisse (Vorwort zu „Narcisse“); zit. wird aus: J.-J. Rousseau, Schriften, hg. von H. Ritter, München / Wien 1978, Bd. 1, 145-164 Les Rêveries du promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers); zitiert wird aus: J.-J. Rousseau, Schriften, hg. von H. Ritter, München/Wien 1978, Bd. 2, 637-760

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ZITIERWEISE

Kant Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert. Die römische Zahl bezieht sich auf den Band, die arabische auf die Seite. Die Kritik der reinen Vernunft wird, wie üblich, nach der Paginierung der ersten (A) bzw. der zweiten (B) Ausgabe zitiert. Folgende Kürzel werden für die Titel einzelner Werke benutzt: ApH GMS GS Idee KpV KrV KU MA MS R Rel. RL RM Streit TL VE ZeF

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Idee einer allgemeinen Weltgeschichte in weltbürgerlicher Absicht Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Metaphysik der Sitten Reflexion aus dem Nachlass Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Metaphysik der Sitten, I Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen Der Streit der Fakultäten Metaphysik der Sitten, II Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Eine Vorlesung über Ethik, hg. von G. Gerhardt, Frankfurt a. M. 1990 [Erstausgabe: 1924] Zum ewigen Frieden

Kapitel 1 Vier Modelle aus der Neuzeit

„As for philosophers, they make imaginary laws for imaginary commonwealths, and their discourses are as the stars, which give little light because they are so high.“ F. Bacon1

1.1. Liberalismus im Kreuzfeld der Kritik Vor einigen Jahren schien die Welt der politischen Philosophie von einem unerbittlichen Kampf erschüttert zu sein: In Deutschland und Italien, in Spanien und den USA, überall war von der Auseinandersetzung „Kommunitarismus vs. Liberalismus“2 die Rede. Allmählich haben sich die Wogen geglättet. Aus der Debatte kristallisierten sich Positionen heraus, die nicht so unversöhnlich und entgegensetzt zu sein schienen, wie zuvor angenommen. Man wäre sogar versucht zu sagen, dass der Berg schließlich nur ein Mäuschen geboren hat, hätte diese Debatte nicht doch mindestens eine wichtige Konsequenz gehabt. Die sog. Kommunitaristen bewiesen sich zwar als eine ziemlich heterogene Gruppe, in der manchmal stärkere Unterschiede festzustellen waren, als zwischen ihnen und den Liberalen selbst (man denke nur an die unter vielen Aspekten entgegensetzten Positionen eines Alasdair MacIntyre und eines Charles Taylor bzw. eines Michael Taylor). Die Liberalen bemühten sich nichtsdestoweniger, die Einwände ihrer Kritiker ernst zu nehmen, teilweise zu akzeptieren, und versuchten, dem so heftig attackierten Liberalismus ein neues „Image“ zu verleihen. Sie wollten nicht mehr als Vertreter einer Theorie gelten, der jeweils vorgeworfen worden war, wirklichkeitsfremd zu sein; die mannigfaltigen Gebiete menschlichen Handelns auf die ökonomische Sphäre zu reduzieren; den homo oeconomicus zu ihrem eigentlichen Subjekt zu machen; ein Menschenbild zu haben, in dem die Individuen, statt in ihrer geschichtlichen und sozialen Dimension erfasst zu werden, als Monaden auftreten, die wie Pilze aus dem Boden schießen, (um ein berühmtes Bild von Hobbes zu benutzen) – Pilze, die außerdem egoistisch-strate-

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Zit. in Macedo 1990, 43 (aus: Francis Bacon, The Advancement of Learning, II, 23, London 1974, 49). Ein Symposium, das in Passau im Juli 1999 gehalten wurde, spitzte die Frage zur Alternative „Individuum vs. Kollektiv“ zu (Beckmann/Mohrs/Werding 2000). Zur Debatte vgl. Honneth 1993, Forst 1994, und – um einen Beitrag aus einer südeuropäischen Perspektive zu nennen: Thiebaut 1998.

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KAPITEL 1

gisch, ohne Rücksicht auf gemeinschaftliche Bindungen und Verpflichtungen befugt (oder verdammt – je nachdem) sind zu handeln.3 Die meisten liberalen Theoretiker zeigten sich offensichtlich von solchen Attacken betroffen. Das gilt auch für den prominentesten unter ihnen, John Rawls, der in seinem Political Liberalism (Rawls 1993) einige, teilweise weitgehende Zugeständnisse an seine Kritiker machte. Die auffälligste Folge war jedoch die Tatsache, dass sich auch unter den Vertretern des Liberalismus eine Auffassung desselben zu verbreiten anfing, die mit der herkömmlichen, vor allem auf Locke und Constant zurückgehenden, wenig zu tun hatte: Es war der Fall von Autoren wie William Galston oder Stephen Macedo, die Liberalismus nicht länger à la Rawls als eine politische Theorie, sondern als eine komplexe Lehre ansahen, die über eigene moralische Werte und sogar über eine eigene Ethik verfügten, sodass man von „liberalen Tugenden“ (Macedo 1990) und von „liberalen Absichten“ in Bezug auf moralische Vervollkommnung (Galston 1991; ähnlich van den Brink 2000) zu sprechen kam. Der allmähliche Rückgang der Kommunitarismus-Debatte (und das gleichzeitige Aufkommen „ethischer“ Auffassungen des Liberalismus) stellte jedoch keineswegs den Ausbruch einer friedlichen Zeit für die Liberalen dar. Neue Kritiker ersetzten die Kommunitaristen und gesellten sich zu den schon „etablierten“ Postmodernen.4 Eine andere Tradition (die auf Rousseau und Machiavelli und sogar auf die Antike zurückblickt) wurde aufgespürt, um sie entweder in einer Neuauflage der Kommunitarismus-Liberalismus-Kontroverse als Gegenpol zum Liberalismus zu stilisieren, oder um aus ihr Elemente hervorzuheben, die ein alternatives Bild des Liberalismus anbieten können – einen anderen, besseren (?) Liberalismus, in dem es keine atomisierten Individuen und keine homines oeconomici gibt, sondern Bürger, die um das Wohl des Gemeinwesens besorgt sind. Diese Tradition ist die republikanische. Die Rückbesinnung auf den Republikanismus scheint vorwiegend im angelsächsischen Raum stattzufinden,5 angestiftet vor allem durch Gelehrte, die sich mit dem Zeit3

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Stephen Holmes stellt zu Recht fest, dass man bei einer Kritik des Liberalismus „zwischen zwei Gegenständen klar unterscheiden“ sollte: „zwischen liberalen Theorien und liberalen Gesellschaften“, denn Letztere „verkörpern liberale Ideale nur sehr unzureichend [...]. Idealerweise kritisiert man liberale Theorien und liberale Gesellschaften also gesondert und jeweils in Bezug auf sich selbst. Genau diese Unterscheidung aber weigern sich die Antiliberalen beharrlich zu treffen.“ (Holmes 1995, 12 f.) Peter Berkowitz meint dazu, dass der Liberalismus selbst weniger wegen seiner Fehler als durch seine Erfolge die Kritiker (vor allem die postmodernen) hervorbringt: „By so succesfully teaching respect for the dignity of the individual, equality before the law, and freedom for the external, arbitrary authority, liberalism has raised a generation of critics who specialize in identifying the ways in which liberalism itself denies the dignity of the individual, sanctions inequalities, and deprives individiduals of choice“. (Berkowitz 2000, 160) Was in Deutschland als Republikanismus kursiert, ist häufig nur eine Variante davon, die sich meistens auf die amerikanische Tradition bezieht. Dazu gehören z. B. die Werke von H. Dubiel, G. Frankenberg. Th. Maak und U. Rödel (vgl. Rödel/Frankenberg/Dubiel 1989, Dubiel 1994, Frankenberg 1997 und Maak 1999). Anders bei H. Münkler, der sich eher am klassischen Republikanismus orientiert (Münkler 1992 und 1999).

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alter der englischen Revolution beschäftigt haben und dadurch auf die Einflüsse des italienischen Republikanismus der Renaissance, allem voran auf den Einfluss Machiavellis, gestoßen sind (Pocock 1975; Skinner 1978, 1990 und 1998; Viroli 1998; Honohan 2002; Skinner/van Gelderen 2002). Hinzu kommen Denker, die auf dieses Thema mit einer eher systematischen Perspektive eingehen (Pettit 1997, aber auch Viroli 1999).6 Das Individuum als Bürger und als Träger nicht nur von Rechten sondern auch von Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen steht auch im Zentrum der schon erwähnten Liberalismustheorien von Galston und Macedo. Der Liberalismus setzt für diese Denker eine klar definierte Auffassung des guten Lebens oder des Guten an sich voraus. Galston geht so weit, die Notwendigkeit einer Zivilreligion zu fordern – eher in Anlehnung an die amerikanische Tradition (dazu s. Bellah 1975) als im Anschluss an Rousseau. Und die Frage, ob wir eine Zivilreligion brauchen, taucht auch bei anderen Autoren auf, die sicher nicht dem konservativen Feld zugeordnet werden können (z. B. beim italienischen Habermas-Experte Gian Enrico Rusconi: vgl. Rusconi 1999).

1.2. Die vier Wurzeln moderner Demokratie Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als unsere Auffassung der liberalen Verfassungsdemokratie. Diese hat mehrere politisch-theoretische bzw. philosophische Wurzeln, und zwar: die republikanische, die liberale, die radikaldemokratische und die konstitutionelle (sozusagen nach Erscheinungszeit geordnet). Den vier Wurzeln entsprechen jeweils vier Prinzipien und vier grundlegende Auffassungen der Beziehung von Staat und Individuum, die dann bei den verschiedenen Autoren unzählige Varianten erfahren. Die verschiedenen Wurzeln mit ihren Prinzipien und Grundauffassungen schließen sich nicht immer gegenseitig aus. Im Gegenteil: Meistens koexistieren sie bei den politischen Denkern und in den Institutionen unserer liberalen Verfassungsdemokratien und kommen selten in reiner Form vor. Eine der Hauptaufgaben meiner Arbeit besteht eben darin, diese Verflechtung von Positionen hervorzuheben, um die in der heutigen Debatte gängige, m. E. nicht ausreichend differenzierte Entgegenstellung Republikanismus –Liberalismus zu vermeiden. Dabei wird auch gezeigt, dass die liberale Verfassungsdemokratie keineswegs so wertneutral ist, wie es ihr von ihren Kritikern vorgeworfen wird. In diesem Kontext kann man sehr wohl von Tugenden sprechen, denn – wie Bert van den Brink zu Recht beobachtet – „a society will only be as liberal as the civic virtues of its members allow“ (van den Brink 2000, 171). Diese Tugenden identifiziere ich allerdings weniger mit den von Galston oder Macedo geforderten, an Rousseaus Auffassung der politischen Gemeinschaft angelehnten Tugenden, sondern vielmehr mit einer Reihe von Haltungen und Grundeinstellungen, die eher auf Kants Aufforderung zur Kritik und zur ‚republikanischen Denkungsart‘ zurückgehen; sowohl die Entwicklung als auch die Ausübung solcher Tugenden setzen außerdem die Existenz institutioneller Vorkehrungen voraus, sodass man – nochmals in gewissem Einklang mit Kant – die politische Er6

Zur Wiederentdeckung der republikanischen Tradition vgl. unten 7.1. Zum Republikanismus in seiner Beziehung zum Liberalismus vgl. das ganze Kap. 7.

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KAPITEL 1

ziehung der Bürger von den Institutionen und von der Teilnahme an politischen Kommunikationsprozessen erwarten kann (vgl. unten, Kap. 7). Nun zu den vier Hauptpositionen, ihren Prinzipien und ihren Auffassungen der Beziehung von Individuum und Staat. 1) Das Prinzip des Republikanismus besteht in der zweifachen Idee, dass die politische Autonomie das höchste Gut bzw. das höchste Ziel menschlichen Handelns darstellt, und dass sie nur im Rahmen republikanischer Institutionen realisiert wird. Die entsprechende Grundauffassung der Beziehung von Staat und Individuum gibt daher dem Ersteren den Vorzug: Das Individuum muss zur Selbstopferung zugunsten des Gemeinwesens bereit sein, und es muss lernen, sein Leben nach den Erfordernissen der Republik zu gestalten. Das Individuum ist danach in erster Linie Staatsbürger, und alle anderen Aspekte seines Lebens beziehen von dieser zentralen Eigenschaft Sinn und Farben. Die Republik hängt vom Willen der konkreten Staatsbürger nur nominell ab: Dem abstrakten Prinzip der Volkssouveränität entspricht in der Wirklichkeit die Herrschaft, ja fast die Tyrannei unveränderlicher Gesetze. Letztere werden nämlich von den meisten Republikanern dem konkreten Willen des Volkes weitgehend entzogen. Nur in Krisenzeiten kann ein außerordentliches Individuum oder eine begrenzte Gruppe von weisen Menschen Hand anlegen, um die Verfassung zu ändern (meistens im Sinne einer Rückkehr zur Vergangenheit und zum antiken „Geist“ der Republik). 2) Das Prinzip des Liberalismus besteht im Glauben an die natürliche Freiheit und Gleichheit (als Gleichwertigkeit) der Individuen und an deren Unantastbarkeit. Die entsprechende Grundauffassung der Beziehung von Staat und Individuum sieht im Ersteren nur ein Mittel zur Bewahrung individueller Freiheit und Gleichheit (die im Staat zur Gleichheit vor dem Gesetz wird): durch die Gewährleistung von Rechten und durch die Schaffung einer unangreifbaren Privatsphäre, die der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist. An sich bevorzugt der Liberalismus keine besondere Regierungsform und ist sowohl mit Demokratie oder mit Republik (im republikanischen Sinne) als auch mit Paternalismus oder gar Absolutismus (wie bei Hobbes) vereinbar – in den letzteren zwei Fällen natürlich nur unter der Voraussetzung, dass das paternalistische Regime bzw. der absolute Souverän den Untertanen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. 3) Das Prinzip der radikalen Demokratie besagt, dass nur jene Institutionen und Normen, die aus dem konkreten Volkswillen entstanden sind, legitim sind. Die entsprechende Grundauffassung der Beziehung von Staat und Individuen sieht daher im Ersteren den Ausdruck des Willens der Letzteren. Anstatt sich einem paternalistischen oder absolutistischen Herrscher anzuvertrauen, nehmen die Individuen das Schicksal in die eigenen Hände und entscheiden selbst, wie ihr Zusammenleben geregelt werden soll – und zwar als souveränes Volk. Nach dieser Auffassung gibt es keine Gebiete, keine Fragen, keine Zustände der Dinge, die nicht vom Souverän, d. h. vom Volk, zum Gegenstand eines Gesetzes gemacht werden dürfen. Demokratie in solch radikaler Variante birgt immer die Gefahr der Tyrannei durch die Mehrheit. In gewisser Hinsicht trägt die radikaldemokratische Idee republikanische Züge, da sie das Kollektiv höher als die einzelnen Individuen einstuft (sie widerspricht allerdings der republikanischen Auffassung über die Herrschaft der unveränderlichen Gesetze).

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4) Die konstitutionelle Position entsteht letztlich aus dem Zusammenwirken der vorausgegangenen. Ihr Prinzip besagt, dass nur jene Rechtsordnungen und staatlichen Institutionen legitim sind, die durch (geschriebene oder ungeschriebene) Verfassungsnormen organisiert sind, die dem Willen des Souveräns selbst zum Teil entzogen sind – es sei denn, der Souverän entscheidet, die geltende Verfassung zu reformieren oder durch eine neue zu ersetzen. Der Konstitutionalismus mischt daher Elemente aus den anderen drei Traditionen, um zu einer Auffassung der Beziehung von Staat und Individuum zu gelangen, in der a) das Letztere durch unveräußerliche individuelle Rechte gegen die Macht des Ersteren geschützt wird (eine liberale Idee); in der b) alle Individuen zugleich Autoren und Adressaten des Rechts sind (wie in der radikaldemokratischen Tradition); und in der schließlich c) nur jene Normen gültig sind, die durch ein strenges, genaues Verfahren erlassen werden, das seinerseits nur schwer modifizierbar ist (gemäß der republikanischen Idee einer Herrschaft der Gesetze, die auch gegen das Prinzip der Volkssouveränität aufrecht erhalten werden soll). Der Konstitutionalismus teilt dadurch a) mit dem Liberalismus das Misstrauen gegen die staatliche Gewalt und ihre möglichen Missbräuche; b) mit dem radikalen Demokratismus die Idee einer vollständigen, nicht durch Klassen- und Standeszugehörigkeit begrenzten Partizipation aller Bürger am Gesetzgebungsprozess; und c) mit dem Republikanismus das Misstrauen gegen die Masse und gegen die Missbräuche der gesetzgebenden Gewalt seitens einzelner Individuen oder seitens des Volkes selbst. Eine Schwierigkeit stellt die Tatsache dar, dass diese Positionen keinen gemeinsamen Ausgangspunkt teilen und sich im Grunde mit verschiedenen Problemen beschäftigen. Während der Liberalismus in erster Linie eine Theorie der Beziehung zwischen staatlicher Autorität und einzelnen Individuen ist, stellt die demokratische Idee eine Theorie der Souveränitätsausübung dar. Der Republikanismus vereinigt beide Aspekte, und darin besteht eben sein Reiz. Nichtsdestotrotz hat er anscheinend gegen die anderen zwei Strömungen den Kürzeren gezogen, da er – mindestens bis heute – kaum Vertreter unter den wichtigsten politischen Denkern der Gegenwart gefunden hat. In der Tat ist er jedoch weit davon entfernt, völlig verschwunden zu sein. Um ihn ist es zwar in Europa ziemlich still geworden, die republikanische Tradition hat jedoch in den USA für mehr als drei Jahrhunderte eine wichtige Rolle in der politischen Debatte gespielt: von den Founding Fathers bis hin zum 20. Jahrhundert (Dewey, Royce, Brandeis) und zum heutigen Tag (Barber, die schon erwähnten Neu-Republikaner: vgl. dazu unten 7.4 und 7.5). Alle drei Traditionen haben auf jeden Fall den Konstitutionalismus und darüber hinaus unsere gegenwärtigen Verfassungsdemokratien ausgeprägt. Wie lassen sich nun diese definieren? Unseren Demokratien gemeinsam ist die Tatsache, dass sie allesamt liberal-demokratische Verfassungsordnungen besitzen. a) Eine Verfassung ist insofern liberal, als sie „nicht die Gemeinschaft, sondern das Individuum in den Vordergrund“ stellt, „dessen Recht es zu schützen gilt“. Sie geht außerdem von der Annahme aus, dass zwischen Individuen Interessengegensätze herrschen, „die nicht durch einen Appell an gemeinschaftliche Werte außer Kraft gesetzt werden können“ (Herz 1999, 48). Sie erkennt also die Existenz einer Privatsphäre an, deren Respekt sie garantiert; und verzichtet auf den Rekurs auf gemeinsame ethische Werte. Damit werden der politischen

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KAPITEL 1

Debatte jene grundsätzlichen, moralischen bzw. religiösen Auffassungen entzogen, welche die Suche nach politischem Konsens und Kompromiss verhindern könnten – eine Idee, die z. B in Rawls’ „Methode der Vermeidung“ (Rawls 1993a), in Ackermans Prinzip der „Gesprächsbeschränkung“ (Ackerman 1995) und in Larmores Modell der diskursiven Legitimierung (Larmore 1995) Niederschlag findet (vgl. dazu Baynes 1995, 433 ff.; vgl. auch 7.6). b) Eine Verfassung ist insofern demokratisch, als die letzte Entscheidungsmacht beim Volk liegt – durch die Wahl von Abgeordneten und eventuell durch die direkte Ausübung der Souveränität (etwa bei Referenda, Bürgerbegehren usw.). Wird die Privatsphäre dem Entscheidungsgebiet des Souveräns weitgehend entzogen, kann man daher von einer demokratisch-liberalen Verfassung sprechen (inwieweit z. B. individuelle Rechte der Volksouveränität entzogen werden sollen, lässt sich nicht a priori feststellen: Das deutsche Grundgesetz verbietet diesbezüglich dem Gesetzgeber, die Grundrechte der ersten Artikel abzuschaffen; andere Verfassungen sind da weniger streng oder listen andere unveränderliche Grundrechte auf). Die meisten Verfassungen sehen auch eine Gewaltenteilung vor – eine typisch republikanische Idee, die häufig mit der Idee einer Mischregierung zusammengeht, obwohl sie mit dieser nicht identisch ist (nur bei den konstitutionellen Monarchien überlebt die Idee einer Mischung aus monarchischem und demokratischem Moment; repräsentative Demokratien können allerdings als ein Zusammenspiel von aristokratischen und demokratischen Elementen beschrieben werden). Wie jedoch diese Gewaltenteilung realisiert wird, und was die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gewalten sind, ändert sich von Land zu Land – und teilweise sind die Unterschiede sehr groß (man denke z. B. an den US-amerikanischen Präsidentialismus und an den für viele europäischen Länder charakteristischen Parlamentarismus). Entscheidend für unsere Auffassung liberaler Verfassungsdemokratie ist allerdings ein weiterer Aspekt, der weniger mit institutionellen Vorkehrungen wie Grundrechten, Entscheidungsverfahren oder Gewaltenteilung zu tun hat: die politische Kultur der Staatsbürger. Gemeint ist dabei weniger die politische Bildung (im Sinne der Kenntnisse der Bürger über politische Ereignisse, über das eigene politische System usw.), als vielmehr eine allgemeine Haltung dem politischen Leben gegenüber. Diese Haltung zu definieren, ist das Hauptziel des letzten Kapitels meiner Arbeit (vgl. unten Kap. 7). Dazu ist jedoch zunächst ein Rückblick auf die Geschichte der politischen Philosophie notwendig, der uns dabei helfen soll, Sinn und Natur der Beziehung von Individuum und Staat im Allgemeinen und zum demokratischen Staat im Besonderen zu verstehen. Der Rückblick wird uns zur Auseinandersetzung mit vier Autoren führen: Machiavelli, Hobbes, Rousseau und Kant. Die Gründe für die Auswahl werde ich bald darlegen (vgl. unten 1.6). Zunächst möchte ich jedoch auf die Frage eingehen, wieso ein solcher Rückblick überhaupt notwendig ist.

1.3. Vorhaben der vorliegenden Studie In letzter Zeit wird das politische Denken mancher neuzeitlicher Philosophen immer stärker von gegenwärtigen Denkern als Ausgangspunkt oder einfach als Inspirationsquelle für die eigene Position genutzt. Das ist auf besonders auffallende Weise bei den

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Denkern der Fall, die sich – mehr oder weniger ausdrücklich und auf unterschiedliche Weise – auf Kant beziehen: von John Rawls bis hin zu Jürgen Habermas, der im Laufe der Jahre seine anfängliche Prädilektion für Hegel und Marx zugunsten eines immer originalgetreueren Kantismus aufgegeben hat. Aber das gilt auch für Politikwissenschaftler, die sich nicht nur zur normativen Evaluierung politischer Regimes, sondern auch zu deren Beschreibung kantischer Kategorien bzw. Ideen bedienen – wie z. B. Michael Doyle, der versucht hat, Kants Behauptung, Republiken führen untereinander keinen Krieg, empirisch zu belegen (vgl. Doyle 1983 und 1986).7 Gute Beispiele einer solchen Vereinnahmung moderner Denker bietet auch der Rekurs auf Machiavellis und Rousseaus Auffassung der Republik, welche die sog. Neo-Republikaner vornehmen, oder das weiterhin bei vielen Theorien internationaler Beziehungen und in fast allen Außenministerien dominierende Hobbes’sche Modell internationaler Beziehungen, nach dem die Einzelstaaten in einem Zustand rechtlicher Anarchie leben. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Berufung auf die Autorität dieser Autoren nur partiell gerechtfertigt ist; und weiter, dass die oben genannten (und in meiner Arbeit analysierten) Philosophen über eine Begrifflichkeit verfügen, die kaum imstande ist, die aktuelle politische Realität auf überzeugende Weise zu erfassen. Das gilt besonders für Machiavelli und Rousseau. Die Studie versteht sich somit als Beitrag zur Ideengeschichte und gleichzeitig als (eher polemischer) Beitrag zur aktuellen Debatte über die Tauglichkeit der politischen Theorie neuzeitlicher Denker zur Erfassung unserer aktuellen Welt. Sie stellt auch den ersten Teil eines umfangreicheren, ehrgeizigen Projektes dar. Ich habe nämlich vor, eine normative Theorie der Demokratie zu entwickeln, deren Kern das gebrechliche Gleichgewicht zwischen Bürgern und Institutionen ist. Die Ganzheit der Phänomene, die wir „Globalisierung“ nennen, hat dieses Gleichgewicht so weitgehend gestört, dass wir vor einer Krise der Demokratie ausgerechnet in jenen Ländern stehen, in denen sie angeblich so tief verwurzelt war – eine anscheinend so unerwartete Krise, dass Politiker, Denker und viele normale Bürger von der Entstehung (oder von der Wiederentstehung) der zum Teil öffentlichen und zum Teil verdeckt anti-demokratischen Tendenzen und Ideologien wie Ethnonationalismus, Xenofobie, Rassismus und sogar Neo-Faschismus völlig überrascht wurden. Eine solche Überraschung ist m. E. fehl am Platz, denn die Krise der Demokratie (die nicht nur eine Krise ihrer Steuerungsfähigkeit und Effizienz, sondern gleichzeitig eine ideologische Krise ist)8 ist Ergebnis von Phänomenen, die man schon seit langem beobachten konnte, allen voran der Lossagung der Wirtschaft von der Politik bzw. von jener Kontrolle durch politische Institutionen, welche die Beziehung dieser zwei Sphären seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisiert hatte – nämlich durch die Entstehung sozialistischer Bewegungen und durch die gewerkschaftliche und parteiische Organisierung der Arbeiterklasse. Wirtschaftliche Globalisierung scheint heute die Rolle von Politik (und die Macht von Poli-

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Zahlreiche andere Politikwissenschaftler, Experten für internationale Beziehungen und für Völkerrecht haben sich auf Kant bezogen (vgl. dazu Capps 2002). Zur aktuellen Krise der Demokratie vgl. auch Merkel u. a. 2003.

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KAPITEL 1

tikern und von Regierungen) und den Begriff von nationaler Souveränität selbst in Frage zu stellen. In der Tat liegt die Sache nicht genauso, aber zweifelsohne müssen sowohl jene Rolle als auch dieser Begriff neu definiert werden. Und – noch entscheidender – die Krise der Politik vor den Herausforderungen der Wirtschaft beruht, wie ich meine, auf jener Trennung der beiden Gebiete, die ausgerechnet in der Moderne, vor allem durch die Entstehung des Liberalismus, theoretisch reflektiert wurde. Wird einmal wirtschaftliche Macht nicht als politische Macht begriffen; wird einmal Wirtschaft von Politik getrennt; dann ist es unvermeidlich, dass sich Erstere gegen Letztere durchsetzt und ihrerseits die Kontrolle übernimmt. Wir brauchen deshalb eine Theorie, die diese Trennung überdenkt und Macht neu definiert, um zu einem Verständnis von Demokratie und von Politik zu kommen, das in diesen nicht einfach nur Instrumente zur Durchsetzung von Interessen oder zur Regelung von Konflikten sieht, sondern vor allem Mittel zur Entfaltung menschlicher Autonomie (vgl. unten 7.8 und 7.9). Die Basis einer solchen Theorie hoffe ich, anderswo legen zu können. Die vorliegende Arbeit stellt hingegen – wie betont – einen ersten Schritt zum besseren Verständnis der Begriffe „Staatsbürger“ und „Demokratie“ dar, so wie sie in der frühen Neuzeit entstanden sind und noch heute benutzt werden. Bevor ich auf die Analyse des politischen Denkens unserer Bezugsautoren eingehe (Kap. 2-5), möchte ich einige Überlegungen zur Natur der politischen Philosophie der Neuzeit im Allgemeinen vorstellen. Ich möchte insbesondere auf zwei weit verbreitete Gedanken eingehen: 1) Zunächst werde ich kurz die Auffassung ansprechen, dass die moderne politische Philosophie einen Gegensatz zur politische Philosophie der Antike darstellt (1.4). 2) Dann werde ich die für unser Vorhaben zentrale Idee kurz in Frage stellen, dass die Begrifflichkeit der modernen politischen Philosophie auch in der heutigen politisch-philosophischen Debatte problemlos anwendbar ist (1.5). Ich werde dabei ziemlich thetisch vorgehen, da die von mir in diesen beiden Abschnitten gemachten Behauptungen erst durch die folgende historische Analyse des Denkens unserer Bezugsautoren gerechtfertigt werden sollen. Schließlich werde ich die Gründe angeben, die zur Auswahl der Bezugsautoren geführt haben (1.6).

1.4. Antike vs. neuzeitliche politische Philosophie? Gegen eine falsche Alternative Kritiker des Liberalismus (meistens unter den Kommunitaristen) berufen sich bei ihren Einwänden nicht nur auf die republikanische Tradition, sondern auch auf ältere Traditionen und Denker, von Thomas bis zurück zu Aristoteles (so z. B. MacIntyre 1981 oder Beiner 1992). Üblicherweise wird dabei die politische Philosophie der Antike, insbesondere des Aristotelismus, derjenigen der Moderne entgegengesetzt – auch von Denkern, die eher die Letztere gegen die Erstere verteidigen möchten. Einige der verbreitetsten Missdeutungen betreffen in dieser Hinsicht folgende Punkte: 1) Bei den Antiken stelle Politik eine „Fortsetzung der Ethik“ dar (Habermas 1978, 48), während moderne Denker auf eine strikte Trennung von Ethik und Politik achten; 2) die modernen politischen Philosophen interessieren sich für die Frage der Stabilität von Insti-

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tutionen, also in gewissem Sinne für die Frage politischer „Mechanik“, während es den antiken Philosophen in erster Linie um die Charaktereigenschaften guter Bürger ging; 3) politische Philosophie sei für die antiken Denker keine Wissenschaft, während sich moderne Denker am Modell neuzeitlicher Naturwissenschaften orientieren.9 Die Alternative „antike vs. moderne Sozialphilosophie“ resultiert jedoch aus einer Verengung der Analyse auf einige wenige Autoren (meistens auf Aristoteles, weniger auf Platon, kaum auf die Stoa usw.), sowie aus einer etwas zugespitzten Charakterisierung sowohl des Denkens Aristoteles’ oder Platons als auch der Positionen von Machiavelli, Hobbes und Kant (zu einer Widerlegung solcher pauschalen Urteile vgl. Höffe 2001, 36 ff.). Diese Lesart lässt außerdem die vermittelnde Rolle zwischen den Positionen antiker Denker und der für die neuzeitliche Sozialphilosophie charakteristischen Fragestellung unberücksichtigt, die von mittelalterlichen Denkern übernommen wurde. Man kann so weit gehen und sagen, dass in Bezug auf die Sozialphilosophie kein richtiger Bruch zwischen Antike und Moderne stattfand; vielmehr verschob sich die Perspektive mancher Autoren stufenweise zu Positionen, die wir zwar als „modern“ bezeichnen, ohne dass sie jedoch damit eine vollständige Loslösung von traditionellen, auch in der Antike vertretenen Positionen vollzogen. So wie auf der institutionellen Ebene der Übergang vom mittelalterlichen feudalen System hin zum modernen absolutistischen Staat eher langsam vor sich ging und durch regional unterschiedliche Stufen stattfand, nehmen die von uns hier analysierten Autoren unterschiedliche Perspektiven ein – Perspektiven, die manchmal an den traditionellen, überlieferten Positionen stärker haften bleiben, als manche Interpreten wahrnehmen möchten. Das wird bei Machiavelli und Rousseau besonders deutlich, die sich ausdrücklich auf die antike Tradition berufen, und die tatsächlich eine teilweise antiquierte Auffassung der politischen Gemeinschaft und der staatlichen Ordnung vertreten. Aber auch im Fall von Hobbes und Kant ist die Beziehung zur Antike, zum Aristotelismus oder zu den mittelalterlichen Staatslehren weitaus enger als normalerweise angenommen, wie wir sehen werden (vgl. unten 3.12, 5.7 und 5.13.). Auch die Auffassung, nach der die antiken politischen Denker für Fragen der Bürgertugenden viel, die modernen hingegen nichts übrig haben, wird sich im Laufe der vorliegenden Arbeit als übereilt und im Grunde nicht zutreffend beweisen (vgl. vor allem 3.12, 4.8, 5.20, 6.2 und 6.3). Das bedeutet mitnichten, dass es so gut wie keine Unterschiede zwischen z. B. Aristoteles und Hobbes gibt: Wir werden hingegen feststellen, dass solche Unterschiede auch stark sein können, besonders in Bezug auf die sittliche Qualität der Bürgertugenden oder den moralischen Stellenwert der politischen Gemeinschaft. Manchen Interpreten (z. B. Habermas 1978) ist sicher zuzustimmen, wenn sie behaupten, bei Hobbes und Machiavelli stehe die Frage der Sicherung des Lebens vor Angriffen der anderen (und die damit verbundene Suche nach einer erfolgreichen „Technik des Machterwerbs und der Machterhaltung“) im Vordergrund. Das bedeutet allerdings weder, dass dies bei Aristoteles nicht der Fall sei; noch, dass sich jene modernen Autoren mit der Frage der Moralität der Bürger keineswegs auseinandersetzen. Zwar ist bei Hobbes der Staat nicht wie Aristoteles’ Polis der Ort, in dem die Individuen mora-

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Paradigmatisch für diese Lesart: Habermas 1978.

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lische Vollkommenheit erreichen können; aber sowohl bei Hobbes als auch bei Machiavelli und Rousseau (und sogar bei Kant, wenn auch in einem besonderen Sinn) zieht der Staat aus bestimmten moralischen Qualitäten seiner Bürger wichtige Kräfte. Bei Machiavelli und Rousseau (und – nochmals in einem besonderen Sinn – bei Kant) stellt er zudem gleichzeitig den Rahmen dar, in dem die Menschen moralische Bildung genießen können. Es ist m. a. W. nicht möglich, die Positionen der von uns analysierten Autoren unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen, und es ist sogar irreführend, diese Positionen unter der pauschalen Etikette der Modernität bzw. der Moderne gegen eine ebenfalls unzutreffend als einheitlich dargestellte politische Philosophie der Antike auszuspielen.

1.5. Vergangenheit und Gegenwart: ein schwieriger Dialog Im Vorwort habe ich schon auf die Perplexität hingewiesen, welche die Aneignung des Denkens „alter Meister“ seitens gegenwärtiger politischer Theorien verursacht. Ich möchte im Folgenden einige der Gründe für diese Perplexität in Betracht ziehen. Zur Vorsicht rät vor allem a) der Unterschied zwischen „unserer“ gegenwärtigen Auffassung des Staates – geschweige denn der Demokratie – und derjenigen von Autoren wie Hobbes, Rousseau oder Kant (aber auch: Spinoza, Locke, usw.). Relevant sind außerdem sowohl b) ihr verschiedener Begriff von Staatssouveränität und von Volkssouveränität als auch die Tatsache, dass c) diese Denker einen anderen Begriff von Gesetz und eine andere Vorstellung der Aufgabe der legislativen Gewalt haben. a) Bei Machiavelli besitzt das politische Gemeinwesen den Charakter des modernen Staates noch nicht: Die politische Akteuren sind für ihn einzelne Individuen (vor allem die Fürsten und die, die es gern sein möchten), republikanische Regierungen, soziale Klassen (Adel und einfaches Volk) und nur mit wichtigen Einschränkungen die anonyme Masse der Untergebenen, die in seinen Schriften immer im Gegensatz zu den Regierenden auftritt. Machiavelli postuliert zwar die Notwendigkeit der Vereinigung Italiens in einem Einzelstaat wie Frankreich oder Spanien, begreift jedoch auf unzureichende Weise den Prozess, der zur Bildung jener Nationalstaaten führte – verständlicherweise, lag ihm dieser Prozess noch zeitlich zu nah. Seine Überlegungen öffnen den Weg zu den Staatstheorien von anderen Autoren wie Bodin, Grotius und somit auch von Hobbes; aber Machiavellis Auffassung von politischer Macht ist noch die einer personellen Macht (möge sie auch an mehrere Individuen gebunden sein, wie im Fall einer republikanischen Regierung), die sich gegen konkurrierende Mächte behaupten soll. Hobbes nimmt in dieser Hinsicht eine andere Position ein, denn er kümmert sich nicht wie Machiavelli um die Frage der empirischen Bedingungen der Entstehung einer konkreten politischen Gemeinschaft, sondern bietet eine abstrakte Theorie der Legitimität staatlicher Macht an, die seiner Meinung nach auf jeglichen Staat angewandt werden kann. Andererseits gelangt er im Ergebnis seiner Überlegungen zu einer Idee absoluter Souveränität, die sowohl mit der politischen Wirklichkeit unserer Demokratien nicht zu vereinbaren ist als auch sich an einen Souveränitätsbegriff bindet, der heute als sehr fragwürdig gilt (vgl. unten den folgenden Punkt b)).

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Rousseau hält wie Machiavelli an die Idee nationaler Staaten fest und besitzt im Unterschied zum Florentiner ein klares Bewusstsein von der Zentralität kultureller, sprachlicher und ethischer Aspekte bei der Bildung einer nationalen Einheit (d. h. bei der Verwandlung eines Volks in eine Nation). Für sein politisches Modell lässt er sich jedoch entweder durch die antike Polis, vor allem Sparta, oder durch eine stark idealisierte ländliche Schweiz inspirieren. Er ist sich aber vollkommen im Klaren, dass sich solche Modelle im Europa des 18. Jahrhunderts unmöglich realisieren lassen, sodass sein politischer Vorschlag einen unvermeidlich utopischen Charakter besitzt – umso mehr im Europa des 21. Jahrhunderts. Kant bietet schließlich eine Staatstheorie an, die mit weit weniger empirischen Annahmen, als es bei den erwähnten Denkern der Fall ist, auskommt. Da er jedoch diese Theorie in eine vollständige Geschichtsphilosophie einbettet, gewinnt seine politische Philosophie an Komplexität und auch an Aktualisierbarkeit. Kant zeigt uns nämlich ein Ideal, das noch heute in mancherlei Hinsicht überzeugend wirkt, allerdings nur dann, wenn man mit Kant weit über seine Theorien hinaus denkt. Außerdem bleibt er auch – wie seine Vorgänger – an einer Auffassung von Souveränität haften, die heute nicht mehr so überzeugend ist: Die traditionelle Analogie zwischen Individuum und Staat gibt er nämlich nicht auf – was erhebliche Probleme mit sich bringt, wie wir sehen werden. b) Machiavelli geht – wie betont – von einer personellen Auffassung politischer Macht aus. Er identifiziert daher Souveränität mit dem Willen des Fürsten oder der republikanischen Regierung. Diese „individuelle“ Auffassung von Souveränität charakterisiert auch das Denken der anderen Autoren, obwohl sie Machiavellis personelle Auffassung nicht teilen und der Machtinhaber bei ihnen eine Rechtsperson ist (bei Hobbes und Rousseau lassen sich allerdings „Reste“ einer solchen individuellen Machtsauffassung feststellen, da sie Souveränität ganz konkreten Individuen bzw. Menschengruppen zusprechen; nur Kant wird einen abstrakten rechtlichen Begriff vom Machtinhaber einführen). Alle vier Denker gehen von einer Analogie zwischen Staat und Individuum aus, nach welcher der Erstere eine eigene Autonomie und einen einzigen Willen besitzt – genauso wie es bei Individuen der Fall ist. Souveränität wird daher mit dem Willen des politischen Körpers identifiziert. Dieser wird wiederum in der Meinung unserer Bezugsautoren auf unterschiedliche Weise festgestellt: Bei Hobbes deckt er sich mit dem Willen des Leviathan, des durch den Autorisierungsvertrag eingesetzten absoluten Souveräns; Rousseau benutzt den Begriff des Gemeinwillens; Kant spricht allgemein vom Volkswillen. Diese Idee, dass der politische Körper einen einzigen Willen besitzt, ist jedoch keineswegs einleuchtend und entspricht schließlich auch nicht der einflussreichen Definition von Souveränität durch Bartolus a Saxoferrato („potestas superiorem non recognoscens“). Bartolus (ein Jurist) spricht nämlich einen formellen Aspekt an: Rechtliche Akte, die im Namen einer politischen Gemeinschaft durchgeführt werden, wie z. B. die Erlassung von Gesetzen oder der Abschluss von Verträgen mit anderen politischen Akteuren, brauchen zu ihrer Geltung eine letzte Instanz, die ihnen Verbindlichkeit dadurch verleiht, dass sie die ganze politische Gemeinschaft vertritt. Dabei ist es unwichtig, ob es sich um einen Tyrann oder um eine Volksversammlung handelt. Diese formale Auffassung von Souveränität ist eher bei Hobbes und seiner Theorie der Autorisierung

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KAPITEL 1

wiederzufinden, während Rousseau und Kant die formale Forderung nach einer letzten Instanz, bei der die endgültige Entscheidungsmacht liegt, und die den rechtlichen Akten Verbindlichkeit verleiht, in die weitgehendere Forderung verwandeln, diese endgültige Entscheidungsmacht liege nicht nur formell, sondern konkret beim Volk, dessen Wille immer berücksichtigt werden soll. Bartolus’ rein formeller, rechtlicher Souveränitätsbegriff wird somit zur politischen Idee der Volkssouveränität. Während sich jedoch die Fiktion eines einzelnen souveränen Willens zur Verleihung rechtlicher Verbindlichkeit relativ leicht aufrechterhalten lässt (da es sich eben um eine Fiktion zu rein rechtlichformellen Zwecken handelt), ist die Idee, dass der Inhalt der Entscheidungen dieses Willens den der Ganzheit der Individuen, also den Volkswillen, widerspiegeln soll, weder theoretisch unproblematisch noch praktisch leicht durchführbar: Es ist nämlich nicht klar, wie eine Menge von Individuen einen einzigen Willen besitzen kann, wenn nicht auf metaphorische Weise oder in einem rein formellen Sinne. Und es ist auch nicht klar, wie man den Inhalt dieses Willens feststellen kann. Ich werde im Laufe meiner historischen Analyse (Kap. 2-5) auf die erste Frage mehrmals zurückkommen. Was die zweite Frage betrifft, werden wir sehen, dass die verschiedenen Denker verschiedene Lösungen angeben. Vorneweg sei hier festgehalten: Sie stimmen alle darin überein, dass Souveränität vom Volke ausgeht (das gilt auch für Hobbes); keiner von ihnen vertraut jedoch dem Volk die vollkommene Ausübung der Souveränität an, auch nicht Rousseau (Machiavelli spricht die Frage nicht an). Die Annahme des Prinzips der Volksouveränität durch Rousseau und Kant bedeutet also keineswegs, dass sie sich für eine direkte Beteiligung des Volks am politischen Entscheidungsprozess aussprechen. All unsere Autoren weisen eine ziemlich starke Skepsis gegenüber der Fähigkeit gemeiner Menschen auf, politische Entscheidungen zu treffen. Rousseaus Ablehnung der politischen Debatte und Kants Zwei-Klassen-Staatsbürgerschaft können unmöglich in unseren liberalen Verfassungsdemokratien annehmbar sein, bilden jedoch ein wesentliches Merkmal ihrer politischen Theorien. Einige weitere Bemerkungen zur Analogie von Staat und Individuum: Unsere Autoren behaupten, Individuen besitzen Willkür, Willen oder gar Autonomie, auf die sie nicht verzichten können (gegen diese Auffassung vgl. Feinberg 1986, insbes. die Kap. 18 und 19). Nach der Analogie besitzen auch Staaten Autonomie; und außerdem können nach der Analogie auch Staaten unmöglich auf ihre Autonomie, sprich: auf ihre Souveränität verzichten. Das ist jedoch nur zum Teil zutreffend. Abgesehen davon, dass mindestens ein partieller Verzicht auf Autonomie schon auf individueller Ebene möglich ist, findet ein solcher partieller Verzicht auf völkerrechtlicher Ebene relativ häufig statt, nämlich dann, wenn Einzelstaaten eine höhere überstaatliche Instanz schaffen, deren Entscheidungen sie in Bezug auf bestimmte Fragen für verbindlich halten (das ist der Fall bei der UNO, bei der Europäischen Union, bei verschiedenen internationalen Abkommen usw.). Natürlich dürfen Staaten ihr Einverständnis in die Anerkennung dieser Verbindlichkeit kündigen (obwohl dies rein rechtlich manchmal gar nicht vorgesehen ist, wie im Fall der EU); aber es ist eine Tatsache, dass Staaten in vielen Bereichen auf ihre Souveränität verzichten können und es tatsächlich auch tun. Die staatliche Souveränität kennt außerdem bestimmte innere Grenzen. Es gibt nämlich Bereiche, wie z. B. die Privatsphäre, vor denen der Souverän halt machen soll (das gilt zum Teil sogar für Hobbes,

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auch wenn er eine solche bedingungslose Unverletzlichkeit nur für den Fall vorsieht, in dem der Souverän das Leben der Untertanen bedroht). Die Analogie von Staaten und Individuen hat somit Grenzen – sowohl in Bezug auf die innerstaatliche als auch in Bezug auf die zwischenstaatliche Dimension. Staaten können in ihren völkerrechtlichen Beziehungen zwar als Rechtssubjekte, nicht aber als moralische Personen angesehen werden. Ihre Autonomie hat mit der Autonomie von Individuen nichts zu tun. Staaten können z. B. im Unterschied zu Individuen immer ineinander aufgehen: Geopolitische Grenzen sind im Unterschied zu jenen des menschlichen Körpers immateriell – eine allzu oft vergessene Trivialität (vgl. dazu Pinzani 1999 und 2004b). Souveränität und Rechtspersönlichkeit entsprechen m. a. W. keineswegs der Autonomie und der Persönlichkeit von Individuen. c) Für Machiavelli, Hobbes, Rousseau und Kant (aber auch für Spinoza, Locke, usw.) besitzen Gesetze die Eigenschaft der Allgemeinheit: Sie müssen so allgemein formuliert werden, dass sie kein partikulares Interesse ausdrücklich bevor- oder benachteiligen. Der Gesetzgeber muss nur den groben Rahmen stellen, in dem sich die Individuen der Verfolgung ihrer Interessen widmen können. Er muss festsetzen, was für die einzelnen Akteure erlaubt, verboten oder geboten ist. Es ist dann Aufgabe der exekutiven Gewalt, die Gesetze durch Anordnungen und Dekrete in die Praxis umzusetzen, während der Judikative vorbehalten bleibt, Rechtsbrüche zu bestrafen (manche Denker – wie z. B. Rousseau – unterscheiden exekutive und judikative Gewalt kaum voneinander). Die gesetzgebende Tätigkeit beschränkt sich somit auf allgemeine Richtlinien und betrifft nur einige Felder menschlicher Tätigkeit, während viele andere entweder rechtlich unbestimmt bleiben, oder der individuellen Initiative überlassen werden. Wenn nämlich die Gesetze so allgemein wie möglich sein müssen, dann müssen sie durch eine „Operation“ formuliert werden, die „alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Interessen ausschließt und nur solche Regelungen zulässt, die allen gleiche Freiheiten garantieren“ (Habermas 1989, 17).10 Die Gesetze beschränken sich somit darauf, die Grundrechte zu definieren, die den Staatsbürgern zukommen, und die allgemeinen Richtlinien zur Durchsetzung solcher Rechte festzustellen. Sie bilden einen groben Rahmen, in dem die Individuen ihre Freiheit genießen können. Fast alle politischen Denker der Moderne sprechen sich daher für einen Minimalstaat aus – minimal insofern, als sich seine Aufgaben auf den Schutz von Person und Eigentum gegen innere und äußere Feinde beschränken, auch wenn er sich eventuell ins Privatleben der Individuen (z. B. in Bezug auf ihre Meinungen) stark einmischt, wie im Falle von Hobbes’ Leviathan. Alles, was der Staat unternimmt, soll in Funktion seiner minimalen Aufgabe geschehen,11 während jede staatliche Handlung, die darüber hinausgeht, nicht mehr gerechtfertigt ist. In unserer Demokratie erleben wir hingegen eine zunehmende Gesetzgebung aller möglichen Interaktionssphären und Tätigkeiten der Staatsbürger. Kaum ein Bereich unseres 10 Dass Habermas hier von einer „Operation“ spricht, soll nicht verwundern, wenn man an den operationalisierten Begriff des Gemeinwillens Rousseaus denkt (vgl. unten 4.9 und 4.11). 11 So ist z. B. die staatliche Kontrolle der öffentlich vertretbaren Lehre in Universitäten, Schulen und Kirchen bei Hobbes nur insofern gerechtfertigt, als sie den inneren Frieden gegen Unruhestifter schützt.

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Lebens, der nicht durch rechtliche Normen bis ins Genaueste geregelt wird. Und diese Gesetzgebung wird dementsprechend immer differenzierter und detaillierter. Kurz: Die Gesetze werden das, was sie nach der Meinung der oben erwähnten Autoren nie werden dürften: spezifische, auf Einzelfälle zugeschnittene Regelungen. Abertausende von rechtlichen Normen, welche die Gesetzbücher unserer demokratischen Länder enorm anschwellen ließen, mögen der Komplexität unserer Gesellschaft (und Phänomenen, wie das Abhandenkommen gemeinsamer moralischer Handlungsrichtlinie, der wachsenden Selbstständigkeit der Wirtschaft, der Zunahme ökonomischer und strategischer Rationalität usw.) gerecht werden; aber sie wären für Hobbes, Kant oder Rousseau ein Ungeheuer, das mit einem gut organisierten Staat (ob absolutistisch oder „republikanisch“ regiert) nichts mehr zu tun hätte. Zu viele und zu komplexe Gesetze führen außerdem in der Meinung unserer Autoren (besonders in derjenigen von Hobbes) zu Interpretationskonflikten, welche die Eintracht unter den Bürgern einerseits und – weit wichtiger – zwischen Bürgern und Regierung andererseits erschüttern können. Wenn Gesetze zu spezifisch werden, dienen sie notwendigerweise partikulären Interessen. Dies führt dann bei den Staatsbürgern zur Versuchung, sich der Gesetze zu bedienen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Die Regierung wird somit zur Privatsache einzelner Individuen – was entweder zu einer Reaktion der von der Macht Ausgeschlossenen und somit zum Konflikt (eventuell zum Bürgerkrieg) führt, oder in reine Despotie mündet. Machiavelli, Rousseau und Kant stimmen nämlich darin überein, Despotie als das Regime zu bezeichnen, in dem sich die partikularen Interessen der Regierenden über den allgemeinen souveränen Willen durchsetzen. Hobbes hält dies hingegen für positiv: Das ist der Grund, warum die Monarchie zu bevorzugen ist, denn schließlich entspricht seiner Meinung nach das Privatinteresse des Königs dem Interesse des Staates (vgl. unten 3.10). Aus demselben Grund verurteilen alle vier Denker (wenngleich mit unterschiedlicher Schärfe) die Entstehung von Parteien, da sie Ausdruck privater Interessen sind. Wer die Macht sucht, um das eigene Interesse durchzusetzen, missbraucht sie. Die Existenz von Parteien, die sich an der Regierung abwechseln, bildet somit eine Pervertierung des Prinzips der Volkssouveränität, da Macht nicht länger zugunsten der Allgemeinheit ausgeübt wird (Hobbes nimmt noch einmal eine besondere Position ein: Er sieht in der Existenz von Parteien die Ursache jenes Krieges der Meinungen, welche die schlimmste Bedrohung für Sicherheit und Frieden darstellt: s. unten 3.8). Auch wenn die Gesetze wenige, einfach und allgemein sind, werden sie nur mit Mühe vom Volk angenommen. Deswegen müssten sich die antiken Gesetzgeber (Moses, Solon, Romolus, Numa u. s. w.) in der Meinung von Machiavelli, Hobbes und Rousseau auf irgendwelche himmlische Autoritäten berufen, um sie durchzusetzen. Kant interessiert sich zwar für diese „historische“ Frage nicht, teilt jedoch mit den drei anderen Denkern ein ausgeprägtes Misstrauen gegen die Bereitschaft der Individuen, Gesetze zu akzeptieren (dieses Misstrauen führt ihn dazu, eine gewisse rechtliche Ungleichheit in Bezug auf die Ausübung der Souveränität zu rechtfertigen (vgl. unten 5.12). Mit der Zeit wächst allerdings in der Meinung Machiavellis und Rousseaus die Autorität der Gesetze, sodass sich die Regierung möglichst davor hüten soll, sie zu ändern. Hier weicht ihre Position von derjenigen von Hobbes und Kant ab, die dem Souverän eine

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uneingeschränkte gesetzgeberische Macht zusprechen, ein Punkt, der die republikanische Auffassung der Herrschaft der Gesetze von der liberalen unterscheidet. Die Republikaner meinen, diese Herrschaft spiegele sich in der Unveränderlichkeit der Gesetze selbst wieder, während die Liberalen sie lediglich als Verbot des Missbrauchs souveräner Macht zugunsten von Privatinteressen verstehen (dieser Gegensatz taucht in den Werken von Neo-Republikanern wie Viroli wieder auf: vgl. Viroli 1999, 25 ff.). Nach dem Vorausgegangenen sollte schon einleuchten, wieso der Rekurs auf das politische Denken neuzeitlicher Philosophen zur Erklärung der aktuellen politischen Probleme und gleichzeitig zu deren Lösung problematisch ist. Die politische Realität, welche in diesem Denken Ausdruck findet, entspricht keineswegs derjenigen unserer liberalen Verfassungsdemokratie. Die angesprochene Krise der Letzteren lässt theoretische Desiderata entstehen, die m. E. nicht durch den Rekurs auf die Begrifflichkeit moderner Denker geschlossen werden können. Eine Auseinandersetzung mit diesen Denkern kann allerdings wichtige Erträge bezüglich der Definition einer neuen Begrifflichkeit haben, da ihre Position den theoretischen Ausgangspunkt für unsere liberale Verfassungsdemokratie darstellt. Wenn wir verstehen wollen, was in dieser Demokratie nicht funktioniert, und wieso sie in die Krise geraten ist, kann ein Blick auf ihre theoretischen Wurzeln hilfreich sein – besonders, weil die Krise neben den schon erwähnten wirtschaftlichen Phänomenen auch theoretische Ursachen hat. Um einen Ausweg aus der Krise zu finden, brauchen wir eine neue Begrifflichkeit – und das setzt eine Auseinandersetzung mit der herkömmlichen voraus. Daher die vorliegende Studie über die Herausbildung der modernen Begriffe von „Staat“ und „Staatsbürger“.

1.6. Kriterien für die Auswahl der Bezugsautoren der Untersuchung Ein erster Grund für die hier vorgenommene Auswahl der Bezugsautoren besteht m. E. in der Tatsache, dass die drei letzten in meiner Arbeit analysierten Denker (nämlich Hobbes, Rousseau und Kant) jeweils ein unterschiedliches Modell von Staat (und daher eine unterschiedliche Auffassung der Beziehung von Staat und Individuum) repräsentieren: Ihre jeweiligen Positionen nehmen daher eine besondere Relevanz für unsere Thematik ein (Machiavelli verfügt zwar über keinen modernen Staatsbegriff – vgl. unten 2.1 –, spielt jedoch eine entscheidende Rolle für das Thema der Bürgertugenden). Hobbes’ Staat ist bekanntlich ein Minimalstaat, dem lediglich die Aufgabe zukommt, den allgemeinen rechtlichen Rahmen zu organisieren, in dem die Individuen ihre eigenen Interessen realisieren können. Trotz des absoluten Charakter der souveränen Macht besteht die einzige Verpflichtung der Individuen in der Unterlassung jeglicher Handlung und Haltung (vgl.. unten 3.12), die Frieden und innere Sicherheit stören könnten. Der Souverän muss seinerseits Frieden und (innere wie äußere) Sicherheit garantieren und die Bedingungen schaffen, unter denen die Individuen ein angenehmes Leben führen können – ohne jedoch, dass er etwas Positives in diese Richtung unternehmen soll: Es reicht vollkommen aus, wenn er die Individuen nicht daran hindert, das eigene Lebensprojekt zu verfolgen (vorausgesetzt, das kann ohne Gefahr für den allgemeinen Frieden geschehen). Direkte Maßnahmen, um das Leben der Untertanen angenehm zu machen –

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etwa in Richtung Sozialstaat –, gehören somit nicht zu den Aufgaben des Leviathan. Das minimalstaatliche Modell ist noch heute sehr erfolgreich – genauso wie das ebenfalls an Hobbes angelehnte, sog. realistische Modell der internationalen Beziehungen, nach dem die Einzelstaaten weiter in einem rechtlichen Vakuum nebeneinander koexistieren und darüber hinaus jeder von ihnen eigene Interessen verfolgen kann. Rousseaus Staat dagegen gründet auf einer nationalen Gemeinschaft, die sich gegen außen sperrt, auch in ökonomischer Hinsicht: Es handelt sich um einen landwirtschaftlichen, autarken Staat, der keine Handelsbeziehungen mit anderen Ländern unterhält. In diesem Staat sind die Individuen in erster Linie Staatsbürger. Ihre charakteristischen Züge sind eine ausgeprägte und exklusive Vaterlandsliebe, feste Bürgertugenden, Einfachheit der Sitten und des Lebenswandels, Misstrauen gegen das Fremde. Dieses Modell inspiriert Kommunitaristen und Neo-Republikaner. Kants Staat wiederum ist der klassische konstitutionelle Rechtsstaat. Seine Aufgabe ist es, das höchstmögliche Niveau an individueller Autonomie zu garantieren – nicht nur, ohne dabei Frieden und innere Sicherheit zu gefährden, sondern darüber hinaus, um schließlich einen Beitrag zur Herstellung eines Zustandes stabilen internationalen Friedens zu leisten. Seinen Einfluss auf viele gegenwärtige Denker habe ich schon mehrfach betont. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind neben der Entwicklung des modernen Staatsbegriffs die verschiedenen Formen, die das Thema der Beziehung von Staat und Staatsbürger im Laufe der Moderne einnahm. In dieser Hinsicht besteht der Hauptgrund, der für die Auswahl von Machiavelli und Rousseau spricht, in ihrem Einfluss auf die republikanische und neo-republikanische Tradition. Die Auswahl ist daher ziemlich unproblematisch, obwohl es doch fraglich ist, ob und inwieweit Machiavelli als ein Denker der Neuzeit anzusehen ist. Auf diese Frage werde ich bald eingehen (vgl. unten 2.1); trotzdem möchte ich schon hier eine Rechtfertigung der Einbeziehung Machiavellis in meine Studie anbieten: Möge sein Denken nicht die typischsten Züge der Moderne aufweisen und der klassischen und mittelalterlichen Tradition noch verbunden sein, so bleibt der Florentiner eine ständige Inspirationsquelle für alle spätere politischen Denker, auch für unsere Bezugsautoren, obwohl er von Hobbes und Kant nirgendwo erwähnt wird (Kant hatte allerdings geplant, den zweiten Teil des Gemeinspruchs „Gegen Machiavelli und Hobbes“ zu untertiteln, um dann den Namen des Ersteren zu streichen). Machiavellis Bedeutung für das moderne politische Denken ist nicht zu verkennen, denn die wichtigsten Elemente seiner eigenen Position sind allesamt bei späteren Autoren wiederzufinden, wenngleich auf unterschiedliche Weise: die Trennung von Moral und Politik; die Auffassung von Politik als einer Arena, in der um die Macht gekämpft wird; die enge Beziehung zwischen Theorie und Praxis und das Verständnis von politischem Denken als Anweisung zur Erreichung und Erhaltung politischer Macht; die Rolle der Religion als instrumentum regni; die Zentralität institutionstechnischer Fragen und der Bürgertugenden. Auch für Rousseau stellt sich die Frage der Modernität seines Denkens anscheinend zu Recht, denn die von ihm angebotenen Utopien sehen eher in die Vergangenheit als in die Zukunft (vgl. unten 4.3). Ihn als Nostalgiker zu bezeichnen, der lediglich den Geist der Antike wiederbeleben möchte, würde jedoch der Komplexität seiner Position nicht

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gerecht werden. Rousseau ist für unser Vorhaben von besonderem Interesse, da man bei ihm alle Elemente und Widersprüche finden kann, welche die republikanische und neorepublikanische Position auszeichnen. Einer Rechtfertigung bedarf vielmehr die Einbeziehung von Hobbes und Kant, besonders wenn es v. a. auch um die Frage der Bürgermoral geht. Zunächst ein philosophiegeschichtlicher Grund: Hobbes wird häufig als der Vater der modernen politischen Philosophie bezeichnet. In der Tat steht sein Modell dem klassischen in mindestens einer Hinsicht gegenüber, nämlich in der Annahme einer Position, die man als legitimatorischen Individualismus (Höffe 1999, Kap. 2) bezeichnen kann. Danach muss sich das Gemeinwesen vor jedem Einzelnen rechtfertigen, nicht umgekehrt, wie in einem legitimatorischen Kollektivismus das Individuum vor dem Gemeinwesen. Dieses Modell ist – mindestens in seinen Grundlinien – in der politischen Philosophie, von Rawls zu Habermas, von Nozick zu Walzer, noch heute dominant. Kant wiederum stellt einen Höhepunkt in der Philosophie der Neuzeit dar. Er wendet Hobbes’ legitimatorisch-individualistisches Modell an, um das Idealbild eines politischen Systems zu entwickeln, das in gewisser Weise dem von Hobbes entgegengesetzt ist. Interessanterweise bildet seine politische Theorie eine Art von vorläufigem Endpunkt in der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorie, da sie, schon von Hume kritisiert, durch Hegels Kritik gewissermaßen den Todesstoß erhält. Erst durch Gierke Ende des 19. Jahrhunderts (Gierke 1880) und vor allem durch Rawls (Rawls 1975) und Buchanan (Buchanan/Tullock 1962 und Buchanan 1975) im 20. Jahrhundert gewinnt der Kontraktualismus neues Gewicht. Auch aus diesem Grund ist es interessant, sich mit unseren beiden Autoren auseinanderzusetzen, weil sich Buchanan auf Hobbes, Rawls aber auf Rousseau und vorwiegend (wenngleich nicht ausschließlich) auf Kant bezieht. Das Modell des Gesellschaftsvertrages und der legitimatorische Individualismus charakterisieren trotz einiger, manchmal auch wichtiger Unterscheidungen jene politischen Auffassungen, die man als liberal bezeichnen kann. Wir kommen somit zum zweiten Grund für die Auswahl von Hobbes und Kant: ihre Rolle bei der Definition des liberalen Modells. Beide bilden insofern einen interessanten Ausgangspunkt, als sie zwei entgegensetzte Grundpositionen in Bezug auf die Frage des moralischen Charakters politischer Legitimation vertreten. Diese zwei Grundpositionen bilden die Pole, zwischen denen die liberale Tradition bisher gependelt hat. Wenn wir daher die Frage, ob und inwiefern Bürgertugenden für die Demokratie wichtig sind, aus einer liberalen Perspektive beantworten wollen, stehen wir vor der Alternative zwischen Hobbes’ und Kants Ansatz. Entweder verstehen wir mit Hobbes die Entstehung einer politisch organisierten Gesellschaft als den Zusammenschluss von Individuen, die glauben, dadurch ihre eigenen Privatinteressen – und das bedeutet bei Hobbes in primis (aber nicht nur) ihre Sicherheit – besser verfolgen zu können; oder wir meinen mit Kant, dass sich Individuen zu diesem Zusammenschluss entscheiden müssen, um die Ausübung und Entfaltung ihrer Autonomie zu erreichen. Die erste Perspektive begründet all jene Demokratietheorien, die man insgesamt als „ökonomisch“ bezeichnen könnte (vgl. dazu die klassischen: Schumpeter 1942 und Dawns 1957). Sie sehen Demokratie als ein politisches System an, das die Verfolgung privater Interessen optimiert. Die Staatsbürger werden somit zu ökonomischen Akteuren, cha-

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rakterisiert durch instrumentelle Rationalität.12 Das entspricht zwar nicht genau Hobbes’ Ansatz, teilt jedoch mit ihm die entscheidende Voraussetzung, dass Individuen sich in einen Staat zusammenschließen, um ihre Interessen besser verfolgen zu können. Wichtig ist dabei festzustellen, dass sowohl bei Hobbes als auch bei Kant die Individuen immer ein Interesse verfolgen – sei es ein unmittelbares (und eventuell in seinen Folgen eher schädliches), sei es ein langfristiges; sei es ein ganz privates (und eventuell für das Gemeinwohl schädliches), sei es ein gemeinsames. Aber bei Kant sehen die Individuen im Staat etwas mehr als den bloßen Rahmen, in dem sie nach ihrem Glück suchen: Sie halten sich selbst und die Mitbürger für Mitglieder einer Gemeinschaft, die nicht nur – um einen Hegelschen Begriff zu benutzen – ethischen bzw. sittlichen Wert hat (im Unterschied zu Hobbes ist bei Kant von Gemeinsinn und sogar durchaus von Patriotismus die Rede), sondern und vor allem moralische Qualität in doppeltem Sinne besitzt. Erstens ist die Gemeinschaft insofern moralisch, als sie zur Entfaltung der menschlichen Autonomie führt und somit auch die äußere Bedingung für die Ausübung moralischer Freiheit erfüllt. Zweitens weisen politische Institutionen insofern moralischen Wert auf, als sie dem Ideal der Republik, das uns von der reinen praktischen Vernunft angeboten wird, mehr oder weniger entsprechen (zu diesen Fragen vgl. Kap. 5). Nach Kants Meinung gibt es daher ein moralisches Kriterium (die Republik), das gleichzeitig als Maßstab und regulatives Ideal dient, um existierende Institutionen und geltende Gesetze zu beurteilen, an dem sich konkrete Staaten orientieren sollten. Diese zweite Perspektive ist auch die Perspektive jener Theorien, die eine normative Auffassung von Demokratie haben und Kriterien anbieten, um konkrete Institutionen, Gesetze und politische Entscheidungen zu beurteilen, wie z. B. Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien (Rawls 1975) oder Habermas’ Diskursprinzip bzw. Demokratieprinzip (Habermas 1992). Das Ideal der Republik dient jedoch gleichzeitig dazu, dem Handeln der Bürger eine Orientierung zu geben. Es besteht nämlich eine moralische Pflicht für sie, alles zu tun, um dieses Ideal zur Wirklichkeit zu verhelfen – und das geht entschieden über das hinaus, was üblicherweise (und in der republikanischen Tradition) unter dem Begriff von „Bürgertugenden“ verstanden wird.

12 Dabei müssen die zwei Begriffe „ökonomisch“ und „instrumentell“ in einem sehr weiten Sinne interpretiert werden, der sich nicht ausschließlich auf den Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit beschränkt: Es gibt sogar „ökonomische“ Theorien der Sexualität (Posner 1992). Was solche Theorien charakterisiert, ist nicht die Reduzierung aller menschlichen Akte auf wirtschaftliche Interaktionen, sondern eine bestimmte Auffassung der menschlichen Rationalität und die Überzeugung, dass die Individuen in allen ihren Handlungen immer Interessen verfolgen, mögen diese auch noch so unvernünftig oder nicht rational erfassbar erscheinen (wie eben im Fall von Sex oder Religion usw.).

Kapitel 2 Machiavelli: Virtù des Fürsten und gute Ordnungen als Bedingungen der Moralität der Bürger

Machiavelli: „Warum also, wenn die Kunst derjenigen, die zu leben und zu regieren wissen (was ein und dasselbe ist, da der Zweck der Menschen in der Gesellschaft ist, über die anderen auf irgendeine Weise zu herrschen, und da der Schlaueste immer herrschen wird), diese und keine andere ist; warum also sollte man eine andere lehren, und warum lehren alle Bücher eine andere, die der Wahrheit direkt entgegensteht? [...] Ich spreche von den nackten, wahren Tatsachen – von dem, was gemacht wird, was immer gemacht werden wird, und was gemacht werden muss. [...] Du musst nun wissen, dass ich von Natur aus, als junger Mann und später noch, in der Tiefe meiner Seele tugendhaft war, und dass ich all das liebte, was schön, großartig und ehrlich ist. [...] Aber als findiger Mensch schlug ich bald Gewinn aus meinen Erfahrungen; und da ich die wahre Natur der Gesellschaft und meiner Zeiten gekannt hatte [...], lehrte ich als wahrer Philosoph die Regel, wie man regieren und leben muss, welche die Moral für alle Zeit ersetzt hatte.“ G. Leopardi, Senofonte e Niccolò Machiavello1

Jede Auseinandersetzung mit Machiavelli bringt eine größere Gefahr der Missdeutung und des Missverständnisses mit sich, als es bei der Interpretation anderer Autoren vorkommt.2 Das hat seinen Grund in der Tatsache, dass der Florentiner kein systematischer Denker ist, der seine politische Theorie mit einer ‚wissenschaftlichen‘ Methode entwickelt und in einem organischen Werk dargestellt hat, wie z. B. Hobbes. Machiavelli selbst verstand seine Werke eher als Kompendium von praktischen Ratschlägen und Handlungsanweisungen; sein Ziel war nicht, Theorien zu entwickeln, sondern direkt auf die Praxis einzuwirken. In diesem Sinne kann man den Principe zwar dem Genre der Fürstenspiegel zurechnen, diese Zuschreibung bleibt allerdings eine rein äußerliche, denn der Hauptsinn der Schrift offenbart sich im letzten Kapitel: Es handelt sich um eine

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Leopardi 1969, 190 ff.; Übersetzung – A. P. Das führte einen Interpreten zu folgender Aussage: „Jeder Historiker, der neu an Machiavelli herangeht, hat das Gefühl, zuerst eine bestimmte Kruste irrtümlichen Verständnisses beseitigen zu müssen, bevor er an den Kern der Sache herankommen kann.“ (von Muralt 1945, 34)

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„Ermahnung, Italien von den Barbaren zu befreien“3 (P XXVI; SW II, 203; vgl. dazu 2.2 und 2.7). Nichtsdestotrotz kann man bei Machiavelli von einer politischen Theorie sprechen, wie wir sehen werden. Dennoch muss festgestellt werden, dass sie in erster Linie eine Theorie politischer, institutionalisierter Macht darstellt, d. h. eine „Lehre von der Technik und Effizienz politischer Herrschaft“ (König 1992, 26), im Unterschied zu den späteren, neuzeitlichen Vertragstheorien (z.B. diejenigen von Hobbes, Rousseau und Kant), die darüber hinaus eine Lehre der Legitimation politischer Macht bzw. eine komplette Gesellschaftstheorie sind (Machiavelli bietet höchstens eine genealogische Erklärung der Entstehung von Moral und Gesellschaft an: vgl. unten 2.8). Seine Reflexion beschäftigt sich zudem zwar mit Phänomenen, welche die Geburt des modernen Staates (in der Gestalt des Nationalstaates) darstellen, ohne dass sich jedoch Machiavelli der Tragweite der beschriebenen Ereignisse bewusst ist. Der Florentiner sieht und analysiert mit großer Finesse die Krise der tradierten Verordnungen, vom Kaiserreich bis hin zu den Kommunen, ist aber nicht imstande, die qualitativen Unterschiede zwischen ihnen und den entstehenden Nationalstaaten zu begreifen. Obwohl er auf manche Elemente aufmerksam wird, die Letztere auszeichnen (Konzentrierung der Macht in den Händen eines einzigen Fürsten, Unabhängigkeit vom Papst, Unterwerfung des Adels und der Freistädte, usw.), interpretiert er sie – gemäß seiner zyklischen Auffassung der Geschichte – im Lichte der traditionellen Machtkämpfe, so wie er sie aus den antiken Geschichtsbüchern kannte – als ob Franz I., Karl V. oder Cesare Borgia moderne Varianten von Philipp von Makedonien, Julius Cäsar und der anderen großen Männer aus der Antike wären.4 Somit entgeht Machiavelli z. B., dass der Kampf Frankreichs gegen das Kaiserreich nicht einfach der Kampf zweier europäischer Großmächte, sondern vielmehr der Endkampf zwischen zwei politischen Systemen war (am Ende wurde sogar das System des Verlierers auf dem Schlachtfeld, nämlich das französische Modell des Nationalstaates, zum eigentlichen Sieger über das alte kaiserliche Modell). Machiavelli ahnt dies zwar, wie die Stellen beweisen, in denen er für sein Projekt der nationalen Einigung Italiens das Beispiel von Frankreich und Spanien zu nehmen versucht. Aber er ist nur imstande, die Entstehung von Nationalstaaten in diesen Ländern als das Ergebnis der Eroberungen bzw. der militärischen und politischen Siege der jeweiligen Könige über Fürsten und Mächte zu deuten. Der Fürst, der Italien einigen sollte, muss daher in Machiavellis Augen nicht unbedingt selbst ein Italiener sein (Cesare Borgia war letztlich Spanier und hatte beinahe trotzdem einen weitläufigen mittelitalienischen Staat geschaffen), und die politische Einigung durch militärische Eroberung soll nicht unbedingt einer kulturellen nationalen Einigung entsprechen, die Machiavelli gar nicht erwähnt. 3

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Der italienische Titel ist expliziter: „Esortazione a pigliare l’Italia e liberarla dalle mani de’ barbari“, was neben der Idee einer nationalen Befreiung vom Joch fremder Mächte auch die einer stürmischen Eroberung Italiens ausdrückt. Der italienische – und besonders florentinische – Ausdruck „pigliare e ...“ (mit Infinitiv) drückt noch heute eine starke Resolution des Handelns aus. Machiavelli wird zu solcher Lesart auch durch seine Auffassung bewegt, die Politik sei das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen der blinden fortuna und der individuellen virtù außerordentlicher Männer (vgl. unten 2.4).

MACHIAVELLI: VIRTÙ DES FÜRSTEN UND GUTE ORDNUNGEN

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Was die Methode betrifft, unterscheidet sich Machiavellis Procedere von demjenigen späterer politischer Denker wie Hobbes oder Spinoza vor allem durch seinen induktiven Charakter. Machiavelli zielt nicht darauf ab, die Regeln der Politik, sondern ihre Regelmäßigkeiten zu identifizieren (Pasquino 1997, 36); seine Methode ist daher weit mehr durch Berufungen auf Geschichte und Empirie geprägt als diejenige der postcartesianischen Philosophen. Der Florentiner zieht seine Schlüsse nicht deduktiv aus Axiomen oder Postulaten, sondern induktiv aus historischen Beispielen, die er aus den Werken klassischer Autoren (Livius vor allem, aber auch Polybios, Tukydides und Xenophon), vor allem jedoch aus der Gegenwart und aus seiner eigenen Erfahrung als Gesandter der Florentiner Republik nimmt. Dieses Verfahren lässt sich musterhaft am Kapitel VIII des Principe (P VIII; SW II, 143 ff.) beobachten: Zunächst wird uns ein Beispiel aus der Antike (Agathokles), dann eines aus der Gegenwart (Oliverotto da Fermo) angeboten; im Anschluss an diese Beispiele folgen einige theoretische Überlegungen über den guten oder üblen (nicht: bösen) Gebrauch der Grausamkeit; schließlich wird aus den Überlegungen ein praktischer Ratschlag („Es ist hierbei zu merken, dass beim Ergreifen der Zügel einer Regierung ...“; P VIII; SW II, 147) gezogen. Eine solche Methode würde den Anhängern des modernen baconianischen bzw. cartesianischen Wissenschaftsbegriffes, wie z. B. Spinoza und Hobbes, nicht wissenschaftlich genug erscheinen. Sie ziehen eine abstraktere Konstruktion vor, die aus gewissen Axiomen auf bestimmte Folgen schließt. Machiavelli, dem eine solche deduktive Methode keineswegs unbekannt war, würde diesen Autoren seinerseits vorwerfen, sie blieben der tatsächlichen Wirklichkeit, der „verità effettuale“, zu fern.5 Diese lässt sich nur durch die Kenntnis und die richtige Interpretation der Geschichte verstehen. Der Politiker, der Richtlinien für sein Handeln sucht, sollte sich historische Beispiele aussuchen und ihnen nachahmen (D, I, Vorrede; SW I, 5 ff.), anstatt sich eine Realität auszudenken, die es so nie gegeben hat,6 und die nur in den Schriften der Philosophen, wie etwa bei Platon oder Aristoteles,7 zu finden ist. In dieser Kritik am abstrakten deduktiven Denken in der Politik (auch wenn sie weder für Platon noch Aristoteles zutrifft) verbirgt sich schon der Keim des späteren Abstraktheitsvorwurfs, der gegen den Liberalismus von vielen Gegnern – von Hegel bis hin zu den Kommunitaristen – erhoben wird. Ein richtiges Verständnis der politischen Welt ist danach nur mit einer historisierenden Perspektive möglich. Die politische Wirklichkeit kann nur aus ihrem geschichtlichen Kontext verstanden werden: Gedankenexperimente, wie der Gesellschaftsvertrag oder der Schleier des Unwissens, vor allem aber das Postulat der Existenz von isolierten Individuen als politische Akteure, werden 5 6 7

Dies wirft er tatsächlich Platon und Aristoteles vor (vgl. DFR; SW II 107). „Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, wie man sie niemals gesehen, noch in der Wirklichkeit gekannt hat.“ (P XV; SW II, 167) „So großen Wert legten auf diesen Ruhm die Männer, welche stets nur nach Ruhm strebten, dass sie, in der Unmöglichkeit, eine Republik in der Wirklichkeit zu errichten, dies in ihren Schriften getan haben. Aristoteles, Plato und andere wollten der Welt beweisen, dass, wenn sie nicht wie Solon und Lykurgos einen freien Staat gründen konnten, sie es nicht aus Unwissenheit unterließen, sondern aus Mangel an Macht und Gelegenheit.“ (DFR; SW II, 107)

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KAPITEL 2

im Namen der tatsächlichen Wirklichkeit, der verità effettuale Machiavellis, angegriffen und verworfen. Der Florentiner bildet die Quelle einer der beiden Hauptströmungen des Republikanismus, nämlich jener Richtung, für die der Mensch und sein politisches Handeln nur innerhalb einer konkreten, geschichtlich bestimmten Umwelt zu begreifen sind: Eine politische Theorie darf deshalb von dieser Situiertheit nicht abstrahieren. Die andere Richtung, die man mit der Position Rousseaus und mancher amerikanischer Gründungsväter identifizieren kann, hält zwar den Menschen für ein geschichtliches Wesen; sie meint jedoch gleichzeitig, dass das gerechte Gemeinwesen Gegenstand abstrakter Theorien (Rousseaus Contrat social) oder Modelle (the city on the hill der Pilgerväter) sein kann. Um Machiavellis Position bezüglich der Rolle der Bürger zu verstehen, muss man sein Denken in den breiteren Kontext seiner Zeit einfügen. Das ist notwendig, weil der Florentiner den Anfang einer neuen Epoche des politischen Denkens markiert. Sein Ansatz stellt einen unumkehrbaren Bruch mit der mittelalterlichen und bürgerhumanistischen Tradition dar: Alle Denker, die Gegenstand dieser Arbeit sind, werden ihm in seiner realistischen Anthropologie und in seiner strikten Trennung zwischen traditioneller christlicher Moral einerseits und Politik andererseits folgen. Die Auseinandersetzung mit Machiavelli macht es daher erforderlich, auf die Tradition einzugehen, von der er sich distanziert. Das ist nicht nur für ein richtiges Verständnis seines Denkens notwendig, sondern es ermöglicht auch ein besseres Verständnis des Denkens von Hobbes, Rousseau und Kant. Im Unterschied also zu den Kapiteln, die jenen anderen Philosophen gewidmet sind, besitzt dieser, besonders in seinem ersten Teil, einen starken ideengeschichtlichen Charakter. Da außerdem Machiavellis Werk (einschließlich der literarischen Schriften) politischer Natur ist, werde ich mich mit seiner gesamten Œuvre auseinandersetzen und mich nicht auf einzelne Werke konzentrieren. Die Behauptung, Machiavellis gesamtes Werk könne auf Überlegungen über die Politik reduziert werden, muss begründet sein. Der Mensch ist für Machiavelli ein politisches Tier, aber in einem völlig anderen Sinne als bei Aristoteles. Er ist es nicht, weil er von Natur aus ein Sozialwesen ist, sondern er ist es insofern, als seine Beziehung zu den Mitmenschen immer ein Machtverhältnis ist: Der Mensch sieht die anderen als Mittel zur Erreichung seiner eigenen Zwecke und versucht, sie dementsprechend zu kontrollieren, ohne seinerseits unter ihre Kontrolle zu fallen.8 Sogar die Liebe führt die Individuen zum Versuch, den geliebten Menschen zu manipulieren, wie man in La mandragola am besten beobachten kann. Und wenn er nicht gegen die Mitmenschen kämpfen muss, dann hat sich der Mensch vor den eigenen Leidenschaften zu hüten: Der Kampf wird zwar zum inneren, aber er bleibt nichtsdestoweniger ein Kampf um die Macht und um die Kontrolle menschlicher Handlungen. Das heißt, dass der Hauptkern von Machiavellis Werk in der Reflexion über die Macht besteht. Was ihn jedoch in erster Linie 8

„It is precisely in this sense that men are political animals; men find themselves in a situation where they must concern themselves with each other as means to their satisfaction and, therefore, they are concerned with controlling these means or, what is the same, with politics and the domination of others.“ (Fleisher 1972, 130). Was Fleisher über Machiavelli sagt, gilt genauso für Hobbes.

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interessiert, wenn er den Principe oder die Discorsi verfasst, ist weniger die Macht an sich, als eher die Macht als unverzichtbares Mittel, um eine politische Gemeinschaft zu vereinigen, zu ordnen und blühen zu lassen (vgl. dazu Pasquino 1997, 34).

2.1. Die „Modernität“ von Machiavellis Denkens Herfried Münklers meint, Machiavellis Position sei noch an eine vorkapitalistische Wirtschaftsordnung gebunden, nämlich den Handelskapitalismus von Florenz zwischen 14. und Anfang des 16. Jahrhunderts (vgl. dazu auch 6.1).9 Machiavellis politische Theorie nehme nach dieser Lesart „eine mittlere Stellung zwischen der des Mittelalters und der Neuzeit“ ein: Im Unterschied zur Ersteren abstrahiere sie von jedem ethisch-religiösen Zweck in Bezug auf das politische Gemeinwesen und erhebe die Erhaltung des Staates „zum obersten politischen Imperativ“; im Unterschied zur Letzteren „vermochte sie ihre Aufmerksamkeit noch nicht auf das Individuum zu konzentrieren“ wie es später hingegen Hobbes, Locke, Rousseau und Kant machen werden (Münkler 1984, 99). Münklers Lesart ist zum Teil treffend: Machiavelli ist sicherlich weder ein neuzeitlicher Liberaler noch ein Vertreter des politischen Aristotelismus bzw. Platonismus mittelalterlicher Prägung. Seine Theorie stellt sich tatsächlich als eine Art Übergang zu „moderneren“ Auffassungen vom Staat und von seinen Aufgaben vor. Aber die Lage ist weit komplizierter, als man denken könnte.10 Ein Element, das die Sache schwieriger macht, besteht darin, dass sich Machiavelli einer Begrifflichkeit bedient, die sich sowohl von derjenigen vorangegangener Denker als auch von derjenigen „moderner“ Philosophen absetzt. Fast alle Begriffe von Machiavellis Denken („virtù“, „fortuna“, „repubblica“, „legge“, „occasione“ und vor allem „stato“) bedürfen einer Klärung, wenn man nicht Gefahr laufen will, dieses Denken zu misszuverstehen.11 Manche Begriffe werden im Laufe der unmittelbar folgenden historischen Kontextualisierung von Machiavellis Denken erklärt, aber eine Analyse von drei Begriffen wird uns dazu verhelfen, die Frage der „Modernität“ seines Denken zu beantworten: „stato“, „governo“ und „legge“ (wörtlich: Staat/Zustand, Regierung und Gesetz). Der Analyse sei vorausgeschickt, dass ich das Wort „Modernität“ keineswegs evaluierend (etwa als Synonym von „entwickelter, anspruchsvoller“ o. ä.) benutze (vgl. Mansfield 1996, 258 ff.). Damit beziehe ich mich einfach auf die Frage, ob Machiavelli für einen Denker der Neuzeit gehalten werden kann. Diese Frage weist auf die weitgehendere hin, ob die Renaissance der Neuzeit zugerechnet werden kann, oder nicht. Eine vollständige Beantwortung der Frage würde den Rahmen meiner Untersuchung sprengen, aber ich werde eine etwas thetische Definition moderner Staatlichkeit anbieten, 9 Schon König 1941 hatte die Renaissance als Krisen- und Übergangszeit und Machiavellis Denken als Produkt dieser Krise dargestellt. 10 Für eine kurze aber prägnante Darstellung der Problematik vgl. schon Cassirer 1946, 129 ff. 11 Es ist nicht so, dass Münklers Lesart dieser Gefahr mehr als andere Lesarten – die hier vorliegende eingeschlossen – ausgesetzt ist.

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da sie für unsere Thematik relevant ist. Die Frage der Modernität von Machiavellis Denken kann daher umformuliert werden: Ist das politische Gemeinwesen, über das Machiavelli schreibt, der moderne Staat? Der moderne Staat ist eine historisch bestimmte Form der Organisation von Macht bzw. Autorität. Sein Merkmal ist, dass eine einzige Instanz, nämlich die staatliche, das Monopol legitimen Zwangs besitzt. Der Staat übt dieses Monopol durch das Recht und durch ein Apparat bürokratischer Verwaltung aus. Die rechtlichen Normen werden durch genau bestimmte Verfahrensregeln gesetzt und besitzen allgemeinen, unpersönlichen Charakter. All das garantiert die Legalität, d. h. die Objektivität und Voraussehbarkeit des politisch-administrativen Prozesses. Der moderne Staat organisiert eine bestimmte Gruppe von Individuen und hält sie durch geographische Grenzen und Mitgliedschaftsregeln (Staatsbürgerschaftsrecht) von anderen Gruppen entfernt. Er unterscheidet sich von der griechischen Polis, von der römischen res publica und vom Feudalsystem. Die letzte Unterscheidung ist für uns besonders wichtig, da sie auch Machiavellis Staatsauffassung betrifft. Im Feudalsystem gibt es weder ein Zwangsmonopol noch ein Monopol der Rechtsetzung. Die Macht ist zerstreut in der Gesellschaft, in der es mehrere hierarchisch organisierte Machtzentren gibt. Jedes Zentrum kann legitimerweise rechtliche Normen produzieren, und besitzt somit Souveränität in Bezug auf die eigene Kompetenzsphäre. Die Koexistenz mehrerer legitimer Autoritätsinstanzen führte jedoch historisch immer wieder zu Konflikten, da die jeweiligen Kompetenzsphären nicht klar auseinanderzuhalten waren. Konflikte entstanden somit zwischen Kaiser und Papst, Kaiser und Fürsten, Kaiser bzw. Fürsten und Städten und unter den Adligen. Privatkriege und Fehden waren nicht nur weit verbreitet, sondern wurden oft für legitim gehalten. Der moderne Staat bringt Ordnung in diesen Zustand rechtlicher Unsicherheit und nimmt das Monopol der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung für sich in Anspruch. Privatkriege sind nicht weiter erlaubt und Konflikte werden von der zentralen Autorität (wenn auch durch periphere und lokale Vertreter) gelöst (vgl. Matteucci 1997). Der Prozess der Entstehung des modernen Staates aus dem Feudalsystem ist langwierig und nicht immer linear gewesen.12 Dort, wo sich Nationalstaaten gebildet haben (vor allem in Frankreich), ist er besonders deutlich zu verfolgen, aber anderswo fand der Übergang durch jeweils minimale Machtverschiebungen statt. Es ist schwer zu sagen, wann z. B. Florenz zu einem souveränen Staat wurde. Die Emanzipation der Stadt von 12 Es ist auch nicht eindeutig klar, wann der Übergang vollendet wurde. Martin van Creveld meint, zur Zeit des Westfälischen Friedens habe der moderne Staat in Form absoluter Monarchien den endgültigen Sieg über das Feudalsystem davongetragen (Creveld 1999), aber diese Datierung dient nur einer besseren historischen Darstellung und entspricht keineswegs der Komplexität und Vielfältigkeit konkreter nationaler Entwicklungen. Und was Machiavelli betrifft: Ein Modell modernen säkularisierten Staates hätte er vielleicht im süditalienischen Königreich von Friedrich II. finden können, wie Cassirer beobachtet (Cassirer 1946, 137). Aber nirgendwo in seinen „theoretischen“ Werken spricht er vom schwäbischen Kaiser, und wenn er das tut (im ersten Buch der Florentiner Geschichten), dann ohne seine Leistungen bezüglich der Schaffung eines modernen, säkularisierten Staates zu erwähnen.

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den Markgrafen von Canossa und von der kaiserlichen Autorität war graduell, und einer de facto politischen Unabhängigkeit entsprach häufig eine nominelle Unterwerfung dieser „höheren“ Autoritäten. Erst mit der Eroberung der Nachbarstädte und des contado (der ländlichen Umgebung) wuchs außerdem die Autorität von Florenz über die städtischen Grenzen hinaus, so dass die Entscheidungen der Stadtregierung auch für das Territorium außerhalb der Stadtmauern rechtlich verbindlich wurden. Die republikanischen Institutionen von Florenz waren schließlich fast nie vollkommen stabil und immun gegen die Gefahr, dass sie unter die Kontrolle von Privatbürgern (einzelne Familien oder Gruppen bzw. Parteien) gerieten – wie der von Machiavelli mehrmals erwähnte Fall von Cosimo de’ Medici besonders eindeutig zeigte. a) Stato. Wenn Machiavelli das Wort „stato“ benutzt, bezieht er sich nie auf den Staat im modernen Sinn, d. h. auf den Staat als unpersönliche Autorität (vgl. Chabod 1957). „Stato“ wird hingegen von Machiavelli stets in Verbindung mit der Macht eines Individuums oder republikanischer Institutionen gebraucht (vgl. Mansfield 1996, 288 ff.). Wenn er sagt, das Hauptziel eines Fürsten sei „mantenere lo stato“, so meint er damit nicht, dass der Fürst den Staat verteidigen soll, sondern dass er den eigenen Machtzustand erhalten soll (hier spielt auch die Zweideutigkeit des italienischen Wortes eine Rolle, denn „stato“ meint sowohl „Staat“ – aber nicht für Machiavelli – als auch „Zustand“). Daran ändert sich auch nichts, wenn der Principe mit den Worten anfängt: „Tutti gli stati, tutti e’ dominii che hanno avuto e hanno imperio sopra gli uomini, sono stati e sono o repubbliche o principati.“ (P I) Im Gegenteil: Die „stati“, von denen hier die Rede ist, werden als die Regierungen definiert, die Herrschaft über die Menschen ausüben (vgl. die entgegensetze Interpretation in: Bobbio 1985, 55). In den Discorsi spricht Machiavelli z. B. von der Dauer der „stati de’ principi“ und der „stati delle repubbliche“ (D I, 58), und damit will er nichts anderes bezeichnen als die Dauer von monarchischen bzw. republikanischen Herrschaften. „Stato“ ist somit am besten mit „Herrschaft“ zu übersetzen.13 Dass in Machiavellis Zeit dies die Hauptbedeutung des Wortes war, zeigt auch sein Gebrauch bei anderen Autoren, wie z. B. Guicciardini. In seinen Ricordi (1530) schreibt jener Freund Machiavellis nicht nur, dass die Medici 1527 ihren „stato“, ihre Macht,

13 Ein besonders klares Beispiel dieser Bedeutung des Wortes „stato“ kann man in der kurzen Schrift finden, die Machiavelli „ai Palleschi“, d. h. an die Medici-Anhänger, im November 1512, nach dem Fall der Republik, adressiert. Dort benutzt er zehnmal den Ausdruck „questo stato“, um die Medici-Herrschaft zu bezeichnen; er spricht zudem von „tòrre al popolo lo stato“ (die Macht dem Volk zu entziehen) und ermahnt die Palleschi, dass die Fehler von Pier Soderini kein Ansehen „ad lo stato de’ Medici“, der Medici-Herrschaft, zukommen lassen. Auch die Minuta di provvisione per la Riforma dello Stato di Firenze (1522) beschäftigt sich zwar mit einer institutionellen Reform, aber Machiavelli benutzt immer die Ausdrücke „la città di Firenze“ oder „la repubblica di Firenze“ (die Stadt bzw. die Republik von Florenz), um den Florentiner Staat (in unserem Sinne) zu bezeichnen, während die von ihm hier skizzierte Reform des „stato“ die Organisation der Machtausübung betrifft. Im Discursus Florentinarum Rerum schließlich ist die Benutzung des Wortes „stato“ im Sinne von Herrschaft eindeutig, besonders wenn Machiavelli von dem „stato di Cosimo“, also von der Herrschaft Cosimo de’ Medicis, spricht.

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verloren hatten, sondern er behauptet, dass das Florentiner Volk seine Freiheit verloren hatte, weil es sie „a uso di stato“ benutzt hatte. Dabei meint er – wie man aus seiner weiteren Ausführung erfahren kann –, dass die republikanische Regierung in der Verteilung der Ämter dieselbe despotische Verfahrensweise der Medici benutzt hatte. Wenn sich eine republikanische Regierung „ad uso di stato“, d. h. auf der Basis reiner Machtüberlegungen, erhalten will, wird sie die Freiheit und somit sich selbst zerstören, und so geschah es auch mit der Florentiner Republik (Ricordo Nr. 21, in Guicciardini 1983, 53 ff.). Wenn Machiavelli den Staat als territoriale Einheit bezeichnen will, benutzt er dann die Termini „repubblica“ (dem lateinischen res publica angelehnt), „principato“ (Fürstentum), oder „cittade“ (Stadt). Der letztere Begriff ist allgemeiner und besagt, im Unterschied zu den beiden anderen, nichts über die Regierungsform. Es ist auch offensichtlich, dass Machiavelli mit „cittade“ weniger den städtischen Raum in engerem Sinn als vielmehr das ganze Herrschaftsterritorium einer Stadt meint (im Fall von Florenz also das Territorium der Florentiner Republik). b) Governo. Will Machiavelli den Staat in seiner Herrschaftsfunktion bezeichnen, benutzt er die Ausdrücke „governo“ und „signoria“, die beide „Regierung“ bedeuten (der erste ist abstrakter, der zweite bezeichnet die Gruppe der Regierenden, die „signori“). Die Regierung – unabhängig davon, ob es sich um eine republikanische oder monarchische handelt – ist der Hauptadressat von Machiavellis politischen Schriften: Es sind die Regierenden, welche die Macht, den „stato“, erhalten sollen. Ihnen wendet sich Machiavelli mit seinen kühlen Ratschlägen zu. Der Regierung stehen in einer Republik das Volk („popolo“), in einem Fürstentum die Untertanen („sudditi“) entgegen, die in Machiavellis Denken aber eine untergeordnete Rolle spielen. Sie gehören nur zu den Variablen des politischen Spiels, zusammen mit Fortuna, mit der „occasione“ (Gelegenheit), mit äußeren politischen Ereignissen, mit Naturkatastrophen usw. Wenn die Regierung weiß, wie sie das Volk behandeln soll, dann wird Letzteres ein leicht manipulierbares Instrument zur Machterhaltung sein; wenn nicht, dann wird sich das Volk in ein Mittel möglicher Umstürze verwandeln. Diese Mahnung gilt nicht nur dem Fürsten, sondern auch der republikanischen Regierung: Auch sie muss imstande sein, das Volk an die Institutionen zu binden und somit die Gefahr einer Veränderung der Regierungsform (d. h. die Machtergreifung durch einen Fürsten) fernzuhalten. Die neuere Geschichte von Florenz, mit den ständigen Regimewechseln zwischen Republik und Herrschaft der Medici, hatte nach Machiavellis Meinung gezeigt, wie wankelmütig das Volk sein kann. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Republiken und Fürstentümer nicht voneinander; nur die Mittel, um das Volk an sich zu binden, sind in den Ersteren anders als in den Letzteren: Müssen Vaterlandsliebe, Einfachheit der Sitten und politisches Engagement in der Republik herrschen, so soll das Volk im Fürstentum den Fürsten eher fürchten als lieben, und sich für die Politik keineswegs interessieren. Dort muss Gleichheit unter den Bürgern herrschen, hier muss der Fürst einen Hof um sich bauen, dessen hierarchische Struktur durch seine Gunst und politisches Kalkül geprägt ist. c) Leggi. Was die „leggi“, die Gesetze, betrifft, gilt für Machiavelli das, was ich schon im ersten Kapitel in Bezug auf die vier Denker, die Gegenstand meiner Untersuchung sind, gesagt habe: Das Gesetz ist eine abstrakte, allgemeine und unpersönliche

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Norm, die nur den Rahmen für die Handlung der Regierung angibt. Je weniger Gesetze, desto stabiler der Staat. Zu viele und zu spezifische Gesetze dienen nur dazu, Interpretationskonflikte auszulösen und somit die Eintracht unter den Bürgern einerseits und – weit wichtiger – zwischen Bürgern und Regierung andererseits zu erschüttern. Machiavellis Ideal sind die römischen Zwölf Tafeln, die die Kriterien der Einfachheit, der Allgemeinheit und der kleinen Zahl erfüllten. So groß ist die Abneigung des Volkes für die Gesetze, dass sich alle Gesetzgeber der Antike auf irgendwelche göttliche Autoritäten berufen sollten, um den von ihnen erlassenen Normen Respekt zu verschaffen (was aus der Religion ein wichtiges instrumentum regni machte). Mit der Zeit wächst allerdings die Autorität der Gesetze, so dass sich die Regierung möglichst davor hüten soll, sie zu ändern. Und wer einen Staat erneuern soll, muss ihn zu seinen „Anfängen“, also zu seinen ältesten Gesetzen und Institutionen zurückführen. Alle diese Punkte gehören zum klassischen republikanischen Gedanken der Herrschaft der Gesetze (und werden von Rousseau vollständig übernommen). Aber im Unterschied zu anderen Republikanern (allen voran eben Rousseau) räumt Machiavelli dem Volk die Möglichkeit der Debatte ein. In den Versammlungen muss es nicht nur den Vorschlägen der Regierung zustimmen, sondern es kann sie auch diskutieren. Sobald sich jedoch die Bürger in Parteien organisieren, ist der Zerfall der Republik unvermeidlich. Nach dem Vorhergegangenen sollte es offensichtlich sein, dass Machiavelli über keinen modernen Begriff vom Staat verfügt. Für ihn gibt es nur Akteure, die in einer bestimmten Zeit Herrschaft über ein bestimmtes Territorium und über ein bestimmtes Volk ausüben: die republikanischen Regierungen und die Fürsten. Wenn einer dieser Akteure den „stato“ verliert, so wird er von einem neuen ersetzt (sei es Fürst oder republikanische Regierung). Entsprechend der veränderlichen Lage politischer Gebilde in Italien während der Renaissance können immer wieder neue Herrschaftsgebiete entstehen: Fürsten können ihre Herrschaft über Städte und Regionen durch Erbschaftsrecht oder durch Kauf bekommen, Republiken können neue Gebiete kaufen oder mit denjenigen anderer Herrscher austauschen. Machiavelli möchte jedoch diesem Zustand ein Ende bereiten. Sein Werk wendet sich an all denjenigen, die ausreichenden Mut und guten Willen haben, Italien unter sich zu vereinigen und aus ihm einen modernen Staat (mag Machiavelli den Begriff auch nicht kennen) zu machen.

2.2. Machiavellis Hauptproblem: die nationale Einheit Italiens Die meisten Interpreten stimmen darin überein, dass Machiavelli keineswegs eine allgemeine Theorie des Staates oder der Politik anbieten wollte, dass er in seinen Werken vielmehr eine Antwort auf konkrete politische Fragen zu geben versuchte (gegen eine solche Lesart spricht sich Cassirer 1946 aus). Es bleibt allerdings offen, wie konkret diese Fragen waren. Manche Exegeten neigen dazu, die wichtigsten politischen Schriften – vor allem den Principe – als eine Art Gelegenheitsschriften zu interpretieren (z. B. Viroli 1998). Eine Rechtfertigung finden solche Lesarten in dem Umstand, dass Machiavelli im Principe das Problem der nationalen Einheit Italiens, d. h. der Errichtung

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eines italienischen Nationalstaats aufwirft. Hauptziel dieses Werkes ist es zu zeigen, dass die Möglichkeit (und nach Machiavelli sogar die moralische Notwendigkeit) besteht, Italien von der Herrschaft fremder Mächte zu befreien und zu vereinigen. Sein Aufruf an die Medici darf daher nicht als Ausdruck schmeichelnder Anbiederung angesehen werden,14 sondern muss als genuin überzeugender Appell an den Neffen des Papstes verstanden werden, der sich in einer ähnlichen Lage wie Cesare Borgia befand, und für den Leo X. – wie einst Alexander VI. für seinen Sohn – ehrgeizige Pläne bezüglich der Schaffung eines Großfürstentums in Mittelitalien hatte. Die Chancen einer Vereinigung Italiens (oder weiter Teile des Landes) unter einem italienischen Fürsten (noch dazu einem Florentiner) standen daher in Machiavellis Augen so gut wie noch nie (vgl. unten 2.7).15 Aus einer solchen Perspektive müssten die Discorsi entweder – wegen ihres strikten Republikanismus – eine Alternative oder eine ideale Fortsetzung des Principe darstellen.16 Die erste Lesart verbietet sich, wenn man bedenkt, dass Machiavelli in diesem Werk die Meinung vertritt, eine Republik könne nur von einem Einzelindividuum geordnet werden. Die republikanische Perspektive schließt somit nicht die Perspektive aus, die Machiavelli im Principe einnimmt. Die zweite Lesart wäre daher sicher plausibeler. Aufgabe des Fürsten wäre es danach, einen neuen Staat zu schaffen bzw. zu erobern, und ihm „neue Ordnungen“ (also eine Verfassung) zu geben. Die Verfassung müsste allerdings eine republikanische sein, denn sie allein würde dem neu geborenen Staat Dauer, Stabilität und Macht garantieren. Das ist auch die kühne These, die Machiavelli in seiner Denkschrift über die Reform der Regierung von Florenz vertritt. Kühn ist die These deswegen, weil die Schrift direkt an den Medici-Papst Leo X. gerichtet ist, der mit Hilfe der Spanier die Florentiner Republik gerade unter die Herrschaft seiner Familie zurückgebracht hatte. Möchten die Medici, dass ihr Herrschaftsgebiet (d. h. Florenz) frei und unabhängig bleibt, so müssen sie die bis dahin dort geltende republikanische Verfassung nicht abschaffen, sondern sogar verstärken. Nach dieser Lesart besteht also eine Kontinuität zwischen dem Principe und den Discorsi (gegen diese Interpretation Cassirer 1946, 145 ff.).17 Das gilt zunächst auf der 14 So erstaunlicherweise noch Skinner 1990, 43: „Aber natürlich war es Machiavellis Hauptsorge, den Medici klarzumachen, dass er ein Mann war, den in ihre Dienste zu nehmen sich lohnen würde“. 15 Zum Principe als Appell vgl. vor allem Viroli 1998, der allerdings in dem Werk bloß eine Rede in der klassischen rhetorischen Tradition des genus deliberativum sehen möchte (73 ff.). Es fragt sich allerdings, ob der Umstand, dass der Text gemäß den – Machiavelli vertrauten – Regeln der klassischen römischen Rhetorik verfasst wurde, ausreichend ist, um aus ihm ein rein rhetorisches Werk ohne Anspruch auf Objektivität zu machen (vgl. dazu Pinzani 2000c). 16 Ein guter, wenn auch manchmal dem Text zu eng folgender Kommentar zu den Discorsi, ist Mansfield 1979. 17 Cassirer (und mit ihm viele andere Interpreten) meint, die zwei Werke widersprechen einander. Er versucht, diesen Widerspruch durch Machiavellis Realismus zu erklären: zwar war er idealiter ein Republikaner, aber er sei sich auch immer der Unmöglichkeit bewusst gewesen, eine Republik herzustellen, weil das italienische Volk nicht mehr die Tugenden der alten römischen plebs besaß. Die Discorsi stellen somit die ideale Theorie Machiavellis vor, der Principe hingegen die realistische (Cassirer 1946, 146 f.). Cassirers Interpretation scheint mir viele Passagen der beiden Werke und vor allem die vielen kleineren politischen Werke Machiavellis nicht in Betracht zu ziehen.

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äußeren Ebene der Methode und Argumentationsweise und sogar der von Machiavelli benutzten Beispiele,18 aber auch auf der tiefergehenden Ebene der in beiden Werken aufgegriffenen Themen. Damit geht diese Interpretation in die schon erwähnte These über, Machiavellis Interesse für konkrete politische Fragen sei keineswegs auf das Problem der nationalen Einheit Italiens beschränkt, sondern nehme daraus zwar seine Inspiration, aber nur um zu einer allgemeinen Theorie zu führen, bei der es um „die Dauerhaftigkeit, die innere Stabilität und äußere Expansionsfähigkeit der staatlichen Gemeinschaften“ geht (Münkler 1984, 97). Die Frage, ob der Staat ein Fürstentum oder eine Republik ist, scheint dabei weniger relevant zu sein:19 Machiavelli zieht die Republik vor, ist aber überzeugt, dass sie nur unter bestimmten sozialen Umständen möglich ist, während in anderen Fällen die Monarchie eine bessere Regierungsform bildet (vgl. DFR; SW II, 98 ff.). In Bezug auf beide Werke spricht Althusser sogar von ihrer Nicht-Differenz und von einer tiefen Einheit („leur non-différence, leur unité profonde“: Althusser 1995, 116). Im Principe werde die Frage der Entstehung des Staates, in den Discorsi die Frage der Bedingungen behandelt, unter denen ein Staat Dauerhaftigkeit findet und die eigene Vergrößerung vornehmen kann. Beide Werke haben somit denselben Gegenstand.20 All diese Interpretationen halte ich für zutreffend. Sie schließen sich nämlich gegenseitig nicht aus, sondern stimmen darin überein, dass Machiavelli in seinem Denken immer sowohl an der politischen Theorie als auch an der politischen Praxis interessiert ist – weil nach seiner Meinung die beiden nicht voneinander zu trennen sind. Sogar in seinen Berichten an die Signoria oder in den Reden über Einzelfragen, die er zum Teil für andere Amtsträger (z. B. Pier Soderini) verfasste, kann er nicht umhin, seine Leser bzw. Zuhörer mit allgemeinen Betrachtungen über Politik und über die menschliche Natur zu belehren. Das beste Beispiel dazu bietet vielleicht die kurze Schrift Parole da dirle sopra la provisione del danaio, facto un poco di proemio et di scusa an, die Machiavelli im Jahre 1503 (zehn Jahre vor dem Principe) für eine ganz konkrete Angelegenheit verfasste: die Anschaffung von Geldern zum Verteidigungszweck. Es handelt sich um ein wahrhaftiges Kompendium seines Denkens, das in nuce dessen wichtigste

Diese zeigen, wie Machiavellis Haltung gegenüber der Macht von Alleinherrschern nicht resignierend (oder sogar bewundernd) ist: Er sieht darin hingegen ein Instrument, um republikanische Institutionen dort herzustellen, wo die dazu notwendigen Bedingungen vorhanden sind. 18 „Prince et Discours sont nourris de la même substance. Cela se voit tant par l’identité des traitements thématiques, que dans les références culturelles: l’antiquité pour l’essentiel romaine et grecque, la contemporanéité italienne et européenne.“ (Drei 1998, 23) Als Beispiele zitiert Drei unter anderem das Thema der Festungen, das der Religion und die zahlreichen Hinweise in beiden Werken auf die Schlacht von Agnadello (die insgesamt zwei Mal im Principe und fünf Mal in den Discorsi erwähnt wird). 19 „Dans le texte, et c’est constamment le cas dans les Discours, il est question soit des républiques, soit des principats, traités sur le même plan. Ce n’est donc pas leur distinction qui importe à Machiavel, mais ce qu’il peut retenir de commun dans leur histoire“. (Althusser 1995, 106) 20 „Les Discours ne parle pas d’autre chose que Le Prince: ils parlent de la même chose.“ (Althusser 1995, 117)

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Elemente beinhaltet, von seiner realistischen Anthropologie zu seiner Theorie der occasione (Gelegenheit) und der fortuna. Auf diesen wenigen Seiten wird sogar das Modell internationaler Beziehungen skizziert, das später (daher irgendwie zu Unrecht) als „hobbesianisch“ in die Geschichte des politischen Denkens eingeht. Die Individuen werden durch das Gesetz gezwungen, das gegebene Wort zu halten, aber die Staaten beugen sich nur der Macht der Waffen, da kein internationaler Rechtszustand besteht. Statt einfach die Gründe anzugeben, die in der konkreten historischen Lage zugunsten einer Steueranhebung sprechen, belehrt also Machiavelli seine Zuhörer (bzw. diejenigen Soderinis, für den er die Rede wahrscheinlich verfasste) mit einer fast vollständigen politischen Theorie. Theorie und Praxis sind in seinem Werk so eng miteinander verbunden, dass die erstere nur im Licht ihrer Anwendung auf die letztere sinnvoll erscheint. In dieser Hinsicht besitzt Machiavellis Theorie immer normativen Charakter, wenngleich es sich um keine moralische Normativität handelt, sondern nur – kantisch ausgedrückt – um eine hypothetische (etwa nach dem Muster: „Willst du deine Macht erhalten / ein Gebiet erobern / einer Stadt eine Verfassung geben, so musst du folgenderweise vorgehen ...“). Wenn Theorie immer praxisbezogen sein muss, bildet in Machiavellis Augen die Geschichte – die antike wie die neuere oder die neueste – deren beste Quelle, da wir aus der Geschichte lernen können, wie man in bestimmten Lagen handeln soll bzw. nicht handeln darf. Machiavelli folgt deswegen den Humanisten und den Künstlern der Florentiner Renaissance, die sich der Antike zugewandt hatten, um eine Neubelebung21 antiker Ideale in der Gegenwart zu versuchen.

2.3. „L’antica virtù“: Machiavelli und die Antike Machiavelli wendet sich in seiner politischen Anthropologie sowohl von Aristoteles und vom mittelalterlichen Aristotelismus als auch vom platonisch gefärbten Florentiner Humanismus von Pico und Ficino ab (s. unten 2.4 und 2.5). Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die Antike keinen Einfluss auf Machiavelli hatte – im Gegenteil: Sein Denken ist von den Theorien klassischer Autoren geprägt. Das gilt in erster Linie für seine Geschichtsauffassung, die von Thukydides (wie später bei Hobbes), aber vor allem von Polybios (und durch ihn von Platon) beeinflusst wird. Von Polybios übernimmt Machiavelli sowohl seine Theorie der Entstehung von Gesellschaft als auch das Modell der anakýklosis politéion, d. h. des ständig wiederkehrenden Zyklus der Verfassungen (vgl. unten 2.9). Die Geschichte lässt sich danach als ein Prozess auffassen, in dem ein dauernder Übergang von einer Verfassungsform zur anderen stattfindet – und zwar so, dass einer reinen eine unreine, verkommene Form folgt, aus der dann wieder eine reine, aber andere entsteht: So verkommt die Monarchie zur Tyrannei, diese wird dann durch die Aristokratie ersetzt, die aber in Oligarchie verfällt, so dass sich als Gegenmittel die Demokratie durchsetzt, die schließlich zur Anarchie verkommt und von der Monarchie

21 Rinascimento, das italienische Wort für Renaissance, bedeutet Neugeburt.

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wieder abgelöst wird, so dass der Zyklus nochmals von vorn anfängt (vgl. Polybios, Historien, VI. Buch). Durch die Übernahme jenes Modells nimmt Machiavelli eine gewisse Distanz zum politischen Aristotelismus und gleichzeitig zum mittelalterlichen theo- und teleologischen Verständnis der Geschichte als Heilsgeschichte. Machiavellis Theorie stellt eine Abkehr von der politischen Anthropologie dar, die den Aristotelismus und das politische Denken seit der Wiederentdeckung von Aristoteles’ Politik (um 1260) auszeichnet (vgl. Mager 1992). Die traditionelle aristotelische Definition des Menschen als zōon politikon wird von Machiavelli verworfen. Die Gesellschaft entsteht vielmehr durch den Druck der Not (die necessità, die mit virtù und fortuna eine Art Dreifaltigkeit in der heidnischen politischen Theologie Machiavellis darstellt); der Mensch gehorcht also keiner höheren Bestimmung, nach der er seine Vollkommenheit im politischen Leben erreichen soll (vgl. unten 2.8).22 Der Mensch ist in Machiavellis Augen „ein asoziales und unpolitisches Lebewesen“ (Kersting 1988, 34), für das kein Ideal individueller Vervollkommnung – wie bei Aristoteles – mehr gilt (auch nicht das Ideal einer Vervollkommnung der Gattung, wie später bei Kant). Somit wird auch die teleologische Geschichtsauffassung des politischen Aristotelismus verworfen, wonach der telos der Geschichte die Vervollkommnung der menschlichen Natur – sprich: der politischen Natur des Menschen – sei. Die politische Gesellschaft entsteht nach Machiavelli nicht aufgrund irgendeines „Plans“ der Natur, sondern zufällig (D I, 2; SW I, 13).23

22 „Bei Machiavelli hat die politische Anthropologie ihren traditionellen Protagonisten verloren: Nicht mehr der Mensch steht in ihrem Mittelpunkt, sondern die Menschen im allgemeinen. [...] Der Begriff der Wesensnatur, der auf eine vorgegebene, objektive und teleologische Naturordnung verweist, ist für Machiavelli bedeutungslos geworden. [...] Der Mensch ist ein asoziales und unpolitisches Lebewesen. [...] Der einheitliche, durchgängig teleologisch strukturierte Weltbegriff der Antike und des Mittelalters [...] ist für Machiavelli zerbrochen. Die Natur ist sinn- und vernunftlos geworden“. (Kersting 1988, 33 ff.) Zum Begriff der „necessità“ in seiner Beziehung zur Anthropologie und zur Politik vgl. Kluxen 1967. 23 Es gibt Interpreten, welche die Beziehung Machiavellis zu Aristoteles hinsichtlich der Frage nach der politischen Gemeinschaft für wesentlich enger halten. Quentin Skinner meint z. B., ein aristotelisches Bild lege Machiavellis Analyse der Entstehung einer Republik zugrunde: „die Vorstellung von einem Gemeinwesen als einem natürlichen Körper, der, wie alle sublunaren Geschöpfe, der Zeit unterworfen ist“ (Skinner 1990, 96). Er zitiert dabei die Körpermetapher, die Machiavelli am Anfang des dritten Buches der Discorsi benutzt (D III 1; SW I, 263), und weist auf eine angebliche organische Auffassung des Staates hin. Allerdings sollte man in Bezug auf diese Stelle eher Platon und Thukydides als Aristoteles zitieren. So Platon: „Aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht, so wird auch eine solche Errichtung [d. h. der Idealstaat] nicht die gesamte Zeit bestehen, sondern sich auflösen.“ (Politeia 546a ff. in Platon 1828, 265) Und Thukydides: „Alles Gewordene trägt doch den Keim des Vergehens in sich.“ (Thukydides 1973, 180; zum Verhältnis Machiavellis zum Thukydides vgl. Reinhardt 1962) Jene Stellen werden im Esel fast wörtlich wiederholt: „So bleibt auf Erden nichts an seiner Stelle fest. Daher entspringt der Frieden und der Krieg.“ (As. III, 92-94; SW VII, 208) Ohne zudem zu vergessen, dass die Körpermetapher schon im mittelalterlichen politischen Denken vor der Wiederentdeckung von Aristoteles’ politischem Werk (zwischen 1250 und 1260) benutzt wurde, und zwar – mit Bezug auf die neuplatonische Tradition

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Aber der für unser Vorhaben relevante, mit dem Ersteren eng verbundene Unterschied zur Aristotelischen Position besteht in der unterschiedlichen Auffassung von Tugend und Moral (vor allem, was ihre Beziehung zur Politik betrifft). Dies ist ein zentraler Aspekt von Machiavellis Denken. Er behauptet nämlich oft in seinem Werk, dass sein Hauptziel die Wiederbelebung der „antiken Tugend“ bzw. „Tugenden“ (antica virtù oder antiche virtù) ist, zeigt jedoch einen Begriff der Tugend auf, der keineswegs mit dem Platonischen oder Aristotelischen vereinbar ist (obwohl Machiavelli im Kontext der privaten, nicht politischen Personalmoral die Platonisch-Aristotelische Tugendlehre wieder aufnimmt; vgl. unten 2.13). Das hängt mit Machiavellis selektiver Wahrnehmung der Antike zusammen. Obwohl er eine traditionelle humanistische Erziehung bekommen hatte, die auch das Studium griechischer Klassiker (in lateinischer Übersetzung) vorsah, gilt das Hauptinteresse Machiavellis (und der Bürgerhumanisten: vgl. unten 2.5) fast ausschließlich der römischen Welt. Er kennt Platon und Aristoteles, erwähnt sie jedoch kaum in seinen Werken und nur en passant.24 Die einzigen griechischen Autoren, die bei ihm wirkliche Erwähnung finden, sind Xenophon und Polybios (der eine Geschichte Roms schrieb!). Dafür verfasst er ein Buch (die Discorsi), das sich an Livius’ Ab Urbe condita so weit anlehnt, dass sogar die gesamte Anzahl der Kapitel – 142 – der Anzahl der Bücher von Livius’ Werk entspricht, von denen wir jedoch nur 35 besitzen (vgl. Drei 1998, 63). Die Tugend, die Machiavelli wiederbeleben möchte, ist diejenige der Römer der republikanischen Zeiten. Sie hat weder mit Aristoteles’ Begriff der Tugend noch mit der späteren neuzeitlichen, von Kant inspirierten Auffassung zu tun. Auch bei seiner Aristoteles-Kritik nimmt Machiavelli Hobbes vorweg (einschließlich des Missverständnisses beim Begriff der mesotēs) und lehnt die Idee ab, Tugend würde in einem Mittelweg bestehen, den er als eine Art Zögerlichkeit versteht (Zögerlichkeit und Unsicherheit stellen in seinen Augen die schlimmsten Laster dar; vgl. P XXI, SW II, 191 ff.). Aber der Gegenstand seiner harschesten Kritik ist Aristoteles’ Ideal des freien und reichen Mannes, der sein Leben ausschließlich der theoria und den dianoetischen Tugenden widmet. In D I, 55 bezeichnet Machiavelli solche Menschen als „verderblich“ für die Republik und das Land (SW I, 138). Seine polemische Wut gilt dabei dem Müßiggang

der Spätantike (Macrobius, Calcidius) und auf die ekklesiologische Lehre von der Kirche als „corpus mysticum Christi“ – schon gegen 1159 von Johannes von Salisbury in seinem Policraticus (Salisbury 1909; zur Körpermetaphorik vgl. Mager 1992). Machiavellis Körpermetaphorik beruht also eher auf der platonischen als auf der aristotelischen Tradition. 24 „Comment ne pas remarquer que pas une seule fois, à l’exception d’Aristote, cité une fois en passant [D III, 26; SW I, 345; in der Tat findet Aristoteles eine zweite Erwähnung – und Platon die einzig direkte – auch im DFR; SW II 107 – A. P.], Machiavel n’invoque les grands textes politiques de Platon, d’Aristote, des Épicuriens, des Stoïciens, de Cicéron; lui qui admire tant l’Antiquité, et nourrit sa pensée d’exemples tirés de l’histoire d’Athènes, de Sparte et de Rome, ne s’est jamais expliqué là-dessus que par son silence: mais dans un temps où nul ne parlait de politique que dans la langue d’Aristote, de Cicéron et du Christianisme, ce silence tenait lieu de rupture déclarée. Il suffisait à Machiavel de parler autrement pour dénoncer l’imaginaire de l’idéologie régnante en matière politique.“ (Althusser 1995, 47 f.)

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(sprichwörtlich – auch auf Italienisch – „aller Laster Anfang“), denn er führt die Staaten zum Ruin: „Müßiggang verwüstet Städte und Länder.“ (As. V, 96; SW VIII, 214) Wahre Tugend entsteht hingegen aus der Not, wie er mehrmals in den Discorsi betont (z. B.: D I,1; I, 3; II, 12; III, 12; über das Verhältnis der Tugend zur Not in Bezug auf die Moralität vgl. unten 2.6). Worin besteht dann wahre Tugend? Machiavellis Begriff der Tugend kann nur dadurch definiert werden, dass man den „uomo virtuoso“, den tugendhaften Mann, definiert.25 Machiavelli übernimmt von Cicero, vermittelt wahrscheinlich durch den Florentiner Bürgerhumanismus, den Begriff des vir virtutis, des Mannes, der mit als typisch männlich verstandenen Eigenschaften wie militärischer Tapferkeit, Ehrgeiz usw. ausgestattet ist. In den Tusculanae Disputationes (II, 18) leitet Cicero das Wort virtus (Tugend) von vir (Mann) ab und sagt, dass die Erreichung von virtus (im Singular!) das ultimative Ziel von Erziehung sein soll. Die Bürgerhumanisten übernahmen diese Idee: Es soll die Aspiration jedes Mannes sein, zur virtus zu gelangen. Der Grund dafür ist, dass virtus ermöglicht, den höchsten Grad an Ehre und Ruhm zu erreichen.26 Auch in den späteren Fürstenspiegeln von Schriftstellern wie Patrizi oder Pontano werden die principi gemahnt: Ruhm und Ehre seien nur durch virtus zu haben, und diese vor allem durch die richtige Erziehung (vgl. dazu Skinner 1978, 120 ff.). Das ist auch das Ziel, das in Machiavellis Augen virtus so wünschenswert macht. Der Fürst muss ein vir virtutis sein, damit er seine politischen Ziele (nämlich Macht und Ruhm) erreichen kann. Aber im Gegensatz zu den Humanisten und den anderen Autoren von Fürstenspiegeln unterscheidet Machiavelli die virtus von der Tugendhaftigkeit bzw. von der moralischen Auszeichnung. Das Beispiel Agathokles ist in dieser Hinsicht erleuchtend: Er war ein Tyrann und zeichnete sich durch seine Greueltaten und seine Grausamkeit gegen Freunde und gegen seine unschuldigen Untertanen aus, so dass man in seinem Fall nicht von (moralischer) Tugend sprechen kann. Gleichzeitig jedoch spricht Machiavelli doch von der virtù von Agathokles und sagt, dass er wegen seines Mutes und seiner Standfestigkeit „keinem der größten Helden“ nachstand. Er besaß also virtus, obwohl er nicht tugendhaft war (P VIII; SW I, 144 f.). Dasselbe gilt für viele anderen Beispiele, die Machiavelli aus der römischen Geschichte nimmt (Hannibal ist vielleicht das prominenteste unter ihnen). Das beweist, dass er in der Geschichte, wie Althusser zu Recht betont hat, nicht Beispiele einer moralischen Ideologie, sondern den Beweis der Notwendigkeit sucht, die Moral der Politik zu unterwerfen („la preuve de la nécessité de soumettre la moral à la politique“: Althusser 1995, 99 f.). Wolfgang Kersting hat Machiavellis Tugendbegriff gut zusammengefasst: „Virtù ist eine durch vorausgesetzte politische Ziele [...] geordnete und geleitete psychologischcharakterliche Vortrefflichkeit, die teils auf angeborenen und nicht beeinflussbaren energetisch-pragmatischen Fähigkeiten und teils auf erlernbaren oder verbesserbaren intellektuell-pragmatischen Fähigkeiten basiert.“ (Kersting 1988, 116) Die gesuchte virtù

25 Zum Begriff der „virtù“, sowie zu den weiteren Begriffen von „fortuna“, „occasione“ und „necessità“ vgl. Knauer 1990. 26 Diese Idee war schon bei Petrarca vorhanden: vgl. Skinner 1978, 100.

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besitzt keine moralische Qualität im traditionellen Sinne. Sie besteht vielmehr in einer Mischung aus unterschiedlichen, zum Teil entgegensetzten Eigenschaften, deren Wert nur in Bezug auf ihre Anwendbarkeit in der politischen Praxis beurteilt werden: Mut, Tapferkeit, Seelengröße, Widerstandsfähigkeit, Klugheit, Kühnheit, und vor allem in der Fähigkeit, die für die jeweilige Gelegenheit (occasione) richtige Reaktion zu zeigen. Der uomo virtuoso weiß sich den verschiedenen occasioni anzupassen: Er besitzt nicht den standfesten Charakter des stoischen idealen Mannes, der lieber zerbricht, als sich den Umständen zu beugen. Machiavellis uomo virtuoso ist geschmeidig und hat den Charakter eines Löwen und den des Fuchses: Er weiß, wann er grausam sein, und wann er List anwenden muss (P XVIII; SW II, 175). Was die traditionellen (aristotelischen) Tugenden betrifft, so braucht er sie nicht wirklich zu besitzen, sondern er muss nur den Eindruck davon erwecken (das gründete den Mythos von Machiavellis Amoralismus).27 Wenn Machiavelli im Principe Eigenschaften wie Grausamkeit, Milde, Freigiebigkeit usw. untersucht, so benutzt er fast ausschließlich Ausdrücke wie „für freigiebig (mild usw.) gehalten zu werden“. Diese Eigenschaften können dem Fürsten Lob oder Tadel bringen, aber der politische Erfolg wird ihm immer Lob bringen, daher ist er wichtiger als jede moralische Vortrefflichkeit. Und wenn Grausamkeit und Geiz dazu vonnöten sind, umso schlimmer für die traditionelle Moral und ihre Anforderungen. Auch die Moral wird somit zum bloßen Instrument im Spiel um die Macht und um den politischen Erfolg. Das bedeutet nicht, dass Machiavelli gute von bösen Handlungen im traditionellen Sinne nicht auseinanderhalten kann: Seine Verurteilung von Agathokles’ Grausamkeit z. B. ist in dieser Hinsicht sehr eindeutig. Aber solche Urteile dürfen in der Politik keinen Platz finden, sie gehören einfach nicht dorthin. Daher werden z. B. Milde und Grausamkeit nur in Bezug auf ihre politischen Auswirkungen betrachtet und je nach Umständen verurteilt oder als gut empfunden. Das entspricht der Fähigkeit Machiavellis, die zum Moment passende Handlungsweise auszuwählen. Das Zusammenspiel von fortuna, virtù und occasione wird dabei ziemlich komplex und instabil: Der uomo virtuoso muss sich der besonderen occasione (Gelegenheit) anpassen; das kann jedoch eventuell nicht ausreichen, falls fortuna nicht mitspielt (zu fortuna vgl. unten 2.4). 27 Dass Machiavellis den vir virtutis von den moralischen Verpflichtungen befreit, welche die klassische sowie die christliche Tradition jedem Menschen auferlegen, bedeutet nicht, dass er diese Tradition in toto verwirft, bzw. für einen vollkommenen Amoralismus eintritt (wie Meinecke in seiner traditionellen Interpretation meint, als er sagt, für Machiavelli seien gut und böse nur noch Rahmenbegriffe: vgl. Meinecke 1929). Oft erweist er sich im Gegenteil als strenger Moralist, der mit den traditionellen Auffassungen von Tugend und privater Moralität eng verbunden ist (ebenso wie später Hobbes). Kehrt man seine Anthropologie um (d. h. interpretiert man die von ihm festgestellten negativen Eigenschaften als zu verurteilende Laster und nimmt ihnen die entsprechenden Tugenden) und zieht man seine literarischen Werke in Betracht, stellt sich ziemlich schnell das Bild eines Machiavelli heraus, der die üblichen Todsünden verurteilt und Gottesfurcht predigt (nicht nur in metaphorischen Sinn: vgl. seine Exortazione alla penitenza, eine Predigt, die er für einen Sonntag in der Fastenzeit geschrieben haben soll). Seine schon erwähnten Dichtungen über Ehrgeiz und Undankbarkeit oder Der Esel übernehmen Topoi moralisierender Literatur über die menschliche Natur und folgen zum Teil dem Muster klassischer Satyren (das gilt vor allem für L’asino).

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Eine weitere Konsequenz ist auch, dass sich die uomini virtuosi nur schwer miteinander vergleichen lassen. Sie besitzen nicht nur verschiedene Eigenschaften in unterschiedlichem Ausmaß, sondern sie müssen auch ihre virtù in unterschiedlichen occasioni beweisen. Machiavellis Urteil über Manlius Torquatus und Valerius Corvinus (D III, 22; SW I, 333 ff.) ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit solcher Vergleiche. Beide waren erfolgreich, aber durch ganz unterschiedliche Charaktermerkmale: Manlius durch seine Härte, Valerius durch seine Menschlichkeit. Beide hatten jedoch unter ganz unterschiedlichen Umständen zu handeln, so dass Valerius wahrscheinlich wegen seiner Milde gescheitert wäre, hätte er sich in derselben Lage wie Manlius befunden.28 Jede menschliche Eigenschaft – sei sie von der Tradition für eine Tugend (Menschlichkeit, Freigiebigkeit, usw.) oder für ein Laster (Grausamkeit, Geiz, usw.) gehalten – soll nur in Bezug auf ihre Auswirkungen in der politischen Praxis beurteilt werden. Dient sie zur Erreichung der gesetzten Zwecke, ist sie gut (in einem nicht moralischen Sinn), ansonsten ist sie schlecht (nicht: böse). Der Grund, warum sich Machiavellis Tugendbegriff so stark von demjenigen Aristoteles’ unterscheidet, liegt daher in der unterschiedlichen Auffassung, die beide hinsichtlich der Beziehung von Moral und Politik haben. Bei Aristoteles findet der tugendhafte Mann in der politischen Sphäre den Ort, in dem seine Tugenden zur vollen Entfaltung gelangen können (vgl. Nikomachische Ethik 1179a33 ff.). Die Tugenden selbst besitzen jedoch für den Stagirit einen Wert an sich. Für Machiavelli sind Tugenden nur ein Mittel zum Zweck, nämlich zum Zweck des politischen Erfolgs. Sie sind deshalb politischer Natur: Der Fürst oder die Regierenden einer Republik müssen sie besitzen (bzw. den Eindruck davon erwecken), damit sie Erfolg bei der Erreichung ihrer jeweiligen politischen Ziele haben können, und nicht um bessere oder vollkommenere Menschen zu werden. Für Machiavelli hat individuelle Moralität mit politischem Erfolg nichts zu tun – und darin unterscheidet er sich auch von der Position der Verfasser von Fürstenspiegeln sowie von derjenigen der Bürgerhumanisten.

2.4. Von Fortuna und anderen Gottheiten: Machiavellis Beziehung zur christlichen und zur humanistischen Tradition Die Übernahme von Polybios’ Geschichtsauffassung bedeutet gleichzeitig den Verzicht auf jegliche Theorie, die an einem göttlichen Wirken in der Geschichte festhalten will. Durch die Rückkehr zu einer platonisch inspirierten Tradition (als Alternative zur aristotelischen) wendet sich Machiavelli ab von der christlichen und mittelalterlichen Idee einer Geschichte, die durch Gottes Interventionen kennzeichnet ist. „An die Stelle der providentia Dei trat bei ihm nun die necessità [Notwendigkeit] der geschichtlichen Abläufe.“ (Münkler 1984, 101). Deswegen haben manche Interpreten eine Parallele zu Machiavellis Zeitgenossen Kopernikus vorgeschlagen, der die Funktion des Universums

28 Die Tatsache, dass unterm Strich Machiavelli dem „Verfahren“ des Manlius den Vorzug gibt, ist für den Kontext nicht relevant (vgl. D III, 22; SW I, 337).

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von jeglicher göttlicher Einmischung befreit hatte (vgl. Hauser 1979, 81 und Münkler 1984, 100 f.). Die Abkehr vom mittelalterlichen Weltbild im Rahmen einer Wiederentdeckung der (neo)platonischen Tradition ist allerdings weniger ein exklusives Merkmal Machiavellis als ein allgemeines europäisches Phänomen des späten Mittelalters und der frühen Renaissance.29 Hier zeigen sich auch noch einmal Machiavellis Originalität und geistige Unabhängigkeit: Sein „Platonismus“ hält ihn nicht davon ab, den neoplatonischen anthropologischen Optimismus von Pico und Ficino abzulehnen bzw. vollkommen umzugestalten. Diese beiden Autoren hatten dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, sich sein eigenes Schicksal auszuwählen und eventuell fast bis zu Gott aufsteigen zu können. Machiavelli entwickelt hingegen ein viel nüchterneres Menschenbild: Die Menschen seien immer dieselben – nämlich schlecht und unvollkommen – und nicht imstande, sich moralisch zu verbessern. Sie können jedoch gute Bürger werden. Picos Alternative „Engel oder Bestie“ setzt Machiavelli diejenige vom „guten Bürger oder egoistischen Privatmensch“ entgegen (vgl. unten 2.11 und 2.12). In seinem Realismus beruft sich jedoch Machiavelli nicht auf die mittelalterliche Vision des Menschen als Sünder, sondern eher auf die heidnische Weltauffassung der Antike (und dadurch erweist er sich wieder als Humanist). In der Dichtung Vom Ehrgeiz übernimmt Machiavelli, der das Christentum sonst so häufig kritisiert, zwar die traditionelle christliche Lehre des Sündenfalls, gibt Adam und Eva allerdings mitnichten die Verantwortung für die darauffolgenden Übel der Welt (beginnend mit Abels Ermordung durch Kain). Ganz Liebhaber der klassischen heidnischen Mythologie und ihrer Personifizierungen menschlicher Leidenschaften, spricht Machiavelli von einer „dunklen Macht, die im Himmel wohnt“ und „Feindin des menschlichen Geschlechts“ ist.30 Um den Menschen „den Frieden [...] zu nehmen und den Krieg zu schicken“, habe sie „zwei Furien auf die Erde“ gesandt. Mit ihnen kamen Neid, Müßiggang, Hass, Stolz, Grausamkeit und Hinterlist auf die Welt und verjagten die Eintracht „in ferne Winkel“ (SW, VII 236). Dieselben dunklen himmlischen Mächte sind auch in der Dichtung Von Undankbarkeit am Werk: „Als den Sternen, als dem Himmel der Ruhm der Sterblichen missfiel, kam zu ihrer Erniedrigung die Undankbarkeit zur Welt“, Tochter des Geizes und des Argwohns und „in des Neides Armen“ gesäugt. Sie lebt in der Brust der Fürsten und Könige (!) und vergiftet das Herz aller anderen Menschen (SW, VIII 231).31 29 Nicht ohne eine polemische Spitze gegen Aristoteles (und die Aristoteliker seiner Zeit) bezeichnet Bruni in seiner Laudatio Florentine Urbis Platon als den bei weitem Ersten unter allen Philosophen („omnium philosophorum longissime princeps“, in: Bruni 1996, 588). 30 Apropos dunkle Mächte: Es verwundert den Leser immer wieder, dass ein so realistischer, fast zynischer Denker wie Machiavelli so häufig auf vermeintliche Wunderzeichen hinweist, die manche Ereignisse begleitet haben sollen (vgl. D I, 56 und IF VI, 34 und VIII, 36). Vgl. dazu De Grazia 1994, 65 ff. 31 Der Gedanke geht hier zu Botticellis allegorischen Bildern, vor allem zu La Calunnia (Die Verleumdung), in denen man es mit ähnlichen Personifizierungen zu tun hat: dem gekrönten ungerechten Richter, dem Unwissen, dem Verdacht, dem Hass, der Verleumdung, dem Betrug, dem Neid, der Reue, aber auch – als Verlierer – der nackten Wahrheit und der Unschuld.

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Was bei Dante und anderen mittelalterlichen Autoren noch bloße Allegorie mit christlichem Inhalt war, wird bei Machiavelli zur Wiederbelebung heidnischer Metaphern und Auffassungen. Gott taucht in seiner verkürzten Geschichte der Menschheit nur als Schöpfer auf, um dann das Terrain an „dunkle Mächte“ freizugeben, welche die Züge mythologischer Gottheiten tragen. Die berühmteste unter den von Machiavelli erwähnten heidnischen Gottheiten ist Fortuna, das Schicksal (vgl. dazu Münkler 1984, 300 ff.). Augustinus hatte im Gottesstaat (IV, 18) die Vergöttlichung von Virtus und Fortuna durch die Heiden kritisiert und hatte beiden die göttliche Vorsehung entgegengesetzt: Nur durch Gottes Wille oder Gnade können die Menschen irdische Größe erreichen oder Reiche gründen. Dieser Gedanke setzt sich durch das Mittelalter fort und wird auch von Florentiner Denkern wie Brunetto Latini und Dante übernommen. Eben jener Auffassung widerspricht Machiavelli, der vielmehr die zwei heidnischen Gottheiten ins Leben zurückruft. Er war jedoch nicht der Erste, der eine solche Operation unternahm: Schon Petrarca hatte Fortuna als die „höchste Göttin“ bezeichnet und Poggio hatte ihre grausame Macht über die Menschen beklagt (vgl. Skinner 1978, 96). Sie und die anderen Humanisten hatten jedoch gleichzeitig auf die Möglichkeit verwiesen, Fortuna die Stirn zu bieten.32 Der Mensch ist (nochmals im Einklang mit der Tradition der Antike) „faber fortunae suae“, er kann sein Schicksal gestalten. Machiavelli ist dabei weniger optimistisch und gibt dem Menschen nur einen Anteil bei der Gestaltung seines Schicksals. Fortuna kann nichtsdestoweniger auch für ihn bezwungen werden. Sie triumphiert meistens nur, wenn die Menschen versagen: „[sie] zeigt [ihre] Macht dort, wo keine geordnete Kraft ist, [ihr] zu widerstehen“ (P XXV; SW II, 200: Ziegler übersetzt „Fortuna“ mit dem Neutrum „Glück“, aber ich möchte hier die weibliche Form auch auf Deutsch behalten). Sie ist wie ein reißender Strom, der alles zerstört, wenn er aufgeschwollen ist und über die Ufer tritt. Aber wenn er ruhig ist, kann man ihn durch Dämme und Wälle kanalisieren, so dass die nächste Flutwelle keine Überschwemmung verursacht (a. a. O.). Der Mensch kann also gegen Fortuna kämpfen, aber das soll in den Zeiten geschehen, in denen ihre blinde Gewalt ruht. Man soll dann Vorkehrungen treffen, um die ungünstigen Zeiten so unbeschadet wie möglich zu bestehen – und das gilt in erster Linie für Fürsten und Staatsoberhäupter. Gleichzeitig warnt uns jedoch Machiavelli, dass es besser ist, „ungestüm als bedenklich zu sein, denn Fortuna ist ein Weib, und wer sie unten halten will, muss sie züchtigen und drängen“ (P XXV; SW I, 203).33 Das ist zwar von einem Fürsten, kaum jedoch von den Bürgern einer Republik zu erwarten ... Man kann also zu Recht Machiavellis Position als „den nüchternen Gegenpol zur Menschenverherrlichung des Giovanni Pico della Mirandola“ bezeichnen (Kersting 1988, 31); aber man darf sie weder als schlechthin „entschieden antihumanistisch“ de32 Das bezieht sich auch auf die Fähigkeit, die negativen Schicksalsschläge mit stoischer Gleichgültigkeit zu ertragen (vgl. Machiavellis Esel: „Doch, weil dem Manne klagen schimpflich ist, so muss er tränenleeren Auges sein Unglück standhaft schaun“, in: SW VII, 208). 33 Zu Fortuna als Weib vgl. Pitkin 1984; zu Fortuna als Fluss (und zum historischen Hintergrund dieser Gleichung bei Machiavelli) vgl. Masters 1998.

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finieren (a. a. O.) noch von einer „vernichtenden [...] Kritik des klassischen und des zeitgenössischen Humanismus“ sprechen (Skinner 1990, 66). Machiavelli übernimmt Elemente der humanistischen Tradition, allen voran den Bezug auf die Antike und auf die klassische Welt, gibt ihnen jedoch eine neue Bedeutung. Das, wovon sich Machiavelli entschieden distanziert, ist vielmehr das mittelalterliche politische Denken, auch wenn er mit diesem manche Positionen teilt.

2.5. Von der Polis zum republikanischen Rom: Machiavellis Beziehung zum florentinischen politischen Denken des Mittelalters und zum Bürgerhumanismus Über die Entstehung des Bürgerhumanismus in Florenz ist viel geschrieben worden (vgl. vor allem Baron 1966, ders. 1988 und Skinner 1978). Sie wird normalerweise in den Zeiten des Krieges zwischen Florenz und Mailand um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert angesetzt – d. h. in den Jahren, in denen die Existenz von Florenz als unabhängige Republik am meisten bedroht war, und in denen Leonardo Bruni seine Laudatio Florentine urbis veröffentlichte (wahrscheinlich erschien dieses Werk, das erste Manifest des klassischen Bürgerhumanismus, im Jahre 1403). Die leidenschaftliche Lobpreisung der Stadt und ihrer republikanischen Freiheit stellt die Kriege mit Mailand in einer Reihe mit den Kämpfen zwischen republikanischen Kräften und der kaiserlichen Partei im alten Rom – selbstverständlich mit Florenz auf der Seite der freiheitsliebenden Republikaner.34 Für die Bürgerhumanisten wie Machiavelli markiert die Entstehung des Kaiserreiches nicht nur das Ende der Republik, sondern auch den Anfang der römischen Dekadenz. Der Grund dafür war die Tatsache, dass sich die Kaiser vor jedem Menschen fürchteten, der virtù und Seelengröße besaß (d. h. vor jedem vir virtutis), und ihn töten ließen: Die römische Gesellschaft wurde somit zu einer Gesellschaft von tugendlosen, sklavischen Individuen, so dass der Fall Roms eine bloße Frage der Zeit war (immerhin fast fünfhundert Jahre ...). Eine derartige Interpretation der kaiserlichen Epoche stellt eine Abkehr von den Positionen vieler politischer Denker des Mittelalters (allen voran Dante) dar, die eine Kontinuität zwischen Cäsar (und vor allem seinem Nachfolger Augustus, unter dessen Herrschaft Christus geboren wurde) und den fränkischen und deutschen Kaisern sahen. Diese Kontinuität verlieh den Letzteren eine legitime Autorität auf die Territorien des ehemaligen römischen Kaiserreiches und wurde als solche auch von den Denkern nicht in Frage gestellt, die der theoretischen kaiserlichen Autorität die de facto vorhandene Autonomie und Souveränität der freien Kommune entgegensetzten – wie z. B. Bartolus von Saxoferratus. Bruni hingegen sprach nun von einer prinzipiellen Opposition zwischen den zwei Idealen, der universalen Monarchie und der republikanischen Freiheit,

34 Wie später bei Machiavelli findet bei Bruni die Freiheit ihren schlimmsten Feind in Cäsar („O Cai Cesar, quam plane tua facinora romanam urbem evertere!“, Bruni 1996, 604) und ihren Verfechter in Brutus oder Cato dem Jüngeren.

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und sprach dem Kaiser jene Autorität ab, die ihm die mittelalterlichen Autoren zuerkannten. Offensichtlich führte also der Bürgerhumanismus zu einem ziemlich starken Bruch mit der mittelalterlichen Tradition. Skinner stellt jedoch die besondere Neuigkeit des Denkens von Bruni und der anderen Bürgerhumanisten in Frage (unter denen die wichtigsten Coluccio Salutati, Poggio Bracciolini, Pier Paolo Vergerio und die jüngeren Leon Battista Alberti, Giannozzo Manetti und Matteo Palmieri waren). Er hebt vielmehr eine gewisse Gemeinsamkeit mit den mittelalterlichen dictatores (so genannt, weil sie politische Theorie und Rhetorik – ars dictamini – miteinander verbanden) hervor, die über die Republik geschrieben hatten – wie z. B. Dantes Lehrer Brunetto Latini (Skinner 1978, 71 ff.). Dabei versucht er, wie häufig in seinem Werk über die Ursprünge modernen politischen Denkens, eine Kontinuität im italienischen politischen Denken vom Mittelalter bis hin zur Spätrenaissance herzustellen; die Bruchmomente und die wichtigsten Unterschiede bleiben dabei jedoch unterbelichtet.35 Latini und andere mittelalterliche Denker, vor allem aus Florenz, hatten zwar über die republikanische Freiheit geschrieben und zum Teil Betrachtungen aufgestellt, die man in der republikanischen Tradition bis hin zur Gegenwart wiederfindet (wie z. B. die Behauptung, politische Fraktionen, krasse Reichtumsunterschiede und Luxus würden die größten Gefahren für die republikanische Freiheit darstellen). Aber sie hatten weder eine kohärente Theorie der Republik angeboten, noch sie als fundamentale, der absoluten (freilich noch nicht absolutistischen) Monarchie entgegenstehende politische Option verstanden. Keineswegs thematisiert hatten sie auch die enge Beziehung zwischen Republik und Expansionismus (vgl. unten 2.7). Ihre Werte sind die traditionellen christlichen und ihr Menschenbild ist aristotelisch. So schreibt z. B. der Florentiner Dominikaner Remigio de’ Girolami in seinem berühmten De bono communi von 1303 – 04: „si non est civis, non est homo, quia homo est naturaliter animal civile.“ (de’ Girolami 1977, 18)36 Die Bürgerhumanisten wenden sich hingegen von der christlichen Moral mindestens zum Teil ab und beleben das Ideal vom vir virtutis wieder. Latini und die anderen dictatores bleiben schließlich dem mittelalterlichen Aristotelismus nah, während die Bürgerhumanisten eine ganz andere klassische Tradition vorziehen: die der römischen Historiker und Rhetoriker. Das Ideal der mittelalterlichen „Republikaner“ war Aristoteles’ Polis; das Ideal der Bürgerhumanisten war ein kon-

35 Dasselbe gilt für Skinners Bewertung von Machiavellis Denken, deren Originalität von diesem Interpreten fast minimiert wird (dazu vgl. Hulliung 1983, 230 ff. und 241 ff.). 36 Remigios Werk, das einen erheblichen Einfluß in der Florentiner Traktatistik des 14. Jh.s ausübte, stellt eine wichtige Station auf dem Weg vom scholastischen Denken (welches Giovanni da Viterbos berühmtes, für die florentinischen Autoren einen zentralen Stellenwert besitzendes De regimine civitatum von 1240-50 noch prägt) hin zum Bürgerhumanismus (und dessen Lobpreisung des republikanischen Rom) dar. Die politische Gemeinschaft, die Stadt, rückt bei ihm in den Vordergrund: Nicht nur das Oberhaupt, das noch im mittelalterlichen Denken (z. B. bei Giovanni da Viterbo) die zentrale Figur war, sondern auch die Bürger selbst spielen nun eine der civitas untergeordnete Rolle. Alles muss unternommen werden, damit das Gemeinwohl der Stadt verwirklicht wird, mögen dabei die Privatinteressen der Bürger auch eingeengt werden. Der Republikanismus der Renaissance kündigt sich also im Werk jenes Florentiner Mönchs schon an.

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kretes historisches Modell: das republikanische Rom. Nicht zufällig handeln die ersten zehn Bücher von Livius’ Römischer Geschichte, die Gegenstand von Machiavellis Discorsi sind, vom republikanischen Zeitalter Roms. Die Haltung Machiavellis gegenüber der klassischen Tradition unterscheidet sich jedoch wesentlich von jener seiner humanistischen Vorgänger und öffnet dem politischen Denken einen neuen Horizont, nämlich den eines Realismus, der auf eine konkrete Umsetzung der Theorie in die politische Praxis abzielt:37 Das ist der Sinn der schon erwähnten, von Machiavelli angestrebten Wiederbelebung der antica virtù (vgl. oben 2.3).

2.6. Machiavellis Anthropologie und die Rehabilitierung der Laster Wie schon häufig gesagt, muss man nach Machiavellis Meinung aus der Geschichte Schlüsse ziehen, die unser politisches Handeln leiten können. Althusser hat diesbezüglich auf einen angeblichen Widerspruch Machiavellis hingewiesen, der zwei Thesen aufstellen würde, die einander ausschließen: Die erste These besagt, dass der Lauf der menschlichen Dinge unveränderlich ist, denn sonst wäre es nicht möglich, Ereignisse und Individuen aus der Antike und aus der Moderne oder aus verschiedenen Nationen zu vergleichen.38 Noch mehr: Wenn die Welt nicht immer dieselbe wäre, wäre sie nicht erkennbar, denn man könnte keine Konstanten feststellen.39 Die zweite These widerspricht der ersten: „Allein, da alle menschlichen Dinge in beständiger Bewegung sind, und nicht feststehen können, so müssen sie sinken oder steigen.“ (D I, 6; SW I, 28) Alles ist in einer unendlichen Bewegung gefangen (das weist auf die Rolle der Fortuna hin). Nach Althussers Meinung harmonisiert Machiavelli die beiden Thesen durch seine zyklische Theorie der Geschichte: Alles ist zwar in Bewegung, aber diese Bewegung folgt einem unveränderlichen Kurs,40 sodass man bestimmte Konstanten und Regelmäßigkeiten in der menschlichen Geschichte aufspüren kann. Althussers Interpretation ist zuzustimmen, aber nur als Teilerklärung von Machiavellis Denken. Das Element, das es ihm ermöglicht, aus der Geschichte (und aus der politischen Lage seiner Zeit) Schlüsse zu ziehen, die laut Machiavelli selbst zwar generell gültig sind, jedoch nicht unter allen Umständen zutreffen, ist weniger die zyklische

37 Zu den Unterschieden zwischen Machiavelli und den mittelalterlichen und humanistischen Denkern vgl. Gilbert 1939. 38 „Il ne serait pas possible de faire des comparaisons entre l’antiquité d’une part, entre les divers événements et conjonctures du présent, disons entre l’Italie et la France d’autre part, entre ces deux ordres de conjonctures enfin.“ (Althusser 1995, 79) 39 „Il ne serait pas possible d’en dégager les constantes, [...] il ne serait pas possible de le connaître.“ (Ebda., 79) 40 Althusser erwähnt hier sogar Hegel, allerdings mit der relativierenden Bemerkung, es handele sich um einen „vulgären“ Hegelianismus „Machiavel semble avoir réalisé, réussi une ‚synthese‘, au sens hégélien-vulgaire, entre la première thèse (le cours immuable), et la seconde thèse (la mobilité universelle). Qu’est-ce en effet que le cycle de l’histoire, sinon le mouvement immobile, l’immuable mouvement de la répétition des mêmes changements?“ (Ebd., 83)

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Wiederkehr der Verfassungen als vielmehr die Tatsache, dass die Natur der Menschen immer dieselbe ist (mögen auch die „menschlichen Dinge in beständiger Bewegung“ sein). Seine Zeitgenossen unterscheiden sich nicht von den alten Römern oder von den Juden der mosaischen Zeit: Sie unterliegen denselben Leidenschaften, ihre Handlungen sind von denselben Motiven bestimmt, ihre Fehler bleiben dieselben. Der Schlüssel, um Machiavellis Denken besser zu verstehen, besteht daher in einem zutreffenden Verständnis seiner Anthropologie: Sie stellt die Basis seines politischen Denkens dar, denn er leitet die Regel für das politische Handeln von den Merkmalen ab, die er den Menschen zuspricht. Da Machiavelli kein systematischer Denker ist, bietet er auch keine einheitliche Darstellung seiner Anthropologie bzw. keine Theorie der menschlichen Natur (wie es hingegen später Hobbes tun wird)41 an. Man muss vielmehr in seinem ganzen Werk nach isolierten anthropologischen Bemerkungen suchen. Daraus lässt sich das Menschenbild Machiavellis mit einer gewissen Genauigkeit rekonstruieren, auch wenn es an widersprüchlichen Aussagen nicht fehlt. Machiavellis Menschen sind egoistische Wesen, die jedoch nicht immer über die kalkulierende Zweckrationalität von Hobbes’ Individuen verfügen (das gelingt nur wenigen außergewöhnlichen Individuen). Das entsprechende Bild ist vernichtend. Hier eine Auswahl aus dem Principe und den Discorsi:42 Sie sind „undankbar, unbeständig, heuchlerisch, furchtsam und eigennützig“ (P XVII; SW II, 172); sie sind weiter misstrauisch (D I, 29; SW I, 80), vergesslich, neidisch (D I, Vorrede; SW I, 5) und ehrgeizig (D I, 9; SW I, 37 und passim); sie besitzen ein so starke Dosis Eigenliebe und täuschen sich so sehr in der Meinung von sich selbst, dass es ihnen schwer fällt, sich vor Schmeichelei zu hüten (P XXIII; SW II, 196); sie verletzen eher jene, die sie lieben, als jene, die sie fürchten, und vergessen leichter die Ermordung ihres Vaters als den Raub und Verlust ihres Besitzes (P XVII; SW II, 173); sie leiden unter pleonexie: sind unersättlich und immer unzufrieden mit dem, was sie besitzen (D, II Vorrede; SW I, 156). Sie bedürfen der Züchtigung, weil sie sich ansonsten von ihren Leidenschaften beherrschen lassen und dabei sich selbst und den Staat in den Ruin treiben (D I, 42; SW I, 113); 41 Apropos Hobbes’ und Machiavellis Anthropologie: Kersting und Münkler sehen in Machiavelli eine Art Proto-Hobbes, der Erste besonders in Bezug auf die anthropologischen Annahmen des Florentiners („Machiavellis politische Anthropologie nimmt unverkennbar wichtige Züge des Hobbes’schen Menschenbildes vorweg“, Kersting 1988, 37), der Zweite eher in Bezug auf das Hauptanliegen beider Denker: die Dauerhaftigkeit und Stabilität des Staates (Münkler 1984, 98 f.). 42 In den anderen Werken kommen die Menschen auch nicht viel besser weg: Im Esel werden Schweine und Tiere im Allgemeinen den Menschen vorgezogen, da Letztere mehr gewalttätig und böse als Erstere sind. In den Komödien Clizia und Mandragola wimmelt es nur von ähnlichen Urteilen, als ob die dort beschriebenen Figuren nicht ausreichten, um den gründlichen anthropologischen Pessimismus des Autors zu beweisen. Sogar die Florentiner Geschichte bietet zahlreiche Beispiele von Machiavellis kläglicher Meinung über seine Mitmenschen an. Ob er tatsächlich ein Menschenfeind war, wie Leopardi ihn sieht (Leopardi 1969), ist jedoch umstritten. Es gibt dokumentarische Beweise des Gegenteils: Seine Briefe und die Briefe von Freunden an ihn lassen das Porträt eines offenherzigen, lustseligen Menschen, der Liebe, Familie, Freunde und Spaß fast über alles setzte – mit Ausnahme eben der Politik (vgl. dazu Viroli 2000 und De Grazia 1994).

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sie vergessen jedoch nach und nach die ihnen erteilte Züchtigung (D III, 1; SW I, 265). Sie sind neuerungssüchtig (D III, 21; SW I, 331), sträuben sich jedoch gegen jede Neuigkeit, wenn sie eintritt (D I, 25; SW I, 75), oder sind nicht imstande, die Notwendigkeit einer Erneuerung zu erkennen (D I, 2; SW I, 12), auch weil sie „während der Windstille nicht an den Sturm denken“ (P XXIV; SW II, 199). Sie neigen zum Bösen (D I, 9; SW I, 36) und tun etwas Gutes nur, wenn sie dazu gezwungen werden (D I, 3; SW I, 18). Sie lassen sich vom Schein täuschen (D I, 25; SW I, 75) und sich von augenblicklichem Vorteil blenden, so dass sie das darunter verborgene Übel nicht sehen (P XIII; SW II, 163 f.). Sie sind „so einfältig, sie gehorchen den Bedürfnissen des Augenblicks so sehr, dass der, welcher hintergeht, immer Jemand finden wird, der sich hintergehen lässt“ (P XVIII; SW II, 175). Sie pflegen im Allgemeinen mehr „durch die Augen als durch die Hände“ zu urteilen (P XVIII; SW II, 176); und zu allem Überdruss verstehen sie äußerst selten, ganz gut oder ganz böse zu sein, so dass sie nur selten imstande sind, große Taten zu vollbringen (D I, 27; SW I, 77). Alle Menschen sind kurzum „tristi“, d. h. böse (P XVIII; SW II, 175). Gegen solche Äußerungen klingt Kants Behauptung, der Mensch sei ein so krummes Holz, dass daraus nichts Gerade gezimmert werden kann (Idee, 6. Satz), eher harmlos. Der Umstand, dass Machiavelli seine anthropologischen Bemerkungen immer dann einführt, wenn es darum geht, eine bestimmte Handlungsrichtlinie zu raten, hat manche Interpreten (Viroli 1998) zur Vermutung geführt, es handele sich nur um rhetorische Übertreibungen, deren Zweck darin bestünde, ein bekräftigendes Argument zur Rechtfertigung jener Handlungsweisen bzw. der entsprechenden Anweisungen zu finden – etwa nach dem Muster: Da die Menschen undankbar/unbeständig/ böse usw. sind, muss man sie so und so behandeln. Das ist tatsächlich das Argumentationsmuster von Machiavelli; seine anthropologischen Aussagen besitzen jedoch keineswegs einen rein rhetorischen Charakter. Sie stellen auch keine pathetische Klage gegen die Bosheit der Menschen dar, sondern wollen eine nüchterne Beschreibung ihrer wahren Natur sein: Machiavelli beansprucht für seine Bemerkungen, dass sie der verità effettuale entsprechen. Seine Methode garantiert zwar keine Ergebnisse, die ein für alle Mal bzw. für alle Fälle gültig sind, denn dafür ist die Wirklichkeit zu wechselhaft und die konkreten Umstände sind zu veränderlich. Aber auch wenn er keine wissenschaftliche politische Anthropologie anbietet, so meint Machiavelli, seine Beobachtungen würden die Wirklichkeit sehr genau wiedergeben. Die Menschen sind tatsächlich böse und schlecht (es handelt sich um keine für die Argumentation notwendige fictio wie bei Hobbes), auch wenn sich aus diesem Tatbestand keine wissenschaftlichen Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten, sondern nur generelle Handlungsrichtlinien, Klugheitsgebote, praktische Ratschläge herleiten lassen. Der relativ bescheidene Anspruch Machiavellis in Bezug auf seine Folgerungen vermindert jedoch seinen Anspruch nicht, mit seinen Prämissen die verità effettuale widerzuspiegeln und somit über eine zwar nicht systematische, jedoch klar umrissene psychologische Theorie zu verfügen. Die Hauptbegriffe seiner Theorie sind drei: animo, ambizione, und ingratitudine (vgl. Fleisher 1972, 118 ff.). a) Der animo oder Geist (Seele ist die anima) ist die Quelle von Bewegung und Handeln. Machiavelli benutzt mehrere Adjektive, um ihn zu charakterisieren: ehrgeizig

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und parteiisch (wie im Fall von Savonarola), erzürnt, kühl, rebellisch, rachsüchtig, böse, falsch, frei, großsüchtig, tugendhaft usw. Dem berüchtigten Agatokles spricht Machiavelli „virtú d’animo“, Geisteskraft (wörtlich: Geistestugend) zu (P VIII, SW II 144). Animo besitzt, wer große politische oder militärische Taten vorzieht. Es ist das Merkmal der erfolgreichen Fürsten, Gesetzgeber und Staatengründer. Der Durchschnittsbürger kann zwar in außerordentlichen Umständen beweisen, dass auch er animo hat; im Alltagsleben einer geordneten Republik ist jedoch animo nicht gefragt. Animo ist daher die Eigenschaft, die zu großen Taten bewegt; sie selbst muss jedoch durch den Ehrgeiz stimuliert werden. b) Ambizione oder Ehrgeiz ist der wichtigste Begriff von Machiavellis Psychologie. Es liegt in der Natur von ambizione, unbegrenzt zu sein; und es liegt in der Natur der Menschen, ehrgeizig zu sein. Wir haben schon gesehen (vgl. oben 2.4), wie der Ehrgeiz in die Welt kam, um die Menschen unglücklich zu machen, und wie er zur Ursache aller Übel und aller bösen menschlichen Eigenschaften wurde. Seinetwegen sind die Menschen „unersättlich, hochmütig, arglistig, wankelmütig und über alles boshaft, ungerecht, ungestüm und grimmig“ (Amb. 55 ff.; SW VII 236). Er lässt die Menschen hoffen, die anderen dominieren zu können („Ein Jeder schätzet höher, hoffet mehr zu steigen, wenn er bald Diesen unterdrückt, bald Jenen, als durch irgend seine eigne Tugend“, Amb. 73 ff.; SW VII 237), und verursacht Neid und Schadenfreude („Jedwedem ist des Andern Wohl stets lästig und mit Müh’ und Sorgen steht er, zu Andrer Unglück wachsam und bereit“, Amb. 76 ff.; SW VII 237). Der Ehrgeiz lässt somit Hass und Kämpfe entstehen, die zum Ruin der Staaten führen. Machiavellis Ton wird bei der Beschreibung der Folgen des Ehrgeizes als Kriegsursache apokalyptisch und erinnert an manche Zeichnungen und Drucke seiner und späterer Epochen (etwa aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder an Goyas Kriegs- und „schwarze“ Bilder), sowie an manche Textstellen von Hobbes: „Beweint wird hier des Vaters, dort des Gatten Mord, und jenen gramgebeugten Mann reist man mit Schlägen aus seinem Bette nackt heraus. Wie oft hat man dem Vater, der den Sohn in seinem Arm umschlungen hält, durch einen Stoß zugleich mit seinem Kind die Brust durchbohrt. Die väterliche Schwelle verlasset Jener, die Götter [!] der Grausamkeit beschuldigend und des Undanks,43 gefolgt von seiner schmerzerfüllten Familie. O unerhörter nie erlebter Gräuel! Man sieht jeden Tag Kinder, in großer Zahl, zur Welt gekommen aus dem aufgeschnitten Leib der Mutter. [...] Von Blut gefärbet sind die Gräben und die Wässer, voll Häupter, und Arme und Füße, und anderer zerrissenen und verstümmelten Glieder. Raubvögel, wilde Thiere und Hunde, sind nun statt ihrer Ahnen Grüfte. O furchtbar gräßlich schauderhafte Gräber. Auf ihrem Antlitz malt sich Schreck und Sorge gleich Menschen, die in dumpfen Staunen neues Unheil erwarten, oder plötzlich ausschauen. Wohin du Blicke wendest, siehst du die Erde getränkt mit Blut und Thränen und die Luft erfüllt mit Ächzen, Schluchzen und Geheul.“ (Amb. 133 ff.; SW VII 237 f.) Der Ehrgeiz ist ein „natürlicher Instinkt“ (Amb. 79; SW VII 237), da er mit dem Wunsch eng verbunden ist und Wünsche zur menschlichen Natur gehören. Daher kann

43 Das weist auf den nächsten psychologischen Hauptbegriff, die Undankbarkeit, hin.

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er nicht ausgerottet, sondern nur durch Gesetze, also von außen, gebremst werden. Die Menschen sind m. a. W. unfähig, ihren Ehrgeiz selbst zu zügeln. Sie können zwar die eigenen Leidenschaften bekämpfen bzw. sie durch Erziehung zum Teil kontrollieren; aber auch das kann negative Folgen haben, wenn nämlich die Gelegenheit (die occasione) ungünstig ist und von ihnen eben Ehrgeiz fordert, denn in diesem Fall wird der zu Grunde gehen, der nicht imstande ist, Wolf unter den Wölfen zu sein („In der Tat müsste ein Mann, der sich in allen Stücken stets tugendhaft zeigen wollte, in der Mitte so Vieler, die es nicht sind, zu Grunde gehen“, P XV; SW II 167). Wenn zudem die Gesetze und/oder der Fürst den Ehrgeiz der Einwohner eines Landes gebremst haben, so kann sich dieser gegen die Nachbarn richten, falls er zu tief in der Natur des Volkes liegt („Wenn die Natur ein unbändiges Volk erzeugt, und es dann durch Zufall mit guten Gesetzen versehen und zur Ordnung gebracht wird, so richtet der Ehrgeiz seine Muth nach Außen, weil ihm Ausbruch in der Heimath weder das Gesetz noch der König gestattet“, Amb. 94 ff.; SW VII 237). Ein idealer Zustand ewigen Friedens ist somit für Machiavelli ausgeschlossen. Da Ehrgeiz eine dynamische Natur besitzt („Die Menschen springen von einer Art Ehrgeiz zur andern über“ D I, 46; SW I 117), ist im Übrigen keine staatliche Ordnung lange stabil. Das beste Beispiel bietet vielleicht Rom selbst: Das Amt des Tribunats wurde geschafft, um den Ehrgeiz des Adels unter Kontrolle zu halten; aber dann stellte sich das Problem, den Ehrgeiz der Tribunen selbst zu kontrollieren. Eben dieses Beispiel zeigt, dass Machiavellis Haltung dem Ehrgeiz gegenüber keinesfalls ausschließlich negativ ist. Der Ehrgeiz kann eine positive Funktion ausüben, da er den Motor zur Vergrößerung eines Staates darstellt, wie das positive Urteil Machiavellis über die Klassenkämpfe im republikanischen Rom zeigt (vgl. unten 2.7). Dass Machiavelli dem Ehrgeiz eine zentrale Rolle in seiner Psychologie zuschreibt, hängt mit seiner generellen Rehabilitierung mancher Laster im Rahmen der von ihm vorgenommenen Trennung von Politik und traditioneller Moral zusammen. Ehrgeiz erweist sich dabei als wichtige Eigenschaft für den Menschen, der große militärische oder politische Taten vollbringen will, aber auch für die Bürger einer Republik, die frei bleiben wollen. Entscheidend für die Erreichung des letztgenannten Zweckes ist eine weitere Eigenschaft, die vor und nach Machiavelli vorwiegend negativ beurteilt wird: die Undankbarkeit. c) Ingratitudine, die Undankbarkeit, Tochter des Geizes und des Argwohns (Ing 25, SW VII 231), lebt zwar in der Brust von Fürsten und Königen (I 27, SW VII 231) aber „am liebsten weilt sie in des Volkes Herzen, wenn es herrscht“ (Ing 62 f., SW VII 232). Als Beispiel erwähnt Machiavelli Scipio den Afrikaner (Ing 73 ff.), der Rom vor den Carthaginensern rettete, vom römischen Volk jedoch der Korruption bezichtigt wurde, so dass er sich vom öffentlichen Leben zurückzog und in Einsamkeit starb. In den Discorsi (I, 29; SW I 80 ff.) schreibt allerdings Machiavelli diese Laster eher den Fürsten als den Republiken (und Rom weniger als Athen) zu: Letztere zeigen sich undankbar eher aus Argwohn als aus Geiz – wie hingegen die meisten Fürsten –, und Argwohn ist allzu häufig gerechtfertigt. Wenn nämlich ein militärischer Befehlshaber Reichtümer und neue Gebiete für seinen Herren erobert hat (möge dieser Herr ein Fürst oder eine Republik sein), wird er höchstwahrscheinlich den daraus resultierenden Ruhm ausnut-

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zen, um seine persönliche Macht auf Kosten seines Herren zu erweitern. Wer sich aus Argwohn undankbar verhält, ist somit irgendwie entschuldigt – möge sein Verdacht auch unbegründet sein. Der Erhalt der Macht bzw. der republikanischen Freiheit rechtfertigt nämlich alles (deswegen entschuldigt Machiavelli in den Discorsi ausgerechnet jene undankbare Haltung der Römer Scipio gegenüber, die er in der Dichtung Dell’ Ingratitudine noch verurteilt hatte): „Eine freie Stadt hat zwei Zwecke, erstens zu erobern, zweitens ihre Freiheit zu erhalten [man merke die Rangordnung! – A. P.], und in beiden muss sie durch zu viel Liebe fehlen. Was die Fehler beim Erobern betrifft, soll an seinem Orte gesagt werden. Fehler bei der Erhaltung ihrer Freiheit kann sie zwar auch dadurch machen, dass sie Bürger verletzt, die sie belohnen sollte, und dass sie denen misstraut, welchen sie trauen sollte. Wenn jedoch diese Art zu verfahren, in einer Republik, wo Sittenverderbnis eingerissen ist, die Ursache großen Unglücks sein mag, und häufig eher Tyrannei daraus entsteht, wie in Rom, als sich Cäsar mit Gewalt nahm, was ihm Undankbarkeit verweigerte, so ist gleichwohl diese Verfahrungsart in einer unverderbten Republik sehr heilbringend, und gibt der Freiheit eine längere Dauer, da durch sie Furcht vor Strafe die Menschen besser und weniger ehrgeizig erhalten werden.“ (A. a. O., SW I, 81 f.) Undankbarkeit spielt also, wie auch Ehrgeiz, eine positive Rolle bei der Erreichung der politischen Hauptziele (erstens Eroberung und zweitens Erhaltung und Stabilisierung der Macht bzw. der republikanischen Freiheit). Es ist besser, zu Unrecht undankbar zu sein und einen unschuldigen Bürger zu bestrafen, als sich den Gefahren auszusetzen, die aus dem Ehrgeiz einzelner Bürger entstehen. Eine der Haupteigenschaften des guten republikanischen Politikers besteht in der Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Undankbarkeit und Ehrgeiz der Bürger herzustellen, so dass beide zugunsten der Republik benutzt werden. Die Trennung von Moral und Politik führt also Machiavelli zur Rehabilitierung traditioneller Laster, die nun zu wichtigen Mitteln politischen Handelns werden. Zu dieser Rehabilitierung zählt auch das mehrmals wiederholte Lob der arglistigen Täuschung: Wir erreichen unsere Ziele „eher durch Betrug als durch Gewalt“ (D II, 13; SW I, 193), d. h. dadurch, dass wir uns wie Füchse eher als wie Löwen verhalten (P XVIII; SW II, 175). Daher ist es wichtig, die Anderen austricksen zu können. Und das geschieht vor allem dann, wenn wir ihnen Anlass geben, etwas von uns zu glauben. Was wirklich zählt in der Politik, ist deswegen die Äußerlichkeit: Man muss den Anschein erwecken, bestimmte Eigenschaften zu besitzen. Der Fürst muss die mit seinem Amt verbundenen Qualitäten nicht unbedingt haben: Er muss sie nur vorweisen. Auch die alten Römer bedienten sich betrügerischer Kunstgriffe (D II, 13 und passim), um ihre Gegner zu besiegen, und zeigten dabei, dass Arglist auch eine Eigenschaft republikanischer Regierungen sein kann. Der Rehabilitierung der traditionellen Laster entspricht zum Teil eine Erniedrigung traditioneller Tugendhaftigkeit. Die Menschen sind niemals aus eigenem Antrieb gut, nur die Not führt sie dazu. Machiavelli meint, „dass die Menschen niemals etwas Gutes thun, wenn sie nicht dazu gezwungen sind; sondern dass Alles in Verwirrung und Unordnung geräth, sobald ihnen freie Wahl bleibt und sie sich gehen lassen können. Man sagt daher, Hunger und Armuth machen die Menschen betriebsam, die Gesetze machen sie gut“ (D I, 3; SW I,18).

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Die Not nimmt eine zweifache Gestalt ein: Als natürliche Not (Hunger, Armut und die natürlichen Katastrophen, die Machiavelli an anderen Stellen erwähnt) zwingt sie die Menschen, „betriebsam“ zu sein; als gesellschaftspolitische, d. h. als künstlich durch die Gesetze geschaffene Not zwingt sie die Menschen, gut zu sein. In der zitierten Stelle führt Machiavelli ein historisches Beispiel an, das dies beweisen soll: Wenn die Tarquiner verbannt wurden, musste man einen Mechanismus erfinden, der die Adligen in ihrem Ehr- und Machtgeiz bremsen könnte, so wie es vorher ihre Furcht vor dem König getan hat. Daher entstand die Notwendigkeit von Gesetzen, die durch Gewaltandrohung in den Menschen dieselbe Furcht einflößen könnten (a. a. O.). Not und rechtlich genötigte Furcht sind die Ursachen menschlicher Güte und Tugendhaftigkeit. Gute Gesetze sind deshalb Gesetze, welche die Menschen dazu zwingen, gut und gehorsam zu sein. Das wahre Motiv der politischen Obligation ist daher die Furcht.44 Damit rückt die Utopie einer rein moralischen Bürgerschaft in weite Ferne. Die Gesetze sind es, die durch ihre Sanktions- und Gewaltandrohung die Bürger zur Moralität zwingen (erst Kant wird hier zwischen der bloßen Gesetzkonformität, der Legalität, und der wahren Moralität unterscheiden (vgl. unten 5.15). Moralität wird allerdings hier nicht als ein Wert an sich, sondern nur als Mittel zu den beiden Zwecken der politischen Stabilität und der Expansion der Republik betrachtet.

2.7. Klassenkampf und republikanischer Expansionismus Die römische Tugend, deren Wiederauflebung sich Machiavelli erhofft (auch unter dem Eindruck seiner Werke auf die Leser: vgl. D Vorrede), entspricht einer Ethik der militärischen Tapferkeit und des politischen Expansionismus. Sie ist die Tugend eines Mannes bzw. eines Volkes, der bzw. das der Eroberung und Errichtung eines mächtigen Reiches geweiht ist. Nach der Meinung von Mark Hulliung ist sogar Imperialismus „a central theme running throughout all [Machiavellis] works“ einschließlich literarischer Werke wie L’asino, Dell’ambizione, Della fortuna usw. (Hulliung 1983, 6). Und das gilt nicht nur für Machiavelli, sondern allgemein für den florentinischen Bürgerhumanismus: „Greatness in the terminology of Bruni was already becoming what it was later to be in Machiavelli’s Istorie Fiorentine: the list of cities once free and now subjects to the yoke of Florence.“ (A. a. O., 13 f.; vgl. Bruni 1996, 622 ff.) In dieser Hinsicht ist der Bezug auf Livius nicht zufällig: Geschichte besteht für den römischen Historiker in der langen Folge der Eroberungen Roms und in dessen Siegen bzw. Niederlagen. Es gibt bei ihm also keinen Platz für andere Aspekte als die rein politischen und militärischen. Dasselbe gilt für Bruni und Machiavelli: Beide interpretieren die Geschichte von Florenz als bloßes Aufeinanderfolgen von Machtkämpfen – im Inneren wie im Äußeren. Das wird umso deutlicher, wenn man Machiavellis Interpretation der Klassenkämpfe in Rom und in Florenz betrachtet. Adel und Volk (im alten Rom wie in Florenz) verfolgen jeweils verschiedene Ziele, die einander ausschließen: Der Adel will nämlich über

44 „La forme générale de la contrainte politique [...] est la crainte.“ (Althusser 1995, 108)

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das Volk herrschen, das Volk will vom Adel nicht beherrscht werden. Aber Machiavelli nimmt für keine der beiden Klassen Partei: In seinen Augen sind hingegen die Klassenkämpfe ein wichtiges Instrument zur Stabilisierung der Institutionen, wenn sie mit einem Kompromiss und nicht mit einem Sieg der einen Partei über die andere enden. Auf keinen Fall nimmt er eine normative Position ein, nach entweder der Adel oder das Volk regieren sollte. Hier tut sich ein wichtiger Unterschied zwischen Machiavellis Theorie und der modernen politischen Philosophie auf, wenn man unter Letzterer eine normative Theorie versteht, die besagt, was gerecht ist, oder wie eine Gesellschaft organisiert werden sollte, oder was Legitimität sei usw. Machiavelli interessiert sich nur für die Stabilität einer politischen Gemeinschaft. Dementsprechend listet er lediglich die Elemente auf, die dazu beitragen – einschließlich der Klassenkämpfe zwischen Adel und Volk. Sogar bei seiner Suche nach antiken Beispielen geht Machiavelli so selektiv vor, dass er all diejenigen beiseite lässt, die mit dieser Auffassung von einer expansionistischen und durch Klassenkämpfe gekennzeichneten Republik unverträglich sind. Das Fehlen solcher Kämpfe charakterisierte z. B. Sparta und Venedig und verursachte ihre Unfähigkeit, sich zu erweitern. Deswegen zieht Machiavelli das Beispiel des weit turbulenteren Roms vor, das zwar weniger friedlich war, jedoch ein Weltreich errichtete. Im Gegensatz zu Rousseau, der eben Sparta und die armen Schweizer Montagnons als seine Modelle nehmen wird (vgl. unten 4.15), sieht Machiavelli ausgerechnet in der „allgemeinen Armut“ von Sparta einen negativen Aspekt: Das Volk wurde damit wenig ehrgeizig und die Stadt erweiterte ihre Macht nicht (und wenn sie es tat, dann verlor sie schließlich ihre Freiheit, da sie nicht dazu bereit war). Es besteht also für Machiavelli eine direkte Beziehung zwischen innerer Unruhe und territorialer Erweiterung der Republik: fehlt die eine, findet die andere auch nicht statt. Die Ursache dieser Beziehung ist der Ehrgeiz, der ein entscheidendes Bestandteil des politischen Lebens ist (vgl. oben 2.6). In einer Republik sind die grandi oder nobili (der Adel) am ehrgeizigsten, während die popolari (das einfache Volk) nur unruhig sind. Die Ruhmsucht der grandi führt sie zur Herrschsucht, die popolari wollen nicht dominiert werden: daher die Klassenkämpfe. Aber wird der Ehrgeiz der grandi nach außen, d. h. auf militärische Eroberung gerichtet, stellt er den Motor der staatlichen Erweiterung dar, und die unruhige Lebendigkeit der popolari bietet dann das Potential für eine starke Armee an (vgl. auch Fleisher 1972, 126 f.). Machiavellis Lesart der Klassenkämpfe weist auf ein wichtiges Merkmal seines Denkens hin. In den Spannungen zwischen Adel und Volk (oder in denjenigen zwischen popolo grasso und popolo minuto) in Florenz übersieht Machiavelli die sozio-ökonomischen Aspekte, die auf eine strukturelle Veränderung der Florentiner Gesellschaft hinweisen, und fokussiert einzig das Moment des Kampfes um die politische Macht – als ob es so gut wie keine Unterschiede zwischen den politischen Akteuren des republikanischen Roms und denjenigen des zeitgenössischen Florenz gebe. Machiavelli zieht also nicht bloß eine Parallele zwischen den Klassenkämpfen der Antike und jenen seiner Zeit, er sieht vielmehr dieselben Mechanismen am Werk, identifiziert dieselben Ursachen, vermutet hinter beiden Konflikten dieselben Menschentypen mit denselben Zielen (Macht und Ehre über alles) und mit denselben Leidenschaften. Die Unterschiede bestehen in seinen Augen in den veränderten Umständen: In Florenz zielten die Individuen

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nur auf das Eigeninteresse ab, da die Institutionen den Egoismus der Bürger förderten, während die römischen Bürger das Gemeinwohl immer bevorzugten, da die römischen Institutionen eine solche Haltung nahe legten (vgl. IF III, 1; SW IV, 114 f.). Gute und schlechte Institutionen machen also den Unterschied, denn die menschlichen Eigenschaften, allen voran der Ehrgeiz, bleiben dieselben. In einer gut geordneten Republik dient der Ehrgeiz dem Gemeinwohl, da er zu erneuten Eroberungen führt; in einer schlecht geordneten Republik dient er jedoch nur den Privatinteressen.45 Machiavelli unterscheidet daher in den Discorsi zwischen einem individuellen Ehrgeiz, der zugunsten des Staates ausgenutzt wird, und einem, der nur dem Einzelnen dient (D III, 28; SW I, 350). Der Erste führt zur militärischen Eroberung, der Zweite zu inneren Kämpfen und zu unzähligen Gefahren für das Gemeinwesen. Dass Machiavelli die Idee einer gut geordneten Republik mit Expansionismus verbindet, beweist auch sein Urteil über Sparta, Venedig oder die deutschen Freistädte. Er erkennt die Errungenschaften dieser Republiken an: Sie waren imstande, für lange Zeit, manchmal für Jahrhunderte im Frieden zu leben und ihre republikanischen Institutionen zu bewahren. Das war aber nur um den Preis möglich, auf größere Eroberungen zu verzichten bzw. sich auf ein Reich besonderer Art zu beschränken, wie im Fall von Venedig und seines maritimen Reiches (zu dessen Ausbau nach Machiavellis Meinung die Stadt keine besonderen militärischen Taten vollziehen musste). Im Esel lobt Machiavelli zwar die friedlichen deutschen Städte (V 61 ff.) und kritisiert die Eroberungssucht als Ursache unzähliger Unruhen und Übel (V 72 ff.). Aber in den Discorsi weist er auf die Kontingenz dieses Friedens hin: Unter anderen politischen Umständen müssten auch die deutschen Städte ihre Politik ändern, und sie wären gar zu einer Eroberungspolitik verdammt (D II 19). Solche Veränderungen können jedoch tödlich für die involvierten Republiken sein, wie im Fall von Sparta: Als diese Stadt eine expansionistische Politik unternahm, war nach einer verhältnismäßig kurzen (vor allem im Vergleich zu den vorausgegangenen friedlichen achthundert Jahren) Zeit des Sieges und der Eroberung ihre Unabhängigkeit zu Ende. Und Venedig laufe durch seine Politik der Expansion auf dem Festland dieselbe Gefahr, wie manche Ereignisse (z. B. die Schlacht von Agnadello) schon gezeigt haben. Es besteht also kein Zweifel daran, dass Machiavellis Sympathie dem Beispiel von Rom gilt, das aus einem Schäferdorf zur Hauptstadt eines Weltreichs zu werden verstand. Allerdings endete auch die römische Republik, und zwar nicht aus exogenen Ursachen wie Sparta, sondern weil die Bürger selbst die Macht einem Tyrannen, Julius Cäsar, übergaben. Wieso sollte man dem Beispiel Roms und nicht demjenigen Spartas folgen? Wieso sollte man die Errichtung eines mächtigen Reiches der langjährigen Erhaltung von Frieden und Freiheit vorziehen? Darauf kann man zweierlei antworten. Einerseits sind für Machiavelli Republiken notwendigerweise expansionistisch. Die Weltgeschichte ist daher die Geschichte des nie endenden Machtkampfes unter den Staaten (damit würde Machiavelli Hobbes vorweg-

45 Hulliung bemerkt zu Recht: „The very life of the republic hangs in the balance when the difference between ambition properly or improperly regulated is in question.“ (Hulliung 1983, 41)

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nehmen). Zugunsten dieser Interpretation bieten sich Passagen wie aus der schon erwähnten Parole ... an, in denen der internationale Kriegszustand als eine naturgegebene (d. h. eine der Natur der Staaten entsprechende) Angelegenheit vorgestellt wird. Während also Hobbes’ Position mindestens theoretisch einen Ausweg zulässt, nämlich die Entstehung eines globalen Leviathans (eine von Hobbes allerdings nie erwähnte Möglichkeit), gibt es für Machiavelli kein mögliches Ende des Krieges der Staaten untereinander. Die alternative Lesart interpretiert Machiavellis Gedanke des notwendigen Expansionismus der Republik als instrumentell – und zwar in Bezug auf die Frage der nationalen Einheit Italiens. Machiavelli würde die Möglichkeit eines kleinen, mit sich selbst zufriedenen und ruhigen Staates verwerfen, weil der Gegenstand seiner Analyse die Bedingungen zeigt, unter denen ein neuer italienischer Nationalstaat entstehen könnte – und das setzte unter den vorgegebenen Umständen seiner Zeit voraus, dass sich ein italienischer Kleinstaat auf Kosten der anderen erweiterte. Das sei nach jener Lesart auch die Hauptbotschaft des Principe. In diesem Werk lässt nämlich Machiavelli die möglichen Kandidaten für einen solchen expansionistischen, Italien endlich durch Eroberung der anderen Kleinstaaten vereinigenden Staat Revue passieren: die Typologie der Fürstentümer, die er im ersten Kapitel anbietet, dient ihm dabei als Richtlinie. Unter den unterschiedlichen Arten von Fürstentümern, die er auflistet, sind nämlich die einzigen, die Machiavelli interessieren, entweder die ganz neuen oder diejenigen, die aus der Vereinigung eines Staates mit einem anderen entstehen. Alle weiteren sind aus seiner Analyse (also aus seinem politischen Programm) ausgeschlossen. Kurz: Ausgeschlossen werden praktisch alle italienischen Staaten jener Zeit,46 denn sie sind entweder Tyranneien (die meisten kleinen Staaten), erbliche Fürstentümer (die größeren Staaten unter den Dynastien der Savoia, Medici, Aragona usw.), geistliche Fürstentümer (der Kirchenstaat) oder Republiken der „falschen Art“, d. h. stabil, aber unfähig zu einer Vergrößerung (Venedig) – um Machiavellis Typologie zu übernehmen. Was Machiavelli vorschwebt, wird klar, wenn man das prominenteste Beispiel eines „principe nuovo“, eines neuartigen Fürsten, betrachtet, das er uns anbietet: Cesare Borgia. Der Borgia kam so gut wie aus dem Nichts: Er ererbte nicht seine italienischen Besitztümer, sondern er eroberte sie alle (auch mit Hilfe der französischen Armee: Das wird von Machiavelli nur unter der Bedingung akzeptiert, dass der Fürst, der sich bei der Eroberung fremder Hilfe bedient, imstande ist, danach seinen Besitz allein zu verteidigen; vgl. P VII; SW II, 136 ff.). Borgia schuf ein neues Fürstentum, brachte es zu innerer Stabilität (mit einer Mischung aus Grausamkeit und Wohlwollen, die ihm die Bewunderung Machiavellis sicherte) und vergrößerte es. Er hätte womöglich ganz Italien unter sich bringen können, wäre nicht Fortuna dazwischen gekommen und hätte er nicht einen Fehler gemacht, als er nämlich zuließ, dass sein Feind, der Kardinal Della Rovere, zum Papst wurde und seine Pläne vereitelte (es ist allerdings bezeichnend, dass Borgias Fall eine zweifache Ursache hat: Fortuna einerseits und die Unfähigkeit Borgias, Letztere zu bekämpfen, andererseits: vgl. oben 2.4). Machiavellis Haltung ihm

46 Zu diesem Schluss kam schon Althusser, dem ich hier folge (vgl. Althusser 1995, 117 ff.).

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gegenüber ist eindeutig: Es gibt für den neuen Fürsten kein besseres Muster als den Herzog von Valentinois (P VII; SW II, 137). Das Beispiel von Cesare Borgia zeigt, wie auch Althusser erkennt, dass sich der neue Fürst in einem beliebigen Land (im Fall Borgias Italien) befinden kann und dort seine erobernde Tätigkeit von einem beliebigen Ort her (im Fall Borgias die Romagna) anfangen kann (Althusser 1995, 132 f.). Deswegen nimmt die von Machiavelli im Principe unternommene Analyse den Charakter einer allgemeinen Theorie der Entstehung neuer Fürstentümer an, obwohl sie in der Tat auf die damalige italienische Lage zugeschnitten ist. Machiavelli beschreibt diese Lage, erklärt, wieso die schon vorhandenen italienischen Staaten die gewünschte nationale Vereinigung nicht vornehmen können, und stellt die Strategie vor, die der neue Fürst befolgen sollte, um dieses Ziel zu erreichen: Eroberung eines Territoriums und Gründung eines wohlgeordneten Staates, Stabilisierung desselben und schließlich Vergrößerung durch Eroberung der anderen Staaten. Ob nun diese Rolle von Giuliano de’ Medici (dem das Werk ursprünglich gewidmet wurde, und der sich bald in einer ähnlichen Lage wie Borgia hätte befinden können, wären die Pläne von Leo X. aufgegangen) oder von einem anderen Mann hätte übernommen werden können, war Machiavelli selbst wahrscheinlich nicht klar (anders konnte es auch nicht sein). Daher das Fehlen von genauen Namens- und Ortsangaben im Principe und eine gewisse Allgemeinheit – noch ein Beweis dafür, dass politische Praxis und politische Theorie bei Machiavelli immer zusammengehen (in seinen Briefen war der Sekretär übrigens weniger zurückhaltend und ließ sich gern von seinen epistolarischen Freunden zu konkreten Prognosen verleiten). Dass Machiavelli ein praktisches Ziel vor Augen hatte, zeigt jedoch, neben dem Aufruf im letzten Kapitel, die Tatsache, dass er fast alle seine Beispiele aus der neueren Geschichte Italiens und aus der Geschichte jener Staaten – wie Frankreich – nimmt, die vor kurzem den Prozess der nationalen Einigung vollzogen hatten. Die Beispiele aus der Antike betreffen hingegen entweder persönliche Charakterzüge des Fürsten oder dienen dazu, die Lektion der modernen Beispiele zu verstärken. Die zwei Interpretationen von Machiavellis Bevorzugung einer expansionistischen Politik schließen sich gegenseitig nicht aus. Die zweite würde einfach eine konkrete Anwendung der in der ersten Lesart formulierten allgemeinen Theorie auf Italien darstellen, nach der Republiken bzw. wohlgeordnete Staaten notwendigerweise expansionistisch sind. Das bedeutet an sich nicht, dass sich die Staaten ständig im Kriegszustand befinden: Unter bestimmten Umständen ist eine relativ lange Zeit des Friedens möglich, wie die Beispiele der deutschen Städte zeigen. Aber irgendwann wird es zum Krieg kommen: entweder weil es die äußeren Umstände (Bedrohung durch einen Nachbarn) fordern, oder weil die vom Ehrgeiz verursachten inneren Spannungen unter den Bürgern ein Ventil nach außen brauchen (wie im alten Rom; bei dieser letzten Diagnose nimmt Machiavelli übrigens erneut Erkenntnisse der modernen Soziologie vorweg). Festzustellen ist auf jeden Fall, dass für Machiavelli ein wohlgeordneter Staat – Republik oder Fürstentum – notwendigerweise eine expansionistische Politik durchführen muss, wenn er an einem bestimmten Punkt seiner Geschichte angelangt ist. Staaten müssen also, wie die Individuen, in manchen Momenten ihrer Existenz Entscheidungen treffen, die über ihr Weiterbestehen bestimmen. Wann diese kritischen Momente kommen und unter welchen Umständen die Entscheidung zugunsten einer expansionistischen oder einer

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friedlichen Politik richtig ist, kann nicht von vornherein festgestellt werden: Die Fähigkeit, das zu durchschauen, gehört zu den Hauptmerkmalen des erfolgreichen Politikers, nicht zu denjenigen des einfachen Theoretikers. Machiavelli scheint auf jeden Fall zu glauben, dass alle Staaten dazu verdammt sind, immer dieselben Fehler zu wiederholen, so dass ihre Geschichte einen Kreis bildet.

2.8. Machiavellis Geschichtsauffassung (I): Die zufällige Entstehung von Moral und Gesellschaft und der Zyklus der Verfassungsformen Obwohl Machiavelli sein Denken auf einer bestimmten Geschichtsauffassung begründet, findet man bei ihm dennoch keine Geschichtsphilosophie, wie man sie bei Rousseau oder Kant beobachten kann.47 Während diese Denker Geschichte als Einbahnstraße, als einen Prozess verstehen, der nur eine Richtung kennt (bei Rousseau die moralische Dekadenz und die Entfernung von der natürlichen Unschuld, gefolgt womöglich von einer erneuten Annäherung an den ursprünglichen Zustand; bei Kant den rechtlichmoralischen Fortschritt der Menschheit), sieht Machiavelli darin nur die dauernde Wiederkehr derselben menschlichen Fehler und Irrtümer: Alles wiederholt sich, denn das historische Gedächtnis der Individuen ist so schwach, dass es kaum eine Generation überlebt, und die Söhne werden dieselben Fehler der Väter oder (bestenfalls) der Großväter nochmals begehen. Machiavellis Denken weist dabei eine selektive Wahrnehmung der Geschichte auf, da diese für ihn nur Geschichte der Staaten und ihrer Verfassungsformen ist. Sie bildet nur den Rahmen, in dem jene Ereignisse stattgefunden haben, aus deren Betrachtung er Material für seine Diagnosen und Prognosen entnimmt, und in dem jene Ereignisse stattfinden werden, deren Verlauf er durch seine Ratschläge zu beeinflussen erhofft. Er besitzt in dieser Hinsicht keine moderne Geschichtsauffassung, bzw. er gehört zu jenen Denkern der Neuzeit (wie z. B. Vico), deren diesbezügliche Position der Antike näher ist (Machiavelli übernimmt sogar Polybios’ Modell) und einen wichtigen Kontrapunkt zum Fortschrittsdenken der Moderne darstellt: Wenn sich alles wiederholt und keine wirkliche Verbesserung möglich ist, dann ist nicht nur Geschichte, sondern auch jeder Versuch von tief eingreifender Reform oder gar von Revolution sinnlos. Nicht zufällig stellt sich Machiavelli nur das relativ minimale Ziel, die unausweichliche Dekadenz der Republik möglichst zu verlangsamen, während Kant das ambitionierte Ziel einer moralischen Verbesserung der menschlichen Gattung durch politische Reformen anstrebt (vgl. unten 5.19). Machiavellis anti-lineare Geschichtsauffassung zeigt sich schon in seiner Erklärung der Entstehung der Gesellschaft, die er weitgehend von Polybios übernimmt: Die Menschen kamen zufällig zusammen, und unter dem Druck der Not. In Discorsi I, 2 (SW I, 13) erzählt Machiavelli, wie das erste politische Gemeinwesen überhaupt entstand, und 47 Auch wenn Machiavellis Erklärung der Entstehung der Gesellschaft an ähnliche Erklärungen bei Rousseau und Kant erinnern kann.

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seine Erzählung nimmt zum Teil die späteren genealogischen Darstellungen von Hobbes (im Leviathan), Rousseau (im zweiten Discours) und Kant (in Mutmaßlicher Anfang ...) unter manchem Aspekt vorweg (bei Machiavellis Darstellung der Entstehung der Moral denkt man sogar an Nietzsches Genealogie der Moral), mit dem wichtigen Unterschied, dass er – im Gegenteil zu den meisten Vertretern der Vertragstheorie – die erste Zusammenkunft der Menschen in eine politische Gemeinschaft als ein geschichtliches Ereignis betrachtet. Die Menschen im Naturzustand (Machiavelli nennt die ursprüngliche Lage der Menschen zwar nicht so, seine Charakterisierung derselben entspricht jedoch weitgehend diesem typisch vertragstheoretischen Konstrukt) leben isoliert und wie wilde Tiere und bedürfen einander nicht (wie in Rousseaus zweitem Discours: vgl. unten 4.5). Erst wenn die Vermehrung der menschlichen Gattung so weit gekommen ist, dass Konflikte unvermeidlich werden, entsteht für sie die Notwendigkeit, sich mit anderen Menschen zum Zweck der Verteidigung zusammenzuschließen (vgl. das Kapitel 15 des Leviathan, in dem von vorstaatlichen Verteidigungsbündnissen die Rede ist; vgl. unten 3.7). Damit die Verteidigungsbündnisse effektiv sind, wählen die Menschen einen Häuptling unter ihnen: Nichts liegt näher, als den Stärksten und Mutigsten auszuwählen. Erst in diesem Moment entstehen moralische Begriffe wie: das Edle, das Gute, das Verderbliche und das Schlechte (vgl. die Abhandlung in Nietzsches Genealogie der Moral). Der Ursprung dieser Begriffe liegt anscheinend in einem moralischen Gefühl: Der Anblick von Undankbarkeit (für Machiavelli bekanntlich zusammen mit dem Ehrgeiz eine der Hauptleidenschaften) lässt Hass für den undankbaren und Mitleid für den verletzten Wohltäter entstehen; daher werden der Undankbare getadelt und der Dankbare geehrt. Moralität offenbart sich also zunächst auf negative Weise: Sie kommt erst ans Licht durch ihre Verletzung, d. h. erst durch Handlungen, die als abstoßend empfunden werden. Das moralische Gefühl ist eine emotionelle Reaktion auf eine Tat, die wir instinktiv missbilligen. Erst dann kommt es zu einer positiven Beurteilung von Handlungen, die wir „moralisch gut“ nennen würden: Dankbarkeit wird als das Gegenteil von Undankbarkeit sichtbar. Moralisch gute oder schlechte Handlungen werden auf jeden Fall auf einer personenbezogenen Ebene definiert: Sie stellen Verletzungen von Personen, nicht von Prinzipien dar. Dementsprechend wird die resultierende Sanktion schlechter (nicht: böser) Handlungen von Machiavelli durch jedermanns Furcht erklärt, selbst zum Opfer ähnlicher Beleidigungen zu werden. Daher stimmt jeder der Schaffung von Normen zu, die das schlechte Verhalten bestrafen. Gesetze werden aus einem zweckrationalen Kalkül eingeführt, der auf Furcht basiert: Man will durch sie ein mögliches Übel in Form einer persönlichen Beleidigung abwenden. Erst als Gesetze geschaffen worden sind, entsteht der Begriff der Gerechtigkeit, die sich lediglich als Respekt vor den positiven Gesetzen definieren lässt (vgl. Lev., Kap. 15). Die „Entdeckung“ der Moral, die Einführung der Gesetze und die Entstehung des Gerechtigkeitsbegriffes führen zu einem wichtigen Wechsel im Gemeinwesen: Zum Haupt wird von nun an nicht mehr der Stärkste und Mutigste, sondern der „Gerechteste und Verständigste“ gewählt (D I 2; SW I, 13; eigentlich steht im italienischen Original „il più prudente“, also der Klügste bzw. Vorsichtigste). Mit Gerechtigkeit und Klugheit ausgestattet, stellt der „neue“ Herrscher den Prototyp des guten Fürsten dar: Die Mo-

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narchie ist entstanden. Nur jetzt setzt sich der eigentliche Zyklus in Bewegung, denn das, was bisher geschehen ist, gehört sozusagen zur Vorgeschichte und wird sich nicht wiederholen – soweit die Menschen in gesetzlich geordneten Gemeinwesen leben. Der bisher beschriebene Weg ist wie eine Leiter, die nur einmal bestiegen wird: Ist man am Ziel angekommen, wird sie nicht länger gebraucht. „Da man aber später den Fürsten durch Erbfolge, nicht durch Wahl bestimmte, so fingen sogleich die Erben an von ihren Verfahren abzuarten, und dachten, tugendhafte Handlungen hintansetzend, die Fürsten hätten nichts zu tun, als die anderen in Schwelgerei, Zügellosigkeit und in jeder Art von Üppigkeit zu übertreffen. Der Fürst fing nun an, gehasst zu werden und sich wegen dieses Hasses zu fürchten; von der Furcht ging er bald zu Angriffen über, und es entstand daraus Tyrannei.“ (D I, 2; SW I, 13 f.) Der Moment, an dem sich der Zyklus in Gang setzt, ist der Moment, in dem die Erbfolge die Fürstenwahl ersetzt und das Volk von der Souveränität vollkommen ausgeschlossen wird: Hatte der Fürst vorher die Souveränität dank eines direkten Volksauftrages ausgeübt, sind nun die erblichen Fürsten von jeglichem Mandat durch das Volk befreit, denn die Souveränität wird ihnen durch die Geburt und nicht durch populäre Investitur zugesprochen. Dann fangen sie sogleich an zu entarten, und ernten folglich den Hass des Volkes; der Hass lässt Furcht entstehen; aus Furcht werden die Fürsten zu Tyrannen. Die Tyrannei ist daher die logische Folge der erblichen Monarchie. (Es stellt sich nun die Frage, ob es mit derselben Notwendigkeit zur Tyrannei kommen würde, wenn man die Wahlmonarchie behalten könnte; aus dem Kontext und aus späteren, noch zu erwähnenden Betrachtungen Machiavellis zugunsten der gemischten Verfassung lässt sich diese Frage negativ beantworten; an der zitierten Stelle wird sie allerdings von Machiavelli nicht aufgeworfen.) Die Reaktion auf die Tyrannei ist eine Revolte des Volkes unter der Führung der Mächtigen, d. h. derjenigen, „die durch Großmut, Seelenadel, Reichtum und Geburt die anderen voranstanden, und den schimpflichen Lebenswandel des Fürsten nicht ertragen konnten“ (D I, 2; SW I, 14). Machiavelli schließt sich der üblichen Auffassung vom Adel an, wonach dieser sich zwar durch geistige Eigenschaften (Großmut, Seelenadel), aber auch durch materielle Aspekte (Reichtum, Geburt) definieren lässt. Besonders die Tatsache, dass die Mächtigen die anderen durch bloße Geburt übertreffen, lässt erkennen, wie wenig sich Machiavelli von den traditionellen Vorstellungen des Adels distanziert. Es ist nicht klar, warum die Mächtigen gegen den Fürsten revoltieren. Machiavelli sagt, dass sie seinen Lebenswandel nicht mehr ertragen können: Ist denn die Ursache ihrer Revolte nur moralische Entrüstung? Nach Livius’ Geschichte von Rom, die Machiavelli als Faden für seine Discorsi benützt, findet die Vertreibung der Könige dann statt, als die Söhne des Königs Mitglieder des Adels angreifen. Den konkreten Anlass bietet bekanntlich die Vergewaltigung Lucretias, Frau des Edelmanns Brutus, durch Tarquinius’ Sohn. Als Ursache der Revolte scheint also eher Selbstverteidigung der Adligen als moralische Entrüstung in Frage zu kommen. Das Ergebnis ist auf jeden Fall die Abschaffung der zur Tyrannei verkommenen Monarchie und die Errichtung einer Regierung des Adels, d. h. einer Aristokratie. Die neue Regierung ordnet neue Gesetze an und verhält sich am Anfang gesetzeskonform, „jeden eigenen Vorteil dem allgemeinen Wohl hintanstellend“ (D I, 2; SW I, 14). Die Lage wird noch einmal problematisch,

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als die erste Generation, die noch die Tyrannei erlebte und gegen sie revoltiert hatte, durch die zweite abgelöst wird, denn die „Söhne“ der früheren Aufständischen geben sich „der Habsucht, dem Ehrgeiz und den Gelüsten nach Weibern“ hin und bringen es dahin, „dass aus einer Aristokratie eine Oligarchie wurde, [in der] man nicht mehr auf das allgemeine Beste Rücksicht nahm“ (D I, 2; SW I, 14). Die Aristokratie ist an sich so wenig schlecht wie die Monarchie. Was aus ihr, aus der Regierung der Besten, eine Oligarchie, eine bloße Regierung der Wenigen, werden lässt, ist wieder einmal das Zeitelement. Die Entartung der Regierungsformen hängt vom Generationswechsel ab. Hinzu kommt Machiavellis pessimistische Anthropologie (vgl. oben 2.6), wonach sich die Menschen von ihren Leidenschaften fehlleiten lassen, wenn diese nicht irgendwie gezügelt werden. Die Zügelung kann auf verschiedene Weise stattfinden: Hier wird zunächst eine Möglichkeit angesprochen, nämlich das Leben unter einem Tyrannen. In einer Tyrannei sind die Bürger nicht frei, und die Einzigen, die ihrer Zügellosigkeit freien Lauf lassen können, sind der Tyrann selbst und seine Gefolgsleute. Was aus einer Regierungsform eine entartete Form macht, ist also die Zügellosigkeit der Herrscher; diese hat wiederum ihre Ursache darin, dass die Herrscher selbst nie unter einer Tyrannei (mit all ihren Einschränkungen der individuellen Freiheit) gelebt haben, und dass ihnen nicht nur das negative Beispiel eines Tyrannen, sondern auch die mahnende Erfahrung der Revolte gegen die tyrannische Willkür fehlen. Mit den Söhnen der ersten Aristokraten geschieht es wie mit den Söhnen des Brutus’, d. h. des Edelmanns, der die Revolte gegen Tarquinius geführt und die Republik mitgegründet hatte: Sie werden zu einer Gefahr für den eigenen Staat. Sowohl die einen als auch die anderen erleiden jedoch dasselbe Schicksal: So wie die Söhne des Brutus’ wegen ihres Verrats hingerichtet wurden, werden die Söhne der ersten Aristokraten für ihre Ausschweifungen mit Machtverlust bestraft: Dem Verkommen der Aristokratie zur Oligarchie folgt notwendigerweise eine weitere Revolte, diesmal durch die Mehrheit der Bevölkerung. Damit die Erhebung erfolgreich verläuft, wird jedoch ein Haupt ernannt, denn „die Menge ohne Haupt ist unnütz“, wie der Titel eines späteren Kapitels besagt (D I 44, SW I, 114). Das bedeutet allerdings nicht, dass der Anführer, der die Menge zum Erfolg geführt hat, zum Monarchen ernannt wird: Die Erinnerung an die Fürsten und an die von ihnen erlittenen Unbilden sind dafür noch zu frisch (die Menge scheint ein besseres Gedächtnis als die Söhne der ersten Aristokraten zu haben). Man wendet sich der Demokratie zu. Aber auch diesmal setzt der vertraute Prozess des Verkommens ein. Kaum ist eine neue Generation als diejenige der Verfassungsgründer da, verbreitet sich erneut Zügellosigkeit unter den Regierenden (in diesem Fall unter den Bürgern). Sie werden weder durch die Macht eines Einzelnen (wie in der Tyrannei) noch durch die Macht der Gesetze gebremst (Machiavelli sagt, dass in diesem Zustand sozialer Anarchie weder Bürger noch Magistrat gefürchtet werden; D I, 2; SW I, 15). Unser Denker zeigt also eine weitere Möglichkeit, die Gelüste der Menschen zu zügeln: die Gesetze. Das ist auch die Lösung, die von Machiavelli bevorzugt wird (vgl. unten 2.10). Der aus der allgemeinen Zügellosigkeit entstandenen Anarchie kann nur dadurch ein Ende bereitet werden, dass ein einzelner Mann (über die Gründe, warum es ein einzelner Mann sein muss, vgl. unten 2.9) die Macht an sich reißt, so dass der Zyklus wieder

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von vorne anfängt: „Dies ist der Kreislauf, in welchem alle Staaten sich drehend regiert wurden und regiert werden; allein selten kehren sie zu denselben Verfassungsformen zurück, weil fast kein Staat so große Lebenskraft haben kann, um mehrere mal diese Wechsel zu durchlaufen und sich erhalten zu können. [...] Alle genannten Formen sind daher Unheil bringend, und zwar wegen der Kürze des Lebens der drei guten und wegen der Abscheulichkeit der drei schlechten. Deshalb vermieden die weisen Gesetzgeber, diese Mängel erkennend, jede der drei guten Regierungsformen an und für sich und erwählten eine aus allen dreien zusammengesetzte. Diese hielten sie dann für die festeste und dauerhafteste, da Monarchie, Aristokratie und Demokratie, in einem und demselben Staate vereinigt, sich gegenseitig bewachen.“ (D I, 2; SW I, 15) Der Kreislauf ist also anscheinend unvermeidbar. Wenn ihn ein Staat nicht mehrmals durchläuft, dann nur darum, weil er kein unendliches Leben hat und daher in der Zwischenzeit aufgehört haben wird zu existieren. Der Schluss, den Machiavelli aus dieser zyklischen Verfassungstheorie zieht, ist prima facie überraschend, besitzt jedoch bei näherer Betrachtung seine Rechtfertigung: Alle genannten Formen sind Unheil bringend: die schlechten per Definition, aber auch die guten, und zwar weil sie zu kurz (nämlich die Zeitspanne einer Generation) währen. Man befindet sich scheinbar in einer Sackgasse: Wenn alle möglichen Regierungsformen Unheil bringen, dann gibt es für den Staat kein Heil. Hier öffnet sich jedoch ein Ausweg: die Mischform. Der tragende Gedanke zur Lösung des Dilemmas der Regierungsformen liegt in der Idee einer gegenseitigen Kontrolle seitens der verschiedenen Elemente, die den Macht habenden Körper eines Gemeinwesens ausmachen – eine uns durch die Theorie der Gewaltenteilung vertraute Idee. Nach Machiavelli (der hier nochmals Polybios folgt) müssen in einer Mischform monarchische, aristokratische und demokratische Elemente vorhanden sein, damit die Souveränität so verteilt wird, dass sie niemand für sich allein beanspruchen kann (D I, 2; SW I, 15 f.; für eine konkrete Anwendung dieses Gedankens vgl. Machiavellis Denkschrift über die Reform der Regierung von Florenz von 1520/21, in: SW II, 93-108). Rom bietet nochmals ein Beispiel mit seinen Institutionen: Stellen die zwei Konsule das monarchische Moment dar, so bilden Senat und Volkstribune jeweils das aristokratische und das demokratische Element. Durch das komplexe Spiel von Gegenkräften, die sich in diesem Kontext entwickeln, sollte das Gleichgewicht gesichert werden, und damit sollte auch – so prima facie, die logische Folge – der Zyklus gestoppt werden: Der Staat sollte nun sein ruheloses Wandeln von einer Verfassungsform zur nächsten aufgeben und sozusagen „unsterblich“ werden. Hier aber setzt ein zweiter Zyklus ein, den Machiavelli zwar nicht so ausdrücklich wie den ersten vorstellt, der jedoch die gesamten Discorsi durchzieht.

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2.9 Machiavellis Geschichtsauffassung (II): Die zwei Zyklen und der „außerordentliche Mann“ Der erste Zyklus, ergänzt durch das geschichtsphilosophische Moment der vorgeschichtlichen Entstehung der Gesellschaft, sieht folgendermaßen aus:

Die Erben der ersten Aristokraten werden zu Tyrannen (Oligarchie)

Eine Revolte einiger rechtschaffenen Bürger führt zur Aristokratie

Das Volk rebelliert und führt die Demokratie ein

Die Erben des ersten Königs werden zu Tyrannen (Tyrannei)

Die Demokratie verkommt zur Anarchie

Der Weiseste und Gerechte wird König (Monarchie)

Lose, wie wilde Tiere lebende Menschen

Die Menschen kommen zusammen

Die Macht wird dem Stärksten übergeben

Gesetze werden eingeführt

Der zweite Zyklus sieht hingegen folgendermaßen aus: Wohlgeordnete Republik

Neuordnung durch einen Fürsten bzw. Gesetzgeber

Sittenverfall und politische Dekadenz

Anarchie

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Es handelt sich auch in diesem Fall um einen historischen Prozess. Die Stationen sind aber nicht dieselben wie im ersten Zyklus – mit Ausnahme der Anarchie, die jedoch nicht die Entartung der Demokratie bildet, sondern aus der politischen und moralischen Dekadenz einer wohlgeordneten Republik resultiert, wobei das Wort Republik zunächst in der lateinischen Bedeutung von „Gemeinwesen“ (res publica) verstanden werden soll. Eine wohlgeordnete Republik ist ein Gemeinwesen, das sowohl eine gute, d. h. zunächst: eine gemischte Verfassung, als auch gute Gesetze besitzt; das frei von fremder Herrschaft ist; und dessen Bürger schließlich eine integre Moralität aufweisen (vgl. unten 2.10-2.12). Ist einmal eine Republik der Anarchie verfallen, so kann sie nur durch die Tätigkeit eines einzelnen Mannes wiederhergestellt werden. Dieser Mann kann zwei Situationen vorfinden: 1) Entweder steht vor ihm eine Menge von losen, „den wilden Tieren ähnlich“ lebenden Menschen, die zu einem Gemeinwesen „zusammengeschmiedet“ werden müssen – dann wird er zum Gründer einer neuen Republik; 2) oder er hat mit den Bürgern eines in Anarchie verfallenen Staates zu tun – dann wird er zum Neuordner einer Republik. Machiavelli interessiert offensichtlich eher die letzte Möglichkeit, auch wenn er auch die erste erwähnt und vor allem durch die Analyse der Figur des Romulus behandelt. Der außerordentliche Mann (der in mancher Hinsicht an Rousseaus Gesetzgeber erinnert) ist auch der im Principe beschriebene Fürst, und die Anarchie ist genau die Ausgangslage, mit der er sich dort konfrontiert sieht. In diesem Sinne lässt sich eine gewisse Einheitlichkeit zwischen beiden Hauptwerken Machiavellis feststellen, auch wenn man die wichtigen Unterschiede nicht aus dem Auge verlieren darf (vgl. dazu u. a. Skinner 1978, Bd. 1, 156).48 In: Discorsi I, 9 gibt Machiavelli die Gründe an, warum die Begründung bzw. die Neuordnung der Republik nur durch einen einzigen Mann stattfinden kann. Es ist erstens „eine allgemeine Regel, dass niemals oder selten eine Republik oder ein Reich ursprünglich gut konstituiert wird, oder neue ganz von den bestehenden Einrichtungen abweichende Formen erhält, wenn es nicht von einem Einzelnen geschieht, der allein die Macht hat, und aus dessen Geist alle Gesetze und Einrichtungen hervorgehen.“ (D I, 9; SW I, 36) Mehrere Menschen sind nämlich – und das ist ein zweiter Grund – nicht dazu geeignet, ein Staatswesen (neu) zu ordnen, „weil sie bei ihrer Meinungsverschiedenheit das Beste desselben nicht erkennen“ (a. a. O.). Nur ein einzelner Gesetzgeber garantiert die klare Sicht und den Verstand, die zur Erkennung dessen notwendig sind, was für den Staat am besten ist. Da die Macht ganz in seinen Händen liegt, kann er außerdem seine Beschlüsse umso entschiedener durchsetzen, als er bei seiner Tätigkeit weder Meinungsverschiedenheit noch Konflikte zu fürchten hat.49 Dabei darf er sich so rücksichtslos verhalten, wie es das Wohl des Staates nur erforderlich macht, und niemand wird ihn deswegen tadeln, wenn er a) die Absicht hatte, nicht sich selbst oder seiner

48 Die Frage der Beziehung zwischen beiden Werken (und der jeweiligen Entstehungsdaten) ist eine der meist diskutierten der gesamten Machiavelli-Literatur: vgl. dazu Baron 1988. 49 Hobbes wird seinem Souverän eine ähnliche Aufgabe zuteilen (vgl. unten 3.8).

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Nachkommenschaft, sondern dem Allgemeinwohl und dem Vaterland zu nützen, und wenn er b) mit seiner Tat Erfolg hatte. Unter diesen zwei Bedingungen ist einem Gesetzgeber jedes Verhalten zu entschuldigen. Die erste Bedingung leuchtet fast von selbst ein, auch wenn man ein gewisses Misstrauen gegenüber jeder Form von Staatsräson hegen kann, da sich unter diesem Begriff eine zu große Gefahr für die individuelle Freiheit versteckt. Die zweite weist auf den berühmtesten und berüchtigtsten Zug von Machiavellis Denken hin: auf die strikte Trennung von Moral und Politik. Das politische Handeln darf nicht nach moralischen Maßstäben beurteilt werden, sondern besitzt eine eigene Gesetzmäßigkeit und daher eigene Urteilskriterien. Das bedeutet – wie betont – nicht, dass in Machiavellis Denken jegliche Normativität fehlt. Sie fällt jedoch mit der Moralität, so wie sie das Christentum oder die philosophische Tradition bis dahin definierten, nicht zusammen. Das politische Handeln lässt sich für Machiavelli in Bezug auf sein Hauptziel beurteilen, das der Florentiner allerdings im Principe mit der Machterreichung und -erhaltung durch den Fürsten, in den Discorsi mit der Freiheitserhaltung seitens der Republik identifiziert – und darin besteht m. E. der Hauptunterschied zwischen beiden Werken. Während sich der „principe“ darum bemühen soll, „den Zustand zu erhalten“ (mantenere lo stato) – was bei ihm bedeutet: seine Macht zu behaupten (vgl. P XVIII, SW II, 176: „Ein Fürst trage daher Sorge zu siegen und [seine Herrschaft] zu behaupten“), ist das Ziel des Gesetzgebers einer Republik (möge er ein Begründer oder bloß ein Reformator sein), den Staat mit Gesetzen und Institutionen so auszustatten, dass dieser seine Freiheit nicht verliert (was allerdings wiederum staatliche Stabilität erforderlich macht). Jede politische Handlung muss daher in Bezug auf ihre Zweckmäßigkeit beurteilt werden: dient sie zur Erhaltung der Macht (unter dem Gesichtspunkt des Principe) oder zur Erhaltung der Freiheit des Staates (unter dem republikanischen Gesichtspunkt der Discorsi), ist sie gut. Die Normativität Machiavellis bedient sich einer zweckrationalen Perspektive, aus der dann das politische Leben Handlungs- und Beurteilungskriterien beziehen kann. Das Hauptziel wird dabei postuliert und nicht weiter gerechtfertigt, am wenigsten mit dem Hinweis auf moralische Konsequenzen: So ist die Freiheit des Staates und der Bürger ein Zweck an sich und ist nicht deswegen als Ziel anzustreben, weil z. B. damit die Bürger ihr menschliches Wesen völlig entfalten (wie bei Aristoteles) oder ihre moralische Freiheit besser entwickeln können (wie bei Rousseau und Kant). Das ist für unsere Analyse sehr wichtig. Wenn nämlich, wie im Kontext der Discorsi, alles, was die Freiheit des Staates fördert, gut ist, dann ist auch die von Machiavelli geforderte Bürgermoralität nicht aus moralischen Gründen, sondern nur als Mittel zum Zweck der Freiheitserhaltung gut. Die Moralität der Bürger ist nur insoweit gefragt, als sie das „vivere civile“, das gemeinschaftliche Leben garantiert. Hier wie später bei Hobbes (Lev., Kap. 15) sind Bürgertugenden nur instrumentell im Licht einer Theorie des Allgemeinwohls zu verstehen, in der Letzteres mit der Erhaltung des Staates identifiziert wird. Das eigentliche Subjekt von Machiavellis politischem Denken sind also der einzelne große Mann (der Staaten erobert, gründet oder neu ordnet) und die republikanische Regierung, nicht jedoch das Volk oder die Bürgerschaft. Dabei müssen nur die Ersteren

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über die zum politischen Erfolg notwendigen Eigenschaften verfügen. Die gemeinen Menschen werden hingegen zu guten Bürgern bzw. Untertanen („gut“ nicht im moralischen, sondern im oben erwähnten instrumentellen Sinn) nur dank der Tätigkeit des Gesetzgebers bzw. der Regierenden. Damit ist die Hauptaufgabe des Gesetzgebers definiert: Er soll die Kraft und die Weisheit besitzen, das Gemeinwesen (neu) zu ordnen – d. h. um die Zügellosigkeit der Einzelnen zu bekämpfen –, und um ihm eine Verfassung und neue Gesetze zu geben, die der Republik ermöglichen sollen, den Prozess der Dekadenz so lange wie möglich aufzuhalten bzw. zu verlangsamen. Die Dekadenz selbst ist jedoch unvermeidlich – darin besteht Machiavellis Pessimismus, obwohl man vielleicht mit Kant eher von einem „Abderitismus“ sprechen sollte (Streit, VII 82). Die Unvermeidlichkeit hat ihre Ursache in der menschlichen Natur: Die Menschen neigen zur moralischen Korruption, zum Sittenverfall; daher ist der politische Verfall eines jeden Gemeinwesens sicher. Machiavellis geschichtlicher Pessimismus beruht also auf seiner pessimistischen Anthropologie (vgl. oben 2.6). Dieser Pessimismus hindert allerdings den Florentiner nicht davor, eine Theorie jener wohlgeordneten Republik anzudeuten, die gegen den Zahn der Zeit und gegen die eigene unvermeidliche Dekadenz möglichst lange Widerstand leisten sollte.

2.10. Die wohlgeordnete Republik (I): Die Herrschaft der Gesetze und die Vorzüge der Demokratie Eine wohlgeordnete Republik zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: 1) Herrschaft der Gesetze, 2) gemischte Verfassung, 3) gute Gesetze, 4) gute Sitten, 5) Vorhandensein einer bürgerlichen Miliz. Entscheidend sind vor allem das erste, vierte und fünfte Merkmal, denn gute Verfassung und gute Gesetze allein können nach Machiavelli eine Republik nicht zusammenhalten (so wenig wie gute Sitten und eine bürgerliche Miliz allein). Ich werde mich daher im Folgenden auf diese drei Merkmale konzentrieren. Nichtsdestoweniger möchte ich jedoch zunächst einige Überlegungen zum zweiten Merkmal, zur gemischten Verfassung vorausschicken: Die Frage der Dauerhaftigkeit von Staaten (nicht von Regierungsformen!) nimmt wegen Machiavellis zyklischer Auffassung der Geschichte an Brisanz zu: Wie kann ein Staat lange existieren, wenn er in einem ständigen Prozess des Wechsels gefangen ist, der schließlich zur Auflösung des Staates selbst führt?50 Es ist nicht klar, ob Machiavelli selbst die von ihm angebotene Lösung (die gemischte Regierungsform) für ausreichend hält. Manche Interpreten sehen darin ein utopisches Moment (Althusser 1995); andere meinen, Machiavelli sei sich bewusst, dass man den Kurs der Geschichte zwar verlangsamen, nicht jedoch aufhalten kann – so dass auch die Mischverfassung das Leben eines Staates bloß verlängern kann, ohne ihn jedoch ‚unsterblich‘ zu machen (Münkler 1984). Deswegen wählt Machiavelli als Beispiel einen Staat, der länger als tausend Jahre dauerte:

50 Vgl. D I, 2; SW I, 15, wo Machiavelli in Bezug auf den Verfassungskreis sagt, dass „fast kein Staat so große Lebenskraft haben kann, um mehrere mal diese Wechsel zu durchlaufen“.

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Rom (zu den Gründen, die ihn nicht Sparta oder Venedig – noch zwei von ihm erwähnten Beispiele von langem „Leben“ – wählen ließen, vgl. 2.7). Die Übernahme einer zyklischen Auffassung in Bezug auf die Geschichte der Staaten und deren Verfassungen bedeutet allerdings keineswegs die Annahme einer fatalistischen und pessimistischen Haltung gegenüber der Aufgabe, einen dauerhaften und stabilen Staat zu bilden – also gegenüber dem Hauptanliegen von Machiavellis Denken. Im Gegenteil der Florentiner bietet eine Lösung, die es ermöglichen sollte, aus dem Teufelskreis der Verfassungen auszutreten: die Errichtung einer Republik mit gemischter Verfassung. Das erinnert sehr an Platons Strategie, um den metabolái politéion zu entkommen, nämlich die Errichtung eines idealen Staates mit einer neuartigen Verfassung. Aber im Unterschied zu Platon (und später zu Kant) bietet Machiavelli kein Ideal, sondern ein Modell an, das von den konkreten Bedingungen seiner Realisierung stark abhängt. Machiavelli weist hier einen Realismus auf, der von Rousseau, nicht jedoch von Hobbes oder Kant, geteilt wird: Politische Theorie ist von politischer Praxis nicht zu trennen; nicht in allen Situationen ist zudem die bestmögliche Lösung auch konkret durchführbar. Wenn also im Folgenden von den Charakteristiken einer wohlgeordneten Republik die Rede sein wird, so muss man bedenken, dass sie nicht immer und überall anzutreffen ist. Nur unter bestimmten Umständen ist es möglich, eine Republik mit gemischter Verfassung zu errichten, die ein langes (wenngleich nicht unendliches) Leben haben wird. Einer dieser Umstände ist das Vorhandensein guter Gesetze. Machiavelli spricht sich eindeutig für die Herrschaft der Gesetze gegen die persönliche Herrschaft eines absoluten Monarchen aus: Der Fürst muss sich der höheren Autorität der Gesetze beugen. Während die naturrechtliche Tradition vom Mittelalter bis hin zur Neuzeit diese höhere Autorität mit unveränderlichen Naturgesetzen identifizierte, identifiziert Machiavelli sie mit der Autorität der Verfassung und der positiven Gesetze eines Gemeinwesens. Das scheint prima facie in Anbetracht der in der Gegenwart (eigentlich seit Hegels Kritik)51 herrschenden Ablehnung der Naturrechtsidee, ein sehr moderner Zug zu sein, verweist aber in der Tat auf die Antike, nämlich auf die Position von Sokrates in Platons Kriton: Die Gesetze der Stadt sind heilig und müssen immer befolgt werden. Allerdings beruht der Vorzug, den Machiavelli der Herrschaft der Gesetze gegenüber der Herrschaft der Individuen einräumt, auf keiner moralischen, sondern auf einer pragmatischen Überlegung. Dem Florentiner geht es um die Stabilität des Staates; sie wird nun durch Gesetze besser als durch die Persönlichkeit des Herrschers (oder der Herrscher) gesichert: Möge auch ein Herrscher so klug und gut sein, dass er der Republik und ihren Bürgern Sicherheit und Freiheit bringt, so wird er irgendwann sterben; mit seinem Nachfolger könnte jedoch eine Entartung eintreten (und sie wird es höchstwahrscheinlich auch tun), so dass die erreichte Ordnung nicht lange halten wird. Gesetze 51 Aber schon vor Hegel hatte Kant in der Rechtslehre (§ A, VI 229) die herkömmliche Auffassung vom Naturrecht als kosmologisch, theologisch oder anthropologisch fundiertes Recht abgelehnt. Die natürliche Rechtslehre gründet weder auf einer kosmischen Ordnung, noch auf Gottes Wort, noch auf der menschlichen Natur an sich, sondern resultiert aus der Natur des Menschen als Vernunftwesen und stellt daher ein Vernunftrecht dar.

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garantieren hingegen eine gewisse Kontinuität und eignen sich daher besser für die Erhaltung der Stabilität und Ordnung des Gemeinwesens. Das gilt nicht nur für Republiken, sondern auch für Fürstentümer (Machiavelli mahnt des öfteren den Fürsten, einen wohlgeordneten Staat bei seinem Tod zu hinterlassen, wenn er nicht will, dass ihn seine Nachfolger bald verlieren). Das steht in keinem Widerspruch zur Idee eines Gesetzgebers, der das Gemeinwesen durch seine außerordentlichen Eigenschaften begründen oder erneuern muss. Seine Aufgabe besteht nämlich darin, das Gemeinwesen so zu ordnen, dass es seine Stabilität nicht so schnell verliert (vgl. DFR). Machiavelli bezeichnet diese Tätigkeit als „ridurre [le repubbliche] inverso i principi loro“, die Republiken auf ihre Anfänge zurückzuführen (D III, 1; SW I, 262). Dadurch wird der unvermeidliche Verfallsprozess gebremst und das nie stillstehende Rad des Übergehens von einer wohlgeordneten Republik in die Anarchie zurückgedreht (wenngleich das nur eine bloße Verschiebung des unvermeidlichen Moments der Dekadenz darstellt). Ein solches Eingreifen muss entweder in Notlagen oder regelmäßig stattfinden. Machiavelli gibt für den letzten Fall das Beispiel der Medici an, die alle fünf Jahre durch die eigenmächtige Ernennung der neun Mitglieder der balìa (eine wichtige Magistratur mit Regierungsgewalt) ihre Macht über Florenz immer wieder behaupteten und – was Machiavelli noch wichtiger erscheint – „den Bürgern denselben Schrecken und die Furcht wieder einflößen wie Anfangs, als sie die Zügel der Regierung ergriffen und alle gezüchtigt hatten“ (D III, 1; SW I, 265). Die Medici selbst nannten diese Strategie „ripigliare lo stato“, von der Macht erneut Besitz ergreifen (a. a. O.). Was den anderen Fall, die Notlage, betrifft, hält Machiavelli es für notwendig, dass die Republiken in ihren Institutionen ein Analogon zur römischen Diktatur haben. Der Diktator war ein Mann, der in Notlagen zum absoluten Heereshaupt ernannt wurde, und dem eine uneingeschränkte Macht eingeräumt wurde – allerdings immer nur für eine begrenzte Zeit, nämlich so lange, wie Gefahr für den Staat bestand. Ein ähnliches Instrument muss die Republik besitzen, denn ansonsten muss sie „notwendig bei Aufrechthaltung der Verfassung zu Grunde gehen, oder sie muss, um nicht zu Grunde zu gehen, die Verfassung brechen. [...] Eine Republik wird daher niemals vollkommen sein, wenn sie sich nicht durch ihre Gesetze in allen Stücken vorgesehen, für jedes Ereignis ein Mittel abzuhelfen, bestimmt, und die Art, dieses Mittel anzuwenden, festgesetzt hat.“ (D I, 34, SW I, 93) Machiavelli meint also, dass sowohl die republikanische Regierung als auch der Fürst immer imstande sein müssen, die Lage richtig einzuschätzen, um auf sie mit den notwendigen Vorkehrungen zu reagieren. Sie müssen beide jene Klugheit aufweisen, die ein Hauptbestandteil der virtù ist. Im Unterschied zum Fürsten kann aber eine Republik unmöglich auf eine plötzliche Gefahr schnell reagieren. Nur ein einzelner Mann, der die absolute Macht besitzt, verfügt über die dazu erforderliche Schnelligkeit und über die Fähigkeit, die notwendigen Entscheidungen rasch zu treffen und effektiv durchzusetzen. Daher die Notwendigkeit, eine Einrichtung wie die Diktatur in die republikanischen Institutionen einzubauen, will die Republik nicht zugrunde gehen, oder will sie nicht die Verfassung brechen und sich blind einem Mann anzuvertrauen, der sie zwar vor der Vernichtung retten, sie ihrer Freiheit jedoch berauben kann, wie es oft geschehen ist. Die Stabilität der Republik muss also zunächst institutionell gesichert werden, auch wenn die dazu erforderliche Einrichtung womöglich auf die virtù eines Einzelnen an-

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gewiesen ist. Die institutionellen Vorkehrungen gegen die Dekadenz und den Verfall in die Anarchie einer wohlgeordneten Republik werden somit in ihrer Tragweite auf einen minimalen Umfang zurückgeführt: auf den Rekurs durch die Hilfe eines außerordentlichen Mannes. In dieser Hinsicht glaubt Machiavelli zwar an die Fähigkeit einer Republik, sich durch ihre eigenen Institutionen und durch Gesetze zu regenerieren; die Gesetze bedürfen jedoch „der Bürgertugend eines Mannes, der mutvoll mitwirkt, sie gegen die Macht der Übertreter zu vollstrecken“ (D III, 1; SW I, 264). Solche Menschen sind eher in einer Republik als in eine Despotie aufzufinden, denn eine wohlgeordnete Republik erzeugt genau die Art Bürger, welche die erforderliche virtù für jenes schwierige Werk (die Zurückführung der Republik zu ihren Anfängen) aufweisen. Sie müssen dabei nicht notwendigerweise selbst Gesetzgeber sein, oft reicht ihr Beispiel aus, um die Gesetze erneuern zu lassen (D III, 22; SW I, 335). Es ist das Zusammenspiel von guten Einrichtungen und Beispielen tugendhafter Männer, die eine Republik vor der Dekadenz bewahrt. Eine rein institutionelle Lösung ist daher zwar nicht möglich, eine rein personelle jedoch gefährlich, denn der außerordentliche Mann könnte seine Macht ausnutzen, um die Republik unter seine Herrschaft zu ziehen. Wenn also Machiavelli auf die Rolle starker Persönlichkeiten hinweist, so stellt er die Herrschaft der Gesetze keineswegs in Frage. Er hält im Gegenteil an diesem Punkt fest und betont ihn nur, um die Vorzüge des governo del popolo, der Volksherrschaft, gegenüber dem governo del principe, der Fürstenherrschaft, zu erörtern. Während die meisten Denker, die von einem pessimistischen Menschenbild ausgehen, auch ein negatives Urteil über das Volk und die Demokratie fällen, schließt Machiavelli in seiner unvoreingenommenen, resignierenden Beurteilung der menschlichen Natur auch die Fürsten und die Monarchie mit ein. Ein guter Fürst wäre zwar imstande, die Staatsgeschäfte effektiver als das Volk zu erledigen, aber gute Fürsten gibt es nach Machiavellis Meinung sehr wenige (wenn es sie überhaupt gibt). Bei der Beurteilung politischen Handelns ist für Machiavelli nicht so sehr die bloße Effektivität, sondern in erster Linie die stabilisierende Auswirkung auf das Gemeinwesen entscheidend. Da dies das Hauptziel des Staates ist, lässt sich die Herrschaft des Volkes (vorausgesetzt, dass es nicht verdorben ist) immer der Herrschaft eines Fürsten, auch derjenigen eines guten Fürsten, vorziehen (D I, 58; SW I, 146).52 Nach Machiavellis

52 Man vergleiche hingegen die Position eines Vertreters der Monarchie. Im IV. Buch von: Il cortegiano zeigt Baldassarre Castiglione, wie man an der Herrschaft der Gesetze festhalten und trotzdem die Monarchie als beste Regierungsform verteidigen kann. Nachdem einer der Teilnehmer am fiktiven Dialog, Pietro Bembo, die traditionelle republikanische Position vertreten hat (die Freiheit ist Gottes höchstes Geschenk und darf uns daher nicht weggenommen werden; das geschieht jedoch unter einer Fürstenherrschaft; nur die Republik garantiert die Freiheit; die Masse irrt sich außerdem weniger oft als der Fürst; vgl. Castiglione 1945, 331 ff.), wird ihm von einem anderen Teilnehmer, Ottaviano Fregoso, widersprochen (a. a. O. 332 ff.). Die wahre Freiheit besteht nicht in der Willkür, sondern in der Befolgung guter Gesetze. Es liegt in der Natur der Dinge, dass es Menschen gibt, die zum Befehlen, und andere, die zum Gehorchen geboren sind. Gott hat die Völker dem Schutz ihrer Fürsten anvertraut; diese müssen daher für ihre Untertanen Sorge tragen, denn sie werden darüber vor Gott Rechenschaft ablegen. Der Fürst muss gut sein (dafür sorgt die richtige

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Meinung unterscheidet sich das Volk vom Fürsten nicht nur wegen der verschiedenen Zwecke (der Fürst – wie der Adel – will herrschen, das Volk will nicht beherrscht werden), sondern durch seinen Respekt vor den Gesetzen, einen Respekt, den Fürsten in geringerem Maß besitzen. Ohne diesen Respekt kann es aber kein stabiles Gemeinwesen geben, so dass letztlich auch der Fürst gezwungen ist, gute Gesetze einzuführen und sie einzuhalten, will er „seine Herrschaft erhalten“ (mantenere lo stato). Der Tyrann verdient (politischen) Tadel, nur weil sein Regime unsicher und unfest ist und daher das Wohl der Bürger nicht garantieren kann, nicht weil er die Freiheit unterdrückt (D I, 10; SW I, 38 ff.). Wie später auch Hobbes, ordnet Machiavelli alles der Stabilität unter. Es stellt sich nun die Frage, ob die Stabilität deswegen zu garantieren ist, weil sie notwendig für die Freiheit der Bürger (wie die neo-republikanischen Interpreten von Machiavelli meinen) oder ob sie ein Zweck an sich ist. Das scheint offensichtlich der Fall bei Fürstentümern zu sein, denn dort spielt die Freiheit der Bürger – genauer: der Untertanen, überhaupt keine Rolle. Im Falle der Republik scheint zwar die Stabilität ein Mittel zur Erhaltung der Freiheit zu sein, sie wird jedoch von Machiavelli weniger als individuelle Freiheit, sondern vielmehr als die Freiheit der Republik selbst – d. h. als die republikanische Freiheit der Neo-Republikaner verstanden. Gegen solche Interpretation könnte man einwenden, dass Machiavelli an vielen Stellen die individuelle Freiheit verteidigt. Zitiert wird häufig die Rede von Rinaldo degli Albizzi, über die Machiavelli in den Florentiner Geschichten berichtet: [...] so werde ich immer wenig anschlagen, in einer Stadt zu leben, wo die Gesetze weniger vermögen, als die Menschen. Denn das Vaterland ist wünschenswert, worin Du Dich des Vermögens und der Freunde sicher erfreuen kannst, nicht das, wo Dir jenes leicht genommen werden kann, und wo Dich die Freunde, aus Furcht für sich selbst, in Deiner höchsten Not verlassen.“ (IF, IV 33; SW IV, 209) Diese Passage lässt m. E. eine andere Interpretation zu: Der personalen Herrschaft der Medici (Rinaldo war der unerbittlichste Gegner von Cosimo dem Alten) stellt hier Rinaldo – und durch seine Stimme Machiavelli selbst – die Herrschaft der Gesetze entgegen. Wo die Gesetze herrschen, sind die Bürger sicher, frei von Furcht und unabhängig von der Willkür anderer. Es ist jedoch fraglich, ob Machiavelli hier an die Exi-

Erziehung, wie im Rest des Buches dargelegt wird), und er muss die Untertanen gut machen („Però deve il principe non solamente esser buono, ma ancora far boni gli altri“, a. a. O. 335). Seine Hauptaufgabe ist es, dem Volk gute Gesetze und Institutionen zu geben, damit es in Müßiggang und Frieden leben kann („Però è ancor officio del bon principe instituire talmente i populi suoi e con tai leggi ed ordini, che possano vivere nell’ozio e nella pace, senza periculo e con dignità, e godere laudevolmente questo fine delle sue azioni che deve essere la quiete“: a. a. O., 338). Wenn er die Tugenden auflisten soll, die im Krieg sowie im Frieden von Fürsten zu erwarten sind, nimmt Castiglione eine andere Position als Machiavelli ein und kehrt zu den traditionellen Tugenden des guten christlichen Fürsten zurück, so wie ihn die mittelalterliche Traktatistik porträtiert hatte: Mut und Gleichgültigkeit vor den Gefahren und vor den Schicksalsschlägen, Standhaftigkeit, Geduld, Mäßigkeit, Religiosität, Vaterlandsliebe, Großzügigkeit und vor allem Gerechtigkeit (a. a. O., 340 f. und 343 f.).

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stenz von individuellen Rechten appelliert. Aus zahlreichen anderen Stellen (auch der Florentiner Geschichten) geht vielmehr ein anderes Bild hervor: Der gute Bürger ist immer bereit, sein Leben und sein Gut für das Vaterland zu opfern – ja, er ist bereit, sein Seelenheil dafür zu opfern („So viel höher schätzten diese Bürger damals das Vaterland, als die Seele“ IF III, 7; SW IV 125), so wie Machiavelli selbst („Amo la patria mia più dell’anima“ Brief an F. Vettori, 16.4.1527).53 Und von allen Beispielen aus der alten römischen Geschichte lobt er am meisten jene, die eine kompromisslose Vaterlandsliebe darstellen, die bis hin zur Selbstopferung und zur Opferung der eigenen Verwandten (wie im Fall von Titus Manlius und seinem Sohn) geht. Machiavelli hat eine funktionale Auffassung der Bürgertugenden: Sie sind nicht an sich gut, sondern als Mittel zur Stabilisierung des Gemeinwesens. Gute Sitten bilden eine gute Grundlage für die Errichtung einer wohlgeordneten Republik.

2.11. Die wohlgeordnete Republik (II): Die guten Sitten unter den Bürgern Gute Ordnungen oder Gesetze allein sind keine Garantie für die Stabilität eines Staates: Dazu bedarf es der guten Sitten der Bürger. Im Esel heißt es: „Wahr ist, dass länger oder kürzer eine Macht zu dauern pflegt, je besser oder schlechter ihre Gesetze und Einrichtungen sind. Das Reich, wo die Tugend zum Handeln treibt oder die Notwendigkeit, wird man stets sehen in die Höhe steigen, und umgekehrt wird man die Stadt sehen mit Gras bewachsen und mit Dorngestrüpp, und jede Jahreszeit einen neuen Herrn haben, so, dass sie endlich untergehen muss, und dass alle ihre Bestrebungen scheitern, die Stadt, wo die Gesetze gut sind und die Sitten schlecht.“ (As. V, 76-87; SW VII, 214) Trotz seiner skeptisch-realistischen Anthropologie hegt Machiavelli ein unerschütterliches Vertrauen in die Moralität der Bürger einer unverdorbenen Republik (vgl. D III, 6; SW I, 292): „[...] denn in einer unverdorbenen Republik, [...] kann kein Bürger auf solche Gedanken kommen [hier: Verschwörungsgedanken – A. P.] gerathen“). Er sagt uns jedoch nie ausdrücklich, welche Eigenschaften der ideale Bürger einer wohlgeordneten Republik besitzen sollte. Wie im Falle seiner Anthropologie muss man ein Gesamtbild aus verschiedenen, im ganzen Werk verstreuten Elementen zusammenstellen. Das Beispiel, das Machiavelli immer wieder zitiert, sind die Bürger der alten römischen Republik. Wollte man die Haupteigenschaften, die diese Muster an Bürgertugenden aufwiesen, zusammenfassen, könnte man folgende nennen: 1. Sie stellten das allgemeine Wohl dem eigenen Interesse voran. Das galt sogar für das gesamte Volk, das – im Unterschied zu den Florentinern – nur deswegen gegen den Adel kämpfte, um selbst an der Regierung teilzuhaben, ohne aber die Adligen von der Macht vertreiben zu wollen: Das römische Volk verfolgte also nicht das Eigeninteresse (wie das florentinische Volk, als es den Adel entmachtete), sondern das Allgemeinwohl, und wollte nur über die Zukunft Roms mitentscheiden. Daher nimmt Machiavelli von

53 Zieglers Übertragung ist hier unvollständig, da er nur die erste Hälfte des Satzes („Ich liebe mein Vaterland“), nicht jedoch die zweite („mehr als meine Seele“) übersetzt.

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seiner allgemeinen Verurteilung der Parteien und der Fraktionskämpfe die Kämpfe zwischen Adel und Volk in Rom aus, denn diese Kämpfe führten in erster Linie zur Expansion der Republik (vgl. oben 2.7) und brachten in zweiter Linie Gesetze und Einrichtungen hervor, die nicht Ausdruck des Privatinteresses des Siegers waren (wie es z. B. in Florenz nach jeder politischen Umwälzung immer der Fall war), sondern dem Wohl der Republik dienten, da sie auf eine bessere Anordnung derselben abzielten. Ansonsten hält Machiavelli Parteien für gefährlich, da sie eben das allgemeine Interesse dem Sonderinteresse von Individuen oder Gruppen unterordnen und die Republik in endlose innere Kämpfen verwickeln, aus denen schlechte Ordnungen folgen: Diese dienen nämlich dem Interesse des Siegers und verursachen Hass und Rachsucht bei den Besiegten oder Benachteiligten, so dass erneute Kämpfe vorprogrammiert sind. 2. Die alten Römer waren tapfer. Solange sie Rom persönlich verteidigt haben bzw. für die Erweiterung von dessen Herrschaft gekämpft haben, war die Stadt frei. Als sich jedoch Rom Hilfstruppen oder Söldnerheere bediente, war die Freiheit schon verloren (vgl. unten 2.12). 3. Sie waren auch gottesfürchtig und pflegten sehr die Religion. Dabei versteht Machiavelli Religion als bloßes instrumentum regni, denn sie dient nicht dem Heil der Seele, sondern allein dem Heil des Staates. Die Religion der Römer trug dazu bei, „die Heere im Gehorsam, das Volk in Einigkeit, die Menschen gut zu erhalten, und die Bösen zu beschämen“ (D I, 11; SW I, 43). Sie ist „zur Erhaltung der Gesellschaft unentbehrlich“ (a. a. O.; SW I, 42), und in dieser Hinsicht ist sie wichtiger als Heere, „weil, wo Religion ist, Waffen leicht eingeführt werden können, wo aber Waffen sind und keine Religion, letztere sich nur schwer einführen lässt“ (a. a. O.; SW I, 43). Außerdem kann ein Gesetzgeber unmöglich einem Volk außergewöhnliche Gesetze geben, ohne sich auf die Gottheit zu berufen, wie die Beispiele von Moses und Numa Pompilius zeigen. Das 13. Kapitel des I. Buchs der Discorsi trägt daher den Titel: „Dass sich die Römer der Religion bedienten, um den Staat zu ordnen, ihre Unternehmungen auszuführen, und die Aufstände zu dämpfen“ (SW I, 48), und das 14. den Titel: „Die Römer legten die Auspizien nach den gebietenden Umständen aus, und gaben sich durch Klugheit den Schein, als beobachteten sie die Religion, wenn sie sie notgedrungen nicht beobachteten; wenn aber Jemand verwegener Weise dieselbe gering schätzte, so straften sie ihn.“ (SW I, 51) Die Religion wird somit (wie später bei Hobbes und Rousseau) zu einem zentralen Bestandteil für die Stabilität des Gemeinwesens erklärt. Eine solche Rolle kann zwar von einem Fürsten übernommen werden („Wo Gottesfurcht fehlt, muss ein Reich in Verfall geraten, oder es muss durch die Furcht vor einem Fürsten, der den Mangel der Religion ersetzt, aufrechterhalten werden“: D I, 11; SW I, 44), aber nur für kurze Zeit: „Da aber die Fürsten ein kurzes Leben haben, so muss ein solches Reich sogleich Not leiden, so wie ihm das Verdienst [eigentlich: die virtù – A. P.] jenes Fürsten gebricht“ (a. a. O.). Daher soll ein Fürst (und darunter kann auch ein Gesetzgeber verstanden werden, wie die Beispiele von Moses, Numa usw. zeigen) entweder sehr gute Einrichtungen hinterlassen, oder dafür sorgen, dass die Religion nicht missachtet wird. Dabei ist es unwichtig, ob er selbst an diese Religion glaubt oder nicht: „Die Häupter eines Freistaates oder eines Reiches müssen daher die Grundpfeiler ihrer Religion aufrechterhalten; es wird ihnen dann ein leichtes sein, ihren Staat religiös und folglich gut und einig zu

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erhalten. Sie müssen alles, was sich zum Vorteil der Religion ereignet (wenn sie es auch für unwahr halten) unterstützen und vergrößern.“ (D I, 12; SW I, 46; Hervorheb. – A. P.) Noch im selben Jahrhundert (und zwar 1593) wird schließlich Heinrich IV. von Frankreich bei seinem Übertreten zum Katholizismus sagen, dass ihm Paris (d. h. die Krone) eine Messe wert war („Paris vaut une messe“). 4. Die alten Römer scheuten den Müßiggang und alle nicht nützlichen, nicht praxisbezogenen Wissenschaften, wie z. B. die Philosophie. Machiavelli erwähnt – wie zu erwarten – Cato, der verordnet hatte, dass kein Philosoph in Rom aufgenommen werden dürfte (IF V, 1; SW IV, 211 f.). Das mag der realtà effettuale von Rom nicht entsprechen (die Auswirkung von Catos Verordnung war begrenzt, und Cicero selbst verstand sich z. B. als Philosoph), drückt jedoch Machiavellis Meinung sehr deutlich aus, nach der jene Form von Tätigkeit, die weder unmittelbar noch mittelbar der materiellen Produktion von Gütern dient, noch beim Treffen von politischen Entscheidungen von Hilfe ist, noch einen repräsentativen oder belehrenden Charakter besitzt (wie z. B. Geschichtsschreibung oder zivile Malerei), ein Zeichen moralischer Dekadenz ist. Die Bürger dürfen sich daher mit solcher Tätigkeiten nicht beschäftigen (zum Anti-Aristotelismus jener Position vgl. oben 2.3). 5. Machiavelli wiederholt oft, dass der Reichtum einzelner Bürger eine große Rolle im Sittenverderbnis einer Republik spielt. Zu reiche Bürger gelangen leicht zu einer so großen Macht, dass sie eine Gefahr für die Republik darstellen. Sie können nämlich durch Gefallen und durch Geld die Gunst anderer Bürger für sich gewinnen; sie könnten dann eine Fraktion bilden und damit ihr Privatinteresse dem allgemeinen entgegensetzen, so dass bald Kämpfe entstehen werden. Wenn dabei die Republik die erforderlichen Vorkehrungen nicht rechtzeitig getroffen hat, wird sie untergehen, und ein Privatbürger wird die Macht an sich reißen können, wie es 1434 in Florenz mit Cosimo de’ Medici geschah. Die optimale Lage ist für Machiavelli diejenige, in welcher der Staat reich, aber die Bürger arm sind, wie früher in Sparta (einer der wenigen Fälle, in denen Machiavelli diese Stadt als positives Beispiel anbietet). Eine ebenso gute Alternative stellt jede Stadt dar, in der eine große ökonomische Gleichheit unter den Bürgern herrscht, denn solche Städte sind für die republikanische Regierungsform äußerst geeignet, und ein Fürstentum kann dort nur mit großer Mühe errichtet werden. Umgekehrt kann eine Stadt, in der große Ungleichheit herrscht, nie eine Republik werden, und die Bürger können nur durch die absolute Macht eines Fürsten gezügelt werden (D I, 55; SW I, 139 f.). Neben diesen Eigenschaften sollen die Bürger einer wohlgeordneten Republik – im Gegensatz zu den Römern – jeden Handel mit den Nachbarn vermeiden, falls diese schon korrupte Sitten haben (D I, 55; SW I, 138). Dabei sind jedoch in der Meinung Machiavellis viele Völker schon verdorben, wie z. B. die Italiener, die Spanier und die Franzosen (als Beispiel eines unkorrupten Volkes nennt er die Deutschen). Es stellt sich nun die Frage, ob in solchen Ländern je eine Republik errichtet werden könnte. Vor einer ähnlichen Schwierigkeit wird Rousseau stehen: Nur unverdorbene Völker können eine republikanische Gesinnung entwickeln, aber es gibt kaum noch unverdorbene Völker. Zwar erwähnt Machiavelli Beispiele von Völkern, die nie unter einer republikanischen Verfassung lebten und trotzdem dank des Werkes eines herausragenden Mannes

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zur Freiheit erzogen wurden, wie z. B. die Juden unter Moses oder selbst die Römer unter Romulus und Numa. Diese Völker waren aber noch nicht verdorben. Wie können aber die Untertanen des Papstes oder der italienischen Tyrannen zur Freiheit und zur republikanischen Gesinnung erzogen werden? Wie kann daher eine Republik in Italien errichtet werden? Diese Fragen nehmen an Brisanz zu, wenn man Machiavellis Projekt der Einigung Italiens berücksichtigt. Es würde nämlich eine ganz andere Bedeutung annehmen, denn eine solche Einigung wäre dann nur in Form der Errichtung eines Fürstentums möglich, da die Italiener korrupt, also zu republikanischen Ordnungen nicht geeignet sind. Andererseits scheint Machiavelli bei seiner Behauptung, die Italiener seien schon alle verdorben, mindestens eine Ausnahme zugunsten der Toskaner zu machen. Während es nämlich in den anderen Regionen Italiens zu viele Edelleute gibt, „welche müßig [nochmals die Verurteilung des Müßiggangs! – A. P.] vom Ertrage ihrer Besitzungen im Überflusse leben, ohne irgend eine Sorge zu haben, Ackerbau zu treiben, oder sich mit irgend einem anderen zum Leben nötigen Geschäfte zu befassen“, bietet die Toskana ein gelungenes Beispiel der entgegengesetzten Lage an: Dort gibt es weniger müßige Edelleute als vielmehr eifrige Geschäfts- und Bauersleute; und deshalb herrscht in jener Region „große Gleichheit“. Daher bestanden dort, auf einem kleinen Raum, „lange Zeit drei Republiken, Florenz, Siena und Lucca“. Die Toskana könnte somit der ideale Ausgangspunkt für den Fürsten sein, der Italien nicht nur einigen (dazu ist der Ausgangspunkt ziemlich gleichgültig, wie wir gesehen haben), sondern darüber hinaus in eine Republik verwandeln möchte. In der Toskana herrschen die ideale Bedingungen für ein solches Unternehmen, und nur „der Unstern der Toskana“ hat verhindert, „dass sie bis auf unsere Zeit nie einen Mann erzeugte, der dies gekonnt oder verstanden hätte“ (D I, 55; SW I, 138 f.). Fortuna wird also von Machiavelli dafür blamiert, dass aus der Toskana keine starke einheitliche Republik geworden ist, die imstande gewesen wäre, Italien unter sich zu einigen. Ob eine solche Behauptung stichhaltig ist, bleibe hier dahingestellt; relevant für unsere Analyse ist Machiavellis Meinung, dass „ein zu einer Monarchie geeignetes Land zur Republik, und ein zu einer Republik geeignetes Land zur Monarchie zu machen, Sache eines an Kopf und Macht seltenen Mannes ist“ (a. a. O.; SW I, 140). Das schwierige Unternehmen der Schaffung eines Staates ist, in den Discorsi wie im Principe, Aufgabe eines fast übermenschlichen Individuums – sei es ein Eroberer und Erweiterer eines existierenden Staates (wie z. B. Cesare Borgia), oder der Gründer und Gesetzgeber eines vollkommen neuen Gemeinwesens, das sich später auch ohne ihn erweitern wird (wie z. B. bei Romulus und Rom oder bei Moses und Israel). In dieser Hinsicht ist es ziemlich klar, dass die Bürger einer Republik keine virtù aufweisen können. Wenn Machiavelli Beispiele von einem vir virtutis angeben will, erwähnt er immer Fürsten oder militärische Führer wie Scipio, Hannibal oder sogar Agathokles, niemals ordentliche Bürger. Die virtù, von der vorwiegend im Principe die Rede ist, ist die des Eroberers bzw. Gründers von Staaten, nicht die republikanische Tugend einfacher Bürger. Diese besteht andererseits zum wesentlichen Teil aus einem martialischen Moment: Der republikanische Bürger ist für Machiavelli ein Bürgersoldat.

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2.12. Die wohlgeordnete Republik (III): Die bürgerliche Miliz und die Erziehung der Bürger Machiavelli glaubt, dass eine der Hauptursachen des Verfalls Italiens im Umstand liegt, dass sich die verschiedenen Staaten auf Söldnerheere verlassen haben (das Thema wird von Machiavelli an vielen Stellen des Principe – vgl. P VII und XII-XIV – und der Discorsi – vgl. D I, 21; I, 43; II, 10; II, 20 – behandelt und stellt eines der Hauptthemen des Werks Die Kriegskunst dar). Die Söldner verfolgen jedoch kein anderes Interesse als das ihrige und kämpfen ohne notwendige Überzeugung. Außerdem sind sie gefährliche Stützen, denn sie sind immer bereit, zum besseren Anbieter überzugehen und können ihren Auftraggeber in jedem Moment im Stich lassen. Der Krieg – beklagt Machiavelli – sei zu einer Farce verkommen, die Schlachten zu harmlosen Scharmützeln, bei denen kaum jemand mehr getötet wird, da niemand für eine Sache sterben will, die nicht die seine ist.54 Machiavelli wusste aus eigener Erfahrung, wovon er redete. Er musste zusehen, wie die Florentiner nach langen Jahren noch nicht imstande gewesen waren, das aufständische Pisa wieder zu erobern, weil sie sich auf Söldner verlassen hatten. Machiavelli selbst bemühte sich, eine Bürgermiliz zu organisieren, was ihm auch gelang. Eben diese Miliz konnte endlich 1509 Pisa wieder einnehmen, scheiterte jedoch kläglich 1512 bei der Verteidigung von Florenz vor der anrückenden kaiserlichen Armee, die – fast um Machiavellis Position zu widerlegen – ausschließlich aus Söldnern bestand und die Medici an die Macht zurückbrachte (zur Belagerung von Pisa vgl. Masters 1998). Nichtsdestoweniger hielt Machiavelli immer am Glauben fest, eine Bürgermiliz könne jede Söldnerarmee besiegen, wie er in Die Kriegskunst beweisen will (vgl. dazu Mallett 1990). Sein Hauptargument ist, dass die Bürger die besten Verteidiger ihrer Freiheit sind. Eine Idee, die noch heute dem Gedanke einer Volksarmee zugrunde liegt. Machiavelli hebt außerdem den Nutzen hervor, der für den Bürger aus dem militärischen Dienst entstehen sollten: Vaterlandsliebe, Verantwortungssinn, Solidarität mit den Mitbürgern. Entsprechend der notwendigen Verbindung zwischen republikanischer Verfassung und Expansionismus rückt somit der Militärdienst in die Mitte des politischen Lebens, des vivere civile. Er verkörpert alles, was einen guten Bürger ausmacht: Selbsteinschränkung, Rückstellung des eigenen Interesses hinter das allgemeine, Patriotismus, Opferbereitschaft für die öffentliche Sache bis hin zum Tod. Der Dienst erzieht zudem den Bürger zur Disziplin, zur Besonnenheit und zu einem einfachen Leben ohne Luxus, ohne Müßiggang und ohne Unsitten.

54 Die Fakten scheinen Machiavelli teilweise Recht zu geben. 1289 bei der Schlacht von Campaldino zwischen dem guelfen Florenz (unter den Florentinern war auch Dante) und dem ghibellinischen Arezzo gab es Tausende von Toten, 1440 bei der politisch und militärisch ebenso wichtigen Schlacht von Anghiari zwischen Söldnertruppen im Dienst von Florenz bzw. von Mailand gab es weniger als Hundert Gefallene.

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Die Sittlichkeit der Bürger basiert also „auf deren militärisch-republikanischen Tugenden“ (Kersting 1988, 139). Der Militärdienst wird zum Hauptinstrument jener politischen Erziehung, ohne die kein Mensch zu einem guten Bürger wird. Hier stellt sich allerdings eine Schwierigkeit, die Kersting so formuliert: „Diese politische Erziehung des Menschen zu einem Bürger kann jedoch nur in einem günstigen politischen Umfeld gelingen, das nach Machiavelli nur in einem republikanisch organisierten Gemeinwesen anzutreffen ist.“ (Kersting 1988, 44) Republikanische Gesinnung entsteht nur dort, wo ein aktives politisches Leben innerhalb einer Republik möglich ist; sie setzt die Existenz guter Ordnungen voraus, auch wenn diese allein noch keine Stabilität garantieren (woran uns Machiavelli ständig erinnert). Die Existenz solcher Institutionen ist jedoch nicht ausreichend, hinzu kommen zwei weitere Bedingungen, nämlich das Handeln eines Gesetzgebers bzw. Neuordners und die Tatsache, dass ein Volk in einer früheren Zeit schon unter republikanischen Ordnungen gelebt hat (vgl. oben 2.11). Auch ein verdorbenes Volk kann dann zur republikanischen Gesinnung erzogen werden, denn nun braucht der Fürst nur den Staat an seine „Anfänge“ zurückzubringen. Dieser Prozess der Erneuerung der Republik besteht aus verschiedenen Phasen (vgl. auch Kersting 1988, 45 f.): 1) Befriedigung der Bevölkerung, eventuell durch Repression. Am besten lässt der Fürst die Unmut verursachende Aufgabe von einem Vertrauten durchführen, um ihn dann später dem Hass des Volkes zu opfern, wie Cesare Borgia es mit Ramiro de Lorqua tat (P VII; SW II, 140). Es ist dabei sehr wichtig, alle Faktionen zu unterdrücken, und jene Individuen, die eine mögliche Bedrohung des Friedens darstellen, zu eliminieren. 2) Der Fürst muss dann gute Gesetze erlassen und den Staat so regieren, dass ihn das Volk nicht nur wie bisher fürchtet, sondern darüber hinaus auch achtet und liebt. 3) Hat man die Unterstützung des Volkes gewonnen, so ist die Herausbildung von Bürgertugenden eine fast notwendige Folge guter Ordnungen: Dann wird man „den Fürsten sicher in der Mitte sicherer Untertanen, den Senat mit Ansehen, die Magistrate mit Ehre umgeben sehen. Er wird die reichen Bürger im Genuss ihres Reichtums, Adel und Verdienst erhöht, überall Ruhe und Wohlstand erblicken. Streitsucht hingegen, Zügellosigkeit, Bestechung und Ehrgeiz wird er verbannt sehen. Das goldene Zeitalter wird vor ihm aufsteigen, wo Jeder seine eigene Meinung haben und verteidigen konnte. Er wird endlich die Welt ihren Triumph feiernd, den Fürsten verehrt und ruhmgekrönt, die Völker von Liebe und Vertrauen durchdrungen erblicken.“ (D I, 10; SW I, 40 f.) Die Liebe, von der hier die Rede ist, bleibt natürlich auf die Mitbürger beschränkt, denn ein gesundes Gemeinwesen ist seiner Natur nach expansionistisch, wie wir gesehen haben. Es ist also die reziproke Liebe der Patrioten, welche die Mitbürger als solche und nicht als Mitmenschen lieb haben, und die ihr Vaterland mehr als ihre Seele lieben (vgl. oben 2.11). Jede Liebe kennt jedoch ein Ende, und auch die Vaterlandsliebe und die Eintracht unter den Bürgern halten nicht lange. Zu Machiavellis zyklischer Geschichtsauffassung gehört die Idee, dass die politischen Fortschritte einer Generation von der nächsten vergessen werden: Die Söhne werden die Fehler begehen, gegen die ihre Väter gekämpft hatten. Der Ehrgeiz der neueren Generationen wird die Stabilität des Staates bedrohen. Machiavelli sieht zwar diese Schwierigkeit und denkt an den Militärdienst als ein mögliches Gegenmittel. Der militärische Expansionismus der Republiken dient in jener Hinsicht zur innenstaatlichen

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Stabilisierung, wie aus Machiavellis Analyse der Klassenkämpfe zu folgern ist (vgl. oben 2.7): Er lässt nämlich diejenigen Kräfte aus, die den bürgerlichen Frieden zerstören können, und kanalisiert sie nach außen durch Eroberungskriege, in denen der Ehrgeiz der Individuen zugunsten des Gemeinwohls ausgenützt wird. Auch der expansionistische Drang kennt jedoch physiologische Grenzen – wie in den Fällen von Rom oder Sparta. Dann wird die sittliche und politische Dekadenz eintreten (vorwiegend durch Bibliotheken und Akademien als Stätte des Müßiggangs und der Erweichung der Sitten),55 die jedoch ihrerseits einen positiven Aspekt hat: Aus ihr werden nämlich wieder Ordnung und Tugend entstehen, vorausgesetzt es findet sich ein Mann, der imstande ist, den Staat zur vergangenen Tugend zurückbringen56 – mit der schon erwähnten Einschränkung (vgl. oben 2.11), dass diese Erziehung nur bei noch nicht verdorbenen Völkern und bei Völkern, die schon in einer Republik leben oder gelebt haben, möglich ist. Machiavelli sieht somit als Alternative zur ständigen Reform (d. h. zur ständigen Einmischung eines außerordentlichen Mannes, der den Staat zu seinen Anfängen zurückbringt) die ständige Erziehung der Bürger. Es ist allerdings nicht klar, ob die Erziehung der Bürger vorwiegend die Erziehung eines Volks (verstanden als über Generationen hinweg handelndes Wesen) oder die Erziehung von Individuen (in diesem Fall muss sie in jeder neuen Generation wieder von vorne anfangen) sein soll. Wahrscheinlich denkt Machiavelli an eine Position, die beide Begriffe vereinigt. Erzogen werden in erster Linie die Individuen: Ihr Ehrgeiz muss kanalisiert und unschädlich gemacht werden, ihre natürliche Liebe zum Vaterland muss gepflegt werden, ihr Egoismus überwunden und ihr Interesse für das Gemeinwohl geweckt werden. Aber all diese Individuen sind gleichzeitig Mitglieder eines Volkes, das als solches bestimmte Charakteristika besitzt und durchaus individuelle Eigenschaften aufweist: Manche Völker sind friedsam, andere kriegerisch, bei manchen sind Ehrgeiz und Eroberungssucht besonders stark, andere neigen eher zur Ruhe und zum Müßiggang, manche schätzen militärische und politische Taten hoch, andere loben vielmehr intellektuelle und künstlerische Errungenschaften. Dabei spielen Umstände wie die geographische Lage und das Klima eine so wichtige Rolle, dass ihnen Machiavelli das erste Kapitel seiner Discorsi widmet (vgl. D I, 1).

55 „Es haben daher die Klugen beobachtet, dass die Wissenschaften nach den Waffen kommen, und dass in den Ländern und Republiken die Feldherren vor den Philosophen entstehen. Wenn gute, geordnete Waffen Siege erzeugt haben, und die Siege Ruhe, so kann die Kraft kriegerischer Gemüter durch keinen ehrbaren Müßiggang verdorben werden, als den der Wissenschaften, und der Müßiggang kann mit keiner größeren, gefährlicheren Täuschung, als mit dieser, in die wohleingerichteten Republiken eindringen.“ (IF V, 1; SW IV, 211) 56 „Denn die Tapferkeit gebiert Ruhe, die Ruhe Müßiggang, der Müßiggang Unordnung, die Unordnung Verfall. Eben so entsteht aus dem Verfall Ordnung, aus der Ordnung Tapferkeit, hieraus Ruhm und Glück“ (IF V 1; SW IV, 211); „Die Tugend macht die Länder ruhig, und auf die Ruhe folgt dann der Müßiggang und der Müßiggang verwüstet Städte und Länder. Doch war ein Land eine zeitlang in Unordnung versunken, so pflegt zurück zu kehren die Tapferkeit, um nochmals dort zu wohnen.“ (As. V, 94-99; SW VII, 214)

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Die Eigenschaften eines jeden Volkes stellen der Erziehung von Individuen genaue Grenzen. Sie bilden eine Art Urstoff, aus dem die einzelnen Mitglieder des Volkes gemacht sind, und bestimmen somit die Tragweite der erzieherischen Tätigkeit von Fürst und Ordnungen. Machiavellis Position weist hier einen gewissen geo-historischen Determinismus auf, der es unmöglich macht, eine allgemeine Theorie für die Erziehung der Bürger zu entwickeln: Was für manche Völker (und Individuen) gut ist, wird nämlich für andere schädlich sein. Noch einmal erweist sich Machiavelli als ein Realist, der nichts von allgemeingültigen Wahrheiten hält, sondern nur auf die verità effettuale abzielt – auf das, was unter gewissen historischen, geographischen und politischen Umständen machbar ist. Aber sein Realismus verbietet ihm auch, an die Verbesserungsfähigkeit von verdorbenen Völkern bzw. von an republikanische Institutionen nicht gewöhnte Bürger zu glauben.

2.13. Fazit: Bürgertugenden und Gesetze Machiavelli stellt eine starke Beziehung zwischen Bürgermoral und politischer Stabilität her: Ohne gute Sitten gibt es keine stabile Republik. Daher folgt der moralischen Dekadenz unvermeidlich auch die politische. Die Moral der Bürger ist somit nicht nur ein Stabilitätsfaktor unter vielen, sondern der Stabilitätsfaktor schlechthin, mindestens so wichtig wie die Gesetze, wenn nicht wichtiger (denn wo gute Gesetze, aber keine guten Sitten sind, helfen die Ersteren auch nicht); sie ist nicht bloß wünschenswert, sie ist für die Erhaltung republikanischer Institutionen notwendig. Die Tatsache, dass Machiavelli von den Bürgern einer Republik eine bestimmte moralische Haltung erwartet, stellt keineswegs eine Aufhebung der klaren Trennung zwischen Moral und Politik dar, auf die er immer wieder insistiert. Die Trennung besteht offensichtlich in Bezug auf die Handlungsweise der Regierenden: Ein Herrscher, sei er Fürst oder republikanische Regierung, darf sich nicht erlauben, moralischen Überlegungen den Vorzug zu geben. Sein einziger Imperativ ist, die Stabilität seiner Herrschaft zu sichern – und es handelt sich dabei um einen kategorischen Imperativ, allerdings amoralischer Natur. Die Moral, von der Machiavelli die Handlungsweise der Regierenden getrennt wissen möchte, ist außerdem in erster Linie die traditionelle christliche Moral, die Werte wie Erbarmen, Ehrlichkeit, Güte usw. in den Vordergrund rückt – Werte, die einer wirksamen politischen Handlung eher im Wege stehen können, als sie zu fördern. Bei den Bürgertugenden sieht der Gedanke nicht viel anders aus. Machiavelli fordert Tugendhaftigkeit von den Bürgern, aber nur um die Republik zu festigen. Diese Tugendhaftigkeit ist wiederum nicht die christliche, sondern die klassische, die Einfachheit der Sitten, Mäßigkeit, Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Bereitschaft zum Selbstopfern usw. fordert. Gut sind solche Tugenden für Machiavelli nicht an sich, oder weil sie zur moralischen Vervollkommnung der Individuen beitragen, sondern weil sie die Stabilität republikanischer Institutionen fördern. Diese Tugenden machen aus Individuen gute Bürger, keineswegs jedoch gute Menschen. Wenn daher Machiavelli meint, das vivere civile setze moralische Ansprüche an die Bürger, bedeutet das keineswegs eine Aufhebung der Trennung von Moral und Politik.

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KAPITEL 2

Wenn nun die staatliche Stabilität (um es genauer auszudrücken: im Principe die Stabilität des eroberten Territoriums, ) der eigentliche Gegenstand von Machiavellis Interesse ist, und die einzigen politischen Akteure, denen er sich zuwendet, nur die Herrschenden sind, dann muss man sich fragen, wie es um Machiavellis Republikanismus steht. Nach Münklers Meinung nicht besonders gut: „Die Stabilität und Dauerhaftigkeit des Staates, nicht die Freiheit der Bürger, macht den zentralen Imperativ des Principe und der Discorsi aus.“ (Münkler 1984, 97) Nicht dass er sich dafür nicht interessiert habe, aber diese Freiheit war nicht entscheidend. „Machiavelli war davon überzeugt, dass freie Bürger in der Regel die beste Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit und Stabilität der Staaten seien, doch sollten sie fehlen, war er auch bereit, andere Mittel zur Erreichung seiner Ziele ins Auge zu fassen. Der scheinbare Widerspruch, der von der Machiavelli-Interpretation immer wieder zwischen dem Principe und den Discorsi konstruiert worden ist, beruht im Grunde genommen auf diesem Problem.“ (Münkler 1984, 97) Andere Interpreten (Skinner 1990, Viroli 1998) meinen im Gegenteil, Machiavellis Sympathie gelte in erster Linie dem Volk: Die wohlgeordnete Republik ist diejenige, in der die Freiheit der Bürger geschützt wird. Nach Althusser ist der Fürst sogar das Instrument, um den Klassenkampf zugunsten des Volkes zu entscheiden (Althusser 1995) – eine marxistische, durch Gramsci inspirierte Lesart, die dem Fürsten dieselbe Rolle wie der kommunistischen Partei im Marxismus-Leninismus zuschreibt: durch eine temporäre Alleinherrschaft eine neuartige Gesellschaft zu schaffen, in der das Volk endlich der wahre Souverän ist. Die Wahrheit – soweit man von einer Wahrheit in Bezug auf die Interpretation von philosophischen Texten sprechen darf – liegt, wie so häufig, in der Mitte. Es ist wahr, dass die Stabilität der staatlichen Ordnung den obersten politischen Imperativ darstellt; und es ist wahr, dass diese Stabilität in erster Linie von der geschickten Handlungsweise der Regierenden und vor allem von den guten Institutionen und Gesetzen abhängt; aber auch die Bürger können etwas in dieser Hinsicht bewirken, denn ohne gute Sitten – wie gesehen – gibt es auch keine Möglichkeit, dass sich eine Republik lange hält. Die Dialektik, die sich zwischen Gesetzen im weiteren Sinne (d. h. verstanden auch als staatliche Institutionen) und Bürgertugenden entwickelt, ist zu kompliziert, um sich auf eines der beiden Elemente, die sie ausmachen, reduzieren zu lassen: Gute Gesetze ohne Bürgertugenden sind unwirksam, Bürgertugenden ohne gute Gesetze sind unbrauchbar. In diesem Sinne erweist sich Machiavelli als reinster Vertreter des republikanischen Ideals. Bei ihm bilden Herrschaft der Gesetze und Bürgermoral zwei Seiten derselben Medaille: Die eine ist ohne die andere undenkbar. Im Unterschied zu den meisten anderen Republikanern, die – wie z. B. Harrington, Rousseau oder Madison – der Herrschaft der Gesetze den Vorrang geben wollen und daher die Entscheidungsbefugnis des Volkes erheblich kürzen (vgl. unten 4.11), lässt Machiavelli das Volk nie verstummen – in der Überzeugung, dass es imstande ist, über sich selbst zu entscheiden (das gilt selbstverständlich nur für die Republiken, nicht für die Fürstentümer). Und im Unterschied zu jenen Autoren, die für eine moralische Erziehung der Bürger durch den Staat plädieren (darunter zum Teil auch Hobbes: vgl. unten 3.14; aber vor allem Rousseau: s. unten 4.17-19), glaubt Machiavelli wie Kant (vgl. unten Kap. 5) an die erzieherische Kraft guter Institutionen. Auf keinen Fall teilt Machiavelli

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die Idee, das Volk bedürfe einer Bevormundung. Nur ein Gesetzgeber bzw. ein Mensch, der eine Ordnung erneuern will, darf, ja: muss sich manipulierender Mittel bedienen, um das Volk auf den richtigen Weg zu bringen. Dann aber hört seine Aufgabe auf: Er muss sich zurückziehen und das Volk sich selbst überlassen. Das wird unvermeidlich zur Dekadenz der Republik und zum Verfall in die Anarchie führen (obwohl man diesen Prozess durch regelmäßiges Eingreifen verlangsamen kann), aber das scheint Machiavelli nicht besonders zu bedrücken, denn es ist eben der Lauf der Dinge. Darin besteht die verità effettuale, jene Wirklichkeit, die man aus dem Studium der Geschichte und der zeitgenössischen Weltereignisse erkennen kann.

Kapitel 3 Hobbes: Politische Macht und moralische Haltung als Mittel zur Friedenssicherung1

In den letzten Jahren hat sich das Bild Hobbes’ in der Exegese stark verändert, allerdings eher im Englisch sprechenden Raum als in Deutschland (mit Ausnahmen, deren wohl bedeutendste Ludwig 1998 ist).2 Die sog. „schwarze“ Lesart eines Carl Schmitt (1938), die – wenn auch häufig mit entgegengesetzter politischer Haltung – von zahlreichen Interpreten übernommen wurde (z. B. von Willms 1970), weicht allmählich einer differenzierteren Interpretation, die Hobbes nicht länger als den Theoretiker eines totalitären, absoluten Staates sieht3, und die vor allem seiner Person dadurch gerecht wird, dass sie den historischen Kontext seines Werkes genauer darstellt.4 Somit hört Hobbes auf, ein Denker zu sein, der weder Vor- noch Nachfahren besitzt (Trevor-Roper 1957, 236) – ein vereinzelter Erneuerer, der sich über die Geschichte des politischen Denkens wie ein isolierter Berg inmitten einer flachen Ebene plötzlich erhebt. Schon Leo Strauss hatte 1936 auf Hobbes’ enge Beziehungen zu Aristoteles und zum Aristotelismus der Renaissance hingewiesen (Strauss 1963). Dank Interpreten wie Richard Tuck (1989), Quentin Skinner (1991 und 1996) oder David Boonin-Vail (1994) hat sich dann in den letzten Jahren, in gewisser Abgrenzung von den eher „systematischen“ Interpretationen von McNeilly (1968) Gauthier (1969), Hampton (1986) oder Kavka (1986) und von ideologiekritischen (aber letztlich ihrerseits ideologischen) Les1 2

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Für manche Ideen und Interpretationen dieses Kapitels bin ich Thomas Pogge und Nadia Urbinati besonders verpflichtet. Das verwundert umso mehr, da einige der wichtigsten Beiträge zur Hobbes-Forschung vor dem Zweiten Weltkrieg aus dem deutschen Raum kamen, angefangen mit Buhle (1802) bis hin zur berühmten, 1910 erschienenen Monografie von Tönnies (Tönnies 1971), zum vieldiskutierten Aufsatz von (Frischeisen-)Köhler (1902: darauf reagierte Tönnies 1925 im Vorwort zur dritten Auflage seines Buchs) und schließlich zum berühmt-berüchtigten Leviathan-Buch Carl Schmitts (1938). Eine Gegentendenz zeichnet sich allerdings schon in Höffe 1979 ab. So noch Arendt 1951, die die möglichen totalitären Auswirkungen von Hobbes’ Position thematisiert. Fast bahnbrechend mutet das 1959 erschienene Werk Kosellecks an (Koselleck 1973), der Hobbes im Lichte der historischen Lage zu interpretieren wusste, ohne jedoch aus ihm einen Verteidiger der absoluten Monarchie zu machen. Koselleck sieht in ihm sogar den Denker, der durch die von ihm unternommene Spaltung von öffentlicher und Privatsphäre ein Element in die politische Theorie einführte, das zur Erosion und letztlich zum Fall eben jener Institution führen sollte (Koselleck 1973, 31f.). Aber diese Lektüre scheint keinen bleibenden Einfluss unter den Hobbes-Interpreten gefunden zu haben – wenigstens nicht unter den Philosophen. Zu den besten historischen Kontextualisierungen Hobbes’ zählt Metzger 1991.

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arten à la Macpherson (1966), das Bild eines politischen Schriftstellers durchgesetzt, dessen Denken in einer spezifischen Tradition, namentlich im englischen Humanismus der Renaissance, fest verwurzelt ist und sowohl durch die historischen Ereignisse als auch durch die eigenen biografischen Erfahrungen geprägt wurde. Dabei reicht das Spektrum der vorgeschlagenen Bilder Hobbes’ vom Tugendethiker (Dietz 1990, Ewin 1991, Boonin-Veil 1994) oder gar Aristoteliker (neben Strauss 1963 vgl. Gert 1978 und Sorell 1986),5 über den Neuepikuräer (Ludwig 1998),6 bis hin zum Vertreter einer scientia civilis im fast republikanischen Sinne (Skinner 1996 und 2008). Es ist nicht meine Absicht, in diesem Kontext auf solche „neuen“ Interpretation von Hobbes’ Denken einzugehen, denn das ist für unseren Zusammenhang nicht erforderlich.7 Ich möchte nur darauf hinweisen, dass meine eigene Lektüre des Leviathan vor allem diesen neuesten Lesarten verpflichtet ist. Ich muss auch betonen, dass Gegenstand meiner Untersuchung nicht die Philosophie Hobbes’ in ihrer Gesamtheit ist, sondern sein politisches Denken, so wie es im Leviathan vorgestellt wird. Dass nur der Leviathan (und zum Teil die späteren De homine und Behemoth) berücksichtigt wird, geschieht nicht etwa der Einfachheit halber, sondern weil dieses Werk sowohl die endgültige als auch die kohärenteste Fassung von Hobbes’ politischem Denken darstellt. Während das De Cive der naturrechtlichen Tradition stoischer Prägung noch nahe steht, bricht der Leviathan mit ihr endgültig und setzt somit die Basis für die moderne Staatsphilosophie. Das geschieht in erster Linie dadurch, dass Hobbes in diesem Werk eine andere Verpflichtungstheorie als im De Cive (und als in den Elements) anbietet, die nicht nur überzeugender und robuster ist, sondern darüber hinaus viele spätere Autoren beeinflussen wird (dazu vgl u. a. Matheron 1985 und Ludwig 1998, besonders Teil II.). Wie schon in der Einführung angekündigt, besteht meine Absicht in erster Linie darin, Hobbes’ Auffassung der Beziehung zwischen Bürgern und Staat zu rekonstruieren. Dabei werden einige wichtige Ergebnisse erzielt, die ich nun nur apodiktisch und schematisch zusammenfasse, um sie dann im Laufe dieses Kapitels zu begründen:

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Strauss erkannte in Hobbes „a zelous reader, not to say a disciple“ von Aristoteles und einen Theoretiker der bürgerlichen Tugend (1963, 30ff.). Und weiter: „Hobbes, following Aristotle, regards morality as concerned with character traits or habits.“ (Gert 1978, 16) „Hobbes is closer to Aristotle than he realizes.“ (Sorell 1986, 106) Ludwig stellt fest, dass Hobbes’ Staatsphilosophie „in keiner nennenswerten Weise von der resolutiv-kompositiven Methode der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft geprägt“ ist, und dass er im Leviathan einen grundsätzlichen Bruch mit dem theistischen Naturrecht vollzieht. Dabei bringt er „ein Naturrecht auf Epikureischer Grundlage hervor, welches sich dann als Alternative zur stoisch-christlichen Tradition präsentiert“ (Ludwig 1998, 9ff.). Ludwig bringt m. E. sehr überzeugende historische wie systematische Beweise zugunsten seiner Interpretation. Sein Buch zählt zu den interessantesten, die in den letzten Jahren über Hobbes erschienen sind. Es gibt übrigens schon viele Bücher über Hobbes-Bücher. Die Auseinandersetzungen mit und Querelen über Hobbes sind unzählig (die um die Taylor-Warrender-These ist die berühmteste; eine der neuesten in Deutschland 1998 fand im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie statt: vgl. Campagna 1998 und Kersting 1998).

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3. KAPITEL

1) Hobbes’ Position wird von den historischen Ereignissen, vorwiegend vom englischen Bürgerkrieg, stark beeinflusst, behält jedoch insofern intellektuelle Unabhängigkeit, als sie keine der Konfliktparteien unterstützt bzw. deren jeweilige Ansprüche rechtfertigt. Im Gegensatz zu den republikanischen oder monarchischen Autoren, die in denselben Jahren ihre Werke als Anklage oder als Verteidigung der Position des Parlaments bzw. des Königs verfassten, entwirft Hobbes ein System, das über die historisch kontingente Lage hinausgeht.8 2) Daher unternimmt er den Versuch, sein Modell rein hypothetisch aufzubauen. Dies gelingt ihm jedoch nur begrenzt: Hinweise auf die geschichtliche Dimension des menschlichen Zusammenlebens sind unvermeidlich und tauchen auch im Laufe des Werkes auf. Hobbes entzieht sich der ausschließlichen Alternative „Naturzustand oder staatlich organisierte bürgerliche Gesellschaft“ und schließt die Möglichkeit von Gesellschaftsformen nicht aus, die anders als der Staat organisiert sind (wie z. B. die Verteidigungsbündnisse in Kap. 15). 3) Wider eine verbreitete Interpretation bietet Hobbes kein Argument für den Austritt aus dem Naturzustand an. Gegenstand seiner Argumentation ist eher die Art und Weise, wie der Austritt stattfinden sollte, nämlich durch die Autorisierung einer absoluten souveränen Macht. Deswegen bietet Hobbes auch Argumente gegen Alternativen zur Errichtung dieser Macht, wie z. B. die Bildung der schon erwähnten Bündnisse unter den Individuen. 4) Die Menschen treten aus dem Naturzustand nicht aus rationalem Kalkül, sondern aus einer natürlichen Abneigung gegen diesen Zustand der Lebensbedrohung und des Elends aus. Sie brauchen – nochmals – kein Argument dafür, da sie die Abneigung einfach fühlen, möge es ihnen bewusst sein oder nicht. Entscheidend ist dabei die Todesfurcht; da sie jedoch nur eine unter vielen Leidenschaften ist (wenngleich die stärkste unter ihnen), ist der Austritt weder gesichert noch endgültig. 5) Hauptursache des Kriegs aller gegen alle sind weniger die Gründe, die Hobbes im Kapitel 13 auflistet (natürliche Gleichheit, Knappheit der Güter, Konkurrenz, Miss8

Das gilt auch für sein historiographisches Werk Behemoth von 1668, in dem er zwar den König gegen seine Feinde weitgehend verteidigt, jedoch seine Unfähigkeit beklagt, die notwendigen Gegenmaßnahmen rechtzeitig getroffen zu haben. Behemoth bildet in dieser Hinsicht eine Fortsetzung des Leviathan mit anderer Methode: Hobbes verzichtet auf die wissenschaftliche, deduktive Beweismethode und ersetzt sie durch die induktive Methode der Historiographie. Dass er jedoch von der Geschichtsschreibung eine durchaus praktische, ja politische Auswirkung erwartet, hatte er schon 1628 in seinem Vorwort zur englischen Übersetzung von Thukydides klargemacht: Die Aufgabe des Historikers sei, „Menschen durch die Kenntnis vergangener Taten zu belehren und zu befähigen, sich klug in der Gegenwart und vorausschauend in Hinsicht auf die Zukunft zu verhalten“ (zit. in Opitz 1968, 49; zum wichtigen Einfluss Thukydides’ auf Hobbes vgl. Johnson 1993, der eine hilfreiche Gesamtdarstellung der Beziehung Hobbes’ zum griechischen Historiker bietet). Behemoth sollte auf die Gefahr des Bürgerkrieges aufmerksam machen, die nach Hobbes’ Meinung auch unter Charles II. weiter bestand. Dass die von ihm in diesem Werk empfohlenen Maßnahmen dieselben wie im Leviathan sind, darf also nicht verwundern (zum Behemoth und zur Frage der Parteinahme Hobbes’ vgl. die für den deutschen Sprachraum Pionierarbeit leistende Studie von Lips 1927).

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trauen, Ruhmsucht), als vielmehr der Krieg der Meinungen, der auch nach Beseitigung des Naturzustandes immer wieder zu entflammen droht. Beim Austritt aus dem Naturzustand einigen sich die Menschen auf einen Vertrag, der nicht den vollständigen Verzicht auf ihr natürliches Recht vorsieht, sondern die Autorisierung einer souveränen Macht und die Anerkennung des souveränen Willens als dem gemeinsamen Willen. Was der Souverän nicht expressis verbis gebietet oder verbietet, steht dem natürlichen Recht der Individuen weiter zur Verfügung (165). Der Souverän ist zwar durch den Vertrag nicht gebunden, besitzt jedoch Verpflichtungen gegenüber Gott, seinem Gewissen und den natürlichen Gesetzen, die ihm gebieten, alles zu tun, um die Sicherheit des Volkes zu garantieren (zu diesem Zweck wurde er schließlich eingesetzt). Sicherheit besteht wiederum in weit mehr als dem bloßen Überleben, sie betrifft vielmehr alle Annehmlichkeiten, die ein Leben lebenswert machen. Der Souverän ist also verpflichtet, das Gemeinwohl und das Wohl aller Bürger zu fördern. Seine Willkür ist insofern eingeschränkt, als er eigentlich nur über die Mittel zur Erreichung jenes Zwecks entscheiden sollte (in dieser Hinsicht plädiert Hobbes im Einklang mit der republikanischen Tradition für die Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen, obwohl er das ausdrücklich bestreitet). Aber er darf auch weitgehendere Entscheidungen treffen und ins Leben der Untertanen eingreifen. Dadurch erhöht er jedoch das Risiko, die Erreichung seines eigentlichen Zieles (Sicherheit des Volks) selbst in Gefahr zu bringen, da er Unmut und letztlich Rebellion verursachen könnte. Das ginge gegen sein persönliches Interesse (Erhaltung der Macht), das mit demjenigen des Staates (Sicherheit ist in erster Linie politische Stabilität) gleich ist. Hobbes sieht jedoch kein institutionelles Mittel gegen eine mögliche Bedrohung der Sicherheit durch den Souverän selbst vor. Findet sie statt, so ist der Rückfall in den Naturzustand die unvermeidliche Folge. Da der Souverän nur über die Handlungen seiner Untertanen, nicht jedoch über ihre Seele befiehlt, und da seine Macht gegen den Krieg der Meinungen nicht ausreicht, sollen die Untertanen selbst bestimmte Haltungen entwickeln, die der Erhaltung von Frieden nutzen. Dabei hilft ihnen die Vernunft, die ihnen bestimmte Weisungen nahe legt (aber nicht gebietet). Diese Weisungen werden in der Regel als natürliche Gesetze bezeichnet – eine Bezeichnung, die Hobbes zwar für unzutreffend hält, jedoch der Einfachheit halber übernimmt. Ihnen entsprechen die Kultivierung von Tugenden oder das Unterlassen von Lastern. Daher ist die wahre Moralphilosophie die Wissenschaft von jenen Haltungen und Handlungen, die dem Frieden und der Sicherheit dienen. „Gut“ und „böse“ sind Wörter, deren Bedeutung nur im gesellschaftlichen Kontext festgesetzt werden kann. Es besteht auf keinen Fall eine moralische Verpflichtung für die Individuen, wie vor allem Taylor und später Warrender behauptet haben (vgl. Taylor 1938 und Warrender 1957). Der Begriff der Verpflichtung besitzt bei Hobbes eine ganz andere Bedeutung und wird prudentiell begründet (vgl. Barry 1968 und Ludwig 1998, 235). Eine wichtige Rolle spielen in dieser Hinsicht die Erziehung der Bürger und die Religion. Beide werden deshalb von Hobbes unter die strenge Kontrolle des Souveräns gestellt. Auch hier rückt Hobbes in die Nähe der republikanischen Tradition.

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3. KAPITEL

3.1. Der historische Hintergrund Bei kaum einem zweiten politischen Denker der Moderne ist der Zusammenhang zwischen historischen Ereignissen und Theorie so stark betont worden wie bei Hobbes. Der Einfluss der englischen Revolution von 1640 auf ihn ist zu Recht zum locus communis der Historiographie geworden. Und zu Recht wird auch sowohl auf die Religionskriege, die während seines Lebens in Europa wüteten,9 als auch auf die Entstehung der absolutistischen Monarchie in Frankreich hingewiesen, deren Augenzeuge Hobbes gewesen ist (Koselleck 1973, 18). Diese historischen Ereignisse würden den weiteren Umstand erklären, dass Hobbes im Leviathan ein politisches Modell anbietet, das sowohl politisch als auch religiös verursachte Bürgerkriege vermeiden sollte, und zwar mittels einer absoluten Macht. Daher ist die Tatsache, dass er der Frage der Religion weit mehr als die Hälfte des Buches widmet, nicht länger verwunderlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass Hobbes ohne den Bürgerkrieg oder die Religionskonflikte Europas weder De Cive noch den Leviathan geschrieben hätte. Sein Interesse für die politische Philosophie geht auf frühere Zeiten zurück, und sein Vorhaben, ein philosophisches System, das Physik, Anthropologie und Politik mit einspannt, steht lange vor den turbulenten Ereignissen von 1640 fest. Sie führen nur zu einer Veränderung in der Reihenfolge, in der seine Studien über die drei Themen erscheinen sollten, so dass das De Cive, das der Politik gewidmet ist, noch vor dem De Corpore und dem De Homine herauskommt, und zwar im politisch und geschichtlich entscheidenden Jahr 1642. Natürlich ist in diesem Kontext die Frage interessant, ob Hobbes’ politische Theorie anders ausgesehen hätte (und ob er den Leviathan überhaupt verfasst hätte), hätte die Revolution nicht stattgefunden – sie ist jedoch, wie viele ähnliche Fragen, auch müßig. Interessanter und gerechtfertigter sind zwei weitere Fragen. Erstens: Welche Position nimmt Hobbes in Bezug auf die zu seiner Zeit herrschenden politischen Theorien ein? Und zweitens: Inwieweit haben die historischen Ereignisse seine Theorie auch tatsächlich geprägt? Zunächst kann festgestellt werden, dass Hobbes’ Werk sicherlich als Beitrag zur Debatte verstanden werden muss, die von den stürmischen Zeiten des englischen Bürgerkrieges und der republikanischen Periode ausgelöst wurde – eine Debatte, die weniger ein theoretisches als vielmehr ein politisches Interesse verfolgte, obwohl Hobbes selbst immer große Vorsicht ausgeübt hat, um nicht einer der streitenden Parteien zugerechnet zu werden.10 Man könnte allerdings versucht sein, Hobbes doch der Stuart-Partei nicht nur wegen seiner Bevorzugung der Monarchie als Regierungsform im allgemeinen zuzurechnen, sondern auch weil er im Leviathan eine eindeutige Widerlegung der Argumente durchführt, die während des Prozesses an Karl I. von der Anklageseite benutzt worden waren, so dass er prima facie eine Verteidigung des englischen Königs a posteriori vorzunehmen scheint.

9 Zur Erinnerung: Zwischen 1618 und 1648 verwüstet der Dreißigjährige Krieg weite Teile von Mitteleuropa, insbesondere Deutschlands, und zieht auch Regionen von Südeuropa in Mitleidenschaft. 10 Zu dieser Debatte, insbes. zu den Reaktionen zur Veröffentlichung des Leviathan in England vgl. Rogers 1995.

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Als es im Januar 1649 zum Prozess gegen „Charles Stuart, King of England“ kam, wurden dem König mehrere Verbrechen gegen das englische Volk angelastet; vor allem wurde ihm jedoch vorgeworfen, den Bürgerkrieg verursacht zu haben. In der Anklage, die in der ersten öffentlichen Sitzung vom Solicitor General und Attorny for the Common-Wealth Cook gelesen wurde, warf man dem König vor, jenen Pakt mit den Untertanen gebrochen zu haben, durch den ihn diese als König von England akzeptiert hatten, und mit dem er sich verpflichtet hatte, die Macht, die ihm das Volk anvertraute, zugunsten des Volkes selbst zu benutzen.11 Karl hätte hingegen durch sein Verhalten den Tod zahlreicher Untertanen verursacht und daher seine höchste Verpflichtung ihnen gegenüber, nämlich die Garantie ihrer persönlichen Sicherheit, verletzt. Ihm wurde weiter der Versuch unterstellt, eine absolute personelle Herrschaft zu errichten. Diese Verbrechen wurden unter der Kategorie „Hochverrat“ zusammengefasst, da sie alle der ursprünglichen Absicht widersprachen, mit der das englische Volk Charles Stuart die Macht vertraglich anvertraut hatte. Dabei handelte es sich in der Meinung der Anklage um eine eingeschränkte Macht, nämlich um die Befugnis, über das Land gemäß den existierenden Gesetzen und zum ausschließlichen Guten und Wohlergehen der Untertanen zu herrschen. Die Antwort Karls I. bestand in der Bestreitung der Autorität des Gerichtes und des Parlamentes, über seine Person und sein Vorgehen zu urteilen. Als der Vorsitzende auf die Autorität der Commons hinwies, die im Parlament im Namen des englischen Volkes saßen, das Karl als König gewählt hatte, bestritt Karl weiter, dass England je eine Wahlmonarchie gewesen sei, und betont, dass seine Autorität auf dem Wort Gottes und auf den alten Gesetzen und Verfassungen basierte. Die eigentlichen Anklagepunkte (allen voran Hochverrat) wurden daher kaum berührt; der Streit blieb die ganze Zeit an der Frage hängen, ob das Parlament das Recht hatte, über den König zu urteilen. Erst am Ende, als er merkte, dass die Richter von solchen Legitimationsskrupeln keineswegs berührt waren, versuchte der König verzweifelt, sich zu verteidigen: zu spät, da das Gericht schon zu einem Urteil gekommen war. Auch bei diesem letzten Versuch bestand jedoch Karls Argument darin, die Legitimation des ganzen Prozesses anzuzweifeln, da er von keinem Vertrag mit dem Volke, durch den dieses ihm die Souveränität übertragen hätte, wissen wollte. Vielmehr habe er seine souveräne Macht direkt von Gott bekommen. Die vom Gerichtsvorsitzenden vorgetragenen Argumente zugunsten der Rechte des Parlamentes zitiert Hobbes im Leviathan teilweise wörtlich, um sie dann zu widerlegen.12 Der Souverän ist durch keinen Vertrag mit den Untertanen verpflichtet (137 und passim), sondern nur vor Gott und seinem Gewissen verantwortlich. Er ist der einzige Souverän und erkennt keine andere Macht an – weder die von Individuen (z. B von Adligen), noch die von Versammlungen (wie das englische Parlament), noch die von Tradition und Gebräuchen (wie z. B. die mittelalterlichen Privilegien, einschließlich der 11 Die Akten des Prozesses wurden kurz nach demselben veröffentlicht. Ein Faksimile in: N. N. 1966. Vgl. auch Blitzer 1963. 12 Im Behemoth werden dementsprechend die philosophischen Argumente des Leviathan auf die konkrete geschichtliche Lage Englands angewandt.

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Magna Charta). Er darf alles unternehmen, was er für die Erhaltung des Staates für richtig hält – und er darf dabei in erster Linie Steuern erheben (141 und 252), um eine Armee zur Sicherung des inneren und äußeren Friedens zu unterhalten (das war einer der wichtigsten Streitpunkte zwischen Karl I. und dem Parlament gewesen). Er kann kein Unrecht begehen, denn durch den Vertrag haben sich die Untertanen verpflichtet, seinen Willen als den eigenen anzuerkennen, und volenti non fit iniuria (139). Niemand hat daher das Recht, seinem Willen zu trotzen, und niemand hat schließlich das Recht, den Souverän zu beurteilen und über ihn zu richten, wie schon Karl I. behauptet hatte (a. a. O.). Hobbes erhob sich jedoch über die anderen Teilnehmer an der Debatte über die Verantwortung des Königs vor seinen Untertanen dadurch, dass er nicht nur Argumente für die eine Position (z. B. für die königliche Partei) anführte, sondern eine vollständige politische Theorie anbot, die über den Alltag der Kämpfe und Streite um das englische Königreich hinausging – und die ihm schließlich sogar die Feindschaft der Monarchisten um den exilierten Karl II. einbringen sollte. Das geschah nicht so sehr, weil Hobbes die göttliche Herkunft der königlichen Souveränität (d. h. eines der Hauptargumente der Stuart-Parteigänger gegen das Parlament) vollkommen beiseite ließ, sondern weil er in einer weitaus konkreteren Frage eine Position einnahm, die viele Monarchisten als verräterisch ansahen. Hobbes vertrat nämlich im Leviathan die These, jedermann habe das Recht, nach dem Fall des Souveräns sich mit dem „Usurpator“ zurechtzufinden, ja sogar die Verpflichtung, einen Treue-Eid dem neuen Herrscher gegenüber zu schwören, da er nun für die Sicherheit der Untertanen sorge13 – eine Position, die ihm die Rückkehr nach England erlaubte, und für die ihm auch vom zurückgekehrten Karl II. (nun selbst neuer Machthaber auf der Suche nach Argumenten, um die Loyalität der Republikaner zu gewinnen) vergeben wurde (vgl. dazu „Rückblick und Schluss“ des Leviathan).14 Die eigentlichen Gegner von Hobbes sind jedoch weniger die Republikaner, als die Vertreter einer Auffassung der souveränen Macht, die diese als eine durch Verträge, besondere Rechte und Privilegien eingeschränkte Gewalt ansahen. War die konkrete Ursache des englischen Bürgerkrieges der Kampf zwischen König und Parlament um Kompetenzen im Steuergebiet oder um Fragen der Kriegserklärung und -führung, so lag die theoretische Ursache jenes Kampfes in der mittelalterlichen Vertragstheorie, besonders in ihren englischen Varianten.15 Schon Henry Bracton (1212-1268) hatte bei seiner 13 Quentin Skinner geht so weit zu behaupten, dass „one of Hobbes’ main aims in Leviathan was to contribute to precisely this debate about the rights of de facto power at this stage of the English revolution“, und zwar zugunsten der republikanischer Regierung (Skinner 1972, 81). Diese hatte am 2. Januar 1650 ein Gesetz erlassen, das die Staatsbürger zu einem Gehorsam und Loyalität erklärenden Gelöbnis verpflichtete („I ... do declare and promise, to be true and faithful to the Commonwealth of England, as it is now established“, zit. in Metzger 1991, 136). 14 Zur entstandenen Feindschaft seitens des Exilhofs vgl. Metzger 1991, Kapitel IV. Richard Tuck führt die Anfeindungen von Leuten um dem exilierten Karl II. eher auf Hobbes’ Position bezüglich religiöser und kirchlicher Fragen zurück (Tuck 1989). 15 Die historischen Daten über die Debatte entnehme ich meistens Fioravanti 1999, 44 ff.

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Sammlung der Gesetze und gewohnheitsrechtlichen Bestimmungen Englands die Idee einer Verpflichtung des Königs der ganzen politischen Gemeinschaft gegenüber (die sog. sponsio) ins Zentrum seines Kommentars rücken lassen. In den darauf folgenden Jahrhunderten hatte sich diese Idee in den Werken von John Fortescue (1394 – 1476), Thomas Smith (1513 – 1577) und Edward Coke (1552 – 1634)16 sowie in den Stellungnahmen wichtiger Juristen wie James Withelocke (1570 – 1632)17 weiterentwickelt. Unmittelbar vor der Revolution – und schon während des Konfliktes zwischen König und Parlament – erschienen dann zahlreiche Veröffentlichungen, die den gemischten Charakter der englischen Verfassung betonten (etwa Philip Huntons Treatise of Monarchie oder die anonym erschienene, einflussreiche Abhandlung Touching the Fundamental Laws, or Politique Constitution of this Kingdom, beide veröffentlicht 1643). Die grundlegende Idee aller Autoren bzw. Werke ist der mittelalterliche Gedanke einer Mischverfassung, in der die Gewalt unter verschiedenen Instanzen verteilt wird, die irgendwie gleichberechtigt sind. Derart ist die königliche Macht keineswegs ursprünglich, sondern übertragen: Der König bekommt seine Autorität entweder von Gott oder direkt vom Volk – in beiden Fällen jedoch mit der Aufgabe, seine Macht zum Wohl des Volkes einzusetzen. Es besteht daher eine Verpflichtung des Königs gegenüber der politischen Gemeinschaft, über die er zum Regieren berufen wird. Pflichten des Monarchen und Rechte des Volkes bzw. der verschiedenen Klassen (Adel, Klerus, einfaches Volk) werden dann entweder durch geschriebene Verträge (etwa die Magna Charta), oder durch Gewohnheit („ancient costums“ in den Worten Cokes) festgelegt. Wenn Hobbes gegen eine solche Ansicht vorgeht, so greift er die mittelalterliche Auffassung von Verfassung an und ersetzt sie mit einer, die wir zweifelsohne als „modern“ bezeichnen können. Schon Jean Bodin hatte behauptet, dass die souveräne Macht absolut und ursprünglich ist (also nicht von einer anderen Macht – Gott oder Volk – übertragen). Diese Macht wird vom Souverän nicht mit anderen Gewalten geteilt und untersteht keiner Einschränkung (mit Ausnahme von individuellen Rechten wie Leben, Eigentum usw.): Sie ist unteilbar. Die bloße Idee einer Mischverfassung ist daher sinnlos, wenn auch die konkrete Souveränitätsausübung die Existenz von mehreren Instanzen vorsehen kann (vgl. Bodin 1976). Hobbes übernimmt die Position von Bodin und führt dessen Gedankengang weiter: Die Idee einer Mischverfassung ist nicht nur sinnlos, sondern gefährlich, weil sie die Macht unter mehreren Personen (im rechtlichen Sinn) verteilt und den Staat der Mei16 In seinem De laudibus legum Angliae (1468 – 1471) behauptete Fortescue, England sei kein einfacher dominium regale, sondern ein dominium politicum et regale, d. h. ein Regime, in dem königliche Macht und politische Gemeinschaft gleichursprünglich und gleichberechtigt sind. Smith verfasste sein De Republica Anglorum 1565 (das Werk wurde jedoch erst 1583 veröffentlicht) und vertrat dort die Meinung, die höchste und absolute Macht liege beim Parlament, nicht beim König. In seinen Werken benutzt Coke oftmals den Ausdruck „ancient common laws and customs of the realm“, um die Prärogative des Parlaments gegen den König zu verteidigen. 17 Am 29. Juni 1610 verurteilte Withelocke im House of Commons den Versuch des Königs, Steuern ohne die Zustimmung des Parlamentes zu erheben, und bezichtigte den Monarchen, das Gesetz Englands umstürzen zu wollen, da er gegen die Verfassung (constitution) handele.

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nungsverschiedenheit (die eine der Hauptursachen des Bürgerkrieges ist: vgl. unten 3.8) überlässt (252). Die Lehre, dass die englische Verfassung eine gemischte ist, hat schließlich – nach Hobbes’ Meinung – zu den Turbulenzen des englischen Bürgerkrieges geführt. Die souveräne Macht muss daher als unteilbar gedacht und einem einzelnen Subjekt zugesprochen werden, wie schon Bodin meinte. Sie darf darüber hinaus ihren Ursprung nicht in der Tradition bzw. in mehreren partiellen Verträgen zwischen dem Souverän und den Untertanen (wie die oben erwähnten Autoren meinten) finden, sondern basiert auf einem einzelnen Vertrag, der diese Macht auf einmal und bedingungslos konstituiert (was natürlich nicht bedeutet, dass sie keine Grenze bzw. kein zeitliches Ende kennen wird; das ist jedoch eine rein empirische Frage und hängt mit der konkreten Fähigkeit des Souveräns zusammen, die eigene Macht aufrechtzuerhalten). Gegen die Idee einer Verfassung als historisches Produkt eines langfristigen Prozesses und als komplexe rechtliche Struktur, die aus dem Zusammenspiel von Tradition, Gewohnheitsrecht, einzelnen Verträgen, naturrechtlichen Bestimmungen usw. besteht, führt Hobbes die Idee einer Verfassung als Ergebnis eines einzelnen Akts des Willens der Individuen ein (dabei distanziert er sich von Bodin, der die souveräne Macht als ursprünglich dachte). Durch den Gesellschaftsvertrag stiften die Individuen jene absolute souveräne Macht, die über sie regieren wird. Im Gegensatz zu den bisherigen sowie zu den meisten späteren Theorien des Gesellschaftsvertrages geht bei Hobbes die Errichtung der politischen Gemeinschaft der Einsetzung des Souveräns nicht voraus. Die Individuen, nicht das Volk, schaffen durch den Autorisierungsvertrag die souveräne Macht (vgl. unten 3.9); erst der Souverän macht aus der Masse der Individuen, aus der moltitudo, eine Einheit, ein Volk: „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht.“ (125) Ohne den Souverän gibt es also keine politische Gemeinschaft. Diese wird durch den Autorisierungsvertrag definiert, auf die sich die einzelnen Individuen einigen. Im Gegensatz, sowohl zu den mittelalterlichen als auch zu den späteren romantischen Autoren (und auch zu Rousseau) gibt es nach Hobbes’ Meinung keine Gemeinschaft vor der Errichtung gemeinsamer politischer Institutionen. Eine Menge wird erst dann zu einem Volk, wenn sich die Individuen eine Verfassung geben. Es gibt daher keine societas vor der civitas, keine zivile Gesellschaft vor dem Staat. Darin liegt eine überraschende Ähnlichkeit der Position von Hobbes mit derjenigen eines Aristoteles – allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass im Modell des Ersteren die Individuen eine weit wichtigere Rolle als in dem des Letzteren spielen (zu weiteren Unterschieden und Ähnlichkeiten von Hobbes und Aristoteles vgl. unten 3.2 und 3.12). Die societas als zivile Gesellschaft gibt es bei Hobbes nur als Ergebnis des Gedankenexperiments des Naturzustandes (sie resultiert aus dem Abhandenkommen der souveränen Macht in der civitas), oder sie besitzt als historisches Phänomen keine besondere Relevanz: Institutionen wie Familie, Eigentum usw. sind vor der Errichtung des Leviathans so gut wie leere (da unstete und unsichere) Gebilde. Spielt also die Geschichte Englands in den turbulenten Jahren des Konfliktes zwischen König und Parlament eine bedeutende Rolle in Hobbes’ Denken, so bildet in solcher Hinsicht der Leviathan eine autonome politische Theorie, die über die konkrete

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Debatte des Tages hinausgeht und zu einer völlig neuartigen Auffassung von Begriffen wie „Souverän/Souveränität“, „Volk“, „Verfassung“ und „politischer Gemeinschaft“ gelangt. Das befreit natürlich Hobbes’ Werk nicht vom Einfluss der historischen Ereignisse: Ich habe schon auf die mehr oder weniger verdeckten Widerlegungen der Argumente des parlamentarischen Gerichthofes hingewiesen, aber die Einflüsse gehen noch weiter und reichen bis hin zur Theorie selbst. Das wird anhand der folgenden Momenten besonders deutlich: 1) Bei Hobbes’ Auffassung des Naturzustandes, der nicht so sehr einem reinen vorgesellschaftlichen Urzustand als vielmehr einem Bürgerkriegszustand entspricht, bei dem die Gesellschaft mit allen ihren sozialen Beziehungen (Familie, Eigentum usw.) schon konstituiert, die souveräne Macht aber abhanden gekommen ist; 2) bei seiner Darstellung der verschiedenen Lehren, die zum Tode des Staates führen, Lehren, die den Positionen der Gegner von Karl I. gleichkommen; 3) bei seiner Charakterisierung der Menschentypen, die den Frieden ständig bedrohen, und die der Beschreibung der Gegner von Stuart entspricht, die er auch im Behemoth anbietet (zu diesen zwei Punkten vgl. unten 3.8); 4) bei der Behauptung der Notwendigkeit einer vom Souverän abhängigen Kirche, die offensichtlich als Folge seines Urteils über die geschichtlichen Ursachen des englischen Bürgerkrieges angesehen werden kann. 5) Aber das Moment von Hobbes’ politischem Denken, das am meisten durch die historischen Ereignisse geprägt ist, ist m. E. seine Idee, dass die Menschen ständig das Neue suchen und jede tradierte Ordnung kaum ertragen („Die Menschen neigen auf Grund ihrer natürlichen Beschaffenheit zu Neuerungen“, 249). Das ist eine Behauptung, die fast alleine in der Geschichte der politischen Philosophie dasteht, denn die meisten Denker (beginnend mit Machiavelli) meinten, eher das Umgekehrte feststellen und häufig beklagen zu müssen. Hobbes’ abweichende Position fällt weniger überraschend aus, wenn sie im Lichte der politischen Turbulenzen gelesen wird, bei denen er Augenzeuge gewesen war (und auch im Lichte des historischen Urteils, das er – besonders im Behemoth – darüber fällte). Geschichtliche Erfahrungen haben also sicherlich Hobbes’ Theorie geprägt. Ich glaube jedoch, dass sie dafür nicht entscheidend waren: Hobbes’ Argument würde funktionieren, auch wenn man ihm die offensichtlichen historischen Einflüsse wegnehmen würde, und wenn man seinen Naturzustand als eine reine Hypothese betrachten würde, die aus einer naturalistischen Anthropologie resultiert (ob das Argument dann auch standhalten würde, ist eine andere Frage).

3.2. Hobbes’ Menschenbild zwischen Natur und Geschichte Ein weiterer locus communis der Hobbes-Interpretation besteht in der engen Verknüpfung seiner Naturphilosophie mit seiner Staatstheorie (z. B. Spragens 1973 und Kersting 1992). Hobbes selbst war offensichtlich von der Notwendigkeit überzeugt, seine politische

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Philosophie durch dieselbe Methode wie die Naturwissenschaft zu begründen.18 Nach der erwähnten traditionellen Interpretation erweist er sich damit als Vertreter der neuen Philosophie, die aus der wissenschaftlichen Revolution eines Bacon oder Galilei entstanden war (nicht zufällig hatte er persönliche Kontakte zu beiden Vätern der modernen Naturwissenschaften).19 Eine solche Lesart bedarf jedoch mindestens einer Einschränkung in Bezug auf die tatsächliche Neuigkeit dieser „wissenschaftlichen“ Haltung. Die Einheit der Wissenschaften war schon von Aristoteles und seinen Nachfolgern propagiert worden. Auch der Stagirit meinte, die Sphäre der Politik und die menschliche Natur gehorchen irgendwie denselben Gesetzen. Dabei harmonisierte er sie so weit, dass er den Menschen eine politische Natur zuschrieb: Das politische Leben entspreche daher einem natürlichen Bedürfnis der Menschen, ja: Es stelle gar die Umwelt dar, in der diese ihren telos als Gattung realisieren können (Aristoteles, Politik, I 2, 1253a1 ff.). Hobbes hält hingegen das Reich der Natur und die künstliche Sphäre des Staates strikt auseinander. Und in seiner Tafel der Wissenschaften nimmt er eine erste, wesentliche Unterscheidung zwischen Naturphilosophie einerseits und Politik und Staatsphilosophie andererseits vor. Diese decken somit zwei unterschiedliche Felder der Wirklichkeit, nämlich „die Folgen aus den Akzidenzien natürlicher Körper“ bzw. „die Folgen aus den Akzidenzien politischer Körper“ (65). Was beide Bereiche der Wissenschaft miteinander verbinden sollte, ist nicht, wie bei Aristoteles, ihr Gegenstand, sondern die Methode. Andererseits stellt Hobbes eine weitgehende Analogie zwischen Menschen und Staaten her: Beide haben einen Körper, einen Willen, Nerven, Begierde usw. (vgl. die Einleitung zum Leviathan). Und die Beziehung zwischen dem Kunstwerk Staat und dem Reich der Natur geht auch über solch einfache Analogie hinaus. Der Souverän, der dem body politic, dem Staat, durch seine Entscheidungen und Gesetze Willen und Vernunft, kurz: eine Seele leiht, folgt als natürliches Individuum unvermeidlich seiner Natur (das gilt selbstverständlich auch dann, wenn der Souverän eine Gruppe von natürlichen Individuen ist). Das natürliche Moment scheint daher mit dem künstlichen untrennbar verbunden, wenn auch auf indirekte Weise. Der Staat ist von Menschen errichtet, bewohnt und regiert – Menschen, die alle (Untertanen wie Souverän) denselben natürlichen Trieben gehorchen. Möge das große Kunstwerk Leviathan noch so gut und sorgfältig zusammengesetzt sein, weist er doch immer diese Abhängigkeit von der Natur auf. Die Tatsache, dass Hobbes seine Staatstheorie more geometrico aufbaut, bedeutet nicht, dass er deswegen das Irrationale aus seiner Philosophie verbannt hat. Er versucht hingegen, durch seine wissenschaftliche Methode das Irrationale auf ein messbares, daher vorsehbares Phänomen zu reduzieren. Wenn die Menschen immer denselben Leidenschaften unvermeidlich unterliegen, dann sollte es möglich sein, die Folgen dieser Abhängigkeit zu beschreiben und abzuschätzen, und daher entsprechende Gegenmaß18 „Hobbes untersucht die Mechanik der gesellschaftlichen Beziehungen wie Galilei die der natürlichen Bewegungen.“ (Habermas 1978, 75) Habermas kommt zum Schluss, „die Naturrechtskonstruktion“ lasse sich als eine „allgemeine Physik der Vergesellschaftung verstehen“. (A. a. O.) 19 Hobbes übersetzte ins Lateinische einige der Essays von Bacon und diente ihm als eine Art Sekretär, als er Bacons Bemerkungen während gemeinsamer Spaziergänge niederschrieb (Aubrey 2000, 426 f.). Galilei traf er in Arcetri während seiner Italienreise 1636.

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nahmen zu treffen. Dabei bedient er sich einer Methode, die zur Darlegung der kausalen Kette der Beweggründe menschlichen Handelns dient – eine Kette, die vom ursprünglichsten und unmittelbarsten Trieb bis hin zum raffiniertesten Kalkül, dessen unsere Vernunft fähig ist, reicht. Hobbes’ mechanistische Handlungstheorie dient seinem Hauptziel, da sie ihm erlaubt, die Folgen menschlicher Handlungen in einem gewissen Maß vorauszusehen. Sicher: nur in gewissem Maß und nicht ganz genau, da der Ausgang der kausalen Kette der Beweggründe je nach dem individuellen Charakter und je nach den verschiedenen Situationen offen ist. Die Menschen unterscheiden sich nämlich durch ihre jeweiligen Persönlichkeiten voneinander, und sie sind nicht alle von negativen Leidenschaften dominiert. Alle Menschen jedoch, auch die mit dem besten Charakter, können unter Umständen von ihren negativen Leidenschaften gesteuert werden. Diese Möglichkeit allein reicht aus, um den Zustand, in dem die Willkür der Menschen keine künstlichen Grenzen kennt, als einen Zustand möglicher Kriege aller gegen alle zu bezeichnen. Durch den wissenschaftlichen Ansatz erhoffte sich Hobbes eine Lösung für die Probleme, welche die menschliche Natur verursacht – eine Lösung, die er bekanntlich mit der Einsetzung eines Souveräns identifiziert, der mit absoluter Macht ausgestattet ist (seine Theorie ist zwar eine Legitimationstheorie staatlicher Macht, aber in dem Sinne, dass sie die Legitimation der Absolutheit dieser Macht anbietet). Diese Lösung ist jedoch nicht optimal, da sie nicht imstande ist, die negativen Auswirkungen der menschlichen Natur auf das friedliche Zusammenleben im Staat vollkommen zu neutralisieren. Die absolute Macht des Souveräns kennt in der menschlichen Natur ihre Grenze, da die Menschen stets von denselben Leidenschaften unvermeidlich bestimmt sind. Möge der Souverän noch so gut und pflichtbewusst sein, so kann er doch unter Umständen die Kontrolle über die Untertanen verlieren, wie das Beispiel von Karl I. zeigte (vgl. unten 3.12). Die Gefahr des Rückfalls in den Naturzustand ist immer vorhanden, denn die Natur der Menschen ist unveränderlich und diese sind unverbesserlich. Die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur ist ein Postulat in Hobbes’ Argument. Sie bedeutet keineswegs, dass die Geschichte keine Rolle beim Aufbau des Hobbesianischen Modells spielt. Die Geschichte taucht immer wieder auf: auf direkte Weise, wenn Hobbes von der Souveränität durch Aneignung oder von den Bündnissen spricht, welche die Menschen im Naturzustand beschließen können, und die offensichtlich eine vorstaatliche Situation beschreiben, die der traditionellen Vorstellung von der Entstehung des Staates als Krönung eines Reihe von menschlichen Zusammenschlüssen (Familien, Clans, usw.) entspricht; und auf indirekte Weise, wenn er seinem Naturzustand die Züge eines Bürgerkrieges verleiht. Der Naturzustand ist kein soziales Vakuum, in dem Individuen aneinanderstoßen – als ob sie aus dem Nichts entstandene und durch irgendeine mysteriöse Kraft (etwa Epikurs klinamen) bewegte Monaden wären. Seine Bewohner sind Mitglieder einer Gesellschaft, in der soziale Bündnisse (Familie, Eigentum) schon existieren, und in der die menschliche Interaktion hochentwickelte, raffinierte Formen (Ehre, gesellschaftliche Hochachtung, soziale Macht) angenommen hat. Was diesen Zustand von unserem alltäglichen Leben unterscheidet, ist nur die Abwesenheit der staatlichen Macht – und das ist ein entscheidendes Moment, denn ohne den Schutz jener Macht werden die gesellschaftlichen Institutionen in ihrem tiefsten Wesen durch die ständig

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möglichen Ausbrüche nackter Gewalt bedroht. In einer solchen Gesellschaft sind alle menschlichen Bündnisse nur ein Schatten von dem, was sie in der staatlich organisierten Gemeinschaft sind. Aber auch wenn Hobbes bewusst ist, dass es so etwas wie eine politische Geschichte der Menschheit gibt, hält er an seinem Ausgangspunkt fest, nach dem die Natur der Menschen unveränderlich ist (die politische Philosophie eines Rousseau oder Kant unterscheidet sich von derjenigen Hobbes’ vor allem in diesem Punkt). Erst die Postulierung dieser Unveränderlichkeit macht die von ihm angebotene Lösung (ein mit absoluter Macht ausgestatteter Souverän als Friedensstifter) logisch notwendig und daher sein System kohärent und – entsprechend Hobbes’ Auffassung von Wissenschaft – wissenschaftlich. Aber eben das Postulat schwächt unvermeidlich die Lösung, denn wenn die menschliche Natur unverbesserlich und der Rückfall in den Naturzustand eine ständige Bedrohung ist, dann ist auch die absolute Macht des Leviathans eine unzureichende Antwort. Deshalb muss Hobbes der institutionellen Lösung, die aus ihm einen genuin modernen politischen Denker macht, eine mehr traditionelle zur Seite stellen: Die Individuen selbst sollen das möglich machen, was der Souverän allein nicht imstande ist durchzusetzen, nämlich Frieden und Sicherheit. Hobbes sieht sich gezwungen, von den Individuen gewisse politische Tugenden zu fordern. Damit rückt sein Modell in die Nähe der republikanischen Tradition eines Cicero oder Machiavelli (vgl. unten 3.15).

3.3. Rationalität als Rechnungsfähigkeit Es wird häufig angenommen, dass Hobbes die Errichtung des Staates aufgrund eines Kalküls rechtfertigt, bei dem sich zeigen sollte, dass ein derartiger Schritt im notwendigen Interesse aller liegt. Solcher Interpretation entspricht Hobbes’ Absicht und Argumentation nicht, wie wir sehen werden (vgl. unten 3.5 und 3.7). Die Ursache dieser Missdeutung liegt m. E. in einem unzutreffenden Verständnis von Hobbes’ Rationalitätsbegriff: Für Hobbes ist Vernunft (reason) immer kalkulierende Vernunft. Es muss dabei beachtet werden, dass das englische reason sowohl „Vernunft“ als auch „Grund“ bedeutet. Rationalität hat somit immer implizit mit der Angabe von Gründen zu tun. Wer eine Tatsache rational erklären will, geht also auf ihre Gründe ein, und das bedeutet bei Hobbes, dass man auf ihre Ursachen eingeht, denn im mechanistisch-kausalen Modell von Hobbes sind Grund und Ursache identisch. Im Fall von Handlungen sind die Ursachen Motive. Eine rationale Erklärung des menschlichen Handelns besteht demnach in der Angabe von Handlungsmotiven. Es handelt derjenige vernünftig, der imstande ist, die Motive seiner Handlungen darzulegen, d. h.: sprachlich zu beschreiben. Vernunft und Sprache sind also untrennbar verbunden: Jene artikuliert sich nur durch diese, und „deshalb“, erklärt Hobbes, „besitzen Kinder überhaupt keine Vernunft, solange sie nicht sprechen können“ (36). Wer sich also mit Hobbes’ Rationalitätsbegriff beschäftigen will, sollte seinen Sprachbegriff genauer betrachten: Die Sprache wird gebraucht, um das „sich im Geiste abspielende Denken“ wörtlich zu artikulieren, bzw. um „die Folge unserer Gedanken in eine Folge von Wörtern zu übertragen“. Die Übertragung von Gedanken in Wörter verfolgt zwei Hauptzwecke (25):

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Sie dient zum inneren und zum äußeren Gebrauch. Im ersten Fall brauchen wir die Namen als „Merk- oder Kennzeichnen“ (marks) der Erinnerung. Im zweiten Fall benutzen wir die Namen als Zeichen (signs), um uns mit den anderen sprechenden Subjekten zu verstehen, und um ihnen unsere Gedanke mitzuteilen (Hobbes unterscheidet dabei vier „besonderen Benutzungsarten“: das Erwerben von Fertigkeiten, die gegenseitige Beratung und Belehrung, die Bekanntmachung unseres Willens und unserer Absicht – wie beim Abschließen von Verträgen20 – und das durch Wortspiele entstehende Vergnügen). Sprache beruht also auf Konvention: Sie ist in erster Linie Namengebung. Sie ist insofern ein soziales Phänomen, da man sich auf allgemeine Namen (d. h. Namen, die wir mehreren Dingen „wegen ihrer Ähnlichkeit in einer Qualität“ geben: 26), „zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken“, sprich: zu den beiden Hauptzwecken der Sprache, einigt (32). Hobbes lässt zwar die (eher Wittgensteinsche) Frage offen, ob ich zum Zweck der inneren Kennzeichnung eine Privatsprache entwickeln kann; zweifellos kann ich jedoch beim äußeren Gebrauch der Sprache nur eine gemeinsame, konventionelle Sprache benutzen, ohne die kein Verständnis möglich wäre. Vernunft – und ich komme zu Hobbes’ Rationalitätsbegriff zurück – ist nun „nichts anderes als Rechnen, das heißt Addieren und Subtrahieren, mit den Folgen aus den allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichen und Anzeigen unserer Gedanken geeinigt hat“ (32). Dabei kann man natürlich auch Fehler begehen, genau wie in der Arithmetik, in der nicht nur „Ungeübte irren müssen“, sondern „selbst Professoren sich oftmals täuschen und falsch rechnen können“ (33). Wahrheit und Falschheit resultieren also nur aus dem richtigen Gebrauch der Vernunft und sind deswegen „Attribute der Sprache, nicht von Dingen. Und wo es keine Sprache gibt, da gibt es weder Wahrheit noch Falschheit“ (27 f.). Wahrheit besteht danach „in der richtigen Anordnung der Namen bei unseren Behauptungen“ (28). Daher liegt für Hobbes, der hier Wittgenstein und der sprachanalytischen Philosophie vorausgeht, „der Anfang aller Wissenschaft“ in der genauen Definition der Namen, um einen falschen Gebrauch derselben nicht von vornherein zu machen (28).21 Wird die Sprache richtig benutzt und wird weiter die richtige Verkettung von Dingen (d. h.: von Namen) erkannt, dann hat man Wissenschaft, die also in der „Kenntnis dessen, was aus einer Tatsache für eine andere folgt und wie die eine von einer anderen abhängt“, besteht (36). Wissenschaft ist somit ein Produkt der Vernunft, und zwar eines richtigen Rechnens. Allerdings ist ein richtiger Gebrauch der Vernunft nicht immer garantiert – im Gegenteil: Die Vernunft ist „weder angeboren“, wie die Empfindung oder das Gedächtnis, „noch durch bloße Erfahrung erworben“, wie die Klugheit, sondern wird „durch Fleiß erlangt“ (36). Die Möglichkeit, die Wahrheit durch richtiges Kalkül zu erreichen, ist also zwar von Natur aus allen Menschen gleich gegeben, sie müssen jedoch lernen, von dieser Fähigkeit Gebrauch zu machen. Deswegen sagt Hobbes, dass „es keine von der Natur eingesetzte rechte Vernunft gibt“ (33). Das bedeutet konkret, dass 20 Daher wird in der Tafel von Kapitel 9 die Wissenschaft von Recht und Unrecht als Wissenschaft der Folgen aus der Sprache durch Vertrag definiert (65). 21 Hobbes erwähnt mehrere mögliche Ursachen für einen falschen Gebrauch von Namen und daher für Irrtümer (35 f.).

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die meisten Menschen immer wieder einen falschen Gebrauch der Vernunft machen werden, sich folglich bei ihren Kalkülen täuschen und in Irrtümer verwickeln werden. Und das betrifft nicht nur die „Ungeübten“, sondern auch die Weisen (genau so, wie selbst Arithmetikprofessoren Fehler machen). Das bedeutet wiederum nicht, dass ein richtiger Gebrauch der Vernunft unmöglich ist. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Menschen weder ihre eigenen Interessen noch ihre momentanen Leidenschaften als Vernunft ausgeben (vgl. 33; vgl. auch unten 3.8). Die Menschen müssen – kurz – von der Situiertheit ihrer eigenen Lage abstrahieren, um eine neutrale Perspektive einzunehmen, aus der sich die Tatsachen objektiv beurteilen lassen. Deswegen bietet uns Hobbes ein Gedankenexperiment an, anhand dessen sich die Individuen für die Einsetzung einer absoluten souveränen Macht entscheiden sollten.

3.4. Das Naturzustandsargument (I): Wie Hobbes seine anthropologischen Prämissen gewinnt Wenn die Vernunft eine Rechnungsfähigkeit ist, so ist eine vernünftige Erklärung eine Rechnung, in der die Folgen bzw. die Ursachen einer Tatsache kalkuliert werden. Wenn es also um die Rechtfertigung der Errichtung einer souveränen Autorität geht, zieht Hobbes aus bestimmten, vorgegebenen Prämissen jene Schlüsse, die jeder vernünftige Mensch ziehen würde – vorausgesetzt, er macht von seiner Vernunft eine richtigen Gebrauch. In dieser Hinsicht gleichen die Prämissen von Hobbes’ Argumentation den Axiomen eines Theorems: Sie dienen als postulierte Basis für die darauf folgenden Schlüsse. Hobbes würde natürlich bestreiten, dass es sich um Postulate handelt. Er meint nämlich, dass die unmittelbaren Prämissen, von denen er bei seinem Gedankenexperiment ausgeht (d. h. natürliche Gleichheit, Knappheit der Güter, Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht), aus anderen Prämissen (nämlich aus den Oberbegriffen der ersten Kapitel des Buches: Empfindung, Bewegung, Widerstand, Einbildung)22 deduktiv abgeleitet und induktiv durch die Empirie belegt seien. Der Umstand, dass Hobbes immer wieder zwischen beiden Perspektiven (der deduktiven und der induktiven) wechselt, erschwert zwar das Nachverfolgen seiner Argumentation, lässt jedoch keinen Zweifel über die anthropologischen Konstanten aufkommen, auf die das Gedankenexperiment gründet (zu Hobbes’ Anthropologie vgl. Höffe 1981). Nicht klar ist aber, wie die ersten Prämissen selbst gewonnen werden: In Kapitel 1 und 2 stellt Hobbes seine Theorie der Empfindung und der Einbildung ziemlich thetisch vor. Er benutzt dabei die Sprache der Naturwissenschaften, d. h. er gibt vor, ein natürliches Phänomen zu beschreiben. Wie man jedoch zur Betrachtung solch innerlicher Prozesse wie der Einbildung (die für Hobbes aus der Bewegung der inneren Teile eines Menschen entsteht) kommen kann, ist fraglich. Hobbes’

22 Das gilt auch für die eher objektive Prämisse der Knappheit der Güter, denn entscheidend in diesem Fall ist die menschliche pleonexie (vgl. unten 3.5).

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mechanistisches Modell scheint tatsächlich weniger das Ergebnis einer wissenschaftlichen Beobachtung als eher postuliert zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass Hobbes einen doppelten Schritt vornimmt. Einerseits rekonstruiert er aus den Prämissen der ersten Kapitel alle wichtigen menschlichen Eigenschaften: Sprache, Vernunft, Leidenschaften, bis hin zur Darstellung einer kompletten Entscheidungs- und Handlungstheorie. Andererseits braucht er für sein Experiment nur diejenigen Eigenschaften, welche die Menschen in einem Zustand charakterisieren, in dem keine souveräne Autorität vorhanden ist. Daraus resultiert m. E. der Eindruck einer verkürzten Anthropologie bzw. eines negativen Menschenbildes – ein Eindruck, der in dieser Form lange in der Geschichte der Hobbes-Interpretationen kursierte (ein berühmtes frühes Beispiel bietet Rousseau im zweiten Diskurs: DI, 82). In der Tat ist Hobbes’ Anthropologie facettenreicher als eine Lektüre vermuten lässt, die sich auf das Gedankenexperiment beschränkt.23 Auch wenn Hobbes’ Annahmen für eine Kooperation unter Menschen sehr ungünstig sind, meint er jedoch nicht, alle Menschen seien tatsächlich egoistisch und unkooperativ: Die Frage, ob die Menschen von Natur aus böse oder gutmütig, Wölfe oder Götter für die anderen Menschen sind (De Cive, Widmungsbrief),24 kann man nicht endgültig beantworten. Eine solche Antwort würde bedeuten, ein moralisches Urteil über bloß natürliche Eigenschaften zu fällen – was offensichtlich absurd wäre. Der Mensch ist das, was er ist, und ob er gut oder böse ist, lässt sich nur im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung beurteilen (vgl. unten 3.11). Um zu erkennen, dass Hobbes in seinem Gedankenexperiment die Menschen nicht beschreibt, wie sie von Natur aus sind, sondern nur wie sie werden, wenn sie ohne staatliche Autorität leben, braucht man übrigens nur die Seiten von De homine zu lesen, die Hobbes den natürlichen Anlagen der Menschen widmet (Kapiteln 11-13). Da er in diesem Werk sein Gedankenexperiment über den Naturzustand nicht durchführen muss (es geht ihm dort nicht um die Begründung absoluter politischer Macht), erweist sich seine Anthropologie um so deutlicher als keineswegs pessimistisches Menschenbild, sondern als „wissenschaftliche“ Beschreibung eines Wesens, das durch bestimmte, moralisch neutrale Mechanismen determiniert wird.25 Eine solche Anthropologie ist bei vielen anderen Philosophen der Zeit – Rationalisten wie Empiristen – zu finden. Ihre Hauptbegriffe sind: Begierde, Abneigung, Streben, Angenehm, Unangenehm, Affekt, Leidenschaft, Sinn, Anlage, Charakter. Es ist das Wörterbuch der Moralisten aller Zeiten, 23 Gegen eine verkürzte Lesart spricht sich auch Höffe 1979, 198 ff. und Höffe 1987, 307 ff. aus. 24 Allzu oft wird der von Hobbes zitierten Satz „Homo homini lupus“ (den er von Plautus übernimmt) als Inbegriff von Hobbes’ Anthropologie erwähnt. Dabei wird übersehen, dass Hobbes von ihm sagt, er sei genauso wahr wie der andere Spruch „Homo homini Deus“ (der wahrscheinlich von Simmacus stammt: Zur Frage der Quellen beider Sprüche vgl. Tricaud 1969). 25 Ob Hobbes tatsächlich eine wissenschaftliche Begründung seiner Anthropologie gegeben hat, ist fraglich. Sicher kann die Methode der modernen Naturwissenschaft, so wie sie Galilei und Descartes entwickelt hatten, schwerlich auf dem Gebiet der Leidenschaften angewandt werden, denn diese lassen sich nicht genau messen, sondern höchstens durch Selbstanalyse und Beobachtung fremden Verhaltens beschreiben. Der epistemologische Status solcher Analysen ist jedoch fragwürdig.

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sicher der Moralphilosophen jener Epoche.26 Und unter den natürlichen Anlagen finden wir durchaus „positive“ Neigungen wie Liebe zur Kunst (76), Großmut oder Freigiebigkeit (43).27 Dass Hobbes das menschliche Verhalten im Lichte seiner mechanistischen Perspektive, also im Lichte der Alternative „Neigung zum Angenehmen / Abneigung gegen das Unangenehme“ interpretiert, hat sicherlich zur Auffassung beigetragen, Hobbes reduziere jede menschliche Haltung auf eine egoistische. Dazu hat sogar eine von Aubrey in seiner Hobbes-Biographie überlieferte Anekdote beigetragen, die uns nun helfen kann, die Frage des Egoismus bei Hobbes zu klären. Hobbes sei mit einem Freund spazieren gegangen, als ein sehr armer, alter Mann zu ihm kam und um Almosen bat. Hobbes, die Augen voll Mitleid, gab ihm eine Münze. Der Freund sagte ihm darauf, er habe das bestimmt aus keinen anderen Grund als dem christlichen Gebot der Nächstenliebe gemacht. Hobbes antwortete, er habe es doch aus einem anderen Grund getan, und zwar, um den unangenehmen Anblick der Armut jenes Bettlers nicht länger ertragen zu müssen: Durch seine Almosen habe er dem Mann und auch sich selbst einen gewissen Trost gespendet (Aubrey 2000, 446).28 Se non è vero, è ben trovato: Sollte auch die Geschichte nicht wahr sein, ist sie auf jeden Fall gut erfunden. Aubrey erzählt sie allerdings, um die Meinung zu bestätigen, Hobbes sei ein Vertreter des psychologischen Egoismus in seinem stärksten Sinne gewesen: Alle meine Handlungen sind danach von meinen Wünschen verursacht und zielen auf die Erreichung von Objekten ab, die mein Selbstinteresse befriedigen sollen. Jean Hampton liest die Geschichte anders, und zwar als den Beweis, dass Hobbes zwischen Wünschen und deren Ursachen unterscheidet (Hampton 1986, 23f.). Hobbes will tatsächlich dem Bettler Trost spenden. Der Wunsch entsteht zwar aus der Abneigung gegen die Unlust, welche die Ansicht der Armut des alten Mannes verursacht. Diese Abneigung ist jedoch unvermeidlich. Während man z. B. gegen einen Wunsch kämpfen kann (etwa bei der Überlegung, welchem unter zwei Wünschen zu folgen sei), findet die Empfindung von Lust oder Unlust unabhängig von jeglicher Überlegung und Entscheidung statt. Hobbes sagt nicht in unserem Beispiel, er habe dem Bettler ein Almosen mit der Absicht gegeben, sich einen Vorteil zu schaffen – etwa mit der Absicht,

26 Leo Strauss hat im Fall von Hobbes’ Theorie der menschlichen Natur im Leviathan von einem entscheidenden Einfluss von Descartes’ Les passions de l’âme (1649) gesprochen (Strauss 1963, 56 f.). 27 Der Ersteren spricht Hobbes positiven Wert zu, da sie dazu geneigt macht, „einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen“ (76). Was Großmut betrifft, stellt Strauss eine Abweichung von der aristotelisch ausgeprägten Definition derselben fest, die in der Renaissance üblich war (Strauss 1963, 53). 28 „One time I remember goeing in the Strand, a poore and infirme old man craved his Almes. He beholding him with eies of pitty ans compassion, putt his hand in his pocket, and gave him sixpence. Sayd a Divine, sc. Dr. Jaspar Mayne, that stood by, ‚Would you have donne this, if it had not been Christ’s command?‘ ‚Yea‘ saye he. ‚Why?‘ quoth the other. ‚Because‘ sayd he, ‚I was in paine to apprehend the miserable condition of the old man; and now my Almes, giving him some reliefe, doth also ease me.‘ “

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sich durch seine gute Tat die Belohnung Gottes zu verdienen. Er sagt: Der Anblick dieser Armut war mir unerträglich, und die Abneigung gegen diese Unlust hat in mir den Wunsch entstehen lassen, diesem Menschen Trost zu spenden. Die Abneigung kann nicht auf dieselbe Ebene wie die Absicht gestellt werden, dadurch Gottes Gunst für sich gewinnen zu wollen: Sie ist als Abneigung nicht absichtlich, sondern unvermeidlich. In solchem Sinne – behauptet Gauthier in seiner Leviathan-Interpretation – ist der Mensch notwendigerweise egoistisch („man is necessarily selfish“, Gauthier 1969, 7). Es ist allerdings m. E. unzutreffend, im Fall der Hobbesschen Anthropologie von Egoismus zu sprechen – und zwar auch, wenn man eine raffiniertere Variante jenes Egoismus als Aubrey anbietet. Das ist offensichtlich, wenn man die berühmte Definition des Guten als Objekt des Triebes oder Verlangens (41) betrachtet. Damit meint Hobbes nicht, gut sei, was dem persönlichen Vorteil, dem Selbstinteresse dient. Er weist vielmehr auf zwei Tatsachen hin. Die erste ist, dass „gut“ und „böse“ keine Eigenschaften der Gegenstände sind, sondern Attribute, welche die Individuen den Gegenständen je nach Verlangen oder Abneigung zusprechen. Die zweite Tatsache ist, dass die Menschen in der Nutzung der Prädikate „gut“ und „böse“ nicht durch ihr (wohlüberlegtes) Selbstinteresse, sondern durch ihre Triebe (die nicht Ergebnis von Überlegungen sein können) bestimmt werden. Man sollte daher im Falle von Hobbes’ Anthropologie von Hedonismus, nicht von Egoismus sprechen: Die Menschen neigen (notwendigerweise) zu dem, was ihnen angenehm ist, ihnen daher Lust bereitet. Diese Neigung reduziert unvermeidlich den Einfluss der Vernunft auf die Empfindungskette, aus der Entscheidungen resultieren. Allzu häufig lassen sich die Menschen von einer unmittelbaren Neigung zum Angenehmen dazu verleiten, gegen das eigene Selbstinteresse zu handeln, wie im Fall jener Individuen, die durch „Trunksucht und alle anderen Arten von Unmäßigkeit“ sich selbst vernichten (120) – um ein Beispiel zu nennen, das von Hobbes stammt, und nichts mit seinem politischen Argument zu tun, sondern allgemeine Anwendung auf die menschliche Natur hat. Aus seinem Hedonismus heraus kann der Mensch gegen das Selbstinteresse handeln, auch wenn Letzteres offensichtlich und klar definierbar ist, wie im Fall der eigenen Gesundheit oder gar des eigenen Lebens. Das ist entscheidend, um Hobbes’ Argument richtig zu verstehen. Für sein Gedankenexperiment unternimmt nun Hobbes exakt das, was Rousseau den Naturrechtstheoretikern vorwerfen wird (DI, 60 ff.; DEG, 417 f.): Er nimmt die Menschen so, wie sie heute, im bürgerlichen Zustand, sind, und entzieht ihnen die Zügel der staatlichen Macht. Er will nicht einen (historischen oder hypotethischen) vorstaatlichen Urzustand beschreiben, sondern seinen Zeitgenossen zeigen, was es bedeutet, die souveräne Autorität in Frage zu stellen und zu vernichten. Dabei fallen einem jene Zeilen von Troilus and Cressida (I. Akt, 3. Szene) ein, in denen Shakespeare ein ähnliches Experiment wagt: Was würde geschehen, fragt dort Ulysses, wenn die gesellschaftliche Ordnung (die er hier mit der gesellschaftlichen „Abstufung“ identifiziert) zerstört würde? Die Antwort gleicht Hobbes’ Beschreibung des Naturzustandes:

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„Macht würde der Tyrann der blöden Schwäche, der rohe Sohn schlüg’ seinen Vater todt; Kraft biege Recht – nein, Recht und Unrecht, deren endlosen Streit Gerechtigkeit vermittelt, verlören, wie Gerechtigkeit, den Namen. Dann löst sich Alles auf nur in Gewalt, Gewalt in Willkür, Willkür in Begier; und die Begier, ein allgemeiner Wolf, zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt, muss dann die Welt als Beute an sich reißen, und sich zuletzt verschlingen.“ [Kursiv – A. P.]29 Eine letzte Beobachtung, bevor wir uns dem eigentlichen Argument widmen (vgl. unten 3.5): Auch wenn Hobbes die Menschen im Naturzustand als eher unkooperative Wesen beschreibt, ist ihm bewusst, dass die Menschen von Natur aus (was nicht dasselbe ist wie: im Naturzustand) imstande sind, auch ohne staatliche Autorität miteinander zu kooperieren: Dass er im Kap. 15 und anderswo von Verteidigungsbündnissen spricht, zeugt davon. Aber solche Lösungen sind kurzlebig und nicht endgültig, da sich die Menschen nicht lange über gemeinsame Handlungsrichtlinien einigen können (vgl. unten 3.7). Es ist also weniger die menschliche Natur an sich, als eher die im Naturzustand herrschende Unsicherheit, die ihm zu einem unerträglichen Zustand machen. Und diese Unsicherheit hat mehrere Ursachen, wie wir jetzt sehen werden.

3.5. Das Naturzustandsargument (2): Wie das Argument läuft Das sind nun die Prämissen von Hobbes’ Theorem (94 f.):30 1) Die Menschen befinden sich noch in einem Zustand (dem Naturzustand), in dem keine souveräne Autorität vorhanden ist (ob es sie noch nicht gegeben hat, oder ob sie abhanden gekommen sei, sagt uns Hobbes nicht). 2) Die Menschen betrachten die eigene Selbsterhaltung als ein primäres Gut, auf das sie nie verzichten wollen. Sie betrachten es jedoch nicht als das einzige oder als das höchste Gut; manchmal bringen sie es sogar in Gefahr, um der Neigung eines unmittelbaren Genusses zu folgen: Bei Hobbes gibt es kein sommum bonum, sondern nur ein sommum malum, nämlich den Tod – eigentlich benutzt er lieber den negativen

29 W. Shakespeare, Troilus und Cressida, in: Dramatische Werke, übersetzt von A. W. von Schlegel und L. Tieck, Berlin, 1840, XI. Band, S. 154f. (Zitiert im englischen Original in: Spragens 1973, 185 f.). 30 Die Rekonstruktion des Hobbesschen Arguments bildet den Kern jeder Hobbes-Exegese. Im mare magnum der Interpretationen ragen McNeilly 1968, Gauthier 1969, Kavka 1983 und 1986, und Bobbio 1989, heraus. Meine Lektüre führt allerdings zu anderen Ergebnissen. Zur Beziehung zwischen Hobbes’ Anthropologie und dem Naturzustandsargument vgl. auch Höffe 1987, 307 ff.

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Ausdruck „den Tod zu vermeiden“ [avoiding death] als den positiven „das Leben zu erhalten“ [preserving life], wie Leo Strauss bemerkte (Strauss 1963, 15). Da Leben ein ständiges Streben nach Genuss ist, das nur durch den Tod gestillt wird, werden sich die Menschen niemals mit dem zufrieden geben, was sie gerade besitzen, sondern sie werden immer nach neuen Genüssen, sprich: nach neuen Gütern streben. Was Platon pleonexie genannt hatte, gehört somit zur menschlichen Natur. Im Gegensatz zum griechischen Philosophen (und zu unzähligen anderen, die diese Haltung verurteilt haben), spricht Hobbes der pleonexie keinen moralisch negativen Wert zu, sondern beschreibt sie aus einer moralisch neutralen Perspektive als anthropologisches Faktum. Es herrscht eine ständige Knappheit der Güter. Sie ist deswegen ständig, weil die Güter, in welchem Ausmaß sie auch immer vorhanden sein mögen, nie für alle genügen werden, da die Menschen unter der oben erwähnten pleonexie leiden. Alle Menschen sind von Natur aus mit relativ gleicher Macht ausgestattet; niemand kann daher von alleine die Oberhand über die anderen gewinnen, so dass es unter den Menschen keinen natürlichen Herrscher bzw. Souverän gibt. Aus dieser natürlichen Gleichheit entsteht in jedem Menschen auch Gleichheit in Bezug auf die Hoffnung, die eigenen Ziele erreichen zu können: Wenn zwei Individuen denselben Gegenstand begehren, kommt es daher notwendigerweise zum Konflikt, unabhängig davon, ob der Gegenstand zur Zeit schon im Besitz von jemandem ist, denn jeder hofft, den anderen überlisten bzw. unterwerfen zu können. Diese Konkurrenz [Competition] führt aus Gewinnsucht zu gegenseitigen Übergriffen (95 f.) Aus der Gleichheit der Hoffnungen entsteht Misstrauen [Diffidence], da jeder weiß, dass die anderen auf seine Güter abzielen, genau so, wie er selbst auf die Güter anderer abzielt. Um der Gefahr durch die anderen vorzubeugen, wird jeder versuchen, als Erster anzugreifen und alles zu tun, was seiner Selbsterhaltung dienen kann. Misstrauen führt aus Sicherheitsgründen zu Übergriffen (95 f.) Die Menschen empfinden am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruss (ob aufgrund des erwähnten Misstrauens oder aus anderen Gründen, sagt uns Hobbes nicht). Sie sind jedoch gleichzeitig auf die anderen angewiesen, denn sie wünschen, von ihnen hoch geschätzt zu werden. Sie werden daher alles unternehmen, um den anderen größere Wertschätzung abzunötigen und parallel dazu deren Anerkennung (oder ihre Konkurrenten bei der Hochschätzung durch die anderen) zu schädigen. Solche Haltung wird von Hobbes als Ruhmsucht [Glory] bezeichnet. Ruhmsucht führt zum Konflikt (95f.).31

31 Diese „Dreifältigkeit“ der verhängnisvollsten Laster bzw. Leidenschaften hat eine lange Geschichte, wie Helmut König bemerkte: Augustinus identifiziert die drei Hauptsünden der Menschen „in der Begierde nach Geld und Besitz, im Streben nach Macht und in der Gier nach sexueller Lust“, Dante spricht von Hochmut, Neid und Habgier, und Kant wird sie im Anschluss an Hobbes als „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“ (Idee, 4. Satz, VIII, 21) bezeichnen (König 1992, 27 f.). Man könnte Machiavelli hinzufügen, der von „Habsucht, Ehrgeiz und den Gelüsten nach Weibern“ spricht (D 134).

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3. KAPITEL

9) Aus diesen Bedingungen resultiert ein Zustand ständiger Konflikte unter den Menschen, den Hobbes als Krieg aller gegen alle bezeichnet. Damit meint er nicht einen konkreten Kampf, sondern die permanente Gefahr des Kampfes und der Gewaltanwendung. Jene Gefahr, nicht erst der wirkliche Kampf, macht also aus dem Naturzustand einen Kriegszustand. In ihm müssen die Menschen immer wieder um ihr eigenes Überleben oder um die Güter, die sie zum Überleben brauchen, bangen. Es ist daher die „hedonistische Menschennatur“ selbst, die zu einem Zustand führt, in dem „ums nackte Überleben“ gekämpft wird, und in dem „alle weitergehenden Aspirationen zunichte“ gemacht werden (Nida-Rümelin 1996, 120). 10) Gemäß Hobbes’ Handlungstheorie handeln die Menschen immer in Folge einer Neigung oder Abneigung (vgl. oben 3.4). Da sie alle gegen das, was ihr Leben bedroht, Abneigung empfinden, so empfinden sie notwendigerweise Abneigung gegen den Kriegszustand, und folglich wünschen sie, ihn zu verlassen. Es ist daher in erster Linie eine Leidenschaft, nämlich die Todesfurcht, welche die Menschen friedfertig macht (98). Hinzu kommen jedoch auch weitere Leidenschaften: „das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind, und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können“ (a. a. O.). Es ist also nicht die Vernunft, die uns zum Verlassen des Kriegszustandes motiviert, sondern unsere Abneigung gegen alles, was unser Überleben bedroht. Wie kann man aber aus dem Naturzustand heraustreten? Erst hier setzt die Vernunft an: Sie stellt uns nicht als Ziel das Verlassen des Naturzustandes, sondern zeigt uns bloß die Mittel zu diesem Zweck. Sie definiert nämlich jene Grundsätze, auf denen Frieden errichtet werden kann und mit denen die Menschen übereinstimmen sollten (98). Diese Grundsätze werden in den Kapiteln 14 und 15 als natürliche Gesetze dargestellt. Sie sind im Ganzen ein Ergebnis der Deduktion aus den gegebenen Prämissen 1-10 (auch wenn Hobbes manches Gesetz mehr von den ihm vorhergegangenen als von den gemeinsamen Prämissen ableitet). Ist die Deduktion richtig, hat also die Vernunft eine richtige Rechnung durchgeführt – und Hobbes geht natürlich von der Annahme aus, dass seine Rechnung richtig ist (dass sie also Ausdruck wahrer Wissenschaft ist) –, so besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen sie als die einzige Lösung auf das vom Gedankenexperiment des Naturzustandes aufgeworfene Problem annehmen werden, wenn sie nur von ihrer Vernunft einen guten Gebrauch machen. Das Problem ist aber, ob solche Lösung auch über genügend motivierende Kraft verfügen kann, d. h. ob sie tatsächlich die Menschen dazu bewegen wird, den Naturzustand zu verlassen. Bekanntermaßen handeln sie nämlich nicht immer rational; sogar die weisesten unter ihnen können Fehler begehen oder ihren Leidenschaften unterliegen. Verfüge die Vernunft über genügend motivierende Kraft, bräuchte sie auch nicht zu gebieten oder zu verbieten: Sie würde einfach auf die Menschen einwirken. Eine solche Macht besitzt die Vernunft jedoch nicht. Daher stellt sich die Frage, wie sich Menschen zur Einhaltung der Gebote der Vernunft (der natürlichen Gesetze) motivieren lassen. Hobbes selbst hat sich mit dieser Frage nicht direkt auseinandergesetzt. Die diesbezüglich häufig zitierte Stelle, seine Erwiderung auf den Einwand der Narren, bietet daher nur eine partielle Antwort, wie ich jetzt zeigen werde.

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3.6. Die Narren und ihr Einwand Der Einwand der Narren und Hobbes’ Gegeneinwand sind Gegenstand vieler Interpretationen, werden jedoch häufig im falschen Kontext gelesen und erläutert.32 Der eigentliche Einwand ist recht einfach: „Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht“, deshalb bliebe jedem offen, einen abgeschlossenen Vertrag zu halten oder nicht, je nachdem, ob das Halten oder Nichthalten zu seinen Gunsten ausfällt (111). Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die angezweifelte Gerechtigkeit das Einhalten von Verträgen ist. Das ist zwar der bekannteste, nicht aber der einzige Sinn, in dem Hobbes von „Gerechtigkeit“ spricht. Neben der technischen Bedeutung des Wortes, die sich auf Handlungen bezieht, gibt es eine andere Bedeutung, die sich hingegen auf Menschen bezieht (114): Ein Gerechter ist demnach, „wer sich nach Kräften bemüht, dass alle seine Handlungen gerecht sind“. Da jedoch die Gerechtigkeit der Handlungen von jeglichem moralischen Aspekt frei ist, ist auch die Gerechtigkeit eines Menschen nicht moralisch zu interpretieren – auch nicht im Sinne von Hobbes’ prudentieller Moralphilosophie. Gerechtigkeit als Einhalten von Verträgen ist eine Weisung der Vernunft und entspricht dem dritten natürlichen Gesetz („Abgeschlossene Verträge sind zu halten“, 110). Die Narren bezweifeln also die Rationalität dieses Gesetzes und wenden sich somit gegen Hobbes und seine eigene Definition von Rationalität. Ihr Argument lautet: Wenn die Vernunft immer das gebietet, was das eigene Wohl fördert, dann kann es manchmal vernünftig sein, abgeschlossene Verträge nicht einzuhalten, besonders dann nicht, wenn die anderen ihren, als Folge des Vertrags entstandenen, Verpflichtungen schon nachgekommen sind. Hobbes’ Strategie besteht darin zu zeigen, dass es immer gegen das eigene Interesse geht, Verträge nicht zu halten. Bevor wir auf Hobbes’ Erwiderung eingehen, sollten wir die Begriffe „Vertrag“ und „Versprechen“ kurz erklären. Gemäß Hobbes’ Definition ist ein Vertrag (contract) eine „wechselseitige Übertragung von Recht“. Wenn einer der Vertragschließenden dem anderen einräumt, „seinen Teil zu einem bestimmten späteren Termin zu leisten“, spricht man von einem Pakt oder Übereinkommen (covenant). Wenn die Rechtsübertragung nicht wechselseitig ist, besteht kein Vertrag, sondern eine Schenkung. Ein Versprechen liegt dann vor, wenn man sich mit Worten auf die Zukunft bezieht, wie wenn man sagt: „Morgen werde ich dir das geben“. Ein Versprechen verpflichtet nicht: Es sind leere Worte. Wenn ich hingegen sage: „Ich will, dass dies morgen dir gehöre“, dann drücke ich meinen gegenwärtigen Willen („Ich will es jetzt“) aus, auch wenn die Übertragung erst morgen stattfindet: Wir haben es dann mit einer ausdrücklichen Vertragserklärung zu tun. Die sprachliche Dimension ist hier sicher entscheidend, um den Begriff des Vertrages zu erklären; eine „sprachphilosophische Grundlegung“ der Vertragstheorie, wie Ludwig meint (Ludwig 1998, 236 ff.), findet jedoch nicht statt. Hobbes’ Vertrags-

32 Eine interessante Lesart bietet Magri 1994 an, dessen Ergebnissen ich mich jedoch hier nur zum Teil anschließe.

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theorie, so wie seine ganze Rechtstheorie, ist nicht „Teil der Sprachphilosophie“ (a. a. O.), sondern gründet sich – wie auch seine Ethik – auf einer prudentiellen Basis, wie nun gezeigt werden muss. Bei seiner Erwiderung auf die Narren unterscheidet Hobbes drei mögliche Konstellationen (112): Zwei sind unproblematisch, die dritte nicht. Die erste unproblematische Konstellation ist die, in der ein bloßes Versprechen stattfindet. Da keine Seite die Sicherheit hat, dass „das Versprechen“ erfüllt wird, geschieht kein Unrecht, wenn eine Partei das Versprochene nicht leistet. Die beiden anderen Konstellationen beziehen sich auf Verträge. Die zweite unproblematische ist die, in der eine Macht existiert, die zur Erfüllung zwingt. Der Narr wird dann einfach zum Einhalten abgeschlossener Verträge vom Souverän gezwungen, möge er auch insgeheim denken, es gebe keine Gerechtigkeit, und er habe alle Gründe, um seinen Teil nicht zu erfüllen. Die dritte, problematische Konstellation ergibt sich, wenn in Abwesenheit einer sanktionierenden Instanz eine Partei (wir nennen sie A) seinen Teil schon erfüllt hat. Das ist insofern problematisch, als eine solche Erfüllung einfach unvernünftig ist, denn A hat sich damit dem Risiko ausgesetzt, von der anderen Partei (wir nennen sie B) ausgenutzt zu werden – was eventuell eine Gefahr für das eigene Überleben mit sich bringen kann. Da es keine sanktionierende Instanz gibt, befinden wir uns im Naturzustand. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob im Naturzustand ein Vertrag überhaupt zustande kommen kann. Hobbes beantwortet die Frage positiv, aber mit einem entscheidenden Vorbehalt: „Bei jedem vernünftigen Verdacht“ ist der Vertrag „unwirksam“. Der Vorbehalt ist entscheidend, weil man im Naturzustand immer einen vernünftigen Verdacht haben wird, da „das Band der Worte viel zu schwach ist“ (105). Die im Begriff des Vertrages implizierte Selbstverpflichtung scheint daher im Naturzustand unmöglich, so dass schließlich Verträge nur in einem bürgerlichen Zustand möglich sind. Deshalb scheint auch die von Hobbes beschriebene Konstellation unter einem fatalen begrifflichen Fehler zu leiden: Die Rede von Verträgen überhaupt ist im Naturzustand sinnlos. Nichtsdestoweniger führt Hobbes sein Argument fort. Wenn B seinen (eigentlich nur versprochenen) Teil nicht leistet, handelt er keineswegs vernünftig, im Gegenteil: Damit gibt er zu erkennen, dass er von Verträgen wenig hält, und aufgrund dieser Meinung wird er bestimmt in keine Gesellschaft aufgenommen werden. Die Gesellschaft, die Hobbes hier meint, ist nicht der bürgerliche Zustand (dort zählen weder die Meinung von B noch die Reaktionen der anderen, da B von der Autorität des Souveräns jederzeit zur Einhaltung des Vertrags gezwungen werden kann), sondern ein Bündnis (confederation). Dieser Begriff taucht an hier zum ersten Mal auf und ist ziemlich verblüffend. Anscheinend können Menschen im Naturzustand eine Art Zweckgemeinschaft bilden, um sich „mit Hilfe von Verbündeten vor Vernichtung zu bewahren“ (112). In einem solchen Bündnis kann selbstverständlich niemand toleriert werden, der durch einen Vertragsbruch zu erkennen gibt, er wird sein Wort immer brechen, wenn es für ihn von Vorteil ist (a. a. O.). Aber kein Mensch kann sein Überleben sichern, wenn er allein gelassen und auf sich selbst angewiesen ist – innerhalb einer Welt, in der alle anderen Individuen Bündnisse gebildet haben. Der Narr manövriert sich somit selbst ins Abseits und handelt schließlich gegen jede Vernunft, da er durch sein Tun das eigene Überleben bedroht.

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Die Bildung von Bündnissen steht im Widerspruch zu den Annahmen des Gedankenexperimentes. Sie setzt nämlich Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation voraus, die unter den gegebenen Prämissen nicht vorhanden sein können, mag es sie auch in der Wirklichkeit geben. Hobbes bricht somit hier für einen kurzen Moment das Gedankenexperiment ab und bewegt sich auf der Ebene der konkreten Erfahrung. Solche vorstaatlichen Bündnisse sind durchaus möglich; sie sind auch in einem Staat denkbar, wenngleich nicht zum Zweck der Verteidigung (ansonsten würden sie das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen). In diesem Sinne ist Hobbes’ Erwiderung plausibel. Durch die Einführung der dritten Konstellation (d. h.: Vertrag im Naturzustand, Bildung von Bündnissen) verwirrt Hobbes zwar seinen Leser, spricht aber gleichzeitig eine wichtige, unausgesprochene Frage an, welche die gesamte Argumentation wie ein unsichtbarer roter Faden durchzieht: die Frage nach der Kooperation unter den Individuen. Wenn die Menschen eine unvermeidliche Abneigung gegen den Kriegszustand empfinden und die Ursache des Krieges beseitigen wollen, fragt es sich nun, ob diese Beseitigung auch durch Kooperation möglich ist, ohne dass sich die Individuen einer absoluten Macht unterwerfen müssen, wie Hobbes meint (vgl. unten 3.7-3.9). Die Frage lässt sich am besten durch den Hinweis auf eine verbreitete Interpretation von Hobbes’ Naturzustand beantworten.

3.7. Das Gefangenendilemma und die Bündnisse Hobbes’ Naturzustand wird oft als eine Variante des berühmten Gefangenendilemmas angesehen (vgl. dazu Nida-Rümelin 1996). Das trifft jedoch nicht ganz zu. Das Dilemma in seiner ursprünglichen Form beschreibt die Lage zweier Landstreicher, A und B, die unter dem Verdacht des gemeinsamen Raubmordes an einem Wanderer gefangen genommen werden. Man hat bei ihnen Gegenstände des Opfers gefunden, aber sie behaupten, lediglich die Leiche ausgeplündert zu haben. A und B werden in getrennten Zellen gefangen genommen und vom Staatsanwalt vor die Alternative gestellt, den Mord zu gestehen oder zu schweigen. Wenn nur einer gesteht, wird er frei, und der andere soll dann zwanzig Jahren absitzen. Wenn beide gestehen, werden sie zehn Jahren Freiheitsstrafe verbüßen müssen. Schweigen Sie beide, werden beide zu zwei Jahren wegen Diebstahl verurteilt. Daraus ergeben sich vier Möglichkeiten: (a) Gesteht A, während B schweigt, kommt A frei und B muss zwanzig Jahre Freiheitsstrafe verbüßen. (b) Gesteht B, während A schweigt, kommt B frei und A wird zwanzig Jahre absitzen müssen. (c) Gestehen beide, werden sie beide mit zehn Jahren Freiheitsstrafe rechnen müssen. (d) Schweigen sie beide, werden sie beide nur zwei Jahre absitzen. Die für beide vorteilhafteste Lösung ist offensichtlich (d). Dennoch werden sie sich für das Geständnis entscheiden, und es wird die Möglichkeit (c) in Kraft treten. Aus ihrer Perspektive (sie wissen nicht, was der andere vorhat, und können sich auch nicht über

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ein gemeinsames Schweigen einigen) sind sie gezwungen, die Lösung zu wählen, die ihr Risiko minimiert, auch wenn sie für beide nur die zweitbeste Lösung ist. Wenn wir die Lage aus der Sicht von A betrachten, ergibt sich nämlich folgende Wunschskala: (a) ist für ihn die beste Lösung; (d) ist die zweitbeste Lösung; (c) ist die drittbeste Lösung; (b) ist eindeutig die schlimmste Lösung. Sollte sich A fürs Schweigen entscheiden, läuft er Gefahr, dass B die Tat gesteht, und dass er deswegen die ganze Strafe allein verbüßen muss (Möglichkeit b): Das wäre für ihn die schlimmste denkbare Möglichkeit, die er auf jeden Preis vermeiden will. Bei einem Geständnis kann er sogar hoffen, dass sich B fürs Schweigen entscheidet, so dass er frei sein wird (a). Ein Geständnis vermeidet auf jeden Fall, dass (b) eintritt. Das Gefangenendilemma zeigt somit, dass unter bestimmten Umständen eine Kooperation nicht rational ist – nämlich bei Unwissenheit über die Absichten der anderen oder aber bei Gewissheit über deren feindliche Absichten (wie in Hobbes’ Naturzustand). Will man nun Hobbes’ Naturzustand als Gefangenendilemma interpretieren, so läuft man Gefahr, Hobbes’ Rechtfertigung des Ausgangs aus dem Naturzustand zu widerlegen. Da Hobbes in seinem Gedankenexperiment von Individuen ausgeht, die ihrem partikulären Interesse folgen (Konkurrenz) und dabei den anderen gegenüber feindlich eingestellt sind (Misstrauen und Ruhmsucht), ist es unmöglich, dass sich die Menschen je für Kooperation entscheiden. Um das Risiko zu minimieren, werden sie vielmehr weiter auf Nicht-Kooperation setzen. Eine derartige Entscheidung würde natürlich den Naturzustand fortsetzen, wäre jedoch aus der Perspektive der Individuen in Hobbes’ Gedankenexperiment die einzige rationale Lösung. Somit würde Hobbes’ Argument scheitern. In der Tat ist eine Beschreibung des Naturzustands als Gefangenendilemma nicht adäquat. Das gilt erstens für die Beschreibung der Ausgangslage: Im Unterschied zu den beiden Gefangenen wissen die Individuen im Naturzustand sehr gut, welche Absichten die anderen verfolgen, nämlich dieselben wie sie – in erster Linie die eigene Selbsterhaltung durch alle möglichen Mittel. Aber es gibt einen noch entscheidenderen Sinn, in dem Hobbes’ Argument nicht im Sinne eines Gefangenendilemmas gedeutet werden kann. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung bietet Hobbes de facto kein Argument für den Austritt aus dem Naturzustand, sondern nur ein Argument für die Errichtung einer bestimmten Art von bürgerlichem Zustand. Was er zeigen will, ist nicht, dass man den Naturzustand verlassen soll, denn als Zustand, in dem unser Leben bedroht ist, erweckt er sowieso unsere Abneigung. Er will vielmehr zeigen, wie der Austritt stattfinden muss. Seine Lösung heißt nicht einfach: Kooperation, sondern: Einsetzung einer sanktionierenden Autorität. Kooperation kann zwar in manchen Fällen rational sein (wie im Falle der Verteidigungsbündnisse), aber im Naturzustand ist Nicht-Kooperation rationaler, weil Risiko minimierend. Deshalb werden die Menschen trotz ihrer Abneigung immer wieder in diesem Zustand verharren, wenn sie sich nicht entscheiden, eine Instanz einzusetzen, die Kooperation durch die Bestrafung unkooperativen Verhaltens ermöglicht.

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Ob sie sich für solche Lösung entscheiden, bleibt eine offene Frage. Eine positive Antwort würde voraussetzen, dass sie sich alle als vernünftig erweisen – was eher im Kontrast zu Hobbes’ Anthropologie steht. Und eine positive Antwort ist aus Hobbes’ Perspektive auch von sekundärer Bedeutung, denn sein Problem ist nicht, die Individuen zur Errichtung eines Staates zu bewegen, sondern sie von der Notwendigkeit der Absolutheit souveräner Macht zu überzeugen. In dieser Hinsicht stellt Hobbes’ Theorie auch keine Rechtfertigung a posteriori des Staates dar, sondern eine Begründung der souveränen Macht als absoluter Macht. Staatliche Macht kann nur absolute Macht sein, und das gilt nicht nur im Fall der Errichtung des Staates durch Aneignung (die wahrscheinlich einzige Art, nach der Staaten konkret errichtet wurden), sondern auch für den Fall, in dem sich die Individuen doch für Kooperation entscheiden und der Staat durch Einsetzung errichtet wird. Die historische und philosophische Bedeutung von Hobbes’ Argumentation besteht eben im Hinweis auf das notwendige Einhergehen von Kooperation und Einsetzung einer sanktionierenden Instanz, die mit absoluter Macht ausgestattet ist. Hobbes setzt sich jedoch auch mit der Möglichkeit der Kooperation ohne sanktionierende Autorität auseinander, da sie neben dem Verbleib im reinen Naturzustand (und neben der Aneignung, die für Hobbes’ Absichten jedoch nicht von Interesse ist) die einzige mögliche Alternative zur Errichtung des Leviathan darstellt. Diese Alternative wird durch die schon erwähnten Bündnisse verkörpert, auf die sich Hobbes im Kapitel 17 nochmals bezieht (ohne allerdings das betreffende Wort zu benutzen): Dort heißt es, dass „der Zusammenschluss einer kleinen Anzahl von Menschen“, ihnen nicht dieselbe Sicherheit wie der Staat gibt, denn „bei kleinen Zahlen verleihen kleine Zunahmen auf der einen oder der anderen Seite eine so große Übermacht, dass sie genügt, zum Sieg zu führen und deshalb zu einem Angriff ermutigt“ (132). Erst durch den Vergleich mit dem Feind lässt sich feststellen, ob eine bestimmte Menge ausreichende Sicherheit garantiert. Das kann sich somit jedes Mal ändern, je nach der zahlenmäßigen Macht des Feindes. Aus jener Perspektive ist allerdings die Menge auch für Staaten kein ausreichendes Kriterium, denn es ist immer möglich, dass ein benachbarter Staat über die erwähnte zahlenmäßige Übermacht verfügt. Deshalb führt Hobbes ein weiteres Kriterium an: Bei den Bündnissen wird es immer Streitigkeiten in Bezug auf die zu verfolgenden Strategien geben, da die Menschen immer unterschiedlicher Meinung sind, und sich nie von selbst einigen können; daher ist es notwendig, auf eine Autorität Rekurs zu nehmen, welche die Menge kraft ihrer Macht führt. Könnten die Menschen tatsächlich „in der Beachtung von Gerechtigkeit und aller anderen natürlichen Gesetze“ von selbst und „ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht“ übereinstimmen, „dann gäbe es überhaupt keine bürgerliche Regierung oder einen Staat, noch wären sie nötig, denn es herrschte Frieden ohne Unterwerfung“ (132). Das entscheidende Argument zugunsten der Unterwerfung unter eine (absolute) bürgerliche Regierung ist somit nicht der Kriegscharakter des Naturzustandes, sondern die Unmöglichkeit der freiwilligen Kooperation und des Konsenses, so wie die Unmöglichkeit der freiwilligen und einseitigen Befolgung der Weisungen der Vernunft. Entscheidend dabei ist nicht der Unterschied der einzelnen Interessen, sondern der Unterschied der

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verschiedenen Meinungen. Auch wenn sich die Menschen über die gemeinsamen Ziele einig wären, würden sie sich über die Mittel zu ihrer Erreichung streiten. Und selbst wenn mindestens ein Ziel, nämlich Frieden, allen Menschen gemeinsam ist, so werden sie nicht alle ein und denselben Frieden wollen, sondern jeder wird seine eigene Vorstellung von Frieden und bürgerlicher Gesellschaft realisieren wollen. Daraus entstehen unvermeidlich und paradoxerweise Konflikte – paradox sind die Konflikte, weil sie im Namen des Friedens bzw. der jeweils eigenen Vorstellung von Frieden durchgeführt werden, wie schon Augustinus beobachtet hatte („Auch die, welche den Frieden, in dem sie leben, stören wollen, hassen ja nicht den Frieden als solchen, sondern wollen nur einen anderen, der ihren Wünschen entspricht“, De Civitate Dei XIX, 12, in Augustinus 1955, 553).33 Kooperation stellt daher keine Lösung des Problems dar, wie die Menschen aus dem Naturzustand austreten sollten, denn freiwillige Kooperation bedeutet kein Ende des Krieges aller gegen alle. Der wahre Krieg ist nämlich der Krieg der Meinungen.

3.8. Der Krieg der Meinungen Der menschliche Hang zum Irrtum hat relevante Folgen nicht nur für die Entwicklung der Wissenschaft oder für die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern auch für das Zusammenleben der Menschen, da aus diesen Rechnungsfehlern (und aus dem unrichtigen Sprachgebrauch) Streit entsteht. Um ihn zu schlichten, muss man auf einen unparteiischen Dritten Rekurs nehmen, der seinerseits keineswegs über die absolute Wahrheit verfügt: Womöglich ist auch sein Urteil das Ergebnis einer schlechten Kalkulation. Seine Aufgabe ist es nur, dem Streit aufgrund seiner von beiden Parteien anerkannten Autorität ein Ende zu bereiten. Das erinnert unvermeidlich an die Aufgabe des Souveräns, dem dieser Schiedsrichter stark ähnelt. Nicht zufällig erwähnt Hobbes unter den Rechten „des Souveräns durch Einsetzung“ (Kap. 18) das Recht, „Richter zu sein, welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich sind und welche dazu führen“ (139). Hier nun die Passage aus Kap. 5: „Die Sicherheit ergibt sich weder aus der Vernunft eines einzelnen noch aus der irgendeiner Anzahl von Menschen – ebenso wenig wie eine Rechnung deshalb richtig durchgeführt worden ist, weil sie von einer großen Anzahl von Menschen übereinstimmend für richtig befunden wurde. Und deshalb müssen die Parteien bei einem Streit über eine Rechnung durch eigene Übereinkunft die Vernunft eines Schiedsrichters oder Richters, zu dessen Urteil sie beide stehen wollen, als rechte Vernunft einführen, oder ihr Streit muss entweder zu Handgreiflichkeiten führen oder unentschieden bleiben, da es keine von der Natur eingesetzte rechte Vernunft gibt. Dies gilt für alle Arten von Streitigkeiten.“ (33, Hervorheb. – A. P.) Die Vernunft (d. h. die Rechnungsfähigkeit) des Richters wird also als Wahrheit stiftende Vernunft eingeführt und von beiden streitenden Parteien anerkannt, möge sie nun tatsächlich aus einem richtigen Kalkül entstanden sein und die Wahrheit erreicht haben

33 Diese Stelle wird auch von Koselleck zitiert (in: Koselleck 1973, 162, Fn 45).

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oder nicht. Die Analogie zur Einsetzung des Souveräns ist unübersehbar: Die streitenden Parteien unterwerfen ihre eigene Rechnungsfähigkeit jener des Richters und verpflichten sich, dessen Schlüsse für wahr zu halten – eine Vorwegnahme der Autorisierungstheorie und der Auffassung vom Gesellschaftsvertrag als Anerkennung des souveränen Willens als Willen aller Untertanen. Dass hier Hobbes die Schlichtung politischer Streitigkeiten schon vorschwebt, zeigt außerdem der letzte Satz des Zitates. Wichtig ist, festzuhalten, dass der Gebrauch der Vernunft notwendigerweise zu Streitigkeiten führt, die eines Schlichters bedürfen, frrt über eine konventionell eingesetzte, allerseits anerkannte, absolute Autorität verfügt. Sein Wort wird aus demselben Prinzip als Wahrheit anerkannt, aufgrund dessen das Wort des Souveräns Gesetz ist: das Prinzip der Autorität („non veritas, sed autoritas facit leges“, wie es in der lateinischen Fassung von Kapitel 26 des Leviathan heißt). Die Rechtfertigung der Einsetzung einer absoluten Autorität über die Individuen wird also schon auf dieser Ebene angeboten. Offen bleiben jedoch wichtige Fragen, denen das Modell des Naturzustandes antworten wird. Was geschieht z. B., wenn die Parteien die Urteile des Richters doch nicht anerkennen, weil ihnen das nicht passt (eine Möglichkeit, die Hobbes ausdrücklich erwägt)? Verfügt er über die Macht, die Parteien zur Anerkennung seiner Urteile zu zwingen? Diese Macht wird eben den Souverän kennzeichnen. Hier aber befinden wir uns auf einer allgemeinen, politisch undefinierten Ebene: Das Modell des Schiedsrichters lässt sich nicht nur auf politische Streitigkeiten anwenden, sondern „auf alle Arten von Streitigkeiten“. Hobbes behauptet hier einfach ein allgemeines Autoritätsprinzip, das von dem anthropologischen Faktum herrührt, dass die Menschen beim Vernunftgebrauch immer wieder irren können und sich daher untereinander streiten. Auch unabhängig von den später eingeführten Charakterisierungen (Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht: 95) wird es demzufolge unvermeidlich zum Konflikt kommen – und ebenso unvermeidlich ist dann die Einsetzung eines Richters super partes, der den Konflikt nur kraft seiner von allen anerkannten Autorität und ohne Rekurs auf eine höhere Instanz (z. B. Gott, wie bei manchen mittelalterlichen Denkern, oder die rechte Vernunft, wie es später bei Kant der Fall sein wird) schlichtet. Der Streit unter Menschen entsteht somit schon auf der Ebene des Sprach- und Vernunftgebrauchs und wirft sofort seine Schatten auf die Gesellschaft, besonders wenn die streitenden Parteien die Entscheidungen des Schiedsrichters nicht annehmen, sei es, weil sie „nichts anderes wollen, als dass die Dinge nach keiner anderen Vernunft als ihrer eigenen entschieden werden sollten“, sei es, weil sie „jede Leidenschaft, die in ihnen gerade die Oberhand hat, als die rechte Vernunft angesehen haben wollen“ (33). Den Individuen der ersten Art fehlt es offensichtlich an Kooperationswillen: Sie unterwerfen sich dem Urteil des Richters nur unter dem Vorbehalt, dass es dem eigenen entspricht. Den Individuen der zweiten Art fehlt vor allem die Fähigkeit, ihre eigenen Leidenschaften zügeln zu können. Dem kalkulierenden Egoismus der Ersteren entspricht der unreflektierte Hedonismus der Letzteren. Beide Haltungen sind „für die menschliche Gesellschaft [...] unerträglich“ (33). Man stößt öfters im Leviathan auf diese zwei Grundtypen unbelehrbarer Unruhestifter. Es sind in erster Linie jene, die meinen, das Gemeinwesen besser als der herrschende Souverän regieren zu können, und die daher immer wieder versuchen, seine Stelle zu

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übernehmen. Oder jene, die bestimmte Entscheidungen des Souveräns für falsch oder unmoralisch halten und sich daher gegen deren Durchsetzung stemmen (kurz: jene, die meinen, ihnen stehe ein moralisch begründetes Widerstandsrecht zu). Es sind aber vor allem diejenigen, welche die Autorität des Souveräns in Frage stellen bzw. einschränken möchten. Und jene, welche bestimmte Bereiche dieser Autorität entziehen und ihrer eigenen Autorität unterstellen möchten, und somit eine Art „Gegensouverän“ bilden wollen. Hobbes denkt hier offensichtlich an die Lage Englands seiner Zeit, an den Streit zwischen König und Parlament, allgemeiner an den Kampf zwischen königlicher Autorität und feudalen oder ständischen Privilegien. Aber seine Kritik wendet sich vor allem gegen die Kirche – jene Kirche, die sich vom Souverän unabhängig machen will, unabhängig von der jeweiligen Konfession. Nicht zufällig ist die Hälfte des Leviathan der Religion gewidmet, und zwar in Bezug auf die Frage der Beziehung zwischen Staat und Kirche. Der Unterschied der Meinungen scheint also Hobbes genauso viel Sorge wie die drei negativen Eigenschaften aus Kap. 13 (Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht) zu bereiten. Das geschieht, weil die Handlungen der Menschen aus ihren Meinungen entspringen. Hobbes geht sogar bis zur Behauptung, der Mensch befinde sich „so lange im reinen Naturzustand, der ein Kriegszustand ist, wie private Meinungen Maßstab von Gut und Böse“ sind. (122) Deshalb muss derjenige, der Frieden und Eintracht unter den Menschen bewirken will, die Meinungen lenken. („Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung der Meinung“, 140). Die Rechtfertigung der Absolutheit der souveränen Macht gründet somit im unvermeidlichen Konflikt der Meinungen, da diesem der Konflikt der Handlungen, somit der Krieg (eventuell der Krieg aller gegen alle) folgt. Der Souverän muss eine uneingeschränkte Kontrolle über die Meinungen seiner Untertanen ausüben, weil sich Frieden nur dadurch bewahren lässt. Wollen also die Menschen den Kriegszustand verlassen (und prinzipiell wollen sie das, da sie gegen einen solchen Zustand Abneigung empfinden), bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich einem absoluten Souverän zu unterwerfen. Frieden und Sicherheit sind nur für Untertanen, nicht für freiwillig miteinander kooperierende Bürger möglich.

3.9. Der Souverän als Leviathan Will man den Status der Untertanen bei Hobbes verstehen, muss man zunächst den Sinn der Absolutheit der souveränen Macht klären. Der erste Schritt besteht darin, den genauen Inhalt des Vertrages zu analysieren, der diese Macht konstituiert. In der mittelalterlichen vertragstheoretischen Tradition gab es bekannterweise zwei Arten von Verträgen: die translatio imperii oder die concessio imperii, d. h. die bedingungslose Abgabe der Macht an den Souverän oder die bedingte und eingeschränkte Ausleihung der Souveränität. Im ersten Fall können die Untertanen keine Rechte gegenüber dem Herrscher geltend machen. Im zweiten ist dieser gegenüber dem eigentlichen

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Souverän, nämlich dem Volk, durch den Vertrag verpflichtet. Der Gerichtshof, der Charles Stuart verurteilte, ging eben von der zweiten Auffassung des Gesellschaftsvertrages aus. Es wird häufig angenommen, Hobbes gehe von der entgegensetzten Perspektive, von der Idee einer translatio imperii aus. Manchmal wird behauptet, bei Hobbes gebe es ein pactum subjectionis, einen Unterwerfungsvertrag. Dabei wird eine Begrifflichkeit benutzt, der man bei verschiedenen Vertragstheorien der Moderne begegnen kann: Diese unterscheiden manchmal zwischen einem pactum unionis, wodurch zuerst die Gesellschaft gebildet wird, und einem pactum subjectionis, wodurch das Volk die Macht an einen Fürsten (in welcher Form auch immer) weitergibt. In der Tat sind beide Bezeichnungen im Fall von Hobbes’ Gesellschaftsvertrag, wie er im Leviathan vorgestellt wird, ungenau. Dort verpflichtet sich jedes Individuum dazu, einen Menschen oder eine Versammlung als Autor seiner Handlungen anzuerkennen. Es handelt sich somit um einen Autorisierungsvertrag. Deshalb schickt Hobbes der Beschreibung des Vertrags im Kapitel 17 (dem ersten des zweiten Teils „Vom Staat“) ein Kapitel über die Begriffe von Person, Autor und Vertretung voraus, der prima facie den Fluss der Argumentation unterbricht, in der Tat jedoch dem Leser die begrifflichen Instrumente zum Verständnis des Gesellschaftsvertrages zur Verfügung stellt (es handelt sich um Kapitel 16, den letzten des ersten Teils „Vom Menschen“). Im Gesellschaftsvertrag gehen die Individuen eine reziproke Verpflichtung ein: Sie verpflichten sich dazu, die Handlungen und Entscheidungen einer Person als Ausdruck des eigenen Willens anzuerkennen. Diese Person kann entweder ein Einzelmensch, eine Gruppe von Menschen oder eine Versammlung sein. Sie ist der Souverän. Hobbes bietet hier eine rein rechtliche Definition des Souveräns an. Er ist eine künstliche Person, deren Worte und Handlungen „die Worte und Handlungen eines anderen Menschen oder Dinges vertreten, denen man sie tatsächlich oder durch Fiktion zuschreibt“ (123). Bekommt der Vertreter diese Autorität, so verpflichtet er durch seine Worte und Handlungen auch den Vertretenen, der als der wahre Autor jener Worte und Handlungen angesehen werden soll. Somit bleibt das Volk der Autor der Gesetze, die de facto von seinem Vertreter, dem Souverän, erlassen werden. Das bedeutet jedoch weder, dass die Souveränität vom Volke ausgeht, noch dass die Individuen auf alle natürlichen Rechte verzichten. Noch in De Cive hatte Hobbes die Rechte aufgelistet, auf welche die Individuen ausdrücklich verzichten sollen, wie z. B. das Recht auf Selbstjustiz, auf Kriegserklärung, auf Gesetzgebung usw. (De Cive, VI 4 ff.). Alle anderen Rechte bleiben den Individuen erhalten, so lange deren Wahrnehmung Frieden und Sicherheit nicht bedroht. In Hobbes’ Modell geben die Individuen nur einen Teil ihrer Rechte auf, im Unterschied zu Rousseaus oder Kants Gesellschaftsvertrag, bei dem sogar eine qualitative Veränderung der natürlichen Rechte stattfindet (die Individuen verlieren dort ihre natürliche Freiheit, um eine höhere Freiheit zu bekommen). Der Akt, durch den der Vertreter autorisiert wird, bildet gleichzeitig ein pactum unionis, denn dadurch wird die Menge zu einer Person: „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht. Denn es ist die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, dass eine Person entsteht.“ (125 f.) Eine Menge wird somit zu einem Volk erst

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dann, wenn sie einen Vertreter autorisiert, sie zu repräsentieren. Hobbes meint, eine solche Autorisierung sei prinzipiell uneingeschränkt, auch wenn er einige konkrete Einschränkungen vorsieht – was natürlich eine gewisse Verwirrung hervorbringt. Darauf werde ich zurückkommen (3.10). Vorher möchte ich jedoch einige Bemerkungen zum Begriff der Souveränität im Allgemeinen und insbesondere bei Hobbes machen. Thomas Pogge gibt folgende Definition von Souveränität und von absoluter Souveränität: „A is sovereign over B if and only if 1) A is a governmental body or officer („agency“), and 2) B are persons, and 3) A has unsupervised and irrevocable authority over B a) to lay down rules constraining their conduct, or b) to judge their compliace with rules, or c) to enforce rules against them through preemption, prevention or punishments, or d) to act in their behalf vis-à-vis other agencies (ones that do or do not have authority over them) or persons (ones whom A is sovereign over, or not). A has absolute sovereignty over B if and only if 1) A is sovereign over B, and 2) no other agency has any authority over A or over B which is no supervised and revocable by A.“ (Pogge 1992, 57). Wie Pogge selbst bemerkt, kann man diese letzte Definition als die einzig mögliche Definition von Souveränität bezeichnen. Das ist genau das, was Hobbes (und vor ihm z. B. Thomas, Marsilius oder Bodin) tut. Souveränität kann für ihn nur in einer einzigen Person (scil. im Sinne von „juristischer Person“) liegen, denn sonst findet der Krieg der Meinungen nie ein Ende. Das entscheidende Moment der Souveränität besteht in Hobbes’ Meinung im Punkt d), d. h. in der Repräsentationsaufgabe des Souveräns. In diesem Sinne ist Souveränität immer mit Repräsentation verbunden, auch im Fall einer (von Hobbes nie ausgeschlossenen, wenn auch nicht für gut empfundenen) Direktdemokratie:34 Die Volksversammlung würde dann als souveräner Körper die Gesamtheit der Bürger vertreten. Bei der Aristokratie wird diese Rolle von einer Gruppe von Individuen, bei der Monarchie von einem einzelnen Menschen übernommen. Souveränität wird nicht durch die konkrete Ausübung von Macht oder Gewalt, sondern durch die Autorisierung zur Repräsentation definiert, denn sonst ließe sich eine legitime Regierung nicht von einer Räuberbande unterscheiden, um Augustins berühmtes Beispiel zu benutzen. Hobbes gibt also eine formelle Definition von Souveränität. Sie wird zwar errichtet, weil die Individuen Angst um ihr Leben haben und dem Naturzustand entfliehen wollen; und sie besteht letztlich in einem bloßen Gewaltmonopol; aber ihre Legitimation ist

34 Zu Hobbes’ Kritik an die Demokratie, die derjenigen Thukydides’ verpflichtet ist, vgl. Dietz 1990, 92 f. Zu den Gründen, die ihn dazu führen, die Monarchie vorzuziehen vgl. König 1992, 41 ff.

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rein formell und basiert auf einem rechtlichen Instrument, dem Vertrag. So wie im Privatrecht ein Individuum oder eine Gruppe ein anderes Individuum oder eine andere Gruppe autorisiert, seine/ihre Interesse zu vertreten und in seinem/ihrem Namen zu handeln, so wird im öffentlichen Recht der Souverän von den Untertanen autorisiert, sie zu vertreten. Bei diesem Vergleich mit dem Privatrecht zeigt sich auch die Grenze von Hobbes’ Position.35 Beim privatrechtlichen Autorisierungsvertrag findet eine bloße concessio imperii statt: Der Vertreter wird zwar autorisiert, den Vertretenen uneingeschränkt zu repräsentieren, aber nur so lange er die Interessen des Letzteren wahrnimmt. Findet der Vertretene, dass der Vertreter seine Interessen nicht schützt oder sie vernachlässigt, kann er die Auflösung des Vertrages beantragen bzw. den Vertrag für nichtig erklären. Das ist genau die Situation, die Hobbes im Falle des Souveräns vermeiden möchte und ausdrücklich ausschließt. Hobbes’ Autorisierungsvertrag ist prinzipiell nicht nur uneingeschränkt, sondern auch zeitlich endlos. Der Grund, den Hobbes dafür anbietet, ist der schon erwähnte Hinweis, dass der Krieg der Meinungen nie enden würde, wenn die Untertanen (die Vertretenen) über das Handeln des Souveräns (des Vertreters) Urteile fällen dürften. Hobbes geht somit hier zur gesamten vertragstheoretischen Tradition auf Distanz. Diese hatte die Figur des Vertrags eben darum eingeführt, um die legitimen Grenzen der Macht des Souveräns festzusetzen und somit dem Volk eine Möglichkeit zu geben, rechtsgemäß den souveränen Willen in Frage zu stellen. Spinoza betont z. B. im Politischen Traktat, dass die Gesetze stärker als der Monarch sind und daher seiner Willkür eine Grenze setzen. Und wenn sein Wille gegen die von ihm selbst erlassenen Gesetze geht, sind die Untertanen und die Beamten nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, ihm in diesem Fall nicht zu gehorchen – und zwar aus Gehorsam, denn sie müssen den geltenden Gesetzen („Regis aeterna decreta“) gehorchen. Dabei handeln sie wie Ulysses’ Mitfahrende in der Syrenenepisode, wenn sie sich weigern, ihren Führer und König trotz seiner Befehle vom Mast abzubinden (Politischer Traktat VII, 1).36 Hobbes scheint die Behauptung umzukehren, wenn er im Kap. 26 schreibt: „Der Souverän eines Staates, ob Versammlung oder Einzelperson, ist den bürgerlichen Gesetzen nicht unterworfen. Denn da er die Macht besitzt, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, so kann er auch nach Gutdünken sich von der Unterwerfung durch Aufhebung der ihm unangenehmen Gesetze und durch Erlass neuer befreien – folglich war er vorher frei. Denn frei ist nur, wer frei sein kann, wenn er will. Es ist auch nicht möglich, gegen sich selbst verpflichtet zu sein, denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet.“ (204) Die Frage der Selbstverpflichtung wird auch Kant beschäftigen (vgl. unten 5.17) und ist für die Definition des Souveränitätsbegriffs entscheidend. Nimmt man mit Bartolus von Saxoferratus an, Souveränität sei als „potestas superiorem non recognoscens“ zu 35 Zu den Schwierigkeiten von Hobbes’ Repräsentationstheorie vgl. Pitkin 1967, 14 ff. 36 Die Spinoza-Passage wird von Elster zitiert, der sich ihrer bedient, auch um Hobbes’ Auffassung souveräner Macht zu kritisieren (Elster 2000, 88 f. und 147 f.; vgl. auch D’Andrea 1997, der sich auf eine frühere Fassung von Elsters Buch bezieht).

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bezeichnen, so kann es für den Souverän keinerlei Verpflichtung geben, da sie die Anerkennung einer höheren Macht impliziert. Aus dieser Perspektive ist außerdem Selbstverpflichtung eigentlich keine Verpflichtung, denn der Souverän kann sie jederzeit aufheben, wie Hobbes betont.37 Der Souverän ist für Hobbes legibus solutus, seine Macht ist absolut im wörtlichen Sinne, während Spinozas Ulysses durch seine früheren Befehle verbunden (und wörtlich gebunden) ist. Wie Elster zu Recht betont, kann Hobbes’ Behauptung der rechtlichen Absolutheit souveräner Macht zwar in der Theorie stimmen, für die politische Praxis gilt sie jedoch nicht. Hobbes würde die Voraussetzung seines Arguments (dass nämlich der Wille des Souveräns uneingeschränkt verbindend ist) selbst aufheben: „It is not true that ‚he that can bind, can release‘, if that statement implies that binding and releasing are equally easy. In politics as elsewhere, to make a promise and then break it is worse than not making it in the first place.“ (Elster 2000, 148).38 Die Haltung eines Souveräns, der seine eigenen Gesetze bricht bzw. nach Gutdünken ändert, würde seine Macht letztlich schwächen, denn die Untertanen würden ihm nicht trauen und sich schließlich gegen sein willkürliches Regime auflehnen, wie viele historische Beispiele zeigen. Ein Souverän, der seine Gesetze willkürlich erlässt und – noch schlimmer – auslegt, verursacht unvermeidlich jenen Krieg der Meinungen, zu dessen Beendigung er eingesetzt wurde. Er würde die rechtliche Sicherheit unterlaufen, auch wenn sein Tun rechtlich-formell legitim wäre: Ein Souverän, der die Gesetze nach seinem Gefallen modifiziert und biegt, erweckt schnell den Eindruck, er kümmere sich nicht um das Gemeinwohl, sondern nur um das eigene Privatinteresse. Das würde zwar die Untertanen nicht von ihrer Gehorsamspflicht befreien, ließe jedoch in der Praxis Unmut und Misstrauen entstehen – kurz: Es würde den Krieg der Meinungen wieder auslösen. In der Tat ist sich Hobbes dieser Gefahr sehr wohl bewusst. Er spricht an mehreren Stellen von Verpflichtungen auch in Bezug auf den Souverän, selbst wenn es sich um keine direkte Verpflichtung gegenüber dem Volk handelt (denn sonst unterschiede sich sein Modell keineswegs vom traditionellen Modell der concessio imperii). Der Souverän ist vielmehr gegenüber Gott und den natürlichen Gesetzen verpflichtet.39 Hobbes’ Argument ist mit seinen Grundannahmen und vorhergegangenen Behauptungen durchaus

37 Um zu erklären, wie doch Selbstverpflichtung ernst zu nehmen ist, muss Kant auf einen Vernunftbegriff zurückgreifen, der weitaus anspruchsvoller ist als der von Hobbes: TL, VI 417 f. 38 Eine ähnliche Kritik in: Pitkin 1967, 34: „A sovereign given complete power in perpetuity, with no obligation to consult the wishes of his subjects and no duties toward them which they can claim – surely nothing could be farther from what we ordinarly think of as representation or representative government!“ Daher sei Hobbes’ Repräsentationsbegriff „partial, formal and empty of substance“. Diese Kritik übersieht allerdings, dass Hobbes eben eine andere Auffassung von Repräsentation als die unsere hat. Elster weist hingegen auf eine konkrete Schwierigkeit hin, die Hobbes selbst sehen konnte (und die er m. E. tatsächlich sah). 39 Das war schon die Position von Johannes von Salisbury, als er in seinem Policraticus (1159) behauptete, der Fürst sei zwar „legis nexibus absolutus“, müsse jedoch dem Gesetze und der Gerechtigkeit gehorchen („legis tamen servus et aequitatis“), die Gottes Gabe sind (IV. Buch, Kap. 2; vgl. Salisbury 1909, Bd. 1, 237).

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konsistent. Sein Ausgangspunkt ist die Idee, dass auch der Souverän bestimmte Aufgaben hat, die aus seinem eigenen Selbstinteresse und aus den Interessen der Bürger entstehen, wie ich im folgenden Absatz zeigen werde.

3.10. Aufgabe und Verpflichtungen des Souveräns Hobbes geht von der Annahme aus, dass jeder Souverän seine Macht über die Untertanen behalten will (das folgt aus der anthropologischen Voraussetzung der menschlichen Herrschaftssucht). Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Souverän nicht nur Frieden unter den Untertanen und Schutz vor den äußeren Feinden garantieren, sondern auch keine Gründe zu Aufruhr und Auflehnung bieten. Es besteht folglich ein Selbstinteresse seitens des Souveräns, seine Untertanen nicht durch willkürliche und unnötige Gesetze zu tyrannisieren oder zu belasten. Neben solch ‚negativem‘ Interesse besteht für den Souverän außerdem ein positives Interesse, den Untertanen zum Wohlsein zu verhelfen. „Das Wohl des Souveräns und des Volkes können nicht voneinander getrennt werden. Ein Souverän, der schwache Untertanen hat, ist schwach“ (265), denn auf sie muss er bei der Erhaltung des Friedens und bei der Verteidigung gegen den äußeren Feind bauen. Es liegt also in seinem Interesse, Energie und Reichtum der Untertanen nicht allzu oft und allzu viel in Anspruch zu nehmen. Deshalb soll er so wenig Gesetze wie möglich erlassen und den Untertanen so viel Freiheit, wie es die Friedenserhaltung zulässt, garantieren. Und vor allem darf er seine Untertanen nicht ungerecht behandeln, auch nicht die niedrigsten und ärmsten, denn „das gemeine Volk ist die Stütze des Staates“, wie es in der lateinischen Fassung des Leviathan heißt (zit. in der dt. Fassung aus S. 262, Fn. 62). Hobbes warnt ausdrücklich vor den Folgen der Parteinahme des Souveräns zugunsten der Reichen und Mächtigen: „Straflosigkeit bewirkt Übermut, Übermut Hass und Hass das Bestreben, alle unterdrückende und kränkende Größe niederzureißen, und wäre es zum Verderben des Staates.“ (263) Neben diesem Argument aus der Perspektive des Selbstinteresses des Souveräns bietet jedoch Hobbes ein weiteres, das eher mit den Interessen der Untertanen verbunden ist. Die Tatsache, dass er sich im Gedankenexperiment hauptsächlich auf das Hauptinteresse der Individuen, nämlich das der eigenen Selbsterhaltung, beruft, hat bei vielen Interpretationen über sein Denken jene anderen Interessen der Menschen in den Hintergrund rücken lassen, die nach Hobbes’ Meinung für seine Argumentation mitentscheidend sind.40 Wenn er den Naturzustand beschreibt, stellt er nicht nur fest, dass das 40 Eine wichtige Ausnahme stellt Habermas 1978 dar. Dort identifiziert Habermas mindestens vier Grundsätze, die als Beleg für die These gelten können, Hobbes sei als „der eigentliche Begründer des Liberalismus“ anzusehen: „1. Die Herrschaft wird um des Friedens willen eingerichtet, der Friede der Wohlfahrt wegen erstrebt. Das Wohl besteht nicht nur in der Erhaltung des Lebens überhaupt, sondern in einem möglichst angenehmen Leben. [...] 2. Der Herrscher sorgt für die Wohlfahrt der Bürger durch Gesetze. Diese begründen und regeln die Eigentumsordnung [...]. 3. Die Gesetze haben den Charakter formaler und genereller Normen. Die Formalität des Rechts sichert den Bür-

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Überleben eines jeden bedroht ist, sondern er charakterisiert das Leben in einem solchen Zustand als „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (96). Die Bedrohung des eigenen Übelerbens ist dabei nur ein Element unter anderen, wenn auch das Schlimmste. Womöglich wäre es für sein Argument das Entscheidende, aber er bezieht sich ausdrücklich auch auf die anderen: die Abwesenheit der Technik (und der daraus resultierenden Bequemlichkeiten), der Naturwissenschaften, der gesellschaftlichen Beziehungen und sogar der Künste und der Literatur („kein Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren [...], keine bequemen Gebäude, keine Geräte [...], keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes“, 96). Dementsprechend zählt Hobbes zu den Aufgaben des Souveräns nicht nur die Sicherung des nackten Überlebens seiner Untertanen, sondern auch die Schaffung der Bedingungen eines bequemen, gesellschaftlichen und zivilisierten Lebens. An der entsprechenden Stelle (255) behauptet Hobbes ausdrücklich, dass der Souverän, „ob Monarch oder Versammlung“, zu einem bestimmten Zweck mit der souveränen Gewalt betraut wurde; dass dieser Zweck die Sicherheit des Volkes ist; und dass jedoch mit „Sicherheit“ „nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint [ist], sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“ (Hervorheb. – A. P.). Aus dieser Passage geht klar hervor, dass der Souverän irgendwie verpflichtet ist, dem Zweck zu dienen, aufgrund dessen er die absolute Macht bekommen hat. Die absolute Macht ist also keine willkürliche: Hobbes ist kein Befürworter despotischer Gewalt (vgl. Höffe 1987, 130 ff.). Die rechtliche Absolutheit der souveränen Macht dient dazu, jede Form von Widerstand und Kritik gegen diese Macht von vornherein als illegitim zu bezeichnen; sie stellt jedoch dem Souverän keinen Freibrief aus, die Untertanen zu tyrannisieren. Den Individuen bleiben, wie betont, Rechte erhalten, die sie jederzeit wahrnehmen dürfen, vorausgesetzt, dass dies den Frieden nicht bedroht.41 Der Souverän wird autorisiert, alles zu tun, um Frieden und Sicherheit zu schützen bzw. um ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Mehr darf und kann er nicht tun. Hobbes führt ein empirisches Argument an, das heutzutage an Kraft eher eingebüßt hat, wenn man die Auswüchse staatlicher Bürokratie und die zunehmende Verrechtlichung in unserer Gesellschaft bedenkt: „Es gibt auf der ganzen Welt keinen Staat, der genügend Vorschriften zur Regelung aller menschlichen Handlungen und Äußerungen erlassen hat, da dies unmöglich ist.“ Daraus folgt nach Hobbes notwendigerweise, „dass die Menschen gern Freiheit im Sinne von Freizügigkeit. [...] Sodann garantiert die Generalität der Gesetze eine formale Gleichheit der Rechte und Pflichten [...]. 4. Der Herrscher trägt dafür Sorge, dass durch so wenig Gesetze wie möglich so viele Bürger wie möglich so angenehm leben, als es die menschliche Natur nur eben gestattet.“ (Habermas 1978, 72 f.) 41 „Der mächtige Leviathan bleibt immer ein Mittel, kein Selbstzweck. Auch der souveräne Monarch ist nicht ‚von Gottes Gnaden‘, sondern um der utilitas der Bürger willen eingesetzt. Daher kann sein Herrschaftsanspruch, so groß er auch sein mag, nicht absolut unbegrenzt sein.“ (Fetscher 1976, 48).

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in allen vom Gesetz nicht geregelten Gebieten die Freiheit besitzen, das zu tun, was sie auf Grund ihrer eigenen Vernunft für das Vorteilhafteste zu tun“ (165), also was ihnen das Naturgesetz gebietet oder verbietet und was ihnen ihr natürliches Recht erlaubt (vgl. die Definitionen von S. 99). Hobbes’ Staat ist ein minimaler Staat, der sich nur um die Regelung bestimmter Gebiete kümmert: Gesetzgebung, Justizverwaltung, Verteidigung, Schulerziehung (besonders die Universitäten), Religionsausübung (255).42 Alles andere wird den Individuen überlassen: „... so zum Beispiel die Freiheit des Kaufs und des Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten, und dergleichen mehr.“ (165) Das schmälert das Recht auf Leben und Tod zwar nicht (a. a. O.), das der Souverän über die Untertanen hat, zeigt jedoch die Grenzen der legitimen gesetzgeberischen Tätigkeit des Souveräns selbst. Und da der Untertan das Recht hat, sich gegen seine Tötung durch den Souverän zu wehren – obwohl diese an sich kein Unrecht darstellt –, wird offensichtlich, dass Hobbes paradoxerweise manche Elemente mit jenen libertären Positionen gemeinsam hat, die im Staat nur ein notwendiges Übel sehen, dessen Macht möglichst eingeschränkt und in manchen Fällen nicht anerkannt werden muss. Im Unterschied zu den Libertären spricht Hobbes jedoch den Untertanen nicht das Recht zu, über das Handeln des Souveräns öffentlich zu urteilen bzw. sich gegen seinen Willen aufzulehnen. Das weist auf die wichtige Frage der Volkserziehung hin, auf die ich zurückkommen werde (vgl. unten 3.14). Hier sei nur festgestellt, dass sie eine der Hauptaufgaben des Souveräns ist, da von ihr der Erfolg seiner friedensstiftenden Mission abhängt. Der Souverän muss daher seine Untertanen zunächst von der Legitimität seiner Macht überzeugen bzw. „unterrichten“ (255 ff.). Er muss sie zudem davon überzeugen, dass er diese Macht zu ihrem Vorteil und nicht zu seinem eigenen einsetzt (257). Hobbes glaubt nicht, dass ein Souverän je imstande sein kann, die Untertanen durch Gesetze oder durch bloße Gewaltandrohung unter seiner Herrschaft zu halten (256). Es gehört somit zu seiner Aufgabe als Souverän, die Untertanen nicht durch willkürliche Entscheidungen zu provozieren. Vielmehr gilt für ihn, „die Gründe klarzulegen, weshalb das Gesetz erlassen wurde, und das Gesetz selbst so kurz, aber in so treffenden und bezeichnenden Ausdrücken abzufassen, wie möglich“ (265), damit der Streit oder „Wettkampf zwischen den Gesetzesverfassern und den Rechtsanwälten“ – auch ein Krieg der Meinungen – nicht ausbricht. Der Souverän ist außerdem verpflichtet, die Vernunftgebote (d. h. die natürlichen Gesetze) zum Inhalt der positiven Gesetzgebung zu machen. Es ist zwar fraglich, ob das im Falle mancher Gebote, wie z. B. der Bereitschaft zum Verzeihen oder der Dankbarkeit, geschehen kann – völlig ausgeschlossen ist es jedoch nicht, vorausgesetzt, dass 42 Hobbes listet folgende Kompetenzen auf: „Die Gewalt der obersten Gerichtsbarkeit, Krieg und Frieden kraft eigener Autorität zu erklären, die Beurteilung, was staatspolitisch notwendig ist, Steuern und Soldaten einzuziehen, wenn und soweit er es nach seinem eigenen Gewissen für notwendig hält, Beamte und Staatsdiener für Krieg und Frieden zu ernennen und Lehrer zu bestimmen und zu prüfen, welche Lehren mit der Verteidigung, dem Frieden und dem Wohl des Volkes vereinbar sind oder ihnen widersprechen.“ (255)

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das positive Gesetz nicht diese Haltungen gebietet, sondern lediglich jede Handlung verbietet oder bestraft, die als Missachtung jener Gebote interpretiert werden kann. Auch für Hobbes gilt, wie für Kant (vgl. unten 5.15), dass das Recht nur Handlungen, nicht Haltungen (bei Kant: Handlungen, nicht Motive) gebieten oder verbieten kann. Handlungen können jedoch auch als eine Folge bestimmter Haltungen angenommen werden, die der Souverän im Interesse der Gemeinschaft (sprich: zur Erhaltung des inneren Friedens) fest entschlossen ist auszurotten. Mit dem Recht (für Hobbes handelt es sich eigentlich eher um eine Verpflichtung), diese Gesetze in die positive Gesetzgebung aufzunehmen und somit bestimmte Haltungen (wenngleich in Form der aus solchen Haltungen hervorgehenden Handlungen) rechtlich zu gebieten oder zu verbieten, schafft sich der Leviathan gewaltsamen (da zwangsbefugten) Zugang zum Privatleben seiner Untertanen. Das wird aus einer liberalen Perspektive heraus als eine nicht wünschenswerte oder sogar mit aller Kraft abzulehnende Verletzung der Privatsphäre seitens des Staates angesehen, kann aber von einem weniger liberalen und weniger (legitimatorisch-)individualistischen Standpunkt aus (z. B. von einem utilitaristischen) durchaus gerechtfertigt werden. Hier – und nicht in der Absolutheit der souveränen Macht – zeigen sich die Grenzen von Hobbes’ Liberalismus und gleichzeitig sein versteckter Republikanismus, da er für eine staatlich verordnete bzw. kontrollierte Einmischung in die Meinungen und in der Moralität der Bürger eintritt. Judith Shklar hat auf die Gefahr hingewiesen, die mit einer solchen Einmischung verbunden ist: Untertanen von Regimes, die ihnen bestimmte moralische Werte oder Haltungen verordnen, werden diese nur dem Anschein nach entwickeln. Es ist also wahrscheinlich, dass die staatliche Einmischung nur Heuchelei und Anpassungsgeist produziert (Shklar 1984, 236; vgl. unten 7.6). Hobbes sieht eine solche Schwierigkeit nicht oder zieht es vor, sie zu verschweigen. Er meint, dass es dem Souverän zukommt, „in den Streitigkeiten zwischen Privatleuten erklären zu können, was Billigkeit, Gerechtigkeit und moralische Tugend ist“ und „ihnen bindende Kraft zu verleihen“ (205). Das mag für die Gerechtigkeit einleuchten, die ausschließlich in der bloßen Erfüllung von Verträgen besteht: Der Souverän ist u. a. dazu da, um diese Art von Gerechtigkeit durchzusetzen. Weniger klar ist die Lage bei der Billigkeit, es sei denn, es handele sich um die Billigkeit von Beamten und Richtern, denen der Souverän bestimmte Richtlinien in ihrer administrativen Tätigkeit oder in der Justizverwaltung auferlegen kann. Vollkommen unklar ist es hingegen, wie der Souverän der moralischen Tugend verbindliche, rechtliche Kraft durch „Anordnungen“ und „Strafandrohungen“ verleihen kann. Hobbes führt diesen Punkt nicht aus, und die Frage ist legitim, ob er das je hätte machen können. Entscheidend für unsere Zwecke ist auf jeden Fall die Tatsache, dass in Hobbes’ Meinung die souveräne Gewalt den Staat, den großen Leviathan, von alleine nicht aufrechterhalten kann. Dazu bedarf es vielmehr bestimmter Haltungen seitens der Untertanen – mit anderen Worten: Es bedarf der Bürgertugenden.

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3.11. Ethik und Moral bei Hobbes Es ist sicher unumstritten, dass man bei Hobbes auch von einer Moralphilosophie sprechen kann, denn er selbst tut das. Die umstrittene Frage ist vielmehr, was er darunter versteht. Noch weitgehender ist die Frage, ob das, was Hobbes als Moral bezeichnet, tatsächlich diesen Namen verdient. Hobbes spricht sowohl von einer Ethik als „Wissenschaft aus den Folgen der menschlichen Leidenschaften“ (Tafel von Kapitel 9, 65) als auch von Moralphilosophie als „Wissenschaft von dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist“ (122). Er scheint somit über jene Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen, der Ethik und der Moral, zu verfügen, deren sich Hegel in seiner Kritik an Kant bedienen wird. Bei Hobbes bekommt die Unterscheidung allerdings eine ganz andere Bedeutung als später bei Hegel; man wäre versucht zu sagen, eine umgekehrte Bedeutung, denn Ethik hat bei Hobbes mit der individuellen Privatmoral, Moralphilosophie mit der öffentlichen Moral zu tun. Aber man darf nicht der Versuchung nachgeben, den Gegenstand der Moralphilosophie Hobbes’ als eine Sittlichkeit ante litteram zu interpretieren. Wenn er „von dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist“ spricht, so meint er nicht, dass der Maßstab von Gut und Böse, von Tugend und Laster in den Werten einer bestimmten Gesellschaft liegt. Der Maßstab liegt vielmehr in dem souveränen Willen, der sich durch die Gesetze ausdrückt. Hobbes behauptet zwar, der Gegenstand der Moralphilosophie seien die natürlichen Gesetze. Er betont jedoch gleichzeitig, dass sie eigentlich keine Gesetze, sondern nur Weisungen der Vernunft sind (122), die erst durch ihre Positivierung durch den Souverän zu wahren Gesetzen, diesmal: zu bürgerlichen Gesetzen werden (205). Das soll nicht bedeuten, dass die Moralphilosophie als Gegenstand die positiven Gesetze hat, sondern nur, dass sie ihren Maßstab in diesen findet. Und es bedeutet weiter, dass der Gegenstand der Moralphilosophie und der Gegenstand der gesetzgebenden Tätigkeit des Souveräns mindestens zum Teil gleichwertig sind und beide mit dem friedlichen Zusammenleben der Untertanen, somit mit der Gesellschaft zu tun haben. Die Moralphilosophie als „Wissenschaft vom dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist“ zählt dann offensichtlich zur Politik, nämlich – wie es in schon erwähnten Tafel der Wissenschaften heißt – zu dem Zweig dieser Wissenschaft, die sich mit den „Folgen aus der Einsetzung von Staaten für Pflicht und Recht der Untertanen“ (65) befasst. Welche Pflichten und welche Rechte den Untertanen zukommen, ist nämlich etwas, das nur „im Verkehr und in der Gesellschaft“ festgesetzt werden kann – genauso gut wie im Fall von Gut und Böse. Und in beiden Fällen spielen die Vernunft und der Souverän (als Gesetzgeber, der den Weisungen der Vernunft den Rang von Gesetzen verleiht) eine entscheidende Rolle. In Bezug auf diesen Punkt setzt Hobbes seine eigene Moralphilosophie derjenigen von Aristoteles und der „anderer heidnischer Philosophen“ entgegen. Diese haben nach Hobbes’ Meinung eine Moralphilosophie entwickelt, die für den Staat gefährlich ist, da sie „Gut und Böse durch die Triebe der Menschen“ definiert – was eigentlich nur für die Personalmoral richtig ist, d. h. richtig, „solange wir davon ausgehen, dass jeder von seinem eigenen Gesetz beherrscht wird. Dann befinden sich die Menschen in dem Zustand,

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in dem sie kein anderes Gesetz kennen als ihre eigenen Triebe, so kann es keine allgemeine Regel für gute und böse Handlungen geben.“ (518 f.) In einem Staat ist das jedoch falsch: „nicht der Trieb von Privatleuten, sondern das Gesetz, das Willen und Trieb des Staates darstellt, ist der Maßstab“ von Gut und Böse (519). Würden die Menschen tatsächlich „die Güte oder Schlechtigkeit ihrer eigenen Handlungen, die Handlungen anderer und die Handlungen des Staates selbst nach ihren Leidenschaften“ beurteilen, so wäre dies „nicht nur sinnlos, sondern auch verhängnisvoll für das öffentliche Staatswesen“ (a. a. O.). Dann würde nämlich der Krieg der Meinungen wieder ausbrechen, denn verschiedene Menschen beurteilen auf verschiedene Weise, „was bei den Handlungen des täglichen Lebens mit der Vernunft übereinstimmt oder nicht. Ja, ein und derselbe Mensch hat zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ansichten [...] Daraus entstehen Zank, Streitigkeiten und zuletzt Krieg.“ (122, vgl. auch 246 f., wo das bürgerliche Gesetz als „Maß der guten und bösen Handlungen“ und den Gesetzgeber als „Richter“ darüber bezeichnet werden) Deshalb nennt Hobbes die wahre Moralphilosophie „die Wissenschaft von dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist“ (122, Hervorheb. – A. P.). Das bedeutet: Gut und böse sind jene Handlungen und Haltungen, die dem friedlichen Zusammenleben unter den Menschen dienen. Es sind jene Handlungen und Haltungen, welche die Vernunft nahe legt (und nicht: befiehlt), wie es am Ende von Kapitel 13 heißt (98). Es handelt sich also um die sogenannten Naturgesetze, die erst durch die gesetzgebende Tätigkeit des Souveräns zu eigentlichen Gesetzen, nämlich zu bürgerlichen Gesetzen werden. Am Ende dieses Prozesses sind somit die wahren Tugenden, die Weisungen der Vernunft oder Naturgesetze und die bürgerlichen Gesetze inhaltlich gleich. Maßstab von Gut und Böse wird daher der gesetzgebende Wille des Souveräns. In De homine (1658) wiederholt Hobbes auf noch unmissverständlichere Weise, was er schon im Leviathan gesagt hatte: dass der einzige Maßstab für gut und böse, Tugend und Laster, im Staat, nämlich in den Gesetzen (d. h. im Willen des Souveräns) zu finden ist. Alles, was nicht durch die Gesetze festgesetzt ist, bleibt dem Individuum frei: Es ist weder gut, noch böse, bzw. es gilt dafür die Maxime „soviel Menschen, soviel verschiedene Regeln für Tugend und Laster“ (DH, 41). Es gibt deshalb keine Moralwissenschaft außerhalb des Staates bzw. der bürgerlichen Gesellschaft, denn ohne den sicheren Maßstab der Gesetze ist keine genaue Bestimmung von „gut und böse“, daher keine Wissenschaft, sondern nur ein „leeres Gerede“ möglich (a. a. O.). In der Tafel von Kapitel 9 des Leviathan hatte Hobbes jedoch gesagt, die Ethik sei die Wissenschaft, die aus den Folgen der Leidenschaften resultiert; nun scheint er seine Behauptung zurückzunehmen. In der Tat spricht er nicht der Ethik an sich Wissenschaftlichkeit ab. Er bestreitet vielmehr, dass die Beschreibung der Folgen der Leidenschaften (die an sich gemäß Hobbes’ Definition von Wissenschaft durchaus wissenschaftlich sein kann) als Basis für normative Aussagen in Bezug auf das Gute und das Böse sein kann. Dass man aus bestimmten Anlagen auch einen bestimmten Charakter entwickeln kann, kann nicht als Gut oder Böse bezeichnet werden, so lange dieser Charakter die Sphäre des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens, also den Bereich der Moralphilosophie, nicht berührt. Mit anderen Worten: Geiz, Freundlichkeit, Liebe usw. sind moralisch gesehen

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neutral; sie können als Eigenschaften weder als gut noch als böse bezeichnet werden, aber man kann durchaus eine wissenschaftliche Beschreibung von ihnen anbieten. Billigkeit, Rachsucht oder Bereitschaft zum Verzeihen sind hingegen Eigenschaften, die in den Bereich des friedlichen Gesellschaftslebens fallen, daher können sie als gut bzw. böse beurteilt werden, denn man verfügt hier über einen sicheren Maßstab. Die Ethik befasst sich daher mit den Folgen der menschlichen Leidenschaften für das einzelne Individuum, nicht für die Gesellschaft. Der Status dieser Wissenschaft ist – wie gesagt – etwas rätselhaft. Während die Moralphilosophie eine beschreibende und gleichzeitig eine normative Bedeutung hat (sie besagt, welche Handlungen und Eigenschaften den Frieden fördern und gebietet den Menschen, sich dementsprechend zu verhalten), scheint die Ethik nur beschreibenden Charakter zu besitzen, da sie über keinen sicheren Maßstab von Gut und Böse, von Tugend und Laster verfügen kann. Außerhalb der Handlungen und Eigenschaften, die durch die Moralphilosophie definiert werden, herrscht nämlich nur die private Meinung: Es gibt dann keine souveräne Meinung, die als sicherer Maßstab dienen kann. Die Ethik erstreckt sich auf die Frage, was gut und was böse (d. h. eigentlich: schlecht) für die Einzelmenschen als private Individuen, nicht als Bürger bzw. Untertanen, ist. Dieser Bereich ist gemäß Hobbes’ Auffassung des Gesellschaftsvertrages und der Souveränität ein neutraler Bereich, in dem die Individuen frei sind, sich Handlungsrichtlinien und Lebensweisen beliebig auszusuchen, so lange sie den Frieden nicht bedrohen. Ein Beispiel von dem, was Hobbes als Ethik versteht, wären dann das Kapitel 6 des Leviathan und die Kapitel 11-13 von De homine, in denen er eben die Folgen der menschlichen Leidenschaften beschreibt, ohne sie aus einer wie auch immer definierten moralischen Perspektive zu beurteilen (mit Ausnahme der Absätze 8 und 9 des Kapitels 13 des De homine, in denen er die Unterscheidung zwischen privater Meinung und öffentlichem Maßstab, somit den Bereich der wissenschaftlichen Moralphilosophie definiert: vgl. unten 3.11). Andererseits scheint Hobbes auch dieses personale Verhalten dem natürlichen Gesetz zu unterstellen, wie z. B. als er von den Dingen spricht, „die zur Vernichtung von einzelnen Menschen führen wie Trunksucht und alle andere Arten von Unmäßigkeit, die man deshalb ebenfalls zu den Dingen rechnen kann, die das natürliche Gesetz verboten hat“ (120 – kursiv: A. P.). Hier eröffnet sich anscheinend eine gewisse Asymmetrie: Einerseits haben die natürlichen Gesetze mit der öffentlichen Sphäre des friedlichen Zusammenlebens zu tun, andererseits erstrecken sie sich mindestens auf Teile der privaten Lebensführung. Wie ist diese Diskrepanz zu interpretieren? Die Schwierigkeit kann gelöst werden, wenn man den Charakter der Moral bei Hobbes genauer betrachtet. Hobbes gründet seine Moral (die persönliche wie die öffentliche) zweifellos – und entgegen der sogenannten Taylor und Warrender-These (Taylor 1938, Warrender 1957, Brown 1959)43 – auf einer prudentiellen Basis (vgl. Watkins 1965). Taylor weist zu Recht auf die Tatsache hin, dass Hobbes den Leser durch zwei unterschiedliche Definitionen der natürlichen Gesetze verwirrt: Am Anfang von Kap. 14

43 Die Literatur zu dieser These ist fast unendlich. Leicht gekürzte deutsche Fassungen der Aufsätze von Taylor und Brown sind in Kersting 1996 zu finden.

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definiert er nämlich ein Gesetz der Natur, „eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel [a Precept or generall Rule fund out by Reason], nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“ (99); am Ende von Kap. 15 schreibt er: „Diese Weisungen der Vernunft [dictates of Reason] werden von den Menschen gewöhnlich als Gesetze bezeichnet, aber ungenau. Sie sind nämlich nur Schlüsse oder Lehrsätze [Conclusions, or Theoremes], die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient.“ (122) Während in der ersten Definition der imperativische Charakter des Gesetzes zur Geltung kommt (darauf gründet Taylor seine naturrechtliche Interpretation von Hobbes in Taylor 1938), spricht die zweite den natürlichen Gesetzen jeglichen imperativen Grundzug ab. Taylor insistiert auf der ersten Definition und zitiert Hobbes’ berühmten Satz: „Die natürlichen Gesetze verpflichten in foro interno ..., aber in foro externo, das heißt zu ihrer Anwendung, nicht immer.“ (121) Dabei blendet er beim Zitieren die wichtige Erklärung aus, die Hobbes für die Verpflichtung in foro interno gibt. Hier die Stelle in ihrer Ganzheit: „Die natürlichen Gesetze verpflichten in foro interno, das heißt sie verpflichten zu dem Wunsch, dass sie gelten mögen, aber in foro externo, das heißt zu ihrer Anwendung, nicht immer.“ Sie verpflichten mich also nicht, an ihre uneingeschränkte Gültigkeit zu glauben, sondern nur zu dem Wunsch, sie mögen gelten. Das lässt sich mit einer imperativischen Auffassung à la Taylor kaum in Einklang bringen, ist jedoch mit einer prudentiellen Lesart durchaus vereinbar: Da die natürlichen Gesetze Vorschriften bezüglich der Selbsterhaltung sind, verpflichten sie mich zu wünschen, dass sie ihr Ziel erreichen. Irritierend wirkt hier vielleicht der Umstand, dass Hobbes von Verpflichtung im Zusammenhang mit Wünschbarkeit spricht. Wir können diese Schwierigkeit mit Hilfe der Kantischen Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen lösen (vgl. GMS, IV 16 ff.). Hobbes’ natürliche Gesetze sind hypothetische Imperative: Sie verpflichten zu bestimmten Handlungen oder Verhaltensweisen, vorausgesetzt, man setzt sich ein Ziel, zu dessen Erreichung jene Handlungen oder Verhaltensweisen die notwendigen Mittel sind. Nach Kant gibt es zwei Arten solcher Imperative: technische und pragmatische. Die ersten betreffen die verschiedenen subjektiven Zwecke und gelten daher jeweils nur für die Menschen, die sich einen bestimmten Zweck setzen. Die anderen betreffen die Erreichung der Glückseligkeit und gelten für alle Menschen, da sie alle diesen Zweck notwendigerweise verfolgen. Ist aber der Inhalt der ersten relativ eindeutig, so ist der Inhalt der zweiten immer vage, da jeder Mensch Glückseligkeit nach seiner eigenen Façon erreicht. Wir könnten versucht sein, jene Unterscheidung auch auf Hobbes’ natürliche Gesetze anzuwenden, und sie auf die selbe Ebene der Kantischen pragmatischen Imperative zu heben. Aber sie betreffen die Erreichung eines Zieles (nämlich Selbsterhaltung), das nicht alle Menschen verfolgen. Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist Selbsterhaltung für Hobbes kein höchstes Gut, nach dem alle Menschen streben. Unser Philosoph wehrt sich ausdrücklich gegen die Existenz eines solchen letzten Ziels oder höchsten Gutes (75). Die Neigung zur Selbsterhaltung, obwohl sie eine entscheidende Rolle beim

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Ausgang aus dem Naturzustand spielt (sie bietet schließlich die einzige Motivation dafür), kann wie alle Neigungen durch eine andere ersetzt werden. Es ist nicht nur als Folge einer Fehleinschätzung der Mittel zur Erreichung dieses Zwecks, dass die Menschen ihre Selbsterhaltung selbst gefährden; sondern manche Individuen können das auch aus anderen Gründen tun, z. B. aus Furcht vor Schande (71), aus militärischer Tapferkeit oder aus bloßer Unmäßigkeit (120). Auch in Hobbes’ Definition eines Gesetzes der Natur kommt ein subjektives Moment zum Ausdruck („... das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“ heißt es auf S. 99), das den Raum für eine persönliche Moral öffnet, in der nur die subjektiven Meinungen zählen und kein objektiver Maßstab vorhanden ist, um zu entscheiden, welche Handlungen unterlassen werden sollten (etwa ein maßloses Trinken, um bei Hobbes’ Beispiel der Trunksucht zu bleiben). Somit sind die natürlichen Gesetze eher den technischen als den pragmatischen Imperativen gleich, etwa nach dem Muster: „Willst du dein Leben schützen, so sollst du folgende Vorschriften befolgen: Bemühe dich um Frieden!, usw.“ Man kann also durchaus von einem imperativischen Charakter der natürlichen Gesetze sprechen, vorausgesetzt, man versteht diesen Charakter im Sinne der Kantischen hypothetischen Imperative. Wenn ich mir also das Ziel der Selbsterhaltung setze, muss ich den entsprechenden Vorschriften der Vernunft Gehorsam leisten; und ich muss hoffen, dass alle anderen dasselbe tun. Das ist der Sinn der Wunschverpflichtung, jene Gesetze mögen gelten. Verpflichtung darf also hier nur dann in einem moralischen Sinne verstanden werden, wenn man mit Hobbes als „moralisch“ alles das definiert, was im Rahmen menschlichen Zusammenlebens zur Friedenserhaltung (d. h. auch zur Selbsterhaltung) dient. Es gibt daher zwar eine moralische Verpflichtung zur Errichtung des Staates durch den Autorisierungsvertrag, aber sie muss im Sinne von Hobbes’ Definition der Moral verstanden werden. (Das bedeutet allerdings weder, dass „prudentiell“ und „moralisch“ Synonyme, noch dass die Bereiche des Prudentiellen und des Moralischen gleichwertig sind. Es gibt nämlich prudentiell gebotene Handlungen, die moralisch neutral sind, da sie weder das friedlichen Zusammenleben noch die Selbstvernichtung der Individuen betreffen.) Eine letzte Bemerkung zum systematischen Platz der Ethik im Leviathan und in Hobbes’ Tabelle der Wissenschaften: Wenn er von den „andere[n] Dinge[n]“ spricht, „die zur Vernichtung von einzelnen Menschen führen“, fügt Hobbes hinzu: „Es ist aber weder nötig, sie ausdrücklich zu erwähnen, noch gehören sie unbedingt in diesen Zusammenhang“. (120) Dass sie nicht in diesem Zusammenhang gehören, wird offensichtlich, wenn man Folgendes beachtet: Das natürliche Gesetz verbietet – wie betont – einem Menschen, „das zu tun, was sein Leben vernichten kann oder ihm die Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“ (99); darunter fallen selbstverständlich Haltungen und Handlungen wie Trunkenheit, unnötiges Sich-tödlichen-Gefahren-Aussetzen usw., und insofern hat Hobbes auch recht, wenn er sagt, man brauche „diese Dinge“ nicht ausdrücklich zu erwähnen. Es handelt sich eben um Handlungen und Lebensweisen, welche die Selbsterhaltung „von einzelnen Menschen“ bedrohen, nicht jedoch den sozialen Frieden. Daher kann man sie in einem Zusammenhang ruhig beiseite lassen, in dem es ausschließlich um Letzteren geht. Es gibt deshalb in Hobbes’ Leviathan keinen

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Platz für die persönliche Moral als Lehre der für Individuen gebotenen Lebensführung, da sich das Werk zum Ziel setzt, eine Friedenslehre zu entwickeln. (Auch die ersten Kapitel stellen keine Zusammenfassung von Hobbes’ philosophischem System dar, sondern befassen sich mit genau jenen Elementen des Systems, die als Bausteine für den Aufbau der angestrebten Friedenslehre vonnöten sind: Was Sprache ist, was Vernunft, welches die Beweggründe menschlichen Handelns sind, usw.) Daher wird die Personalmoral als „Ethik“ in der Tafel von Kapitel 9 als ein Zweig der Physik eingetragen, nämlich als jener Zweig, der die Folge der menschlichen Leidenschaften studiert (65). Und daher ist sie Gegenstand von De Homine, nicht von De Cive.

3.12. Die Weisungen der Vernunft: Hobbes als Tugendethiker Hobbes’ natürliche Gesetze sind also keine eigentlichen Gesetze, sondern prudentielle Weisungen der Vernunft, die an sich zwar normative Kraft besitzen (wie Kants hypothetische Imperative), jedoch nicht immer über genügend motivierende Kraft verfügen. Die Menschen weichen im Gegenteil von diesen Weisungen häufig ab und verhalten sich nicht rational, sei es aus falscher Berechnung (Rationalität ist schließlich bei Hobbes ein Vermögen des Kalküls), sei es, weil sie eher ihren Leidenschaften folgen. Hobbes erwähnt bekanntermaßen neunzehn Gesetze der Natur, denen mindestens ein zwanzigstes hinzugefügt werden muss. Die ersten zwei Gesetze sind die grundlegendsten und werden getrennt im Kapitel 14 behandelt. Das erste besagt: „Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht“ (99), oder in einer kürzeren Formulierung „Suche Frieden und halte ihn ein!“ (100) Alle anderen Gesetze werden aus diesem abgeleitet, denn sie sind nur dessen Explikationen: Sie spezifizieren, welche Handlungsweise geboten bzw. verboten sind, um Frieden zu erhalten. Sie alle entsprechen der allgemeinen Definition eines Naturgesetzes („eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten kann, oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch er seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“, S. 99), da sie alle bestimmte Handlungen oder Handlungsweisen gebieten bzw. verbieten (ich benutze hier die Ausdrücke „Gebot“ und „Verbot“ bzw. „gebieten und verbieten“ im oben erwähnten hypothetisch-imperativischen Sinn). Das zweite Gesetz besagt: „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält“ (100). Die ersten zwei Gesetze führen zum Abschluss des Gesellschaftsvertrages und zur Errichtung des Staates. Im folgenden Kapitel 15 stellt Hobbes die anderen Gesetze der Natur vor. Jedem Gesetz lässt er eine Tugend bzw. deren entgegensetztes Laster entsprechen. Wie findet der Übergang von objektiven Gesetzen zu einer subjektiven, persönlichen Einstellung statt? Fordert die Vernunft in ihren Weisungen bloß Handlungen oder Tugenden? Hobbes beschreibt den Übergang nicht: Für ihn ist es wahrscheinlich offensichtlich, dass die Weisungen der Vernunft erst dann ihren Zweck (Friede und Sicherheit zu ermöglichen) erreichen können, wenn sie nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder befolgt

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und letztlich verinnerlicht werden, damit der Zustand des Frieden und der Sicherheit dauerhaft garantiert wird. Ließe die Befolgung der Weisungen der Vernunft nach, wäre bald dieser Zustand gefährdet, und man würde wieder langsam aber sicher in den Naturzustand abrutschen. Daher lässt Hobbes jedem Gesetz der Natur eine Tugend entsprechen, auch wenn er sie nicht in jedem Falle ausdrücklich erwähnt. Diese Tugenden werden von Hobbes positiv oder negativ (d. h. als Verbote einer bestimmten Einstellung bzw. eines bestimmten Lasters) formuliert. Ich betone hier noch einmal, dass moralische Tugenden von Hobbes als „Weg oder das Mittel zu Frieden“ definiert werden (Kap. 15, 122) und daher einen instrumentellen Charakter besitzen. Die von Hobbes geforderten Tugenden bzw. verbotenen Laster sind (die Nummerierung entspricht dem jeweiligen natürlichen Gesetz): 1) die Friedsamkeit (die wichtigste Tugend aus einer Perspektive, in der die Sicherung von Frieden die Hauptaufgabe des Staates darstellt), 2) das Verbot des „Trittbrettfahrens“ bzw. die Bereitschaft, sich für die Herstellung und Erhaltung von Frieden und Sicherheit zu engagieren, 3) die Gerechtigkeit (als Tugend, nicht einfach als Gerechtigkeit der Handlungen: 114; vgl. auch 260), 4) die Dankbarkeit,44 5) die Bereitschaft zum Entgegenkommen (Hobbes spricht sich dabei ausdrücklich für einen Ausschluß der unverbesserlichen Störenfriede aus der Gesellschaft aus), 6) eine bedingte Bereitschaft zum Verzeihen (nämlich immer dann, wenn dadurch Frieden gewährt werden kann), 7) das Verbot, „eine Bestrafung in anderer Absicht zu verhängen als der der Besserung des Täters und der Anleitung anderer“ (117), also das Verbot der Grausamkeit (die entsprechende Tugend wäre die Menschlichkeit und Angemessenheit beim Bestrafen), 8) das Verbot der Beleidigung, 9) das Verbot des Hochmuts, 10) das Aufweisen von Bescheidenheit und Anmaßung, 11–20 )45 das Gebot der Billigkeit bzw. das Verbot der Begünstigung in Bezug auf verschiedene Gebiete (Privateigentum, Justizverwaltung usw.). Diese Gesetze sind „Weisungen der Vernunft“. Würden sie befolgt, würden die Menschen in Frieden und Sicherheit leben (wobei Sicherheit mehr als die bloße Erhaltung des Lebens ist, wie schon gesehen). Sie können als Vorschriften gelesen werden, die alle Bürger erfüllen sollten, damit der Staat, in dem sie leben, erhalten bleibt. Daher kann

44 Es lohnt sich hier, die Stelle genauer unter die Lupe zu nehmen, da sie Entscheidendes zur Beantwortung der Frage von Hobbes’ angeblich egoistischem Menschenbild beitragen kann. Hobbes schreibt: „Empfängt jemand von einem anderen einen Vorteil aus reiner Gunst, so soll er sich bemühen, dass der Schenker keinen vernünftigen Grund hat, seinen guten Willen zu bereuen.“ (116) Dann fügt er sofort hinzu: „Denn niemand schenkt etwas ohne die Absicht, sich dabei selbst ein Gut zu verschaffen.“ Hier scheint Hobbes den Menschen jegliche Selbstlosigkeit abzusprechen. Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, dass Hobbes altruistische Motive durchaus annimmt, auch wenn er sie im Sinne seiner mechanistischen Anthropologie deutet. Hier scheint er eher von der Annahme altruistischer Motive nicht ausgehen zu wollen, denn eine solche Annahme wäre eine schwer zu beweisende anthropologische Voraussetzung. Man muss nach Hobbes’ Meinung auch dann dankbar sein, wenn der andere aus selbstbezogenen Motiven gehandelt hat, denn Undankbarkeit schmälert die Kooperationsbereitschaft und lässt das Misstrauen wachsen. 45 Das 20. Gesetz wird erst im 26. Kapitel eingeführt, wo Hobbes sagt, dass es dem Gesetz der Natur widerspricht, „einen Unschuldigen zu bestrafen“ (213).

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die Befolgung dieser Vorschriften keine einmalige Handlung sein. Sie müssen vielmehr verinnerlicht werden, so dass man letztlich von Bürgertugenden sprechen kann: Die Bürger müssen gerecht, dankbar und entgegenkommend sein; sie müssen bereit sein zu verzeihen und – sollte es trotzdem zu einer Bestrafung kommen – müssen sie menschlich bleiben; sie dürfen die anderen Bürger nicht beleidigen; sie dürfen sich weder hochmütig noch anmaßend sondern bescheiden geben; und sie müssen immer die Vorschriften der Gerechtigkeit befolgen. Die Grundidee Hobbes’ scheint somit zu sein, dass eine bloße Befolgung der Naturgesetze nicht ausreicht, sondern dass mit ihr besser eine Internalisierung der Weisungen der Vernunft einhergehen sollte. Interessanterweise entspricht das der Position vieler gegenwärtiger Theorien über das Verhalten von Individuen innerhalb der Gesellschaften bzw. kollektiven Körperschaften, wie z. B. Staaten (vgl. Hardin 1995a, 14 ff.; Hardin 1995b und Wendt 1999, 220). Selbstinteresse allein kann unmöglich Kooperation garantieren, da der Mensch immer wieder selbstzerstörenden Leidenschaften wie Ruhmsucht und Hochmut unterliegt;46 andererseits sind auch die konkreten Fähigkeiten eines Souveräns, den Krieg der Meinungen endgültig zu beseitigen, ziemlich eingeschränkt. Dass sich Hobbes der Grenzen der souveränen Macht sehr bewusst war, zeigt eindeutig seine Rekonstruktion des englischen Bürgerkriegs im Behemoth. Dort bezeichnet A (der Dialogteilnehmer, der als Augenzeuge dem jüngeren B die Geschichte der Wirrungen erzählt) Karl I. als einen König, der nicht nur mit voller Legitimität seine Macht ausübte,47 sondern darüber hinaus voller Tugenden war und seinen Aufgaben pflichtbewusst nachging. Das hat ihm aber nichts genutzt, da er die Meinungen seiner Untertanen nicht genügend kontrollierte. Hobbes zählt nämlich am Anfang seines Buches sechs verschiedene Gruppen von Individuen auf, die mit ihren Meinungen zunächst den Frieden bedrohten und schließlich zum Krieg führten, und fügt als entscheidendes Moment die Tatsache hinzu, dass das Volk über die eigenen Pflichten und über die Notwendigkeit der Existenz eines Königs oder einer Republik [commonwealth] nicht genügend unterrichtet war – ja, sie sogar als eine unbegründete Last ansah. Die von Hobbes erwähnten Gruppen können auf die beiden Typen von Friedensstörern, die wir schon aus dem Leviathan kennen, zurückgeführt werden: diejenigen, die meinen, besser als der Souverän über sich selbst und die eigenen Interessen entscheiden zu können, und diejenigen, die glauben, die Entscheidungen des Souveräns müssen mit bestimmten moralischen oder religiösen Vorschriften im Einklang stehen. Die sechs Gruppen des Behemoth gehören entweder zu der ersten oder zu der zweiten Kategorie: 46 Ich möchte nochmals betonen, dass Hobbes’ Argument gegen den Einwand der Narren zwar zeigt, dass es unvernünftig ist, sich prinzipiell der Kooperation durch List zu entziehen, es besagt jedoch nicht, dass sich die Menschen deswegen immer vernünftig verhalten. 47 Selbstverständlich legitimiert A diese Macht durch Bezug auf das historische Recht von Karl I. als Nachfolger in einer ununterbrochenen Linie von Herrschern, und nicht durch ein hypothetisches Argument wie im Leviathan: Hier es geht es nicht nur darum, die Notwendigkeit souveräner Macht schlechthin zu zeigen (diese Lehre sollte eher aus den furchtbaren Ereignissen des Krieges als aus einem philosophischen Argument resultieren), sondern auch die Legitimität von Karls Titel und Besitz des Amtes aufzuweisen.

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die ersten vier (Kleriker, Papisten, Angehöriger verschiedener christlicher Sekten und allgemeine Gegner der Monarchie) zählen offensichtlich zur Kategorie der religiösen Eiferer und der Moralisten; die letzten zwei (Kaufleute und Bürger der Handelsstädte einerseits, Abenteurer aller Arten andererseits) stellen das eigene Interesse vor jenes des Gemeinwesens und meinen, der König könne oder wolle es nicht fördern. Interessant ist die Reaktion des zweiten Dialogteilnehmers B auf die Analyse von A: Bei einem Volk, das so veranlagt war, sei der König schon aus der Regierung ausgeschlossen; es sei daher eigentlich gar nicht notwendig gewesen, dass jenes die Waffen gegen diesen erhebe, denn es sei nicht zu sehen, wie der König einem Volke widerstehen könne, das gegen ihn dermaßen aufgebracht sei. Für Hobbes war es also offensichtlich, dass auch ein legitimer und guter Souverän nicht imstande ist, seinem Zweck (d. h. Erhaltung der Sicherheit des Volkes) nachzugehen, wenn ein relevanter Teil des Volkes selbst dessen Autorität nicht bedingungslos anerkennt, oder wenn es sie sogar anzweifelt. Die bloße Gewalt reicht also nicht aus, um die Herrschaft zu behalten, wie schon Machiavelli erkannt hatte. Hobbes (wie auch der Souverän) muss daher die Bereitschaft der Untertanen voraussetzen, die eigenen Leidenschaften auch unabhängig von der Gewaltandrohung des Gesetzes zu unterdrücken und eine Haltung anzunehmen, die dem Krieg abschwört und einen stabileren Frieden unter ihnen ermöglicht. Von den Untertanen wird also erwartet, dass sie die natürlichen Gesetze so weit verinnerlichen, dass sie zu Tugenden werden. Berkowitz schreibt zu recht: „Virtue lubrificates the joints and moving parts of Hobbes’s complex political machine.“ (Berkowitz 1999, 39) Ohne die erwähnten Tugenden würde das politische Modell von Hobbes nicht funktionieren. Deshalb identifiziert Hobbes die wissenschaftliche Kenntnis der natürlichen Gesetze (d. h. der Weisungen der Vernunft) mit der „wahren und einzigen Moralphilosophie“, verstanden als „die Wissenschaft von dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist“ (122; vgl. oben 3.11). Einige Bemerkungen sind nun angebracht: Hier zeigt sich endgültig, dass man Hobbes’ Vernunftbegriff nicht bloß als strategische oder instrumentelle Rationalität interpretieren darf. Die Vernunft ist vielmehr das Instrument, das es uns ermöglicht, durch Kalkül unser wahres Interesse auch außerhalb der gegenwärtigen Situation zu finden. Der rationale Agent von Hobbes verfolgt nicht nur sein unmittelbares Selbstinteresse, sondern sieht sein Wohl (das, wonach er sich hingezogen fühlt) in einer Situation, in der er womöglich eben auf dieses unmittelbare Interesse verzichten muss. Das Kalkül der Vernunft beschränkt sich keineswegs auf das Hic et Nunc, sondern schließt eine Vorstellung des Zusammenlebens mit den anderen ein, in dem man nicht nur das nackte Überleben garantiert bekommt, sondern darüber hinaus ein angenehmes Leben finden kann – kurz: eine Vorstellung des guten Lebens. Nicht zufällig benutze ich hier diesen aristotelischen Begriff, denn genau in seiner Theorie der Haltungen, welche die Untertanen notwendigerweise einnehmen sollten, zeigt sich eine gewisse Nähe von Hobbes zu Aristoteles, obwohl sich unser Denker vom Aristotelismus ausdrücklich distanziert. Dem Philosoph aus Stagira wirft Hobbes bekanntlich vor, „die Tugend in die Mitte zwischen den Leidenschaften“ zu legen, „als ob nicht der Grund, sondern der Grad des Wagens die Tapferkeit und nicht der Grund, sondern die Größe der Gabe die Freigiebigkeit ausmachte!“ (122). Es bleibe dahinge-

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stellt, ob jene – eigentlich nicht neue – Kritik die aristotelische Tugendlehre wirklich trifft. Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass für Hobbes Aristoteles eine falsche Definition der Tugend angab, der er seine eigene entgegenstellt: Tugenden sind „Mittel zu einem friedlichen, geselligen und bequemen Leben“ (a. a. O.).48 Wir können also eine gewisse Analogie zwischen dem teleologischen Tugendverständnis des Aristoteles und dem prudentiellen Tugendverständnis von Hobbes erkennen: In beiden Fällen sind Tugenden die Mittel zur Erreichung eines Ziels. Aber Aristoteles sieht in diesem Ziel ein telos, das die Natur den Menschen gegeben hat, und das jedes Individuum gemäß seiner Fähigkeiten und Charakteristiken verfolgen muss. Hobbes identifiziert hingegen das Ziel mit einem Zustand von Frieden, Geselligkeit und Bequemlichkeit, zu dem alle Menschen neigen, und den der Einzelne nur in Zusammenarbeit mit den Anderen erreichen kann. Aristoteles’ Tugenden sind vornehmlich individuelle Tugenden, ungeachtet ihrer Auswirkungen auf die Mitmenschen und auf die Gesellschaft, denn jedes Individuum verfolgt durch sie die eigene Vollkommenheit, das eigene telos. Hobbes’ Tugenden sind ausschließlich politischer Natur: Sie dienen einem allgemeinen politischen Zweck (Frieden, ein angenehmes Leben) und betreffen das Zusammenleben der Individuen. Sie sind soziale Tugenden, die nicht von isolierten Individuen kultiviert werden können – im Gegensatz zu vielen (wenngleich nicht zu allen) aristotelischen Tugenden, allen voran den dianoëtischen. Das bedeutet jedoch nicht, dass für Hobbes Moralität der Ausübung der im Leviathan erwähnten politischen Tugenden gleichkommt: Es gibt auch moralische Verpflichtungen, welche die private Lebensführung betreffen, wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 3.11). In De Homine kommt Hobbes außerdem noch einmal auf die Bürgertugenden zu sprechen, um sie von den Tugenden zu unterscheiden, die nur für den Menschen als Individuum gut sind. Dabei nimmt er als Beispiel drei Tugenden, die nicht nur zusammen mit der Gerechtigkeit (die hingegen offensichtlich eine politische Tugend ist, da sie im „Befolgen der Gesetze“ besteht) die vier traditionellen Kardinaltugenden ausmachen, sondern im politischen Aristotelismus wie im Republikanismus als primäre Bürgertugenden gelten: Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit (DH 42). Hobbes’ Meinung ist eindeutig: Sie sind „nicht Tugenden der Bürger als Bürger sondern als Menschen; denn sie sind nicht so sehr dem Staate als den einzelnen Menschen selbst, die sie besitzen, nützlich“ (a. a. O.). Hobbes rechtfertigt seine Position durch ein prima facie merkwürdiges Argument: „Ein Staat nämlich wird zwar erhalten nur durch Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der guten Bürger, zerstört aber wird er wiederum nur durch Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der Feinde.“ Jene Eigenschaften, die bei den eigenen Bürgern die Kraft eines Staates ausmachen, können also, wenn sie auch bei den Feinden zu finden sind, sein Ende bedeuten. Damit meint Hobbes nicht, diese Qualitäten seien für den Staat negativ, sondern bloß, dass sie für ihn neutral sind. Sie können für das Heil des Staates entweder gut oder böse sein, je nach den Umständen (und den 48 Insofern ist Berkowitz sicher zuzustimmen, wenn er behauptet: „Hobbes’ Leviathan is firmly grounded in reflections on the virtues that conduce to peace“ (Berkowitz 1999, 38), während gleichzeitig Mary Dietz’ Behauptung, der Leviathan sei „a tract on civic virtue“ (Dietz 1990, 92) als etwas übertrieben angesehen werden muss.

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Trägern solcher Eigenschaften). An sich dienen sie nur den Menschen, die sie haben – besonders Mäßigkeit, da sie „ein Nichtvorhandensein der Laster“ ist, und die Laster schädigen „weniger den Staat als vielmehr den einzelnen Menschen“. (A. a. O.). Hobbes gibt folgende Zusammenfassung seiner Tugendlehre: „Gute Anlagen sind solche, die geeignet sind, eine staatliche Gemeinschaft zu bilden; ein guter Charakter, d. h. sittliche Tüchtigkeit, ist ein solcher, durch den die Gemeinschaft, wenn sie gebildet ist, am besten erhalten werden kann.“ (DH, 42 f.) Er zieht dann folgenden Schluss: „Alle Tugenden aber sind enthalten in Gerechtigkeit und Liebe“ (DH 43), d. h. im Befolgen der staatlichen Gesetze bzw. der natürlichen Gesetze (DH 42). Soweit also der Bürger die positiven Gesetze seines Staates befolgt, handelt er aus Gerechtigkeit, nicht aus Liebe. Hält er sich jedoch an die natürlichen Gesetze, unabhängig von ihren positiven Eigenschaften, dann ist das Motiv seiner Handlung die Liebe.49 Somit übersetzt Hobbes die christliche Tugend der Nächstenliebe in die Befolgung der Weisungen der Vernunft (Friedfertigkeit, Bereitschaft zum Verzeihen, Dankbarkeit usw.). Man darf jedoch nicht denken, diese Liebe sei für den Staat nur soweit notwendig, bis der Souverän die Weisungen in die positive Gesetzgebung aufgenommen hat. Auch wenn die bürgerlichen Gesetze eine positive Fortführung der natürlichen darstellen, können sie nur die entsprechenden Handlungen, nicht jedoch die entsprechenden Haltungen gebieten bzw. verbieten. Von den Bürgern ist also gefordert, dass sie jene Haltungen aus Liebe einnehmen. Diese Liebe darf allerdings nicht mit Vaterlandsliebe oder Liebe zu den Landesgenossen verwechselt werden. In Hobbes’ Theorie gibt es für solche Gefühle keinen Platz. Und keinen Platz gibt es auch für Begriffe wie Vaterland oder Nation. Der Staat entsteht nicht aufgrund des Vorhandenseins einer durch gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur vereinigten Gruppe von Menschen: Wir dürfen nicht vergessen, dass vor der Errichtung des Leviathan das Volk nicht existiert. Der Staat ist vielmehr ein künstlicher Zusammenschluss von Individuen auf der Suche nach Frieden und Sicherheit. Wenn der Souverän nicht mehr imstande ist, diese zu garantieren, haben sie das Recht, sich von jeglicher Verpflichtung ihm (daher dem Staat) gegenüber frei zu fühlen, und sind autorisiert, sich einen neuen Herrscher zu suchen, denn „Zweck des Gehorsams ist Schutz“, wie es im Leviathan heißt (171; vgl. auch 254). Im „Rückblick und Schluss“ dieses Werkes wird es noch deutlicher wiederholt: Jedermann ist zwar „von Natur aus verpflichtet, soweit es in seiner Macht steht, im Krieg die Autorität [nicht: seine Mitbürger oder sein Vaterland – A. P.] zu schützen, durch die er in Friedenszeiten geschützt wird“, doch verwirft ein Eroberer diese Autorität, so sind die Menschen autorisiert, sich ihm zu unterwerfen (536 f.). Es war eben diese Lehre, die Hobbes starke Feindseligkeit beim Exilhof einbrachte, und die gleichzeitig seine Rückkehr nach England erleichterte (vgl. dazu Metzger 1991). Aber es gab auch andere Gründe, die Hobbes Schwierigkeiten bereiten sollten, als Karl II. an die Macht kam, und sie waren weniger mit politischen als mit religiösen Fragen verbunden.

49 In dieser Hinsicht erinnert Hobbes’ Unterscheidung von Gerechtigkeit und Liebe an die Kantische zwischen Legalität und Moralität (nicht jedoch an die zwischen Achtung und Liebe, da beide nur mit der ethischen Gesetzgebung, somit mit Tugend zu tun haben).

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3.13. Die Religion als Instrumentum Regni Im Leviathan wird der Religion ein weitaus größerer Platz als der Politik eingeräumt (zu dieser Frage vgl. Großheim 1996 und die dort erwähnte Literatur): Ihr sind zwei der vier Teile des Buches gewidmet, während sich der erste Teil mit Anthropologie und Moral, der zweite mit dem Staat beschäftigt. Das verwundert nicht angesichts der Entstehungsgeschichte des Werkes, das Hobbes unter anderen verfasste, um Position zu beziehen im damals in England entflammten Streit über die Beziehung zwischen Staat und Kirche. Es war u. a. seine Auffassung dieser Beziehung, die ihm die Missgunst der Geistlichen um den exilierten Karl II. und die Ungnade von Stuart selbst einbrachten, so dass sich Hobbes gezwungen sah, aus dem französischen Exil Hals über Kopf in sein Heimatland zu flüchten. Nach der Rückkehr des Königs nach England musste Hobbes dann um sein Leben fürchten, da mehrmals eine Anklage wegen Ketzerei gegen ihn erhoben wurde. Seine Gönner konnten ihn aber immer wirksam gegen seine Feinde, allen voran Edward Hyde, verteidigen. Was war so ketzerisch an Hobbes’ Auffassung? Für Hobbes ist Religion ein instrumentum regni, ein Mittel zur Machtausübung. Dabei reiht er sich in eine lange Tradition politischer Denker ein, zu denen auch Machiavelli gehört (vgl. oben 2.11). Hobbes’ Analyse der Religion kommt derjenigen des Florentiners sehr nahe, obwohl der Engländer auf das Thema nicht nur mit einer rein politischen Perspektive eingeht. Er behandelt es nämlich schon im I. Teil des Leviathan, welcher der Natur des Menschen gewidmet ist. Im Kapitel 12, „Von der Religion“, interpretiert Hobbes diese als anthropologisches Phänomen. Im Unterschied zu Tieren sind Menschen immer auf der Suche nach der Ursache der von ihnen wahrgenommenen Ereignisse und entwickeln dabei die Fähigkeit, über die Zukunft nachzudenken: Sie erinnern sich nämlich bei ihrer Beobachtung der Ursachen an vergangene Beobachtungen und ziehen daraus Schlüsse über die Zukunft. Solche Eigenschaften (Neugierde über die Ursachen der Ereignisse und Fähigkeit, an die Zukunft zu denken) bewirken Angst, da sich der Mensch unvermeidlich Sorge über seine Zukunft macht. Da die Angst aus keinem sichtbaren Gegenstand entspringt, schreiben die Menschen Glück und Unglück einer unsichtbaren Macht zu. Die Götter sind somit „von der menschlichen Furcht geschaffen worden“ (83). Kaum war mit den Göttern die Religion erschaffen, kamen prompt einige Menschen auf die Idee, sich derer für ihre Machtzwecke zu bedienen: Dabei handelten manche zwar „auf Grund göttlichen Befehls und göttlicher Weisung“, wie z. B. Abraham und Moses; andere jedoch nach eigener Erfindung, und das waren nach Hobbes, der in diesem Punkt mit Machiavelli übereinstimmt, „alle Staatsgründer und heidnischen Gesetzgeber“. Unabhängig davon, ob diese Menschen auf Gottes Befehl oder auf eigene Faust handelten, verfolgten sie alle „die Absicht, die Menschen, die sich ihnen anvertrauten, zu Gehorsam, Befolgung von Gesetzen, Frieden, Nächstenliebe und zur bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen“ (85). Deshalb achteten sie alle darauf, „den Glauben auszuprägen‚ die von ihnen erlassenen religiösen Vorschriften seien keine eigene Erfindung, sondern Weisungen eines Gottes“, und legten großen Wert darauf, „den Glauben zu erwecken, dass dieselben Dinge, die durch Gesetz verboten waren, auch den Göttern missfielen. Drittens waren sie auf die Einführung von Zeremonien, Bittgebeten, Opfern und Festen bedacht, wodurch die Menschen dazu gebracht werden sollten, zu glauben,

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der Zorn der Götter könnte besänftigt werden“ (88 f.). Abraham, Moses und die anderen, die auf Gottes Befehl gehandelt haben, gingen nicht anders vor, auch wenn – so Hobbes – die von ihnen erlassenen Gesetze tatsächlich Vorschriften Gottes waren und er durch Zeremonien zur Gnade wirklich bewegt werden konnte. Hobbes nicht besonders wohlgesinnten Lesern, wie z. B. Hyde und Sheldon (seine Hauptkontrahenten nach der Restauration von 1660), sollte es allerdings nicht allzu schwer fallen, in dieser Auffassung einen Keim von Atheismus oder Ketzerei zu sehen. Radikalisiert man nämlich die Gleichstellung beider Arten von Staatsgründern, kommt man fast unvermeidlich zum Schluss, der Gott, auf dessen angeblichem Geheiß Abraham und Moses sprachen, sei genau so erfunden wie die Götter der heidnischen Gesetzgeber. Ob Hobbes das auch tatsächlich meinte, ist nicht leicht zu sagen und für uns schließlich auch nicht wichtig. Wichtiger sind die Folgen einer solchen Auffassung von Religion, so wie sie im 31. und letzten Kapitel vom zweiten, dem Staat gewidmeten Teil, „Vom natürlichen Reich Gottes“, gezogen werden. Hier scheint sich Hobbes zunächst der traditionellen Auffassung christlicher Denker anzuschließen, nach der die Gehorsamspflicht der Untertanen dort endet, wo die Befehle des Souveräns den göttlichen Gesetzen widersprechen (vgl. 271). Diese Behauptung wird jedoch im Folgenden abgeschwächt und erlebt eine Interpretation, die Empörung und Wut der englischen Geistlichen auf sich ziehen sollte: Die göttlichen Gesetze entsprechen nämlich nach Hobbes den bürgerlichen, vom Souverän erlassenen Gesetzen. Folgen wir Hobbes’ Argumentation. Er bekräftigt zunächst die traditionelle Position, nach der die Menschen, ob sie es wollen oder nicht, immer der göttlichen Gewalt unterstehen, da Gott allmächtig ist. Hätte es im Naturzustand einen Menschen unwiderstehlicher Gewalt gegeben, wäre kein Gesellschaftsvertrag notwendig gewesen, denn er hätte die alleinige Herrschaft über alle anderen Menschen errungen. Die Menschen sind jedoch gleich geschaffen (Kapitel 13, 94), daher kommt die alleinige Herrschaft nur Gott zu. Hobbes verringert jedoch sofort die Tragweite der Behauptung, Gott regiere über alle Menschen: Sie sei nur bildlich zu verstehen, „denn das Wort ‚regieren‘ passt nur für den, der seine Untertanen durch sein Wort und durch Versprechen von Belohnungen für die Gehorsamen und Bedrohungen für die Ungehorsamen mit Strafe lenkt“ (271). Daher erstreckt sich Gottes Reich nur auf diejenigen, die an einen Gott glauben, da sie seine Vorschriften verstehen können – im Unterschied zu Sachen und unvernünftigen Lebewesen und im Unterschied zu Atheisten, die kein Wort als göttlich anerkennen. Die Atheisten kommen jedoch nicht so einfach davon: Sie sind als Feinde (scil. des Staates und des Friedens) anzusehen und als solche zur Tötung freigegeben. Gott befiehlt also durch Worte, wie jeder andere Souverän. Dabei gibt es drei Erscheinungsformen des göttlichen Wortes. Die erste findet Ausdruck in den Vorschriften der natürlichen Vernunft, den natürlichen Gesetzen der Kapitel 14 und 15, die wir durch rechte Vernunft wahrnehmen. Die zweite besteht in einer Offenbarung und wird durch übernatürliche Wahrnehmung erfahren, wird aber von Hobbes bei Seite gelassen, weil dadurch keine allgemeinen Gesetze jemals erlassen wurden. Die dritte wird durch die Stimme eines Propheten verkündet und fordert den Glauben daran. Gott kann man demnach Herrschaft in einem doppelten Reich zuschreiben: Im natürlichen Reich herrscht er

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mittels der natürlichen Vernunft über den Teil der Menschheit, der seine Vorsehung anerkennt, und in dem prophetischen herrschte er mittels positiver Gesetze über das jüdische Volk (272). Somit stellt Hobbes die göttliche Gesetzgebung mit der natürlichen, durch rechte Vernunft erkannten Gesetzgebung gleich: Die göttlichen Gesetze und die Vorschriften der natürlichen Vernunft sind ein und dasselbe (274); sie betreffen zunächst „die gegenseitigen Pflichten der Menschen“, wie sie in den Kapiteln 14 und 15 dargestellt wurden: Sie entsprechen somit den dort erwähnten moralischen Tugenden wie Billigkeit, Gerechtigkeit, Demut, Dankbarkeit usw. Es gibt ferner Gesetze, die als „Regeln der Ehre und Verehrung der göttlichen Majestät den Menschen allein von ihrer natürlichen Vernunft vorgeschrieben werden, ohne andere göttliche Worte“ (a. a. O.). Hier wendet Hobbes noch einmal die Strategie an, zunächst traditionelle Auffassungen zu vertreten, um sie dann mittels einer strengen Begriffsanalyse so umzugestalten, dass sie eine entgegensetzte Bedeutung annehmen. Um Gottes Gunst zu gewinnen, loben, verherrlichen und preisen ihn die Menschen selig. Dabei kann die Zuschreibung jedes positiven Attributes – außer dem der Existenz (276) – nur als Ausdruck unserer Bewunderung für ihn verstanden werden (277), da wir durch unsere Vernunft keine positive Kenntnis über ihn haben können. Somit ist jeder Streit über seine Eigenschaften eine Entehrung Gottes (278). Wenn wir nichts über Gott sagen können, außer dass er existiert, dann können wir ihm sogar keinen Willen zuschreiben – was das Beten als Versuch, Gottes Willen zu bewegen, zwecklos, und Lob, Verherrlichung und Seligpreisung zu Ausdrücken einer auf Furcht basierenden Anerkennung seiner unwiderstehlichen Gewalt, seiner Allmacht, macht. Die größte aller Ehrbezeugungen ist letztlich der Gehorsam gegen seine Gesetze, die Gesetze der Natur (279), da nur dieser Gehorsam über ein einfaches Lippenbekenntnis zur Anerkennung von Gottes Autorität hinausgeht. Nicht zufällig nennt Hobbes im Kapitel 43 nur zwei Bedingungen, die für die Aufnahme ins himmlische Reich erfüllt werden müssen: den Glauben an Christus und den Gehorsam gegen die Gesetze (447). Da aber der erstere „innerlich und unsichtbar“, somit Privatsache der Menschen ist (458), konzentriert sich Hobbes nur auf den Letzteren, d. h. auf den Punkt, der ihn wirklich interessiert. Wir haben schon gesehen, wie die Gesetze Gottes mit den Gesetzen der Natur gleich sind. Das wichtigste Naturgesetz ist, fährt Hobbes fort, „dass wir unsere Treuepflicht nicht verletzen sollen, dass heißt ein Gebot, unseren bürgerlichen Souveränen zu gehorchen, die wir über uns durch gegenseitigen Vertrag [...] eingesetzt haben“ (448). Der Gehorsam „gegen alle bürgerliche Gesetze, in denen auch alle Gesetze der Natur enthalten sind, das heißt alle göttlichen Gesetze“ (457), ist somit alles, was zur Errettung der Seele notwendig ist – wohl bemerkt: neben dem innerlichen, unsichtbaren und privaten Glauben an Christus. Schrittweise ist Hobbes zur Behauptung gelangt, die Befehle des Souveräns, welche die Form bürgerlicher Gesetze annehmen, seien göttliche Befehle und als solche zu befolgen. Die Religion ist folglich in erster Linie eine staatliche Religion, bei welcher der bürgerliche Souverän als „der oberste Priester“ (449) über Kultus und Formen der Verehrung Gottes entscheidet. Darüber hinaus findet hier eine Identifikation des Kultus Gottes mit dem Kultus des Souveräns statt; seine Befehle sind

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nicht einfach Ausdruck seines Willens, sondern gleichzeitig Ausdruck des Willens Gottes. Wer dem Souverän nicht gehorcht, macht sich des Ungehorsams gegen Gott schuldig. Hobbes hat Machiavellis Idee der Religion als instrumentum regni konsequent angewandt und dem bürgerlichen Souverän einen Gott ähnlichen Stellenwert in den Augen der Untertanen zugeschrieben. Der Untertan soll nicht nur zur Erfüllung seiner bürgerlichen Pflichten durch Hinweis auf abgelegte Eide oder durch Androhung göttlichen Zorns bzw. Versprechen göttlicher Gunst bewegt werden; seine Verpflichtungen gegenüber dem Staat sollen ihm vielmehr als Verpflichtungen gegenüber Gott präsentiert werden. Wer sie nicht erfüllt, verliert sein Seelenheil. Die Religion stellt daher ein wichtiges Instrument für den Souverän dar, um die Meinungen der Untertanen besser zu kontrollieren, und um sich ihren Gehorsam zu sichern: Nicht zufällig stellt das berühmte Titelblatt des Leviathan diesen als einen Riesen dar, der in den Händen die Zeichen weltlicher und geistlicher Macht, nämlich ein Schwert und einen Bischofsstab, hält. Der Souverän zwingt durch beide Mittel die Untertanen zu gehorchen: Er droht ihnen mit der irdischen Strafe seiner unwiderstehlichen Gewalt und mit der jenseitigen Strafe durch Gottes Urteil. Wer glaubt, der Bestrafung durch den Souverän entkommen zu sein, wird im Jenseits eine bittere Enttäuschung erleben. Der Rekurs auf die Religion als instrumentum regni ist eine notwendige Folge von Hobbes’ prudentiellem Ansatz. Die Macht des Souveräns beim Zügeln seiner Untertanen und bei der Kontrolle ihrer Handlungen und ihrer Meinungen ist beschränkt; die Vernunft zeigt uns zwar, wie wir deshalb bestimmte Tugenden entwickeln müssen, aber ihre Macht auf die Menschen ist begrenzt: Zwar werden vernünftige Menschen und Individuen mit gutem Charakter ihren Weisungen folgen, aber es wird immer genügend Störenfriede geben. Daher bleibt nur der Rekurs auf Gott, vor dem sich alle fürchten, denn seine Gewalt ist im Unterschied zu demjenigen des Souveräns uneingeschränkt und sein Urteil unfehlbar. Hobbes’ Theorie der Religion stellt daher ein notwendiges Moment seines Modells dar, und es ist erstaunlich, dass ihr in dieser Form viele Interpreten nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Nicht erstaunlich ist es im Gegenteil, dass die Frage der politischen Rolle der Religion und ihrer eventuellen Notwendigkeit für die politische Gemeinschaft immer noch debattiert wird (vgl. die in 7.1 genannten Autoren).

3.14. Der Souverän und die Erziehung des Volkes Wir haben schon erwähnt, dass nach Hobbes’ Meinung eine der Hauptaufgabe des Souveräns in der Erziehung des Volkes besteht. Fast das gesamte 30. Kapitel, das der „Aufgabe der souveränen Vertretung“ gewidmet ist und einen regelrechten Fürstenspiegel darstellt, beschäftigt sich mit jenem Problem. Diese Erziehung ist notwendig, denn nur von ihr ist die Ausrottung der Ursachen des Krieges der Meinungen zu erwarten. Er entsteht, wie gesehen, entweder aus der Ambition und Bösartigkeit mancher Individuen, oder aus der politischen Ignoranz der Massen heraus, meistens jedoch aus der Kombination der beiden Ursachen. Wird die zweite beseitigt, verliert die erste an Bedeutung, da die Unruhestiftenden nicht mehr darauf zählen können, die Masse an sich ziehen zu können.

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3. KAPITEL

Hobbes’ Position erweist sich als weniger misstrauisch gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten des gemeinen Volkes als z. B. die Kants (vgl. unten 5.11). Er stellt fest, dass sich viele „von dem bestechenden Wort „Freiheit“ leicht täuschen“ lassen, und „dieser Irrtum noch durch die Autorität von Leuten, die wegen ihrer Schriften über diesen Gegenstand berühmt sind, bestärkt“ wird. Es ist also „kein Wunder, wenn daraus Aufruhr und Staatsumwälzungen entstehen“ (167). Allerdings schreibt Hobbes den Irrtum weniger dem Volk, als vielmehr den reichen und gebildeten Untertanen zu. Dabei übernimmt er Argumente der republikanischen Tradition, allen voran die Gefahr der Abhängigkeit der Armen von den Reichen: „Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet, und Gelehrte nichts, was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert, während der Verstand des gemeinen Volkes, wenn er nicht durch die Abhängigkeit von Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier gleicht, dazu geeignet alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedrückt wird“ (257). Hobbes führt hier kein richtiges Argument ein, sondern bedient sich eher rhetorischer Mittel. So fragt er: Wenn nun „ganze Völker dazu gebracht“ werden, „die großen Mysterien der christlichen Religion hinzunehmen, die über die Vernunft stehen“; oder wenn Millionen Menschen dazu gebracht werden, Sachen zu glauben, die der Vernunft gar widersprechen; wie sollte es dann nicht möglich sein, „durch gesetzlich geschützte Lehre die Anerkennung dessen zu bewirken, was mit der Vernunft so sehr übereinstimmt, dass es jeder vorurteilslose Mensch schon lernt, wenn er es nur hört?“ (257) Es ist nicht so, als habe Hobbes die Zweifel vergessen, die er in den vorangegangenen Kapiteln in Bezug auf die Rationalität der Menschen und auf die Kraft der Vernunft geäußert hatte (vgl. oben 3.3): Er glaubt nicht, die Individuen können dazu gebracht werden, die Weisungen der Vernunft von sich selbst aus anzuerkennen – wie im Fall der gläubigen Massen. Er meint jedoch, das Gesetz sei imstande, diese Anerkennung zu bewirken. Wie soll das geschehen? Erstens durch das Verbot der „falschen“ Lehren. Und zweitens durch die ständige Behauptung der „wahren“ Lehre: Wird eine Lehre lang genug und mit Autorität wiederholt, wird sie auch von den Menschen als Wahrheit angenommen. Nicht, dass Hobbes meint, alle Menschen werden dadurch zu „vorurteilslosen“ Richtern; er glaubt vielmehr, sie würden sich einfach durch Gewohnheit (eine durch Wiederholung hergestellte Gewohnheit) von der Wahrheit der offiziellen Lehre überzeugen lassen. Was Hobbes auf diesen Seiten anbietet, ist ein regelrechter politischer Katechismus in Form eines Fürstenspiegels. Er weist dem Souverän den Weg, um die Untertanen diese Lehre anerkennen zu lassen, die Friede, Sicherheit und Stabilität garantiert. Und er macht aus solcher erzieherischen Tätigkeit eine Pflicht für den Souverän (257), denn würde er jene vernachlässigen, würde der Boden für den Krieg der Meinungen (also für das Ende des Friedens) wieder fruchtbar. Die Artikel des politischen Katechismus sind zehn und werden von Hobbes als „Gebote“ bezeichnet, obwohl sie eher Verbote darstellen. Die Bezeichnung resultiert aus Hobbes’ Absicht, sie nach den biblischen zehn Geboten zu modellieren, und zwar nach dem folgenden Muster:

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1) Bibel: Du sollst keine anderen Götter neben mit haben! Hobbes: Verbot des Vergleichs des eigenen politischen Systems mit demjenigen der Nachbarvölker. 2) Bibel: Du sollst dir kein Bildnis ... machen! Hobbes: Verbot der übermäßigen Ehrung von Individuen oder Gruppen (Hobbes spricht von Versammlungen und denkt wahrscheinlich ans englische Parlament) bzw. Verbot der Gleichsetzung dieser Individuen oder Gruppen mit dem Souverän. 3) Bibel: Du sollst den Namen des HERRN ... nicht missbrauchen! Hobbes: Verbot der Kritik des Souveräns. 4) Bibel: Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest! Hobbes: Gebot der Teilnahme an Versammlungen, „in denen das Volk nach Gebeten und Lobpreisungen Gottes, des Souveräns aller Souveräne, Vorträge über seine Pflichten anhören kann“ (259); kurz: Gebot der Teilnahme an Sitzungen des politischen Katechismus. 5) Bibel: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren! Hobbes: Gebot der Dankbarkeit den Eltern gegenüber, da diese die Fürsorge für die erste Unterrichtung der Kinder haben, somit verantwortlich dafür sind, dass die Kinder Gehorsamkeit lernen. 6) Bibel: Du sollst nicht töten! Hobbes: Verbot des Mordes und der Verstümmelung sowie der Privatrache. 7) Bibel: Du sollst nicht ehebrechen! Hobbes: Verbot der Verletzung der ehelichen Ehre. 8) Bibel: Du sollst nicht stehlen! Hobbes: Verbot der Verletzung fremden Eigentums durch Raub und Betrug. 9) Bibel: Du sollst nicht falsches Zeugnis reden! Hobbes: Verbot der Bestechung von Richtern oder Zeugen. 10) Bibel: Du sollst nicht begehren ... alles, was dein Nächster hat! Hobbes: Verbot aufrührerischer Pläne und Absichten („Ungerechtigkeit besteht ebenso sehr in der Niedrigkeit des Willens wie in der Rechtswidrigkeit der Handlung“, 260). Die im Namen des sterblichen Gottes Leviathan erlassenen zehn Gebote sollen von Geistlichen und Gelehrten verkündet werden. Diese beziehen jedoch ihr Wissen von „den Universitäten, den Juristenschulen oder den Büchern, die von hervorragenden Leuten dieser Schulen und Universitäten veröffentlicht wurden“ (261). Es ist daher zur Erziehung des Volkes notwendig, die Erziehung an den Universitäten zu kontrollieren, um sicher zu sein, dass dort nur die Lehren vertreten werden, welche die staatliche Stabilität sichern. Verboten wird hingegen das Lehren jener Theorien, die „mit der Natur des Staates unverträglich sind“ (248) und im Kap. 29. aufgelistet werden. Verbunden mit der Frage der Volkserziehung ist schließlich die Frage nach der Religion, wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 3.13).

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3. KAPITEL

3.15. Fazit: Hobbes zwischen Liberalismus und Republikanismus? Hobbes wird manchmal als liberaler Denker bezeichnet. Das trifft insofern zu, als er in seinem Modell die oben erwähnte Perspektive des legitimatorischen Individualismus annimmt. Die Existenz des Staates wird dadurch gerechtfertigt, dass nur er den Individuen ermöglichen kann, ihren Interessen friedlich nachzugehen (Interessen, die weit über das nackte Überleben hinausreichen). Der Staat, der Hobbes vorschwebt, ist außerdem ein solcher, in dem den Individuen alles erlaubt ist, was „ohne Gefahr oder Schaden für den Staat“ (255) gemacht werden kann. In diesem Sinne scheint seine Position genuin liberal zu sein. Andererseits räumt er dem Souverän eine fast uneingeschränkte Macht ein, in die private Sphäre der Untertanen einzudringen, um die Erhaltung des Staates selbst zu sichern – und das ist sicherlich weniger liberal. Man kann mit Peter Berkowitz sagen, dass der relativ eingeschränkte Zweck, den Hobbes dem Staat zuteilt, nämlich die Sicherung von Frieden und Ordnung, mit dem modernen Liberalismus konsistent ist, während die Mittel, die Hobbes zur Erreichung dieses Zwecks vorschlägt (d. h. die absolute Macht des Souveräns), es nicht sind (Berkowitz 1999, 36). Hobbes’ Position ist daher nur zum Teil liberal. Kann sie deswegen als republikanisch bezeichnet werden? Die Republikaner – von Cicero bis Machiavelli und später Rousseau – halten bekannterweise Bürgertugenden für ein entscheidendes Moment für die Stabilität der Republik. Sie vertreten dabei genau wie Hobbes die Auffassung, der Staat dürfe auf das Privatleben der Bürger insofern Einfluss nehmen, wie es für die Sicherheit der Republik selbst notwendig ist. Sie sehen jedoch den Hauptzweck solcher Tugenden darin, die Liebe zur Freiheit zu fördern – Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkür anderer. Durch die Entwicklung ziviler Tugenden lernen die Bürger ihre politische Unabhängigkeit zu schätzen – was eher im Widerspruch zu Hobbes’ Position zu stehen scheint, nach der die erste Tugend der Untertanen die Gehorsamkeit gegenüber dem Willen des Souveräns sein sollte.50 In der Tat ist der Widerspruch weniger stark als angenommen: Bei Hobbes werden die Untertanen aufgefordert, auch andere Tugenden als die der Gehorsamsbereitschaft zu entwickeln – und zwar aus wohlüberlegtem Eigeninteresse, nicht aus bloßem Respekt vor der souveränen Autorität und deren Befehlen. Hobbes bleibt außerdem genuin liberal, wenn er behauptet, der Souverän dürfe auf keinen Fall den Untertanen bestimmte innere Haltungen gebieten: Seine Macht beschränkt sich vielmehr auf die (äußeren) Handlungen. Damit geht Hobbes über Machiavellis einfache Alternative „Politik vs. Moral“ hinaus und führt eine wichtige Unterscheidung zwischen Recht und Moral ein, die später bei Kant ihre eindeutigste theoretische Darstellung finden wird (um dann bei Hegel durch die Annahme einer unterschiedlichen Perspektive partiell wieder aufgehoben zu werden). Die Republikaner glauben hingegen, dass der 50 Das entspricht auch der Meinung von Dietz: „Insofar as the virtues of Hobbes’ citizen cultivate a disposition toward obedience to Leviathan, they conspire to deprive the citizen of precisely the sort of liberty that distinguished classical republicanism“ (Dietz 1990, 113). Sie betont gleichzeitig auch, dass „the argument for civic virtues needs not to be the exclusive possession of the classical republican.“ (A. a. O., 114)

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Staat alles unternehmen darf, um in den Bürgern eine bestimmte Haltung der res publica gegenüber zu erwecken. Die Erziehung der Bürger und die ständige Kontrolle über ihr ziviles Engagement sind zwei wesentliche Elemente der republikanischen Tradition. Bei Hobbes darf der Staat nicht so weit gehen (vgl. oben 3.10), obwohl er etwas in dieser Richtung unternehmen soll, besonders in Bezug auf die Erziehung (vgl. oben 3.14). Man könnte von einem gewissen Republikanismus bei Hobbes in Bezug auf seine Auffassung von der Souveränität sprechen, die trotz dem Anschein, es handele sich um die willkürliche Macht einer Person („ob Monarch oder Versammlung“, 255), in der Tat der Idee einer Herrschaft der Gesetze, nicht der Menschen, zu entsprechen scheint. Hobbes distanziert sich zwar im Leviathan ausdrücklich von einer solchen Meinung (die er den Aristotelikern zuschreibt); aus seinen Einwänden ist jedoch zu schließen, dass er eine Interpretation jener traditionellen Idee vornimmt, die ihr nicht gerecht wird. Er wendet nämlich gegen sie ein, dass sich die Menschen nur von der Gewaltandrohung durch andere Menschen, nicht jedoch von „Worten und Papier“ zum Gehorsam zwingen lassen (521). Das ist aber nicht der Sinn der Idee einer Herrschaft der Gesetze. Diese Idee besagt vielmehr, eine Republik soll nicht von der Willkür des Souveräns abhängig sein, auch dann nicht, wenn er das gesamte Volk ist (wir dürfen nicht vergessen, dass der Begriff zunächst beim anti-demokratisch gesinnten Platon auftaucht). Eine solche Willkür kann erstens vom Eigeninteresse dominiert werden, statt dass sie das Gemeinwohl verfolgt – und möge es sich eben um das Eigeninteresse des Volkes handeln, denn was zu einem gewissen Zeitpunkt im unmittelbaren Interesse des Volkes als Masse von Individuen steht, kann eigentlich gegen das Interesse der Republik gehen. Diese Willkür wird zweitens durch die Kontingenz der konkreten Lage bestimmt; in ihrer Kurzsichtigkeit verliert sie das langfristige Wohl des Gemeinwesens aus dem Auge. Die Gesetze, als Verkörperung einer Tradition, drücken hingegen eine zeitliche Kontinuität aus, die eine Garantie für das Gemeinwohl darstellt. Sie verfolgen kein Privatinteresse, sie sind nicht kontingent und kurzsichtig wie die willkürlichen Entscheidungen einer Versammlung oder eines Monarchen. Deshalb steckt in der Idee von der Herrschaft der Gesetze (auch in ihrer republikanischen Formulierung) stets ein antidemokratisches Moment, nämlich der Gedanke, das Volk könne auf eine genauso egoistische und dem Gemeinwohl widrige Weise wie ein Einzelmensch entscheiden, und deshalb sollten die Gesetze seiner Willkür soweit wie möglich entzogen werden. Derart scheint auch Hobbes die Idee einer Herrschaft der Gesetze zu vertreten, obwohl er der Meinung ist, sie können durch den Souverän jederzeit neu geschaffen oder reformiert werden. Denn wenngleich er von der Willkür des Souveräns spricht, meint er damit nicht, dass dieser bei seiner gesetzgebenden Tätigkeit unbegründete Entscheidungen treffen oder einige Individuen bzw. Gruppen begünstigen darf, ohne dass sich dadurch Vorteile für den Staat ergeben. Der Souverän erhält durch den Vertrag keinen Blankoscheck (Höffe 1987, 132 ff.) Er soll vielmehr immer im Interesse des Staates (das schließlich auch sein eigenes Eigeninteresse ist) handeln. Für Hobbes ist der Souverän verpflichtet, durch seine Gesetze das Wohl des Staates zu verfolgen, auch wenn diese Verpflichtung in keinem Vertrag mit den Untertanen begründet ist. Insofern ist die Behauptung, bei Hobbes dürfe der Souverän nach Gutdünken Gesetze erlassen, nur zum Teil berechtigt. Wenngleich Hobbes (im Einklang mit der repu-

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3. KAPITEL

blikanischen Tradition!) sicherlich eine anti-demokratische Position vertritt, wehrt er sich jedoch gleichzeitig – entgegen einer weit verbreiteten Auffassung seiner Theorie (so z. B. Arendt 1951) – gegen jede Form von Despotie und tyrannische Willkür. Dass der Souverän selbst den Gesetzen nicht untersteht, heißt nicht, dass sie völlig von seiner Willkür abhängen. Die absolute gesetzgebende Macht des Souveräns ist rein formeller Natur; de facto unterliegt sie den Weisungen der Vernunft bzw. natürlichen Gesetzen sowie den einschränkenden Bedingungen, unter denen der Souverän seine Macht widerstandslos ausüben darf. Missbraucht er sie, um Gesetze zu erlassen, die weder Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren, noch Plausibilität besitzen, noch Gerechtigkeit und Rechtssicherheit fördern, dann wird der Souverän ziemlich rasch seine Macht verlieren. Die Gesetze müssen daher wirksam und plausibel sein: Sie müssen eine Rechtsordnung schaffen, die durch seine Effizienz und Kohärenz die Untertanen zum Gehorsam führt, denn die bloße Gewaltandrohung ist kein Mittel, um diesen langfristig zu garantieren. Hobbes’ Souverän spielt dieselbe Rolle wie Machiavellis und Rousseaus Gesetzgeber: Er schafft eine rechtliche Ordnung, ohne ihr unterstellt zu sein. Im Unterschied zu seinen „Kollegen“ gibt er die Rolle nicht auf; aber im Unterschied zu ihnen untersteht er auch genauen Einschränkungen (weder Machiavelli noch Rousseau sehen solche Einschränkungen für die Tätigkeit ihres Gesetzgebers vor). Die Herrschaft der Gesetze wird also bei Hobbes in einem fast naturrechtlichen Sinn interpretiert – fast: denn die sogenannten natürlichen Gesetze sind eben keine natürlichen Gesetze, wie wir gesehen haben. Hier zeigt sich ein Problem: Hobbes will an zwei Aspekten souveräner Macht festhalten, die miteinander kaum verträglich sind: Einerseits soll der Souverän immer Herrscher über die positiven Gesetze sein und sie nach seinem Willen ändern; andererseits untersteht er jedoch bestimmten Verpflichtungen (er muss die natürlichen in positive Gesetze umwandeln; er muss seine Aufgabe erledigen und Frieden, Sicherheit und Wohlstand schaffen; er muss ein wirksames und kohärentes Rechtssystem aufbauen). Das Dilemma entsteht aus der Tatsache, dass Hobbes hier ein zweifaches Ziel verfolgt: Einerseits möchte er eine souveräne Macht rechtfertigen, die den Krieg der Meinungen ein für allemal beendet – und sie kann nur eine absolute (im Sinne von legibus soluta) Macht sein; andererseits möchte er, dass diese Macht auch imstande ist, sich lange zu halten – und das kann sie nur, wenn sie von den Untertanen unterstützt wird (durch ihre Tugenden, aber auch durch ihre Zufriedenheit und den daraus resultierenden Konsens). Hobbes versucht den Spagat zwischen beiden Positionen, und das gelingt ihm auch – aber um einen Preis. Seine Position weist nämlich eine schwerwiegende Schwäche auf, wie man aus einem Vergleich mit derjenigen Machiavellis sehen kann. Beiden Denkern geht es um die Stabilität und die Dauerhaftigkeit des Staates. Bei Machiavelli sind diese sogar Zweck an sich, während sie bei Hobbes instrumentell der Sicherheit und dem Wohlergehen des Individuums dienen. Aber Machiavelli, der Republikaner, gründet seinen Staat auf soliden Institutionen und überlässt zum großen Teil den Letzteren die Stabilität des Ersteren. Hobbes, der (Proto-)Liberale, baut hingegen seinen ganzen Leviathan auf dem Souverän auf und sieht keine institutionellen Mechanismen vor, welche die Auflösung des Staates verhindern sollten, falls dieser seine Aufgabe nicht erfüllt. Sollte der Souverän durch seine Handlungsweise – z. B. durch will-

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kürliche Gewalt, durch Ungerechtigkeit, durch Missachtung des niedrigen Volkes, kurz: durch Verletzung der natürlichen Gesetze – die Erreichung des Zwecks seiner Einsetzung (d. h.: Sicherheit der Untertanen) selbst bedrohen; sollte er also dem Staat sein Fundament entziehen; dann gibt es in Hobbes’ System kein Gegenmittel, um der Auflösung des Gemeinwesens entgegenzuwirken. Oder besser: Das einzige Gegenmittel wäre die Macht eines anderen Souveräns, der den Ersten ersetzt (wie es im Beschluss beschrieben wird). Nur so kann der Rückfall in die Anarchie vermieden werden, denn der Souverän, der die Mehrheit des Volkes gegen sich aufgebracht hat – sei es durch sein Tun, sei es ohne Schuld, wie es nach Hobbes’ Meinung der Fall von Charles Stuart war –, ist verdammt, früher oder später zu fallen.51

51 Interessanterweise wird diese Position von Kant übernommen: vgl. unten 5.9.

Kapitel 4 Rousseau: Individuen zwischen Utopia und Weltverzicht

La liberté n’est donc que dans la loi; La loi, de tous la volonté suprême, C’est mon ouvrage, elle est faite par moi, Soumis aux lois, j’obéis à moi même. Hymne à la liberté et egalité des „citoyen“ Desmarets1

In einem Aufsatz über die Beziehung der Jakobiner zu Rousseau schließt Albert Soboul unseren Philosophen in ein scharfes Urteil über die Ersteren ein: In ihrer Unfähigkeit, die wirtschaftlichen und sozialen Umstände ihrer Zeit zu begreifen, glaubten Robespierre, Saint-Just und – vor ihnen – Rousseau an die Wirkung von bloßen Appellen an die Tugend (Soboul 1964, 417). Dieser ätzende Spruch enthält eine gewisse Plausibilität: Rousseau verfügte tatsächlich über eine unzureichende Kenntnis der modernen Wirtschaftslehre (damit meine ich selbstverständlich jene seiner Zeit); seine Gesellschaftsanalysen sind soziologisch höchst fragwürdig und durch einen Moralismus geprägt, der im Kontext ziemlich fehl am Platz ist; und schließlich legt der Genfer außerordentlich großen Wert auf die Tugendhaftigkeit der Bürger, an die er tatsächlich mit Pathos immer wieder appelliert. Nichtsdestotrotz übt Rousseaus politisches Denken eine unverminderte Faszination aus – auf Neo-Republikaner und Kommunitaristen, sowie auch auf Konservative und, gleichzeitig, auf Revolutionstheoretiker (so lange es solche noch gibt). Nur die Liberalen scheinen ein festes Misstrauen gegen ihn weiter zu hegen – vielleicht zu Unrecht (obwohl nicht ganz zu Unrecht).2 Rousseaus politisches Denken gibt deswegen immer wieder Anlass für die unterschiedlichsten Interpretationen; meine versteht sich nur als eine unter den anderen, nicht als die endgültige. Ihr Hauptfokus liegt auf Rousseaus Auffassung der schwierigen Beziehung zwischen politischer Gemeinschaft und Individuum.

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Zit. in Fetscher 1975, 303. Über die Mythisierung Rousseaus in der Französischen Revolution vgl. Blum 1986. Gemeint ist nicht, dass sich Rousseaus Denken mit den Grundgedanken des Liberalismus, d. h. mit dem absoluten Wert des Individuums und seinem Vorrang vor der Gemeinschaft, in Einklang bringen ließe. Aber einige Aspekte dieses Denkens fänden in einer liberalen Theorie der Staatsbürgerschaft durchaus Anwendung (etwa die Notwendigkeit einer öffentlichen Erziehung für die zukünftigen aktiven Staatsbürger – wenngleich nicht in der von Rousseau vorgeschlagenen Form).

ROUSSEAU: INDIVIDUEN ZWISCHEN UTOPIA UND WELTVERZICHT

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4.1. Auf der Suche nach dem verlorenen Glück Das Individuum bildet das Zentrum nicht nur der politischen Philosophie Rousseaus, sondern seines gesamten Denkens. Auch wenn er von der politischen Gemeinschaft spricht, und die Aufopferung jeglicher Individualität zu deren Gunsten fordert, macht er das im Namen des individuellen Wohlseins – nämlich in der Überzeugung, Individuen können nur als gemeinschaftliches Wesen ihr Glück finden. Man kann in dieser Hinsicht Rousseaus Œuvre als den Versuch ansehen, eine einfache Frage zu beantworten: Welchen Weg soll der Mensch – jeder Einzelmensch – gehen, um glücklich zu sein? Und zwar wirklich glücklich, ohne sich von den falschen Versprechen von Ruhm, Reichtum oder Macht täuschen zu lassen? Liest man mit einer über das bloße geschriebene Wort hinausgehenden Aufmerksamkeit das, was Rousseau über Tugend, über den gerechten Pakt, über Vaterlandsliebe, über die naturgemäße Erziehung usw. verfasst hat, stellt man letztlich fest, dass all diese Sachen nicht an sich, sondern nur in Bezug auf jene Grundfrage wertvoll sind. Sie sind nicht an sich gut, sondern nur als Mittel zur Erreichung des Glücks (vgl. dazu Grimsley 1972, Viroli 1988, Casini 1996 und Cooper 1999). Rousseau definiert es (im Unterschied zu Hobbes oder Kant, die den Einzelnen überlassen, jeweils eine eigene Definition von Glück zu geben) als den Genuss, der aus dem unmittelbaren Gefühl des eigenen Daseins entsteht – ein Gefühl, welches das Leben der Menschen in ihrem ursprünglichen Zustand vollkommener Autarkie (die auch eine emotionelle Autarkie ist, da der Naturmensch der Mitmenschen keineswegs bedarf) charakterisierte.3 Am interessantesten ist die Tatsache, dass Rousseau nicht einen einzigen, sondern mehrere Wege zum Glück ausmacht. Sie sind alle gleichwertig, sie verdienen alle, genommen zu werden, denn was zählt, ist nur das Endziel, zu dem sie führen: eben das Glück. Man kann als Naturmensch, als Bürger, als Emil oder als Jean-Jacques (wenigstens der Jean-Jacques der Rêveries) glücklich sein.4 Die erste Möglichkeit ist so gut wie ausgeschlossen (mit Ausnahme einiger weniger Wilder, die noch in ursprünglicher Unschuld leben); die zweite ist sehr schwer realisierbar (vgl. unten 4.12 und passim). Der dritte Weg ist derjenige des Menschen mit individueller moralischer Persönlichkeit, der zwar Bürger eines Staates ist, jedoch wegen der Verdorbenheit der Gesellschaft nach

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4

In den Rêveries schreibt Rousseau: „Gibt es aber einen Zustand, in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz auszuruhen und sich darin ganz zu sammeln, [...] bloß auf das Gefühl unseres Daseins eingeschränkt, welches Gefühl allein die Gegenwart ganz erfüllte: solange dieser Zustand währt, kann der, der sich darin befindet, sich glücklich nennen, und [...] es wäre ein zureichendes, vollkommenes, überschwänglisches Glück, das in der Seele keine Leere auszufüllen lässt. [...] Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein [...] Das Gefühl des Daseins, von jeder anderen Empfindung entblößt, ist an sich selbst ein köstlicher Genuss der Zufriedenheit und Ruhe, der allein zulänglich wäre, dieses Dasein [...] teuer und angenehm zu machen [...]. Aber die meisten Menschen, die von Leidenschaften ohne Ende hin und her geworfen werden, kennen diesen Zustand kaum.“ (Rev. V, 699 f.) Todorov, Casini, Cooper und andere identifizieren nur drei solche Wege (nämlich die ersten drei).

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KAPITEL 4

Rousseaus Meinung kein Staatsbürger [citoyen] im eigentlichen Sinn sein kann: Da er in der absoluten Isolierung der Naturmenschen nicht mehr leben kann, muss er versuchen, in der Gesellschaft zu leben, ohne sich von ihr verderben zu lassen; er ist „ein Wilder, der in der Stadt leben soll“ (Em. 205). Jean-Jacques ist schließlich das enttäuschte Individuum, das sich von jeglicher menschlicher Beziehung losgesagt hat und fest entschlossen ist, in vollkommener Einsamkeit zu leben.5 Die letzten drei Gestalten haben alle etwas von der ersten, vom Naturmenschen, der stets den Orientierungspunkt für alle unsere Glücksbestrebungen bilden sollte: Der „wahre“ Staatsbürger erreicht nämlich eine Einheit mit dem Gemeinwesen, die der ursprünglichen Einheit mit sich selbst, der ursprünglichen Autarkie des Naturmenschen, gleichkommt; Emil nähert sich dem Ideal individueller Autarkie so weit, wie es ihm die Umstände ermöglichen (er wird schließlich heiraten, einen Beruf ausüben, inmitten seiner Mitmenschen leben müssen usw.); Jean-Jacques scheint schließlich diesem Ideal am meisten zu entsprechen, obwohl seine Einsamkeit das Ergebnis bitterer Enttäuschung und daher Symptom eines tiefen Unglücks ist. In allen vier Fällen bildet jedoch Glück das höchste, daher wahre Ziel menschlicher Existenz. Ein solcher Eudämonismus charakterisiert Rousseau und unterscheidet ihn von den meisten Philosophen der Neuzeit, von Hobbes bis Kant. Um bei diesen beiden Denkern zu bleiben, so ist erstens festzustellen, dass sich Hobbes’ Hedonismus von Rousseaus Eudämonismus stark unterscheidet: Er ist Ausdruck einer mechanistischen Auffassung der menschlichen Natur, in der Glück rein materialistisch mit allem, was angenehm ist, identifiziert wird. Die Menschen sind danach glücklich, wenn sie angenehme Empfindungen fühlen. Glück ist daher immer nur ein punktueller Zustand, der jeden Moment in sein Gegenteil umschlagen kann – so wie das angenehme Gefühl, das uns der Wein gibt, sich bald in Übelkeit verwandeln kann, wenn wir zuviel davon trinken (um bei Hobbes’ Beispiel der Unmäßigkeit beim Trinken zu bleiben). Obwohl er dem Glück einen weit größeren Wert zuspricht, als von vielen Interpreten angenommen,6 sieht Kant einen einzigen möglichen Weg zum wahren Glück, nämlich die Erfüllung der Gebote des moralischen Gesetzes. Nur wer Letzterem gehorcht, ist würdig, glücklich zu sein; nur er kann daher wirklich glücklich sein, da er bewusst ist, sein Glück verdient zu haben. Andere Formen von Glück sind in Kants Augen eine Täuschung (meistens eine Selbsttäuschung). Auch Rousseau meint, dass uns Tugend zum Glück führt, aber sie ist nur ein möglicher Weg, ja sie gewinnt ihren Wert erst als Mittel zum Glück. Während bei Kant Glück verdient werden muss, ist es nach Rousseaus Meinung nur ein natürlicher Zustand, den man also nicht verdienen, sondern nur genießen kann. Dieser Eudaimonismus verursachte eine Reihe psychologischer oder psychologisierender Interpretationen des Rousseauschen Denkens. Uns interessiert hier jedoch nicht die Frage, ob sich Rousseau auf so insistierende und kontinuierliche Weise die Frage nach dem individuellen Glück stellte, weil er selbst eine unglückliche Kindheit hatte, 5

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Wie Augusto Illuminati betonte, stellt die Einsamkeit die unmittelbare Lösung für den zivilisierten Menschen dar, der seine eigentliche Natur in einer Zeit wiederfinden will, in der keine Rückkehr zum ursprünglichen Naturzustand möglich ist (Illuminati 2002, 30). Zu Kants Theorie der Glück vgl. Scuccimarra 1997.

ROUSSEAU: INDIVIDUEN ZWISCHEN UTOPIA UND WELTVERZICHT

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oder weil er unter einem Verfolgungswahn litt, der ihn überall Feinde sehen und nirgendwo glücklich sein ließ. Sicherlich kann man eine solche interpretatorische Perspektive einnehmen und sich dabei der Lektüre von Werken wie den Bekenntnissen oder den Dialogen Rousseau Richter von Jean-Jacques samt einer unendlichen Sekundärliteratur widmen.7 Mein Interesse gilt jedoch der Vielfältigkeit8 der von Rousseau angebotenen Antworten auf die Frage nach dem individuellen Glück, besonders in einer Epoche wie der unsrigen, in der die einzige Antwort auf die Frage in jenen „falschen Versprechen“ von Macht, Reichtum und Berühmtheit zu liegen scheint, die Rousseau verwirft – nicht weil sie unmoralisch seien, sondern weil sie eben falsch sind, weil sie etwas versprechen (Glück), das sie nicht imstande sind zu erfüllen.9

4.2. Unschuld, Fall und Erlösung: Rousseaus Fragestellung Maurizio Viroli hat zu Recht beobachtet, dass Machiavelli sich das Problem der konkreten Errichtung republikanischer Institutionen stellt, Rousseau hingegen eher eine rationale Rechtfertigung jener Institutionen anbieten will (Viroli 1988, 12). Dabei schlägt der Genfer Philosoph einen Weg ein, der viele Ähnlichkeiten mit Hobbes’ Versuch der Rechtfertigung absoluter staatlicher Macht aufweist. Das bedeutet nicht, dass Rousseau der Theoretiker einer absoluten oder gar despotischen Demokratie ist, wie manche Interpreten immer wieder behauptet haben (z. B. Talmon 1952 und Chapman 1956). Aber es ist nicht zu leugnen, dass Rousseaus Problemstellung derjenigen Hobbes’ sehr nah ist. Beide bemühen sich um eine Antwort auf die Frage der Beseitigung der Unordnung, die von den menschlichen Leidenschaften, allen voran vom Ehrgeiz, verursacht wird. Man kann also behaupten, dass es bei Hobbes und Rousseau auf die Ordnung ankommt (während es bei Kant eher auf „die Rechte der Menschen“ ankommen wird: vgl. R 1404, XV, 612; vgl. unten 5.6). Aber im Unterschied zu Hobbes glaubt Rousseau, dass diese Ordnung nur durch die Errichtung von Institutionen gestiftet werden kann, die dem Prinzip der Volkssouveränität (und nicht dem von Hobbes postulierten Autoritätsprinzip) gehorchen. Das ist nicht der einzige Unterschied zum englischen Philosophen. Rousseau glaubt an die Existenz einer objektiven moralischen Ordnung, die auf Gott gründet. Im Gesellschaftsvertrag sagt er, dass alle Gerechtigkeit von Gott kommt (CS II, 6; 297). Und an mehreren Stellen preist Rousseau die Ordnung der Natur, deren göttlichen Ursprung er mehrmals betont, vor allem im Glaubenbekenntnis des savoyschen Vikars, wo er das Uni-

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Die besten Beiträge dazu leisteten m. E. Grismley und J. Starobinski, besonders in: Grimsley 1961 und Starobinski 1971. Vielfältigkeit ist auf jeden Fall das charakteristische Merkmal des Rousseauschen Denkens, von dem Cassirer zu Recht sagt, dass es „keine feste und fertige Doktrin“ darstellt (Cassirer 1989, 7). Über die Aktualität des Rousseauschen Denken nochmals Cassirer: „Die Fragen, die Rousseau seinem Jahrhundert entgegenhielt, – sie sind auch heute noch keineswegs antiquiert, sie sind auch für uns nicht schlechthin ‚erledigt‘.“ (Cassirer 1989, 8)

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versum mit einem Uhrwerk vergleicht, das vom göttlichen Uhrmacher stammt (Em. 286).10 Aber die Menschen zerstören die gottgewollte Harmonie, weil sie eine ungerechte Gesellschaft errichten, die gegen die natürliche Ordnung gerichtet ist.11 In den ersten Worten des Emil hatte Rousseau diesen Gedanken prägnant formuliert: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (Em. 9) Die soziale Ordnung, um die es Rousseau geht, ist also nicht dieselbe wie bei Hobbes. Es ist weder einfach der Friede, der aus der Eliminierung des Kriegszustandes entsteht; noch die Summe der Bedingungen, die ein angenehmes Leben ermöglichen (Lev. 98 und 165), sondern die Wiederherstellung der zerstörten, gottgewollten, natürlichen Ordnung.12 Rousseau setzt sich nichts weniger als die Aufgabe, das vom Ehrgeiz der Menschen verursachte Übel wieder gutzumachen, wie er in der Erstfassung des Gesellschaftsvertrags, besser bekannt als Genfer Manuskript, eindeutig proklamiert (OC III, 288). Rousseau zielt allerdings nicht auf eine Rückkehr zum natürlichen Zustand (wie viele Interpreten, angefangen mit Voltaire, geglaubt haben),13 denn die ursprünglichen ‚Frieden und Unschuld‘ sind für immer verloren („la paix et l’innocence nous ont échappé pour jamais“; OC III, 283). Würden wir auch imstande sein, die äußerlichen Zustände des glücklichen Goldenen Zeitalters wiederherzustellen, würden die Menschen trotzdem nicht mehr imstande sein, das Glück der Naturmenschen zu spüren. Gemeinsam mit Letzteren hätten sie nur die reziproke Isolierung, ohne jedoch ihre Selbstzufriedenheit zu teilen; und außerdem würden auch die wenigen positiven Aspekte der Abkehr vom Naturzustand verloren gehen, allen voran die durch die jene Abkehr entstandene Moralität: „La terre serait couverte d’hommes, entre lesquels il n’y aurait presque aucune communication; nous nous toucherions part quelques points, sans être unis par aucun; chacun resterait isolé parmi les autres, chacun ne songerait qu’à soi; notre entendement ne saurait se développer; nous vivrions sans rien sentir, nous mourrions sans avoir vécu; tout notre bonheur consisterait à ne pas connaître notre misère; il n’y aurait ni bonté 10 Das Bild hat Tradition in der Moderne, so wie die Lobpreisung der Natur als der von Gott gewollten Ordnung (vgl. dazu Viroli 1988, 24 ff.). 11 „Wenn ich nun aber meinen persönlichen Platz innerhalb menschlicher Gattung erkennen möchte und die einzelnen Ränge der Menschen betrachte, die sie einnahmen, was wird dann aus mir? Welch ein Schauspiel? Wo ist die Ordnung, die ich vorher beobachtet habe? Das Bild der Natur zeigt mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts bietet mir nur Verwirrung und Unordnung! Unter den Elementen herrscht Harmonie, die Menschen befinden sich im Chaos! Tiere sind glücklich, ihr König ist unglücklich! Weisheit, wo sind deine Gesetze? Vorsehung, regierst du so die Welt? Allgütiges Wesen, was ist aus deiner Macht geworden? Ich sehe nur Übel auf der Erde.“ (Em. 290) 12 „Rousseau’s answer to the question of the good life consists in the closest approximation to the state of nature which is possible on the level of humanity.“ (Strauss 1950, 282) Zu Rousseaus Naturbegriff vgl. vor allem Cooper 1999. 13 Kant hingegen hat dies wohl begriffen: „Rousseau wollte im Grunde nicht, dass der Mensch wiederum in den Naturzustand zurück gehen, sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, dahin zurück sehen sollte.“ (ApH, VII 327 f.) Kant erweist sich allgemein als einer der feinsten Interpreten Rousseaus (dazu vgl. Brandt 2000).

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dans nos cœurs ni moralité dans nos actions, et nous n’aurions jamais goûté le plus délicieux sentiment de l’âme, qui est l’amour de la vertu.“ (OC III, 283) Rousseau zielt daher auf die Herstellung eines politischen Zustandes, der a) das Unrecht des aktuellen wiedergutmacht, und der b) die Menschen zu einem Zustand des Glückes führt, der dem natürlichen ähnlich, nicht jedoch mit ihm gleich ist. Die erreichte Ordnung soll die natürlichen Neigungen der Menschen korrigieren (vgl. Viroli 1988, 52) und stellt somit eine Denaturierung dar.14 Diese Denaturierung übernimmt das Positive des ursprünglichen natürlichen Zustands (das Glück), des gesellschaftlichen Zustands (das Mitleid und die Solidarität) und des aktuellen Rechtszustands (die relativ friedliche Lage) und lässt die negativen Aspekte jener Zustände beiseite. Man könnte dabei von einer Dialektik sprechen, die nach Rousseaus Meinung in der Geschichte der Menschheit am Werk ist: Die erste Stufe dieser Dialektik stellt der ursprüngliche Naturzustand dar, in dem die Menschen glücklich sind, weil sie in Autarkie und Isolierung leben und keine anderen Bedürfnisse als die tierischen haben. Die zweite Stufe besteht im Ausgang aus diesem Zustand: Die Menschen kommen zusammen, aber sie fangen dabei an, sich gegenseitig zu beurteilen und mit den anderen zu messen. In Folge dessen entwickeln sie künstliche Bedürfnisse, zu deren Erfüllung sie auf die ursprüngliche Autarkie verzichten müssen. Erst auf dieser Stufe entstehen das Privateigentum und die wirtschaftliche Ungleichheit, welche die Menschen in „Reiche“ und „Arme“ unterscheidet. Jener frühe gesellschaftliche Zustand entspricht Hobbes’ Naturzustand, in dem die Menschen miteinander interagieren, sich jedoch einander als Gegner betrachten. Um den mit solcher Konkurrenz verbundenen Gefahren zu entkommen, wird in der dritten Stufe ein Gesellschaftsvertrag beschlossen, der einen bürgerlichen bzw. Rechtszustand gründet. Dieser Vertrag ist jedoch ungerecht. Die „Reichen“ schlagen ihn den „Armen“ unter dem Vorwand vor, den Kriegszustand zu beenden und einen für alle friedlichen Zustand zu erreichen. Dabei denken sie jedoch nur an ihr Interesse, denn nur sie haben im Kriegszustand wirklich etwas zu verlieren, während sich die Armen – da sie nichts besitzen – kaum vor Gewalt und Raub fürchten müssen. Der Pakt hält die ungerechte Situation wirtschaftlicher Ungleichheit fest und erklärt sie für unveränderlich. Der daraus resultierende Rechtszustand ist somit ungerecht. Das Ergebnis des Unrechts ist das Unglück der Menschen (zu den drei Stufen vgl. unten 4.6 und 4.7). Die letzte Stufe des dialektischen Prozesses führt somit zu Ungleichheit, Unrecht und Unglück. Rousseau nimmt sich nun vor, den dialektischen Prozess, welcher der Menschheitsgeschichte zugrunde liegt, in eine andere Richtung zu führen. Die Dialektik soll somit ein anderes Finale bekommen: Die Ungleichheit soll abgeschafft, das Unrecht wiedergutgemacht und die Menschen zum Glück geführt werden. Da der ungerechte, abzuschaffenden Rechtszustand durch einen ungerechten Vertrag errichtet wurde, muss nun ein neuer, gerechter Vertrag beschlossen werden, der endlich einen gerechten Rechtszustand begründen soll. Damit wird die Dialektik der Menschheitsgeschichte ihren ur14 „Denaturalization refers to the fact that the citizen is educated to be virtuous (rather than good) and to conceive of himself first and foremost as a citizen rather than as a man. He is taught to derive his sentiment of existence and his sense of self from his (unnatural) participation in a collective.“ (Cooper 1999, 48)

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sprünglichen Sinn wiederbekommen und die Menschen werden vom tierisch-brutalen Glück und von der tierisch-brutalen Freiheit, über einen gesellschaftlichen Zustand, in dem die Menschen weder glücklich noch frei sind (da sie zu Sklaven der Meinung werden), zu wahrem Glück und zu wahrer Freiheit gelangen – und nicht in Unglück und Unfreiheit bleiben, wie im aktuellen ungerechten Rechtszustand. Rousseaus politisches Denken besitzt somit einen moralisch-normativen Charakter (im Emil schreibt er: „Wer Politik und Moral getrennt behandeln will, wird keine von beiden jemals verstehen“, Em. 240) und unterscheidet sich dabei von demjenigen Machiavellis und Hobbes’, deren Normativität pragmatischer Natur ist (das Ziel, das sie verfolgen, besteht darin, die staatliche Stabilität und die soziale Ordnung zu festigen, nicht die Menschen zum Gute und zur moralischen Ordnung zu führen). In einer gewissen Hinsicht ist Rousseaus oben zitierte Behauptung, er verfolge eine Wiedergutmachung des von der Natur durch die Kunst erlittenen Übels (OC III, 288), eigentlich ungenau, denn die angestrebte Ordnung hat es so nie gegeben. Todorov (wie auch andere) weist auf die christliche „Dialektik“ von ursprünglicher Unschuld, Sündenfall und Erlösung hin (Todorov 1985, 19 f.). Dieser Hinweis muss allerdings mit Vorsicht angenommen werden. In Rousseaus Dialektik liegt zwar eine interessante Parallele zum Christentum, man darf jedoch nicht den Fehler begehen, in der Abkehr von der Natur und im Verlassen des ursprünglichen Naturzustandes einen wahrhaftigen Sündenfall zu sehen: Die Menschen können nicht umhin, diesen Zustand zu verlassen, denn die Natur selbst hat uns unsere Unabhängigkeit von ihr geschenkt („l’indépendance, que nous avons receu d’elle“, OC III, 283), sie hat uns sozusagen in die Freiheit entlassen. Die wahre Sünde besteht vielmehr in der Art und Weise, in der die Abkehr von der Natur stattgefunden hat: Die Menschen sind den Weg der Ungerechtigkeit und Verdorbenheit gegangen, aber sie hätten auch einen anderen Weg gehen können – den Weg eben, den Rousseau in seinen Werken vorschlägt. Keine Ur- und Erbsünde bestimmt somit den aktuellen Zustand der Menschen. Nichtsdestotrotz kann man nicht leugnen, dass Rousseaus Projekt tatsächlich einen fast übernatürlichen Hauch besitzt: Was sich Rousseau verspricht, ist nicht so sehr die Korrektur der durch die Gesellschaft verursachten Übel, sondern die Korrektur der menschlichen Natur. Er selbst wird später in seinem Leben an einem solchen Projekt zweifeln, wenn er in der Einsamkeit und der Abschottung vor der Gesellschaft Zuflucht suchen wird. Aus dem Vorherigen geht auch hervor, dass das Begriffspaar „Mensch/Bürger“ (homme/ citoyen), das von vielen Interpreten als ein zentrales, für das Denken Rousseaus wesentliches Moment begriffen wird (bei Shklar 1985 sogar im Titel; zu den Begriffen vgl. unten 4.12), keineswegs mit dem Begriffspaar „natürlicher Mensch/Mensch in der Gesellschaft“ zusammenfällt, noch den weiteren Paaren „Natur/Gesellschaft“ bzw. „Unschuld/Schuld“ entspricht (vgl. Todorov 1985, 21). Rousseau meint im Gegenteil, dass der Bürger (so lange er ein wahrer Bürger ist, wie z. B. im alten Sparta) in größerer Nähe zum ursprünglichen Zustand der Unschuld und des Glücks lebt, als der Mensch als einfacher bourgeois, der zwar nominell Mitglied eines Gemeinwesens, de facto jedoch kein eigentlicher Staatsbürger ist. Staatsbürgerschaft, wenn sie die vollkommene Identifizierung der Individuen mit dem Gemeinwesen bedeutet, ist somit ein Zustand des Glücks und stellt jene gesuchte Veränderung der menschlichen Natur dar, die Erlösung bedeutet.

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Aber wahre Staatsbürgerschaft ist nur in einem Staat möglich, der auf gerechter Basis entstanden ist (vgl. unten 4.9). Rousseaus Wunsch, die Menschen zu einem Zustand des Glücks zu führen, der sein Modell in der Vergangenheit (nämlich im Urzustand der Naturmenschen) hat, mag vielleicht auch die Tatsache erklären, dass so viele Interpreten der Meinung sind, Rousseaus politisches Denken weise vor- oder gar antimoderne Züge auf.

4.3. Rousseau zwischen Antike und Moderne? Patrick Riley führt z. B. alle Probleme, die Rousseaus politisches Denken aufwirft, auf den Versuch Rousseaus zurück, zwei miteinander unverträgliche Positionen zu versöhnen: antike „Geschlossenheit“ und modernen „Voluntarismus“ (Riley 2000, 107). Rousseau biete im Contrat Social eine Theorie politischer Verpflichtung durch Konsens an – ganz im Einklang mit Hobbes’ und Lockes Idee des Gesellschaftsvertrages. Der Ausgangspunkt einer solchen Theorie sind vereinzelte Individuen mit partikularen Interessen. Die Gesellschaft entsteht durch den Willen der Individuen, sich ein Instrument zur besseren Wahrnehmung ihrer Interessen zu schaffen. Sie ist also ein künstliches Wesen, wie Hobbes am Anfang des Leviathan betont hatte. Andererseits meint Rousseau, dass die „stark geeinten politischen Systeme der Antike (wie er sie idealisierte) die vollkommensten Arten einer Politie seien“ (a. a. O., 114). Die antiken Denker glaubten an die Natürlichkeit des politischen Lebens und boten daher keine Theorie politischer Verpflichtung an. Sie dachten (in Rileys Auffassung), dass die Mitglieder eines Gemeinwesens die Sorge um das Gemeinwohl teilten, so dass sie keine besondere Motive brauchten, um a) eine Gesellschaft mit anderen einzugehen, und b) das Gemeinwohl ihrem Privatinteresse vorzuziehen. In diesem Modell ist kein Platz für den Gesellschaftsvertrag und für den Voluntarismus des „modernen“ Modells. Was die verschiedenen Gemeinwesen ins Leben ruft, ist vielmehr die Tätigkeit eines großen Gesetzgebers (a. a. O., 115). Rousseau sei „sich durchgängig darüber im klaren [...], dass modernes, durch Eigeninteresse verursachtes Leid vermieden werden muss, und dass die von antiken Gesetzgebern geschaffenen politischen Systeme besser als irgendwelche modernen waren“ (a. a. O., 116). Sein politisches Denken ist daher „ein edler Versuch, die besten Elemente der Vertragstheorie, der individuellen Zustimmung, mit seinen vollkommenen, geeinten antiken Modellen zu vereinigen, die aufgrund ihrer Fundierung auf der Moral des Gemeinwohls keine privaten Willen mit dem Gemeininteresse (das natürlich war) ‚versöhnen‘ mussten und deswegen keinen Bedarf an Zustimmung, keinen Bedarf an Verträgen hatten“ (a. a. O., 118). Ein solcher Versuch, der das Gemeinwohl mit individuellem Willen versöhnen will, ist jedoch in Rileys Meinung zum Scheitern verurteilt, da er mit untereinander nicht verträglichen Kategorien vorgeht. Wir haben schon beobachtet, wie irreführend solche Vergleiche zwischen Antike und Moderne bzw. Neuzeit sein können (vgl. oben 1.4). Das ist auch bei Rousseau der Fall. Außer Riley haben auch andere Interpreten die Faszination betont, die das antike politische Denken auf den Genfer ausgeübt hatte. Dabei ist Zweifaches festzustellen:

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I) Viele Interpreten weisen erstens auf den vermeintlichen Einfluss antiker Denker hin, um Rousseaus Denken als politisch konservativ einzustufen (manchmal tun sie das auch mit einer gewissen Zustimmung). Sie behaupten, dass Rousseaus Utopien (es gibt mehrere davon: vgl. unten 4.15 und 4.16) nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit (einer meistens idealisierten) zugewandt sind. Das ist z. B. die interpretatorische Linie von Exegeten wie Strauss und Spaemann, aber auch von de Jouvenel, Herb und zum Teil Riley selbst.15 Dazu ist zu bemerken, dass der häufige Bezug Rousseaus auf die Vergangenheit weder eine Glorifizierung klassischer Positionen darstellt noch eine stricto sensu konservative Bedeutung hat. Rousseau sucht zwar seine Modelle in der Vergangenheit, aber er findet sie keineswegs in den Werken antiker Denker. Im Gegenteil: Das von ihm bevorzugte Beispiel Sparta (vgl. unten 4.15) wird von vielen politischen Schriftstellern der Antike nicht sehr positiv beurteilt und häufig zugunsten von Athen verworfen (allerdings mit den wichtigen Ausnahmen Platon und Aristoteles, die Sparta eher freundlich gegenüberstehen). Rousseau selbst hegt hingegen für Athen nur eine allgemeine Bewunderung für die kulturellen Errungenschaften der Stadt, nicht für ihre politischen Institutionen. Das Modell der archaischen, bäuerlichen Schweiz entnimmt außerdem Rousseau nicht der Antike. Sie stellt vielmehr eine starke Idealisierung, ja eine Verklärung eines fast paradiesischen Zustands dar, den es so niemals gegeben hat – oder nur in den Augen des jungen Jean-Jacques, wie im Fall der Montagnons (vgl. unten 4.15). Diese Modelle (und die weiteren, die Rousseau erwähnt: von der Vorrede über den zweiten Discours bis hin zum Verfassungsprojekt für Korsika) besitzen außerdem eine ziemlich revolutionäre Bedeutung – im Vergleich mit den konkreten politischen Zuständen seiner Epoche – und nicht zufällig wird die Stadt Genf von der eigenen, stark idealisierten Glorifizierung durch ihren Sohn nicht besänftigt: Sie wird das umstürzende Potential von Rousseaus Werk durchschauen und dessen Verbreitung konsequent verbieten. Rousseau übernimmt zudem zwar manche Positionen von antiken Schriftstellern, aber dabei handelt es sich meistens nicht um politische Philosophen, sondern um Historiker 15 So Strauss: „It is preferable to understand Rousseau’s thesis as a statement of the view underlying classical political philosophy, and his attacks on the thesis of the Enlightenment as a part, although the most important part, of his attack on modern politics in the name of classical politics.“ (Strauss 1972, 287) Strauss ist sich allerdings der Modernität Rousseaus bewusst. Er lehnt es ab, Rousseaus Denken als „reaktionär“ einzustufen und schreibt: „Er gab sich der Moderne hin. Man ist versucht zu sagen, dass er nur dadurch zur Antike zurückgeführt wurde, dass er eben das Schicksal des modernen Menschen hinnahm. Auf jeden Fall war seine Rückkehr zur Antike gleichzeitig ein Fortschritt der Moderne.“ Strauss meint jedoch, dass sich Rousseau „von Hobbes, Locke oder den Enzyklopädisten zu Platon, Aristoteles oder Plutarch wandte“ – was eigentlich eine überzeichnete Darstellung von Rousseaus Beziehung zu all jenen Autoren ist (Strauss 1977, 262). So die anderen hier erwähnten Interpreten: „Rousseaus politische Schriften [...] sind eindeutig konservative Schriften“ (Spaemann 1980, 17); „We can read in his works the bitter condemnation of the society he lived in, but in the name of a better past, not of a better future“ (Jouvenel 1961/62, 93); „Rousseau wendet der Moderne [...] den Rücken zu“ (Herb 2000, 177); „Jean-Jacques Rousseau war ein strenger Kritiker des modernen politischen Lebens [...]. Gleichzeitig war er ein großer Bewunderer der stärker geeinten politischen Systeme der Antike“ (Riley 2000, 110).

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oder politische Männer. Er benutzt manchmal, wie schon Machiavelli, das Beispiel von Persönlichkeiten aus der Geschichte, um seine Gegenwart zu verurteilen (wie bei der fiktiven Rede des Fabricius am Ende des ersten Teils des ersten Discours), macht also einen moralisierenden Gebrauch von der Geschichte. Das geschieht allerdings weniger, um für eine Rückkehr zur Antike zu plädieren, als vielmehr, um eine moralische Reformation zu verursachen, welche die Menschen eigentlich in eine vollkommen neue Richtung führen sollte, wie wir gesehen haben (vgl. oben 4.2). Der Weg zurück in die Antike ist genauso versperrt wie der Weg zurück in die Natur. II) Dass Rousseau seine Beispiele aus der Antike ziemlich selektiv aussucht, führt uns zur zweiten Beobachtung: Rousseau bedient sich seiner klassischen Beispiele auf sehr instrumentelle Weise. So lobt er z. B. Sparta wegen der Art von Bürgern, die es hervorgebracht hatte, verwirft jedoch gleichzeitig dessen Machtpolitik (vgl. unten 4.15). Bei aller Bewunderung für die antiken Republiken lehnt Rousseau jene Idee expansionistischer Politik ab, die eigentlich zum klassischen Begriff der respublica gehört, wie Machiavelli schon verstanden hatte (vgl. oben 2.7). Die selektive Wahrnehmung der Erbschaft der Antike zeigt, dass sich Rousseau von ihr nur zum Teil beeinflussen ließ. Er geht vielmehr mit ihr so um, wie er auch mit den Werken zeitgenössischer Schriftsteller umgeht: Er holt sich von ihnen das, was ihm für die Verteidigung seiner Position von Nutzen sein kann, lässt jedoch beiseite, was in seine eigene Theorie nicht passt. Darin liegt allerdings kein Versuch, zwei miteinander unverträgliche Positionen – die der Antike und die der Moderne – zu versöhnen, wie Riley meint. Rousseau mag zeitweise wegen einiger seiner Argumente, wegen seiner Wortwahl oder wegen der Auswahl der Beispiele den Eindruck erwecken, dass er sich als Erbe klassischer Autoren versteht. Vielleicht besaß er auch manchmal tatsächlich ein solches Selbstverständnis. Aber die von ihm angebotenen Lösungen für eine gerechte und glückliche Gesellschaft können mit dem politischen Denken der Antike (sofern man von einem solchen Denken sprechen kann) kaum in Einklang gebracht werden, wie wir noch sehen werden.

4.4. Der erste „Discours“ und die Attacke auf das Ancien Régime Rousseaus großer Durchbruch in der intellektuellen Szene findet bekanntlich mit der Veröffentlichung des ersten Discours statt. An sich sollte dies ziemlich überraschend vorkommen, da die dort vorgestellten Ideen nämlich nicht ganz neu sind. Rousseau übernahm Gedanken von Autoren wie Montesquieu, Fénelon, Montaigne, Bossuet, Rollin, Diderot, Raynal, und von Klassikern wie Horaz, Tacitus, Seneca und Plutarch: alles Schriftsteller, die Rousseau manchmal wörtlich zitiert, ohne sie jedoch zu erwähnen – was ihm den Vorwurf des Plagiats (z. B. seitens Joseph Cajots in Les plajats de Rousseau von 1756; zit. in: Wokler 1999, 36) und des Mangels an Originalität seitens vieler philosophes (in primis seitens seines Freundes Diderot) einbrachte. Die Vorwürfe sind ungerecht, da Rousseau – obwohl er tatsächlich Stellen anderer Denker wörtlich übernahm – die Gedanken jener Autoren benutzte, um durchaus originelle Thesen zu vertreten. Was wahrscheinlich die Gemüter so erregte, war eher der Stil der Schrift, die durch

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ihre kraftvolle Rhetorik so gut wie alle damals herrschenden Ideen auf schärfste Weise attackierte – in einer Form, die Rousseau selbst kaum mehr erreichte. Die Rhetorik stellt die Größe und gleichzeitig die Grenze des ersten Discours dar: Möge sie auch den Leser einnehmen und zu einer Stellungnahme fast zwingen, so versteckt sie auch nicht lange die Widersprüche und die wenig überlegten Argumente, die in dem Werk vorhanden sind.16 Es ist zwar bei der ersten Lektüre nicht eindeutig, ob Kunst und Wissenschaften Luxus und Müßiggang verursachen (DSA, 22), oder ob diese umgekehrt jene hervorbringen, wie es aus manchen Stellen hervorzugehen scheint. Das ist jedoch weniger von Bedeutung; wichtiger ist vielmehr, dass wir in dem Werk schon die Ideen finden können, die das spätere Denken Rousseaus bezeichnen werden, allen voran die Idee einer allmählichen Verderbs der menschlichen Gattung, die aus einem ursprünglichen Zustand von Glück und moralischer Unschuld zu einem Zustand von Unglück und moralischer Verdorbenheit geführt hat. Zwar scheint Rousseau in seiner Schrift die wahre Ursache dieses Prozesses nicht eindeutig bzw. im Zusammenhang mit Kunst und Wissenschaft identifiziert zu haben (im zweiten Discours wird er die Tragweite seiner Kritik auf das Gebiet der Wirtschaft erweitern); aber es ist hier schon klar, dass die Menschen aus eigener Schuld unglücklich geworden sind, und dass sie es aufgrund ihrer Sucht nach Ehre und Auszeichnungen, d. h. aufgrund unnatürlicher Bedürfnisse geworden sind. Die Attacke gegen Kunst und Wissenschaft wird somit zu einer Attacke gegen eine Form der Gesellschaft, die auf Klassenunterschieden, auf unterschiedlichen Stufen von Auszeichnungen und auf deren äußerlichen Erscheinungen basiert, und die auf dem Begriff von Ehre aufgebaut ist. „Die Kritik an Kunst und Wissenschaft im ersten Discours ist also bereits wesentlich politisch motiviert“, wie Fetscher zu Recht meint (Fetscher 1975, 21), aber sie ist vor allem Kritik an einer bestimmten Gesellschaftsform: an der Gesellschaft des Ancien Régime (Illuminati 2002, 46 f.). In seiner Polemik nimmt Rousseau eine Position ein, die zweifelsohne dem Wirtschaftsliberalismus eines Adam Smiths entgegensteht. Gewerbe, Luxus, Handel, alles, was „unsere Schriftsteller“ für „das Meisterwerk der Politik unseres Jahrhunderts“ halten, wird von Rousseau verurteilt und als die Ursache gegenseitiger Abhängigkeit, also als die Ursache aller menschlichen Übel angesehen (so Rousseau im etwas späteren Vorwort zu Narcisse: PN, 157). Im ersten Discours richtet sich jedoch seine Hauptkritik weniger gegen solche wirtschaftlichen Phänomene als vielmehr gegen die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, die Tugend und Einfachheit verabscheut und Ungleichheit nicht nur verursacht, sondern rechtfertigt und zelebriert. Rousseau greift Kunst und Wissenschaft wegen ihrer ideologischen Dimension an: Sie breiten über die Ketten, die den in Gesellschaft lebenden Menschen angelegt sind, „Blumenkränze“ aus und ersticken so in den Individuen jede „Empfindung jener ursprünglichen Freiheit, um deretwillen sie doch geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Sklaverei lieben und formen

16 Vgl. Cassirer: „Der erste Discours stellt sich in der Tat im Ganzen von Rousseaus Schriften als ein unerreichtes rhetorisches Meisterstück dar; aber er ist in vielem auch ein bloßes rhetorisches Prunkstück geblieben.“ (Cassirer 1989, 17)

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aus ihnen, was man gesittete Völker nennt“ (DSA, 12). Er verurteilt Kunst und Wissenschaft nicht an sich, sondern sieht sie als Instrumente einer Ideologie, welche die ursprüngliche menschliche Natur verdirbt. In seiner Schrift definiert Rousseau die ursprüngliche Natur noch als politische Freiheit und als die Einfachheit und Genügsamkeit der freien Republiken der Antike, allen voran Rom und Sparta; im zweiten Discours wird er bei seiner Suche nach dem ursprünglichen Naturmenschen weiter in die Vergangenheit zurückgehen (vgl. unten 4.5 f.). Hier findet noch eine Identifizierung der ursprünglichen Unschuld mit einem Zustand der Barbarei bzw. des Mangels an Bildung und Kultur statt. Rousseau schließt sich Sokrates (eigentlich hätte Rousseau Platon nennen müssen) und Cato dem Älteren bei deren Verurteilung der Kunst bzw. der Philosophie an (a. a. O., 18 f.; zu Rousseaus Kritik an die Kunst vgl. Kelly 1997). Es ist auf jeden Fall unzutreffend zu behaupten, Rousseau kritisiere im ersten Discours (oder in den übrigen Schriften) die Gesellschaft schlechthin und daher auch Kunst, Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen. Möge in diesem Werk sein Angriff nur destruktiv erscheinen,17 so wird er in den späteren Werken einen Ausweg aus dem gegenwärtigen Zustand der Ungerechtigkeit und der Verdorbenheit anbieten. Rousseau ist nicht so töricht, sich nach der Rückkehr zu einem vorgesellschaftlichen Zustand zu sehnen bzw. für die Abschaffung von Kunst, Wissenschaft und Kultur zu plädieren. Was er kritisiert, sind eben die Gesellschaft des Ancien Régime und die Künste und Wissenschaften seiner Zeit, die als ideologische Instrumente zur Rechtfertigung der Ungerechtigkeit jener Gesellschaft dienten. Im zweiten Discours wird er hingegen den geschichtlichen Prozess schildern, durch den diese Gesellschaft entstanden ist (dabei wird er die Rolle von Kunst und Wissenschaft eindeutig herunterspielen und vielmehr die ökonomische Dimension des Prozesses fokussieren); und im Contrat social wird er schließlich ein Modell von Gesellschaft anbieten, das eine Alternative zur ungerechten Gesellschaft des Ancien Régime darstellt. Zum Perspektivenwechsel kam er durch die Debatte, die um seinen ersten Discours entstanden war, und die sicher ein entscheidendes Moment in seiner philosophischen Biographie bildet. Diese Debatte werde ich hier jedoch beiseite lassen, um zu den für unser Thema wichtigsten Thesen des zweiten Discours überzugehen.18

4.5. Natur und Geschichte: Der zweite „Discours“ Durch die Debatte um den ersten Discours findet, wie betont, ein Wechsel der Perspektive Rousseaus statt. Seine Polemik richtet sich nicht mehr gegen die Auswirkungen von Kunst und Wissenschaft, sondern gegen die Ungleichheit, die aus dem Entstehen unnatürlicher Bedürfnisse und aus der darauf folgenden Arbeitsteilung hervorgeht. Dieser Prozess mündet in den zweiten Discours, der noch einmal als Antwort auf eine Aufgabe der Dijoner Akademie verfasst wird. 17 Das war auch der Hauptvorwurf seiner zeitgenössichen Kritiker, allen voran Stanislaus Leczinski (in einem im September 1751 im Mercure de France veröffentlichen Essay). 18 Zu der Debatte vgl. unter anderen Spaemann 1980, 34 ff., der auf Rousseaus Platonismus insistiert (a. a. O., 38 f.).

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Rousseau geht hier auf eine „wissenschaftlichere“ Weise als beim ersten Discours vor19 und lässt sich dabei von Buffons Naturgeschichte der menschlichen Gattung inspirieren. Im ersten Discours war Rousseau eher rhetorisch vorgegangen und hatte Argumente zusammengestellt, die prima facie einander widersprachen (in der Tat war der Widerspruch doch nicht so groß, wie wir gerade gesehen haben). Jetzt sind Ziel und Methode seiner Argumentation deutlicher: Rousseau will zeigen, dass wirtschaftliche Ungleichheit die wahre Ursache des Unglücks zivilisierter Menschen ist; und er will auch zeigen, wie die Ungleichheit zu Stande gekommen ist. Dazu greift er eine genealogische Methode auf, die ihm ermöglichen soll, zunächst die Natur des Menschen in seinem natürlichen Zustand aufzuspüren – d. h. die Menschennatur vor irgend einer Veränderung, die anschließend die gesellschaftliche Entwicklung mit sich gebracht hat. Das ist kein leichtes Unternehmen, wie Rousseau uns selbst am Anfang des Werkes warnt (DI, 52).20 Rousseau greift auf ein platonisches Bild (Politeia, X. Buch) zurück: die Statue des Glaukos, die wegen der Auswirkungen der Zeit und der Witterungen kaum noch erkennbar war. Das Bild des Gottes hatte sich zwar äußerlich verwandelt, aber völlig zerstört wurde es nicht. Auf den Menschen übertragen, heißt das, dass seine Abkehr von der Natur nicht vollkommen ist und keine absolute Entfremdung darstellt. Etwas von der ursprünglichen Harmonie bleibt und kann wieder ans Licht gebracht werden – sowohl in theoretischem Sinn (wir können die ursprüngliche menschliche Natur erkennen) als auch in praktischem Sinn (wir können die ursprüngliche Harmonie von Menschen und Natur wiederherstellen, auch wenn das nicht notwendigerweise bedeutet, dass wir zum Leben der Naturmenschen zurückkehren, denn diese Möglichkeit öffnet sich nur für sehr wenige Individuen).21 Bemerkenswert ist dabei folgende Behauptung Rousseaus: „Es ist kein kleines Unternehmen, in der jetzigen Natur des Menschen das Ursprüngliche von dem Künstlichen zu unterscheiden und einen Zustand zu ergründen, der nicht 19 Über den wissenschaftlichen Charakter von Rousseaus Unternehmen vgl. Masters 1997. 20 „Und wie kann es der Mensch jemals dazu bringen, dass er sich in der Gestalt betrachte, die ihm die Natur gegeben hat, nachdem die Folge der Zeiten und der Dinge so vieles an seiner ursprünglichen Beschaffenheit verändert hat? So wie des Glaukos Bildsäule durch die Zeit, das Meer und die ungestümen Witterungen so sehr entstellt worden ist, dass sie eher einem wilden Tiere als einer Gottheit ähnlich gesehen hat, ebenso hat sich die menschliche Seele in dem Schoße der Gesellschaft verändert. Tausend Ursachen, die mit jedem Augenblick von neuem entstehen, eine Menge Einsichten und Irrtümer, die sie erlangt hat, die Veränderungen der Leibesbeschaffenheit und das anhaltende Toben der Leidenschaften haben sozusagen ihre äußere Erscheinung so sehr verändert, dass man sie jetzt kaum mehr erkennen kann.“ (DI, 52) 21 Zur Schwierigkeit, die ursprüngliche Natur des Menschen zu erkennen, schreibt Rousseau weiter: „Das Grausamste ist, dass das menschliche Geschlecht durch all seine Fortschritte immer mehr von seinem ursprünglichen Zustande entfernt wird. [...] Es ist leicht zu begreifen, dass aus dieser allmählichen Veränderung der menschlichen Beschaffenheit alle Verschiedenheit entsprungen ist, die wir zwischen den Menschen antreffen, denn niemand zweifelt daran, dass die Menschen von Natur einander ebenso gleich sind, wie es die Tiere jeder Gattung waren, solange noch physischen Ursachen hinzugekommen waren, die unter einigen von ihnen die Abarten hervorgebracht haben, die wir bei ihnen bemerken.“ (DI, 52 f.)

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mehr zu finden, der vielleicht niemals da gewesen ist und künftig auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, nie vorkommen wird.“ (DI, 53) Das ist eine verwunderliche Aussage, besonders in Bezug auf die zwei letzten Sätze: Der ursprüngliche Zustand sei „vielleicht niemals da gewesen“ und werde „künftig auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, nie vorkommen“. Aus der folgenden Rekonstruktion gewinnt man den Eindruck, Rousseau halte die von ihm beschriebenen Ereignisse keineswegs für eine reine philosophische Abstraktion bzw. für ein reines Gedankenexperiment, sondern eher für die Beschreibung von realen Begebenheiten. Andererseits betont er auch an einer anderen Stelle, dass es sich um eine bloße Hypothese handelt: „Man muss die Untersuchungen, die dazu [d. h. zum Vorhaben, die Aufgabe der Akademie zu lösen – A. P.] nötig sind, nicht als historische Wahrheiten, sondern [...] als bedingte und hypothetische Vernunftschlüsse betrachten. [...] wie es dem menschlichen Geschlecht ergangen wäre, wenn es sich selbst überlassen worden wäre.“ (DI, 61) Wenn es sich selbst überlassen worden wäre – aber es blieb nicht sich selbst überlassen und entfernte sich von seiner Natur. Diese Entfernung ist ein historisches Ereignis, weil sie tatsächlich stattgefunden hat. Hypothetisch sind nur die verschiedenen Rekonstruktionen des Prozesses, durch den die Abkehr von der Natur stattfand. Dabei herrscht auch unter anderen Autoren (Hobbes, Pufendorf usw.) Uneinigkeit über die ursprüngliche menschliche Natur (DI, 54). Diese Schriftsteller begehen nach Rousseaus Meinung einen schwerwiegenden Fehler: Sie verwechselten „den wilden Menschen mit den Menschen [...], die wir vor Augen haben“ (DI, 68).22 Die menschliche Natur hat hingegen in Rousseaus Augen eine eigene Geschichte, die er erzählen will. Diese Erzählung besitzt jedoch einen genealogischen Charakter und stellt keine wissenschaftlich begründete, ereignistreue Wiedergabe des Geschehens dar. Wie Hobbes nimmt Rousseau Abstrahierungen vor und geht von einer Arbeitshypothese aus. Er greift für seine Rekonstruktion der menschlichen Natur einerseits a) auf die Introspektion, andererseits b) auf Voraussetzungen zurück, die er selbst nicht als geschichtliche Tatsachen, sondern als Postulate bezeichnet. 22 Ähnliche Warnungen wiederholt Rousseau oft in seinen Werken, eine berühmte Stelle ist jedoch im Fragment Vom Kriege zu finden, das zu den Kommentaren zu den Schriften des Abbé de Saint-Pierre gehört: „Der Irrtum von Hobbes und den Philosophen besteht darin, dass sie den natürlichen Menschen mit dem verwechseln, den sie vor Augen haben, und dass sie ein Wesen in ein System versetzen, das nur in einem anderen fortbestehen kann.“ (DEG, 417 f.) Eigentlich zielt Hobbes, gegen den sich hier Rousseau offensichtlich wendet, nicht auf eine Rekonstruktion des historischen Naturzustandes ab. Sein Ziel ist „nur“ zu zeigen, dass eine staatliche absolute Macht notwendig und daher legitim ist. Er beschreibt lediglich das, was den Menschen (und zwar den gegenwärtigen Menschen, wie Rousseau zu Recht bemerkt) in einem staatenlosen Zustand geschehen würde. Sein Naturzustand ist in dieser Hinsicht eine Fiktion, funktionell zu seiner Legitimationstheorie staatlicher Macht. Um sein Bild des Naturzustandes anzubieten, wählt Hobbes also gerade die Strategie, die ihm Rousseau vorwirft: Er nimmt die Menschen, die er vor Augen hat, und abstrahiert von den mäßigenden Auswirkungen, die Recht und Staat auf sie haben; und er tut das, um zu zeigen, wie furchtbar das menschliche Dasein ohne solche Auswirkungen sein würde. Aber das ist für sein Vorhaben keineswegs falsch oder gar verwerflich, wie Rousseau meint, sondern gerechtfertigt. Der Weg, durch den die Menschen zur Errichtung staatlicher Institutionen kamen, interessiert Hobbes nicht.

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4.6. Auf der Suche nach dem Naturmenschen a) Die Introspektion ergibt die beste Lösung für ein Problem, das Rousseau folgenderweise formuliert: „Durch welche Untersuchungen könnten wir zu der Erkenntnis des natürlichen Menschen gelangen, und welche Mittel hat man, diese Untersuchungen inmitten der Gesellschaft anzustellen?“ Rousseau behauptet, dass er weit davon entfernt ist, „diese Aufgabe lösen zu wollen“ (DI, 53). Er kritisiert anschließend die zeitgenössischen Philosophen, die umsonst versucht haben, sowohl die Natur des Menschen als auch den damit verbundenen Begriff von Naturrecht zu definieren (a. a. O., 54 f.). Aber unmittelbar danach bietet er doch einen Weg an, das Problem zu lösen: „Ich habe daher alle wissenschaftlichen Bücher beiseite gelegt [...]. Ich habe über die ersten und einfachsten Wirkungen der menschlichen Seele nachgedacht und glaube darin zwei Urquellen wahrgenommen zu haben, die aller Vernunft vorausgehen.“ (A. a. O., 55; kursiv – A. P.) Bevor ich auf diese zwei ‚Urquellen‘ eingehe, möchte ich auf eine Schwierigkeit hinweisen, auf die schon Robert Spaemann aufmerksam wurde: Wie soll die Reflexion imstande sein, „eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird?“ (Spaemann 1980, 67) Der reflektierende Rousseau ist kein Naturmensch mehr, sondern er ist genauso ‚entstellt‘ wie alle seine Zeitgenossen (entstellt durch Jahrtausende der Zivilisierung, durch unnatürliche Bedürfnisse und durch das Gesellschaftsleben – also durch Phänomene, die auf den Naturmenschen dieselben Auswirkungen wie die Zeit und die Witterung auf Glaukos’ Statue hatten). Was gibt Rousseau die Garantie dafür, dass die zwei ‚Urquellen‘, die er wahrzunehmen meint, tatsächlich der ursprünglichen Natur des Menschen entsprechen? Die Antwort besteht in einem Postulat, an dem Rousseau in allen seinen Werken immer festhalten wird: Das menschliche Gewissen ist unveränderlich, es bleibt immer dasselbe, auch wenn man es unter den unzähligen ‚Verkrustungen‘ suchen muss, die das gesellschaftliche Leben darauf gelegt hat. Wer mit aufmerksamer Innerlichkeit horcht, kann die Stimme seines Gewissens nicht überhören. Das Gewissen bildet jenen Kern ursprünglicher menschlicher Natur, den keine spätere Verwandlung je tilgen kann (das wird Folgen für Rousseaus politische Theorie haben, wie wir sehen werden). Die aufmerksame Introspektion führt also Rousseau zur Identifizierung von zwei ‚Urquellen‘: dem Selbsterhaltungstrieb und dem Mitleid. „Die eine [Quelle] macht uns um unser eigenes Wohlergehen besorgt und treibt uns an, für unsere Erhaltung zu sorgen, die andere aber macht, dass wir kein empfindendes Wesen und vornehmlich keines unseresgleichen ohne Widerwillen umkommen oder leiden sehen können.“ (DI, 55) Man braucht daher nicht, „die Neigung zur Geselligkeit notwendig ins Spiel zu bringen“, wie es die Aristoteliker machen, um das Naturrecht zu definieren: Diese zwei Grundlagen würden ausreichen, wenn die Vernunft unsere ursprüngliche Natur nicht „erstickt“ hätte (a. a. O., 56). Durch Introspektion gelangt man somit nicht nur zur ursprünglichen Natur des Menschen, sondern auch zu den Grundsätzen des Naturrechts, die „mit unauslöschlichen Lettern in des Menschen Herz geprägt“ sind, wie es an einer anderen Stelle heißt (DEG, 408). Im Gegensatz zu den meisten Naturrechtlern listet Rousseau jene Grundsätze nicht auf: Auch in der zitierten Stelle erwähnt er lediglich das Mordverbot, und in der Tat folgt aus beiden ‚Urquellen‘ des Naturrechts (Selbsterhaltungstrieb und Mitleid) auch

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nur, dass der Mensch „das Leben von seinesgleichen nur zur Rettung des eigenen opfern dürfe“, und dass er zurückschrecken sollte, „das Blut eines Menschen ohne Zorn zu vergießen, selbst wenn er sich dazu verpflichtet sieht“ (a. a. O., 408) – was Kriege von vornherein naturrechtswidrig macht. Das Recht auf Eigentum ist daher kein natürliches Recht. Auch im Gesellschaftsvertrag wird dieses Recht als ein Recht vorgestellt, das erst in der und durch die Gemeinschaft zu einem solchen wird: Die Eigentümer sind eigentlich nur „Verwalter des öffentlichen Besitzes“ (CS I, 9; 286) – eine Position, die diejenige von Hobbes aufnimmt und mit leichten Unterschieden auch von Kant vertreten wird. b) Die Voraussetzungen, von denen Rousseau in seiner Rekonstruktion der ursprünglichen Natur der Menschen ausgeht, lassen sich im Unterschied zum Selbsterhaltungstrieb und zum Mitleid kaum als Ergebnis von Introspektion bezeichnen und stellen vielmehr regelrechte Postulate dar. Das erste betrifft die natürliche Gleichheit der Menschen. Damit ist natürlich nicht (wie bei Hobbes) die physische bzw. intellektuelle Gleichheit gemeint – im Gegenteil: Rousseau ist sich der natürlichen Ungleichheit der Individuen wohl bewusst. Aber neben dieser Art von Ungleichheit gibt es eine weitere: die moralische bzw. politische. Die natürliche Ungleichheit besteht aus den Unterschieden in Bezug auf körperliche Kraft, auf Gesundheit, auf die seelischen und geistigen Eigenschaften und sogar auf das Alter (DI, 59). Die zweite „besteht in den verschiedenen Vorrechten, welche einige zum Nachteil anderer genießen, nämlich reicher, angesehener, mächtiger zu sein als diese“ (a. a. O., 59). Sie ist das Ergebnis von Konventionen und ist durch die erste nicht gerechtfertigt, wie schon Pufendorf (dessen Werk Rousseau kannte und schätzte) betont hatte (Ius Naturae et Gentium, III, 2). Die Ungleichheit, die Rousseau kritisiert, ist selbstverständlich die Letztere, denn die natürliche ist weder gerecht noch ungerecht: Sie ist bloß eine Tatsache. Wenn Rousseau meint, alle Menschen seien gleich, so meint er das in Bezug auf andere natürliche Eigenschaften als die physischen oder psychischen, die ich gerade erwähnt habe. Diese Eigenschaften, die alle Individuen teilen und – mindestens im ursprünglichen Naturzustand – im gleichen Ausmaß besitzen sind: 1) die Freiheit von den Instinkten, 2) die natürliche „Güte“, 3), die Autarkie, 4) die Selbstliebe (amour de soi) und – damit verbunden – das Mitleid, und 5) die Perfektibilität (zu den Begriffen der Perfektibilität und der Selbstliebe vgl. Reitemeyer 1996). 1) Rousseaus These ist hier nicht besonders originell: Im Gegensatz zu den Tieren ist der Mensch „ein frei handelndes Wesen“; er weicht daher oft „zu seinem Nachteil“ von der Regel ab, die ihm die Natur vorschreibt (a. a. O., 70). 2) Diese berühmte These charakterisiert angeblich Rousseaus Anthropologie. Man muss sich allerdings davor hüten, sie zu missdeuten. So wie Hobbes nicht behauptet, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf (er sagt lediglich, diese Behauptung könne genauso wahr sein wie diejenige, der Mensch sei dem Menschen ein Gott: vgl. oben 3.4; vgl. auch Tricaud 1969); und wie daher Hobbes’ Menschenbild keineswegs so pessimistisch ist, wie oft angenommen; ist auch Rousseaus These der ursprünglichen Güte (bonté) des Menschen nicht so zu interpretieren, dass die Naturmenschen gutmütig, hilfreich und wohlwollend zueinander seien. Sie sind im Gegenteil einander gleichgültig,

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da sie sich selbst genügen. Ihre Güte besteht in einem Mangel an Bosheit und nicht in einem positiven Gefühl der reziproken Liebe. Die ursprüngliche Güte wird somit durch die Negation der gesellschaftlich verursachten Bosheit der zivilisierten Menschen definiert, wie aus der berühmten Anmerkung IX des zweiten Discours abzulesen ist (DI, 133 ff.23). Hier führt Rousseau den Wilden als Inbegriff des Naturmenschen ein: Die wilden Menschen sind nicht böse, da ihre Leidenschaften ruhen, und da sie das Laster nicht kennen – im Unterschied zum zivilisierten Menschen. „Hat der Wilde gegessen, so lebt er mit der ganzen Natur in Frieden und ist jedermanns Freund“, auch wenn es zu Streitigkeiten kommen sollte: „Will man ihm zuweilen sein Mahl streitig machen, so kommt es niemals zu Schlägen, ehe er sich nicht vergewissert hat, ob es schwieriger sei, zu siegen, oder seine Nahrung anderswo zu suchen.“ Ganz anders sieht es „beim Menschen, der in Gesellschaft lebt“, aus: „Je weniger natürlich und dringlich die Bedürfnisse sind, desto größer werden die Leidenschaften, und, was das Schlimmste ist, das Vermögen, sie zu befriedigen.“ (DI, 135) Erst das Leben in der Gesellschaft führt zu jenem Ausbruch der unnatürlichen Bedürfnisse und der Leidenschaften, der die Menschen böse macht. Der Naturmensch, der Wilde, ist also deswegen gut, weil er weder jene, noch diese besitzt. Er ist gut, weil er sich selbst genügt. 3) Die ursprüngliche Autarkie der Menschen trägt entschieden anti-aristotelische Züge: War der Mensch für Aristoteles von Natur aus zōon logon echon und zōon politikon, so ist der Naturmensch für Rousseau stumm und vereinzelt. Zur Stillung seiner wenigen natürlichen Bedürfnisse braucht er die anderen nicht, daher entwickelt er auch keine Sprache, um mit ihnen zu kommunizieren. Er befindet sich in einer Art ewiger Gegenwart und hat Bewusstsein weder von seiner Vergangenheit noch von seiner Zukunft: Er lebt ohne Erinnerungen, ohne Hoffnungen, ohne Ängste, die ihn unglücklich machen können. „Seine Seele, die von nichts bewegt wird, überlässt sich der bloßen Empfindung ihres gegenwärtigen Daseins, ohne den mindesten Begriff von dem Zukünftigen zu haben.“ (DI, 73)24 Spaemann hat ihn zu Recht als „ein narzisstisches Bedürfniswesen“ bezeichnet (Spaemann 1980, 13). Sein einziges Gefühl ist eben das ‚seines gegenwärtigen Daseins’ – und dieses Gefühl verursacht seine Isolierung, denn „man kann sich unmöglich vorstellen, warum der Mensch in diesem Urzustand des Menschen mehr als ein Affe oder ein Wolf seinesgleichen bedürfen sollte“ (DI, 81). 4) Die Selbstliebe (amour de soi) darf nicht mit der Eigenliebe (amour propre) verwechselt werden: „Die Selbstliebe ist eine natürliche Empfindung, die jedes Lebewesen dazu anhält, auf seine Erhaltung zu achten“ (a. a. O., 156). Allen Lebewesen gemeinsam ist auch das Mitleid, d. h. ein angeborener „Widerwille, seinesgleichen leiden zu sehen“ (a. a. O., 83). Im Menschen bringt die Selbstliebe, „von der Vernunft gelenkt und vom 23 „Die Menschen sind böse; eine traurige und stetige Erfahrung erspart uns die Mühe, dies zu beweisen; indessen ist der Mensch von Natur gut.“ (DI, 134) 24 Und weiter: „Seine Begierden gehen nicht weiter als seine physische Bedürfnisse“ (DI, 72); „Daraus folgt, dass nichts so ruhig sein kann wie die Seele des Wilden und nichts so beschränkt wie sein Geist, da er nur die Dinge begehren kann, die er kennt, und nur das kennt, das zu besitzen in seiner Macht steht oder das er leicht erlangen kann.“ (A. a. O., 150)

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Mitleid eingeschränkt“, Menschlichkeit und Tugend hervor (a. a. O., 156): Daher ist Selbstliebe die Quelle der Gerechtigkeit, wie es im Contrat social heißt (CS II, 4; 293). Auf die Eigenliebe werde ich im folgenden Absatz (4.7) zurückkommen.25 5) Die Perfektibilität ist eigentlich „die Quelle alles menschlichen Unglücks“ (DI, 71), denn sie ist eine Fähigkeit, welche die Menschen dazu führt, sich von ihrem ursprünglichen Zustand zu entfernen. Diese Idee (die Rousseau von Buffons Histoire naturelle générale et particulière übernimmt26) verdient einige Überlegungen. Dass die Perfektibilität eine natürliche Fähigkeit ist – eine Fähigkeit also, die den Menschen von der Natur selbst gegeben wurde –, bedeutet erstens, dass der ‚Fortschritt‘ der menschlichen Gattung (der gleichzeitig die Abkehr von der Natur und den Anfang der Verdorbenheit darstellt) unvermeidlich ist; und zweitens, dass es die Natur selbst ist, die durch jene ‚Gabe‘ die Menschen von sich entfernt. Rousseau wirft also den Menschen nicht vor, dass sie sich von der Natur entfernt haben, denn das war unvermeidlich und von der Natur selbst gewollt. Er wirft ihnen vielmehr vor, einen Weg eingeschlagen zu haben, der sie gleichzeitig vom Glück entfernt hat. Der aktuelle Zustand von Unglück, Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist durch das menschliche Zutun verursacht. Die Menschen konnten zwar nicht umhin, sich vom Naturzustand zu entfernen, aber sie konnten und sollten es anders machen, als sie es gemacht haben: Es ist nicht die Natur, die den Menschen vorschreibt, das eigene Interesse auf Kosten des Wohlergehens der Mitmenschen zu verfolgen (im Gegenteil: Das natürliche Mitleid sollte sie davon abhalten). Die natürliche Geschichte der Menschheit mündet zwar unvermeidlich in die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft; aber die Verhaltensweise der Menschen in dieser Gesellschaft ist nicht natürlich, und die dort herrschende Unordnung muss nur den Menschen zugeschrieben werden (Viroli 1988, 36 f.). Wie schon bemerkt (vgl. oben 4.2), wünscht sich Rousseau keine Rückkehr zum Naturzustand, sondern nur einen anderen Ausgang des Prozesses, der die Menschen von diesem Zustand zur Zivilisierung und zur Gesellschaft geführt hat. Haben die Menschen beim Verlassen des Naturzustandes ihr Eden verloren, so wünscht sich Rousseau nicht die Rückkehr dorthin (das Eden ist endgültig verloren), sondern das Erreichen eines Gelobten Landes, die Schaffung eines neuen Eden durch die Menschen selbst: die ideale politische Gesellschaft seiner späteren Werke.

4.7. Vom amour de soi zum amour propre: Der lange Weg in die Verderbnis So wie er die ursprüngliche Natur der Menschen wegen der geschichtlichen Veränderungen hypothetisch beschreiben muss, versucht Rousseau dann auch den Weg durch Hypothesen zu rekonstruieren, den die Menschen von ihrem ursprünglichen Naturzustand 25 Rousseau übernimmt den Unterschied zwischen amour de soi und amour propre von Vauvenargues und den Begriff der Selbstliebe als ein Gefühl, das auf die physische Selbsterhaltung geht, von Malebranche (dazu Fetscher 1975, 65 ff.). 26 Vgl. insbesondere, was Buffon in seiner Histoire naturelle des animaux domestiques schreibt, die Teil des Hauptwerks ist (Buffon 1753, Bd. II, 441 und Bd. IV, 172 f.).

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zur heutigen ungerechten Gesellschaft eingelegt haben. Der epistemische Status jener Hypothesen ist umstritten. Rousseau gibt zu, keine historischen Beweise für ihre Richtigkeit anbieten zu können; da jedoch die Folgen, die man aus ihnen ziehen kann, der Wirklichkeit entsprechen, gewinnen sie an Plausibilität. Mögen also die beschriebenen Ereignisse wenig wahrscheinlich sein (DI, 92), so stellen sie nichtsdestotrotz eine genealogische Rekonstruktion der Geschichte der Zivilgesellschaft dar, welche diejenigen von Adam Smith (The Wealth of Nations) und Adam Fergusons (Essay on the History of Civil Society) echot (vgl. Nisbet 1969, 145). Der Naturmensch empfindet lediglich das Gefühl seines unmittelbaren Daseins, seine einzige Sorge ist die eigene Selbsterhaltung. Aber die Natur, die ihn mit der Gabe der Perfektibilität ausgestattet hat, bringt ihn vor Hindernisse und Schwierigkeiten, die ihn dazu führen sollen, die eigene Vernunft zu benutzen und daher zu entwickeln.27 Die erste und einfachste Reaktion der Menschen auf die Hindernisse war es, sich zusammenzuschließen, um zu versuchen, sie gemeinsam zu überwinden. Die ersten Zusammenschlüsse währten nur so lange wie die aktuelle Not, die sie erforderlich machte.28 Im Falle von Naturkatastrophen und klimatischen Hindernissen (die wichtigsten unter den von der Natur vorbereiteten Schwierigkeiten: DI, 94; vor allem jedoch vgl. OL, 193) war allerdings eine andere, längerfristigere Form von Gesellschaft erforderlich, die eine Reihe anderer ‚Neuerungen‘ mit sich brachte: Mit den ersten dauerhaften Gemeinschaften entstanden auch die Sprache, die Familie, die ersten Bequemlichkeiten, die zu wahren Bedürfnissen „entarteten“ (a. a. O., 97). Aber die wohl wichtigste Folge war, dass die Menschen aufhörten, in Autarkie zu leben – und zwar nicht nur im materiellen Sinne (da sie anfingen, voneinander abhängig zu sein), sondern vor allem im psychologischen Sinne. Wenn die Menschen dauerhaft zusammenkommen, fangen sie an, sich mit den anderen zu vergleichen (sie können wegen der Perfektibilität nicht umhin, das zu tun): „Darin lag nun der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster“ (a. a. O., 99). Die Selbstliebe (amour de soi), welche die Menschen zur Selbsterhaltung treibt, wird somit zur Eigenliebe (amour propre), die sie zur Suche nach Beachtung treibt. Die Eigenliebe ist im Unterschied zum Ersteren weder natürlich noch moralisch neutral; sie ist die Ursache aller Übel der Menschen, denn sie führt sie dazu, alles Mögliche zu unternehmen, um von den Mitmenschen hoch geschätzt zu werden. Hier wiederholt Rousseau, was schon Machiavelli, Hobbes und die französischen Moralisten (allen voran La Bruyère)29 gesagt hatten: Die Menschen leiden unter einer unwiderstehlichen Ehrsucht. Im Fragment De l’honneur et de la vertu behauptet Rousseau, 27 Fetscher ist zuzustimmen, wenn er behauptet, dass „Naturmensch“ ein idealtypischer Begriff ist, denn es gibt verschiedene Grade der Natürlichkeit, die von der jeweils erreichten Stufe von Entwicklung der natürlichen Talenten abhängen (Fetscher 1975, 35). 28 Rousseau erwähnt als Beispiel die Horde von Jägern, die zusammen einen Hirsch erlegen wollen. Solche Art von Gesellschaft war jedoch sehr instabil: „Wenn einer aber einen Hasen in seiner Reichweite laufen sah, so ist kein Zweifel, dass er ihm ohne Zögern nachgesetzt und sich um den Verlust der Beute seiner Mitgesellen wenig bekümmert haben wird, wenn er nur die seinige erreicht hätte.“ (DI, 96) 29 Zum Beispiel in Les Caractères, De l’homme, 65 ff. (Bruyère 1951, 311 ff.).

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dass die dominierende Leidenschaft der Menschen nicht das materielle Interesse ist, sondern die „Liebe für die Auszeichnungen“, die gleichzeitig Unterscheidungen sind, wie aus dem französischen Original „amour des distinctions“ klar hervorgeht (OC III, 502). Im zweiten Discours spricht er von einem „allgemeinen Verlangen nach gutem Ruf, nach Ehre, nach Auszeichnungen, welches uns alle verzehrt“ (DI, 119). Die Unordnung unter den Menschen (die Hobbes „Krieg“ nennt) ist eher durch Ehrsucht als durch die Knappheit der Güter verursacht. Die Menschen kämpfen eher um unnötige Güter, wie Ehre, Ruhm, soziale Auszeichnung, als um die wirklich notwendigen Güter. Reichtum wird in dieser Hinsicht nur zu einem Mittel zur Erlangung von Ehre und sozialem Status. Der Kampf um das Eigentum ist daher nur eine Folge des grundlegenden, ursprünglicheren Kampfs um die Auszeichnung. Die Hauptursache menschlicher Konflikte ist die Ehrsucht, das Bedürfnis, einen hohen Stellenwert in der Meinung (opinion) anderer zu besitzen.30 Es ist daher unmöglich, dass die Menschen je vollkommen glücklich sein können,31 und dass sie ihre Interessen in Einklang mit denjenigen anderer bringen. Die Güter, die sie sich wünschen – Ehre, soziale Auszeichnung, Hochschätzung – sind ausschließlicher Natur: Nur wenige können sie erreichen und genießen – und auch diese ‚Glücklichen‘ werden sie in unterschiedlichem Ausmaß besitzen. Es ist daher undenkbar, dass die Menschen a) je glücklich sein werden, und dass sie b) je ihre Konflikte beilegen, so lange sie solche unnötigen und ausschließlichen Güter begehren. Daher wird Rousseau ein Modell gesellschaftlicher Ordnung entwickeln, das nicht nur die materiellen Interessen der Individuen miteinander verträglich macht (materielle Interessen sind eben nicht das entscheidende Element), sondern darüber hinaus die Individuen dazu führt, Herren über ihre Leidenschaften zu werden, allen voran über die passion dominante, die Ehrsucht. Da diese jedoch eine natürliche Neigung ist, wird Rousseau nicht versuchen, sie auszurotten. Das wäre unmöglich, denn „es hängt nicht von uns ab, Leidenschaften zu haben oder nicht zu haben, aber es hängt von uns ab, sie zu beherrschen“ (Em. 490). Es ist also möglich, unsere Leidenschaften zu beherrschen. Rousseau wird daher versuchen, den Ehrgeiz umzuleiten und auf einen anderen Gegenstand als die ‚falsche‘, persönliche Auszeichnung zu richten, die durch Reichtum oder Geburt verursacht ist: Jener andere Gegenstand ist die patriotische Ehre (vgl. unten 4.19). Das ist nicht einfach, umso mehr, als sich die Staatsbürger „nur in dem Maße unterdrücken [lassen], in dem sie von einer blinden Ehrbegierde mitgerissen werden, und da sie mehr unter sich als über sich sehen, wird ihnen die Herrschaft teurer als die Unabhängigkeit; so tragen sie ihre Ketten willig, um ihren Untergeordneten wieder welche anlegen zu können.“ (DI, 118) Durch ihren Ehrgeiz wünschen die Menschen in erster Linie, über die anderen zu befehlen, und dazu opfern sie sogar die eigene Freiheit. Sie sind z. B. lieber Lehensmänner unter einem absoluten Fürsten als freie Bürger einer Republik, denn im ersten

30 Zur opinion bei Rousseau vgl. Shklar 1985, 75 ff. Wie Viroli zu Recht betont, drücken die autobiografischen Schriften Rousseaus die Idee aus, dass eine persönliche Identität, die unabhängig von jeglicher Beziehung mit anderen ist, doch möglich ist (Viroli 1988, 104). 31 „Das einzige Glück, welches die Mehrzahl der Menschen kennt, ist, für glücklich gehalten zu werden.“ (LA 401)

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Fall können sie, obwohl sie ihrem Herren gehorchen müssen, ihrerseits über andere Menschen herrschen. Eigenliebe und Ehrsucht besitzen allerdings auch eine positive Seite: Durch den Vergleich mit den anderen entstehen nämlich die Individualität und die Moralität (vgl. auch OC III, 283). Wie Viroli feststellt: „Without society there is no such thing as the individual. [...] It is only through society that the collectivity ‚men‘ becomes different individuals, conscious of being different and capable of relizing themselves as such. Thus individual identity emerges as a result of mutual comparison.“ (Viroli 1988, 72; vgl. auch Vaughan 1962, 18 ff. und passim) In seinem Brief an den Erzbischof von Paris Christophe de Beaumont schreibt Rousseau: „Sobald vermöge einer Entwicklung, deren Fortschreiten ich gezeigt habe, die Menschen anfangen, ihre Augen auf ihresgleichen zu werfen, so fangen sie auch an, ihre Verhältnisse und die der Dinge zu sehen und erhalten Begriffe von Schicklichkeit, Gerechtigkeit und Ordnung, sie fangen an, das moralische Gute zu empfinden, und alsdann wirkt das Gewissen. Dann besitzen sie Tugenden, und wenn sie auch Laster haben, so geschieht es, weil ihre Interessen sich kreuzen und ihr Ehrgeiz in dem Maße erwacht, im dem ihre Einsichten sich ausbreiten.“ (LB, 509 f.) Solange der Mensch nicht imstande ist, sich mit den Mitmenschen zu vergleichen, gibt es keine Moral. Der Vergleich weckt sein Gewissen auf („Der Mensch, der noch keinen Vergleich angestellt hat und keine Verhältnisse kennt, hat also noch kein Gewissen“, LB, 509) und macht es möglich für ihn, moralische Ideen (Gerechtigkeit, Ordnung) zu entwickeln (vgl. Viroli 1988, 22). Der gegenseitige Vergleich führt also zur Entstehung der individuellen Identität und der Moralität, somit auch zur Entstehung der moralischen Identität der Individuen (Viroli 1988, 85). Auch daher ist der Prozess, der von der ursprünglichen Autarkie und von der Selbstliebe zur Abhängigkeit von der Meinung anderer und zur Eigenliebe geführt hat, unumkehrbar: Die Menschen können ihre Identität und ihrer moralische Persönlichkeit nicht mehr verlieren. Jene Kritiker (allen voran Voltaire), die meinten, Rousseau wolle die Geschichte rückläufig machen, haben ihn missinterpretiert. Rousseau wusste, dass es unmöglich ist, und wusste zugleich, dass diese Geschichte auch positive Aspekte für die Individuen aufweist. Andererseits war der Preis dieser Fortschritte in Bezug auf Individualität und Persönlichkeit der Verlust des autarken Glücks der Naturmenschen. Rousseau ist sich der tragischen Dimension jener Tatsache völlig bewusst, und das gibt seinen Werken einen typischen Hauch von melancholischem Pessimismus. Das ursprüngliche Glück des Naturmenschen ist dem modernen Menschen für immer verloren gegangen, so wie das Glück der Kindheit dem Erwachsenen (ein Thema, das besonders in den späten Werken Rousseaus immer wieder auftaucht). Zurück zu Rousseaus Rekonstruktion der Gattungsgeschichte: Der Wunsch, die anderen zu übertreffen, führt zur Entstehung immer neuer Bedürfnisse, die das Individuum nicht allein erfüllen kann. Daher findet eine Arbeitsteilung und Spezialisierung statt, die sowohl der Autarkie des Naturmenschen als auch dem ursprünglichen Glück ein Ende bereitet.32 Besonders folgenschwer erweist sich in Rousseaus Rekonstruktion

32 „Solange sie [d. h. die Menschen] nur Werke herstellten, die einer allein zuwege bringen konnte, [...] solange waren sie frei, gesund, gut und glücklich [...]. Sobald aber ein Mensch der Hilfe eines

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die Bearbeitung des Bodens, denn sie lässt den Bodenbesitz und daher das Privateigentum entstehen, welches die Ursache aller Ungleichheit ist. Es ist jedoch gleichzeitig auch die Ursache der Gerechtigkeit, deren oberstes Prinzip lautet, „jedem das Seinige zu geben“ (DI, 102). Da das Eigentum des Bodens auf dessen Bearbeitung, daher auf der Fähigkeit der Einzelnen beruht (Rousseau folgt hier Locke), werden die verschiedenen Talente der Individuen „merklicher und anhaltender in ihren Wirkungen“ (a. a. O., 103), bis schließlich „alle unsere Fähigkeiten entwickelt“ sind: Gedächtnis, Einbildungskraft, Vernunft, Geist (a. a. O., 104). Diesem Fortschritt unserer Fähigkeit entspricht jedoch eigentlich eine Versklavung der Individuen, da sie „wegen einer Menge neuer Bedürfnisse“ voneinander immer abhängiger werden. Die neuen, unnatürlichen Bedürfnisse machen den Menschen nicht nur unglücklich, sondern auch moralisch verdorben. Er lernt, sich der anderen zu bedienen und sich anders zu geben, als er wirklich ist: „Sein und Scheinen wurden zwei ganz verschiedenen Dinge.“ (A. a. O.)33 Um es mit Machiavelli auszudrücken: Die Menschen werden entweder alle zu Löwen (wenn sie genügende Macht haben, den anderen Furcht einzuflößen) oder zu Füchsen (wenn sie sich gezwungen sehen, die anderen zu betrügen, um an deren Dienste zu gelangen). Die moralische Verdorbenheit, die Rousseau (wie Machiavelli und Hobbes vor ihm) in den gegenwärtigen Menschen festzustellen meint, stellt also keine anthropologische Konstante (wie die beiden anderen Denker behauptet hatten) dar, sondern ist das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses, der zwar gewissermaßen unvermeidlich gewesen ist, jedoch auch einen anderen Weg hätte einschlagen können. Der entscheidende Moment, welcher der Geschichte der menschlichen Gattung ihren heutigen Kurs gab, fand dann statt, als die Reichen (die erkannt hatten, „wie nachteilig ihnen ein ständiger Krieg war“) den Armen einen ungerechten Pakt vorschlugen und somit zur Errichtung ungerechter staatlicher Institutionen führten (a. a. O., 106). Wie bei Hobbes führen Ehrsucht und Konkurrenz zu einem Zustand ständiger Bedrohung von Leben und Eigentum; im Gegensatz zu Hobbes meint jedoch Rousseau, die Reichen hätten in einem solchen Zustand mehr zu verlieren als die Armen: Sie sind es, die den Gesellschaftsvertrag den Armen vorschlagen; es ist nicht die Vernunft, die ihn allen Individuen nahe legt. Man kann natürlich auf die Naivität von Rousseaus ökonomischen und soziologischen Kategorien hinweisen: Er setzt z. B. voraus, dass die Menge der Güter in einer Gesellschaft immer gleich bleibt (Fetscher 1975, 25), und glaubt daher, die Frage der wirtschaftlichen Ungleichheit könne einfach mit einer Umverteilung derselben Güter gelöst werden; er spricht ganz allgemein von ‚den Reichen und den Armen‘; er preist eine viel zu schwer realisierbare wirtschaftliche Autarkie und verurteilt so gut wie jede Form von Handel und Verkehr zwischen den Ländern (vgl. unten 4.16). Aber er hat wenigstens eine starke Aufmerksamkeit für die wirtschaftlichen Aspekte, die einer gesellandern zu bedürfen anfing, [...] so verschwand die Gleichheit, und das Eigentum war eingeführt, wurde die Arbeit notwendig, und die weit ausgedehnten Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die der Landmann mit seinem Schweiße benetzen musste, und auf denen man bald Elend und Sklaverei zugleich mit der Ernte sprießen und wachsen sah.“ (DI, 100 f.) 33 Dieses Begriffspaar und das Abhandenkommen der ursprünglichen Transparenz bilden nach Starobinskis Meinung das Zentrum des gesamten Denken Rousseaus (vgl. Starobinski 1971).

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schaftlichen Ordnung zugrunde liegen – was man von Machiavelli und Hobbes nur zum Teil behaupten kann (im Fall von Machiavelli findet zwar eine gewisse Dialektik von Adel und Volk statt, ohne dass jedoch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den beiden Klassen je in Frage gestellt werden; Hobbes reduziert alle mögliche Motivationen für die Errichtung gesellschaftlicher Institutionen auf den alles andere überschattenden Selbsterhaltungstrieb und nimmt somit der Frage des unterschiedlichen Nach- und Vorteils für die verschiedenen Klassen von vornherein die Grundlage). Die Kluft zwischen Sein und Schein öffnet sich hier auf besonders schwerwiegende Weise: Die hinterlistigen Reichen erfinden „Scheingründe“, um die Armen zu ihren Zielen hinzulenken; sie malen ihnen Horrorszenarien vor und lassen einen Ausweg aus dem furchtbaren Kriegszustand durch die Errichtung von Institutionen erblicken, die in Wirklichkeit ihre Vormacht und ihr Eigentum sichern und die Ungleichheit daher befestigen sollen. Rousseau bezichtigt die Reichen nicht nur, die Armen betrogen zu haben,34 sondern auch, die Realität verdreht zu haben: Sie waren es, welche die anderen ausnutzten und sie dessen beraubten, was ihnen zukam (a. a. O., 106). Rousseaus Polemik gegen die ideologischen Instrumente der herrschenden Klasse (jene Polemik, die sich im ersten Discours noch gegen Kunst und Wissenschaft gerichtet hatte) erreicht hiermit das Recht und den Staat selbst, die nun bloß noch der Verteidigung jener Vorrechte einiger Weniger dienen. Da aber der Weg zurück zum Naturzustand (verstanden hier nicht als vorstaatlicher Zustand, sondern als der ursprüngliche Zustand der Unschuld und des Glücks) versperrt ist, bleibt als einzige Alternative die Errichtung von neuen, gerechteren Institutionen. Das eben ist der Gegenstand des Contrat social;35 aber Rousseau hatte noch etwas zu sagen über den Verfall des Naturmenschen und das Unglück des zivilisierten Menschen, und das tat er in anderen Schriften, die er vor dem Gesellschaftsvertrag veröffentlichte.

34 Vgl. Thomas Morus, nach dem „das, was man bisher Staat genannt habe, nichts anderes gewesen sei, als eine Verschwörung der Reichen wider die Armen“ (zit. in Cassirer 1989, 27). 35 In der Anmerkung IX erwähnt Rousseau zwei weitere Alternativen. Die eine ist tatsächlich die Rückkehr „in die Wälder“, die jedoch nur für diejenigen möglich ist, die „nie die göttliche Stimme [la voix céleste] vernommen“ haben. Solche Individuen, die offensichtlich noch im ursprünglichen Naturzustand leben (die göttliche Stimme ist hier m. E. als Metapher für die natürliche Gabe der Perfektibilität zu interpretieren), gibt es jedoch kaum. Alle anderen, die zwar in der Gesellschaft leben sollen, das unglückliche Leben des zivilisierten Menschen, des bourgeois, jedoch vermeiden wollen, können sozusagen nur in die ‚inneren‘ Wälder fliehen. Sie werden den Gesetzen und den Fürsten gewissenhaft gehorchen, „und doch werden sie dem ungeachtet eine Verfassung verachten, die nur mit Hilfe von so vielen ehrenwerten Menschen aufrechterhalten werden kann, wie man sie häufiger wünscht als man sie findet, und durch die, trotz aller Vorsorge, stets mehr tatsächliches Unheil entsteht als scheinbarer Vorteil.“ (DI, 140 f.) Diese letzte Alternative wird von Emil, vom Wilden, „der in der Stadt leben soll“ (Em. 205), gewählt, während Jean-Jacques, der einsame Spaziergänger, den vergeblichen Versuch unternehmen wird, im größtmöglichen Maße so wie die Naturmenschen zu leben (vor allem durch einen dauerhaften Kontakt zur Natur).

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4.8. Bürgertugend, Vaterlandsliebe und Eigentum Mit dem zweiten Discours geht Rousseaus Denken endgültig von der Kulturkritik zur sozio-politischen Kritik über (Koselleck 1973). Die Hauptverantwortung für das menschliche Unglück tragen nicht länger Kunst und Wissenschaft, sondern die wirtschaftliche Ungleichheit ist die Ursache. Es geht also darum, diese Ungleichheit zu korrigieren. Bevor er jedoch ein Modell für die Verwandlung des ungerechten Paktes in einen gerechten Vertrag und für die Schaffung neuer Institutionen anbietet, geht Rousseau noch einmal mit einer moralisierenden Perspektive auf die Frage der menschlichen Verdorbenheit ein. In der Abhandlung über die politische Ökonomie und im Brief an d’Alembert stellt er sich die Frage, wie eine Regierung (deren Legitimität jetzt nicht angezweifelt wird) die Bürger zum Guten verändern kann.36 Im ersten der beiden Werke vertritt Rousseau eine Auffassung der Beziehung zwischen politischer Gemeinschaft und Individuen, zwischen Staat und Staatsbürgern, die als Basis all jener Interpretationen gilt, die in Rousseau den Vater des modernen nationalistischen Denkens sehen. Das erste, grundlegende Moment solcher Auffassung besteht in der Idee, dass der politische Körper „als ein organisierter, lebender und dem des Menschen ähnlicher Körper betrachtet werden“ kann (EP, 230). Dieser Körper ist „auch ein sittliches Wesen, welches einen Willen hat“, nämlich den Gemeinwillen (ein Begriff, der hier zum ersten Mal in Rousseaus Werken auftaucht und den er von Diderot übernimmt, vgl. unten 4.9). Der Gemeinwille hat „stets die Erhaltung und das Wohlsein des Ganzen und eines jeden Teils zum Zwecke“; er ist „die Quelle der Gesetze“ und „die Richtschnur des Rechts und des Unrechts“ (EP, 231). Rousseau wiederholt hier nur sehr kurz die Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen staatlichen Institutionen durch den ungerechten Gesellschaftsvertrag, den die Reichen den Armen vorgeschlagen haben (EP, 259), und insistiert vielmehr auf die möglichen Strategien, um die soziale, politische und wirtschaftliche Ungerechtigkeit sowie die moralische Verdorbenheit zu beseitigen, die durch diesen Pakt entstanden sind. Dabei sieht er im Staat die Instanz, welche die herrschenden Missstände korrigieren soll. Der Staat kann nämlich auf beide negativen Aspekte einwirken: die Ungleichheit und die Verdorbenheit. Erstere soll er durch eine gezielte Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie durch

36 Der Brief an d’Alembert ist auch wegen der darin enthaltenen Bemerkungen über die Rolle der Frau berühmt, die uns einen Rousseau erblicken lassen, der eine fast manische Angst vor dem „schwachen Geschlecht“ hat. Wie Nicole Fermon bemerkt, „The case against installing a theatre in Geneva, the Letter to M. d’Alembert, is a case against actresses and other public women. [...] Rousseau believes that women and men must be physically segregated from each other, but it is women who must be cloistered.“ (Fermon 1997, 102) Jeder Kontakt von Männern und Frauen, der über den sexuellen oder den für die Hochzeit institutionellen hinausgeht, widerspricht „den natürlichen Begriffen“ (LA, 425). Rousseau meint, dass „es für die Gesellschaft wichtig ist“, dass die Frauen Eigenschaften wie „Schüchternheit, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit“ erwerben (LA 423). Und auch im zweiten Discours (DI 49 f.) und in der Nouvelle Héloise besteht der einzige Grund zugunsten der Idee weiblicher Enthaltsamkeit darin, dass so die seelische Ruhe der Männer am besten gewährleistet wird (vgl. Fermon 1997, 105). Zum Thema vgl. auch Wingrove 2000.

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Gesetze bekämpfen (EP, 234 ff. und 249 ff.); letztere kann er nur dadurch besiegen, dass er in den Bürgern ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, die Vaterlandsliebe, entstehen lässt (EP, 238 ff.). „Es ist gewiss, dass die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht. Krieger, Bürger, Menschen, wenn sie will, Pöbel, Gesindel, wenn es ihr beliebt.“ (EP, 238) Mit dieser Behauptung nimmt Rousseau diejenige Kants vorweg, aus einer guten Staatsverfassung sei die Erziehung der Bürger zu erwarten (ZeF, VIII 366), und drückt eine optimistische Auffassung in Bezug auf die Möglichkeit aus, durch staatliche Intervention die verdorbene menschliche Natur irgendwie zu korrigieren. Korrupte Regierungen werden zwar die Bürger noch stärker korrumpieren, aber gerechte Regierungen werden gerechte Bürger hervorbringen. Andererseits bilden die Bürger den wahren Motor des Staates („die größte Triebfeder der öffentlichen gesetzmäßigen Gewalt [liegt] in den Herzen der Bürger“; EP 238). Die Handlungsmöglichkeiten eines Staates und die Tragweite seiner Handlungen hängen von den Eigenschaften der Bürger ab: Der Schwäche des Volkes entspricht die des Staates, der Stärke des Ersteren die Stärke des Letzteren.37 Es liegt somit im Interesse des Staates, d. h. im öffentlichen Interesse, dass die Bürger „gut“ bzw. „tugendhaft“ sind – wobei Rousseau mit beiden Adjektiven nicht so sehr die moralische Qualität der Individuen meint, vielmehr ihre Fähigkeit und Bereitschaft, den eigenen Willen mit dem Gemeinwillen in Übereinstimmung zu bringen (EP, 238). Wo eine solche Übereinstimmung stattfindet, herrscht eine gesunde Beziehung zwischen Bürgern und Institutionen, und das allgemeine Wohl wird immer angestrebt. Es ist jedoch „nicht genug, den Bürgern zu sagen: Seid gut, man muss sie auch lehren, es zu sein“ (EP, 240). Das geschieht dadurch, dass man die Bürger zur Vaterlandsliebe erzieht. Die Gleichsetzung von bürgerlicher Tugendhaftigkeit mit Vaterlandsliebe ist keineswegs problemlos, denn Letztere ist ein leidenschaftliches Gefühl (Rousseau bezeichnet es als die „heldenmütigste aller Leidenschaften“; EP, 241), während Erstere einen gewissen Grad an Rationalität voraussetzt, wenn es nicht zu einer bloßen enthusiastischen Anpassung an den Mehrheitswillen verkommen soll. Es entsteht jedoch der Eindruck, das sei es eben, was sich Rousseau wünscht. Darauf und auf den Begriff des Gemeinwillens werde ich zurückkommen (vgl. unten 4.11). Wir stellen fest, dass sich Rousseau von der Vaterlandsliebe wörtlich Wunderwerke erwartet („Es ist gewiss, dass die größten Wunderwerke der Tugend ihre Entstehung der Liebe fürs Vaterland zu verdanken haben“; EP 241), und dass er auf die Notwendigkeit dieses Gefühls insistiert („Wollen wir, dass die Völker tugendhaft seien? So müssen wir damit beginnen, ihnen Liebe zum Vaterland einzuflößen“; EP, 242). Der Grundgedanke Rousseaus scheint zu sein, dass erstens die Bürger durch die Vaterlandsliebe ihren Egoismus zugunsten eines Kollektivegoismus überwinden würden (vgl. Spaemann 1980, 29), und dass zweitens ihre Individualität in der Gemeinschaft aufgehen wird, so dass sie ein

37 Das hatte schon Hobbes bemerkt: vgl. oben 3.10.

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Glück erreichen werden, das ähnlich demjenigen ist, das sie im Naturzustand gespürt haben, und das im bloßen Gefühl des aktuellen Daseins bestand (EP, 246).38 Die ‚Rückkehr‘ zur Natur, die eigentlich eine dialektische Rückkehr ist (vgl. oben 4.2), besteht also in einer Wiederherstellung des ursprünglichen glücklichen Gefühls des unmittelbaren Daseins; gleichzeitig sollen jedoch die Individuen jene soziale Dimension behalten, welche die Abkehr von der Natur bedeutet hatte. Der Mensch kehrt also zur ursprünglichen Natur dadurch ‚zurück‘, dass er seine aufgenommene zweite Natur, die aus ihm einen zivilisierten Menschen, ein sozialisiertes (nicht jedoch: soziales) Tier macht, von jenem Element befreit, das ihn am meisten unglücklich macht: dem Vergleich mit den anderen, aus dem dann auch die unnatürlichen Bedürfnisse, die Arbeitsteilung, das Privateigentum, die wirtschaftliche Ungleichheit usw. hervorgehen. Der Vergleich mit den anderen entsteht nämlich aus dem Gefühl heraus, dass sie anders sind, sowie aus dem Bewusstsein unserer Abkehr von ihnen, m. a. W. aus der Tatsache, dass sie eben andere sind, und dass wir nicht sie sind. Die Absonderung der einzelnen Individuen voneinander kann nach Rousseaus Meinung durch den Rückgriff auf die künstliche Einheit des Vaterlandes aufgehoben werden. In dieser Einheit sind alle Individuen eins: Sie bilden nämlich alle zusammen das Vaterland. Und so wie der Naturmensch dadurch sein Glück erreichte, dass er sich selbst genügte und das unmittelbare Gefühl des eigenen Daseins genoss, so können die Bürger dadurch glücklich werden, dass sie das eigene Dasein als einheitlicher politischer Körper genießen. Durch die Identifizierung mit dem gemeinsamen corps de la nation verzichten die Bürger auf ihre Eigenliebe und ergattern eine Selbstliebe, die derjenigen des Naturmenschen sehr nahe kommt – nur, dass das Selbst diesmal das Vaterland und nicht das Individuum ist. Das schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass die Bürger eines Staates (oder besser: die Mitglieder einer Nation, wie sich Rousseau ausgedrückt hätte) durch den Vergleich mit den anderen Staaten Eigenliebe entwickeln. Es gibt daher unglückliche Nationen, die ständig nach Eroberung und Erweiterung streben, und friedliche Nationen, die mit sich selbst zufrieden sind. Was bei Hobbes und bei Kant eine einfache Analogie zwischen Individuum und Staat ist, wird bei Rousseau zu einer richtigen Identifizierung. Der Staat – oder besser: das Vaterland (bei Rousseau findet keine genaue Unterscheidung zwischen den Begriffen Staat, Nation, Land und Vaterland statt) ist ein Individuum, nämlich ein Individuum, das genauso wie die natürlichen Individuen einen eigenen Willen (den Gemeinwillen) 38 „Wenn man sie, zum Beispiel, beizeiten darin übt, ihre Einzelperson nie anders als gemäß ihren Verhältnissen zum Staatskörper zu betrachten und ihr eigenes Dasein sozusagen nur als einen Teil des seinigen anzusehen, so können sie schließlich imstande sein, sich gewissermaßen mit diesem größeren Ganzen als eins zu denken, sich als Glieder des Vaterlandes zu fühlen und es mit jenem auserlesenen Gefühl zu lieben, welches der vereinzelte Mensch nur für sich selbst hat, ihre Seele stets nach diesem großen Ziele hinstreben zu lassen und so diese gefährliche Neigung, aus welcher alle unsere Laster entspringen, in eine erhabene Tugend zu verwandeln.“ (EP 246) In Emil heißt es: „Gute soziale Einrichtungen entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur und geben ihm für seine absolute eine relative Existenz. Sie übertragen sein Ich in die Allgemeinheit, so dass sich der einzelne nicht mehr als Einheit, sondern als Glied des Ganzen fühlt und angesehen wird.“ (Em. 12)

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und das Gefühl des eigenen Daseins hat. Es bleibt jedoch ein nicht abzuschaffendes Moment der Künstlichkeit übrig: Die Staatsbürger bzw. die Mitglieder der Nation können eigentlich ihre Individualität nicht verlieren, in der Tat handelt es sich doch um ein bloßes metaphorisches Aufgehen in den politischen Körper. Das scheint jedoch ausreichend zu sein, denn das Glück geht nicht aus einem objektiven Zustand (wie etwa Reichtum oder Macht), sondern aus einem subjektiven Gefühl (aus dem Gefühl des eigenen Daseins) hervor. Eben jenes Gefühl würden die Individuen spüren, wenn sie sich mit dem Vaterland identifizieren – wenn sie also das Dasein dieses Vaterlandes und nicht ihr eigenes individuelles Dasein spüren. Solch eine Identifizierung ist durch die Erziehung der Bürger zu erreichen. In der Abhandlung über die politische Ökonomie taucht zum ersten Mal das Thema auf. Da es viele spätere Werke Rousseaus – beginnend mit dem Brief an d’Alembert – dominieren wird, werde ich es erst gegen Ende meiner Rousseau-Analyse behandeln (vgl. unten 4.18 und 4.19). Neben der Vaterlandsliebe (und der Erziehung dazu) bietet sich dem Staat eine weitere Möglichkeit an, der Verdorbenheit seiner Bürger entgegenzuwirken: die Schaffung einer wirtschaftlichen Ordnung, die der ökonomischen Ungleichheit ungünstig ist. Dabei weist Rousseau einen antiliberalen Geist auf und scheint sich fast eine Rückkehr zur mittelalterlichen ständischen Gesellschaft zu wünschen, wenn er meint, „dass den Sitten und der Republik nichts nachteiliger ist, als die immerwährenden Standes- und Vermögensveränderungen unter den Bürgern“ (EP, 250; vgl. auch LA 451 f. und 46339). Das erste Ziel der staatlichen Politik muss in dieser Hinsicht die Bekämpfung des individuellen Reichtums und infolgedessen auch die Bekämpfung der Armut sein. Die Existenz von Armen, die man gegen die Tyrannei der Reichen schützen muss, bildet nämlich „das größte Übel“ (EP, 245), denn diese Tatsache unterminiert die Kraft der Gesetze: „Sie sind gleichermaßen ohnmächtig gegen die Schätze des Reichen wie auch gegen das Elend des Armen; der erste umgeht sie, der andere entwischt ihnen.“ (A. a. O.). Beide fürchten sich nicht vor dem Gesetz: der Reiche, weil er zu mächtig ist, der Arme, weil er – da er nichts besitzt – nichts zu verlieren hat. „Es ist demnach eine der wich-

39 „In einer Monarchie [...] kann es ziemlich gleichgültig sein, ob gewisse Männer von einem Rang in den anderen überwechseln [...]. In einer Demokratie jedoch, wo die Untertanen und der Souverän dieselben Menschen sind, [...] muss der Staat untergehen oder die Form ändern, sobald die kleinere Zahl die größere an Reichtum übersteigt. [...] In einer Monarchie kann Reichtum den einzelnen niemals über den Fürsten stellen, aber in einer Republik stellt er ihn leicht über die Gesetze.“ (LA, 451 f.; vlg. Machiavelli, Discorsi, I, 55) Und weiter: „Es genügt nicht, dass das Volk zu essen und zu leben hat, es muss auch angenehm leben, damit es seine Pflichten besser erfüllt, sich weniger bemüht, sich ihnen zu entziehen, so dass die öffentliche Ordnung sicherer besteht. Mehr, als man denkt, tragen gute Sitten dazu bei, dass ein jeder sich in seinem Stand wohl fühlt. [...] Die Grundlage des Staates ist nur dann fest und gut, wenn alle sich am richtigen Platz fühlen.“ (LA, 463 Fn.) Und in der Nouvelle Heloïse wird Julie gelobt, weil sie die gesellschaftliche Mobilität der ihr unterstehenden Bauern und Diener verhindert („La grande maxime de Madame de Wolmar est donc de ne point favoriser les changements de condition, mais de contribuer à rendre heureux chacun dans la sienne“; NH V, 2; OC II, 536).

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tigsten Angelegenheiten der Regierung, der außerordentlich großen Ungleichheit der Vermögen vorzubeugen; nicht, indem sie den Besitzern ihre Schätze wegnimmt, sondern indem sie allen die Mittel entzieht, Schätze zu sammeln; nicht, indem sie Spitäler für die Armen baut, sondern indem sie die Bürger davor bewahrt, arm zu werden.“ (A. a. O.) Wie später Kant plädiert Rousseau nicht für eine korrigierende Gerechtigkeit und für eine Umverteilung der Güter (also für die Bekämpfung von Armut an sich), sondern nur für die Vermeidung von zu großem Reichtum und Elend – d. h. für die Bekämpfung der negativen politischen Auswirkungen zu großer sozialer Unterschiede: Würden alle Bürger arm sein, sollte sich der Staat um diese Armut nicht kümmern, da sie keine Gefahr für die Institutionen darstellt (und Rousseau wünscht sich tatsächlich einen Staat, in dem die Einzelnen arm sind; vgl. unten 4.16). Wie konkret eine solche Politik – die einen Zustand extremer Ungleichheit ohne Umverteilung des Reichtums korrigieren sollte – auszusehen hat, ist nicht einzusehen: In einer Gesellschaft, in der das Gleichgewicht schon zerstört ist (jenes Gleichgewicht, das in der Meinung aller Republikaner dann zerstört wird, wenn es Individuen gibt, die durch ihren Reichtum die Meinung anderer kontrollieren können, und Individuen, die so arm sind, dass sie ihre Gunst und ihre Wahlstimme für Geld verkaufen), in einer Gesellschaft also, wie man sie schon zu Rousseaus Zeiten in den meisten zivilisierten Ländern vorfand, ist eine Rücknahme der Ungleichheit kaum denkbar, wie Rousseau selbst zugibt (a. a. O.). Rousseaus Ablehnung einer Umverteilung der Güter wird einige Seiten später bekräftigt, wenn er behauptet, „dass das Eigentumsrecht das heiligste aller Rechte der Bürger und in gewisser Weise wichtiger als die Freiheit selbst ist“ – unter anderem, „weil das Eigentumsrecht die wahre Grundfeste der bürgerlichen Gesellschaft und der wahre Bürge der Verpflichtung der Bürger ist“ (EP, 249). Und wenig später heißt es, dass „die Grundlage des Gesellschaftsvertrages das Eigentum ist und seine erste Bedingung ist, dass einem jeden der ungestörte Genuss dessen, was ihm eigen ist, gesichert werde“ (EP 256). Die Individuen würden m. a. W. in der Gesellschaft nur unter der Bedingung bleiben, dass ihnen ihr Eigentumsrecht garantiert wird; jede Attacke gegen dieses Recht würde somit die Gesellschaft in ihren Grundlagen erschüttern. Daher die Verteidigung des Erbschaftsinstituts und die mühevolle Rechtfertigung der Existenz von Steuern, die Rousseau anschließend vornimmt (EP, 249 ff.). Rousseau verfängt sich somit in einem Dilemma, das aus zwei widersprüchlichen Wünschen entsteht: Einerseits will er einen gerechten Gesellschaftsvertrag, und zwar basierend auf der staatlichen Garantie des Eigentumsrechts; andererseits will er die negativen Auswirkungen der vorherrschenden wirtschaftlichen Ungleichheit korrigieren. Der gerechte Staat sollte daher in Bezug auf Besitztümer und Reichtümer der Bürger eine gleichzeitig konservierende und korrigierende Haltung annehmen – was selbstverständlich unmöglich ist. Im Contrat social spielen die wirtschaftliche Ungleichheit und die unterschiedliche Verteilung der Güter „eine nebensächliche und untergeordnete Rolle“ (Cassirer 1989, 26). Die einzige Gleichheit, die der Staat garantieren soll, und zu deren Erhaltung er ins Privatleben der Bürger einschreiten darf, ist die rechtliche Gleichheit. Nur wenn die Verschiedenheit des Besitzes zum Hindernis für diese Gleichheit wird (wie z. B. wenn manche Bürger so reich sind, dass sie die Stimmen anderer Bürger kaufen können), darf

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sich der Staat mit Fragen der Umverteilung der Güter beschäftigen.40 Zwar wird er in dem Werk nochmals die grundlegende Rolle des Eigentums für die Rechtfertigung des Staates sowie die Zentralität des Eigentumsrechts bestätigen; er beschreibt jedoch eine Lage, die derjenigen von real existierenden Gesellschaften keineswegs entspricht. Er geht vielmehr von einem Nullpunkt aus, in dem besitzlose Individuen herrenlosen Boden für sich in Anspruch nehmen, und verbindet diese Besitznahme an verschiedene Bedingungen: „Erstens darf dieses Stück Land noch von niemand bewohnt sein; zweitens darf man davon nur soviel in Besitz nehmen, wie man zum Unterhalt braucht; drittens darf man es nicht durch eine sinnlose Zeremonie, sondern nur durch Arbeit und Bestellung in Besitz nehmen.“ (CS I, 9; 285) Jener Anspruch bedarf dann staatlicher Gewalt, um zum eigentlichen Recht zu werden: Das Gemeinwesen verwandelt somit die außerrechtliche Aneignung (usurpation) 41 „in ein wirkliches Recht und die Nutznießung in Eigentum“ (a. a. O., 286). Die erwähnten Bedingungen werden jedoch in der aktuellen Gesellschaft nicht erfüllt (und zwar sowohl zu Rousseaus Zeiten als auch in unserer). Daraus folgt, dass das Eigentum, das in Nicht-Erfüllung dieser Bedingung entstanden ist, nicht legitim ist und den Schutz durch den Staat nicht verdient. Garantiert trotzdem der Staat die Aneignung des Bodens, als ob es legitimes Eigentum wäre, so ist er auch illegitim – eine Konsequenz, die Rousseau nicht ausdrücklich zieht, obwohl sie aus seinem Argument direkt folgt. In einer Fußnote weist er vielmehr auf eine andere Dimension als die Legitimität hin, nämlich auf den individuellen Vorteil, und schreibt: „In Wirklichkeit sind die Gesetze immer denen nützlich, die etwas besitzen, und schaden denen, die nichts haben. Daraus folgt, dass der gesellschaftliche Zustand für die Menschen nur in dem Maße von Vorteil ist, in dem alle etwas und keiner von ihnen zuviel hat“ (a. a. O., 287). Darauf lässt sich zwar kaum eine normative Kritik an den herrschenden Eigentumsverhältnissen begründen; die von Rousseau gezogene Folge ermöglicht jedoch festzustellen, dass die meisten (wenn nicht alle) Staaten eigentlich auf unstetem Boden stehen: Wenn die Masse der Besitzlosen zu einer Mehrheit bzw. zu einer gefährlichen Größe wird, besteht die Gefahr einer Auflösung des gesellschaftlichen Bandes. Das Dilemma zwischen der Notwendigkeit korrigierender Maßnahmen gegen die wirtschaftliche Ungleichheit einerseits und der Garantie des Eigentums andererseits wird somit von Rousseau (sowie von allen Republikanern) nicht gelöst.

40 Nicht zufällig bezeichnet Rousseau die Aristokratie als die beste unter den möglichen Regierungsformen (da die demokratische nur für Engel, nicht für Menschen geeignet ist). Und er stellt fest, dass Aristokratie mit einer gewissen ökonomischen Ungleichheit durchaus kompatibel ist, ja sie sogar voraussetzt (CS III 5; 327 f.). 41 Die von mir benutzte Übertragung übersetzt usurpation als „widerrechtliche Aneignung“, eine andere (Vom Gesellschaftsvertrag, übersetzt von Hans Brockard, Stuttgart, 1977) als „unrechtmäßige Aneignung“ (S. 25). In beiden Fällen läuft man Gefahr, die Besitznahme als einen illegitimen Akt zu bezeichnen, während sie lediglich vor- und außerrechtlichen Charakter besitzt. Rousseau benutzt das Wort usurpation, weil dieser Akt relativ zufällig ist (jeder andere Mensch hätte als erster dasselbe Stück Land in Besitz nehmen können) und daher die Ausschließung der anderen vom Genuss der Früchte jenes Stücks Land insofern willkürlich ist, dass eine Instanz fehlt, die ihr den notwendigen Charakter eines rechtlichen Aktes verleiht.

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4.9. Das Auftauchen des Gemeinwillen und der gerechte Pakt Im Artikel „Naturrecht“, den er für die Encyclopédie verfasst hatte, führt Diderot den Begriff eines „allgemeinen Willens“ ein, der in einem „reinen Verstandesakt“ besteht, der jedem Individuum ermöglicht zu wissen, was „der Mensch von einem Wesen seinesgleichen fordern darf und was dieses Wesen seinerseits von ihm fordern kann“. Obwohl der ganzen Menschengattung gemein, soll dieser Wille der gesetzgebenden Gewalt der jeweiligen Staaten als Orientierung dienen (Diderot 1961, 381 f.).42 In der Abhandlung über die politische Ökonomie übernimmt Rousseau diesen Begriff, wendet ihn jedoch nur auf der einzelstaatlichen Ebene und nicht auf der Ebene der Gattung (wie Diderot) an: Der allen Menschen gemeine Wille wird zum Gemeinwillen eines Volks (EP, 231).43 In seiner Schrift identifiziert daher Rousseau die Tugend der Bürger mit der Übereinstimmung ihres Partikularwillens mit dem Gemeinwillen (a. a. O., 238). Die Folge jenes Grundgedanken ist jedoch nicht, wie Iring Fetscher meint, dass der Staat, der die Tugend der Bürger fördert, an seiner eigenen Aufhebung arbeitet („Könnte man sicher sein, dass jedes Glied des politischen Körpers (corps politique) sich von der Tugend leiten ließe, wären Gesetze und Regierungen überflüssig“; Fetscher 1975, 88):44 auch vorausgesetzt, dass die Bürger tatsächlich imstande wären, alle Konflikte miteinander friedlich zu lösen (etwa dadurch, dass sie die Notwendigkeit von Zurückhaltung, Besonnenheit, Mäßigung usw. um des allgemeinen Friedens willen einsehen), so bliebe jedoch der Konflikt mit allen anderen Gemeinwesen bzw. Staaten bestehen. Die Aufhebung des Staates als Institution wäre vielmehr eine Folge von Diderots Position, da er sich auf die Gattung, nicht auf einzelne politische Gemeinschaften bezieht. Eine tatsächliche Folge der Gleichsetzung von Tugend und Übereinstimmung des Partikularwillens mit dem Gemeinwillen ist vielmehr die entsprechende Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Freiheit, denn frei ist nach Rousseaus Meinung nur der Staatsbürger, 42 „Der allgemeine Wille ist in jedem Individuum ein reiner Verstandesakt, weil der Verstand, während die Leidenschaften schweigen, darüber nachdenkt, was der Mensch von einem Wesen seinesgleichen fordern darf und was dieses Wesen seinerseits von ihm fordern kann. [...] Da von den zwei Willen – dem allgemeinen und dem besonderen – der allgemeine Wille niemals irrt, so ist es nicht schwer einzusehen, welchen Willen – zum Glück der Menschheit – die gesetzgebende Gewalt gehören sollte [...]. Wenn man annähme, dass der Begriff der Gattungen einem ewigen Wechsel unterworfen sei, so würde sich das Wesen des Naturrechts doch nicht ändern, da es sich immer auf dem allgemeinen Willen und den gemeinsamen Wunsch der ganzen Gattung beziehen würde.“ (Diderot 1961, 381 f.) 43 „Der politische Körper ist auch ein sittliches Wesen, welches einen Willen hat. Und dieser Gemeinwille, welcher stets die Erhaltung und das Wohlsein des Ganzen und eines jeden Teils zum Zwecke hat und welcher die Quelle der Gesetze ist, ist für alle Glieder des Staates, was sie und ihn betrifft, die Richtschnur des Rechts und des Unrechts.“ (EP 231) Einige Seiten später wiederholt Rousseau, dass „der Gemeinwille immer für die Partei ist, die den öffentlichen Vorteil am meisten begünstigt.“ (EP 237) 44 Und weiter: „Der gute Staat arbeitet in gewisser Weise (und wie Rousseau überzeugt ist, ohne Aussicht auf völligen Erfolg) an der Überwindung der ihn notwendig machenden sozialen Voraussetzungen“, d. h. an der Überwindung des amour propre“ (Fetscher 1975, 58).

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dessen Sonderwille mit dem Gemeinwillen übereinstimmt (vgl. Fetscher 1975, 91). Das ist nämlich der Sinn des berühmt-berüchtigten Satzes, nach dem der Bürger gezwungen wird, „frei zu sein“ (CS I, 7; 283). Darauf werde ich zurückkommen (vgl. unten 4.10 und 4.20). In der Erstfassung des Contrat social, im sogenannten Genfer Manuskript, setzt sich Rousseau mit Diderots Begriff des Gemeinwillens radikal auseinander, um ihn umzukehren.45 Der Genfer bezweifelt dort, dass die Menschen je die Fähigkeit besitzen werden, zu den eigenen Leidenschaften auf Distanz zu gehen und auf eine so abstrakte Weise nachzudenken, wie es Diderot voraussetzt (OC III, 286 f.).46 Rousseau bestreitet hier die Möglichkeit, dass es eine innere Stimme gibt, die allen Menschen gemeinsam ist – und daher die Möglichkeit, dass es einen ihnen allen gemeinsamen Willen gibt. Wir können eine allgemeine Gesellschaft, welche die ganze Menschheit umfasst, nur ausgehend von unseren partikulären, nationalen Gesellschaften denken („Nous concevons la société générale d’après nos sociétés particuliéres [...]; et nous ne commençons proprement à devenir hommes qu’après avoir été citoyens“, OC III, 287), aber wir werden eine solche globale Gesellschaft niemals erreichen können, wie uns die Geschichte zeigt: Sie lehrt uns nämlich, dass die Menschen immer nur ‚lokal‘ denken, und dass sie manchmal sogar die Grenzen der menschlichen Gattung so ziehen, dass sie nur ihre eigene Nation umfasst, wie im Fall der Griechen oder der Römer (OC III, 287 s.). Fern davon, dies als falsch oder ungerecht zu verurteilen, sieht Rousseau darin die Lösung für sein Hauptproblem: Den renitenten und egoistischen méchant (der stark an Hobbes’ Narren erinnert: vgl. oben 3.6) dazu zu überreden, dem Gemeinwillen zu folgen (OC III, 285 ff.47). Wenn die Menschen nicht imstande sind, sich für Mitglieder einer allgemeinen, die ganze Menschheit umfassenden Gesellschaft zu halten, sollen sie wenigstens ihre partikulären Gesellschaften so organisieren, dass sie auf nationaler Ebene das erreichen, was sie auf globaler Ebene nicht schaffen, nämlich den Gemeinwillen zu erkennen und zu befolgen (dieser Wille wird dann selbstverständlich der Wille einer besonderen Gemeinschaft und daher ein Sonderwille in Bezug auf die anderen Gemeinschaften sein: Der Naturzustand zwischen den Staaten scheint aus Rousseaus Perspektive uneliminierbar zu sein). Das Unglück und die Bosheit, die aus dem Prozess der Abkehr von der Natur resultieren, können also durch die Errichtung von „neuen Vereinigungen“ („nouvelles asso-

45 Nach Illuminatis’ Meinung stellt das zweite Kapitel des ersten Buches des Genfer Manuskripts, De la société générale du genre humain, eine systematische Widerlegung von Diderots Artikel dar (Illuminati 2002, 86). 46 „Mais où est l’homme que puisse ainsi se séparer de lui même? [...] De plus: comme l’art de généraliser ainsi ses idées est un des exercises les plus difficiles et les plus tardifs de l’entendement humain, le commun des hommes sera-t-il | jamais l’état de tirer de cette manière de raisonner les régles de sa conduite? [...] Que fera-t-il donc pour se garantir de l’erreur? Ecoutera-t-il la voix intérieure? Mais cette voix n’est, dit-on, formée que par l’habitude de juger et de sentir dans le sein de la société et selon ses loix.“ (OC III, 286 s.) 47 Der méchant tritt zum ersten Mal als „l’homme indépendant“ auf (OC III, 285), vertritt jedoch von Anfang an eine Position ‚defensiven‘, jedoch knallharten Egoismus’ („Il faut que je sois malheureux, ou que je fasse le malheur des autres, et personne ne m’est plus cher que moi“, a. a. O.).

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ciations“, OC III, 288) wiedergutgemacht werden, in denen der ungerechte Pakt, von dem im zweiten Discours die Rede ist, durch einen gerechten ersetzt wird. Das ist das Thema des Contrat social. Manche Interpreten meinen, es gebe eine unüberbrückbare Differenz zwischen der Perspektive, die Rousseau in seinen Discourses annimmt, und derjenigen des Contrat social.48 In Wirklichkeit besteht doch eine nicht zu leugnende Kontinuität zwischen diesen Werken: Nachdem er in beiden Discourses die Ursache der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die in der heutigen Gesellschaft herrschen, dargelegt hat, schlägt Rousseau im Contrat social das Modell einer alternativen Gesellschaft vor. Gegenstand der Kritik der Discourses war nicht die Gesellschaft schlechthin, sondern die ungerechte Gesellschaft, die aus dem ungerechten Pakt hervorgegangen ist, den die Reichen den Armen vorgeschlagen haben. Jener ungerechten Gesellschaft stellt nun Rousseau eine Alternative gegenüber. Die Gesellschaftskritik der Discourses wird somit nicht verleugnet – im Gegenteil: Dem destruktiven Moment (d. h. der Kritik an den herrschenden sozialen Verhältnissen) folgt nun das konstruktive Moment (d. h. das Projekt einer gerechten Gesellschaft). Das wird auch an einem Bild deutlich, das Rousseau vom ersten Discours übernimmt. Dort behauptet Rousseau, die Künste und die Wissenschaften würden dazu dienen, die gesellschaftlichen Ketten, in denen die Menschen gefesselt sind, mit Blumenkränzen zu bedecken und somit zu verstecken (DA, 12). Im Contrat social versucht Rousseau, diese Ketten ans Licht zu bringen, nicht damit sie von den Menschen gebrochen werden, sondern nur um sie zu legitimieren, denn der Verzicht auf das gesellschaftliche Band ist einfach undenkbar, nachdem die Menschen den ursprünglichen Naturzustand verlassen haben (CS I, 1; 270 f.). Die gesellschaftliche Ordnung bezeichnet er dort sogar als „geheiligtes Recht“ (a. a. O., 271), denn sie soll jene andere, d. h. die ursprüngliche, natürliche Ordnung ersetzen, welche die Menschen mit ihrer Abkehrung von der Natur zerstört haben. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn die gesellschaftlichen Institutionen gerecht sind, d. h. wenn sie den aktuellen Zustand von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Verdorbenheit, der daher ein Zustand der Unordnung ist, korrigieren.

4.10. Freiheit und Gesetz Im Laufe ihrer Entfernung vom ursprünglichen Naturzustand haben die Menschen immerhin Positives erreicht: Sie haben Individualität, Moralität und moralische Persönlichkeit entwickelt; sie haben Verstand und Vernunft verbessert, aber auch ihr emotionelles Leben reicher gemacht; sie sind feste gesellschaftliche Bande – von der Familie zum Staat – eingegangen; sie haben Künste und Wissenschaften gepflegt. Und trotzdem sind sie nicht

48 So z. B. Cassirer: „Rousseau wird zum Verfasser des Contrat social: Er schreibt eben jener Gesellschaft, die er verworfen und die er als Ursache aller Verderbnis und alles Unglücks der Menschheit bezeichnet hatte, ihr Gesetzbuch.“ (Cassirer 1989, 20)

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glücklich. Die Herstellung einer gerechten Gesellschaft stellt nach Rousseaus Meinung den besten Weg dar, um wieder zum verlorenen Glück zu gelangen. Interessanterweise bietet er jedoch als Grund für die Errichtung politischer Gemeinwesen nicht die Tatsache an, dass diese das individuelle Glück fördern, sondern die Behauptung, in ihnen seien allein die Menschen frei: Ihre natürliche Freiheit, die im vorstaatlichen Zustand bloße Willkür ist, wird zu wahrer Freiheit, die in der Bindung an selbstgegebene Gesetze besteht.49 Dabei kann man entweder den Aspekt der Gesetzgebung oder denjenigen der Selbstverpflichtung betonen: Im ersten Fall ist der Mensch frei, weil er Gesetze erlässt, d. h. weil er Souverän ist; im zweiten Fall ist er frei, weil er Gesetzen gehorcht, deren Notwendigkeit er eingesehen hat, und über deren Inhalt er entschieden hat. Es handelt sich natürlich um zwei verschiedene Perspektiven, die sich jedoch nicht ausschließen – im Gegenteil: Sie ergänzen sich auf eine Weise, die aus dem relativ einfachen Freiheitsbegriff der Vorgänger Rousseaus (Hobbes, Locke usw.) einen mehrschichtigen Begriff macht, der auch von Kant übernommen wird. Hobbes hatte Freiheit nur mechanisch, als bloße Abwesenheit von äußerlichen Hindernissen, verstanden. Locke hatte hingegen zwischen individueller Handlungsfreiheit (d. h. der Fähigkeit, rational zu entscheiden, ob man den eigenen Wünschen und Leidenschaften folgen soll, oder nicht) und politischer Freiheit unterschieden. Im Naturzustand bestehen die einzigen Grenzen individueller Freiheit in den natürlichen Gesetzen, die verbieten, dass man die Freiheit der Mitmenschen verletzt (Zweite Abhandlung über die Regierung, § 7). Das findet dann in der Errichtung staatlicher Institutionen Niederschlag, so dass Freiheit nun als die Fähigkeit definiert werden kann, alles das zu tun, was nicht von den Gesetzen ausdrücklich verboten ist (a. a. O., § 22). Auch Rousseau basiert seinen Freiheitsbegriff auf der Anerkennung der Existenz äußerer Hindernisse, unterscheidet jedoch qualitativ, nicht nur quantitativ, zwischen Freiheit als uneingeschränkter Handlungsmöglichkeit und Freiheit als Ausdruck menschlicher Selbstgesetzgebung. Durch die Erfahrung der Unmöglichkeit, die eigenen Bestrebungen vollkommen zu realisieren, lernt der Mensch bei Rousseau, die eigenen Grenzen zu akzeptieren. Der wahrhaftig freie Mensch ist derjenige, der ein Gleichgewicht zwischen seinen Wünschen und seiner Fähigkeit, diese Wünsche zu erfüllen, gefunden hat; derjenige, der nicht mehr als das will, was er auch tatsächlich erreichen kann.50 In Einklang mit Spinoza, Locke (aber nur zum Teil; vgl. dazu Schouls 1992, 117 ff.), Pascal oder den französischen Moralisten besteht wahre Freiheit für Rousseau in der Herrschaft über die eigenen Leidenschaften, nicht in der hemmungs- und hindernislosen Erfüllung jeder Laune (wie noch bei Hobbes, der übrigens in den Leidenschaften nur ein Hindernis in der Erreichung von Frieden und eine Ablenkung von der Suche nach den Geboten der Vernunft, nicht jedoch eine Verminderung menschlicher Autonomie sieht). Auf der politischen Ebene bedeutet das einen Verzicht auf die Verfolgung egoistischer Interessen (Privatinteressen sind für Rousseau eo ipso egoistisch im Vergleich

49 Cassirer spricht diesbezüglich von einem „sittlichen Begriff der Persönlichkeit“ (Cassirer 1989, 23). 50 „Freedom is perhaps knowing what constrains us and finding happiness in the equilibrium between our desires and our abilities to satisfy those desires.“ (Fermon 1997, 112)

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zum Gemeinwohl). So wie das Individuum seine innerliche Freiheit erlangt, wenn es die eigenen Leidenschaften unter Kontrolle bekommt und die Grenze seiner Willkür anerkennt, gelangt der Bürger zu wahrer politischer Freiheit, wenn er auf den eigenen partikularen Willen zugunsten des Gemeinwillens verzichtet und das eigene Privatinteresse zugunsten des Gemeinwohls aufopfert. Moralische Freiheit und politische Freiheit erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille, als zwei Dimensionen ein und derselben Fähigkeit, nämlich der Fähigkeit des Menschen, sich gegen die Tyrannei der Umstände zu wenden und über sein Schicksal selbst Herr zu werden – mögen die Umstände rein äußerlich (wie im Fall von fremder Willkür) oder innerlich (wie im Fall der eigenen Leidenschaften) sein: Der Mensch erhebt sich über die eigene Natur und trotzt ihr, so wie er dem tyrannischen Willen anderer Menschen die Stirn bietet. Dieser Akt der Revolte und der Selbstbehauptung ist jedoch gleichzeitig ein Akt der Demütigung und der Anerkennung der eigenen Grenzen, denn der Mensch erkennt die Notwendigkeit einer Selbsteinschränkung: Wer über die eigenen Leidenschaften triumphieren will, muss seine Wünsche und Bedürfnisse reduzieren bzw. dämpfen; wer sich der Nötigung durch fremde Willkür entziehen will, muss sich selbst nötigen und dem Joch selbstauferlegter Gesetze freiwillig unterziehen. In einem der Fragments politiques mit dem Titel Des Loix schreibt Rousseau: „On est libre quoique soumis aux loix, et non quand on obeit à un homme, parce qu’en ce dernier cas j’obéis à la volonté d’autrui mais en obeissant à la Loy je n’obéis qu’à la volonté publique qui est autant la mienne que celle de qui que ce soit.“ (OC III, 492) Und in den Lettres écrites de la montagne unterstreicht er: „Es gibt also keine Freiheit ohne Gesetze, und auch dort gibt es keine, wo jemand über den Gesetzen steht.“ (LM, 450; zum Begriff der Herrschaft der Gesetze vgl. unten 4.11) Deswegen schreibt er im Gesellschaftsvertrag, dass der einzelne Bürger „von jeder persönlichen Abhängigkeit“ geschützt wird, wenn er „dem Vaterlande einverleibt“ wird (CS I, 7; 283). Freiheit und Unabhängigkeit sind nicht dasselbe, wie schon Montesquieu betont hatte (Montesquieu 1992, I 213). Im Naturzustand sind die Menschen unabhängig von jeglicher politischer Autorität, aber sie sind nicht frei, da sie eventuell dem Willen anderer, stärkerer Individuen gehorchen müssen. Der Staatsbürger ist umgekehrt zwar vom Willen des Gemeinwesens abhängig, aber gleichzeitig ist er frei, denn er muss keinem Sonderwillen gehorchen (vgl. Viroli 1988, 150). Wer sich weigert, diesem allgemeinen Willen zu gehorchen, ist nur anscheinend frei, denn in Wirklichkeit begibt er sich in einen rechtslosen Zustand, in dem er sich entweder dem Sonderwillen anderer oder den eigenen Leidenschaften unterwerfen wird. Wird er daher gezwungen, den Gesetzen zu gehorchen (vorausgesetzt, dass sie Ausdruck des allgemeinen Willens, nicht des Sonderwillens eines Tyrannen sind), wird er gezwungen, frei zu sein, wie es eben in dem berühmt-berüchtigten Satz Rousseaus heißt (CS I, 7; 283). Dass diese rhetorische Behauptung (fast eine contradictio in adiecto) den Grund für spätere totalitäre Positionen (etwa für den Terror während der Französischen Revolution) gebildet haben kann, ist sicherlich Rousseau nicht anzulasten. Der Zwang, den Rousseau hier meint, hat mit den mörderischen Methoden totalitärer Regimes nichts zu tun, sondern bezieht sich auf die rechtmäßige Gewaltandrohung, die im Begriff von Gesetz selbst enthalten ist. Der rechtmäßige öffentliche Zwang ist nach Rousseaus Mei-

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nung ein Selbstzwang, denn die Adressaten der Rechtsnormen sind gleichzeitig ihre Autoren. Mehr noch: Jener Zwang ist dann und nur dann legitim, wenn die Übereinstimmung von Urheber und Adressat, von Souverän und Untertan stattfindet. Damit stellt Rousseau die eigene Position derjenigen Hobbes’ entgegen, der die Grundlage für rechtliche Legitimität in die Hand einer dritten Person gelegt hatte (im Autorisierungsvertrag wird zwar der Wille des Souveräns zum Willen der Untertanen erklärt, der Unterschied zwischen den beiden Rechtspersonen bleibt jedoch bestehen, auch im Fall der Demokratie51). Um es zusammenzufassen: Da die in Gesellschaft lebenden Menschen Gesetze brauchen, besteht wahre Freiheit darin, Inhalt und Reichweite der Gesetze selbst zu bestimmen. Und will man nicht, dass durch schlechte Gesetze die gesellschaftlichen Bande entarten und Unordnung entsteht, muss man sich für Gesetze entscheiden, die gerecht sind und das Wohl der Gemeinschaft fördern. Man muss m. a. W. dem Gemeinwillen folgen.

4.11. Der Gemeinwille, die Herrschaft der Gesetze und das stumme Volk In der gesamten Begrifflichkeit Rousseaus ist der Begriff des Gemeinwillens bekanntlich der umstrittenste. Kaum ein Interpret, der nicht auf die Schwierigkeiten oder gar die Paradoxa hinweist, die mit jener Idee verbunden sind. Rousseau hat sie nicht als erster eingeführt,52 man kann sie sogar bis zu Augustinus zurückverfolgen,53 und seine unmittelbare Inspirationsquelle stellt der oben erwähnte Enzyklopädie-Artikel Diderots dar (vgl. oben 4.9). Kaum ein anderer Autor hat sie jedoch so ins Zentrum des eigenen Denkens gerückt, wie es der Genfer getan hat. Der Gemeinwille ist der Wille des politischen Körpers und zielt immer auf das Wohlergehen des Gemeinwesens ab. Ihm entgegen setzt Rousseau nicht nur den Sonderwillen (d. h. den Partikularwillen der einzelnen Individuen), sondern auch den Gesamtwillen (volonté de tous). Dieser drückt das Interesse der Staatsbürger nicht als Ganzheit aus, sondern als Gesamtsumme von Individuen, jedes für sich betrachtet.54 Der Gemeinwille hingegen resultiert nicht aus der Addierung aller Sonderwillen, so wie das

51 Das mag zunächst nicht einleuchten, wird aber m. E. klar, wenn man überlegt, dass im Fall der Demokratie die Übereinstimmung von Souverän und Untertanen nur zufällig und materiell ist, was Probleme mit sich bringen würde, die sich auch nur aus einer empirischen Perspektive heraus stellen, wie z. B. die der Diskrepanz zwischen aktiven und passiven Staatsbürgern, oder die einer möglichen Tyrannei der Mehrheit. Jene an sich kontingenten Probleme würden in die Theorie Einzug finden, wenn nur Hobbes die Möglichkeit der Demokratie ernst nehmen würde – was er jedoch nicht macht. 52 Zu den historischen Modellen, die Rousseaus Gemeinschaftsbegriff irgendwie vorwegnahmen vgl. Mensching 2000, 79 ff. 53 „Rousseau is not conceivable without Augustine and various seventeenth-century transformations of Augustinianism.“ (Riley 1993, 12) Man sollte dabei Pascal erwähnen. 54 „The ‚will of all‘ is simply shorter hand for ‚the policy most in A’s interests, taking A in isolation; the policy most in B’s interests, taking B in isolation; and so on.“ (Barry 1964, 10)

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allgemeine Interesse nicht aus der Summe der Privatinteressen hervorgeht. Obwohl der Gemeinwille unter optimalen Umständen allen Bürger von selbst einleuchten sollte, sind Fehler, Missdeutungen und -rechnungen immer möglich. Um ihn und seinen Gegenstand (das Interesse des Gemeinwesens) zu identifizieren, bedarf es daher einer komplexen Operation, im Laufe derer die Staatsbürger mehrere Schritte vollziehen sollen: Erstens sollen sie auf jene Entscheidungen verzichten, die ausschließlich in ihrem Privatinteresse bzw. im Interesse einer Gruppe getroffen werden könnten. Sie sollen zweitens kalkulieren (oder versuchen zu kalkulieren), welche Entscheidungen, die ihre Interessen im selben Ausmaß wie die Interessen der anderen betreffen werden, für sie persönlich am besten sind (vgl. Barry 1964, 13). Die ersten beiden Schritte kommen dem Verzicht auf einen rein egoistischen Gesichtspunkt und der Annahme einer auf Gemeinwohl orientierten Perspektive gleich. Der darauf folgende, dritte Schritt besteht in der Bereitschaft, die vom Souverän (vom Volk) getroffene Entscheidung als Ausdruck des Gemeinwillens anzusehen und daher zu akzeptieren (vgl. Charvet 1999, 210) – was Hobbes’ Idee der Autorisierung sehr nahe kommt. Die Interpreten, die – wie Patrick Riley – meinen, dass das Gemeinwohl nicht bloß aus den gemeinsamen Elementen privater Interessen besteht, sondern eine „vollständige Verwandlung dieser Privatinteressen“ darstellt (Riley 2000, 120), lassen eine zentrale Stelle von Rousseaus Text beiseite: „Zieht man aber von diesen [den Sonderwillen] das Mehr und das Weniger ab, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.“ (CS II, 3; 291) Riley ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass der Ausdruck „Wille“ bei einer Gemeinschaft nur „auf metaphorische Weise“ benutzt werden kann (nur Individuen besitzen einen Willen), das aber bedeutet nicht, wie er meint, alles, „was man sich vorstellen kann“, sei eine „politische Moral des Gemeinwohls“ (Riley 2000, 121). Rousseaus Gemeinwille setzt keine Auffassung des Gemeinwohls voraus55, diese wird vielmehr jeweils von den Individuen durch die oben erwähnten Schritte definiert. Der Gemeinwille stellt keine Umwandlung des Sonderwillens dar, sondern wird aus ihm durch ein Kalkül abgeleitet. Dafür, dass das Kalkül erfolgreich sei, müssen allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, allen voran diejenigen bezüglich der Größe des Staates und der wirtschaftlichen Gleichheit unter den Bürgern. Je kleiner der Staat und je ökonomisch gleicher die Bürger untereinander, desto wahrscheinlicher ist es, dass man den Gemeinwillen auch tatsächlich identifizieren kann. Hinzu kommt die Frage der Tugendhaftigkeit der Staatsbürger: Wenn sie verdorben sind, und keine politische Tugend aufweisen, dann werden sie kaum imstande sein, die Kalkulation vorzunehmen (Barry 1964, 14). Diese Bedingungen werden in den modernen Nationen nicht mehr oder kaum erfüllt. Im idealen Staat wird hingegen der Gemeinwille immer sichtbar sein, denn dort werden die Rahmenbedingungen (Größe, Einwohnerzahl, wirtschaftliche Verhältnisse usw.) und vor allem die Verfassung das Volk befähigen, ohne Hindernisse den Gemeinwillen zu erkennen (vgl. Charvet 1999, 206 f.). Die schlimmsten Hindernisse für die Identifizierung des Gemein-

55 Es gibt daher kein Grund, „Gemeinwille durch Gemeinwohl“ zu ersetzen, wie Riley empfehlt (Riley 2000, 129). Zur Kritik von Rileys Interpretation vgl. Cohen 1999.

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willens stellen nämlich vor allem die Ungleichheit unter den Bürgern und die despotischen Versuchungen seitens der Regierung dar: Die endgültige Beseitigung dieser Versuchungen bildet eben das Hauptziel gerechter Verfassungen. Bei der Definition der Merkmale einer gerechten Verfassung unterscheidet Rousseau (wie viele vor ihm und wie später auch Kant) die Frage der „Form der Beherrschung“ von der weit wichtigeren Frage der „Form der Regierung“, um mit Kant zu sprechen (ZeF, VIII 352). Entscheidend ist also weniger die Tatsache, dass die Regierung (bei Kant: die Beherrschung) monarchisch, aristokratisch oder demokratisch ist, sondern vielmehr die Frage, wo die wahre Souveränität liegt. Ein entscheidendes Merkmal von gerechten Verfassungen ist nach Rousseaus Meinung die Tatsache, dass die Herrschaft nicht von den Individuen (möge es sich auch um die Ganzheit der Individuen, d. h. um das Volk handeln), sondern von den Gesetzen ausgeht. Der auf Platon zurückgehende Gedanke einer Herrschaft der Gesetze wird von Rousseau in einem konservativen Sinn interpretiert: „Die Gesetze [sind] vor allem durch ihre alte Herkunft heilig und verehrungswürdig“, und sie müssen nur „behutsam“ geändert werden, und nur wenn es notwendig und unvermeidlich ist (DI, 44). Die Gesetze bilden das Skelett, um das sich der politische Körper formiert. Sie dürfen somit nur in extremen Fällen modifiziert werden – und auch dann darf solche Veränderung nicht vom Volk durchgeführt werden, sondern sie ist ausschließlich Aufgabe der Obrigkeit (magistrats) (a. a. O.). Diese Interpretation scheint prima facie von Rousseau selbst ausgeschlossen zu werden. An einer Stelle sagt er nämlich ausdrücklich, dass es „im Staat keinerlei Grundgesetz gibt, das nicht widerrufen werden könnte, sogar der Gesellschaftsvertrag nicht ausgenommen“ (CS III, 18; 356), und zwar von den versammelten Bürgern, nicht von der Obrigkeit allein. Das steht jedoch in keinem Widerspruch zu meiner Interpretation. Der Widerruf eines Gesetzes (oder die Annullierung des Gesellschaftsvertrages und somit die Aufhebung des Gemeinwesens) ist nämlich ein rein negativer Akt, der eine bloße Abstimmung erforderlich macht, kein positiver gesetzgebender Akt, der eine Debatte voraussetzt. Die Volksversammlungen kennen nur Abstimmungen, keine Debatten: Sie öffnen sich mit zwei Fragen bezüglich der Erhaltung der aktuellen Regierungsform und der aktuellen Regierung (a. a. O.), aber jene Fragen lassen keine Diskussion zu, sondern nur ein Ja oder ein Nein. Nehmen wir die wichtigste unter den beiden, nämlich die erste. Wenn das Volk entscheiden sollte, die Regierungsform zu ändern und sich somit neue Institutionen zu geben (Rousseau meint jedoch, dass derartige Veränderungen „immer gefährlich“ sind; a. a. O., 355), so wird die neue Verfassung nicht von den Bürgern, sondern vom Gesetzgeber entworfen: Das Volk muss sie nur annehmen oder ablehnen. Wenn das Volk die ersten beiden Fragen positiv beantwortet hat, soll es im Laufe der Versammlung nur den Vorschlägen der Obrigkeit zustimmen,56 aber sie dürfen nicht zur Debatte gestellt werden, denn das würde die Harmonie und die Einigkeit stören

56 „In der Republik liegt die Gesetzinitiative nicht in den Händen der Bürger, sondern auf Seite der Regierung. [...] Die politische Freiheit reduziert sich auf bloße Bestätigung der Gesetzgebung.“ (Herb 2000, 172)

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(CS IV, 2). Die Möglichkeit, dass ein Volk solche Vorschläge ablehnt, scheint übrigens Rousseau überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen. Rousseaus Versammlungen sind also kein Ort der Debatte, sondern dienen einem anderen, fast symbolischen Zweck: Sie sollen das Volk daran erinnern, dass es der wahre Souverän ist, und gleichzeitig die Regierung ermahnen, nicht der Versuchung zu unterliegen, diese Souveränität an sich zu reißen.57 Bertrand Manin hat bemerkt, dass Rousseau das Wort „délibération“ im Sinne von „Entscheidung“, nicht von „Diskussion vor der Entscheidung“ benutzt (Manin 1987, 345). Sie bezeichnet die Beschlüsse des Volkes, nicht die Debatte, die zu den Beschlüssen führen sollte. Eine solche Debatte hält Rousseau sogar für schädlich, da sie den Sonderinteressen Tor und Tür öffnet: „Die langen Beratschlagungen [...], die Zwistigkeiten [im Original wörtlich: die Meinungsverschiedenheiten – A. P.], der Lärm künden das Anwachsen der Privatinteressen und den Niedergang des Staates an.“ (CS IV, 2; 359; vgl. Barry 1964, 11)58 An einer anderen Stelle heißt es: „Man nehme an, das Volk sei unzulänglich unterrichtet und treffe einen Beschluss [délibére], ohne dass die Bürger die geringste Verbindung miteinander hätten – so würde doch stets aus der großen Zahl kleiner Differenzen der Gemeinwille hervorgehen.“ (CS II, 3; 291) Im Anschluss an diese Stelle findet eine vehemente Ablehnung von Sondergesellschaften und Parteien statt (a. a. O.). Einfachheit der Sitten und isoliertes Leben stellen günstige Bedingungen bei der schwierigen Suche nach dem Gemeinwillen dar. „Beim glücklichsten Volk der Welt“, bei den armen, voneinander entfernt wohnenden Schweizer Bauern, die „unter einer Eiche die Angelegenheiten des Staates“ erledigen, herrscht z. B. Eintracht und Einigkeit: „Ein Staat, der so regiert wird, braucht kaum Gesetze, und in dem Maße, in dem es nötig wird, neue zu erlassen, ist diese Notwendigkeit überall sichtbar. Der erste, der sie vorschlägt, spricht nur aus, was alle schon bemerkt [wörtl.: gefühlt – A. P.] haben, und es bedarf keiner Intrigen noch der Beredsamkeit [éloquence], um Gesetz werden zu lassen, was jeder schon zu tun entschlossen war, sobald er sicher wäre, dass die andern dasselbe täten wie er.“ (CS IV, 1; 357; kursiv – A. P.) Wenn sich also die Staatsbürger eines idealen Gemeinwesens zur Erledigung ihrer Staatsgeschäfte versammeln, wissen sie schon, was sie beschließen werden. Sie wissen, wann der Staat neue Gesetze braucht, und welche es sein müssen. Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Staat nur sehr wenige und sehr allgemeine Gesetze notwendig sind, denn bei soviel Eintracht und Einklang der Meinungen müssen die zu regelnden Angelegenheiten minimal sein. Die Staatsbürger brauchen somit keine Debatten, sondern sie müssen sich nur vergewissern, dass auch alle anderen ihre Meinung teilen – 57 „The fixed periodical assemblies of the people, at which they express their sovereignty, are primarily preventive in purpose. Their chef political aim is to halt the all but irresistible tendency of any government to become arbitrary and despotic. Their positive function is symbolic and ritualistic. They actually do very little. [...] The assemblies exist to remind men of their public role.“ (Shklar 1985, 20) 58 „Rousseaus Bürgergemeinde ist alles andere als eine ideale Kommunikationsgemeinschaft. Im Gegenteil, hier gilt der öffentliche Diskurs über Inhalte und Zielsetzung der Rechtspolitik als Verfallssymptom, er gehört zur Pathologie der Republik.“ (Herb 2000, 173)

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denn sonst, wäre das ein Zeichen, dass sie die Gebote des Gemeinwillens missverstanden haben.59 Manin betont zu Recht, dass die glücklichen Staatsbürger es sogar nicht nötig haben, eine Debatte mit sich selbst zu führen. Rousseau schreibt: „Solange mehrere Menschen, die sich zusammengetan haben, sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der sich auf die gemeinsame Erhaltung und auf das allgemeine Wohlergehen bezieht. Dann sind alle Triebkräfte des Staates gesund und einfach und seine Grundsätze klar und deutlich, es gibt keinerlei verwickelte, widersprüchliche Interessen, das Gemeinwohl zeigt sich allerorts unverkennbar, und es bedarf nur des gesunden Menschenverstands, um es wahrzunehmen.“ (CS IV, 1; 357; kursiv – A. P.) Wenn die Grundsätze klar und deutlich sind, und das Gemeinwohl immer unverkennbar, dann brauchen die Bürger auch nicht mit sich selbst zu debattieren.60 Sie müssen das unverkennbare Gemeinwohl lediglich wahrnehmen. Das geschieht, wenn sie der Stimme ihres Gewissens zuhören, die uns niemals täuscht (Em. 30061). Dafür braucht man weder ein Philosoph („Das Gewissen ist aufgeklärter als jeder Philosoph. Man braucht nicht Ciceros Werk Über die Pflichten (De officiis) zu kennen, um ehrlich zu sein“, Em. 447) noch ein aufgeklärter Mensch zu sein: Dazu ist auch der einfachste Mann unter unserer Schar von Bauern fähig. Es sind hingegen die gebildeten Menschen, die nicht mehr imstande sind, die Stimme ihres Gewissens zu hören und daher alles falsch machen, da sie sich von ihren Interessen verleiten lassen.62 Leider lassen sich gegenwärtig auch die einfachen Menschen selten von ihrem Gewissen führen, da sie zivilisiert sind. Die Zivilisation hat die ursprüngliche Menschennatur durch die von ihr verursachten schädlichen Phänomene (Luxus, Neid, Gier) korrumpiert und die Stimme des Gewissens ist für die Menschen kaum mehr zu hören, da sie durch die von der Zivilisierung verursachten Verkrustungen nicht mehr zu ihren Ohren gelangt – wie bei der Metapher von Glaukos’ Statue. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Auch wenn das Volk nicht verdorben ist (wie es die gebildeten Menschen, allen voran die Philosophen, sind), wird es oft getäuscht (CS II, 3; 291). Rousseau sagt uns nicht, wer bzw. was das Volk täuscht: Ob es einzelne Menschen sind, die es zu ihren privaten Zwecken missbrauchen wollen, oder

59 „Die Individuen finden nicht zu einer volonté générale durch gemeinsame Absprache, Korrektur, Aufklärung, durch Tauschen von Gedanken, sondern äußern, was ihnen gut dünkt, und finden, dass in gleicher Lage das Nachbarsubjekt eben dasselbe in prästabilierter Harmonie gut findet, wenn es sich nicht verleiten läßt von unverstandenen Interessen oder Vorurteilen.“ (Brandt 1973, 114) 60 „What is evident, simple and luminous does not need to be deliberated in the strong sense of that term. [...] The citizens of Rousseau’s democracy do not deliberate, not even within themselves.“ (Manin 1987, 347) 61 Und in den Observations ... heißt es: „Wir haben eine innere Richtschnur, welche weit untrüglicher ist als alle Bücher.“ (Obs., 76) 62 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Hobbes, wenn er eine allzu weite Bildung für eine mögliche Ursache von Fehlern und Missrechnungen hält, da sie den gelehrten Menschen zu einer Eitelkeit führen kann, die ihn blind macht. Hobbes zeigt sich allerdings im Unterschied zu Rousseau nicht weniger misstrauisch gegenüber der Unkenntnis ungebildeter Menschen.

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ob es sich um die durch Zivilisation verursachte Unfähigkeit handelt, die Stimme des Gewissens zu hören. Auf jeden Fall braucht das Volk einen Staat, der durch Gesetze so geregelt wird, dass es kaum möglich ist, dass sich die Staatsbürger irren bzw. dass sie irregeführt werden. Das ist die Aufgabe des Gesetzgebers, aber bevor ich auf diese wichtige Gestalt eingehe, möchte ich einige Überlegungen zum Begriff des Gewissens ausführen.

4.12. Das Gewissen des bourgeois und das des citoyen Im Genfer Manuskript hatte Rousseau Diderots Begriff des Gemeinwillens unter anderem mit dem Argument kritisiert, die Menschen würden über keine ihnen allen gemeinsame innere Stimme verfügen. Nun aber scheint das Gewissen eben eine solche Stimme zu sein. In Wirklichkeit jedoch stellt das Gewissen keine solche allgemeine Instanz dar, sondern hilft den Menschen nur, den Gemeinwillen ihrer partikularen Gemeinschaft mit Sicherheit zu identifizieren. Seltsames Gewissen, dessen Stimme zwar von allen Menschen gehört werden könnte und sollte, das jedoch dem Einzelnen Unterschiedliches empfiehlt – je nach seiner Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gemeinwesen! Im Emil bietet Rousseau eine andere Definition von Gewissen an, die aus ihm eine allgemeine, eine moralische und nicht politische Instanz macht: „Im Grunde der Seele gibt es [...] ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, gegen unsere eigenen Grundsätze, unsere und die Handlungen anderer als gut oder böse beurteilen; und dieses Prinzip nenne ich Gewissen.“ (Em., 303; kursiv – A. P.) Das Gewissen ist „die Stimme der Seele“ und „täuscht nie“ (Em., 300); es inspiriert alle Menschen der Erde zu gleichen moralischen Gefühlen: „überall die gleichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Redlichkeit, überall die gleichen Begriffe von Gut und Böse“ und ergibt daher eine „offenbare und allgemeine Übereinstimmung aller Völker“ (Em., 303). Es ist ein „göttlicher Instinkt“, eine „unsterbliche und himmlische Stimme“, ein „sicherer Führer“ und ein „untrüglicher Richter über Gut und Böse“, den man erkennen und dem man folgen muss – was zwar nicht leicht, jedoch möglich ist (Em., 306). Die zwei größten Hindernisse dabei stellen die Leidenschaften (ist das Gewissen die Stimme der Seele, so sind die Leidenschaften die Stimme des Körpers: Em., 300) und die Vernunft dar. Letztere führt uns besonders dazu, egoistisch zu denken und zu handeln, während die natürlichen Gefühle „für das allgemeine Interesse sprechen“ (Em., 307). Ob das allgemeine Interesse nun das der Gattung oder das eines konkreten Gemeinwesens sei, sagt uns Rousseau (bzw. der savoyischen Vikar, der hier spricht) nicht. Es scheint auf jeden Fall so zu sein, dass das Gewissen eine Instanz darstellt, die unseren durch Leidenschaften und Vernunft verursachten Egoismus bekämpft und uns zu den ursprünglichen natürlichen Gefühle zurückführt, die uns ermöglichen, in Selbstgenügsamkeit und in Frieden mit den Mitmenschen zu leben. Derart bildet es ein Gegenmittel zu den negativen Auswirkungen des Sonderwillens der Einzelnen, sowohl auf dem moralischen als auch auf dem politischen Gebiet. Andererseits besteht ein beachtenswerter Unterschied zwischen der Rolle des Gewissens im Emil (nämlich als Richter über Gut und Böse im moralischen Sinn) und seiner Rolle im Gesellschaftsvertrag (als

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Richter über das Gemeinwohl, d. h. über Gut und Übel für das Gemeinwesen). Und eine noch weitere Kluft besteht zwischen den zwei verschiedenen Menschentypen, zu denen in beiden Werken die Stimme des Gewissens spricht: der bourgeois und der citoyen. Im Emil heißt es, man „muss wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will“, denn „beides zugleich ist unmöglich“ (Em., 12). Man muss sich entscheiden, entweder als Mensch eine Einheit für sich zu sein, oder aber als Bürger ein Glied eines Ganzen zu werden (a. a. O.). Aber de facto, sagt uns Rousseau, erübrigt sich die Entscheidung, denn heutzutage gibt es kein Vaterland und daher keine Staatsbürger mehr: „Diese beiden Wörter Vaterland und Bürger müssen aus den modernen Sprachen ausgemerzt werden.“ (Em., 13)63 Den Grund dafür kennt Rousseau zwar, will ihn hier jedoch nicht nennen (a. a. O.). Aber wer das vorletzte Kapitel des Contrat social gelesen hat, kennt ihn auch: Es war das Christentum, welches mit seiner Ethik der allgemeinen, die ganze Menschheit umfassenden Liebe aus Staatsbürgern Menschen gemacht hat (CS IV, 8; 385 ff.; vgl. unten 4.14). Der Staatsbürger liebt nicht alle Menschen, sondern nur die Mitbürger: Er liebt seinen Nächsten in einem wörtlichen, geopolitischen Sinne. „Jeder Patriot wird Chauvinist: Ausländer sind nur Menschen; in seinen Augen sind sie nichts“ und seine Liebe erstreckt sich nur auf „die, mit denen man zusammenlebt“. Fern davon, solche Haltung zu missbilligen (er definiert sie als „kein großes Übel“), verurteilt Rousseau vielmehr die entgegensetzte Haltung, nämlich die der Kosmopoliten, „die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen“. Rousseaus Schlussurteil über die Kosmopoliten: „Mancher Philosoph liebt die Tataren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht“ (Em., 12). Die Polemik gegen Diderot, Voltaire und die anderen philosophes könnte nicht ätzender sein. Der moderne Mensch hat sich also nicht nur vom ursprünglichen natürlichen Zustand entfernt, in dem er vollkommen autark lebte und glücklich war; er hat auch einen weiteren Weg zum Glück endgültig hinter sich gelassen: die Möglichkeit, als wahrer Staatsbürger, d. h. als Mitglied des Ganzen der Nation, jenes Gefühl unmittelbaren Daseins zu genießen, in dem das eigentliche Glück besteht. Der natürliche Mensch „ruht in sich“, während der zivilisierte Mensch „nur ein Bruchteil ist, [...] dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen liegt, d. h. zum Sozialkörper“. Nur „gute soziale Einrichtungen“ können diesen Wert so hoch setzen, dass der Mensch wieder glücklich sein kann. Sie erreichen das dadurch, indem sie „sein Ich in die Allgemeinheit“ übertragen, „so dass sich der einzelne nicht mehr als Einheit, sondern als Glied des Ganzen fühlt und angesehen wird“ (Em., 12). Der moderne Mensch, der weder Naturmensch noch Staatsbürger mehr sein kann, ist daher dazu verdammt, eine ‚Einheit’ zu bleiben (eine Einheit, die jedoch nicht autark und deshalb nicht glücklich ist). Daher Rousseaus Versuch, den Menschen mindestens so zu erziehen, dass er das größtmögliche Glück erreicht, das man in unserer Gesellschaft vereinzelter, egoistischer Individuen finden kann: ein Glück, das in der (relativen) Unabhängigkeit von der Meinung anderer, in der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, in der Herrschaft über die eigenen Leidenschaften besteht – und das

63 Zu einer solchen Diagnose war Rousseau schon im ersten Discours gelangt: „Wir haben keine Bürger mehr.“ (DSA 30)

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trotzdem fragil und gefährdet ist, wie Emil und Sophie oder Die Einsamen, die geplante Fortsetzung von Emil, hätte zeigen müssen.64 Jener dritte Weg zum individuellen Glück (der erste ist der des Naturmenschen, der zweite der des Staatsbürgers, der vierte besteht im vollkommenen Rückzug aus der Gesellschaft, wie betont: vgl. oben 4.1) wird jedoch im Gesellschaftsvertrag nicht erwähnt. Dort scheint Rousseau daran zu glauben, dass es noch Staatsbürger gibt oder geben kann. Zu ihnen (und nur zu ihnen) spricht hier die Stimme des Gewissens – und zwar um ihnen den Gemeinwillen zu offenbaren. Sie sind die Bewohner des idealen Staates, d. h. des Staates, dessen Institutionen von einem klugen Gesetzgeber erschaffen wurden.

4.13. Der große Manipulator und die Verfassung Der Gemeinwille will immer das Gemeinwohl, und die guten Bürger erkennen immer den Gemeinwillen: Das sind die zwei Bedingungen, die Rousseaus ideale Gesellschaft möglich machen. Aber wie sind sie tatsächlich zu realisieren? Rousseau gibt im Gesellschaftsvertrag keine konkrete Antwort auf die Frage, denn das ist Aufgabe des Gesetzgebers: Nur er kann feststellen, welche Institutionen einer bestimmten Gesellschaft (und keiner anderen!) zur Lösung des Problems verhelfen können. In seinem Werk listet Rousseau lediglich einige allgemeine Möglichkeiten auf, wie eine Gesellschaft organisiert werden kann (vor allem hinsichtlich der Regierungsform), aber er bietet dort kein konkretes Modell des idealen Staates an. In anderen Werken beschreibt er hingegen einige solcher Modelle (vgl. unten 4.15), oder er schlüpft selbst in die Kleider des Gesetzgebers und gibt konkrete Richtlinien zur Organisierung von Gesellschaften, wie z. B. Korsika oder Polen (vgl. unten 4.16). Aber im Gesellschaftsvertrag stellt er lediglich die Figur des Gesetzgebers als das außerordentliche Individuum vor, das solche Probleme für die unterschiedlichen Gesellschaften lösen soll (vgl. auch Strauss 1972, 283). Der Gesetzgeber ist „der Künstler, der die Maschine“ des Staates erfindet65 – und das wäre schon eine schwierige Aufgabe (einige Zeilen zuvor behauptet Rousseau, es bedürfte eines höheren Vernunftwesens, „um die besten gesellschaftlichen Regeln, die den Nationen gemäß wären, zu finden“; und dass Götter notwendig wären, „um den Menschen Gesetze zu geben“: CS II, 7; 300). Noch schwieriger scheint jedoch die eigentliche Aufgabe zu sein: „Wer es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, muss sich immer imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur zu verändern“, und zwar so, dass er jedes Individuum („das für sich selbst ein vollkommenes und selbständiges Ganze ist“) in ein Mitglied des Gemeinwesens (d. h. „in einen Teil eines größeren Ganzen“)

64 Im Fragment gebliebenen Werk gerät die Ehe zwischen Emil und Sophie in die Krise, und unser Held wird sogar zum Sklaven. 65 Rousseau benutzt hier das Bild des Uhrwerks, das auch in Emil auftaucht – und zwar in Bezug auf Gott als Uhrmacher des Universums (Em. 286).

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umwandelt, gemäß der schon erwähnten Idee des Staatsbürgers als Wesen, dessen Ich in der höheren Einheit des Staates aufgeht (a. a. O., 301). Rousseaus Gesetzgeber trägt Züge von Hobbes’ Souverän, erinnert jedoch vor allem an Machiavellis Fürsten bzw. großen Mann, der neue Ordnungen schafft bzw. alte erneuert. All diese Gestalten sind über die Gesetze erhaben, die sie erlassen (und deren Produktionsverfahren sie bestimmen), aber auf unterschiedliche Weise. Hobbes’ Souverän und Machiavellis Gesetzgeber verfügen vollkommen über die Gesetze und unterstehen keinem von ihnen. Es gehört zur Idee der Souveränität, so wie sie Hobbes definiert, dass der Souverän durch nichts verbunden ist, auch nicht durch Akte des eigenen Willens (eben: die Gesetze). Rousseaus Gesetzgeber sowie der Ordner von Republiken bei Machiavelli haben hingegen eine komplexere Beziehung zu den von ihnen gewollten Gesetzen. Nachdem ihre Aufgabe erfüllt ist, nachdem sie dem Gemeinwesen eine rechtliche Ordnung gegeben haben, treten sie zurück. Bei Machiavelli ist der Rücktritt spontan und nicht normativ geboten: Der gute Gesetzgeber weiß einfach, dass er sich zurückziehen muss, wenn sein Werk vollzogen ist. Rousseau formuliert hingegen einen Rücktrittsbefehl für den Gesetzgeber nach Vollendung seiner Aufgabe. Das ist eine notwendige Folge des Prinzips der Herrschaft der Gesetze: „Wie der, welcher über Menschen gebietet, nicht über Gesetze gebieten darf, so darf der, welcher über Gesetze gebietet, auch nicht über Menschen gebieten“, denn andernfalls würden seine Gesetze zu „Werkzeuge[n] seiner Leidenschaften“ und die Herrschaft der Gesetze durch die Herrschaft der Individuen (in diesem Fall: eines Individuums) ersetzt (a. a. O.). Der Gesetzgeber ist wirklich wie ein Uhrmacher, der Uhren produziert, um sie aus seinen Händen abzugeben – während Hobbes’ Souverän ein Bildhauer ist, der seine Statue ständig nach seinem Belieben ändert (so lange ihm das Material Gehorsam leistet), ohne sie je an andere auszuhändigen. Es ist der Gesetzgeber, der entscheiden muss, welche Regierungsform für einen bestimmten Staat an geeignetsten ist. Rousseau bietet daher keine allgemeine Lösung für die Frage der besten Regierung an, obwohl er auch einen Vergleich zwischen den drei traditionellen Regierungsformen: Demokratie, Aristokratie und Monarchie vornimmt. Alle drei Formen können legitim sein, und je nach den Umständen wird eine von ihnen die beste für ein bestimmtes Land sein. Entscheidend ist nicht, in welcher Form das Land regiert wird, sondern nur, dass seine Staatsverfassung republikanisch ist. Eine Republik nennt Rousseau „jeden Staat, der durch Gesetze regiert wird, unter welcher Form der Verwaltung dies auch geschieht: dann allein herrscht das öffentliche Interesse, hat die öffentliche Sache Geltung. Jede rechtmäßige Regierung ist republikanisch.“ (CS II, 6; 299) Jede Regierung, „die vom Gemeinwillen geleitet wird“, ist daher eine Republik, auch wenn sie monarchisch organisiert ist. Eine republikanische Monarchie hört somit auf, ein Oxymoron zu sein und wird zu einer konkreten Möglichkeit der politischen Architektonik.66 Das entspricht dem für Rousseaus Theorie wesentlichen Unterschied zwischen Souverän und Regierung, zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt, zwi-

66 Eine Möglichkeit, die in Kant ihren vielleicht besten Theoretiker finden wird.

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schen dem Gemeinwillen und der Durchführung dessen Entscheidungen. Souveränität kommt nur dem Volk zu: Würde sie einem einzelnen Individuum zukommen, würden alle anderen seine Sklaven sein – aber Sklaverei ist illegitim (CS I, 4). Und Souveränität darf nicht von Repräsentanten ausgeübt werden, denn wahrer Souverän ist der, der die Entscheidungen konkret trifft: Souveränität „besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille lässt sich mitnichten vertreten“ (CS III, 15; 350). Die Entscheidungen des Souveräns bedürfen jedoch solcher Einrichtungen, die ihre Anwendung in der Praxis garantieren, so wie im Menschen der Wille als „moralische Ursache“ einer Handlung der Kraft als deren „physische Ursache“ bedarf (CS III, 1; 315). Einzige Aufgabe der Regierung ist es daher, die Entscheidungen des Souveräns zu realisieren. Das geschieht dadurch, dass sie die Gesetze (Ausdruck des Gemeinwillens) durch konkrete Verwaltungsakte in der Praxis anwendet. Insofern ist die Regierung „eine vermittelnde Körperschaft zwischen den Untertanen und dem Souverän“ (a. a. O., 316), d. h. zwischen dem Volk als gesetzgebender Versammlung und den Staatsbürgern als Rechtsadressaten. Es gibt, wie betont, keine Regierungsform, die an sich immer die beste ist. Die Frage nach der geeignetsten Staatsregierung lässt sich vielmehr nur durch Berücksichtigung zahlreicher Kriterien beantworten – allen voran der Größe des Landes und der Anzahl der Einwohner. Dabei stellt sich heraus, dass bei kleineren Staaten die demokratische Regierung am besten ist, während sich umgekehrt für Großstaaten die Monarchie empfiehlt (CS III, 1 und III, 2; 317 ff.), da „die Regierung um so schwächer wird, je größer die Zahl der Regierungsmitglieder wird“, und da „die eindämmende Kraft um so größer sein muss, je zahlreicher das Volk ist“. Daraus folgert Rousseau, „dass die Zahl der Regierungsmitglieder zur Regierung im umgekehrten Verhältnis stehen muss wie die der Untertanen zum Souverän, das heißt: je größer der Staat wird, desto mehr muss sich die Regierung konzentrieren, so dass die Zahl der Oberhäupter in dem Maße abnimmt, in dem das Volk wächst“ (CS III,2; 322). Die Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Regierungsform ist jedoch nicht nur eine mathematische Sache, das Ergebnis eines Kalküls (obwohl Rousseau sogar eine mathematische Formel dafür anbietet: a. a. O., 316), sondern ist in erster Linie das Ergebnis von Überlegungen politischer Natur. Möge die Monarchie die beste Regierungsform für manche Länder sein (nämlich für die stark bevölkerten), weist sie nichtsdestoweniger weit mehr Gefahren für die Republik als die anderen auf: Eine monarchische Regierung ist eine starke Regierung und sie neigt dazu, die Souveränität zu usurpieren. Gegen die Monarchie führt Rousseau außerdem eine Reihe von Argumenten an, die denjenigen Machiavellis sehr ähnlich sind (beginnend mit der Behauptung: „Es ist leichter zu erobern, als zu herrschen“: CS III, 6; 330). Derart bezieht er entschieden Position gegen Hobbes, Bodin, Bossuet und „andere Philosophen des königlichen Absolutismus“, die behauptet hatten, „der Zusammenhalt des Staates könne unter der Autorität einer außerordentlichen, alles überragenden Macht einer einzigen Person am besten erhalten werden“ (Wokler 1999, 103). In Bezug auf die Demokratie nimmt Rousseau eine etwas widersprüchliche Haltung ein. Einerseits behauptet er, die beste Regierungsform wäre an sich die Demokratie, nur: Sie ist nicht für Menschen geschaffen („Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung ist für Menschen nicht geeignet“: CS III, 4; 326). Andererseits kritisiert er das Wesen der Demokratie selbst (nicht

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nur ihre praktische Unrealisierbarkeit unter den Menschen), wenn er behauptet: „Es ist weder gut, dass derjenige, der die Gesetze macht, sie auch ausführt,67 noch dass der Volkskörper seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Zielen abwendet, um sie auf einzelne Gegenstände zu richten“ (a. a. O., 324) Wer Gesetze gibt, darf sie nicht auch konkret anwenden, denn dann wird er sich vom Privatinteresse entweder bei der Gesetzgebung oder bei der Durchführung verleiten lassen. Diese Kritik ist m. E. nicht sehr überzeugend. Sie betrifft weniger die Demokratie als Regierungsform an sich (wie Rousseau meint) als vielmehr ihren Missbrauch durch einen Teil der Staatsbürger (möge es sich um eine Mehrheit oder eine Minderheit handeln). „Es ist undenkbar, dass das Volk ohne Unterlass versammelt bleibt, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen“, wie Rousseau zu Recht bemerkt (a. a. O.), aber daraus folgt nicht notwendig, dass letztlich die Souveränität nur von Individuen ausgeübt werden wird, die entschlossen sind, das eigene Privatinteresse durch ihre unermüdliche Teilnahme an den Versammlungen durchzusetzen. Sollte hingegen das von Rousseau erwähnte Privatinteresse dasjenige des Volkes sein, so ist nicht einzusehen, wie das notwendig zu einem Missbrauch führen sollte. Das wäre sicher der Fall, wenn sich der Gesamtwille statt der Gemeinwille durchsetzen sollte – aber das ist ein Risiko, das auch bei anderen Regierungsformen besteht. Sinnvoller ist die Furcht, jeder Staatsbürger würde in einer Demokratie versuchen, die ihm zukommende Position als Amtsinhaber zu missbrauchen. Macht korrumpiert, wie Rousseau bei seiner Analyse der Regierungsformen mehrmals klar macht; es ist ein kleines Übel, wenn sie nur von wenigen Behörden ausgeübt wird, die das Volk (als Souverän) zu jeder Zeit durch andere ersetzen kann. Wenn aber das ganze Volk aus korrupten Amtsinhabern besteht, ist jede Hoffnung verloren. Daher zieht Rousseau Wahlaristokratie vor. Aus seiner Perspektive liegen die Vorteile einer solchen Regierungsart auf der Hand, wie Robert Wokler merkt: „Die auf Wahl beruhende Aristokratie hänge nicht von der Redlichkeit und Weisheit jedes einzelnen Bürgers ab und erfordere deswegen weniger Tugendhaftigkeit als die demokratische Regierung.“ (Wokler 1999, 104 f.) Ist Demokratie die richtige Regierung für ein Volk von Göttern (Kant wird von Engeln sprechen), so ist Wahlaristokratie die geeignetste Regierungsform für die Menschen, „wie sie sind“ (CS Vorwort; 270). Außerdem ist sie mit der unvermeidbaren wirtschaftlichen Ungleichheit, die in der Gesellschaft herrscht, verträglicher als die Demokratie – immer vorausgesetzt, dass die Ungleichheit nicht allzu groß wird. In einer Wahlaristokratie könne nämlich „die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten Personen mit geeignetem Talent“ anvertraut werden, „deren materielle Unabhängigkeit ihnen gestatte, ihre gesamte Zeit ohne finanzielle Interessen dem Staat zu widmen“ (Wokler 1999, 105). Fern davon, eine Gefahr für die Freiheit und Stabilität der Republik zu sein, ist es ausgerechnet ihr Reichtum, der den Mitgliedern der wahlaristokratischen Regierung ermöglicht, sich ganz der Sache des Staates hinzugeben (eine ähnliche Position wird Kant vertreten, allerdings mit einer leicht verschiedenen Begründung: vgl. unten 5.12).

67 Darin liegt der Grund des Kantschen Rekurs’ auf das Kriterium der Gewaltenteilung, um Republik von Despotie zu unterscheiden.

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Wahlaristokratie kommt zudem Rousseaus Misstrauen gegen die intellektuellen Fähigkeiten der Menge entgegen, denn „es ist die beste und natürlichste Ordnung, dass die Weisesten die Menge regieren, wenn man sicher sein kann, dass sie diese zu deren Wohl und nicht zu ihrem eigenen regieren werden“ (CS III, 5; 327). Jener letzten Bedingung wäre jedoch eine andere hinzuzufügen: Wenn man sicher sein kann, dass das Volk (d. h. eben die ‚verdächtige‘ Menge) wirklich die Weisesten wählt. Rousseau unterliegt m. E. einem Fehler, der auch die aristokratische Variante des Republikanismus kennzeichnet. Denker wie er, John Adams und die meisten US-Gründerväter usw. trauen dem Volk die Fähigkeit nicht zu, das eigene Interesse und Wohl zu erkennen. Sie meinen jedoch, das Volk sei imstande, die richtigen Menschen zu wählen, die es regieren sollten. Das ist keineswegs nachvollziehbar. Wenn man zugeben wollte, dass es zum Regieren spezifischer Kenntnisse und Bildung in einem so hohen Ausmaß braucht, wie sie bei der Mehrheit wahrscheinlich nicht vorhanden sind, dann sollte man auch beachten, dass man bei der Wahl der Menschen, die über solche Ressourcen verfügen könnten, eine nicht zu unterschätzende Urteilskraft und Menschenkenntnis braucht. Nicht zufällig bezog bei vielen konkreten, historischen Verfassungen das Misstrauen gegen die Menge deswegen auch diesen Aspekt mit ein – was in einem vom wirtschaftlichen bzw. sozialen Status abhängigen Wahlrecht Niederschlag fand: Die Wahl der Regierung oder der Volksrepräsentanten wurde nur Individuen erlaubt, die wegen ihrer sozialen Stellung vermutlich über die notwendige Urteilskraft verfügten, die zur Wahl der ‚Besten‘ führen konnte. Zu dem Schluss sollte daher auch Rousseau kommen, aber das ist mit seinem Begriff von Volkssouveränität nicht vereinbar. Gegen den Begriff steht allerdings auch Rousseaus Misstrauen gegen die Menge (das auch in seinem Misstrauen gegen die Demokratie Ausdruck findet), was ihn dazu führt, nur einigen wenigen Individuen (den „Weisesten“) die Fähigkeit zuzusprechen, über das Volk zu regieren. Und da die Hauptaufgabe des Volks als Souverän darin besteht, die von der Regierung vorgeschlagenen Beschlüsse zu ratifizieren (oder abzulehnen68), ist klar, dass sich Rousseaus Wahlaristokratie kaum von jenen Regierungen unterscheidet, in denen auch die Souveränität von einigen wenigen Volksvertretern ausgeübt wurde, die ihrerseits von einem Teil der Bevölkerung gewählt wurden – einem Teil, der angeblich mehr interessiert war als die Menge69, wenngleich nicht unbedingt weiser als sie. Aufgabe des Gesetzgebers ist es nun, in erster Linie zu begreifen, welche Regierungsform zu einem bestimmten Land am besten passt; die notwendigen Institutionen zu schaffen; aber auch das Volk darauf vorzubereiten, den Gemeinwillen zu erkennen und zu befolgen. Wegen solcher erzieherischer Tätigkeit wird der Gesetzgeber oft mit dem Erzieher von Emil verglichen und ihm gleichgesetzt. Beide zielen darauf ab, die Natur des Gegenstandes dieser Tätigkeit (das Volk oder das Kind) zu verändern. Im Fall des Gesetzgebers besteht seine „erste und wichtigste Aufgabe“ darin, „die in der Republik 68 Eine Möglichkeit, die Rousseau – wie betont (vgl. oben 4.11) – zwar nicht erwähnt, aber auch nicht ausdrücklich ausschließt. Würde ein solcher Fall tatsächlich eintreten, würde es wahrscheinlich notwendig, dass sich die Volksversammlung noch einmal darüber äußert, ob sie die aktuelle Regierung behalten will. 69 Das ist die Position Kants: vgl. unten 5.12.

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zu vereinigenden Menschen zu ‚denaturieren‘, sie innerlich umzugestalten, ihr Ich in die Gemeinschaft zu verlegen, sie zu Gliedern eines politischen Körpers zu machen“ (Fetscher 1975, 195). Der Gesetzgeber muss aus vereinzelten, egoistischen Menschen richtige Staatsbürger machen: Den bourgeois muss er in den citoyen verwandeln. Dazu bedient er sich verschiedener Strategien, allen voran der Schaffung der richtigen Institutionen: Da „die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP, 238), produziert eine gute Verfassung mit der Zeit gute Bürger (eine gute Verfassung hilft außerdem bei der Suche nach dem Gemeinwohl: vgl. oben 4.11). Aber der Gesetzgeber darf und muss sich auch manipulatorischer Techniken und Mittel bedienen (Koselleck 1973, 137 f.): Sein wohl hilfreichstes Instrument ist dabei die Religion.

4.14. Die Zivilreligion Im Contract social übernimmt Rousseau Hobbes’ Auffassung der Religion als Mittel zur politischen Verpflichtung (vgl. dazu Erdmann 1935, Grimsley 1968, Rotholz 1996 und Rehm 2000). Das geschieht jedoch bei ihm in einem zweifachen Sinn: a) Die Religion wird erstens vom Gesetzgeber dazu benutzt, das Volk zur Annahme der Gesetze zu bewegen; b) die Zivilreligion dient zweitens dazu, die Staatsbürger zum Gesetzesgehorsam zu motivieren (vgl. dazu Rehm 2000). a) Im 7. Kapitel des zweiten Buchs, „Vom Gesetzgeber“, übernimmt er ausdrücklich Machiavellis Bemerkung, nach der sich alle Staatsgründer und Gesetzgeber auf Gott berufen haben, um ihre Gesetze vom gemeinen Volk annehmen zu lassen (CS II, 7; 303 Fn). Die Religion ist also ein Werkzeug, durch das der Gesetzgeber das Volk manipuliert, um ihm eine bürgerliche Ordnung aufzuerlegen. Anders als Hobbes geht Rousseau in seiner Rekonstruktion des Ausgangs aus dem Naturzustand nicht von der Rationalität der Akteure aus. Die Vernunft, welche die Notwendigkeit und (motivierend entscheidend) die Wünschbarkeit des Eintritts in eine rechtliche Ordnung ausweist (wünschenswert ist der Eintritt, weil die menschliche Willkür erst im gesellschaftlichen Zustand zu wahrer Freiheit wird), ist nicht bei allen Menschen vorhanden: Sie erhebt „sich über den Gesichtskreis der gewöhnlichen Menschen“ (a. a. O., 303). Es ist also notwendig, dass der Gesetzgeber, jenes außerordentliche Individuum, das dazu berufen ist, ein Volk zu errichten und dafür „gleichsam die menschliche Natur zu verändern“ (a. a. O., 301), die Entscheidungen der Vernunft „den Unsterblichen in den Mund legt, um durch die göttliche Autorität diejenigen mitzureißen, die menschliche Klugheit nicht erschüttern könnte“ (a. a. O., 303). Hier tritt der Unterschied zwischen den Positionen von Hobbes und Rousseau besonders deutlich hervor: Beide bedienen sich einer nichthistorischen Fiktion, um die Entstehung von Recht und Staat aus einer abstrakten, rationalen Perspektive heraus zu legitimieren. Während jedoch Hobbes wenig Aufmerksamkeit der Entstehung konkreter politischer Ordnungen schenkt und eher zur Annahme neigt, Staaten seien einfach durch Macht und Eroberung entstanden, versucht Rousseau, ein Moment aufzuzeigen, das allen konkreten Staatsgründungen gemeinsam war und identifiziert es mit der Tätigkeit eines Gesetzgebers.

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Diese weitere – angeblich – nicht ahistorische Abstraktion ermöglicht Rousseau eine Schwierigkeit anzusprechen, die man schon bei Hobbes erkannt hatte: Die konkreten Individuen hören nicht auf die Stimme der Vernunft. Wie können sie also dazu bewegt werden, den Naturzustand zu verlassen? Während Hobbes sich nur das Problem stellt, wie Untertanen einer schon konstituierten Ordnung zum Gehorsam verpflichtet werden können, und auf jene tiefer greifende Frage nicht eingeht (er geht vielmehr von der Voraussetzung aus, die Menschen würden natürlich zum Verlassen des Naturzustandes neigen), thematisiert sie Rousseau ausdrücklich. Seine Antwort lautet: Es ist der Gesetzgeber, der mittels einer klugen Manipulation, nämlich des Rekurses auf Gott, die gewöhnlichen Menschen zum Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand bewegt. Somit gewinnt Religion eine zentrale Rolle schon bei der Entstehung des Staates, nicht nur bei dessen Erhaltung (wie bei Hobbes). Andererseits gilt das nur für das punktuelle Ereignis der Gründung eines Staates. Wie der Gesetzgeber zurücktritt, sobald er seine Aufgabe vollzogen und dem Gemeinwesen seine Gesetze gegeben hat, verliert die Religion ihre Bedeutung in einer wohlgeordneten Gesellschaft, in der die Bürger dank der erzieherischen Kraft guter Institutionen die Notwendigkeit und Wünschbarkeit derselben einsehen. b) Dementsprechend unterschiedlich ist daher die Rolle der Religion im 8. Kapitel des vierten Buchs, das den Titel „Von der bürgerlichen Religion“ trägt. Hier nimmt Rousseau eine Rekonstruktion der Rolle vor, welche die Religion in der Geschichte spielte. „Anfangs hatten die Menschen keine anderen Könige als die Götter und keine andere Regierung als die theokratische“, fängt Rousseau seine Analyse an (a. a. O., 380). Jeder Staat hatte seine Götter, so dass jeder politische Krieg gleichzeitig auch ein Religionskrieg war (a. a. O., 381). Mit Jesus fand die Trennung des theologischen vom politischen System statt, so dass der Staat aufhörte, einer zu sein, und es zu inneren Spaltungen kam, „die nie mehr aufgehört haben, die christlichen Völker zu erschüttern“ (a. a. O., 382). Bei diesem „Kampf zwischen den Gerichtsbarkeiten“ war man nie „endgültig sicher, ob man dem Herrn oder dem Priester den Gehorsam schuldig war“ (a. a. O., 383). Nachdem er Hobbes dafür gewürdigt hat, dass er mit seinem Vorschlag der Rückführung der religiösen unter die bürgerliche Macht „das Übel und dessen Gegenmittel richtig erkannt“ hat (a. a. O., 384),70 geht Rousseau zu einer systematischen Analyse der Thematik über und fragt sich, wieviel Arten von Religionen es gibt. Er unterscheidet drei: die Religion des Bürgers, die Religion des Menschen und die Priesterreligion. Die Religion der Bürger entspricht der heidnischen Religion, von der vorher die Rede war: Jedes Land hat seine Götter und seine Religion, die sich nur auf ein bestimmtes Volk erstreckt. Sie ist „insofern gut, als sie die Gottesverehrung mit der Liebe zu den Gesetzen vereinigt“ und stellt „eine Art Theokratie“ dar, in der es „keinen anderen Oberpriester [...] als den Fürsten“ gibt. Sie ist „dann schlecht, wenn sie [...] die Menschen betrügt, sie leichtgläubig und abergläubisch macht“, und vor allem dann schlecht, „wenn 70 Interessant ist, wie Rousseau sein Urteil über den englischen Philosophen abrundet: „Er mußte jedoch einsehen, dass die Herrschbegierde des Christentums mit seinem System unvereinbar war und dass das Interesse des Priesters stets stärker sein wird als jenes des Staates. Nicht so sehr das Abscheuliche und Falsche in seiner Politik, sondern das, was an Gerechtem und Wahrem in ihr ist, hat sie verhasst gemacht.“ (A. a. O., 384)

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sie mit dem Anspruch auf Ausschließlichkeit auftritt, tyrannisch wird und ein Volk blutdurstig und unduldsam [intolérant] macht“ und es in einen Kriegszustand mit allen anderen Völkern versetzt, die es für „ungläubig, fremd, barbarisch“ hält (a. a. O., 385)71. Die Religion des Menschen ist die des Evangeliums: Sie kennt „weder Tempel noch Altäre, noch Riten“ und beschränkt sich „auf die rein innerliche Verehrung des höchsten Wesens und auf die ewigen Pflichten der Moral“ (a. a. O., 384). Im Gegensatz zur Religion des Bürgers definiert sie alle Menschen als Brüder, „Kinder des einen und selben Gottes“. Aber darin besteht auch ihre Grenze: Sie schafft keine enge Verbindung zwischen dem Staat und den Bürgern, sondern entfernt sie davon „wie von allen irdischen Dingen“ (a. a. O., 386). Insofern ist der Begriff einer christlichen Republik widersprüchlich, denn „das Christentum predigt nur Knechtschaft und Abhängigkeit. [...] Die wahren Christen sind dazu geschaffen, Sklaven zu sein“ (a. a. O., 387). Nicht zufällig gibt es auch keine historischen Beispiele einer solchen Republik. Die Priesterreligion ist „offenkundig schlecht“, da sie „den Menschen zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter, zwei Vaterländer“ gibt, sie „einander widersprüchlichen Pflichten“ unterwirft und sie daran hindert, „zugleich fromm und Staatsbürger zu sein“ (a. a. O., 385). Beschrieben wird hier zwar ein allgemeiner Typus, aber gemeint ist offensichtlich der Katholizismus.72 Rousseau gibt jedoch seine Suche nach einer Art von Religion nicht auf, die dem Bürger „Liebe zu seinen Pflichten einflöße“ (a. a. O., 388). Er beschreibt daher eine vierte Religionsform, die Zivilreligion, als „ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzulegen dem Souverän zusteht“. Sie ist keine eigentliche Religion, sondern eher ein „Sinn für die Gemeinschaft, ohne den man unmöglich guter Bürger oder treuer Untertan sein kann“ (a. a. O., 389).73 Wie bei Hobbes ist es also der Souverän, der die Glaubensartikel festsetzt. Wohl bemerkt: der Souverän, nicht der Gesetzgeber, dessen Werk schon vollendet ist. Die Dogmen der Zivilreligion müssen „einfach, gering an Zahl, klar im Ausdruck“ sein: die Existenz Gottes, das zukünftige Leben, das Glück des Gerechten und die Bestrafung des Bösen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze. Es gibt auch ein negatives Dogma: Intoleranz ist ausgeschlossen. Aber gemeint ist nur die Intoleranz konkurrierender Religionen, denn der Souverän selbst darf mit den Ungläubigen nicht tolerant sein: Da die Zivilreligion im staatlichen Interesse errichtet wird, steht ihm zu, „jeden, der nicht daran glaubt, aus dem Staate“ zu verweisen, und zwar „nicht deshalb, weil er gottlos ist, sondern weil er sich 71 Beispiele solcher intoleranter Gemeinwesen gibt es auch in der Moderne, man denke nur an das shintoistische und imperialistische Japan der ersten Hälfte des 20. Jh.s (und noch in den 90er Jahren behauptete der damalige Ministerpräsident Mori, dass Japan eine göttliche Nation mit dem Kaiser in ihrer Mitte sei). 72 Um nur ein historisches Beispiel zu erwähnen: Nach der Eroberung des Großteils des Kirchenstaates 1860 und noch mehr nach der Eroberung Roms 1870 untersagte die Kirche den italienischen Katholiken jede Teilnahme am politischen Leben des neu entstandenen Königreiches Italiens und weigerte sich für Jahrzehnte, es anzuerkennen. 73 Rousseau sagt, dass die Artikel dieses Glaubenbekenntnisses keine Dogmen sein sollten, spricht jedoch einige Zeile später ausdrücklich von den „Dogmen der bürgerlichen Religion“ (a. a. O., 389).

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nicht in die Gesellschaft einfügen will“ (a. a. O.). Schlimmer trifft es jenen, der die Dogmen dieser Religion „öffentlich“ anerkannt hat und sich dann so verhält, „als wenn er nicht daran glaubt“. Er soll „mit dem Tode bestraft werden“, denn „er hat das größte aller Verbrechen begangen: er hat vor den Gesetzen gelogen“ (a. a. O.). Das ist nur konsequent, denn wenn religiöse Pflichten mit den bürgerlichen gleichgesetzt werden, ist jeder Verstoß gegen jene gleichzeitig ein Verstoß gegen diese, und der Ungläubige ein Asozialer oder ein Verbrecher. Dass er im letzten Fall den Tod verdient, ist allerdings nicht einzusehen. Einige Bemerkungen zu Rousseaus Zivilreligion: Auch hier, wie bei Hobbes, ist nur eine staatlich anerkannte Religion zulässig. Sie unterscheidet sich von der Religion des Bürgers dadurch, dass ihre Dogmen in allen Ländern gelten könnten: Nur die jeweiligen ‚heiligen‘ Gesetze hätten verschiedene Inhalte. Sie soll dem Erhalt der politischen Einheit dienen und gleichzeitig Intoleranz vermeiden. In der Tat weist sie ein hohes Maß an Intoleranz gegen ‚Ungläubige‘ auf; allerdings handelt es sich um eine politische, nicht religiös motivierte Intoleranz (Rehm 2000, 237): Nicht toleriert werden Meinungen und Verhalten, welche die soziale Einheit stören oder gar zerstören könnten. Die Gewissensfreiheit des Einzelnen rückt dabei in den Hintergrund: Er muss sich dem Willen des Souveräns beugen und die von ihm festgesetzten Dogmen zu seinen eigenen machen. Hat er bereits eine andere Religion, deren Dogmen mit denen der Zivilreligion nicht verträglich sind, muss er sie aufgeben. Eine von Rousseau nicht erwähnte Alternative wäre die, sich von der eigenen Religion öffentlich zu distanzieren, um sie privat weiter auszuüben, wie z. B. die Katholiken in Amsterdam ab 1578 oder die zwangsbekehrten Juden in Spanien und Portugal im XV. Jahrhundert. Damit übersieht Rousseau die Gefahr, dass die Entstehung einer staatlich verordneten Religion, der sich die Bürger anschließen sollen, wenn sie ihre Bürgerrechte, ja, ihren Bürgerstatus nicht verlieren wollen, die Menschen zur Heuchelei und zur äußerlichen Anpassung führt – zwei Charaktereigenschaften, die nicht gerade den Erhalt sozialer Einheit fördern. Es ist hingegen wahrscheinlich, dass Andersdenkende, mögen sie nun Anhänger anderer, verbotener Religionen oder einfach Atheisten sein, ihren Staat wegen der Beraubung der individuellen Gewissensfreiheit hassen werden. Somit würde Rousseaus Zivilreligion statt einer stärkeren Bindung der Bürger an den Staat genau das Gegenteil bewirken. Hier zeigen sich die Grenzen der instrumentellen Auffassung von Religion: Machiavelli, Hobbes und Rousseau sehen in der Religion nur ein Mittel zur Kontrolle und Lenkung der Menschen. Sie unterschätzen das „metaphysische“ Moment von Religion und reduzieren sie auf ihre ethischen Elemente. Aber Religion besteht nicht nur in einer Reihe von Geboten oder Verboten in Bezug auf Handlungen, in einem Kodex von Verhaltensregeln. Vielmehr sind bestimmte metaphysische Überzeugungen wesentlicher, wie z. B. die Unsterblichkeit der Seele, die Seelenwanderung, die Existenz von Himmel und Hölle, die Erlösung durch Christus oder die Erreichung des Nirwanas. Die Instrumentalisierung jener metaphysischen Überzeugungen, wie sie in Hobbes’ Religion des Souveräns oder in Rousseaus Zivilreligion stattfindet, würde für religiöse Menschen eine Verzerrung und ein Sakrileg bedeuten, die sie wahrscheinlich nicht hinnehmen würden, oder die sie zur Heuchelei und zum Hass gegen den Staat führen werden. Der Versuch der Erhaltung sozialer Einheit und der gleichzeitigen Bindung der Bürger an den Staat durch

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Errichtung einer instrumentellen Zivilreligion scheint somit zum Scheitern verurteilt zu sein. Wenn es jedoch nicht möglich ist, die Bürger an den Staat zu binden, scheint das gesamte Modell Rousseaus auf wackeligen Füssen zu stehen. Das im Contrat social vorgeschlagene Modell erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung auch aus anderen Gründen als schlichtweg unrealisierbar.

4.15. Das unrealisierbare Modell: Rousseaus idealer Staat zwischen Verklärung der Wirklichkeit und Utopie Rousseau ist sich der unumkehrbaren Entwicklung bewusst, die moderne Staaten erfahren haben: a) Sie sind erstens zu stark bevölkert und zu groß (die geographischen Bedingungen für eine gute Republik sind also nicht erfüllt); b) in ihnen herrscht zweitens eine allzu große wirtschaftliche Ungleichheit (die ökonomischen Bedingungen sind nicht erfüllt); c) die Menschen haben sich schließlich in ihr Privatleben zurückgezogen (sie sind – auch wegen des Einflusses durch das Christentum – keine richtigen Bürger mehr) und sind heillos verdorben (die moralischen Bedingungen sind nicht erfüllt). Wie Bertrand de Jouvenel zu Recht betont hat, bietet Rousseau im Gesellschaftsvertrag „no recipe for turning the government of a large and complex society into a democracy“ (Jouvenel 1961/62, 86). Zu a): Republikanische Institutionen (d. h. was Jouvenel „a democracy“ nennt) können nur in kleinen Staaten gedeihen, die zudem eine landwirtschaftliche Struktur behalten haben, denn die zwei mächtigsten Ursachen ziviler und moralischer Verdorbenheit sind nach Rousseaus Meinung der Handel und die Stadt. In der Stadt können die Menschen unmöglich sich selbst genügen: Sie entwickeln dort die unnatürlichsten Bedürfnisse (da sie auf die Meinung anderer auf möglichst starke Weise angewiesen sind) und hängen von den Mitmenschen viel mehr ab als die fast autarken Bauern.74 Der Handel ist insofern schlecht, als er unverdorbene Völker in Verbindung mit den verdorbenen bringt, und über den einfachen Austausch von in Überschuss produzierten Waren hinausgeht und zum Handel von Luxuswaren wird. Städte sind die Brutstätte von Ehrsucht, Luxus und Ungleichheit; der Handel ist das Hauptmittel, um diese drei Plagen zu verbreiten.75

74 Zur Frage der Urbanisierung bei Rousseau vgl. Jouvenel 1961/62, 87 f.; auch was die wirtschaftliche Meinung von Rousseau betrifft, muss man Jouvenel beipflichten, wenn er behauptet: „Rousseau never pretended to be interested in economic and social development.“ (A. a. O., 89) Im Gegensatz zu den fast zeitgenössischen Physiokraten war der ökonomische Fortschritt nie ein Thema für Rousseau: Wirtschaft interessiert ihn nur wegen ihrer Auswirkungen auf die menschliche Natur und den Charakter der Völker. 75 Wenn Rousseau ein versammeltes Volk darstellt, handelt es sich immer um Bauern. Im Gesellschaftsvertrag nennt er, wie gesehen, „eine Schar Bauern unter einer Eiche“ das „glücklichste Volk der Welt“ (CS IV, 1; 357). Und im Kapitel über die römischen Comitien preist er Rom wegen seiner Bevorzugung des Landlebens vor dem Stadtleben und sieht darin eine Ursache seiner Größe während der republikanischen Zeiten (CS IV, 4; 364 ff.). In der Nouvelle Héloise wird behauptet, dass der glücklichste Zustand jener der Bauern in einem freien Staat ist (V Teil, 2. Brief; OC, II, 536).

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Die Größe eines Staates beeinflusst zudem die innere Kohäsion und die Solidarität unter den Bürgern. Die optimale Grenze einer kleinen republikanischen Nation wird nämlich nach Rousseaus Meinung von unserer Fähigkeit zum Mitleid gezogen – eine Fähigkeit, die ziemlich begrenzt ist: Wir können Mitleid (pitié) nur für unsere Nächsten empfinden, nicht für entfernt lebende Menschen (OL, 186; vgl. Fetscher 1975, 42 und 75 ff.)76. Kleine Staaten stellen daher den Humus dar, auf dem Vaterlandsliebe, Zusammengehörigkeitsgefühl und Solidarität unter den Staatsbürgern blühen,77 während in großen Staaten, wo Anonymität und reziproke Unkenntnis herrschen, solche Gefühle kaum gedeihen können. Zu b): Über die herrschende Ungleichheit und ihre Unvermeidlichkeit wurde schon gesprochen (vgl. oben 4.8). Zu c): Noch folgenschwerer ist jedoch der letzte Aspekt: die Verdorbenheit der Menschen. Rousseau ist in dieser Hinsicht sehr pessimistisch und bestreitet, dass die meisten zeitgenössischen Völker wegen ihrer heillosen Verdorbenheit imstande seien, nach den im Contrat social dargelegten Prinzipien regiert zu werden (CS II, 10; 310).78 Außerdem ist Rousseau eine weitere Schwierigkeit bewusst, die sogar die Tätigkeit des Gesetzgebers selbst zum Scheitern führen könnte: „Damit ein Volk, das erst im Werden ist, die gesunden Maximen der Politik gutheißen, und den Grundregeln der Staatsräson folgen kann, wäre es erforderlich, dass die Wirkung zur Ursache würde; dass der Gemeinsinn, der die Frucht der Verfassung sein soll, die Verfassung selbst ins Werk setzte; dass die Menschen schon vor den Gesetzen das wären, was sie durch diese erst werden sollen.“ (CS II, 7; 303) Hier taucht der Teufelkreis auf, der die meisten Theorien über die Bürgertugenden kennzeichnet: Nur ein tugendhaftes Volk kann den Staat lieben und aufrechterhalten, der das Volk zur Tugend zu erziehen vermag (vgl. Blum 1986, 108 ff.). Die Lösung, die Rousseau anbietet, um den Kreis zu durchbrechen, ist eben der Rekurs auf die Religion, Im Emil erreicht die Polemik gegen die Stadt und zugunsten des Landes einen Höhepunkt: „Städte sind das Grab des Menschen. In wenigen Generationen sterben die Familien aus oder entarten. Man muss sie erneuern und diese Erneuerung kommt immer vom Land.“ (Em. 35) Und im Verfassungsprojekt für Korsika schreibt er: „Ein bäuerliches Volk darf nicht das Leben in den Städten ersehnen und das Los der Faulenzer, die sie bewohnen, beneiden.“ (PCC, 520) 76 Vgl. EP 241: „Es scheint, als ob das Gefühl der Menschlichkeit schwächer würde und verschwände, indem es sich auf der ganzen Erde ausbreitet, und dass wir von dem Unglück der Tataren oder Japaner weniger berührt werden könnten als von dem eines anderen europäischen Volkes. Man muss in gewisser Weise die Anteilnahme und das Mitleid begrenzen und verdichten, um ihr Wirksamkeit zu verleihen.“ Und auch Em. 12: „Man liebt nur die, mit denen man zusammenlebt.“ 77 „Durch die Kleinheit der Gemeinschaft und die Erziehung ihrer Glieder zur Vaterlandsliebe soll die Intensität des Zusammengehörigkeitsgefühls und all der sympathischen Gefühle, die aus der pitié sich entwickelt haben, erhöht werden.“ (Fetscher 1975, 77) 78 Schon im Vorwort zum Narcisse hatte Rousseau geschrieben: „Da ein lasterhaftes Volk niemals zur Tugend zurückkehrt, handelt es sich nicht darum, diejenigen gut zu machen, die es nicht mehr sind, sondern diejenigen so zu erhalten, die das Glück haben, noch gut zu sein. [...] Es geht nicht mehr darum, Völker dahin zu bringen, gut zu handeln, es gilt nur, sie davon abzuhalten, Übles zu tun.“ (PN, 161 f.)

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der jedoch kaum Wirkung haben könnte, wie schon gesehen (vgl. oben 4.14). Somit scheint das im Contrat social herausgearbeitete Modell einer gerechten Gesellschaft unter einer legitimen Rechtsordnung nicht realisierbar zu sein. Aber trotz des negativen Befundes glaubt Rousseau, die ideale politische Gemeinschaft sei in manchen Fällen möglich und habe sogar schon konkrete Gestalt angenommen, wie man seiner idealisierenden Beschreibung der Genfer Republik in der Widmung des zweiten Discours und seinem Verfassungsprojekt für Korsika entnehmen kann (das Verfassungsprojekt für Polen stellt einen besonderen Fall dar, wie wir sehen werden; vgl. unten 4.16). In der Widmung an die Genfer Republik, die Rousseau dem zweiten Discours vorangehen lässt, beschreibt er die ideale Republik dadurch, dass er seine Idealvorstellung über sie darstellt („Hätte es in meiner Macht gestanden, mir einen Geburtsort zu wählen ...“; DI, 41 ff.), und meint auch, das Ideale in Genf realisiert zu sehen (dabei irrte er sich gewaltig, wie er selbst später bitterlich wird erfahren müssen). Der ideale Staat sollte – wie schon gesehen – eine Größe haben, die „von den Grenzen der menschlichen Fähigkeiten, das heißt, von der Möglichkeit gut regiert zu werden, eingeschränkt“ ist. Die Bürger, welche die öffentlichen Ämter selbst ausüben, kennen sich alle einander, und die gegenseitige Kenntnis lenkt ihre Vaterlandsliebe „mehr auf die Bürger als auf das Land“ (DI, 41). Abweichend von Machiavellis Gedanken des notwendigen Expansionismus von Republiken und von dessen Idee, republikanische Institutionen könnten nur dort gedeihen, wo das Volk wegen der Rauheit der Natur und dem nicht zu milden Wetter gezwungen wird, fleißig, kräftig und widerstandsfähig zu werden, wünscht sich Rousseau ein friedliches Vaterland, „das durch einen glücklichen Mangel an Macht von der wilden Liebe zu Eroberungen abgehalten würde“ (DI, 43), und „eine bezaubernde Lage, ein gemäßigtes Klima, einen fruchtbaren Boden und die allerangenehmste Aussicht unter dem Himmel“ (DI, 45). Außerdem wünscht sich Rousseau, dass die republikanischen Institutionen seines Idealstaats uralt seien, und dass das Volk an die Freiheit gewöhnt sei, denn neue Republiken sind von der Unfähigkeit der Menschen gefährdet, die zum ersten Male gewonnene Freiheit nicht in „Zügellosigkeit“ enden zu lassen (DI, 43).79 Im idealen Staat zielen alle Bürger auf das Gemeinwohl ab – was nur dort möglich ist, „wo der Souverän und das Volk in einer einzigen Person vereinigt sind“, d. h. unter einer „gemäßigten demokratischen Regierung“80 (DI, 41 f.). In einem solchen Staat, „wo das Recht, Gesetze zu geben, allen Bürgern gemein“ ist (DI, 43), besteht Freiheit in der freiwilligen Unterwerfung gegenüber den demokratisch erlassenen (d. h. also selbstauferlegten) Gesetzen. Das hier von Rousseau vertretene Prinzip der Volkssouveränität kennt jedoch seine Grenzen am Prinzip der Gesetzesherrschaft. Nicht nur, dass sich im idealen Staat keiner über die Gesetze hinwegsetzen kann: „Um allen eigennützigen und schlecht 79 Rousseau echot hier Machiavelli: „Ein Volk, das gewohnt ist, Oberherren über sich zu haben, kann sie nicht mehr entbehren.“ (DI, 42) 80 Mit „gemäßigter demokratischer Regierung“ meint Rousseau nicht unbedingt eine Mischverfassung, sondern eine Form von Demokratie, die nicht rein ist (in der reinen Demokratie muss sich das Gemeinwohl den Privatinteressen oft biegen: vgl. oben 4.13).

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überlegten Projekten sowie allen gefährlichen Neuerungen [...] ein Ende zu machen“, ist es zudem notwendig, „dass nicht jeder die Macht haben sollte, nach seinem Gutdünken neue Gesetze vorzuschlagen. Dieses Recht müsste einzig und allein der Obrigkeit zukommen.“ (DI, 44) Sie soll mit jenem Recht behutsam umgehen, damit „die alte Verfassung“ nicht erschüttert wird. Die Privatpersonen ihrerseits sollen sich damit „begnügen, die Gesetze zu billigen, und in ihren Versammlungen über die wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten zu entscheiden, die ihnen die Obrigkeit vorgetragen“ hat (a. a. O.). Im idealen Staat finden keine Debatten und Diskussionen statt (vgl. oben 4.11). Das ist nicht das einzige ideale Modell, das uns Rousseau anbietet. Es gibt mindestens zwei weitere, die Elemente des Ersten besitzen. Das eine ist die Alpengemeinde der Montagnons, die er im Brief an d’Alembert erwähnt, das zweite ist Sparta, das in vielen Werken, beginnend mit dem ersten Discours, auftaucht.81 Das erste Modell basiert auf eine Jugenderinnerung Rousseaus, der „in der Gegend von Neufchâtel ein recht anmutiges und auf der Erde vielleicht einzigartiges Schauspiel“ sah: „einen Berg, ganz bedeckt mit Wohnhäusern, von denen jedes den Mittelpunkt der Ländereien bildet, die dazugehören, dergestalt, dass diese Häuser in einer Entfernung voneinander, die dem Vermögen ihrer Besitzer entspricht, den zahlreichen Bewohnern dieses Berges zugleich die Stille der Zurückgezogenheit und die Reize der Gesellschaft bieten. Diese glücklichen Bauern, alle wohlhabend, frei von Steuern, Abgaben, Staatsbeamten und Frondiensten, bauen mit aller nur denkbaren Sorgfalt das Land, dessen Frucht ihnen gehört, und brauchen die Muße, die diese Arbeit ihnen läßt, um tausend Hausarbeiten anzufertigen, um den erfinderischen Geist, den die Natur ihnen schenkte, nutzbar zu machen“ (LA, 394 f.). Die nicht nur glücklichen, sondern auch höchst erfinderischen Bauern zimmern ihre Möbel selbst zusammen und stellen „tausend verschiedene Instrumente“ und „sogar Taschenuhren, [...] Siphons, Magneten, Brillen, Pumpen, Barometer und Dunkelkammern“ her; sind darüber hinaus kultiviert, denn „sie haben nützliche Bücher und sind einigermaßen unterrichtet“. „Sie denken vernünftig über alles“, können alle „ein wenig zeichnen, malen, rechnen“ und musizieren – Künste, die ihnen von keinem Meister beigebracht werden, sondern „durch Tradition überliefert“. Kurz: Sie besitzen eine „erstaunliche Mischung von Bildung und Einfalt“ (LA, 395 f.).82 In diesem Modell eines Goldenen Zeitalters leben die Individuen in einer losen Gemeinschaft (die Dörfer bestehen aus weit voneinander liegenden Häusern). Sie verbringen ihr Leben vorwiegend im Schoß ihrer Familie – und zwar nicht einer patriarchalischen Großfamilie, sondern einer primären Familie, die nur aus den Eltern und den Kindern 81 Beide Utopien Rousseaus (Sparta und die Montagnons) sind der Gegenstand von Shklar 1985, 1 ff. Shklar weist auch auf den möglichen Einfluss von Fénélon hin (a. a. O., 4 ff.), den Rousseau hoch schätzte, und der in seinem Télémaque von zwei imaginären Ländern spricht, die beiden Utopien Rousseaus sehr nahe kommen: Salante (ein Modell organisierter Bürgertugend, das von einem vereinzelten Gesetzgeber geschafft wurde) und Bétique (eine ländliche Idylle, in der Individuen leben, deren Spontaneität der Künstlichkeit der zivilisierten Menschen entgegengesetzt wird). 82 Vgl. auch die alpine Gemeinde in Haut-Valais, die St. Preux in der Nouvelle Héloise besucht (I Teil, 23. Brief).

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besteht.83 Das ländliche Idyll jener bergischen Gemeinde besteht also aus einer Vielzahl privater bzw. familiärer Gemeinschaften, die jede für sich selbstgenügsam und selbstständig ist – in wirtschaftlichem, sozialem und emotionalem Sinn. Die primäre Familie stellt einen sicheren Hafen dar, in dem die Individuen frei von jeglichem Kontakt mit der Außenwelt ihr Glück genießen können. Derart ist das Modell sicher wenig geeinigt, der politischen Gemeinschaft zu dienen, die Rousseau in der Widmung zum zweiten Discours, im Gesellschaftsvertrag oder in anderen Werken entwirft. Wie Judith Shklar bemerkt: „The Golden Age is less pre-political than anti-political“ (Shklar 1985, 27),84 wie auch die Identifizierung des Glücks der Montagnons mit der Abwesenheit von belastenden staatlichen Instituten wie Steuern, Abgaben, Staatsbeamten usw. beweist. Was Sparta betrifft, taucht dieses Modell schon im ersten Discours auf (DSA 17), und zwar im Laufe der Polemik Rousseaus gegen Kunst und Wissenschaft. Im Gegensatz zu Athen, das in Rousseaus Lesart zwar „der Sitz der Höflichkeit und des guten Geschmacks, der Aufenthalt der Redner und Philosophen“ war, jedoch häufig von Tyrannen regiert wurde (a. a. O.), war Sparta der Sitz der Tugendhaftigkeit und der Tapferkeit. Die Stadt behielt immer ihre Freiheit, wurde nie vom Feind erobert, und ließ Asien erzittern (DSA, 24). Es ist nicht wichtig, ob Rousseaus Sparta-Bild (hier ebenso wie in anderen Werken, vom Brief an d’Alembert bis hin zum Gesellschaftsvertrag oder Emil) der historischen Wirklichkeit entspricht; wichtiger ist, dass in Rousseaus Augen Sparta (zusammen mit jenem Rom, nach dem sich Fabricius in der fiktiven Rede am Ende des ersten Teils zurücksehnt: DSA 19 f.) der Hort solcher Eigenschaften ist, welche die ideale Republik charakterisieren: bescheidene Größe und nicht allzu günstige geographische Lage (im Widerspruch zu dem, was Rousseau in der Vorrede zum zweiten Discours seiner Wahlheimat wünschen wird); Verschlossenheit gegenüber den Fremden; Abwesenheit von Handel, Reichtum und Luxus; entsprechende wirtschaftliche Gleichheit unter den Bürgern; Einfachheit der Sitten; öffentliche Erziehung; Hervorhebung von Disziplin und Selbstopferung als Haupteigenschaften der Bürger; klare Rollenverteilung zwischen 83 Rousseau wiederholt oft in seinen Werken (im Emil ebenso wie in der Nouvelle Héloise), dass das Endziel eines Mannes dasjenige sein sollte, ein Familienvater zu werden. 84 Im Versuch über den Ursprung der Sprachen bezeichnet Rousseau als Goldenes Zeitalter die „Zeiten der Barbarei“, die nicht deswegen glücklich waren, „weil die Menschen vereint waren, sondern weil sie voneinander getrennt lebten“ (OL 187). In derselben Schrift spricht er allerdings auch von einem glücklichen Zeitalter, das dem ‚Goldenen‘ der anderen Werke sehr ähnelt (a. a. O., 197): nicht nur, dass die Menschen nicht unter dem Druck der Zeit standen und sich einfachen Vergnügen wie Tanz und Gesang hingeben konnten; es gab auch keine Völker, „jede Familie genügte sich selbst und pflanzte sich allein durch ihr eigenes Blut fort“ (a. a. O., 198). Mit anderen Worten: Es herrschte jene Autarkie, die das Goldene Zeitalter auszeichnet. In dieser Schrift scheint Rousseau auch von einer Auffassung der ursprünglichen Natur der Menschen auszugehen, die derjenigen Hobbes’ ziemlich nahe ist: „Keinerlei gemeinsame Vorstellung von Brüderlichkeit verband [die Menschen] miteinander, und da sie als einziges Richtmaß nur die Körperkraft besaßen, wähnten sie, jeder sei der Feind des anderen. Ihre Schwäche und ihre Unwissenheit gaben ihnen diese Meinung ein. Da sie nichts kannten, fürchteten sie alles und griffen an, um sich zu verteidigen. Ein einzelner Mensch, der, allein, auf der Erde der ganzen Gattung preisgegeben ist, musste ein wildes Tier sein [z. B. ein Wolf ... – A. P.]“ (a. a. O., 186).

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Frauen und Männern; Vernachlässigung von Gelehrsamkeit, Philosophie, Kunst und Wissenschaft; Durchführung öffentlicher Feste und Spiele, die das Zusammengehörigkeitsgefühl der Staatsbürger stärken; aktive politische Partizipation; Zentralisierung des Militärlebens. Eben letzter Aspekt kennzeichnet Rousseaus Auffassung von Tugendhaftigkeit im ersten Discours.85 Judith Shklar hat sehr klar die Gründe zum Ausdruck gebracht, die das Militärleben für Rousseau so wichtig machten: „The military life is the most perfect model of public service. Here, as in no other form of social endeavor, the individual loses his personal identity and becomes a part of a purposive social unit. Here alone the group absorbs all his resources, emotional as well as physical.“ (Shklar 1985, 15) Aber seine Bewunderung für die antike Militärtugend führt Rousseau, anders als Machiavelli, nicht dazu, Eroberung und Erweiterung (die beiden Hauptziele klassischer Militärpolitik) als notwendige Gegenstände republikanischer Politik zu betrachten. „Die Begierde nach Eroberung“ hält er hingegen für „eine der auffallendsten und zugleich gefährlichsten Ursachen“ der Zunahme der unnötigen Bedürfnisse eines Staates. Solche Begierde wird „oft durch einen ganz anderen Ehrgeiz erzeugt“ als dem, den sie vorgibt; ihr wahrer Beweggrund ist nämlich „nicht so sehr die scheinbare Begierde, die Nation zu vergrößern, als die verborgene Begierde der Oberhäupter, ihre Autorität innerhalb des Landes mit Hilfe der Vermehrung der Truppen zu vergrößern und sich die Ablenkung, welche die Gegenstände des Krieges im Geiste der Bürger hervorrufen, zunutze zu machen“ (EP, 254 f.). Den Krieg sieht Rousseau somit als ein Instrument der herrschenden Klasse an, die eigene Machtstellung zu befestigen; und den Drang nach Eroberung und Erweiterung setzt er mit den unnatürlichen Bedürfnissen gleich, die das Leben der Individuen unglücklich machen. Militärische Disziplin ist daher zwar ein Mittel zum Zweck; Letzterer besteht jedoch in der individuellen Selbsthemmung und in der Unterdrückung der negativen egoistischen Kräfte der Individuen (Privatinteressen, Leidenschaften, geistige Unabhängigkeit), nicht im staatlichen Expansionismus. Rousseau preist die Tugenden des militärischen Lebens, lehnt jedoch den Krieg ab, welcher der eigentliche Zweck dieses Lebens ist. Hier taucht das Dilemma, dem Rousseau gegenüber steht, in aller Eindeutigkeit auf: Wenn der Mensch sein Glück nur als isoliertes Wesen kennt, wie kann er es im Rahmen einer Gemeinschaft erreichen, die seine Individualität absorbiert und letztlich negiert? Mit anderen Worten: Wie lässt sich die Kluft zwischen dem autarken, selbstgenügsamen Individuum und der alles durchdringenden, jegliche Individualität verhindernden Gemeinschaft schließen? Von Rousseaus Ausgangspunkt her ist es nicht einzusehen, wie das gemeinschaftliche Leben eine ernste Alternative zum glücklichen Leben der vereinzelten natürlichen Menschen darstellen kann, das unwiderrufbar verloren ist (vgl. Esposito 1998, 45 ff.). Um die Utopie des gemeinschaftlichen Lebens konsequent vorzustellen, hätte Rousseau zum gleichen Schluss wie Machiavelli kommen und militärische Eroberung als das notwendige Ziel republikanischer Politik und individueller Tugendhaftigkeit bezeichnen müssen. Das Modell von Sparta hätte Rousseau mit allen seinen Folgen

85 „Throughout the First Discourse there is little discussion of any virtues other than military valor and endurance, and success in battle.“ (Shklar 1985, 14)

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(Expansionismus, Aufhebung der Privatsphäre und Zurückdrängung der Familie zugunsten des Gemeinwesens) akzeptieren sollen. Nur dann würde der Bürger seine privaten Interessen und Lebensziele mit denen der Republik wirklich identifizieren können. Rousseau aber träumt von einer friedlichen, in sich selbst ruhenden Gemeinschaft, die zwar die eiserne Militärdisziplin Spartas kennt, deren Einwohner jedoch wie die Montagnons ein ruhiges Leben in ihrer isolierten Familie verbringen. Ein solches Modell familiären Glücks steht dem martialischen Modell Spartas diametral entgegen und lässt sich damit keineswegs vereinbaren. In den zwei Modellen, die uns Rousseau anbietet, taucht der widersprüchliche Charakter seiner Utopie des idealen Staates auf. Diese Utopie versucht nämlich, zwei entgegensetzte Wege zum individuellen Glück miteinander in Einklang zu bringen: das private Glück der Kleinfamilie und das Zusammengehörigkeitsgefühl der organischen politischen Gemeinschaft, in der alle Individuen nur als deren Mitglieder existieren. Die Spannung zwischen beiden Alternativen kennzeichnet nicht nur Rousseaus Position, sondern all jene Theorien – vom klassischen Republikanismus bis hin zum gegenwärtigen Kommunitarismus –, die meinen, das individuelle Glück könne nur innerhalb einer überschaubaren, stark profilierten, sittlich integren und in ihren Grundsätzen unveränderlichen Gemeinschaft realisiert werden. Die Bedürfnisse einer solchen Gemeinschaft stehen nämlich oft im Widerspruch zu denjenigen der Individuen, die in ihr leben. Der Preis für das vermeintliche Glück ist dann die Anpassung an vorgegebene Lebensmodelle: eine sittliche Tyrannei der Tradition oder der Mehrheit (vgl. unten 4.20). Diese Folge tritt besonders in den beiden Verfassungsprojekten ans Licht, die Rousseau für Korsika und Polen entwarf.

4.16. Die zwei Verfassungsprojekte Die zwei Verfassungsprojekte stellen den Versuch Rousseaus dar, die eigene politische Theorie in der Praxis konkret existierender Gesellschaften anzuwenden (vgl. dazu Dent 1988, 223 ff.). Wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 4.8), vertritt Rousseau sowohl in der Abhandlung über die politische Ökonomie als auch im Brief an d’Alembert die Idee, dass der Staat einen direkten Einfluss auf die Bürger ausüben kann, um sie moralisch zu verbessern – eine Idee, die er 1751 in seiner Replik auf Stanislaw Leczinskis Kritik an der ersten Discours noch bestritten hatte („Man hat [...] noch niemals ein verdorbenes Volk zur Tugend zurückkehren sehen“; Obs., 91). Später übernimmt Rousseau die erste pessimistische Einstellung wieder und bezeichnet im Contrat social die Korsen als das einzige noch nicht verdorbene und daher republikanischer Institutionen würdige Volk Europas. Korsika kämpfte seit 1729 gegen Genua für die Unabhängigkeit; 1755 hatte Pasquale Paoli die Regierung der Insel übernommen und eine weitgehende institutionelle Reform begonnen. Im August 1764 bat Matteo Buttafuoco, Hauptmann der korsischen Armee, Rousseau, dessen Gesellschaftsvertrag er gerade gelesen hatte, um eine Verfassung für die korsische Republik. Buttafuoco ist auch die Hauptquelle der von Rousseau in seinem Projekt zitierten Daten über die Insel, ihre Bevölkerung und deren Wirtschaft. Aus dem

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Verfassungsprojekt wurde nichts: 1768 trat Genua Korsika an Frankreich ab, und im Frühling 1769 eroberte eine französische Armee die Insel, während sich Paoli in die Toskana absetzte.86 Im Verfassungsprojekt für Korsika passt Rousseau sein Idealbild einer Republik der konkreten Wirklichkeit eines Landes an. Korsika scheint alle Bedingungen zu erfüllen, die zur Errichtung einer Republik notwendig sind. Zunächst die geographischen: Sie ist wegen ihrer Lage und relativen Armut vor Eroberungsversuchen durch fremde Mächte geschützt; ihre Isoliertheit schützt zudem das korsische Volk vor den negativen Einflüssen fremder, korrupter Völker. Dazu kommen die wirtschaftlichen Bedingungen: Die Korsen sind ein armes Volk, ihre Lebensart ist sehr bescheiden. Sie widmen sich vorwiegend der Viehzucht, nur wenig der Landwirtschaft, keineswegs dem Handel – was wiederum das Risiko schädlicher Kontakte mit anderen Völkern auf ein Minimum reduziert. Obwohl sie niemals einen unabhängigen Staat formierten, haben sie auch nie unter den negativen Konsequenzen des Despotismus gelitten. Sie können also leicht zur Freiheit (d. h. zur richtigen Ausübung derselben) erzogen werden: „Das korsische Volk [...] kann vom Ursprung aus beginnen und Vorsorge treffen, dass es nicht entarte.“ (PCC, 509) Rousseau drückt dabei einen Gedanken explizit aus, den er von Montesquieu übernimmt, und auf den er nie verzichten wird: „Jedes Volk besitzt einen Nationalcharakter oder es sollte ihn besitzen, und fehlte er ihm, so müsste man damit beginnen, ihm einen solchen zu verleihen.“ (PCC, 522) Daher übernimmt Rousseau in dieser Schrift die Rolle und die Aufgaben des Gesetzgebers des Contrat social: Er will nicht nur den Korsen gute Institutionen geben, sondern ihren Nationalcharakter formen – m. a. W.: ihre Natur so verändern, dass es am Ende in Korsika keine Individuen mehr, sondern nur noch Korsen gibt. Was Rousseau den Korsen empfiehlt, ist die Errichtung eines autarken Staates („Keiner, der von einem anderen abhängt und seine Hilfsmittel nicht aus sich selbst schöpft, kann frei sein“, PCC 512), der auf Landwirtschaft und Handwerk basiert („Das einzige Mittel, einen Staat unabhängig von anderen zu erhalten, ist der Ackerbau“, PCC, 51487), und in dem es so gut wie kein Geld gibt (PCC 530 f.). Das Privateigentum untersteht dort starken Einschränkungen durch den Staat, besonders für den Fall, dass sich die Bürger den rigiden Maßnahmen zu entziehen versuchen, welche die Gesellschaft so gut wie unveränderlich machen sollten (Rousseau erwähnt dabei explizit den Fall, in dem ein Staatsbürger eine Ausländerin heiraten oder den eigenen Wohnsitz vom Geburtsort in eine andere korsische Stadt verlegen möchte). Besonders streng sind die Gesetze, welche die Staatsbürgerschaft regeln. Rousseau sieht eine mehrstufige Staatsbürgerschaft mit drei unterschiedlichen Klassen vor: Kandidaten, Patrioten und Bürger. Um von einer Klasse zur nächsten überzugehen, muss das Individuum nicht nur ein Bodenbesitzer sein, sondern auch heiraten („Ein jeder Kandidat, welcher dem Gesetz nach verehelicht ist und über eigenen Grund und Boden verfügt [...], 86 1790 sollte er auf Einladung der revolutionären Regierung nach Korsika zurückkehren, um später, während des Terrors, die Abspaltung von Frankreich und die zeitweilige Annexion durch das britische Königreich durchzusetzen. 87 Und weiter: „Der Handel erzeugt den Reichtum, doch der Ackerbau sichert die Freiheit.“ (A. a. O.)

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wird in die Klasse der Patrioten eingeschrieben werden“, PCC, 529) und eine kinderreiche Ehe haben („Ein jeder Patriot, welcher verehelicht ist oder Witwer und zwei lebende Kinder vorweisen kann, sowie eine eigene Wohnung und einen zu seiner Erhaltung ausreichenden Besitz an Boden, wird in die Klasse der Bürger aufgenommen“, a. a. O.). Dass Ehe und Familiengründung ein zentrales Moment in Rousseaus Versuch bilden, die Korsen in optimale Bürger zu verwandeln, zeigt auch eine andere von ihm eingeführte Bestimmung: Wer mit 40 Jahren noch nicht verheiratet ist, „wird auf Lebenszeit vom Bürgerrecht ausgeschlossen“ (PCC, 552). Und dass Rousseau nicht nur gesellschaftliche Mobilität (vgl. oben 4.8), sondern auch geographische Mobilität als eine Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft ansieht, beweist eine weitere strenge Bestimmung: „Ein jeder, der seinen Wohnort wechselt und sich von einem Landkreis in einen anderen begibt, verliert sein Bürgerrecht auf drei Jahre“ und bekommt es zurück, nur wenn er „eine Gebühr entrichtet“ (a. a. O.). Man muss „die Menschen gewissermaßen an die Scholle“ fesseln (PCC, 528), damit ihre Bindung zum Vaterland und zum Gemeinwohl stärker wird.88 Der ideale korsische Staat Rousseaus scheint zudem weniger autark zu sein, als vielmehr unter einer regelrechten Phobie gegen das Ausland zu leiden: Ausländer dürfen die korsische Staatsbürgerschaft nicht annehmen; nur alle 50 (!) Jahre darf einem einzelnen, besonders verdienstvollen Ausländer diese Ehre zugeteilt werden (PCC, 552). Aus dem Ausland kommt übrigens jedes Übel, wie unserer Autor schon im Vorwort zu „Narcisse“ geschrieben hatte („Alles, was den Austausch zwischen den verschiedenen Nationen erleichtert, trägt nicht zu den einen die Tugenden der anderen, sondern ihre Verbrechen, und verändert bei allen die Sitten, welche ihrem Klima und der Beschaffenheit ihrer Regierung angemessen sind“; PN, 153 Fn), und wie das Beispiel der Schweiz zeigt, das hier Rousseau noch einmal anführt. So wie bei den anderen Gelegenheiten, in denen er darauf rekurriert hatte (Widmung des zweiten Discours, Gesellschaftsvertrag, Brief an d’Alembert usw.), mythisiert Rousseau sein Vaterland bzw. dessen Vergangenheit. Das Schweizer Volk – so wird uns im Verfassungsprojekt erzählt – war arm, aber bedürfnislos, lebte in vollkommener Unabhängigkeit, vermehrte sich in Frieden und großer Eintracht, und „besaß keine Tugenden, da es keine Laster zu überwinden gab“ (PCC, 524). Was uns Rousseau hier beschreibt, ist weniger die historische Wirklichkeit der alten Schweiz, als vielmehr ein Zustand, in dem die Individuen wie Naturmenschen lebten: ohne Tugenden, aber auch ohne Laster. Aber die paradiesischen Zustände dauern nicht lang an, das Idyll wird zerstört – und zwar durch die ‚bösen‘ Ausländer: „Doch indem diese bäuerlichen Menschen, die anfangs von nichts Kenntnis hatten als von sich selbst, von ihren Bergen und ihrer Viehherden, sich gegen die anderen Völker zur Wehr setzten, lernten sie diese kennen“, und der Umgang mit den anderen Völkern lehrte sie, „zu lieben, was sie hätten fürchten sollen, und zu bewundern, was sie hätten verachten sollen“, bis das schweizerische Volk entartete (PCC, 525 f.). Die Korsen sollten aus die-

88 „Rousseau makes his view clear that the best social order is the one which attaches men most closely to the land and is least vulnerable to change. He also argues that the social order which encourages social mobility is not a desirable one:“ (Viroli 1988, 202)

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sem Beispiel „bedeutsame Lehren“ ziehen (PCC, 526),89 um die Fehler der Schweizer nicht zu wiederholen. Sie müssen sich vor dem Umgang mit den Fremden hüten und den Handel mit dem Ausland so gut wie einstellen.90 Der Gesetzgeber Rousseau will den Korsen vor allem dank seiner manipulatorischen Strategie helfen, die darin besteht, die erforderlichen Einrichtungen (Gesetze und Institutionen) so zu stiften, dass sich die Individuen verwandeln, ohne es zu merken: „Ich werde ihnen keine Moral predigen, ich werde sie nicht anweisen, tugendhaft zu sein, doch ich werde sie in eine Lage versetzen, die so ist, dass sie Tugenden haben werden, ohne das Wort dafür zu kennen, und dass sie gut und gerecht sein werden, ohne eigentlich zu wissen, was Gerechtigkeit und Güte sind.“ (PCC 559) Das ist nur durch eine manipulierende Erziehung des Volkes möglich, das sich an eine bestimmte Haltung so gewöhnen muss, dass diese zu seiner zweiten Natur wird: „Man muss das Volk mit der Ausübung dieses Systems vertraut machen, es lehren, die Betätigung zu lieben, die wir ihm verschaffen wollen, seine Lust darauf zu richten, seine Wünsche, seine Neigungen, kurz, sein ganzes Lebensglück in ihr zu finden und die Ziele seines Ehrgeizes in ihr zu erschöpfen.“ (PCC, 528; kursiv – A. P.) Statt dass ihnen der Staat Verpflichtungen auferlegt, sollen die Individuen das eigene Glück mit jenen Tätigkeiten identifizieren, die zum Gemeinwohl beitragen. Das Volk ist wie ein Kind, dessen Neigungen, Wünsche und Charaktereigenschaften vom Erzieher/Gesetzgeber geschickt manipuliert und verändert werden, bis dieser seine Ziele (die Schaffung eines neuen Nationalcharakters und die Verwandlung der individuellen Natur der Bürger) erreicht. 1770 kam der polnische Graf Michel Wielhorski nach Paris, um politische Hilfe und theoretische Ratschläge zu erbitten. Erstere bekam er nicht von der französischen Krone, Letztere jedoch bekam er reichlich, darunter auch von Rousseau. Sein Beitrag waren die Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform. Im Unterschied zum Verfassungsprojekt für Korsika hat Rousseau es hier nicht mit einem „unberührten“ Volk zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, deren feudale Struktur so verwurzelt ist, dass sogar unser radikaler Denker nicht versucht, sie auszurotten. Hier handelt es sich weniger darum, ein Volk fast neu zu formen, als vielmehr darum, eine Gesellschaft zu reformieren und erst durch diese Reform zu einer Verwandlung des Nationalcharakters der Polen zu gelangen. Außerdem findet Rousseau hier jene alten Institutionen vor, die nach seiner Meinung ein Merkmal idealer Gesellschaften bilden: Die Reform darf daher nicht allzu radikal sein, wenn man nicht will, dass die Bürger den Respekt vor ihr schlechthin verlieren. Die von Rousseau entworfene Staatsreform schafft daher das feudale System Polens nicht ab. Hauptziel Rousseaus ist auch hier ein landwirtschaftlicher, autarker Staat, in dem Geld „verachtenswert“ ist (CGP, 617), auch wenn das in Armut für das Land münden sollte, denn letztlich sind „die reichen Völker [...] stets von den armen Völkern geschla89 Zu den Sachen, welche die Korsen von den Schweizern übernehmen sollen, kann man auch den Eid zählen, den die Korsen „unter freien Himmel“ sprechen sollen (PCC, 554), und der auf den RütliSchwur hinweist. 90 Ich möchte darauf hinweisen, dass das lateinische Wort commercium sowohl den Handel als auch den Umgang mit anderen Menschen bezeichnet.

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gen und erobert worden“ (CGP, 618). Außerdem plädiert Rousseau für einen allgemeinen Wehrdienst und lehnt die Idee einer Berufsarmee ab („Jeder Bürger soll Soldat aus Pflicht sein, keiner als Gewerbe“, CGP, 627). Den Polen empfiehlt Rousseau schließlich wie früher den Korsen, jeglichen Kontakt mit dem Ausland möglichst zu reduzieren, und sich auf die eigenen nationalen Eigenschaften wieder zu besinnen, da „die nationalen Einrichtungen es sind, welche den Geist, den Charakter, die Neigungen und die Sitten eines Volkes formen, welche es zu dem, was es ist, und nichts anderem machen“ (CGP, 572). Wie schon im Emil (Em., 13; vgl. oben 4.12) beklagt Rousseau das Verschwinden der nationalen Unterschiede in Europa: „Es gibt heutzutage, was immer man auch sagen mag, keine Franzosen, keine Deutschen, keine Spanier, selbst keine Engländer mehr, es gibt nur noch Europäer. Alle haben den gleichen Geschmack, die gleichen Leidenschaften, die gleichen Sitten, weil keiner eine nationale Gestalt durch eine besondere Einrichtung erhalten hat“ (CGP, 572). Rousseau sieht daher eine der Hauptaufgaben der Reform darin, den Seelen der Polen „nationale Züge“ zu geben, „die sie von anderen Völkern unterscheiden werden, die sie hindern, sich mit ihnen zu vermengen“ (a. a. O.). Man muss „den Polen eine große Meinung von sich selbst und von ihrem Vaterlande“ einflößen (CGP, 573), die „alten Gebräuche“ bewahren und neu beleben, und „neben diesen geeignete Bräuche einführen, welche den Polen gemäß sind“ – mögen jene Gebräuche auch „an sich unbedeutend“ oder gar „schlecht“ sein: Sie „werden stets den Vorteil gewähren, die Polen mit Zuneigung zu ihrem Vaterland zu erfüllen und ihnen einen natürlichen Widerwillen gegen die Vermischung mit dem Fremden beizubringen“ (CGP, 574). Ein Hauptmittel, um diese Ziele zu erreichen, ist die öffentliche Erziehung der Jugend, auf die noch zurückzukommen sein wird (vgl. unten 4.19). Hauptziel solcher Erziehung ist es natürlich nicht, gute Menschen zu formen (wie im Emil), sondern gute Patrioten. Judith Shklar betont zu Recht: „In Poland the choice between man and citizen is to be clearcut. A young Polish adult is not a man, he is a Pole.“ (Shklar 1985, 15) Dass dies Misstrauen, eventuell Verachtung und Hass gegen die Ausländer (oder das Fremde, „l’étranger“, wie Rousseau mit einem bedeutungsschweren Singular sagt) mit sich bringt, scheint Rousseau keineswegs Sorge zu bereiten – im Gegenteil: Der gute Staatsbürger, der Patriot, soll „einen natürlichen Widerwillen“ gegen das Fremde spüren, damit er sich nur dem gemeinschaftlichen Leben widmen kann, in dem allein er sein Glück finden kann. Jouvenel hat halbwegs ironisch bemerkt, dass alle Ratschläge, die Rousseau den Polen gibt, denjenigen widersprechen, die heutzutage von internationalen Organisationen den sog. Entwicklungsländern gegeben werden (Jouvenel 1961/62, 93). Rousseau empfiehlt nämlich: Politische Dezentralisierung statt Vereinigung unter einer zentralen Autorität, eingeschränktes statt allgemeines Wahlrecht, Kultivierung der nationalen Eigenschaften statt Übernahme internationaler bzw. globaler Werte und Sitten (Rousseaus Wut richtete sich gegen den Einfluss von Frankreich und anderer westeuropäischer Länder, heute würde er vielleicht seine Kritik gegen den westlichen Kulturimperialismus und die „McDonaldisierung“ der Welt richten: vgl. Barber 1995/2001), Autarkie statt internationaler Handel, Landleben statt Urbanisierung, selbstständige Kleinhöfe statt marktorientierte landwirtschaftliche Unternehmen, Frondienst (corvées) statt Steuer, handwerkliche

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Selbstständigkeit der Individuen statt Industrialisierung und Massenwarenproduktion, öffentliche statt private Erziehung, religiöse Intoleranz statt religiöse Toleranz. Rousseaus Gesellschaft besitzt eine eigene Persönlichkeit, die durch besondere nationale Einrichtungen und Sitten aufrechterhalten wird. Sie muss über eine nationale Philosophie verfügen, die mit anderen Gesellschaften nicht teilbar ist. Daher verwirft Rousseau sowohl die universalistische Philosophie der Aufklärer als auch die Wissenschaften, da beide allgemeiner Natur sind, und darauf abzielen, Vorurteile und den partikularen Glauben zu zerstören, welche eine gesunde (da geschlossene) Gesellschaft zusammenhalten. Rousseaus Gesellschaft basiert paradoxerweise auf der ansonsten so verpönten opinion, auf der Meinung: „Da Wissenschaft (und die Philosophie der Aufklärer) Meinung durch Kenntnis ersetzen will, bedroht sie die Basis der Gesellschaft: Jedes Volk, welches Sitten hat und folglich seine Gesetze achtet und die alten Gebräuche nicht verfeinern möchte, muss sich sorgfältig vor den Wissenschaften hüten und vor allem vor den Gelehrten, deren eingängige und dogmatische Grundsätze sie bald lehren werden, ihre Gebräuche und ihre Gesetze zu verachten, und dies kann eine Nation nicht tun, ohne sich zu verderben.“ (PN 160) Daher preist Rousseau das Unwissen – allerdings nicht das des Sokrates, das Bewusstsein der eigenen Unkenntnis ist,91 sondern das Unwissen der einfachen Schäfer des Goldenen Zeitalters. „Die Wissenschaft ist nicht für den Menschen im allgemeinen gemacht. [...] Er ist geboren zum Handeln und Denken, nicht aber zum Nachdenken.“ (PN, 159). Die Wissenschaft fördert außerdem die individuellen Begabungen und daher die Ungleichheit unter den Individuen.92 Sie bedroht somit jene „Mittelmäßigkeit der Begabungen“, die schon nach Montesquieus Meinung einer der Hauptbedingungen der Republik darstellt (Montesquieu 1992, I 64). Die Philosophie stellt eine Gefährdung der Gesellschaft dar, denn sie lehrt, die Menschen objektiv zu schätzen, während die Vaterlandsliebe von den Bürgern erfordert, dass sie blind, irrational und unwissend über das Vaterland und die Mitbürger urteilen: „Der Geschmack an der Philosophie lockert alle Bande der Achtung und des Wohlwollens, welche die Menschen an die Gesellschaft binden. [...] Dadurch, dass der Philosoph über die Menschheit nachdenkt, dadurch, dass er die Menschen beobachtet, lehrt er, sie nach

91 Was Sokrates’ Unwissen und dessen Interpretation zu Rousseaus Zeiten betrifft, lohnt es sich vielleicht, die Ansprache eines deutschen Gelehrten, die Rousseau im Vorwort zu Narcisse zitiert, zu berücksichtigen („Meine Brüder, wenn Sokrates zu uns zurückkehren würde und den blühenden Zustand sähe, in welchem sich die Wissenschaften in Europa, was sage ich in Europa: in Deutschland, was sage ich in Deutschland: in Sachsen, was sage ich in Sachsen: in Leipzig, was sage ich in Leipzig: an dieser Universität befinden, so würde Sokrates, von Staunen ergriffen und von Respekt durchdrungen, sich bescheiden unter unsere Schüler setzen, ergeben unsere Lektionen empfangen und bald mit uns jene Unwissenheit verlieren, die er so sehr zu Recht beklagt hat.“ PN, 147 Fn) 92 Vgl. PN 154: „In einem wohlverfaßten Staat hat jeder Bürger seine Pflichten zu erfüllen, und seine wichtigen Aufgaben sind ihm zu kostbar, um ihm die Muße zu leichtfertigen Spekulationen zu lassen. In einem wohlverfaßten Staat sind die Bürger so sehr einander gleich, dass keiner den anderen als der gelehrteste und nicht einmal als der geschickteste, wohl aber als der beste vorgezogen werden kann.“

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ihrem Wert zu schätzen, und es ist schwer, Zuneigung für das zu empfinden, was man verachtet. [...] Die Familie und das Vaterland werden für ihn sinnleere Worte; er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph.“ (PN, 156) Vaterlandsliebe fordert Unwissen, sowohl in Bezug auf die Fremde als auch im Allgemeinen. Richard Dagger hat dazu angemerkt: „The person whose identity is so closely bound to the community that he or she is virtually incapable of questioning or challenging the community’s norms [...] is someone whose rational faculties are stunted.“ (Dagger 1997, 51) Und weiter: „The stronger the sense of community, [...] the less likely it is that anyone within it will challenge its norms“ (a. a. O., 52). Das ist das Problem, vor dem alle Denker stehen, die – von Rousseau bis zu den Kommunitaristen – die Verbindung der Individuen zur Gemeinschaft möglichst stärken wollen. Das könnte dazu führen, dass die „starke“ Gemeinschaft relativ „dumme“ Menschen, d. h. Individuen ohne kritischen Sinn und ohne individuelle Autonomie, hervorbringt. Es scheint daher, dass aus der Perspektive des Staatbürgers (nicht also aus der von Emil oder von Jean-Jacques) die „Dummheit“ eine Voraussetzung für das individuelle Glück ist. Kritische Haltung, Hinterfragung, Debatte (auch in politischen Versammlungen) sind hingegen höchst unerwünscht. Ob das tatsächlich zu der von Rousseau erhofften, einfältigen, dafür vollständigen Identifizierung der Individuen mit der Gemeinschaft und zu einer bedingungslosen Vaterlandsliebe führt, und nicht vielmehr den Weg für opportunistische Anpassung öffnet, wird noch zu sehen sein (vgl. unten 4.20). Vorläufig kann man schließen, dass Rousseaus Denken zwar nicht totalitär in seinem Wesen ist, aber die daraus resultierenden politischen Utopien wohl schon.

4.17. Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (I): Der Einfluss von Montesquieu In Bezug auf Rousseaus Staatsbegriff schreibt Cassirer: „Der Staat hat ein eigenes Telos, nämlich die Schaffung rechter Bürger.“ (Cassirer 1989, 28 f.) Eine ähnliche Position vertritt Robert Derathé: Der Staat ist nicht dazu da, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, wie Locke und Pufendorf meinten, sondern „il devient chez Rousseau la condition essentielle du développement intellectuel et moral de l’homme“ (Derathé 1970, 377). Derathé erweitert jedoch das Urteil Cassirers um die Dimension der intellektuellen und moralischen Entwicklung: Der Staat will danach nicht nur rechte Bürger schaffen, sondern auch moralisch gute Menschen. Beide Positionen scheinen mir nur zum Teil richtig zu sein. Rousseaus Bürger brauchen nicht moralisch gute Menschen zu sein. Der wahre Patriot (d. h. der Einwohner des idealen Staates) ist kein guter Mensch: Er liebt nur die Mitbürger und hält nichts von den Ausländern; er kann sie sogar hassen, falls das für die Verteidigung des eigenen Vaterlandes notwendig ist. Er entwickelt andererseits seine moralische Persönlichkeit dadurch, dass er im Staat die eigene Freiheit vollkommen entfalten und sich mit dem Staat identifizieren kann. Und das macht ihn glücklich. Rousseaus Gesetzgeber zielt nicht darauf ab, durch die Einführung angemessener Institutionen und durch die Benutzung manipulierender Mittel ein Volk von un-

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bescholtenen Individuen zu schaffen (wie der Kantianer Cassirer denkt): Er will glückliche Staatsbürger schaffen. Das ist das wahre Telos des Staates. Der Zweck der staatlichen Erziehung der Individuen ist also weniger, aus ihnen redliche Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, sondern vielmehr glückliche Staatsbürger zu machen – m. a. W.: Patrioten. Die Tugendhaftigkeit der Staatsbürger rückt somit zwar ins Zentrum von Rousseaus politischem Denken (das wird nicht nur eindeutig in beiden Verfassungsprojekten bestätigt, sondern ist auch eine der Hauptfolgen der Staatstheorie, die Rousseau im Gesellschaftsvertrag und im Emil vorstellt, und bildet eines der zentralen Themen der Abhandlung über die politische Ökonomie), aber nur als Mittel zum Glück für die Bürger selbst. Darin besteht m. E. der wichtigste Unterschied zwischen Rousseaus Auffassung der Bürgertugenden und derjenigen von Montesquieu, der als erster dieser Frage eine zentrale Rolle in seiner Theorie zugewiesen hat. Im Geist der Gesetze erkennt er das Prinzip des republikanischen Staates in der Tugend; diese identifiziert er dann mit der Vaterlandsliebe und unterscheidet sie von den moralischen oder christlichen Tugenden: „Was ich die Tugend in der Republik nenne, ist die Liebe zum Vaterland, das heißt die Liebe zur Gleichheit. Es ist weder eine moralische noch eine christliche Tugend, es ist die politische Tugend. Sie ist die Triebfeder, welcher die republikanische Regierung in Bewegung setzt.“ (Montesquieu 1992, I 5)93 Solche Tugend ist politisch, weil sie aus der „beständige[n] Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem Eigenwohl“ besteht (a. a. O., I 53), und somit die individuelle moralische Vollkommenheit nicht betrifft. Sie muss den Bürgern gelehrt werden, daher ist die republikanische Regierungsform „auf die ganze Stärke der Erziehung angewiesen“ (a. a. O.). Den Teufelskreis der Theorien zur Bürgertugend formuliert Montesquieu als positives Spiel reziproker Auswirkungen: „Die Vaterlandsliebe erzeugt gute Sitten, und gute Sitten führen wieder zur Vaterlandsliebe“ (a. a. O., I 63). Seine Idee ist, dass die Bürger, wenn sie von ihren Privatinteressen abgelenkt werden, mit den Mitbürgern kooperieren werden, um das allgemeine Wohl zu erreichen: „Je weniger wir unsere Sonderneigungen befriedigen können, um so mehr widmen wir uns den Bestrebungen der Allgemeinheit.“ (A. a. O.) Die Analogie, die Montesquieu hier anbietet, ist einleuchtend: „Warum lieben die Mönche ihren Orden so sehr? Aus demselben Grund, der ihnen das Mönchsdasein so unerträglich schwer macht. Ihre Regel beraubt sie alles dessen, worauf für gewöhnlich die Sehnsucht gerichtet ist. So bleibt ihnen also nur die Liebe zu ihrer Regel selbst trotz dem Druck, den sie ausübt. Je strenger sie ist, das heißt je stärker sie ihre Neigungen beschneidet, desto mehr Stärke schenkt sie ihnen für die, die sie ihnen lässt“ (a. a. O.). Werden also die Bürger der Möglichkeit beraubt, ihren Privatinteressen uneingeschränkt nachzugehen, wird sich ihre Aufmerksamkeit auf das allgemeine Interesse konzentrieren. Montesquieu versucht nicht, die Leidenschaften der Individuen auszurotten oder unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen (wie etwa Locke und in einer gewissen Hinsicht auch Hobbes). Er meint vielmehr, die egoistischen Impulse seien kanalisierbar und zugunsten des Gemeinwohls ausnutzbar. Machiavelli hatte schon bemerkt,

93 Vgl. auch a. a. O. I, 34 ff., I 38 ff., I 53 f., I 62 ff.

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dass der Ehrgeiz der Bürger auf andere Ziele als individuellen Gewinn gerichtet werden könnte, nämlich auf den Ruhm, der aus Handlungen und Haltungen (allen voran militärische Eroberung und politische Klugheit) entsteht, die zum öffentlichen Wohl beitragen. Somit kann schließlich sogar der ansonsten stabilitätsgefährdende individuelle Ehrgeiz dem Wohl der Republik dienen. Montesquieu übernimmt den Gedanken und hebt die Rolle hervor, die in einer Demokratie vom Ehrgeiz, „dem Vaterlande besser dienen zu können als die Mitbürger“, gespielt werden kann (a. a. O.). Aber kanalisierter Ehrgeiz allein ist noch keine Garantie für das Gedeih republikanischer Institutionen. Weit wichtiger sind die Gleichheit unter den Bürgern („Die Liebe zum Staat in einer Demokratie ist die Liebe zur Demokratie, und die Liebe zur Demokratie ist die Liebe zur Gleichheit“, a. a. O.) und die Einfachheit im Lebensstil. Letztere ist besonders wichtig, weil sie wirtschaftliche Gleichheit fördert und zum Gedeihen des Wohlstandes der Republik führt. Die überflüssigen Ressourcen werden nämlich von den sparsamen Bürgern für die staatlichen Errichtungen benutzt („So haben die guten Demokratien, indem sie häusliche Einfachheit verlangen, für Staatsausgaben weit die Tore geöffnet, wie das in Athen und Rom geschah“, a. a. O., I 64). Was die Gleichheit betrifft, so visiert Montesquieu nicht nur die ökonomische an, sondern wünscht sich auch eine Gleichheit der Talente unter den Bürgern. In der idealen Demokratie herrscht Mittelmäßigkeit sowohl der Vermögen als auch der Begabungen: Es ist der Staat der aurea mediocritas, in der sich keiner wirtschaftlich oder geistig so hoch über die anderen erhebt, dass er schließlich die Macht an sich ziehen kann. Die Gleichheit der Vermögen kann durch Gesetze erreicht werden („Nur durch die Gesetze werden [die Menschen] wieder gleich“, a. a. O., I 159), und Montesquieu erwähnt einige Möglichkeiten, solches Ziel zu verfolgen (a. a. O., 67 ff.). Dabei preist er jenen Gesetzgeber, der sich bei der Reform einer Republik alter Gesetze bedient, die aus den ersten Zeiten derselben herrühren, d. h. aus Zeiten, in denen die Sitten noch einfach und streng waren und gute Einrichtungen begründet haben: „So bedeutet ein Wiedererwecken der alten Grundsätze in der Regel ein Zurückführen der Menschen zur Tugend“ (a. a. O., 72). Und weiter: „Die alten Gesetze sind also in der Regel Verbesserungen und die neuen Missbräuche“ (a. a. O.), denn die Ersteren waren nur Korrektive, die auf das Gemeinwohl abzielten, während die Letzteren nur Privatinteressen dienten. Was die Gleichheit der Begabungen betrifft: Sie kann unmöglich Gegenstand von Gesetzen sein. Andererseits ist sie eine mögliche Folge sowohl der wirtschaftlichen Gleichheit als auch der Einfachheit des Lebensstils: Wo es keinen Raum für die Akkumulierung großer Privatvermögen gibt, ist kaum Platz für private Initiative, die normalerweise zur Entwicklung der individuellen Begabungen führt. Und die Einfachheit der Sitten kann ihrerseits durch Gesetze gefördert werden, allen voran durch die Errichtung eines Zensuramtes, dessen Aufgabe es sein soll, „alles das, was nicht gerade die Gesetze verletzt, sie aber umgeht, was sie nicht zerstört, aber schwächt“, zu ahnden (a. a. O. I 102). Die Tugend wird nämlich nicht nur durch Verbrechen vernichtet, sondern auch durch „Nachlässigkeit, Fehler, eine gewisse Lauheit in der Vaterlandsliebe, schlechte Beispiele“ (a. a. O.). Bei Rousseau finden sich so gut wie alle obigen Argumente wieder (und andere Gedanken von Montesquieu, wie z. B. sein Urteil über die antiken Republiken), auch wenn

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sie der Genfer manchmal entsprechend seiner eigenen Vorstellungen verändert. Doch bevor wir uns der Frage der Erziehung der Bürger bei Rousseau widmen (vgl. 4.19), müssen wir uns noch kurz mit seinem Tugendbegriff beschäftigen.

4.18. Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (II): Rousseaus Tugendbegriff In der Abhandlung über die politische Ökonomie wird Bürgertugend als das allererste und wichtigste Mittel bezeichnet, über das die öffentliche Autorität verfügt („die größte Triebfeder der öffentlichen gesetzmäßigen Gewalt“ EP, 238), denn nur tugendhafte Menschen können den Gesetzen gehorchen, während sich alle anderen nur für relativ kurze Zeit von Strafandrohungen bremsen lassen (a. a. O.). Daher muss der Staat für die Tugend seiner Bürger sorgen: „Es ist nicht genug, den Bürgern zu sagen: Seid gut, man muss sie auch lehren, es zu sein“ (a. a. O., 240). Diese Erziehung ist also notwendig, weil die Menschen dazu neigen, sich des staatlichen Jochs zu entledigen und in ihren ursprünglichen Zustand vollkommener Willkür und Unabhängigkeit zurückzufallen. Dazu kommt, wie Fetscher zu Recht betont, „dass die Regierung gleichfalls aus Menschen besteht, die egoistischen Leidenschaften unterworfen sind“ (Fetscher 1975, 196). Die Einheit des Staates ist somit sowohl „von unten“, vom Egoismus der einfachen Bürger, als auch „von oben“, vom Egoismus der Regierenden, bedroht. „Es kommt daher alles darauf an“, schreibt Fetscher, „die staatsbürgerlich-patriotische Gesinnung so in Gewohnheiten und Sitten zu verankern, dass auch die Mitglieder der Regierung sich ihr nicht entziehen können“ (a. a. O.). Albert Schinz behauptet, Rousseau habe nirgendwo eindeutig seinen Tugendbegriff definiert, wenn man vom Begriff der Bürgertugend absieht (Schinz 1929, 144 ff.). Das ist nicht ganz richtig, denn mindestens an einer Stelle finden wir eine solche Definition, auch wenn es sich um keine besonders neue handelt: Tugend besteht darin, die eigenen Neigungen zu besiegen, „wenn die Pflicht es erheischt, um ihren Vorschriften zu folgen“ (Rev. VI, 706). Ansonsten ist Schinz’ Behauptung zuzustimmen. Nichtsdestoweniger ist es möglich, diesem Begriff klare Konturen zu verleihen. Abgesehen von der Nouvelle Héloise (vgl. dazu Zimmermann 1961), wo der Begriff meistens in Bezug auf die (weibliche!) Keuschheit benutzt wird, spricht Rousseau von Tugend sowohl in einer individuellen als auch in einer gemeinschaftlichen bzw. politischen Dimension; beide Dimensionen sind allerdings miteinander verbunden. Emils Tugenden sollen ihm dazu verhelfen, als Wilder in den Städten zu leben, d. h. auch in der Gesellschaft jenes Glück zu finden, das eigentlich die isolierten Naturmenschen charakterisiert. Als Tugenden kann man dann jene Eigenschaften bezeichnen, die mit zur individuellen Selbständigkeit führen. Derart kann auch die handwerkliche Geschicklichkeit, die Emil wirtschaftliche Selbstständigkeit ermöglichen sollte, als eine Tugend bezeichnet werden. Diese individuelle Tugend wird in der Republik (d. h. im idealen Modell, das Rousseau dazu anbietet) zur Voraussetzung für die Bürgertugend, denn sie besteht nicht einfach in einer Haltung, welche die gemeinschaftlichen Beziehungen fördert oder zumindest nicht bedroht, wie hingegen bei Hobbes, der Tugenden ausschließlich als politische

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Tugenden begreift, deren Aufzeigen nichts zum moralischen Charakter des Individuums beiträgt (Fragen der individuellen Moralität haben für Hobbes mit Ethik als Tugendwissenschaft nichts zu tun, wie wir gesehen haben; vgl. 3.11). Bürgertugend ist vielmehr bei Rousseau in einer gewissen Hinsicht keine Tugend politischer Natur stricto sensu, oder anders gesagt: Jede individuelle Tugend ist insofern politischer Natur, als sie den Charakter der Individuen prägt und Individuen in erster Linie Bürger sind oder sein sollten. Während sich Hobbes darauf beschränkt hatte, von den Individuen Haltungen zu fordern, die zum allgemeinen Frieden beitragen können (Bereitschaft zum Verzeihen, keine Anmaßung, Anpassungsfähigkeit usw.), erwartet Rousseau von ihnen, dass sie ein durchaus tugendhaftes Leben führen. Hobbes lässt ihnen die Freiheit, den eigenen Interessen nachzugehen und die eigene Lust dort zu suchen, wo sie wollen – vorausgesetzt, dass es den Frieden nicht bedroht. Rousseau will, dass sie eine bestimmte Lebensweise annehmen und ihr Glück in der Einfachheit der Sitten, im Gehorsam zu den Gesetzen und in der Vaterlandsliebe bzw. im Gemeinschaftssinn suchen. In der Republik geht die individuelle Sphäre in der weiteren Sphäre der politischen Gemeinschaft auf (vgl. oben 4.8). Auf dieselbe Weise liegt nun der Sinn individueller Tugendhaftigkeit nicht weiter wie im Fall von Emil in der individuellen moralischen Perfektion und in jenem privaten Wohlsein, das aus der Herrschaft über die eigenen Leidenschaften und Wünsche entsteht; die individuelle Tugendhaftigkeit ist vielmehr instrumentell, sie dient der Erhaltung republikanischer Institutionen. Rousseau setzt die öffentliche Erziehung der Bürger gegen die private Erziehung von Emil, der nur durch die Tätigkeit eines Pädagogen ein tugendhaftes Individuum werden konnte.

4.19. Die Erziehung des Bürgers zum Patrioten (III): Nationale „Kinderspiele“ Die öffentliche Erziehung hat zum Ziel die Schaffung guter Bürger. Sie findet durch traditionelle erzieherische Maßnahmen (d. h. durch die Tätigkeit von Pädagogen) statt; aber sie wird auch durch gezielte institutionelle Vorkehrungen zur Lenkung der öffentlichen Meinung ermöglicht, wie es im Brief an d’Alembert heißt: „Wie kann nun die Regierung die Sitten in den Griff bekommen? Ich antworte: durch die öffentliche Meinung. Wenn unsere Sitten in der Zurückgezogenheit unseren eigenen Gefühlen entspringen, so entspringen sie in der Gesellschaft der Meinung der anderen. Wenn man nicht in sich selbst, sondern in den anderen lebt, dann sind es ihre Urteile, die alles bestimmen; nichts erscheint den einzelnen gut und begehrenswert, als was die Öffentlichkeit dafür hält, und das einzige Glück, welches die Mehrzahl der Menschen kennt, ist, für glücklich gehalten zu werden.“ (LA, 401) Zur Frage der geeigneten Mittel, um die öffentliche Meinung zu lenken, meint Rousseau, „dass weder Gesetze noch Strafen, noch andere Zwangsmaßnahmen hierfür taugen“ (LA, 402); und – Machiavelli echoend – fügt er hinzu: „Wenn die Regierung viel über die Sitten vermag, so nur durch ihre ursprüngliche Einrichtung. Wenn die Sitten einmal festgesetzt sind, so hat sie nicht nur keine Macht mehr, sie zu verändern, ohne

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sich selbst zu verändern, sondern sie hat sogar alle Mühe, sie gegen die natürliche Neigung, die sie abändern will, zu verteidigen.“ (LA, 409) Beim Versuch, die öffentliche Meinung zu lenken und die Sitten in den Griff zu bekommen, spielen die öffentlichen Feste eine wichtige Rolle, die Rousseau in dieser Schrift den Theateraufführungen entgegensetzt (LA, 462 ff. und passim). In der Abhandlung über politische Ökonomie thematisiert Rousseau die Frage der Staatsbürgererziehung ausdrücklich. Dort meint er, dass die erzieherische Tätigkeit in der Kindheit anfangen muss („Allein, Bürger zu bilden ist nicht das Werk eines Tages, und braucht man sie als Erwachsene, so muss man sie als Kinder unterrichten“, EP, 245 f.), da man schon bei der Geburt zum Bürger mit Rechten und Pflichten wird („und wie man von Geburt an, an den Rechten des Bürgers teilhat, so muss auch der Augenblick unserer Geburt der Anfang der Übung in unseren Pflichten sein“, EP 246 f.). Die Erziehung zum Patrioten muss darauf abzielen, dass die Bürger ihre Individualität nur in Bezug auf den Staatskörper begreifen. Wenn das Individuum die eigene Existenz als Teil derjenigen des Staates versteht, wird er sich mit dem Letzteren identifizieren und sich als Mitglied des Vaterlandes fühlen, das es dann mit derselben Liebe lieben wird, mit welcher der vereinzelte Mensch im Naturzustand sich selbst liebt (EP, 247). Dadurch wird das Individuum das ursprüngliche Glück der natürlichen Menschen wieder erlangen,94 aber es wird das Glück nicht länger als Einzelner, sondern als Mitglied einer Gemeinschaft genießen (vgl. auch Cooper 1999, 25). Der Bürger ersetzt die amour de soi durch die amour de la patrie, die Selbstliebe durch die Vaterlandsliebe, durch die Liebe zu einem Wesen, das seine Individualität umfasst und in eine höhere übergeht. Das individuelle Selbst macht Platz für das gemeinschaftliche Selbst. Und so, wie die individuelle Autarkie die Bedingung für das Glück des natürlichen Menschen war, ist nun die ökonomische Autarkie des eigenen Staates die Bedingung für das Glück des Bürgers, wie es aus den Verfassungsprojekten leicht abzulesen ist. Der erste Schritt bei der Erziehung der Bürger besteht also darin, ihnen die Liebe zum Vaterland zu lehren („Wollen wir, dass die Völker tugendhaft seien? So müssen wir damit beginnen, ihnen Liebe zum Vaterland einzuflößen“, EP 242). Da die vaterländische Erziehung in der Kindheit ansetzen muss, ist das Modell, das Rousseau vorschwebt, das spartanische System öffentlicher Erziehung. Unserer Philosoph spricht sich strikt dagegen aus, dass die Erziehung der Kinder den Eltern (Rousseau erwähnt nur die Väter) überlassen wird: „So darf man um so weniger den Einsichten und den Vorurteilen der Väter die Erziehung ihrer Kinder überlassen, als sie dem Staat noch wichtiger als den Vätern ist; [...] der Staat bleibt bestehen, und die Familie löst sich auf.“ (EP, 247) Die Kinder werden hier bloß in ihrer Eigenschaft gedacht, zukünftige Bürger zu sein. Der Staat hat somit ein Interesse an ihrer Erziehung, die über dasjenige der Eltern hinausgeht. Wie steht es aber mit dem Interesse der Kinder selbst? Rousseau stellt sich die Frage nicht, aber die Antwort ist ziemlich offensichtlich: Da der gute (d. h. der tugendhafte, sein Vaterland liebende) Bürger glücklich ist, liegt es auch im Interesse der Kinder,

94 „Der wirklich Tugendhafte ruht ebenso in sich selbst, wie der ursprüngliche Naturmensch.“ (Fetscher 1975, 21)

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zu guten Bürgern erzogen zu werden – und möge das auch bedeuten, dass sie ihre Individualität als Privatmenschen verlieren (sie werden lernen, „nichts anderes zu wollen, als was die Gesellschaft will“, a. a. O.).95 Rousseau nimmt unterschiedliche Haltungen in der Frage ein, wer für die öffentliche Erziehung zuständig ist. In der Abhandlung über die politische Ökonomie steht die Aufgabe nicht einer besonderen Klasse von Lehrern, sondern den Individuen zu, die dem Staat schon hohe Dienste erwiesen haben: „berühmte Krieger“ und „rechtschaffene Magistraten“ (EP, 248). In den Betrachtungen über Polen spricht er sie hingegen allen (männlichen ...) Polen zu, vorausgesetzt, dass sie bestimmte Bedingungen erfüllen: Sie müssen „alle wenn möglich verheiratet, alle ausgezeichnet durch ihre Sitten, ihre Rechtschaffenheit, ihren gesunden Menschenverstand, durch ihre Einsichten“ sein (CGP, 579). Die erzieherischen Mittel, derer sich der Staat bedienen sollte, werden auf besonders klare Weise in der Polen-Schrift vorgestellt: Es handelt sich um „Kinderspiele“, die „aber doch teure Gewohnheiten und unbesiegbare Bindungen hervorbringen“ (CGP, 567). Dabei sind diese Kinderspiele nur für die modernen, „aufgeklärten“ Menschen solche, während sie in vergangenen Zeiten ein hohes Ansehen genossen. Rousseau greift nämlich noch einmal auf sein Beispiel von den antiken Gesetzgebern zurück: „Alle suchten nach Banden, welche stark genug wären, die Bürger an das Vaterland und untereinander zu binden. Sie fanden diese Bande in besonderen Bräuchen, in religiösen Zeremonien, die ihrer Natur nach stets ausschließliche und dem jeweiligen Volk eigentümliche waren [...], in Spielen, welche die Bürger oft zusammenführten; in Übungen, welche mit der Gesundheit und Körperkraft der Bürger auch ihren Stolz und ihre Selbstachtung erhöhten; in Schauspielen, welche, indem sie ihnen die Geschichte, die Schicksalsschläge, die Tugenden, die Siege der Vorfahren ins Gedächtnis riefen, ihre Herzen gewannen, sie zu lebhaftem Nacheifern entflammten und sie auf das stärkste an das Vaterland fesselten, mit dem sich zu beschäftigen man nicht aufhörte“ (CGP, 570). Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die drei antiken Gesetzgeber zu werfen, die Rousseau in diesem Kontext namentlich erwähnt: Moses, Lykurgus und Numa (alle drei wurden schon von Machiavelli als Musterbeispiele für alle Gesetzgeber in spe angegeben). Moses dachte sich eine „Vielzahl von besonderen Riten und Zeremonien“ aus, um sein Volk von den Nachbarvölkern zu unterscheiden: „Alle Bande der Brüderlichkeit, welche er unter den Gliedern seines Gemeinwesens flocht, waren ebenso viele Schranken, welche diese Glieder von ihren Nachbarn trennten und sie daran hinderten, sich mit diesen zu vermischen.“ (CGP, 568 f.) Lykurgus legte den Spartanern ein eisernes Joch auf und nahm ihnen jegliches Privatleben weg. Bei ihm entstand Vaterlandsliebe dadurch, dass er den Bürgern ihr eigenes Selbst vergessen ließ: „Er zeigte [dem Volk] ohne Unterlass das Vaterland in seinen Gesetzen, seinen Spielen, in seinem häuslichen Dasein, in seiner Liebe, in seinen Festen. Er ließ ihm nicht einen Augenblick der Erholung, in dem es nur für sich da gewesen wäre“ (a. a. O., 569). Numa (den Rousseau 95 Manche Interpreten (z. B. Blum 1986, 118) haben in der Idee einer öffentlichen vaterländischen Erziehung den Versuch Rousseaus lesen wollen, seine Haltung den eigenen Kindern gegenüber zu rechtfertigen, der er sie aussetzte. Ob eine solche Interpretation plausibel ist, lässt sich jedoch sehr schwer feststellen.

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für den wahren Gründer Roms hält) nutzte die Macht öffentlicher religiöser Zeremonien aus, um die wilden Hirten, die Rom zuerst bewohnten, zu besänftigen, und aus ihnen eine wahre Gemeinschaft herauszubilden: „Numa machte dies Werk fest und dauerhaft, indem er diese Räuber zu einem unauflöslichen Körper zusammenschloss, indem er sie in Bürger verwandelte. Er tat dies weniger durch Gesetze, deren ihre ländliche Armut noch kaum bedurfte, als vielmehr durch menschenfreundliche Einrichtungen, welche den einen an den andern und alle an ihren Boden banden; er tat es schließlich, indem er ihre Stadt durch jene scheinbar nichtigen und abergläubischen Bräuche heiligte, deren Kraft und Einfluss so wenige erkennen“ (a. a. O., 569 f.). Diese drei großen Gestalten der Antike werden von Rousseau erwähnt, weil sie jeweils die drei Merkmale des Idealstaates durch ihre gesetzgebende Tätigkeit zu realisieren wussten: vollkommene Isolierung von den anderen Völkern; bedingungslose, ausschließliche Vaterlandsliebe; höchster Gemeinschaftssinn durch gemeinsame Einrichtungen. Aber wie schon im Fall des Idealstaates, steht das Projekt einer öffentlichen vaterländischen Erziehung einer unüberwindlichen Schwierigkeit gegenüber und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Rousseau gibt zwei verschiedene Gründe dafür an. In der Abhandlung besteht die Hauptursache des Scheiterns darin, dass moderne Staaten überdimensioniert sind: „Ich kenne nur drei Völker, die ehemals eine öffentliche Erziehung hatten, nämlich die Kreter, die Lakedämonier und die alten Perser. Bei allen dreien hatte sie den größten Erfolg und wirkte bei den beiden letzteren Wunderwerke. Als die Welt sich in Nationen aufgeteilt fand, welche zu groß waren, um gut regiert werden zu können, war dieses Mittel nicht mehr brauchbar“ (EP, 248). In der Polen-Schrift greift er interessanterweise auf die moralische Verderbnis zurück, die schon in den beiden Discourses als Hauptursache aller menschlichen Übel genannt worden war: „Was hindert uns denn, Menschen zu sein wie sie? Unsere Vorurteile, unsere niedere Philosophie und die Leidenschaften des kleinlichen Eigennutzes, welche durch unangemessene Einrichtungen, die niemals das Genie eingegeben hat, in allen Herzen mit der Selbstsucht verschmolzen sind“ (CGP, 568; vgl. auch a. a. O., 570 f.). Der Grund der Rückkehr zur moralistischen Kritik der Moderne besteht wahrscheinlich darin, dass sich Rousseau in diesem Werk die Aufgabe stellt, einem Land wie Polen eine Verfassung zu geben – einem Land also, das keineswegs die kleinen Dimensionen antiker Republiken besitzt, und die daher – wäre dies das entscheidende Kriterium – niemals seine Bürger zu Patriotismus und Bürgertugend erziehen könnte. Noch einmal zeigt es sich, wie wenig Rousseau sein Denken als abstrakte Theorie formulieren wollte, wie stark er vielmehr versuchte, es so zu gestalten, dass eine unmittelbare Anwendung in der Praxis möglich ist (hier tritt Rousseau in den Fußstapfen Machiavellis). Nicht zufällig kündigt er gleich im ersten Satz des Gesellschaftsvertrags an, dass er die Menschen so nehmen will, „wie sie sind“, und – darauf basierend – die Gesetze so, „wie sie sein können“ (nicht: sollen!). Die öffentliche Erziehung muss also – außer im Fall unberührter, unverdorbener Völker wie das korsische Volk – die Hoffnung aufgeben, die Individuen neu zu formen. Sie muss sich vielmehr damit begnügen, die negativen Momente der menschlichen Natur, allen voran die Leidenschaften, für positive Ziele dienlich zu machen, wie es schon im Verfassungsprojekt für Korsika hieß: „Untersucht man sorgfältig die wichtigsten Beweg-

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gründe für das Handeln der Menschen, so sind es nur deren zwei, nämlich die Wollust und die Eitelkeit“, wobei letztlich „beinahe alles auf die bloße Eitelkeit zurückgeht“. Das ist wiederum „die Frucht der öffentlichen Meinung“. Werden jedoch dieser Meinung edle und schöne Dinge, anstatt nichtige Dinge (die Eitelkeit fördern) als Gegenstand angeboten, so erzeugt sie Stolz: „Also kann man ein Volk stolz oder eitel machen, je nach der Wahl der Gegenstände, auf welche man seine Ansichten ausrichtet.“ (PCC 548) Bei geschickter Manipulation der öffentlichen Meinung können daher Leidenschaften nützlich gemacht werden, wie schon bei Machiavelli und Montesquieu (auch bei ihnen in Bezug auf den Stolz). Zwar besitzt in solch besonderem Fall der Stolz auch einen positiven Wert, da er sich auf schöne und edle Dinge richtet: Aber auch er entsteht wie die Eitelkeit aus der Meinung, deren führende Rolle für das menschliche Handeln von Rousseau mehrmals verurteilt wird. Jenes Zugeständnis an die menschliche Natur, so wie sie ist, scheint im Widerspruch zum stark idealisierten Bild vom Staatsbürger zu sein, das uns Rousseau in den theoretischen Werken anbietet (oder in der mythischen Beschreibung der früheren Schweiz im Verfassungsprojekt für Korsika). De facto zeigt es, dass sich Rousseau des idealen Charakters seiner politischen Modelle immer bewusst ist. Nicht zufällig ergänzt er sie durch zwei weitere, un- oder apolitischen Modelle: das des Emil, des Wilden in der Stadt; und das des Jean-Jacques, des einsamen Spaziergängers der Träumereien. Aber sie sind nicht Gegenstand vorliegender Arbeit.

4.20. Fazit: Rousseaus idealer Staat als geschlossene Gesellschaft Der ideale Staat, wie ihn Rousseau in beiden Verfassungsprojekten vorstellt, ist also ein autarker, landwirtschaftlicher Staat, in dem politischer Konservatismus (die alten Institutionen sind ‚heilig‘) und blinder Nationalismus herrschen, in dem die Gesellschaft ‚gefroren‘ und sogar die geographische Mobilität behindert ist. Möge Rousseau meinen, die Individuen können nur in einem solchen Staat ihr Glück finden, so erscheint er als furchtbar drückend und letztlich als weit totalitärer in seinen Auswirkungen auf das individuelle Leben als Hobbes’ Leviathan, der den Individuen immerhin noch die Freiheit ließ, das eigene Glück gemäß ihrer persönlichen Vorstellungen zu suchen. Dieser Staat hat wenig von der mythischen Schweiz des Goldenen Zeitalters bzw. der Gemeinde der Montagnons und viel von Sparta –, ohne allerdings die Ventile militärischer Eroberung – zu besitzen. Und wie Sparta basiert er auf einer absoluten Absperrung gegenüber dem Ausland. Der ausschließliche, mehr noch, ausschließende Charakter von Rousseaus idealer Gesellschaft wurde schon von Leo Strauss (und vielen anderen Interpreten) betont (Strauss 1972, 273 ff.). Man kann sie als eine geschlossene Gesellschaft bezeichnen. Dabei beziehe ich mich weniger auf Poppers Gedanken der „closed society“ (vgl. Popper 1945) als auf den ähnlichen Begriff, der von Henri Bergson entwickelt wurde und sich ziemlich genau auf Rousseaus Gesellschaftsauffassung anwenden lässt (Bergson 1933; vgl. dazu Bobbio 1996, 90). Eine geschlossene Gesellschaft ist für Bergson „die, deren Mitglieder untereinander bleiben, gleichgültig gegen die übrigen Menschen, immer bereit

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anzugreifen oder sich zu verteidigen, kurz, auf eine kämpferische Haltung beschränkt“ (a. a. O., 265). Sie ist die natürliche Gesellschaft, da der Instinkt uns dazu trieb, kleine Gruppen zu bilden (a. a. O., 25). Sie kann nicht leben, ohne eine Form von Religion zu besitzen, die Bergson „statisch“ nennt (a. a. O., 99 ff.), und die der Religion des Staatsbürgers, von der im Contrat social (IV, 8) die Rede ist, entspricht: Es ist die Religion, die nur einer einzelnen Gesellschaft eigen ist, und die eine statische Moral hervorbringt – eine Moral, „die in einem gegebenen Moment, in einer gegebenen Gesellschaft de facto existiert“ und die „in den Sitten, den Ideen, den Einrichtungen“ jener Gesellschaft „verankert“ ist (a. a. O., 268). Eine offene Gesellschaft ist hingegen „die, die im Prinzip die ganze Menschheit umfassen könnte“ (a. a. O., 266), also das Ziel jenes von Rousseau so verpönten kosmopolitischen Geistes der philosophes. Sie basiert auf universalistischen Religionen wie z. B. dem Christentum, und ist mit einer allgemeinen, „dynamischen“ Moral verbunden, die zur allgemeinen Menschenliebe verpflichtet. Die offene Gesellschaft Bergsons verweist daher auf den religiösen Kosmopolitismus, den Rousseau offen kritisiert (die offene Gesellschaft Poppers ist hingegen mehr mit dem aufgeklärten Humanismus eines Voltaire verbunden; sie würde in Rousseaus Augen eine kleinere Bedrohung darstellen als der Universalismus des Christentums). Sie fordert eine Distanznahme von unseren natürlichen Instinkten, die uns eigentlich zur Bildung einer kleinen, geschlossenen Gesellschaft und zum Misstrauen gegen das Fremde führen. Insofern bildet sie das Gegenteil jener partiellen Rückkehr zur Natur, die nach Rousseaus Meinung eine Hauptbedingung für das Erreichen des ursprünglichen Glücks seitens der Individuen darstellt. Die Abschottung gegen das Fremde (und die entsprechende Ablehnung jeglicher universalistischen, kosmopolitischen Religion und Moral) – eine Abschottung, die zu einem alles durchdringenden, letztlich totalitären Staat führt – geschieht paradoxerweise den Individuen zuliebe: Die geschlossene Gesellschaft macht alle ihre Mitglieder glücklich, die offene überlässt sie der eigenen Persönlichkeit, verstanden als die Fähigkeit, trotz allem glücklich zu sein – oder aber nicht. Nur die Individuen, die wie Emil richtig erzogen wurden und daher wie Wilde in der Stadt leben können, sind imstande, auch in einer offenen Gesellschaft ihren Weg zum persönlichen Glück zu finden. Alle anderen werden hingegen im Chaos der Meinungen und der verschiedenen Sitten blind umherirren. Allerdings bedürfen auch die Mitglieder geschlossener Gesellschaften einer Erziehung, die ihnen ermöglicht, deren Vorteile zu genießen. Sie müssen zu Patrioten erzogen werden. Und auch dann besteht das Risiko weiter, dass die Sitten verderben, sich die Meinungen verfälschen und die Gesetze ihre Wirksamkeit verlieren. Das beste Gegenmittel, um das zu verhindern, ist die Errichtung eines Zensuramtes, wie Rousseau im Gesellschaftsvertrag behauptet (CS IV, 7).96 „Das Tribunal der Zensur“ ist jedoch, „weit 96 „The preservation of the order of the republic cannot be achieved unless the men are sober, hardworking and temperate, and the women chaste, demure and devoted to the running of household affairs. Even their private lives should be open to public scrutiny. In the Social contract Rousseau also suggests that a special office should be create within the magistrature with the appointment of a censor, whose task it would be to see that the general behaviour within society did not become too lax.“ (Viroli 1988, 206)

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davon entfernt, Schiedsrichter über die Meinung des Volkes zu sein, nur dessen Sprachrohr“ (CS 378 f.). Es verhilft also der öffentlichen Meinung dazu, das Verhalten der Individuen zur Anpassung an die vorherrschenden Werte und Sitten zu zwingen. Es ist, wenn man etwas zugespitzt formulieren will, das Instrument einer möglichen sittlichen Tyrannei der öffentlichen Meinung bzw. der Gemeinschaft gegenüber den Individuen und ihren privaten Meinungen.97 Rousseaus Grundidee ist ziemlich einfach: „Verbessert die Meinung der Menschen, und ihre Sitten werden sich von selbst läutern.“ (CS 379) Wer also die Meinung der Menschen kontrolliert, kontrolliert auch ihre Sitten, sprich: ihr Verhalten. Rousseau relativiert allerdings die Rolle der Zensur: Sie kann die Gesetze in ihrer Hauptaufgabe nicht ersetzen, die eben in der Regelung und Kontrolle der Handlungen der Rechtsadressaten besteht. Verlieren die Gesetze ihre Kraft, „so entarten die Sitten; dann aber kann das Urteil der Zensoren nicht bewirken, was die Kraft der Gesetze nicht bewirken konnte“. Die Zensur ist daher „zur Erhaltung der Sitten nützlich [...], niemals aber zu deren Wiederherstellung“ (a. a. O.). Entscheidend sowohl für die Erhaltung der Sitten als auch für die Bildung der öffentlichen Meinung sind daher die Gesetze, und zwar nicht so sehr die einzelnen Normen (so z. B. Cooper 1999, 2), sondern die Verfassung, auf der sie basieren: „Die Meinungen eines Volkes gehen aus seiner Verfassung hervor; obgleich das Gesetz nicht die Sitten steuert, so ist es doch die Gesetzgebung, die sie hervorbringt“ (a. a. O.). Gute Institutionen bilden daher für Rousseau die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Bürger tugendhaft und somit glücklich sein können. Eine gute Verfassung schafft gute Bürger, wie auch Kant behaupten wird. Wie beim Individuum die richtige Erziehung des Kindes durch den Pädagogen entscheidend für die Moralität des erwachsenen Menschen ist, bestimmt der Gesetzgeber durch die von ihm erlassene Verfassung die Moralität der Staatsbürger. In beiden Fällen hängt die Moralität der Individuen von der Tätigkeit eines außerordentlichen Individuums ab (hier vom Gesetzgeber, dort vom Pädagogen), obwohl im Fall des Gesetzgebers diese Tätigkeit weniger direkt ist und vielmehr in den Auswirkungen der Verfassung auf seine Bürger Niederschlag findet. Die Menschen sind also nicht imstande, für sich alleine moralisch gut zu werden, sondern bedürfen einer moralischen Führung – möge sie nun die eines Individuums sein oder die der öffentlichen Meinung und der Gesetze. Nur einige wenige Menschen, wie etwa der savoyische Vikar, können aus eigener Kraft zu bestimmten Einsichten und daher zu einer bestimmten Verhaltensweise gelangen: Die Menge muss jedoch zur Moralität geführt werden und braucht hierzu eine ständige Kontrolle durch die Institutionen (durch die Gesetze ebenso wie durch die Zensur). Der letzte Punkt weist auf die Skepsis Rousseaus gegenüber der moralischen Stärke der Menschen hin. Auch tugendhafte Menschen laufen Gefahr, sich zu verderben, denn Tugend besteht in einem ständigen Kampf gegen die eigenen Neigungen und Leidenschaften, und nur wenige Menschen können zu solchen unermüdlichen Kämpfern werden.

97 Koselleck spricht von einer „ideologische[n] Diktatur der Tugend, deren Herrschaft hinter der Maske eines Allgemeinwillens verschwindet“ (Koselleck 1973, 139).

ROUSSEAU: INDIVIDUEN ZWISCHEN UTOPIA UND WELTVERZICHT

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Das hatte schon Montesquieu bemerkt. In seinen Persischen Briefen lässt er einen weisen Troglodyten, den die anderen wegen seiner Gerechtigkeit zu ihrem allerersten König wählen möchten, folgende Klage erheben: „Ich sehe wohl, ihr Troglodyten, worum es geht! Eure Tugendhaftigkeit wird euch eine Last. In der Lage, in der ihr seid, das heißt ohne Anführer, müßt ihr wider Willen tugendhaft sein. [...] Aber dieses Joch erscheint euch zu drückend; ihr wäret lieber einem Fürsten unterworfen und würdet seinen Gesetzen gehorchen, die weniger streng sind als eure Sitten. Ihr wißt wohl, dass ihr dann eueren Ehrgeiz befriedigen, Reichtum erwerben und in elender Wollust erschlafft leben könnt und keine Tugend braucht, sofern ihr euch nur hütet, große Verbrechen zu begehen. [...] Wünscht ihr, dass [ein Troglodyt] eine tugendhafte Tat begeht, weil ich sie ihm befehle, obwohl er sie doch ohne mich allein aus natürlicher Neigung täte?“ (Montesquieu 1991, 36 f.) Sogar die tugendhaften Troglodyten ziehen es vor, ihr Verhalten eher durch Gesetze als durch ihre Tugendhaftigkeit bestimmen zu lassen, obwohl das Joch der Ersteren bei weitem größer ist. Der alte Troglodyt, der die moralische Faulheit seiner Genossen beklagt und sich nach einer Zeit zurücksehnt, in der sie aus eigener Tugendhaftigkeit handelten, erfasst ein wesentliches Merkmal moderner Rechtsordnungen: Sie überlassen es den Individuen, ein gesetzlich gebotenes Verhalten aus innerlicher Überzeugung oder aber aus Furcht vor den möglichen Folgen ihres Ungehorsams zu haben (Kant wird denselben Gedanken in der bekannten Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität als mögliche Motive einer Handlung formulieren; vgl. unten 5.15). Montesquieu thematisiert somit ein wichtiges Problem aller Theorien der Bürgertugend: Sobald das Verhalten der Staatsbürger durch Gesetze geregelt wird, neigen die Individuen dazu, aus bloßer Rechtsmäßigkeit, nicht aus Tugendhaftigkeit zu handeln. Die Gesetze laufen daher Gefahr, jene Bürgermoralität zu erodieren, die sie eigentlich schützen sollten (wie Rousseau meint), oder auf der sie basieren (wie z. B. Böckenförde und andere meinen). Ob ein solches Problem lösbar ist, und ob es einer Lösung überhaupt bedarf, bleibt vorerst offen. Durch den Rekurs auf die Figur des Gesetzgebers und durch die Einführung des Zensuramtes zeigt Rousseau auf jeden Fall eine grundlegende Skepsis gegenüber dem gemeinen Volk, gegenüber der Masse – und zwar gegen die Möglichkeit, dass die gemeinen Menschen über genügend moralische Autonomie verfügen, um aus eigenen Kräften einen ausreichenden Grad von Moralität zu erreichen. Eine ähnliche Skepsis hegt Rousseau gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten der Menge, wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 4.11). Daher lässt er sie in der Versammlung nicht diskutieren, sondern nur abstimmen. Rousseau misstraut dem Dialog unter den Bürgern; allgemeiner, er misstraut der Vernunft: Die Versammlung soll ihre Entscheidungen nicht aufgrund von Argumenten, sondern aufgrund einer unmittelbaren Wahrnehmung des Gemeinwillens treffen. Rousseaus Bürger kommen daher zur Versammlung mit einer klaren Vorstellung von dem, was sie wollen. Sind sie gute Bürger, entspricht ihr Sonderwille dem Gemeinwillen; sind sie „irregeführt“, bleibt der Gemeinwille versteckt. In beiden Fällen darf unter den Individuen keine Kommunikation stattfinden: Sie kommen zur Versammlung mit einem bestimmten Willen und tun nichts, um ihn eventuell zu verändern, oder um einen Kompromiss mit dem Willen der anderen zu erreichen. Auf diese Weise besteht der Entscheidungsprozess lediglich in einer Abstimmung, in der die Meinung der

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KAPITEL 4

einen über die Meinung der anderen den Sieg davonträgt bzw. bestimmte Interessen (im besten Fall das Gemeinwohl) über andere bestimmte Interessen (im besten Fall über die egoistischen Privatinteressen) triumphieren. Was gibt nun solcher Form der Entscheidungsnahme Legitimation? Rousseau sagt, die Bürger gelangen zu einer höheren Freiheit, wenn sie sich dem allgemeinen Willen unterwerfen; aber das gilt nur, wenn der allgemeine Wille auch tatsächlich der Gemeinwille ist. Und auch in diesem Fall ist es nicht klar, wieso die Individuen die Teilnahme am Entscheidungsprozess als eine bessere Alternative zur ursprünglichen Freiheit ansehen müssten, wenn die Teilnahme lediglich in einer Kraftprobe verschiedener Interessen besteht. Die Versammlung droht zu einer Neuauflage des von Rousseau abgelehnten Rechts des Stärkeren (CS I, 3) zu werden, in der dieses Recht von der jeweiligen Mehrheit beim Treffen von Entscheidungen ausgeübt wird. Die Mehrheit kann zwar den Gemeinwillen richtig interpretieren und ihm zur Geltung verhelfen, aber das bedeutet nichtsdestotrotz eine Gewalt über die Andersdenkenden – und damit bekäme der berühmtberüchtigte Spruch Rousseaus „On le forcera d’être libre“ [Man wird denjenigen, der sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, zwingen, frei zu sein] (CS I, 7) eine weitere Bedeutung. Anders liege die Sache, wenn diese Teilnahme mit einer konkreten Debatte verbunden wäre, im Laufe derer die Staatsbürger ihre individuellen Meinungen und Interessen revidieren und mit denjenigen der Mitbürger harmonisieren könnten. Das setzt jedoch voraus, dass sie in ihren Versammlungen miteinander kommunizieren und Debatten führen – eine Möglichkeit, die Rousseau verwirft. Es ist mit anderen Worten möglich, Rousseaus Auffassung des Gemeinwillens aus der Perspektive einer deliberativen Demokratie zu kritisieren – wie es Bernard Manin macht. Danach bestünde die Quelle der Legitimation „not in the predetermined will of individuals, but rather the process of its formation, that is, deliberation itself“ (Manin 1987, 352). Eine legitime Entscheidung ist danach nicht Ausdruck des Gemeinwillens oder des Gesamtwillens, sondern das Ergebnis eines kommunikativen Entscheidungsprozesses, an dem alle teilgenommen haben (zu den Charakteren jenes Prozesses vgl. Manin 1987, 351 ff.). Eine solche Lektüre von Rousseaus Republik im Sinne deliberativer Demokratie ist sicherlich legitim, wenn man versucht, eine von Rousseau inspirierte Theorie aufzubauen; sie darf jedoch nicht beanspruchen, eine legitime Interpretation des Rousseauschen Denkens zu sein, denn dieses Denken lässt eine solche Lektüre keineswegs zu. Bisher habe ich die Aspekte hervorgehoben, die Rousseaus Denken von einer liberalen Theorie (meistens) unterscheiden: Vorrang der Gemeinschaft über das Individuum, sittliche Tyrannei der Ersteren über das Letztere, Misstrauen gegen die moralische und intellektuelle Autonomie der Einzelnen, Misstrauen gegen die Vernunft bei politischen Entscheidungen, Ablehnung von Kompromissen unter individuellen Interessen usw. Es gibt jedoch ein Moment, das Rousseau mit den meisten Liberalen gemeinsam hat, und das aufgrund der so verschiedenen Schlüsse, zu denen es führt, Aufmerksamkeit verdient. Der ultimative Zweck von Rousseaus politischem Modell bleibt nämlich immer das individuelle Glück – was manche Interpreten dazu geführt hat, von einem bürgerlich-liberalen Rousseau zu sprechen (vgl. z. B. Illuminati 2002, 115). Solche Interpretation scheint durch eine berühmte Stelle aus der Abhandlung über die politische Ökonomie

ROUSSEAU: INDIVIDUEN ZWISCHEN UTOPIA UND WELTVERZICHT

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bestätigt zu werden: „Und ist es in der Tat nicht die Verbindlichkeit der ganzen Nation, dass sie sich um die Erhaltung des geringsten ihrer Mitglieder ebenso sorgfältig kümmere wir um die der übrigen? Und ist die Wohlfahrt eines einzigen Bürgers weniger eine gemeinschaftliche Angelegenheit als die des ganzen Staates?“ (EP 243) Rousseau verwirft dabei auch die Idee, ein Individuum dürfe für die Gemeinschaft oder für das Wohl aller anderen geopfert werden, es sei denn, er tut das als Patriot.98 Der Staat soll sich daher um die Wohlfahrt jedes einzelnen Bürgers kümmern. Das könnte allerdings auch die Rechtfertigung für eine paternalistische Regierungsform sein; und Rousseaus ideales politisches Modell trägt unverkennbar paternalistische Züge: Es ist nicht das Individuum, das entscheidet, wo sein Glück liegt, sondern Letzteres ist von vornherein bestimmt, denn es besteht in der vollkommenen Identifizierung mit der Gemeinschaft, und es ist Aufgabe des Staates, diese Identifizierung hervorzubringen. Die Staatsbürger der Rousseauschen Republik werden nicht nur gezwungen, frei zu sein; sie werden auch gezwungen, glücklich zu sein.

98 „Wenn man uns sagt, es sei gut, wenn einer allein für alle sterbe, würde ich diesen Satz im Munde eines würdigen und tugendhaften Patrioten bewundern, welches sich freiwilligerweise und aus Pflicht zum Heil seines Landes dem Tod weiht; allein, will man damit sagen, dass es der Regierung erlaubt sei, der Wohlfahrt der Menge einen Unschuldigen aufzuopfern, so halte ich diesen Grundsatz für einen der abscheulichsten, den die Tyrannei jemals erfunden hat, für den falschesten, den man vorbringen, für den gefährlichsten, den man zulassen könnte, und für den, der den Grundgesetzen der Gesellschaft am direktesten zuwider ist.“ (EP 243)

Kapitel 5 Kant: Die Republik der rationalen Teufel und die Moralisierung der Menschengattung

Kant hätte wohl wenig Anlass gesehen, der durch Bismarck bekannt gewordenen Formel von der Politik als einer „Kunst des Möglichen“ zu widersprechen. Er hätte nur hinzufügen müssen: innerhalb der Grenzen des Rechts. V. Gerhardt1

5.1. Kants Republikanismus neu entdeckt Schon seit Jahren ist eine Wiederentdeckung der politischen und Rechtsphilosophie Kants im Gange. Das geschieht sowohl im Zeichen einer traditionellen liberalen Lesart dieser Philosophie als auch im Laufe einer Neuinterpretation von Kant als Republikaner. Nicht, dass die schon mehrmals erwähnten Vertreter des Neo-Republikanismus den Königsberger Philosophen für ihre eigene Tradition in Anspruch nehmen wollen: Sie erwähnen ihn im Gegenteil so gut wie nie – mit Ausnahme von Philip Pettit, der ihn in seinem Buch über den Republikanismus als einen „continental romantic“ wie Herder, Rousseau, Fichte, Hegel und Marx nennt (Pettit 1997, 18). Die Rede vom „Kantischen Republikanismus“ hörte man in den letzten Jahren eher von Autoren, die keineswegs als Neo-Republikaner bezeichnet werden können, wie z. B. Ingeborg Maus oder Jürgen Habermas, der den Begriff 1996 benutzte (Habermas 1996, 126).2 Habermas identifiziert Kants Republikanismus mit der Intuition, dass niemand „auf Kosten der Freiheit eines anderen frei sein“ kann, und dass „die Freiheit eines Individuums mit der aller anderen nicht nur negativ, über gegenseitige Begrenzungen“, sondern auch positiv durch „richtige Abgrenzungen“, die „das Ergebnis einer gemeinsam ausgeübten Selbstgesetzgebung“ sind, verknüpft ist (Habermas 1996, 126). Wie bei Rousseau sind die Staatsbürger gleichzeitig „gemeinsam“ Autoren der Gesetze und „einzeln“ Adressaten derselben. Kants Republik ist daher eine Demokratie (in unserem Sinne, nicht in dem Rousseaus und Kants). Habermas spricht vom „im demokratischen Prozess

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Gerhardt 1996, 484. Dabei nahm er sein Urteil von 1992 weitgehend zurück, denn in Faktizität und Geltung wurde Kant noch als typischer Vertreter des liberalen Menschenrechtsprinzips dargestellt und Rousseau entgegengesetzt, der hingegen als Vertreter des republikanischen Volkssouveränitätsprinzips hervortrat (Habermas 1992, 112ff.; dazu vgl.Pinzani 2000, 69ff.). In Wirklichkeit spielen bei Kant beide Prinzipien eine entscheidende Rolle bei der Definition des Begriffs der Republik, wie Maus in ihrer Kritik an der Habermasschen Lesart zu Recht betont hat (Maus 1995).

KANT: DIE REPUBLIK DER RATIONALEN TEUFEL

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rechtlich institutionaliserte[n] öffentliche[n] Gebrauch der Vernunft“ (a. a. O.) und spricht dabei einen weiteren zentralen Aspekt von Kants Begriff der Republik an (vgl. unten 5.11). Ingeborg Maus sieht in Kants Definition der Republik das Äquivalent zum Begriff einer Radikaldemokratie, der eigentlich typisch für die zweite Frankfurter Schule ist. Nach ihrer Interpretation löst sich Kant endgültig vom „materialen Natur- bzw. Vernunftrecht“, um „die Richtigkeit positiver Rechtsnormen [...] auf das ‚vernünftige‘, d. h. demokratische Prozedere ihrer Entstehung“ zu gründen (Maus 1992, 10). Wer diese Exegese des Anachronismus bezichtigen wollte, da sie sich eines Kant unbekannten Begriffs (Radikaldemokratie, eben) bedient, sollte bedenken, dass schon 1796 Friedrich Schlegel gemeint hatte, der Kantische Republikbegriff solle in demokratischer Hinsicht gelesen werden. Daher wollte er Kants „Republikanismus“ durch seinen „Demokratismus“ ersetzt wissen, den er für eine bessere Form des Kantismus hielt – sicher nicht der erste Fall eines soi disante Kantianers, der über Kant besser als Kant selbst Bescheid zu wissen meinte (Schlegel 1796; vgl. Koselleck 1972). Radikal neu interpretiert wurde auch die viel kritisierte, von Kant immer wieder unmissverständlich klar ausgesprochene Ablehnung eines Widerstandsrechtes, die lange Zeit von vielen Interpreten als eine Konzession an den aufgeklärten Despotismus eines Friedrich II. oder als ein Hobbesianischer Rest im Denken Kants angesehen wurde. Peter Burg und Domenico Losurdo haben jedoch schon seit langem gezeigt, wie sich diese Ablehnung in erster Linie gegen die Konterrevolution in der Vandée und gegen die reaktionären Kritiker der Französischen Revolution wendet, die eben an das Gewissen der Individuen appellierten und eine staatliche Macht angriffen, die sie gleichzeitig für illegitim und moralisch böse hielten (Burg 1974 und Losurdo 1983). Nicht zufällig geht bei Kant die Ablehnung des Widerstandsrechtes für die Individuen mit der zwar nicht legalen, sondern geschichtsphilosophischen Rechtfertigung des revolutionären Phänomens zusammen, das von ihm als Moment jenes sozialen, politischen und moralischen Fortschritts angesehen wird, in dem die Geschichte der menschlichen Gattung besteht. Gewiss handelt es sich lediglich um eine Rechtfertigung im Lichte einer bestimmten Geschichtsphilosophie, nicht um eine juristische Rechtfertigung, denn keine Revolution kann rechtlich-förmlich als legitim angesehen werden. Sie kann aber als faktischer Übergang von einer unzeitgemäßen, ungerechten politischen Ordnung – wie im Falle des französischen ancient régime – mit einer Ordnung, die dem republikanischen Ideal näher steht – wie im Falle der französischen republique –, gerechtfertigt werden (vgl. unten 5.9). Das bedeutet nicht, dass Kant die politische Theorie der Französischen Revolution geliefert hat, wie der junge Marx behauptete („Ist daher Kants Philosophie mit Recht als die deutsche Theorie der französischen Revolution zu betrachten ...“, Marx 1956 ff., 80). Aber es ermöglicht, die positiven Urteile Kants über den aufgeklärten Despotismus Friedrichs II. oder über die monarchische Regierungsform in einem neuen Licht zu sehen. Nach einer interpretatorischen Linie, die von Reinhart Koselleck bis hin zu Claudia Langer reicht (Koselleck 1972, Langer 1986), bevorzugt Kant die Idee einer stufenweisen Annäherung an das republikanische Ideal (diesen Prozess bezeichnet er eigentlich als „Republikanismus“) durch die Realisierung von verfassungsrechtlichen Reformen, die freiwillig vom Inhaber der souveränen Macht – und das heißt in einer absoluten

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KAPITEL 5

Monarchie: vom Fürsten – durchgeführt werden sollten. Aber auch wenn Kant ein Gemäßigter unter dem Gesichtspunkt der Mittelauswahl ist, bleibt er ein Radikaler in Bezug auf den Zweck, nämlich die Realisierung einer Republik, in der die konkrete Souveränität vom Volk durch seine Repräsentanten ausgeübt wird. Der aufgeklärte Absolutismus ist für Kant lediglich ein „historisches Durchgangsstadium zur Herstellung einer ‚Republik‘.“ (Maus 1992, 15) Es ist meine Absicht zu zeigen, dass Kants Auffassung der Republik jedoch Aspekte aufweist, die einerseits mit der traditionellen republikanischen Tradition durchaus verbunden sind und aus ihr eine weniger liberale Theorie als normalerweise angenommen machen; und die andererseits mit unserer Auffassung von Demokratie kaum in Einklang zu bringen sind. Gleichzeitig möchte ich hervorheben, wie Kants politische Theorie trotz des zentralen Stellenwertes, den sie den staatlichen und rechtlichen Institutionen beimisst, keineswegs in einen bloßen Statalismus mündet bzw. ein blindes Vertrauen in den Staat fördert, sondern im Gegenteil von den Bürgern eine wachsame, kritische Haltung solchen Institutionen gegenüber erwartet. Fern davon, für bedingungslosen Gehorsam und Obrigkeitssinn zu plädieren, lädt uns Kant zu einem gesunden Misstrauen und zur wachsamen Verteidigung rechtlicher Freiheit und Gleichheit vor möglichen Machtmissbräuchen seitens des Staates ein. Darin (und nicht etwa in seiner Eigentumstheorie, wie manche Interpreten meinen) erweist er sich als genuin liberal.

5.2. Moral und Politik bei Kant Kant wird von manchen Interpreten vorgeworfen, er habe die Politik der Moral unterstellt. So z. B. Ernst Vollrath: „Es ist Kant gewesen, der in seinem ethischen Letztbegründungsprogramm am entschiedensten die vollkommene Unterstellung der Politik unter die Prinzipien der Moral gefordert hat.“ (Vollrath 1996, 93) Die Kritik ist schwerwiegend, und für die Fortsetzung unserer Analyse ist es erforderlich, ihr die Spitze wegzunehmen, wenn wir unsere exegetische Hypothese nicht zurücknehmen wollen. Eine vollständige Widerlegung verbietet sich, da die Kritik zum Teil zutrifft: Aber ich teile die negative Haltung gegen ihren Befund (die untergeordnete Stellung der Politik der Moral gegenüber) nicht. Ich werde mich daher nun mit Vollraths Interpretation auseinandersetzen, um zu zeigen, dass Kant eine durchaus raffinierte Auffassung der Beziehung von Moral und Politik besitzt, die gleichzeitig seine Vorstellung von der idealen Staatsverfassung mitbestimmt (die Behandlung der Beziehung von Recht und Moral wird in den Paragraphen 5.15-17 weitergeführt). Kant habe nach Vollrath „ein außerordentlich geschrumpftes Politik-Verständnis, das für diese nichts übrig lässt als ‚ausübende Rechtslehre‘ (ZeF, 370) zu sein oder der ‚Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten sei‘ (RM, 429)“ (Vollrath 1996, 93). Vollrath führt jenes geschrumpfte Verständnis auf den „monologischen Charakter der Kantischen Moralphilosophie“ zurück und spricht von „deren politische[r] Unbrauchbarkeit“ (a. a. O., 94). Dabei begeht er denselben Fehler seiner diskurstheoretischen Kontrahenten (die er am selben Ort kritisiert): Sowohl Vollrath als auch Apel und Habermas (die hier Arendt folgen) interpretieren nämlich Kants Moral-

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prinzipien als Prinzipien, die das Individuum monologisch, d. h. „sich mit nichts als mit seiner Vernunft beratend“ (Arendt 1992, 68; vgl. Habermas 1991, 167), finden. Kant vertritt jedoch eine ganz andere Position: Kants Ethik basiert vielmehr auf der Idee, dass Moralität nur im Rahmen einer Gemeinschaft aller vernünftigen Wesen möglich ist (vgl. unten 5.5, 5.6 und 5.14). Die Existenz einer solchen Gemeinschaft begründet den kategorischen Imperativ, dessen drei Formeln vom Handelnden fordern, dass er sich mit dem Gesichtspunkt anderer ernst auseinandersetzt – und das gilt besonders für die dritte, die Reich-der-Zwecke-Formel (dazu vgl. unten 5.14). Das Kriterium, anhand dessen die Individuen die Moralität der eigenen Maximen bemessen können, wird durch die Einbeziehung der Perspektive aller anderen Handelnden gefunden: Monologisch dabei ist höchstens seine Anwendung (vgl. dazu stellvertretend für beide Positionen Kuhlmann 1996 und Höffe 1996). Außerdem ist auch Kants Verständnis von Politik nicht unbedingt so geschrumpft, wie Vollrath meint. Das geht auch aus den von ihm zitierten Passagen hervor.3 Was die erste Passage betrifft, so besagt Kant nicht, dass Politik mit Recht gleich sei, sondern dass sie „ausübende Rechtslehre“ ist. Wie Volker Gerhardt dazu richtig bemerkt, ist also Politik „eine gewisse ‚Ausübung‘ dessen, [...] was das Recht lehrt“, d. h. primär dessen, „was rechtens ist, was also den Prinzipien des Rechts entspricht!“ (Gerhardt 1996, 478). Das Recht lehrt, wie Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit unter den Individuen gesichert werden können, „und durch diese ‚Lehre‘ sind der Politik auch ihre Ziele vorgegeben“ (a. a. O., 479). Der Politik kommt die Aufgabe zu, das, was die

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Hier beide Stellen: „Die Moral ist schon an sich selbst eine Praxis in objektiver Bedeutung, als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen, und es ist offenbare Ungereimtheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, dass man es doch nicht könne. Denn alsdann fällt dieser Begriff aus der Moral von selbst weg (ultra posse nemo obligatur); mithin kann es keinen Streit der Politik als ausübender Rechtslehre mit der Moral als einer solchen, aber theoretischen (mithin keinen Streit der Praxis mit der Theorie) geben: man müßte denn unter der letzteren eine allgemeine Klugheitslehre, d. i. eine Theorie der Maximen verstehen, zu seinen auf Vortheil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen, d. i. leugnen, dass es überhaupt eine Moral gebe“ (ZeF VIII, 370); „Um nun von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert) zu einem Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet) und vermittelst dieses zur Auflösung einer Aufgabe der letzteren dem allgemeinen Rechtsprinzip gemäß zu gelangen: wird der Philosoph 1) ein Axiom, d. i. einen apodiktisch gewissen Satz, der unmittelbar aus der Definition des äußern Rechts (Zusammenstimmung der Freiheit eines Jeden mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze) hervorgeht, 2) ein Postulat (des äußeren öffentlichen Gesetzes, als vereinigten Willens Aller nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von Jedermann Statt haben würde), 3. ein Problem geben, wie es anzustellen sei, dass in einer noch so großen Gesellschaft dennoch Eintracht nach Prinzipien der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (nämlich vermittelst eines repräsentativen Systems); welches dann ein Grundsatz der Politik sein wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Dekrete enthalten wird, die, aus der Erfahrungserkenntnis der Menschen gezogen, nur den Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten sei, beabsichtigen. — Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.“ (RM VIII, 429)

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Rechtslehre (als bloße Theorie) als geboten erweist, in die Praxis umsetzen. Sie wird daher zu ‚ausübender Rechtslehre‘. Dabei darf mit dieser Ausübung nicht nur die mechanische Anwendung bzw. Umsetzung von Rechtssätzen verstanden werden. Die Rechtsprinzipien sollen vielmehr in konkrete Rechtsnormen übersetzt werden, die der Wirklichkeit der konkreten Rechts- bzw. politischen Gemeinschaft Rechnung tragen. Politik lässt sich in dieser Hinsicht immer nur mit Hilfe der Urteilskraft ausüben: Sie braucht „die konkrete historisch-pragmatische Erfahrung, das Gespür für Situationen, Personen und Konstellationen, das Ohr für den richtigen Rat, das Unterscheidungsvermögen zwischen tauglichen und untauglichen Theorien, das Vertrauen in die einmal getroffene Entscheidung und die zutreffende Selbsteinschätzung“ (a. a. O., 483). Außerdem behauptet Kant auch nicht, dass die Politik der Moral immer unterstellt werden soll, sondern lehnt lediglich die Möglichkeit ab, dass zwischen einer rechtsbestimmenden Moral und der Anwendung der von ihr definierten Rechtsprinzipien Unverträglichkeit herrscht. Otfried Höffe unterscheidet in Bezug auf Kants Position drei Dimensionen, unter denen die Moral das Recht bestimmt: Als rechtsdefinierende Moral gebietet sie, dass das Recht auf moralische Rechtsgrundsätze orientiert; als rechtslegitimierende Moral legitimiert sie eine positive Rechtsordnung, „namentlich ihre Zwangsbefugnis“; als rechtsnormierende Moral definiert sie schließlich die erwähnten moralischen Grundsätze, die einer positiven Rechtsordnung als Orientierung dienen sollen (Höffe 2001, 107). In dieser Interpretation wird Moral nicht bloß als individuelle Moral verstanden, sondern als politische Gerechtigkeit definiert. Das scheint mir im Einklang mit Kants Position zu sein und erklärt auch die angebliche Unterstellung der Politik unter moralische Prinzipien, auf die sich Vollrath bezieht. Recht und Moral werden von Kant strikt getrennt (vgl. unten 5.15 und passim), aber mit dem letzteren Begriff meint er die persönliche und die konventionelle, nicht jedoch die institutionelle Moral. Machiavelli hatte die Politik als ein Gebiet angesehen, in dem das, was zählt, vor allem die individuellen Handlungen sind (vgl. oben 2.1). Daher hatte er sich für die Trennung jenes Bereichs von der Moral als personeller Moral ausgesprochen: Der Politiker darf bei seinem öffentlichen Handeln gegen die Moral verstoßen. Kant führt eine weitere Dimension von Moralität ein: Die institutionelle. Moral erschöpft sich nicht in einem System von Normen, das die individuelle Verhaltensweise zu regeln beansprucht; ihr Geltungsgebiet erstreckt sich hingegen auch auf die staatlichen Institutionen. Die moralischen Gebote, denen Politiker gehorchen sollen, sind daher nicht die Gebote jener personellen Moral, von deren Einfluss Machiavelli das politische Handeln befreit hatte, sondern politisch-moralische Gebote. Diese institutionelle Moral basiert auf dem Prinzip individueller Autonomie und zielt auf die Gewährung individueller Freiheit und Gleichheit in dem, durch den und vor dem Staat. Damit weist Kant den staatlichen Institutionen Aufgaben zu, die weit über das Selbsterhaltungsgebot für den Staat selbst hinausgehen, in dem republikanische Denker wie Machiavelli, Rousseau und andere den obersten politischen Imperativ sehen. In der zweiten von Vollrath zitierten Passage spricht Kant zudem von „einem Grundsatz der Politik“, der zur konkreten Anwendung der metaphysischen Rechtsbegriffe in der Praxis dienen soll (RM VIII 429; Hervorheb. – A. P.). Wenn er nun Politik mit derartiger

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Anwendung identifizieren würde, würde er von dem Grundsatz der Politik schlechthin sprechen. Zwar muss die Politik, gemäß „dem allgemeinen Rechtsprinzip“, „jederzeit dem Recht angepasst werden“ (a. a. O.), aber sie besteht nicht nur in der Anwendung rechtlicher Normen. Außerdem folgen sie anderen Prinzipien als den moralischen, auch wenn die metaphysischen Rechtsprinzipien mit ihnen niemals in Konflikt treten (da sie alle auf dem Postulat der menschlichen Autonomie basieren). Mit anderen Worten: Die Transformation der metaphysischen Rechtsprinzipien in positive Rechtsnormen einer besonderen Rechtsordnung ist für Kant eine politische Tätigkeit. Zwar darf sie also die metaphysischen Rechtsprinzipien nicht verletzen, ansonsten jedoch ist sie von Überlegungen moralischer Art insofern frei, als auch jene Prinzipien davon frei sind, und als sie gegen die politische bzw. institutionelle Moral nicht verstößt.

5.3. Selbstbestimmung, Volkssouveränität und Verfassung Vollrath weist auf eine weitere Schwierigkeit hin, die von Kants Projekt der Legitimierung politischer Institutionen und Entscheidungen durch Rekurs auf den Begriff der Selbstbestimmung aufgeworfen wird, nämlich die problematische Verbindung von individueller und kollektiver Selbstbestimmung (Vollrath 1996, 96 f.). Während im Fall von Individuen der Begriff Selbstbestimmung unproblematisch anzuwenden sei, werde eine solche Anwendung auf der Ebene kollektiver Entscheidungen höchst fragwürdig. Sowohl die „idealpolitische“ als auch die „realpolitische Variante des Selbstbestimmungskonzeptes“ (a. a. O., 101 ff.) setzen die Möglichkeit einer Anwendung dieses Begriffes auf politischer Ebene voraus: die Erstere spricht Selbstbestimmung dem corpus der Bürger, die Letztere dem Staat als Souverän zu. Beide jedoch gehen von einem reflexiven Begriff der Selbstbestimmung aus, nach dem das Subjekt durch Reflexion zu seinen Entscheidungen gelangt. Vollrath stellt beiden Varianten seine eigene Position entgegen, die er „zivilpolitisch“ nennt, und die auf einem „transitiven Selbstbestimmungskonzept“ beruht (a. a. O., 104 ff.). „Politisch macht Selbstbestimmung ausschließlich in transitiver Bedeutung Sinn: Selbst zu bestimmen, durch wen und wie man regiert wird.“ (A. a. O., 104) Vollrath zitiert hier Kielmannsegg, der Demokratie und Selbstbestimmung entschieden voneinander trennt: „Wer an Entscheidungen mitwirkt, verfügt über andere, wie immer die Entscheidungsregel im einzelnen ausgestaltet sein mag. Und: Wer kollektiven Entscheidungen unterworfen ist, ist den Verfügungen Dritter unterworfen, auch wenn er selbst an diesen Entscheidungen mitwirkt.“ (Kielmannsegg 1988, 62 f., zit. in: Vollrath 1996, 97 f.) Das Grundprinzip der zivilpolitischen Variante ist daher: „Eingeschränkte, aber reale Autonomie in der wechselseitigen Heteronomie durch gegenseitige Beschränkungen und Kontrollen: Mitbestimmung.“ (Vollrath 1996, 105) Vollrath beruft sich dabei nicht auf Kant, sondern auf Montesquieu und dessen Prinzip „Le pouvoir arrête le pouvoir“ (Vom Geist der Gesetze, XI, 44); er plädiert folglich für „die Verlagerung des Zentrums der

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„Um den Missbrauch der Macht zu verhindern, muss vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der Macht Schranken setzen.“ (Montesquieu 1992, I 213)

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KAPITEL 5

politischen Wahrnehmung vom negativ oder affirmativ bestimmten Staatsbegriff auf den Verfassungsbegriff“ (a. a. O.). Vollraths Kritik richtet sich zu Recht gegen Rousseau und Hobbes als Vertreter der ideal- resp. realpolitischen Variante des Selbstbestimmungskonzeptes. Rousseau hält an der Idee der Selbstbestimmung des Volkes als corpus der Staatsbürger fest (mit allen Einschränkungen, die eine solche Volkssouveränität in seiner Auffassung de facto erlebt), und Hobbes identifiziert den Willen des Staatsoberhauptes (Individuum oder Gruppe) mit dem Willen des Staates schlechthin. In beiden Fällen wird Selbstbestimmung mit dem konkreten Willen von Individuen identifiziert, mögen sie die Bürger oder der Monarch sein. Das ist jedoch bei Kant keineswegs der Fall. Er vertritt vielmehr ausgerechnet jenen „Verfassungsbegriff“, für den sich Vollrath ausspricht. Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau (und noch mehr zu Machiavelli), vielmehr im Einklang mit Montesquieu spricht Kant die eigentliche Souveränität weder den konkreten Individuen, die das corpus der Staatsbürger bilden, noch dem konkreten Staatsoberhaupt, sondern dem Volk als abstrakter rechtlicher Person zu, deren Rolle durch die Verfassung bestimmt wird. Bei Kant (und vor ihm bei Montesquieu) findet also eine Entindividualisierung der Souveränität statt: Sie wird nicht länger mit dem kontingenten Willen eines oder mehrerer Individuen identifiziert, sondern abstrakt als die Instanz definiert, die „innerhalb eines konkreten Entscheidungssystems die letztgültige Entscheidung zu treffen vermag“ (Abromeit 1999, 20), unabhängig davon, ob diese Instanz tatsächlich befragt wird. Um den Wortschatz Rousseaus zu benutzen: Der Gemeinwille ist bei Kant nicht der Wille einer konkreten Gemeinschaft bzw. Gruppe von Individuen, sondern eine theoretische Voraussetzung. Vorausgesetzt wird, dass die Rechtsgenossen einer bestimmten Rechtsgemeinschaft bzw. die Staatsbürger einer bestimmten staatlichen Ordnung jene Entscheidungen als legitim, d. h. als die eigenen anerkennen, die gemäß gewissen Prinzipien und nach einem von vornherein festgesetzen Verfahren getroffenen werden. In dieser Hinsicht ist Kant näher an Hobbes und dessen Autorisierungstheorie als Rousseau und dessen Volksabstimmungstheorie (vgl. unten 5.8). Aber im Unterschied zu Hobbes findet keine vollständige Übergabe der Entscheidungsmacht in die Hände eines Einzelnen bzw. einer Gruppe von Individuen statt. Es ist vielmehr notwendig, dass die Entscheidungen gemäß einem von vornherein bestimmten Verfahren getroffen werden, und dass es verschiedene Instanzen bzw. Gewalten gibt, denen jeweils eine bestimmte Rolle zugewiesen wird. Die Volkssouveränität artikuliert sich bei Kant durch die Grundnormen, welche die Verfassung einer politischen Gemeinschaft ausmachen – jene Grundnormen, deren Prinzipien Gegenstand der Rechtslehre sind. Obwohl er mit Montesquieu eine konstitutionalistische Position teilt, vertritt Kant im Unterschied zum Franzosen einen starken Begriff der Volkssouveränität, der keine Ausnahme zugunsten weniger demokratischer Regierungsformen zulässt. Nicht nur identifiziert er in seinen Schriften den Souverän mit dem Volk: In den Vorarbeiten zur Friedensschrift schreibt er sogar: „Wo Staat und Volk zwey verschiedene Personen sind, ist despotism.“ (XXIII, 193) Andererseits scheint er auch zwischen nomineller Souveränität und konkreter Souveränitätsausübung zu unterscheiden. Eine direkte Ausübung der Souveränität durch das Volk wird z. B. von ihm immer ausgeschlossen: Die wahre Republik ist repräsentativer Natur. Dass Kant sowohl auf die Idee einer absoluten Volks-

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souveränität insistiert als auch die Idee einer direkten Ausübung dieser Souveränität zugunsten der Idee politischer Repräsentation ablehnt, weist auf seinen Konstitutionalismus hin: Nur in der Idee einer Verfassung können die beiden prima facie sich ausschließenden Auffassungen miteinander versöhnt werden. In Kants Augen findet die Versöhnung nur in einer republikanischen Verfassung statt.

5.4. Kants Begriff der Republik: seine geschichtliche Entwicklung Kant führt den Begriff der Republik schon in der ersten Kritik ein, als er dazu kommt, „von den Ideen überhaupt“ zu sprechen (KrV, Transzendentale Dialektik, I. Buch, 1. Abschnitt). Er verteidigt Platons ideale Republik gegen seine Kritiker als eine „notwendige Idee“, die man versuchen soll, trotz aller empirischen Schwierigkeiten und Hindernisse in die Praxis umzusetzen, möge die Umsetzung auch nie vollkommen sein.5 Dabei definiert er Republik als „eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (B 373), und polemisiert gegen paternalistische Auffassungen, welche die Aufgabe einer solchen Verfassung (und des Staates überhaupt) mit der Verfolgung der „größten Glückseligkeit“ durch die Bürger identifiziert. Diese Polemik gegen den Paternalismus bedient sich eines Arguments, das man schon seit Lockes erstem Treatise on Government kennt und das Kant immer wieder benutzen wird: Die Individuen sollen frei sein zu entscheiden, wie sie glücklich sein wollen, und ihre eigene Vorstellung von Glückseligkeit verfolgen, solange das nicht eine Verletzung der gleichen Freiheit der anderen Individuen zur Folge hat (vgl. auch GS VIII, 290 f.; RL VI 317). Wie Judith Shklar zu Recht bemerkt: „Kant worried quite reasonably that if one puts happiness first, one may well choose a benevolent despotism rather than freedom.“ (Shklar 1984, 238) Den Begriff der Republik wird Kant erst in den 90er Jahren (in der Friedenschrift, in der Rechtslehre, im Streit der Fakultäten, in der Anthropologie und sogar in der Religionsschrift 6) wieder benutzen. Aber schon in den ‚kleineren‘ geschichtsphilosophischen und politischen Schriften hatte er klargemacht, was er darunter verstand, obwohl er sich dort des allgemeineren Ausdrucks „bürgerliche Verfassung“ bedient. In der Idee (1784) definiert Kant die bürgerliche Gesellschaft als eine, „in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung“ (VIII, 22). Auch hier wird also der Begriff eines vollkommenen bzw. idealen Gemeinwesens mit der Idee einer Harmonie von Freiheit und gesetzlicher Einschränkung iden-

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Die platonische Republik als Ideal wird eigentlich schon in der Dissertatio von 1770 erwähnt (II, 11). Dort allerdings nur, als er in Analogie zum politischen Naturzustand und zur politischen Republik von einem sittlichen Naturzustand und von einer „Republik nach Tugendgesetzen“ als „Volke Gottes“ (VI, 100) oder als „System wohlgesinnter Menschen“ spricht (VI, 98). Dass diese religiöse Benutzung des Wortes allerdings auf eine Verbindung der politischen und der moralischen Ebene im Zeichen des „Reichs der Zwecke“ hinweist, wird noch zu sehen sein (vgl. unten 5.14).

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tifiziert. Spricht also Kant von einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung“, so benutzt er den Ausdruck als Synonym von Republik. Im Gemeinspruch (1793) und in der Friedensschrift (1795) bietet Kant eine genauere Definition einer solchen Verfassung an. Im letzteren Werk führt er auch den Begriff der Republik wieder ein, den er in der Rechtslehre (1797), in der er eine vollständige Staatstheorie anbietet, und in der Anthropologie (1798), in der er das Thema einer bürgerlichen Verfassung nur kurz behandelt, wieder aufnimmt. Im Streit der Fakultäten (1798) geht er schließlich noch einmal auf die Idealität dieses Begriffs ein, so dass man fast den Eindruck hat, dass hier ein idealer Kreis geschlossen wird, der von der Verteidigung des Ideals der platonischen Republik in der ersten Kritik ausgegangen war und in der Verteidigung des Ideals der respublica noumenon endet.

5.5. Wirkung und Gegenwirkung: der vorkritische Kant7 Ein Blick auf die vorkritische Zeit wird uns helfen, Kants spätere Auffassung der Republik besser zu verstehen. In den Reflexionen jener Zeit kann man sehen, wie er seine Position von derjenigen Hobbes’ und Rousseaus langsam differenziert. Man kann außerdem die Entstehung mancher wichtiger Ideen verfolgen, die in den politischen und geschichtsphilosophischen Schriften der 80er und 90er Jahre eine wesentliche Rolle spielen. Damit soll gleichzeitig die Auffassung widerlegt werden, Kants politische Philosophie (und damit ist auch seine Rechtsphilosophie gemeint) sei eine späte Erscheinung oder sogar ein Ausdruck der Senilität, die ihn in seinen letzten Lebensjahren befiel (so Schopenhauer8 und, ihm ausdrücklich beipflichtend, Arendt9). Kants rechtlich-politisches Denken stellt hingegen nicht nur ein zentrales Moment seiner gesamten Philosophie dar, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um seine Ethik besser zu verstehen (vgl. dazu Sullivan 1994). Beide – Ethik und rechtlich-politisches Denken – thematisieren nämlich den absoluten Wert des Individuums als autonomes Wesen. Das grundlegende trait d’union zwischen beiden Bereichen besteht jedoch darin, dass Moral nur im Kontext ziviler Gesellschaft denkbar ist, wie wir sehen werden. Aus den ersten Notizen, die Kant der Problematik der politischen Gesellschaft widmet, wird ersichtlich, dass er sie als Gemeinschaft von Gleichen begreift – im Unterschied zu Achenwall, der sie in erster Linie als „die Verbindung zwischen Herrscher und Untertanen“ und nur in zweiter Linie als die Verbindung „der Untertanen untereinander“ definiert hatte (Achenwall 1995, 21). Kant schreibt hingegen: „Alle societas ist aequalis. Denn alle theile eines Ganzen sind einander coordinirt (das ist reciproce actio). 7 8

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Für die folgenden Überlegungen bin ich Gonnelli 1996 (20 ff.) und Shell 1996 (10 ff.) sehr verpflichtet. Die Welt als Wille und Vorstellung, IV. Buch, § 62: „Nur aus Kants Altersschwäche ist mir seine ganze Rechtslehre, als eine sonderbare Verflechtung einander herbeiziehender Irrthümer [...] erklärlich.“ (in: Schopenhauer 1988, I, 436) Vgl. Arendt 1992, 18. Nach Arendt habe Kant sogar „niemals eine politische Philosophie geschrieben“ (a. a. O., 17).

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Zu der unionem voluntatum wird erfordert, dass ein jeder Wille ein Theil vom gesamten Willen sei und also ein jeder durch den ganzen Willen nur regiert wird, so fern er seinen eignen Willen mit der anderen ihrem Verbunden hat. Zwischen imperante und subdito ist keine societät.“ (R 7548; XIX, 452) Er übernimmt dabei Hobbes’ Sorge um die Konfliktualität, die aus der Verschiedenheit der Interessen sowie der Meinungen entsteht (vgl. oben 3.8): „Würden die Menschen vollkommen einig im Willen seyn, so wäre kein Gesetz nöthig. Wären sie im Urtheil über einen fall einig, so wäre kein Richter nöthig. Würden sie das Gute alles gern thun, so wäre kein Zwang nöthig.“ (R 7710; XIX, 497) Die von Kant gemeinte Gleichheit ist somit nicht natürlich, sondern muss rechtliche Gleichheit sein (R 752210). Die Gleichheit entsteht somit aus dem Spiel gegenseitigen Zwangs, aus dem Spiel von actio und reactio (R 666711). Schon in seinen frühen Schriften – beginnend schon mit der Schrift über die „lebendigen Kräfte“ (1747) – hatte Kant das Universum im Lichte des Konflikts entgegensetzter Kräfte zu lesen versucht und sich dabei sowohl von Newton als auch Epikur inspirieren lassen.12 Durch Begriffe wie „schießende Kraft“, „Schwungskraft“, „Zurückstoßungskraft“ (vgl. die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755) hatte er versucht zu zeigen, wie alle Dinge zwar in einer Beziehung ständiger Spannung untereinander existieren, gleichzeitig jedoch eine Einheit darstellen, auch als Ergebnis göttlicher Schöpfung (vgl. Shell 1996, 10 ff.). Dieses metaphysische Modell taucht in Kants politischer Philosophie nicht nur auf der sprachlichen Ebene wieder auf – nämlich dann, wenn er die Metapher von Wirkung und Gegenwirkung zur Erklärung der Beziehung gegenseitiger Einschränkung und gegenseitigen Zwangs unter den Individuen im Recht benutzt –, sondern auch auf eine subtilere, implizite Weise. Auch die Menschen als Rechtsgenossen bilden trotz aller „Wirkung und Gegenwirkung“ und trotz ihrer „ungeselligen Geselligkeit“ eine Einheit – und zwar auf zwei Ebenen: auf der Ebene ihrer konkreten Rechtsgemeinschaft und auf der Ebene der Menschheit. Im letzten Fall bilden sie sogar ein politisches Reich der Zwecke (vgl. unten 5.14). Dass Kant Newtons Begriff der gegenseitigen Anziehung der Körper nicht nur für seine Naturphilosophie und Metaphysik übernimmt, sondern ebenfalls auf die Moralphilosophie anwendet, kann man auch im Falle einer anderen vorkritischen Schrift feststellen, nämlich der Träume eines Geistersehers (1766). Im zweiten Hauptstück des ersten Teils kommt Kant auf die Möglichkeit einer Gemeinschaft der Geisterwelt zu sprechen, die er „mundus intellegibilis“ nennt (II, 329) – 10 „Aus der Definition der Gesellschaft erhellet schon, dass die Glieder der Gesellschaft müssen gleiche Rechte gegen einander haben.“ (XIX, 446) 11 „Man kann die Verhältnisse des Rechts mit denen der Körper vergleichen. Ein jeder Körper ist gegen alle andere in Ruhe, außer so fern er durch andere bewegt wird, und eben so hat jedermann gegen anderen Pflichten der Unterlassung, außer so fern andere entweder mit ihm einen einstimmigen Willen machen oder seinen Zustand wider seinen Willen verändern. Actio est aequalis reactione.“ (XIX, 128) 12 Saner 1967 interpretiert das Gesamtwerk Kants – anfangend eben mit der Schrift über die lebendigen Kräfte – als einen einheitlichen Versuch, die Wirklichkeit im Lichte der Dialektik von Widerstreit und Einheit zu verstehen.

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ein Begriff, der auch in den kritischen Werken benutzt wird, um die noumenische Welt zu bezeichnen. „Es ist demnach so gut als demonstriert, oder es könnte leichtlich bewiesen werden, wenn man weitläuftig sein wollte, oder noch besser, es wird künftig, ich weiß nicht wo oder wenn, noch bewiesen werden: dass die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslich verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, dass sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht.“ (II, 333) Diese immaterielle Gemeinschaft ist für Kant der Ort der Moralität. Um das zu erklären, benutzt Kant den Begriff des allgemeinen Willens auf eine ähnliche Weise wie Diderot (vgl. oben 4.9), jedoch nicht nur als Willen der gesamten menschlichen Gattung, wie beim französischen encyclopédiste, sondern als Willen aller immateriellen Wesen, die auch nichtmenschliche Wesen – Gott, Engel usw. – sein können und in den späteren Werken als „noumenische Wesen“ bezeichnet werden. Der partikulare Wille der Individuen wird durch „sittliche Antriebe“ bewegt, die Ausdruck eines äußeren, sittlichen Willens sind, der eben ein für alle immaterielle Wesen gemeinsamer Wille ist: „Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Regel des allgemeinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen.“ (II, 335) Hier taucht Newton und seine Gravitationstheorie auf: Auch er hatte „die Bestrebung aller Materie, sich einander zu nähern“ als eine wahrhafte „Tätigkeit der Materie“ bezeichnet und von ihr als „Anziehung“ gesprochen (a. a. O.). Sollte es denn nicht möglich sein, fragt Kant, die Abhängigkeit des partikularen Willens vom allgemeinen Willen als eine ähnliche „Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung“ zu sehen, „dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet?“ (A. a. O.). Auf solche Weise wäre es möglich, die Moralität auf einer festen Basis zu etablieren, nämlich auf der sittlichen Einheit der immateriellen Welt. Es ist jene Einheit, die allen unseren moralischen Bestrebungen, die in der physischen Welt allzu häufig scheitern, oder unseren moralischen Handlungen, die wir vielleicht aus anderen als rein moralischen Gründen durchführen, einen Sinn zu geben: „Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen. Die wahre Absichten, die geheime Beweggründe vieler aus Ohnmacht fruchtlosen Bestrebungen, der Sieg über sich selbst, oder auch bisweilen die verborgene Tücke bei scheinbarlich guten Handlungen sind mehrentheils für den physischen Erfolg in dem körperlichen Zustande verloren, sie würden aber auf solche Weise in der immateriellen Welt als fruchtbare Gründe angesehen werden müssen und in Ansehung ihrer nach pneumatischen Gesetzen zu Folge der Verknüpfung des Privatwillens und des allgemeinen Willens, d. i. der Einheit und des Ganzen der Geis-

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terwelt, eine der sittlichen Beschaffenheit der freien Willkür angemessene Wirkung ausüben oder auch gegenseitig empfangen.“ (II, 336) Wichtige Themen der späteren Moralphilosophie Kants sind hier schon in nuce vorhanden: Der Mensch gehört zwei Welten an, einer materiellen und einer immateriellen; der Ursprung der Moralität liegt in Letzterer und zwar in einer allgemeinen Instanz (hier spricht Kant – Diderot folgend! (vgl. oben 4.9) – vom allgemeinen Willen, später wird er den Begriff der praktischen Vernunft einführen); die wahre moralische Natur unserer Handlungen, ebenso wie der Erfolg unserer Bestrebungen, um moralisch zu sein, sind unsicher; wir können jedoch denken, dass die Gründe unserer Handlungen in der immateriellen Welt (auch nach unserem Tod; vgl. II, 336) Sinn und Wirkung bekommen. Die Idee der Geistergemeinschaft ist also nicht nur eindeutig ein Vorgänger des Reichs der Zwecke (dazu Pirni 2000, 65 f.), sondern bringt einen wichtigen Punkt der Kantischen Ethik schon zum Ausdruck: Die Wurzeln der Moral liegen in der Gemeinschaft der immateriellen Wesen, nicht in der individuellen Seele oder in den subjektiven Gefühlen. Somit grenzt sich Kants Ethik entschieden vom damals vorherrschenden moralischen Individualismus und Emotivismus ab und geht den Weg eines Universalismus, der in den späteren Werken, besonders in der Grundlegung, ausformuliert wird. In dieser ersten Phase seines Denkens bietet Kant auch eine Erklärung der Entstehung der politischen Gemeinschaft an, die stark an die von Hobbes angelehnt ist: „Der actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht, constituirt schon eine souveraine Gewalt, welche sie durch ein Gesetz auf irgend einen übertragen. Denn die pacta sind Gesetze und supponiren schon eine gesetzgebende Gewalt. Wenn das Volk jemand die souverainetät aufträgt, so kann es solche nicht einschränken, denn alsdenn ist es nicht souverainetät. Alle Einschränkung setzt voraus, dass das Volk die oberste Gewalt behalt.“ (R 7769; XIX, 511) Wie bei Hobbes wird die Menge zum Volk, indem sie die Souveränität jemandem überträgt. In einer späteren Phase vertritt jedoch Kant eine Position, die er nicht mehr aufgeben wird: Das vom Volk mit der konkreten Ausübung der Souveränität beauftragte Oberhaupt ist kein absoluter Herrscher, sondern repräsentiert den wahren Souverän, d. h. das Volk, und ist – im Unterschied zu Hobbes – Letzterem gegenüber durch den ursprünglichen Vertrag verpflichtet („Princeps non est summus imperans, sed vices ipsius [d. h. des wahren Souveräns, des Volkes] sustinet et obligat ad conditiones contractus originarii“, R 7954, XIX, 563 f.). Der wahre summus imperans ist daher „nichts anders als die ganze Gesellschaft“ (R 7921; XIX, 555). In den Jahren zwischen 1773 und 1775 führt Kant die Unterscheidung zwischen Verfassung und Regierung ein, wobei die Erstere Ausschluss über den wahren Souverän gibt, während die Letztere die Form bezeichnet, welche die konkrete Ausübung der Souveränität annimmt: „Es giebt dreyerley Staatsverfassung (wo ein Wille ist, der kein anderer einschränkt), wo jedes einzelnen Wille aber nicht von allen sondern nur von einigen eingeschränkt wird (wo jedes Wille durch jedes andern eingeschränkt wird) und drey Regirungsarten bey eben derselben Staatsverfassung. e. g. England ist democratie als Staatsverfassung und monarchie der Regirungsart nach. Es giebt keine gemischte Staatsverfassung, weil das summum imperium einig und untheilbar ist, aber wohl vermischte Regierungsart, wo England das Muster ist.“ (R 7807; XIX, 522)

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Diese Unterscheidung, die diejenige zwischen Form der Beherrschung (d. h. Regierungsarten: Autokratie, Aristokratie, Demokratie) und Form der Regierung (d. h. Regierungsprinzipien: Republik oder Despotie) in der Friedensschrift vorbereitet, bezeugt, dass Kant schon in einer frühen Phase seines Denkens eine komplexere Auffassung von Souveränität als seine Vorgänger (einschließlich Hobbes) erreicht hat. Die Frage der Regierungsart eines Gemeinwesens (ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie) rückt in den Hintergrund. Wichtiger ist für Kant die Frage, ob die Souveränität für das Volk und in seinem Namen ausgeübt wird, oder ob sie hingegen mit dem Willen eines Einzelnen bzw. einer Gruppe identisch ist. Wahre Demokratie herrscht demnach in dem Staat, dessen Verfassung Souveränität (verstanden als Letztinstanzlichkeit) nur dem Volk zuspricht, unabhängig von der Regierungsform. Zwar distanziert sich Kant in vielen Aspekten noch nicht von traditionellen Auffassungen, z. B. in Bezug auf Aristokratie, die er als „die oberherrschaft des collegium der Herren, d. i. der proprietars des Landes“ bezeichnet und deren Untertanen „das Volk: Bürger, Bauern, Knechte und Arbeitsleute“ sind (R 7777; XIX, 513).13 In einer anderen Reflexion vertritt er noch die Idee eines „natürlichen“ Adels, den er mit den „grosse[n] Landeigner[n]“ identifiziert. Der Adel muss allerdings „keinen besonderen Stand ausmachen“ und „ist in diesem Fall populair“. Die Verfassung stellt „das gemeinschaftliche Beste“ vor, so wie der König „den Grund der allgemeinen inneren Ordnung und Sicherheit, ingleichen der äußeren Sicherheit“. Daher ist „alle bürgerliche Verfassung [...] eigentlich Demokratie“ (R 1446; XV, 631), da sie auf der Volkssouveränität basiert. Diese Behauptung stellt den Kern von Kants späterem politischen Denken dar.

5.6. Idealität und Notwendigkeit des Republikbegriffs: die erste Kritik und die Idee Wie betont, taucht die Idee der Republik schon in der ersten Kritik auf. Dort spricht Kant die Frage an, wie eine Koexistenz der einzelnen Willküren möglich ist. Dabei formuliert er die Frage so, dass sie nur eine einzige Antwort zulässt: durch eine republikanische Verfassung.14 Schon beim ersten Auftritt des Republikbegriffes zeigt sich somit, dass Kants Anliegen keineswegs die Errichtung einer staatlichen Ordnung ist, die am besten Frieden und Ordnung schafft (wie es hingegen bei Hobbes der Fall ist). In einer berühmten Reflexion schreibt Kant nämlich: „Auf die Rechte der Menschen kommt mehr an, als auf die Ordnung (und Ruhe). Es lässt sich große Ordnung und ruhe bey allgemeiner Unterdrückung stiften.“ (XV, 612) Kants Anliegen besteht vielmehr darin, ein Maximum an Freiheit zu haben, und gleichzeitig den Konflikt unter den einzelnen Willküren zu vermeiden. Solche Koexistenz kann nur in einer Verfassung erreicht werden,

13 In derselben Reflexion definiert Kant Demokratie als die Verfassung, in der „alles insgesamt, was ein Haupt der Familie ist, Bürger ist“ (a. a. O.). 14 Interpretation der ersten Kritik im Lichte von Kants politischem Denken in: Höffe 2001, 238 ff.

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welche die größtmögliche menschliche Freiheit nach Gesetzen ermöglicht, „welche machen, dass jede Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (B 373). Diese Verfassung, die Kant als „eine notwendige Idee“ bezeichnet (ebd.), ist eben eine republikanische Verfassung. In einer solchen Verfassung findet keine Einschränkung der Freiheit statt, sondern nur ihre Kanalisierung. Wie Gerard Raulet zu Recht betont hat, unterscheidet sich Kants Auffassung von der traditionellen liberalen Definition der bürgerlichen Freiheit, die man z. B. in der Déclaration des droits de l’Homme et du citoyen von 1789 findet (Raulet 1999, 63). Sie bezeichnet bekannterweise Freiheit als die Erlaubnis, alles zu tun, was die Rechte anderer nicht verletzt15 (vgl. ZeF VIII, 350 Fn, wo Kant diese Formel wörtlich zitiert). Die Freiheit des Einzelnen kennt daher ihre Grenzen an der gleichen Freiheit der Anderen. Kants Rückgriff auf die physischen Begriffe von Wirkung und Gegenwirkung kann den Eindruck erwecken, er teile solche Auffassung: Die Individuen schaffen sich eine Sphäre privater Freiheit durch eine Abgrenzung von den Sphäre anderer Freiheiten, so wie die Körper durch das Spiel gegenseitiger Anziehungs- und Abstoßungskräfte einen Zustand des Gleichgewichts erreicht. Nach Kant sind jedoch in der Gesellschaft auch andere Kräfte am Werk als diese. Im 5. Satz der Idee benutzt Kant nämlich ein anderes Bild: jenes der Bäume eines Waldes. Dort spricht er von den natürlichen Trieben und Neigungen der Menschen und von deren zerstörerischen Wirkungen, die nur im „Gehege“ der bürgerlichen Vereinigung neutralisiert (nicht jedoch eliminiert) werden können. „So wie Bäume in einem Walde eben dadurch, dass ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt dass die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen.“ (VIII, 22) Die zivile Koexistenz der Menschen geschieht somit in gegenseitiger Beeinflussung – eine Beeinflussung, die zwar einen nötigenden Charakter besitzt („einander nötigen ...“), jedoch im Sinne eines Zusammenwachsens zu verstehen ist, wie es durch das Bild des Waldes klar wird. Ohne den Einfluss der Mitmenschen verkommt die individuelle Freiheit zu zielloser, willkürlicher und schließlich schadender Existenz: Der Baum wird krüppelig, schief und krumm wachsen.16 Der Ort der Freiheit ist für Kant die bürgerliche Vereinigung der Gesellschaft mit den Mitmenschen. Wahre Freiheit wird nur im Zusammenleben mit anderen erreicht, und sie besitzt daher notwendigerweise den Charakter einer gegenseitigen Kanalisierung der Willkür. Die Anderen stellen gleichzeitig die Grenzen meiner Freiheit (wie in der Déclaration von 1789) und die Bedingung für ihre vollkommene Entfaltung dar: Ohne 15 „La liberté consiste à pouvoir faire ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi.“ (zit. in: Raulet 1999, 63) 16 Die botanische Metaphorik kehrt im 6. Satz derselben Idee wieder, in dem eben vom Menschen als „krummem Holz“ die Rede ist (dazu vgl. Pinzani 2008; vgl. auch unten 5.11).

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sie wäre meine Freiheit nicht größer, sondern verkrüppelt. Damit geht Kant über die Position eines traditionellen liberalen Denkers wie Locke hinaus und schließt sich der Position Rousseaus an, der meinte, wir erreichen wahre Freiheit nur in der politischen Gemeinschaft. Der höchste Grad an Freiheit ist Kant zufolge nur innerhalb politischer Institutionen erreichbar. Um diese Aussage nachvollziehen zu können, ist es notwendig, die Eigenschaften seines republikanischen Ideals zu betrachten. Kant gibt ein wichtiges institutionelles Kriterium für die Unterscheidung zwischen Republik und Despotismus, nämlich die Gewaltentrennung, an; aber was die Republik auszeichnet ist vielmehr jene Identifizierung von Staat und Volk, von der in der schon erwähnten Vorarbeit zur Friedensschrift die Rede ist (vgl. oben 5.3). In einer Republik sind die Untertanen gleichzeitig der Souverän, und ihr Zusammenleben ist möglich nur unter der Bedingung der Autonomie. Die unvermeidliche Abgrenzung, die meine Freiheit durch die der anderen erlebt, darf somit weder willkürlich von einem unabhängigen Souverän (wie bei Hobbes), noch von der Tradition (wie bei den Verteidigern der Ancient Régime), noch durch bloße Macht (wie Trasimacus in Platons Politeia 338a-339b behauptet), sondern nur von den Individuen selbst gesetzt werden. Gleichheit vor dem Gesetz und gleiche Teilnahme an der Schaffung jener Gesetze, Gleichheit als Untertanen und als Souverän: Diese Ideen bilden den normativen Kern des Kantischen Republikbegriffs und spiegeln ähnliche Positionen Rousseaus wider. Eben eine derartige Gleichheit macht aus der Republik die Staatsform, in der die Freiheit der Bürger ihren höchsten Grad erreicht, nicht nur im Sinne einer weitgehenderen Abwesenheit von äußeren Einschränkungen, sondern vielmehr im Sinne einer selbst auferlegten Abgrenzung von individueller Willkür. Die „ungesellige Geselligkeit“, von der im 4. Satz der Idee die Rede ist (VIII 20), d. h. jener Hang der Menschen, in eine Gesellschaft mit den Anderen einzutreten und sie gleichzeitig zu verlassen, nimmt daher bei Kant eine andere Bedeutung an als bei vielen Denkern, die ihn schon erwähnt hatten (wenngleich mit anderen Bezeichnungen) – allen voran Machiavelli, Hobbes und Rousseau. Im Unterschied zu seinen Vorgängern sieht Kant in solcher Spannung zwischen Sozialität und egoistischer Anarchie oder gar Asozialität weniger den Ausdruck einer kalkulierenden Vernunft, die sich nur am kontingenten Eigeninteresse orientiert und daher immer wieder schwankt zwischen alternativen, einander ausschließenden Handlungsstrategien, sondern vielmehr ein Mittel, dessen sich die Natur bedient, um die Menschen zur vollkommenen Entfaltung ihrer Autonomie zu führen. Nicht das Kalkül bringt die Menschen zusammen, obwohl sie (bzw. Denker wie Hobbes) das meinen können: Es ist vielmehr ihre Autonomie, die sie zum Zusammenleben zwingt, um sich selbst besser zu entwickeln, wie „der Philosoph“ begreift, wenn er die Geschichte der menschlichen Gattung als Geschichte der menschlichen Freiheit interpretiert (9. Satz). Dabei kann er sich der Idee einer Naturabsicht bedienen. Das entspricht den traditionellen teleologischen Auffassungen der Geschichte, soll aber nicht in dem Sinne verstanden werden, dass das wahre Subjekt, genauer: der einzige eigentliche Akteur der Geschichte, die Natur ist, während die menschliche Gattung lediglich den ihr vorgeschriebenen Weg passiv geht. Hinter der metaphorischen Rede von einer Naturabsicht steckt vielmehr die Idee, dass sich die menschliche Natur (d. h. die Natur als Beschaffenheit eines Wesens, nicht als Ganzheit der natürlichen

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Phänomene) in der Geschichte der Gattung als Freiheit offenbart (zu den Absichten der Natur und zur praktischen Bedeutung dieser Idee vgl. auch ZeF VIII, 360 ff.). Die vollkommene bürgerliche Verfassung stellt daher als letztes Kapitel jener Geschichte das Moment dar, in dem die menschliche Freiheit ihren höchsten Grad erreicht. Sie stellt die Moralisierung jener „pathologisch-abgedrungene[n] Zusammenstimmung“ dar, die aus der ungeselligen Geselligkeit resultiert (VIII, 21). Darauf werde ich noch zurückkommen (vgl. unten 5.10 und 5.11).

5.7. Ein Vertrag „eigentümlicher Art“: die Republik im Gemeinspruch Im zweiten Abschnitt des Gemeinspruch, dessen Untertitel bekanntlich „gegen Hobbes“ lautet17, gibt Kant eine erste systematische Definition der Republik an (obwohl er den Namen nicht benutzt). Zum ersten Mal thematisiert Kant in einer von ihm veröffentlichen Schrift die Idee eines gesellschaftlichen Vertrages, durch den sich eine politische Gemeinschaft konstituiert. Im Gegensatz zu Hobbes, der diesen Vertrag nicht von einem privatrechtlichen Vertrag unterschieden hatte, weist Kant auf seine qualitative Besonderheit hin. Im Unterschied zu „allen Verträgen, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer Gesellschaft verbindet (pactum sociale), ist der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung unter ihnen (pactum unionis civilis)“ von „eigentümlicher Art“, denn die Verbindung, zu der er führt, ist „an sich selbst Zweck“ (VIII, 289). Durch ein einfaches pactum sociale verbinden sich die Menschen zu einem bestimmten Zweck: Beispiele davon könnten ein Sportverein, eine Aktiengesellschaft, Rousseaus Jägergruppe, aber auch Hobbes’ Staat sein (in Letzterem verbinden sich die Menschen zum Zweck des Friedens). Was diese Verbindungen in den Augen Kants von einer bürgerlichen Gesellschaft unterscheidet, ist nicht nur ihre Kontingenz (ist einmal der Zweck erreicht, so könnte auch die Verbindung aufgelöst werden, wie eben im Falle von Rousseaus wilden Jägern), sondern vor allem die Tatsache, dass sie bestimmten, partikularen Zwecken dienen. Die bürgerliche Gesellschaft ist hingegen ein Zweck an sich.18 17 Ursprünglich hätte der Untertitel „Gegen Machiavelli und Hobbes“ lauten sollen; der Name des Florentiners wurde allerdings später von Kant gestrichen, der ihn in seinen veröffentlichten Werken niemals direkt erwähnte (obwohl der Bezug auf ihn manchmal ziemlich eindeutig ist: z. B. im ersten Anhang von ZeF „Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik ...“). Zum Gemeinspruch im Allgemeinen vgl. Henrich 1967. 18 Hobbes’ Modell des Autorisierungsvertrages und Rousseaus Verschmelzung von pactum unionis und pactum subiectionis stellen einen Bruch mit der traditionellen Vertragstheorie (auch mit derjenigen Lockes) dar. Kant folgt hierbei Rousseau: Der ursprüngliche Vertrag begründet gleichzeitig die politische Gemeinschaft und die Souveränität des Volkes. Dabei geht er auf Distanz zu Wolff und den Wolffianern, einschließlich Achenwall, dessen Elementa Iuris Naturae die Basis für Kants Vorlesungen über Naturrecht boten. Wolff vertrat nämlich noch die mittelalterliche Auffassung eines Vertrages zwischen Untertanen und Monarch, durch den gegenseitige Rechte und Verpflichtungen entstehen sollten: „Es ist demnach zwischen der Obrigkeit und den Unterthanen ein Vertrag, nemlich die Obrigkeit verspricht alle ihre Kräfte und ihren Fleiß dahin anzuwenden, daß sie zur Beförderung der gemeinen Wohlfahrt und

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Hier zeigt Kant eine gewisse Nähe zu Aristoteles, der in seiner Politik schon die Idee vertreten hatte, der Staat als Verein bzw. Verbindung unterscheide sich von den üblichen Verbindungen dadurch, dass er nicht zur Erreichung eines partikularen Zweckes errichtet wird (Politik I 1, 1252a1). Der Staat bildet vielmehr das nicht mehr partikulare Endziel aller anderen partikularen Verbindungen einschließlich der Familie (I 2, 1252b27). Er ist also Zweck an sich, da sein Wert in seiner überragenden Stellung besteht, und nicht darin, taugliches Mittel zu einem anderen Zweck zu sein. Anders als Kant (und auch Hobbes) hält allerdings Aristoteles den Staat für ein natürliches Wesen und nicht für etwas Künstliches (I 2, 1253a1), da die Menschen von Natur aus politische Tiere sind (a. a. O.) – auch in der Hinsicht unterscheidet sich der Staat von allen anderen Vereinen oder Verbindungen. Kant meint hingegen, dass die Menschen den Staat erst errichten müssen, und dass sie verpflichtet sind, in ihn einzutreten. Das sei sogar die „unbedingte und erste Pflicht“ der Menschen – eine Pflicht, die Kant dadurch begründet, dass die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft „die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflichten“ darstellt. Die bürgerliche Gesellschaft ist nämlich „das Recht [gemeint ist hier das objektive Recht, das Rechtssystem – A. P.] der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann“ (a. a. O.). Die Menschen sind verpflichtet, in den Staat einzutreten, damit sie äußeren Pflichten und Zwangsgesetzen unterstehen können. Doch das geschieht, weil – wie schon bei Rousseau (vgl. CS I, 6) – die Individuen ihre Freiheit ausgerechnet in ihrer selbstauferlegten Verpflichtung finden. Im Naturzustand, d. h. im Zustand, in dem es keine rechtlichen Pflichten und keine Zwangsgesetze gibt, sind die Menschen nicht wirklich frei, auch wenn ihre Willkür keine formellen Einschränkungen kennt. Der rechtslose Zustand als Zustand des Krieges (auch Sicherheit diensame Mittel erdenke, und zu deren Ausführung nöthige Anstalten mache: hingegen die Unterthanen versprechen dargegen, daß sie willig seyn wollen, alles dasjenige zu thun, was sie [scil. die Obrigkeit] für gut befinden wird.“ (Wolff, Deutsche Politik, § 230) Während ein solcher Vertrag den Anschein erweckt, den Souverän (den Wolff mit dem Fürsten identifiziert) zum Wohl der Untertanen zu verpflichten, formuliert er hingegen die Philosophie jenes „Wohlfahrtdespotismus“ (Maus 1992, 58), gegen den sich Kant so vehement wehrt: Wolff spricht also dem Volk die Fähigkeit ab, über das eigene Wohl und Glück selbst zu entscheiden. Achenwall hielt an der alten Trennung von pactum unionis und pactum subiectionis fest (Elementa Iuris Naturae, §§ 655-656): Das Erste gründet zwar die Gesellschaft, aber erst durch das Zweite entsteht der Staat. Dieser wird seinerseits als „eine Gesellschaft mehrerer Familien, die zum gemeinschaftlichen Wohl unter einer Herrschaft leben“ bestimmt (§ 657, in: Achenwall/Pütter 1995, 211 f.). Zweck seiner Errichtung ist also auch hier das Wohl des Volkes, nicht die Freiheit der Individuen. Auch bei Achenwall wird der Herrscher durch den Vertrag gebunden, der jedoch vorsieht, dass die Untertanen dem obersten Herrscher das Recht zugestehen, „ihre Handlungen zum gemeinen Wohl zu lenken“: Sie sind daher verpflichtet, die Entscheidungen, die der oberste Herrscher in Bezug auf das Gemeinwohl trifft, zu respektieren und seinen Befehlen zu gehorchen. Im Einklang mit der mittelalterlichen Tradition spricht Achenwall allerdings den Untertanen das Recht zu, ihre natürliche Freiheit und ihr natürliches Recht zu bewahren, wenn „der Gesichtspunkt des gemeinen Wohls nicht eingreift“ (§ 670, in: Achenwall/Pütter 1995, 217).

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wenn es sich nur um einen potentiellen Krieg handelt) bedeutet in der Tat Unfreiheit, da die Menschen unter ständiger Furcht und eventuell unter der willkürlichen Macht anderer Menschen leben müssen. Und da die äußere Freiheit nicht nur die Bedingung aller äußeren Pflichten, sondern auch die Bedingung ist, um unsere moralisch gute Maxime in konkrete Handlungen zu übersetzen, besteht eine moralische Verpflichtung zur Errichtung eines Zustandes, in dem diese äußere Freiheit geschützt wird. Es besteht m. a. W. die Verpflichtung, einen rechtlichen Zustand zu errichten. Der Naturzustand als Zustand ständiger Furcht und potentieller Versklavung bzw. Abhängigkeit von der Willkür anderer ist also für Kant deswegen zu verlassen, weil er den Menschen nicht ermöglicht, frei zu sein, und nicht – wie bei Hobbes –, weil er eine Bedrohung des Lebens darstellt, oder weil er die Menschen unglücklich macht. Was den Staat rechtfertigt, ist somit kein partikularer Zweck, auch nicht der, „den alle Menschen natürlicherweise haben“, nämlich das eigene Glück (VIII, 290); es ist vielmehr die Vernunft selbst, die uns jenen gebietet: „... weil die Vernunft selbst es so will und zwar die reine, a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck (dergleichen alle unter dem allgemeinen Namen Glückseligkeit begriffen werden) Rücksicht nimmt; als in Ansehung dessen, und worin ihn ein jeder setzen will, die Menschen gar verschieden denken, so dass ihr Wille unter kein gemeinschaftliches Prinzip, folglich auch unter kein äußeres, mit jedermanns Freiheit zusammenstimmendes Gesetz gebracht werden kann“ (VIII, 291). Dadurch, dass er Freiheit als den wahren Grund für die Errichtung des Staates angibt, lehnt Kant von vornherein die Staatsform ab, die in seiner Konzeption die einzige Alternative zur Republik darstellt: den Despotismus – möge es sich auch um einen wohlgemeinten und aufgeklärten Despotismus in Form einer paternalistischen Regierung handeln. Jene Interpreten, die meinen, Kants politisches Denken schließe die Möglichkeit eines solchen wohlgemeinten Despotismus nicht aus, haben den Sinn seines Denkens missverstanden.19 In all seinen politischen und geschichtsphilosophischen Schriften wehrt sich Kant gegen die Auffassung, dass eine Regierung entscheiden sollte, was für das Glück der Bürger am besten sei; und immer wieder betont er, dass die bürgerliche Verfassung diejenige sei, in der die Souveränität (mithin die Entscheidungsmacht) dem Volke zukommt.

19 So z. B. noch Peter Niesen in: Niesen 2001. Dort übernimmt er die alte Kritik, Kants Vorstellung der äußerlichen Freiheit sei mit einem aufgeklärten Despotismus durchaus verträglich. Er sieht zwar Übereinstimmungen zwischen dem Zivilrepublikanismus und Kants Position, z. B. „in der doppelten Fokussierung der staatsbürgerlichen Tätigkeit auf die beiden klassischen demokratischen Beteiligungsformen, auf Reden und Wählen“ (Niesen 2001, 578 f.). Er sieht allerdings auch wichtige Unterschiede, vor allem in Bezug auf den Freiheitsbegriff, der beim Republikanismus „im Sinne eines nichtentfremdeten Selbstverhältnisses der unverstellten Bürger“ verstanden wird, während er bei Kant nur „die äußerliche Autonomie betrifft“, „nicht in die Tiefe der ethischen Personalität“ geht und verträglich damit ist, „auch Menschen mit serviler Mentalität frei zu bezeichnen“ (Niesen 2001, 580). Man beachte dagegen die schon zitierte (vgl. oben 5.4) Bemerkung von Judith Shklar: „Kant worried quite reasonably that if one puts happiness first, one may well choose a benevolent despotism rather than freedom.“ (Shklar 1984, 238)

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Wenn Kant ausdrücklich betont, dass der Hauptzweck des Staates die Garantie der äußeren Freiheit der Bürger, aber nicht deren Glückseligkeit ist (VIII, 290 f.), bezieht er außerdem Position nicht nur gegen den Paternalismus mehr oder weniger aufgeklärter Despoten, sondern auch gegen den Paternalismus jener republikanischen Denker, die meinten, das Volk sei oft nicht imstande, das Gemeingut zu erkennen, und brauche deshalb einen Führer in Gestalt eines außerordentlichen Menschen (wie Machiavellis Fürst oder Rousseaus Gesetzgeber) oder in Form einer Gruppe von Weisen bzw. Experten, gemäß einer aristokratischen republikanischen Auffassung à la Guicciardini oder à la John Adams (vgl. unten 7.2). Wenn der Zweck des Staates die Garantie der individuellen Freiheit der Bürger und nicht das Gemeinwohl ist, so darf Erstere auch nicht im Namen des Letzteren beschnitten oder eingeschränkt werden. Insofern ist Kants Auffassung des Staates genuin liberal – auch wenn es in ihr durchaus republikanische Aspekte gibt, wie wir sehen werden. Recht wird entsprechend dieser Vorstellung vom Staatszweck definiert als: „die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen“ (VIII 290 f.). Die Dialektik von Freiheit und Zwang stellt das schwierigste Problem für eine Staatstheorie dar, die Hobbes’ absolutistische Folgen nicht in Kauf nehmen will. Kant bietet eine Lösung an, die stark an diejenige seines französischen Mentors Rousseau erinnert: Der Zwang ist ein selbstauferlegter, so dass die Einschränkung der eigenen Freiheit selbst Ausdruck dieser Freiheit ist. Daraus folgt, „dass die bürgerliche Verfassung ein Verhältnis freier Menschen ist, die (unbeschadet ihrer Freiheit im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen) doch unter Zwangsgesetzen stehen“ (VIII, 291). Bevor ich auf die weitere Form eingehe, die der Republikbegriff bei Kant annimmt (5.8), möchte ich noch einige Bemerkungen zu Kants Idee des Gesellschaftsvertrages machen. Im Unterschied zu Hobbes, der den Gesellschaftsvertrag als Hypothese präsentierte, und zu Rousseau, der ihn als historisches Ereignis ansah (wenngleich als ein Ereignis, das in einer zeitlich und räumlich unbestimmten Vergangenheit stattfand), hält Kant die Idee des Vertrages für eine, die uns die Vernunft anbietet.20 Seine Legitimation der staatlichen Macht folgt daher einer ganz anderen Strategie als bei Hobbes, der auf die nicht wünschenswerten Folgen einer Abschaffung dieser Macht hingewiesen und daher die Notwendigkeit ihrer Absolutheit gezeigt hatte. Kant braucht nicht auf die negativen Folgen des vorrechtlichen Zustands hinzuweisen. Ein solcher Zustand ist per Definition ein Zustand der Unfreiheit, und das schafft für uns eine moralische Verpflichtung, ihn zu verlassen. Damit hat er ein Problem gelöst, das Hobbes noch zu schaffen gab: Das Argument für den Austritt aus dem Naturzustand besitzt in der Kantischen Perspektive einen starken normativen Charakter, während sich bei Hobbes

20 Dass Kant den Vertrag als bloße Idee ansieht, beweist auch eine Stelle der Rechtslehre: „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, [...] ist der ursprüngliche Kontrakt.“ (RL VI, 315)

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kein eigentliches Argument außer der Abneigung gegen die Unbequemlichkeiten des Naturzustands (Todesfurcht eingeschlossen) finden ließ – und solche Abneigung ist ein an sich relativ schwaches Motiv (vgl. oben 3.5). Das bringt Kant in eine bessere Position auch in Bezug auf die weitgehendere Motivationsfrage: Er kann sich auf die moralische Autorität der praktischen Vernunft berufen. Zwar ist das keine Garantie, dass die Individuen die notwendige Motivation für ein rechtskonformes Verhalten aufbringen, aber dasselbe gilt schließlich auch für Hobbes, da kein Leviathan, so mächtig er auch sein möge, das unrichtige Verhalten seiner Untertanen in jeder Situation aufspüren und bestrafen kann – wie Hobbes selbst zugibt (das ist schließlich der Grund, warum für ihn Bürgertugenden vonnöten sind). Zudem muss Hobbes – da er prudentielle Argumente benutzt – seinen Staat als eine unwiderstehliche Macht darstellen, die imstande ist, „Trittbrettfahrerei“ ausnahmslos zu bestrafen. In der Tat besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Hobbes und Kant in Bezug auf die Frage, wie sich die Menschen zur Errichtung eines bürgerlichen Zustandes konkret motivieren lassen. Bei beiden Denkern basiert der Eintritt in den rechtlichen Zustand nicht auf einer freien Entscheidung – obwohl die Argumentation beider Denker ausgerechnet auf eine solche freie Entscheidung abzielt (bei Hobbes sollte sie das Ergebnis eines von der instrumentellen Vernunft unternommenen Kalküls, bei Kant sollte sie von der Anerkennung einer von der praktischen Vernunft gebotenen moralischen Pflicht ausgehen). Es ist jedoch die Natur, welche die Menschen zum Verlassen des Naturzustandes „zwingt“: bei Hobbes die menschliche Natur der Individuen (d. h. ihre Abneigung gegen die Gefahren und die Unbequemlichkeiten des Naturzustandes), bei Kant die menschliche Natur im Allgemeinen bzw. die Natur der Gattung – jene Natur, die den unsichtbaren, absichtsvollen Akteur der Geschichte bildet, wie es besonders eindrucksvoll aus einer Passage der Friedensschrift (VIII, 365) hervorgeht, in der sogar der Krieg zu einem Mittel wird, wodurch die Natur die Menschen nötigt, „sich unter den Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben“. Im Unterschied zu Hobbes kann jedoch Kant eine Rechtfertigung des Eintritts in den rechtlichen Zustand anbieten, welche die „Nötigung“ der Natur als notwendig und moralisch geboten erscheinen lässt (sie nötigt den Menschen schließlich dazu, lediglich das zu tun, was er „nach Freiheitsgesetzen tun sollte, aber nicht tut“, wie es in: ZeF VIII, 365 heißt). Durch den moralischen Charakter des Gebots der Errichtung eines bürgerlichen Zustandes gewinnt der Gesellschaftsvertrag ebenfalls eine besondere Qualität. Die Idee des Vertrages wird nämlich zu einer regulativen Idee, an der alle möglichen Staatsformen und konkreten Regierungen gemessen werden können und sollen (GS VIII, 297). Das gilt zwar zum Teil auch für Hobbes’ Beschreibung des Leviathans, aber dadurch, dass der Souverän dort keinen Vertrag mit den Untertanen abschließt und keinerlei Verpflichtungen gegen sie hat (außer die zum Schutz ihres Lebens), kann man eigentlich nicht von einem regulativen Charakter sprechen. Der Souverän muss zwar die Bedingungen eines angenehmen und kultivierten Leben schaffen und die natürlichen Gesetze in bürgerliche Gesetze verwandeln, aber diese Aufgaben entstehen ihm weder durch irgendeinen Vertrag noch stellen sie Gebote der praktischen Vernunft dar, sondern sie sind respektiv ein Klugheitsgebot und ein Gebot Gottes bzw. eine Weisung der Vernunft (falls der Souverän an Gott nicht glaubt). Kant meint hingegen, dass der Vertrag

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(dessen faktischen Charakter er mehrmals bestreitet: z. B. in GS VIII, 297 und 301), obwohl er eine „bloße Idee der Vernunft“ ist, eine praktische Realität besitzt: „ ... nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Wille eines ganzen Volks haben entspringen können. [...] Das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ (GS VIII, 297). Nur Rousseau bietet ein ähnlich regulatives Ideal an, obwohl er im Begriff des Gesellschaftsvertrages keine Idee der Vernunft sieht: Das Modell, das er im Contrat Social anbietet, gilt nämlich mit Einschränkungen, da es nur unter bestimmten empirischen Bedingungen (Größe des Landes, moralische Unverdorbenheit des Volkes usw.) realisiert werden kann. Kants Ideal hingegen kann niemals völlig erreicht werden (vgl. unten 5.8 und 5.10), besitzt jedoch einen stark regulativen und normativen Charakter, da es von der praktischen Vernunft angeordnet wird. Es stellt nicht einfach nur eine Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens (wie bei Hobbes) dar, auch keine bloß gerechte Möglichkeit (wie bei Rousseau), sondern es ist die einzige Möglichkeit: Alles andere ist Despotism und entspricht daher keiner bürgerlichen Verfassung.

5.8. Wie wird Souveränität ausgeübt? Respublica phaenomenon und respublica noumenon Ingeborg Maus meint, „dass Kant als Republik bezeichnete, was noch von keiner realexistierenden Demokratie je eingeholt wurde“ (Maus 1992, 15). Einer solchen Behauptung ist nur mit Vorbehalt zuzustimmen. Zweifellos vertritt Kant die Idee einer kompromisslosen Volkssouveränität. In der Rechtslehre heißt es: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden eben dasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ (RL VI, 313 f.; Hervorheb. – Kant). Wie jedoch Souveränität konkret auszuüben sei, geht aus Kants Schriften nicht eindeutig hervor (dazu vgl. Pinzani 2008a). Im Gemeinspruch berührt unser Philosoph die Frage, wenn er vom wichtigen Kriterium der Zustimmungsfähigkeit spricht. Der „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ liegt danach in der Beschaffenheit des Gesetzes selbst: „ist dieses so beschaffen, dass ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte [...], so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, dass ein Volk dazu zusammenstimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten“ (GS VIII, 297). Entscheidend für die Legitimität einer rechtlichen Norm ist somit nicht die konkrete Billigung durch das „ganze“ (!) Volk, sondern nur die bloße Möglichkeit einer solchen Zustimmung. Zustimmungsfähigkeit wird also nach formellen Kriterien festgestellt, wie auch aus der Anmerkung auf derselben Seite hervorgeht: Das Oberhaupt hat das Recht, einen Krieg zu führen, auch wenn das Volk dagegen ist, denn er hat von demselben Volk die Autorisierung und die Autorität dazu

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bekommen; als Gesetzgeber hat es aber nicht das Recht, jedes beliebige Gesetz zu erlassen, sondern nur diejenigen, welche die Bürger nicht ohne Grund diskriminieren. Daher darf das Oberhaupt wohl Krieg erklären und Kriegssteuer einführen, er darf jedoch die Belastung unter den Untertanen nicht willkürlich und ungleich verteilen: Im ersten Fall wird das formelle Kriterium der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz nämlich nicht verletzt, wie es hingegen im zweiten Fall, d. h. im Fall einer grundlos ungleichen Behandlung der Bürger, geschieht (a. a. O., Fn). In der Friedensschrift und in der Rechtslehre spricht Kant allerdings von der „Beistimmung“ des Volks im Falle einer Entscheidung über Krieg und Frieden (ZeF VIII, 351 und RL VI, 345 f.) und scheint damit zu meinen, dass der Monarch das Volk bzw. dessen Repräsentanten befragen soll. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Dass das Oberhaupt in seiner gesetzgeberischen Tätigkeit den Willen des Volkes beachten muss, ist unumstritten, denn Kant wiederholt es mehrmals. Unumstritten ist auch, dass Kant nicht meint, das Staatsoberhaupt müsse das Volk direkt nach dessen Willen fragen. Das gemeinte Volk ist nicht die konkrete Menge, die aus den Untertanen besteht, sondern eine abstrakte Instanz, jener „unsichtbar[e]“ Souverän, von dem Kant an einer Stelle spricht (GS VIII, 294 Fn). In der Friedensschrift wird diese Idee eines lediglich abstrakten Bezugs auf den Volkswillen nochmals ausgedrückt: Dort wird rechtliche (und das heißt für Kant immer auch: politische) Freiheit als die Befugnis definiert, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ – wobei die Zeitform entscheidend ist (ZeF VIII, 350 Fn; kursiv – A. P.). Und auch im Streit wird zwar behauptet, dass der Monarch „republikanisch (nicht demokratisch)“ regieren soll, „d. i. das Volk nach Principien [...] behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind“; gleichzeitig wird jedoch klar gemacht, dass der Monarch das Volk nicht konkret „um seine Einwilligung“ befragen muss (VII, 91). Kant lehnt daher eine direkte Beteiligung des Volks an der Gesetzgebung entschieden ab. Das könnte prima facie den Sinn seiner näheren Erläuterung erklären, der Monarch solle republikanisch, nicht jedoch demokratisch regieren. In der Friedensschrift unterscheidet Kant bekanntlich zwischen „Form der Beherrschung (forma imperii)“ und „Form der Regierung (forma regiminis)“: Von der Ersteren sind drei möglich, nämlich „Autokratie, Aristokratie und Demokratie“, die Form der Regierung kann hingegen nur „republikanisch oder despotisch“ sein (ZeF VIII, 352). Republik und Demokratie sind somit zwei verschiedene, miteinander nicht vergleichbare Kategorien, um einen Staat zu klassifizieren. Dabei ist nach Kants Meinung die erste, die Form der Regierung, entscheidender, denn sie macht sozusagen die ‚Qualität‘ eines Regimes aus. Republik wird durch die „Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“ bestimmt; im Despotismus findet hingegen eine solche Gewaltenteilung nicht statt. Demokratie versteht Kant (im Anschluss an Rousseau) als eine Staatsform, in der die Staatsbürger gleichzeitig die gesetzgebende und die ausführende Gewalt ausüben: Sie nehmen nämlich an der gesetzgebenden Versammlung teil, haben jedoch auch die öffentlichen Ämter inne, durch welche die Entscheidungen der Versammlung in die Praxis angewandt werden sollen. Daher ist Demokratie „notwendig ein Despotism“ (a. a. O.).

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Hauptmerkmal einer republikanischen Regierung ist außerdem deren repräsentativer Charakter („Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform“: a. a. O.). Auch in der Rechtslehre definiert Kant eine Republik als die Staatsverfassung, die 1. „Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwangs macht“, und die 2. „ein repräsentatives System“ ist (RL VI, 340 f.). Im Gegensatz zu Rousseau, der die Idee der politischen Repräsentation verwirft, macht Kant sie zum Hauptmerkmal republikanischer Verfassungen. Und im Einklang mit Hobbes’ Autorisierungstheorie meint er außerdem, die optimale Repräsentation sei in der Monarchie erreicht („je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism“; ZeF VIII, 353). Hier aber bietet Kant einen Grund für die Vorzüglichkeit der Monarchie an, der weniger mit der Natur derselben als vielmehr mit den Aussichten zu tun hat, die sie eröffnet: Durch die Monarchie kann man nämlich hoffen, „durch allmähliche Reformen“ das republikanische Ideal „endlich“ zu erreichen. In der Aristokratie ist es hingegen „schon schwerer als in der Monarchie, in der Demokratie aber unmöglich, anders als durch gewaltsame Revolution zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu gelangen“ (a. a. O.). Die Monarchie stellt somit nicht die beste Verfassungsform an sich dar, sondern nur diejenige, welche die beste Möglichkeit anbietet, die eigentlich ideale Regierungsart, d. h. die Republik, zu realisieren: Auch wenn eine Monarchie republikanisch regiert wird, ist sie deswegen keine eigentliche Republik, sondern nur der beste Ausgangspunkt dazu. Offensichtlich besitzt daher der Begriff von Republik bei Kant eine zweifache Bedeutung: 1) Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist Republik jene Regierungsform, in der die Legislative von der Exekutive (und von der Judikative21) getrennt ist – gemäß der Klassifizierung in der Friedensschrift. 2) Aus moralisch-normativer Sicht stellt Republik eine ideale Regierungsform dar, zu deren Realisierung die Menschen verpflichtet sind – sie ist das platonische Ideal, von dem in der ersten Kritik die Rede ist (vgl. oben 5.6). Danach ist eine republikanisch regierte Monarchie zwar eine Republik im ersten, nicht jedoch im zweiten Sinn – und das aus zwei Gründen. a) Zum einen, weil das republikanische Ideal niemals völlig realisiert werden kann; b) zum anderen, weil sich ein solches Ideal weniger mit einer monarchischen als vielmehr mit einer wahlaristokratischen Verfassung verträgt. Beide Aussagen verdienen eine Erklärung. Zu a) Wenn er vom Ideal der Republik spricht, benutzt Kant im Streit der Fakultäten die Ausdrücke respublica noumenon und respublica phaenomenon (VII, 91) – was auf seine Zweiweltenlehre hinweist. Erstere bildet das Ideal, das es zu erreichen gilt (und dessen Merkmale wir noch sehen werden): Sie entspricht dem platonischen Ideal der Republik aus der ersten Kritik. Letztere bezeichnet die konkrete Realisierung jenes Ideals, die unter unvermeidlichen Einschränkungen leidet – Einschränkungen, die aus der phänomenischen Natur der Menschen resultieren.

21 Aus dem Kontext ist es offensichtlich, dass Kant hier die Justizverwaltung als eine Form der Ausführung der Entscheidungen der Legislative ansieht.

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Eine ähnliche Unterscheidung trifft Kant auch in anderen Werken, ohne die beiden Ausdrücke zu benutzen. Im (üblicherweise wenig beachteten) Beschluss zu den „Erläuternde[n] Anmerkungen“ der Rechtslehre (1798) heißt es: „Ein jedes Faktum (Tatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung (der Sinne); dagegen das, was nur durch reine Vernunft vorgestellt werden kann, was zu den Ideen gezählt werden muss, denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung unter Menschen ist, das ist das Ding an sich selbst. Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist der Idee der Einheit desselben überhaupt unter einem machthabenden obersten Willen gemäß als Gegenstand der Erfahrung gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d. i. eine rechtliche Verfassung im allgemeinen Sinne des Worts ist da [...].“ (RL VI, 371 f.) Als politisches bzw. verfassungsrechtliches „Ding an sich“ kann das Ideal der respublica noumenon offensichtlich niemals völlig realisiert werden. Es kann vielmehr nur eine unvollkommene Durchsetzung in der phänomenischen Welt („als Gegenstand der Erfahrung“) finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle existierenden oder mögliche republikanisch regierten Staaten eine respublica phaenomen auch bilden: Nur bestimmte konkrete Verfassungen stellen tatsächlich ein Beispiel davon dar – nämlich diejenigen, die dem Ideal am meisten entsprechen, wie Kant im Streit betont (VII, 91). Ein solches Beispiel – heißt es dort – „kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen und Kriegen mühsam erworben werden; ihre Verfassung aber, wenn sie im Großen einmal errungen worden, qualifiziert sich zur besten unter allen“, um den Krieg zu vermeiden, und um die Individuen gemäß Freiheitsgesetzen zu regieren. Was Kant damit meint, wird ziemlich klar, wenn man sowohl den Kontext der Stelle als auch den historischen Zeitpunkt betrachtet. Kant versucht zu zeigen, dass sich die menschliche Gattung auf dem Weg zum Besten befindet, und erwähnt dabei „eine Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweist“. Diese Begebenheit ist der Enthusiasmus, mit dem die Französische Revolution vom europäischen Publikum (weniger von den Monarchen ...) begrüßt wurde – und das trotz „Elend und Greueltaten“, mit denen sie „dermaßen angefüllt“ war (VII, 85). Die Errichtung eines gelungenen Beispiels von respublica phaenomenon kann eben nur „mühsam“ gelingen – und zwar „nach mannigfaltiger Befehdung und Kriegen“, wie jene, mit denen alle europäischen Mächte den französischen Staat überzogen und die im Entstehungsjahr der Schrift noch wüteten (bezeichnenderweise mit Ausnahme von Venedig und der Toskana, den zwei Staaten, die in der Neuzeit immer als Paradebeispiel für die ideale republikanische Regierung galten22). Kant verurteilt die Intervention der europäischen Mächte ausdrücklich und zwar aus moralischem Grund: Sie geht gegen das Recht, „dass ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt“ (a. a. O.). Diese Idee vom Selbstbestimmungsrecht des Volkes ist stärker als alle anderen bisher da gewesenen poli-

22 Die Toskana war zwar keine Republik mehr, die Großherzöge erwiesen sich allerdings als überdurchschnittlich aufgeklärte Monarchen. So schuf die Toskana als erster Staat Europas die Todesstrafe ab (am 30.11.1786).

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tischen Ideale, beginnend mit dem „Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels“ (VII, 86), und erweckt daher den Enthusiasmus „aller Zuschauer“ (VII, 85). Kant scheint somit die Französische Revolution im Namen einer Idee der Volkssouveränität zu verteidigen, die sogar stärker ist als der Begriff einer rechtlich legitimen Regierung. Diese Verteidigung orientiert sich „nicht etwa an einer Kontinuität des Rechts, sondern an der Kontinuität einer außerrechtlichen und rechtsbegründenden Souveränität“ (Maus 1992, 9): Kant gehe es demnach mehr um die Erhaltung und Behauptung des Prinzips ‚Volkssouveränität‘ als um die Erhaltung des rechtlichen Zustandes. Das ist m. E. eine nicht ganz zutreffende Interpretation (vgl. unten 5.9), aber sicher hebt sie einen wichtigen Aspekt hervor: Kant sympathisiert zweifellos mit den Revolutionären, nicht mit den Verteidigern der etablierten, rechtlich-formellen, legitimen Ordnung Um die Tragweite einer solchen Stellungnahme Kants richtig einzuschätzen, muss man bedenken, dass das, was uns Kant im Streit als gelungenes Beispiel einer respublica phaenomenon anbietet, nichts anderes ist als das Ergebnis einer gewaltsamen Revolution, die zu der Zeit, in der Kant schreibt, zur Enthauptung des legitimen Königs und seiner Frau, zur Abschaffung der Erbmonarchie, zur Ausrufung der Republik, zum gewalttätigen Umkrempeln der sozialen Verhältnisse, schließlich auch zum Terror und zum Tod unzähliger unschuldiger Menschen geführt hatte. Es ist nicht so, dass Kant all das begrüßt. Noch in der Friedensschrift (die 1795 erscheint, also sechs Jahre nach der Revolution, drei nach dem Tod Ludwigs XVI. und nur ein Jahr nach dem Ende des Terrors) hatte er die Monarchie und ihre „allmählichen Reformen“ verteidigt. Und im Streit schreibt er, dass der wohldenkende Menschen ein solches Experiment kein zweites Mal wiederholen möchte, und dass das Publikum zwar für den Kampf der Franzosen für die eigene Selbstbestimmung sympathisierte, aber „ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung“: VII, 85 f. Beurteilt also Kant die Revolution positiv oder nicht? Diese Frage wird im nächsten Absatz eine Antwort finden. Zuerst muss ich jedoch die zweite der von mir oben gemachten Aussagen (dem Ideal der Republik entspreche eine Wahlaristokratie) rechtfertigen. Zu b) Die Reformen, die der Monarch vornehmen muss, sollen in eine bestimmte Richtung gehen. Sie müssen dazu führen, dass die Gewalten voneinander immer stärker unterschieden werden. Und sie müssen zu immer größerer Freiheit der Bürger führen, die Kant bekanntlich definiert als Autonomie, als die Fähigkeit, über sein eigenes Glück selbst zu entscheiden (GS VIII, 290 f.). Ihr setzt er eine paternalistische Regierung entgegen (a. a. O., 291), die den Untertanen vorschreibt, was sie zu unternehmen bzw. zu unterlassen haben, um glücklich zu werden (in dieser Hinsicht hätte Kant das Regime, das Rousseau für Korsika vorsieht, als paternalistisch abgetan). Der Monarch darf sich daher erstens ins Privatleben der Bürger nur insofern einmischen, als es für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit notwendig ist – und das, sowohl was den inneren als auch den äußeren Frieden angeht. Und er ist zweitens ebenfalls dazu verpflichtet, den Untertanen die weitgehende Möglichkeit einer Selbstregierung zu gewähren. Die Selbstregierung findet durch Repräsentanten statt (Kant betont es immer wieder), damit die Gewalten unterscheidbar bleiben (entsprechend Kants Auffassung von direkter Demokratie, nach der jene Form der Regierung Legislative und Exekutive zusammenführt). Der absolute Monarch fungiert als ein solcher Repräsentant des Volkswillens: Die von ihm

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erlassenen Gesetze müssen diesem Willen entsprechen, auch wenn er das Volk nicht konkret zu befragen braucht (vgl. oben). Aber das ist nicht genug, denn es entspricht noch zu sehr der von Kant strikt abgelehnten paternalistischen Regierung. Wenn der Monarch verpflichtet ist, die Verfassung möglichst dem Ideal der respublica noumenon anzupassen, dann muss er irgendwann seine alleinige Entscheidungsmacht aufgeben und das Volk bzw. dessen Repräsentanten mindestens zur Mitbestimmung aufrufen. Das kann auf mehreren Wegen geschehen: Der Monarch kann den Ratschlägen der Gelehrten (vgl. unten 5.10 und 5.11) zuhören und seine Entscheidungen erst nach informellen Konsultationen vornehmen; oder er kann die gesetzgebende Gewalt einem Parlament übergeben, um für sich lediglich die exekutive Gewalt in Anspruch zu nehmen. Kant spricht sich weder für noch gegen eine der beiden Möglichkeiten ausdrücklich aus. Die Erstere besitzt den Nachteil, dass sie keine institutionelle Lösung darstellt und daher von der Gnade des jeweiligen Monarchen zu sehr abhängt (wie das Beispiel von Friedrich Wilhelm II., dem keineswegs aufgeklärten Nachfolger Friedrichs II., gut zeigte). Die Zweite erweist sich somit als die bessere Lösung – konnte allerdings von Kant nur schwer offen befürwortet werden, denn das hätte ihn in eine prekäre Lage bei den preußischen Behörden (allen voran vor der Zensur) gebracht.23 Wenn nun eine parlamentarische Monarchie aus Kants Perspektive die beste Lösung ist, ist es auch offensichtlich, dass aus derselben Perspektive die Repräsentanten des Volkes nur von ihm gewählt werden dürfen. Einen Erbadel lehnt Kant mehrmals ab (darunter fielen auch jene republikanischen Formen, bei denen die aristokratischen Regierungen auf Erbschaft basierten – wie etwa Venedig). Und eine Ernennung der Volksvertreter durch den Monarchen würde wiederum einen paternalistischen Akt bedeuten. Wahlaristokratie scheint daher die Form der Beherrschung zu sein, die dem republikanischen Ideal am meisten entspricht, auch wenn Kant sie nicht erwähnt. Offen bleibt dann die Frage, ob eine solche Wahl endgültig oder widerrufbar ist, d. h. ob die Repräsentanten ihr Amt auf Lebenszeit oder nur für eine bestimmte Zeit ausüben dürfen. Die zweite Lösung würde Kants republikanisches Ideal in die Nähe unserer modernen Demokratien rücken – und sie würde vor allem Kants Misstrauen gegen den Adel entsprechen (Volksrepräsentanten auf Lebenszeiten kämen einem Erbadel sehr nahe). Um es zusammenzufassen: Kant meint, die praktische Vernunft biete uns ein politisches Ideal an, zu dessen Realisierung in der Praxis wir verpflichtet sind: das Ideal der respublica noumenon. Dieses kann allerdings niemals vollkommen realisiert werden: Wir müssen uns mit einer respublica phaenomenon zufrieden geben, die eine Annäherung an das Ideale darstellt. Nicht alle real existierenden republikanischen Regierungen sind jedoch respublicae phaenomena, sondern nur diejenigen, die bestimmte Merkmale aufweisen: Sie müssen die größtmögliche Freiheit der Bürger garantieren (in einer Republik sind die Untertanen gleichzeitig immer auch Staatsbürger: ZeF VIII, 351), und in ihnen soll die Souveränität vom Volk ausgehen und durch dessen Repräsentanten ausgeübt

23 Machiavelli hatte den Mut gehabt, dem Medici-Papst einen ähnlichen Ratschlag zu geben (vgl. oben 2.2), war aber wenig erfolgreich und musste – vielleicht aus dem Grund – noch lange Jahre im Exil verbringen. Zu Kants Selbstzensur in solchen Fragen vgl. Losurdo 1983.

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werden. Alles, was zu einer größeren Republikanisierung bzw. zur Errichtung einer besseren republikanischen Verfassung in einem Staat führt, ist zu begrüßen. Allerdings bevorzugt Kant den Weg allmählicher Reformen auf der Basis einer Monarchie und lehnt den zwar rechtlich-formalen, aber illegitimen Weg der Revolution ab, obwohl er sie keineswegs verdammt, wie wir nun sehen werden.

5.9. Die rechtliche Unzulässigkeit vom Widerstand und die faktische Kraft der Revolution Kant wünscht sich in erster Linie die Errichtung einer besseren republikanischen Verfassung durch allmähliche Reformen. Er begreift allerdings auch, dass die Französische Revolution ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung gewesen ist – ein Schritt, der vielleicht notwendig war, um Bewegung in die politisch stagnierende Lage Europas zu bringen und die Monarchen zu den heiß ersehnten Reformen zu bewegen (was zum Teil auch tatsächlich geschah). Ein wichtiges Instrument dazu war die Reaktion des Publikums – denn das, wovor sich die europäischen Monarchen am meisten fürchteten, war eben die Haltung der eigenen Untertanen der Revolution gegenüber. Was sie alle zu einer Allianz gegen das revolutionäre Frankreich (und gegen seine ideologische Erbschaft, wie im Fall der späteren Heiligen Allianz) zusammenschmiedete, war eben die Angst vor dem Ansteckungspotential der revolutionären Ideen. Kant begrüßt hingegen die Erweckung solcher Ideen durch das revolutionäre Ereignis, denn das wird den Druck auf die Monarchen erhöhen und sie zu Reformen zwingen – was nicht bedeutet, dass er (als ‚wohldenkender Mensch‘) sich weitere Revolutionen wünscht. Kant scheint daher zwischen dem eigenen Enthusiasmus für die positiven Auswirkungen der Revolution und der moralischen und rechtsmoralischen Verurteilung der negativen Aspekte hin und her gerissen zu sein. Was die positiven Aspekte betrifft, ist festzustellen, dass in manchen Fragen Kant tatsächlich Positionen vertritt, die mit den umstrittensten Entscheidungen der postrevolutionären Nationalversammlung völlig im Einklang sind (vgl. dazu Losurdo 198324). Er spricht sich z. B. gegen die geistlichen Gelübde aus, die er als „null und nichtig“ bezeichnet, da sie die menschliche Freiheit und Würde verletzen (XIX, 547). Dabei benutzt er dasselbe Argument, aufgrund dessen die Nationalversammlung die geistlichen Orden abgeschafft hatte. Was die Beziehungen seiner auf metaphysischen Rechtsprinzipien basierenden Republik mit dem Klerus betrifft, vertritt Kant eine Position, die derjenigen der revolutionären Constitution civile du clergé – die sowohl vom Papst Pius VI. als auch von Burke angegriffen wurde – annähernd entspricht (RL VI, 368 f.). Er verteidigt Maßnahmen wie die Einziehung der geistlichen und kirchlichen Güter oder die Auferlegung von Anleihen, die von der Nationalversammlung unternommen worden waren (RL VI, 324 f.). Er greift den Adel mehrmals an und verwirft dabei fast alle

24 Dem Buch von Losurdo bin ich für die dort enthaltenen historischen Informationen besonders verpflichtet.

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Argumente, die normalerweise von den Befürwortern einer aristokratischen Regierung – und daher auch einer eventuellen aristokratischen Restauration – vertreten werden können (RL VI, 369 f.; vgl. auch RL VI, 329, GS VIII, 292, 294 Fn und 29625; ZeF VIII, 350 f. Fn). Kants Position zeigt außerdem bezüglich einiger Fragen gewisse jakobinische Züge. Das gilt zunächst für den mehrmals im Nachlass auftauchenden Gedanken, Gewalt gehe immer dem Recht voraus: Die Menschen sind nicht imstande, aus eigenem Antrieb eine rechtliche Ordnung einzugehen, sondern sie müssen dazu gezwungen werden („Die Ordnung der Natur will, dass vor dem Recht die Gewalt und der Zwang vorhergehe, denn ohne diese würden Menschen selbst nicht einmal dahin gebracht werden können sich zum Gesetzgeben zu vereinigen.“ – Vorarbeiten zum ewigen Frieden, XXIII, 169; und weiter: „Um ein pactum sociale zu einer Republik zu stiften muss schon eine Republik da sein. Folglich kann sie nicht anders wie durch Gewalt nicht durch Einstimmung gestiftet werden.“ – Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten, XXIII, 426). Aber das gilt auch für die Vehemenz, mit der Kant die Todesstrafe verteidigt, und die ihn zu apokalyptischen Behauptungen verleitet wie: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“ (RL VI, 332), oder – bei der Übersetzung des Grundsatzes „Fiat iustitia, pereat mundus“ (noch ein Beispiel der eigenartigen Übersetzung von lateinischen Texten durch Kant: vgl. unten 5.17) – „Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zugrunde gehen.“ (ZeF VIII, 378) Kant meint, dass die politischen Maximen nicht von ihrem Zweck (d. h. „von der aus ihrer Befolgung zu erwartenden Wohlfahrt und Glückseligkeit“) ausgehen sollen, sondern „von dem reinen Prinzip der Rechtspflicht [...], die physischen Folgen daraus mögen auch sein welche sie wollen“ (ZeF VIII, 379; kursiv – A. P.) Kants letztes Wort lautet: „Die Welt wird keineswegs dadurch untergehen, dass der bösen Menschen weniger wird“ (a. a. O.). Das war das Argument der Jakobiner und aller Revolutionäre, wenn es darum ging, politische Gegner bzw. diejenigen, die sich gegen die revolutionären Umwälzungen auflehnten, auch en masse zu beseitigen. Im Streit der Fakultäten bezeichnet er nicht nur zufällig jene „Vorstellungsart der Menschengeschichte“ als „terroristisch“ (ein Wort, das damals eher für die Regierungsart der Jakobiner angewandt wurde), die „beim Anwachsen großer, wie Berge sich auftürmenden Greueltaten und ihnen angemessenen Übel“ das Ende der Welt prophezeit (VII, 81). Außerdem betont Kant in derselben Schrift – wie schon erwähnt – die Zustimmung und Anteilnahme, mit der „in den Gemütern aller Zuschauer“ die Französische Revolution begrüßt wurde, auch wenn sie „mit Elend und Greueltaten“ angefüllt war (VII, 85). Eine direkte Verteidigung der revolutionären Verfassung (und wenn man will sogar der jakobinischen Diktatur) gegen ihre äußeren Feinde (d. h. gegen die gegenrevolutionäre Koalition europäischer Staaten) findet in der Friedensschrift statt, wenn Kant schreibt, dass von einem Staat nicht verlangt werden kann, „dass er seine, obgleich despotische

25 Hier bezieht Kant a posteriori Position in der Polemik, welche die ersten Sitzungen der Generalstände dominiert hatte, nämlich: ob die Stimmen nach Klasse oder nach Köpfen verteilt werden sollten.

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Verfassung (die aber doch die stärkere in Beziehung auf äußere Feinde ist) ablegen soll, solange es Gefahr läuft, von andern Staaten sofort verschlungen zu werden“ (ZeF VIII 373; kursiv – A. P.). Im Gemeinspruch behauptet er, dass die einzige Verfassung, die absoluten, unbedingten Gehorsam verdient, diejenige ist, „die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert“, also eine republikanische Verfassung, die keineswegs mit derjenigen des prä-revolutionären Frankreich identifiziert werden kann (GS VIII, 298). Und eine Seite später scheint er die tyrannische Regierung der Jakobiner zu rechtfertigen, während er gleichzeitig die gegenrevolutionären Aufstände in der Vandée und in anderen Regionen Frankreichs verurteilt (GS VIII, 299). Schließlich verteidigt er die Revolution gegen ihre Gegner mit dem Argument, dass auch die jetzt so gepriesenen Verfassungen der Schweiz, der Niederlande und von Großbritannien von „Empörungen“ ausgegangen sind; wären diese Empörungen jedoch misslungen, würde man heutzutage „in der Hinrichtung ihrer jetzt so erhobenen Urheber nichts als verdiente Strafe großer Staatsverbrecher sehen“. Kant schließt daraus – wie schon Machiavelli: „Denn der Ausgang mischt sich gewöhnlich in unsere Beurteilung der Rechtsgründe.“ (VIII, 301) Hat also die Revolution Erfolg, wird sie nicht länger als Verbrechen angesehen werden, und die aus ihr hervorgegangenen institutionellen Umwälzungen, die neue Verfassung, die neuen Institutionen und Gesetze usw. werden durch ihre faktische Kraft rechtliche Legitimation bekommen (RL VI, 323). Was die negativen Aspekte der Revolution betrifft, fallen darunter sicher der Tod unschuldiger Menschen, aber auch die Tatsache, dass die Untertanen Widerstand gegen ihr legitimes Oberhaupt geleistet hatten; Kant lehnt einen solchen Widerstand als höchst illegitim strikt ab. Die wiederholte Ablehnung des Widerstandsrechts (z. B. GS VIII, 299 und RL VI, 320 f.) hat immer wieder scharfe Kritiken verursacht. Nur wenige Interpreten sehen darin einen positiven Aspekt der politischen Lehre Kants. Maus betont zu Recht, dass das Widerstandsrecht an sich ein Rechtsinstitut ist, „das vordemokratischen Organisationsformen und feudalständischen Vergesellschaftungen entstammt“ (Maus 1992, 32; dazu Kern 1980), und dass es eine „traditionalistisch-konservierende Intention“ besitzt, die antidemokratische Züge annehmen kann, wenn es gegen demokratisch verfassten Entscheidungen in Anspruch genommen wird.26 Ziel der Kantschen Ablehnung des Widerstandsrechts sind nach solchen Interpretationen weniger die möglichen Gegner eines Tyrannen (wie in RL VI, 320) als vielmehr die konkreten Gegner der Französischen Revolution. Nicht zufällig wiederholt Kant diese Ablehnung auch in Bezug auf die Frage der Abschaffung bzw. Veränderung einer ‚gewissen einmal angeordneten kirchlichen Verfassung‘ – wie z. B. im Fall der schon zitierten Constitution civile du clergé, gegen die viele Vertreter der Gegenrevolution die Franzosen zum Widerstand aufgerufen hatten. Losurdo ist daher zuzustimmen, wenn er feststellt: „Es ist die Gegenrevolution, die Kant ablehnt, indem er das Widerstandsrecht ablehnt.“ (Losurdo 1983, 49; Übersetzung – A. P.). Sowohl in der Friedensschrift (VIII, 372 f.) als auch in der Rechts26 Ein Beispiel dafür zeigen heutzutage die Gewaltakte mancher Abtreibungsgegner, die meinen, ihre Gewalt sei als Gegengewalt (d. h. als Reaktion gegen die angebliche Gewalt der Abtreibung durchführenden Ärzte und der Abtreibung zulassenden Staaten) nicht nur legitim, sondern moralisch geboten.

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lehre (VI, 323) behauptet Kant ausdrücklich, dass die Verfassung, die aus einer Revolution hervorging und deshalb gerechter als die alte ist, trotz ihres unrechtmäßigen Ursprungs legitim sei und die Bürger zu Gehorsam verpflichte. Illegitim sei vielmehr der Versuch, diese Verfassung rückgängig zu machen und die alte wieder einzuführen. Kant erklärt m. a. W. die Reaktion und die Wiederherstellung des Ancien Règime (die erst nach dem Fall Napoleons stattfinden wird) im Voraus für illegitim. Wenn Kant die Französische Revolution gutheißt, meint das allerdings nicht, dass er sie rechtfertigt. Eine Revolution stellt einen gravierenden Rechtsbruch dar und kann daher rechtlich-formell niemals gerechtfertigt sein. Sie kann auch nicht mit Appellen an moralische Aspekte und an das Gewissen begründet werden – jene Appelle, durch welche die Gegner der Revolution die Bevölkerung gegen die neue Regierung zu hetzen versuchten.27 Aber eine Revolution kann durch den Hinweis auf geschichtsphilosophische Überlegungen doch mindestens eine positive Bedeutung bekommen – nämlich dann, wenn sie zur Errichtung einer besseren republikanischen Verfassung führt. Das wäre dann ein weiterer Schritt „zum Besten“ – wie es im Streit heißt. Und es stellt auch eine Verbesserung der Umstände dar, unter denen die Individuen leben müssen. In dieser Hinsicht übernimmt Kant die Position von Hobbes, nach der ein Souverän, der seine Aufgaben nicht erfüllt, früher oder später seine Macht verlieren wird, und zwar entweder durch die Eroberung des Staates seitens einer fremden Macht, oder durch revolutionäre Gewalt, wie es in England geschehen war. In beiden Fällen sind die Untertanen ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem alten Herrscher befreit, denn der war nicht imstande, sie zu verteidigen bzw. ihre Sicherheit zu garantieren. Der Umsturz eines regierenden Souveräns stellt insofern immer eine Rückkehr zum Naturzustand dar, möge sie auch nur sehr kurz dauern, nämlich so lange, bis der neue Souverän eingesetzt wird. Ähnliches finden wir bei Kant. Es gibt kein legitimes Mittel, um die Macht eines Tyrannen zu stürzen, denn eine Revolution ist immer illegitim. Aber gegen einen Tyrannen werden früher oder später die Untertanen selbst vorgehen – mit einer zwar illegitimen, jedoch gutzuheißenden Revolution – vorausgesetzt, dass sie gelingt und zu einer besseren republikanischen Verfassung führt. Möge also Kant eher die allmählichen Reformen vorziehen, so ist das Ziel, das er sich davon verspricht, keineswegs so moderat. Denn es ist eine republikanische Verfassung, in der das Volk absoluter Souverän ist (wenngleich die Souveränität durch Repräsentanten und nicht direkt ausgeübt wird), und in der jene sozialen Mächte, die zu Kants Zeiten die Gesellschaft dominierten (Erbmonarch, Erbadel, Klerus), so gut wie abwesend oder – wie im Falle des Klerus – in ihrer öffentlichen Rolle stark eingeschränkt sind. Maus ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Kants Theorie gesellschaftlicher Praxis“ ist „lediglich in Fragen der Mittelwahl moderat“ (wenn sie sich für allmähliche Reformen ausspricht), überbietet jedoch „in den begründeten Prinzipien [...] die Demokratietheorie und Verfassungskonzeption der französischen Jakobiner an Radikalität bei weitem“ (Maus 1992, 20), denn die Entscheidungen des Souveräns – sprich: des Volkes,

27 Das bedeutet allerdings nicht, dass Kant einen moralisch begründeten Widerstand absolut ablehnt, wie wir noch sehen werden.

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werden von Kant für unanfechtbar erklärt. Dem Souverän muss immer Gehorsam geleistet werden, und die Untertanen (mögen sie gleichzeitig auch den Souverän bilden, wie im Fall der Republik) haben kein Recht, ihm zu widerstehen. Das nicht nur, weil jede Gehorsamsweigerung die Negierung des rechtlichen Zustandes und daher die Rückkehr in den natürlichen, vorrechtlichen Zustand darstellen würde (das ist eher Hobbes’ empirisches Argument), als vielmehr, weil die bloße Idee eines Widerstandsrechts einen logischen Widerspruch darstellt: Ein solches Recht würde nämlich bedeuten, dass die oberste Staatsgewalt doch nicht als solche gesehen wird (vgl. RL VI 320 und 372). Kants Argument ist also nur scheinbar empirisch. Es besagt, dass bloß der Staat die Existenz eines unparteilichen Richters und einer andauernden, theoretisch unfehlbaren Justizverwaltung garantieren kann, so dass ein Widerstandsrecht den endgültigen Charakter des Rechts aushöhlen würde. Das würde uns zwar in den Zustand rechtlicher Unsicherheit zurückbringen, welche die vorstaatliche Gesellschaft charakterisiert, aber es würde vor allem dem Rechtsbegriff schlechthin widersprechen, denn das Recht würde die Möglichkeit der eigenen Ungültigkeit voraussehen. Eigentlich wäre es doch möglich, ein Widerstandsrecht rechtlich zu begründen, nämlich durch den Beschluss eines Vertrages zwischen Souverän und Untertanen, der die Umstände genau festsetzt, unter denen sie den Gehorsam legitim verweigern dürfen – etwa wie bei den mittelalterlichen Pakten zwischen Kaiser und Freistädten, welche die Basis für den späteren Begriff vom Vertrag als Ursprung der politischen Gemeinschaft und gleichzeitig als Instrument politischer Legitimation darstellten (eine von Kant nicht erwähnte Möglichkeit, da es ihm um ein metaphysisch begründetes Rechtssystem geht). Ist ein solcher Vertrag nicht vorhanden, stehen wir jedoch vor der von Kant hervorgehobenen Schwierigkeit, dass es unmöglich sei, einen unparteiischen Richter zu finden und somit ein unparteiisches Urteil zu fällen. Ein absolutes Widerstandsrecht, d. h. ein Recht, das durch keine vorausgegangenen Vereinbarungen (wie die eben erwähnten) gebunden ist, würde das Ende jeglicher Rechtsordnung darstellen. Das nicht, weil es materiell zum Chaos führen würde (das wäre, wie gesagt, ein empirisches Argument, dem sich Hobbes anschließen könnte), sondern weil ein solches Recht prinzipiell anarchisch wäre: Das Recht würde nicht länger über eine unwiderstehliche Macht verfügen – und das nicht empirisch, sondern seiner eigenen Natur nach. Kant lehnt den bloßen Begriff eines Widerstandsrechtes ab, um eben jene Art der Anarchie zu vermeiden. Er verbietet allerdings den Untertanen nicht, ihrer Unzufriedenheit bzw. ihrer Kritik Ausdruck zu geben. Dabei hält er die Veröffentlichung von Pamphleten für das Hauptmittel dazu (vgl. unten 5.11), übersieht jedoch auch die Möglichkeit des zivilen Ungehorsams nicht, der nicht dasselbe ist wie Widerstand, denn er schließt die Bereitschaft ein, die rechtlichen Folgen zu ertragen, die aus dem Rechtsbruch gegen das für inakzeptabel gehaltene Gesetz resultieren. Wer zivilen Ungehorsam ausübt, revoltiert nicht stricto sensu gegen den Souverän, sondern versucht zu zeigen, dass ein bestimmtes Gesetz unmoralisch (nicht: rechtlich illegitim) ist. Die Annahme der darauf folgenden Bestrafung ist daher Teil der Strategie des Ungehorsamen, der damit moralische Empörung gegen das ungerechte Gesetz verursachen will. Wie Antigone (und wie später Thoreau, Gandhi oder Martin Luther King) nimmt der ungehorsame Bürger seine Strafe an, um zu zeigen, wie moralisch illegitim bestimmte Gesetze waren, aber nicht um

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die Legitimation der gesetzgebenden Regierung zu bestreiten, oder um die Rechtsordnung als solche in Frage zu stellen.28 Kant verurteilt eine solche Strategie keineswegs. In der zweiten Kritik führt er das Beispiel eines gerechten Mannes an, der von einem Fürsten „mit dem Verlust der Freiheit, ja des Lebens selbst bedroht“ wird, weil er einen unschuldigen Menschen nicht verleumden will (KpV V, 155 f.). Kant beurteilt den Fall aus der rein moralischen Perspektive dieses Werkes heraus und drückt seine Bewunderung für die Stärke des Mannes aus, der jedem Versuch widersteht, ihn zu einer moralisch ungerechten Handlung zu verleiten, und der vielmehr eine unverdiente Strafe annimmt. Wenn dieser gerechte Mann den ungerechten Befehlen seines Fürsten nicht Folge leistet, übt er zivilen Ungehorsam. Kant sympathisiert mit ihm nicht nur, weil er Unrecht ablehnt, sondern weil er lieber eine unverdiente Bestrafung vorzieht. Das ist also kein Widerstandsakt, sondern nur ein Akt zivilen Ungehorsams. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Kant lehnt zwar die rechtliche Legitimität der Revolution strikt ab, erkennt jedoch ihre faktische Kraft an. Deswegen plädiert er – Hobbes folgend – auch für die Legitimität der durch eine Revolution eingesetzten Regierung. Möge der Akt des Umsturzes an sich illegitim sein, so ist die Einsetzung einer neuen Regierungsform als Wiederherstellung des rechtlichen Zustands durchaus legitim (RL VI, 323), alle Versuche, die neue Regierung umzustürzen, sind hingegen illegitim – auch wenn sie im Namen einer Restauration des früheren (seinerzeit legitimen) Regimes stattfinden. Kant ist sich außerdem bewusst, dass eine Revolution manchmal den einzigen Weg darstellt, um eine Verfassung im republikanischen Sinne ändern zu können. Möge sie daher rechtlich illegitim sein, so kann sie politisch ein durchaus zu begrüßendes Ereignis darstellen, denn sie ist ein großer Schritt in die Richtung jener allmählichen Republikanisierung, die das Ende der Geschichte der menschlichen Gattung bestimmt, wie es im „Erste[n] Definitivartikel zum ewigen Frieden“ heißt (ZeF VIII, 349 ff.). Dort wird auch die Revolution als mögliches Instrument einer solchen Republikanisierung erwähnt: Ihr werden allerdings allmähliche Reformen vorgezogen, die am besten von einem Monarch vorgenommen werden sollten. Die praktische Unrealisierbarkeit des republikanischen Ideals setzt Kants Modell nicht auf dieselbe Ebene wie das Modell von Rousseau. Rousseaus ideale Republik ist utopisch in dem Sinne, dass es eine theoretisch konkrete Möglichkeit darstellt, deren Realisierungsbedingungen jedoch nicht mehr (oder niemals) gegeben sind, und die daher rein kontingent zu einer historischen Unmöglichkeit geworden ist. Kant versteht hingegen sein republikanisches Modell als ein regulatives Ideal, das prinzipiell niemals erreicht werden kann: Die Menschen müssten dafür nicht länger phänomenische Wesen sein – und das ist eine ontologische, keine bloße historische Unmöglichkeit. Der regulative Charakter des republikanischen Ideals verpflichtet nichtsdestotrotz zu seiner Realisierung, die dann notwendigerweise nur als (schließlich stete) Annäherung an das-

28 Eine Ausnahme stellt Gandhi dar, der die Legitimität der englischen Kolonialherrschaft in Frage stellen wollte.

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selbe möglich ist. Der Sinn des Annäherungsprozesses wird klar, wenn man Kants Geschichtsphilosophie betrachtet (5.10-11).

5.10: Zur Freiheit gezwungen? Das „teleologische“ Modell Kants Die erste Schrift, die Kant ausdrücklich einem politischen Thema widmet, ist die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1783. Darin setzt er der Menge an unaufgeklärten Individuen die aufgeklärte Minderheit der Gelehrten entgegen. Erstere sind gewohnt, sich zu fügen und zu gehorchen, ohne die Autorität der Befehlenden, auch nicht die Legitimität der Befehle in Frage zu stellen. Letztere hingegen – obwohl sie bereit sind, die Autorität der Institutionen prinzipiell anzuerkennen – beanspruchen für sich das Recht, den Inhalt der Gesetze oder gar die Institutionen selbst zu kritisieren (Kant erwähnt allerdings die Möglichkeit einer Kritik der Institutionen nicht ausdrücklich, obwohl sie aus dem, was er schreibt, klar hervorgeht). Dabei unterscheidet Kant bekanntlich zwischen einem privaten und einem öffentlichen Gebrauch der Vernunft: Der private betrifft die Amtsausübung von staatlichen Behörden bzw. Beamten (Professoren, Lehrer, Priester, Offiziere usw.) innerhalb ihrer Gemeinschaft (die der weiten Welt gegenüber eine private Realität darstellt), der öffentliche Gebrauch bestimmt die Rolle der Intellektuellen, deren Verpflichtung gegenüber der Wahrheit, nicht gegenüber der staatlichen Autorität besteht (VIII 36 ff.). Ausgerechnet von diesen Individuen und dank ihres „öffentlichen“ Gebrauchs der Vernunft kann man die Aufklärung der Menge und deren Befreiung aus der selbstverschuldeten „Unmündigkeit“ erwarten. Obwohl es sich um kein systematisches Werk politischer Philosophie handelt, kann man die Beantwortung in zwei Perspektiven lesen. In einer ersten Lesart offenbart Kant hier sein Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der meisten Menschen, zu politischer Reife aus eigenen Mitteln zu gelangen. Sie könnten zu dieser Reife nur durch die aufklärende Tätigkeit der Gelehrten oder sogar eines aufgeklärten Monarchen (z. B. Friedrich II., den Kant zitiert, ohne ihn namentlich zu erwähnen) emporgehoben werden. In einer alternativen Lesart bestünde Kants Position in der Meinung, dass der politische Fortschritt der Menschheit nicht zu halten ist – trotz der ‚Trägheit‘ der Menschen (d. h. der Individuen, die an der eigenen politischen Unmündigkeit selbst schuld sind) und trotz der Versuche seitens der Institutionen, den Prozess der Aufklärung und der politischen Emanzipation der Menschheit zu stoppen. Kant spricht nämlich in dem Werk von der Menschheit selbst, nicht lediglich vom Volk oder von der beschränkten Anzahl der Staatsbürger, die – gemäß Kants Auffassung von der Selbstständigkeit (vgl. unten 5.12) – am politischen Leben aktiv teilnehmen dürfen. Beide Lesarten sind legitim, da sie sich gegenseitig nicht ausschließen. Die erste hebt nämlich die autoritären Elemente der Kantischen Staatsauffassung hervor, während die zweite eher deren republikanischen und schließlich emanzipatorischen allgemeinen Charakter betont. Die Koexistenz beider Aspekte in Kants politischer Philosophie verleiht ihr eine gewisse Zweideutigkeit, die eines der interessantesten Momente innerhalb des Kantischen Denkens darstellt – besonders in Bezug auf seine Geschichtsphilosophie.

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1784, veröffentlicht Kant die Idee, deren Anlass nach Kants Worten eine anonyme Anmerkung war, die in der Gotaische[n] Gelehrte[n] Zeitung erschienen war, und in der von einer Lieblingsidee des „Professor Kant“ die Rede war – nämlich von der Idee, dass das Endziel der menschlichen Gattung die Schaffung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung sei. Kant sagt in einer Anmerkung, dass diese Idee „ohne Zweifel aus meiner Unterredung mit einem durchreisenden Gelehrten genommen worden“ war (Idee VIII, 7). In der Tat ist es sogar möglich, dass der unbekannte Gelehrte niemals mit Kant gesprochen hatte, denn er hätte dieser Idee in der ersten Kritik begegnen können (KrV B 373 f.). Dass es sich tatsächlich um eine von Kants Lieblingsideen handelt, zeigt sich auch in seinen schon erwähnten Reflexionen aus den Jahren nach 1770 (vgl. oben 5.5), in denen er die Grundlinien seiner späteren Geschichtsphilosophie aufgezeichnet. Diese Grundlinien können so zusammengefasst werden: Die Menschheit besitzt ein Endziel, nämlich ihre Moralisierung. Die äußere Bedingung für die Realisierung jenes Ziels ist das Recht. Dadurch, dass das Recht den Sonderwillen der Individuen dem Gesetz unterwirft (möge die Unterwerfung auch durch Zwang erreicht werden), bereitet es den Boden für die Unterwerfung unter das moralische Gesetz vor – nur dass diesmal die Unterwerfung freiwillig, nicht das Ergebnis eines Zwanges ist (Renaut 1997, 462). In dieser Phase scheint Kant daher an einen ‚inneren‘ Fortschritt der Menschengattung glauben – einen Gedanken, den er bereits in der Idee wieder fallen lassen wird. In der Idee wird das Schema der Reflexionen aus den 70er Jahren im Rahmen einer vollständigen Geschichtsphilosophie eingesetzt. Kant zielt allerdings nicht (wie Rousseau im zweiten Discours) auf eine genealogische Rekonstruktion der Geschichte der menschlichen Gattung. Sein Ansatz ist raffinierter und komplexer: Er will keinen fiktiven oder hypothetischen geschichtlichen Prozess rekonstruieren, sondern er sucht einen Leitfaden, der uns erlauben soll, die Geschichte der menschlichen Gattung so zu lesen, als ob sie einen Sinn habe. Er bestünde in der Realisierung eines Zweckes, den die Natur selbst den Menschen gegeben haben soll, nämlich die vollständige Entwicklung ihrer Naturanlagen. Es ist also nicht so, als ob die Geschichte der menschlichen Gattung tatsächlich einen Sinn hat: Es sind vielmehr die Philosophen (oder die Historiker), die in ihr einen solchen Sinn hineinlesen. Es wäre daher ein großer Irrtum, Kants Geschichtsphilosophie als eine Philosophie der geschichtlichen Notwendigkeit à la Hegel zu sehen. Die teleologische Hypothese, die Kant in der Idee vorstellt, besitzt keinen theoretischen Wert, denn unsere Kenntnis wird durch sie nicht erweitert: Höchstens können wir uns ihr als einer regulativen Idee bedienen. Dieses theoretische Modell sieht eine Absicht, oder besser: einen geheimen Plan der Natur vor, der uns zum Gedanken eines automatischen Fortschritts in Richtung eines Friedenszustandes unter Menschen und unter Staaten führt. Das Modell geht von der teleologischen Voraussetzung aus, dass die Natur nichts Zweckloses produziert. Daher sind „alle Naturanlagen eines Geschöpfes [...] bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (1. Satz). Der Mensch, als einziges vernunftbegabtes Wesen, wird eben seine Vernunft entwickeln. Das kann jedoch nur auf der Ebene der Gattung geschehen, da das individuelle Leben zu kurz dafür ist (2. Satz). Die Entwicklung der Vernunft (als Naturanlage der Menschen) bedeutet gleichzeitig die Befreiung von den Instinkten, d. h. von der Natur selbst. Wie bei Rousseau besteht der Zweck, den die Natur

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verfolgt, darin, dass die Menschengattung sich selbst emanzipiert. Deshalb sind die natürlichen Gesetze notwendig, die hingegen das Leben aller anderen Tiere bestimmen (3. Satz). Die Menschen bleiben nur in ihrem phänomenischen Moment jenen Gesetzen unterworfen, während ihr noumenisches Selbst die Sphäre der Autonomie erreicht: Die Entwicklung der eigenen Naturanlagen (d. h. der eigenen Vernünftigkeit) führt die Menschen zur Freiheit. Das Mittel, dessen sich die Natur zur Vollendung des Zweckes bedient, ist der Antagonismus unter den Menschen, die „ungesellige Geselligkeit“ (VIII, 20). Die Menschen neigen zur Gesellschaft und gleichzeitig fühlen sie Abneigung gegen die Mitmenschen. Sie nehmen daher die anderen als Hindernis für sich selbst und sich als Hindernis für die anderen wahr. Eben der von den Mitmenschen ausgeübte Widerstand (nochmals das Begriffspaar Wirkung/Gegenwirkung!) erweckt die Fähigkeiten und Kräfte der Menschen: Sie überwinden ihre Faulheit und fangen nun einen Konkurrenzkampf mit den Mitmenschen an. Dabei lassen sie sich von drei an sich negativen Trieben führen, die wir schon aus Hobbes’ Philosophie kennen: Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht (4. Satz). Es entsteht somit jener Kriegszustand, der in der kontraktualistischen Tradition als Naturzustand bezeichnet wird, und der schließlich die Menschen zur Errichtung einer rechtlich geregelten Gesellschaft, d. h. eines Staates führt. Die Errichtung einer solchen bürgerlichen Gesellschaft (wie Kant sie nennt) ist das größte Problem, zu dessen Lösung die Menschengattung von der Natur gezwungen wird (5. Satz). Die Aufgabe wird dadurch erschwert, dass die gesuchte bürgerliche Verfassung solange keine vollkommene sein wird, bis auch die Staaten in ihren gegenseitigen Beziehungen einen ähnlichen rechtlichen Zustand in Form eines Völkerbundes eingegangen sein werden (7. Satz). Die Geschichte der Menschengattung kann daher als Realisierung einer geheimen Absicht der Natur gelten, um eine vollkommene Verfassung sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu errichten: Die Errichtung einer solchen Verfassung würde der Moralisierung der Menschengattung gleichkommen, denn nur in einem solchen vollkommenen rechtlichen Zustand würden die Menschen die eigenen Naturanlagen, d. h. Vernunft und Freiheit, vollständig entwickeln (8. Satz). Diese Interpretation der menschlichen Geschichte besitzt einen ausschließlich praktischen Wert, da sie uns als regulatives Ideal dient (9. Satz). Kant lehnt den Gedanken ab, dass in der Natur tatsächlich ein Mechanismus am Werk ist, der die Menschen zur Freiheit ohne ihr eigenes Handeln führen oder gar zwingen würde. Ein solcher Gedanke würde diese Freiheit entwerten, denn sie würde sich nicht aus eigener Kraft entwickeln, sondern nur dank eines ihr äußerlichen Willens, nämlich dank der Natur oder der Vorsehung (Idee VIII, 30; vgl. auch GS VIII, 312 f. und ZeF VIII, 361 f.). Die Menschen würden dann zur Freiheit gezwungen – was einen Widerspruch darstellt.29 Das Modell, das Kant in der Idee anbietet, ist keine Erklärung eines sich tatsächlich am Werk befindenden natürlichen Mechanismus. Es ist daher irreführend zu behaupten, 29 Man könnte an Rousseaus Paradoxon denken, nach dem manche Menschen gezwungen werden sollten, frei zu sein: aber die in diesem Fall von ihm gemeinte Freiheit ist die politische Freiheit, die aus der freiwilligen Unterwerfung unter ein selbstgewolltes Gesetz entsteht (vgl. oben 4.10 und 4.20).

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dass „der Protagonist der Kantischen Geschichte [...] eine absichtsvolle Natur“ ist, wie Kersting meint (Kersting ²1993, 85), denn eine solche Interpretation würde dem Kantischen Modell den epistemischen Wert einer Beschreibung bzw. den Wert einer Feststellung verleihen, während Kant selbst auf die „moralisch-praktische Absicht“ des Modells mehrmals hinweist (ZeF VIII, 362 Fn; vgl. auch 9. Satz der Idee). Friedrich Kaulbach hat nicht nur die praktische Bedeutung von Kants Geschichtsphilosophie, sondern auch deren ideale Dimension betont. Dabei weist er allerdings zunächst auf die Schwierigkeiten hin, die diese Geschichtsphilosophie bei einer ersten Lektüre aufwirft: „Der Eindruck, dass Kant die Natur zur Herrscherin des Menschen machte und dessen Freiheit der Freiheit der Natur opfere, wird durch Wendungen verstärkt wie durch die, dass wir von der Natur ‚gezwungen‘ werden, im Sinne ihrer Absichten zu wirken und uns schließlich auch da vernünftig zu verhalten, wo wir gerne unvernünftig sein würden. Damit scheint der Natur die Rolle eines Vormundes für den Menschen übertragen zu werden“ (Kaulbach 1975, 72). Sie benutzt die Technik „eines überlegenen und listigen Pädagogen, der den Mechanismus der menschlichen Triebe dazu benutzt, um ihn schließlich gegen seine Neigungen zum Gesellschaftsvertrag zu zwingen.“ (a. a. O., 72 f.). Kaulbach vergleicht sie mit einem „Marionettenspieler“, der „die auf Körper und Gelenke der Puppen wirkenden physikalischen Kräfte dazu benutzt, um diese Puppen zu der gewünschten Gestik zu bringen“ (a. a. O., 73). Ein solcher Eindruck steht jedoch im Gegensatz „zur Freiheitslehre Kants, zum Anspruch des Menschen auf Autonomie und zu der ohne Einschränkung festzuhaltenden Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und Freiheitsgesetzen“ (a. a. O.). Hier stehen sich zwei Freiheiten gegenüber: die freie Natur und der freie Mensch. Beide beanspruchen für sich, der wahre Akteur der Geschichte zu sein. Diese Dialektik wird nach Kaulbachs Meinung dadurch aufgelöst, dass man zwei verschiedene Perspektiven gebraucht: Die eine sieht auf den Menschen als freies handelndes Subjekt, das „sich in eine objektive Welt ‚versetzt‘ “; die andere „macht sich ein Bild von dieser Welt, wie es in den neun Sätzen der Kantischen Abhandlung dargestellt wird, um mit seiner Hilfe Weg und Ziel des eigenen Handelns zu finden und sich praktisch-politisch zu orientieren“ (a. a. O., 74). Der Geschichtsphilosoph bietet daher durch seine Theorie einer zweckmäßigen Natur ein Orientierungsinstrument für das praktische Handeln an, und zwar so, „dass ich mir vom Standpunkt praktischer Vernunft aus eine vernünftig verfaßte, zweckmäßige und organisierte Natur vorstelle, an deren Zusammenhang ich mein Tun und meine für die besondere Situation in Frage stehende Handlungsmaxime zu orientieren habe. [...] Diese Natur [...] ist kein empirisch wirklicher, vorfindbarer und dogmatisch feststellbarer Zusammenhang, sondern ein praktisches Ideal. Sie ist der Bereich einer moralischen Welt, in die ich mich, wie Kant sich auch ausdrückt, ‚hineinzudenken habe‘,30 um den moralischen Standpunkt [...] zu gewinnen“ (a. a. O., 76). Diese Natur stellt einen „Zweckzusammenhang“ dar (a. a. O.) und weist auf das Ideale des Reichs der Zwecke hin: Hier wie dort gilt es, das praktische Handeln in einem

30 „Dadurch, dass die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hineindenkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen.“ (GMS IV, 458)

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Zusammenhang zu denken, in dem die individuellen Maximen und Handlungen im Lichte einer höheren Dimension interpretiert werden können. In beiden Fällen denkt sich die praktische Vernunft „in eine Verstandeswelt“ hinein (GMS IV, 458), in der das menschliche Handeln seinen Sinn bekommt (zum Reich der Zwecke vgl. 5.14). Kants Teleologie darf daher nicht als klassische Teleologie verstanden werden, sondern muss als eine moralisch-praktische Teleologie, letztlich als eine voluntaristische Teleologie interpretiert werden: Die Idee eines Zwecks der Natur dient den Menschen dazu, die eigene Handlung so zu organisieren, dass sie zur Erreichung dieses Zwecks dient. Wenn wir so handeln, als ob ein solcher Zweck der Natur vorhanden sei, erfüllt unsere Handlung jene moralisch-praktische Absicht, die Kant ausdrücklich erwähnt. Der wahre Protagonist der Geschichte ist daher nicht die Natur, sondern die menschliche Freiheit. Ein Vergleich mit Rousseau bietet sich an. Dem Genfer Philosophen zufolge rüstet die Natur die Menschen mit einer Fähigkeit – der Perfektibilität – aus, die das Mittel darstellt, durch das sich die Menschen von der Natur selbst entfernen. Diese typisch menschliche Fähigkeit – die Fähigkeit zu lernen, sich zu verbessern, und gleichzeitig, sich vom ursprünglichen Autarkiezustand zu entfernen – wird letztlich zur Ursache aller menschlichen Übel: Was sich als ein teleologisches Modell präsentierte, führt somit zu einem anti-teleologischen Ergebnis, denn die Natur erreicht durch ihre ‚Gabe‘ nur, dass die Menschen unglücklicher werden (obwohl das für sie auch die Möglichkeit darstellt, moralische Persönlichkeit zu erzielen und zur eigentlichen Freiheit zu gelangen: vgl. 4.6). Eine ähnliche Rolle wie die Perfektibilität bei Rousseau spielt bei Kant die Vernunft, denn sie ist die exklusiv menschliche Fähigkeit, die uns vom ursprünglichen natürlichen Zustand entfernt, wie es in der Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) heißt. Die Natur rüstet die Menschen mit der Fähigkeit aus, dank derer sie sich von ihr emanzipieren werden: Sie ist in der Hinsicht eine gute Mutter, da sie das Ziel der Emanzipation der eigenen Kinder erreicht (vgl. unten 5.12). Bei der Emanzipation von der Natur als Ganzheit der natürlichen Phänomene entwickeln wir unsere eigentliche Natur als charakteristisches Wesen: Wir entwickeln unsere Vernünftigkeit. Dieser Akt der Emanzipation findet bei Kant als freier Akt statt: Der Mensch entscheidet, die eigene Vernunft zu befolgen; eine Entscheidung, die gleichzeitig eine Entscheidung gegen den ursprünglichen friedlichen Zustand (Eden) und zugunsten der Freiheit und der damit verbundenen Schwierigkeiten und Übel darstellt, wie aus dem Mutmaßliche[n] Anfang klar hervorgeht. Von dem Moment an wird die menschliche Geschichte zur Geschichte der Entwicklung menschlicher Vernünftigkeit und menschlicher Freiheit, da beide der Ausdruck einer einzigen Wirklichkeit, d. h. der menschlichen Autonomie sind.

5.11: Das krumme Holz und die Frage der Unmündigkeit der Bürger Wenn die Geschichte der Menschengattung die Geschichte der menschlichen Freiheit ist, dann werden wir die vollkommene Verfassung, so wie die kosmopolitische Verfassung, nicht notwendigerweise erreichen (das wäre der Fall, wenn der Protagonist der Geschichte tatsächlich die Natur wäre, denn sie kann bei der Erreichung ihrer Ziele nicht

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scheitern). Wir sind vielmehr verpflichtet, jenes Ziel zu verfolgen, auch wenn wir es niemals erreichen werden: verpflichtet gegenüber unserer vernünftigen Natur, d. h. gegenüber der Menschheit in uns selbst, um einen Kantischen Ausdruck zu benutzen. Welchen Sinn hat nun die Behauptung, dass wir dieses Ziel niemals erreichen werden? Kants Erklärung dafür scheint nicht nur das teleologische Modell der Idee, sondern darüber hinaus den Begriff selbst, von einer vollkommenen Entwicklung der Vernunft im Rahmen einer kosmopolitischen Gemeinschaft, in Frage zu stellen. Im 6. Satz der Idee behauptet er, dass es die menschliche Natur selbst ist, welche die Erreichung des von der Gattung gesetzten Ziels verhindert (vgl. Pinzani 2008). Um zu beschreiben, wie schlecht diese Natur ist, bedient sich Kant einer berühmten Metapher, der zweiten in der Idee, die mit Bäumen bzw. Holz in Verbindung steht (vgl. oben 5.6): „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (VIII, 23). Noch härter, fast extrem ist Kants weitere Behauptung, der Mensch sei „ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat [...], der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen“ (a. a. O.). Der Mensch bedarf eines Herrn, der ihn zwingt, dem Gesetze zu gehorchen, seine tierischen Instinkte und seine ursprüngliche, uneingeschränkte Willkür zu unterdrücken. Dieser Herr kann jedoch seinerseits nur Mensch sein, also auch ein Tier, das einen anderen Herrn nötig hat, der seinerseits nur ein Mensch sein kann usw. Aus solchem Zirkel kann man nicht wirklich herauskommen: „Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich“, denn alle Menschen sind aus krummem Holze gemacht (a. a. O.). Eine vollkommene Verfassung lässt sich also unter Menschen nicht errichten: Möglich ist nur eine Annäherung an dieses Ideal. Verliert aber durch den Gedanken der schlechten menschlichen Natur nicht die Idee vom Fortschritt der Menschengattung an Bedeutung? Wenn der Mensch ein Tier ist, das einen Herrn nötig hat, jedoch niemals einen guten Herren finden kann, hat der Versuch, eine gerechte, vollkommene Verfassung zu errichten, überhaupt noch einen Sinn? Man könnte eine Lesart dieses Satzes anbieten, die in Richtung einer autoritären Interpretation geht: Danach eröffnet sich hier eine absolutistische Perspektive, in der die egoistischen Sonderwillen durch einen allmächtigen Souverän eingeschränkt werden. Nach derartiger Lesart würde Kant hier zu einem Hobbesianer in zweifacher Hinsicht werden. Er würde erstens mit dem englischen Philosophen eine in Bezug auf die politische Sphäre negative Auffassung der menschlichen Natur teilen, die zum Schluss führt, das Recht könne nur durch den äußerlichen Zwang eines mit absoluter Macht ausgestatteten Herrschers durchgesetzt werden. Kant würde zweitens genauso wie Hobbes die Rolle des Rechts in der Beherrschung der menschlichen Triebe und Neigungen einerseits und andererseits in der brutalen Einschränkung der Sphäre der individuellen Willkür durch eine andere Willkür, nämlich durch die Willkür des Souveräns, sehen. Kant scheint hier diesen Souverän sogar mit einen einzelnem Individuum zu identifizieren („das höchste Oberhaupt soll [...] doch ein Mensch sein“) – im Unterschied zu Hobbes, der ihn nur als Rechtsperson ansieht. Aus dieser Perspektive stellt der Prozess der Emanzipation von unserer tierischen Natur, von den Trieben und Instinkten, keinen freien

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Willensakt der Individuen, keine Behauptung der eigenen Freiheit von der natürlichen Notwendigkeit dar, sondern ist er das Ergebnis eines äußerlichen Zwangsaktes seitens einer staatlichen Autorität – derselben Autorität, die in der Beantwortung Gehorsam von den noch nicht aufgeklärten, noch ‚unmündigen‘ Untertanen forderte. Im Unterschied zur Beantwortung ist sich Kant hier jedoch bewusst, dass diese Autorität ihrerseits nur menschlich ist, und daher willkürlich, womöglich ungerecht. In solcher Lesart wird die menschliche Natur zum unüberwindlichen Hindernis auf dem Weg zum Endziel der Geschichte – ein Hindernis nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Gattung. Eine alternative Lesart, die zu völlig anderen Ergebnissen führt, und die Kants Denken einen emanzipatorischen Charakter verleiht, ist jedoch m. E. möglich. Diese Lesart möchte ich nun anbieten. Fassen wir das Problem zusammen: Die Natur stellt den Menschen das Endziel, ihre Vernunft im höchsten Grad zu entwickeln, soweit es unser endliches, phänomenisches Wesen erlaubt. Um Kants Unterscheidung zwischen phänomenischen und noumenischen Sphären zu übernehmen: Die Entwicklung der Vernunft, d. h. der noumenischen Dimension, wird nie vollkommen sein, da die Individuen immer auch phänomenische Wesen sein werden. Diese Entwicklung bleibt nichtsdestotrotz eine Pflicht für die Menschen. Hier öffnet sich eine Spannung zwischen menschlicher Natur und rationaler Pflicht, zwischen Sein und Sollen – eine Spannung, die sich in der erwähnten ‚pessimistischen‘ Lesart Kants niemals zu entspannen, geschweige denn aufzulösen vermag. Ich glaube, jene Spannung ließe sich dennoch durch den Begriff des rechtlichen Fortschritts auflösen. Die Entwicklung unserer Naturanlage, d. h. unserer Vernunft und unserer Autonomie, stellt eine Moralisierung dar, die Kant als rechtlichen Fortschritt interpretiert, der zur Schaffung immer gerechterer und vernunftkonformerer Institutionen führen soll. Wenn wir in der Geschichte einen solchen Fortschritt feststellen können, ist das ein Indiz, dass wir uns in die Richtung unseres Endziels bewegen, der Prozess der Annäherung dazu im Gange ist. Der rechtliche Fortschritt weist auf die zunehmende Entwicklung unserer Naturanlagen, d. h. unserer Autonomie und Vernünftigkeit, hin (vgl. unten 5.19). Es handelt sich somit um die Moralisierung der Gattung, nicht der Individuen: Nur im 7. Satz der Idee spricht er die Frage der Moralisierung der Individuen an, die vom Kriegszustand unter Staaten ständig bedroht und schließlich unmöglich gemacht wird: „So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustande wird wohl das menschliche Geschlecht verbleiben, bis es sich auf die Art, wie ich gesagt habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse herausgearbeitet haben wird.“ (Idee VIII, 26)31

31 Zum Thema der Beziehung zwischen internationalem Friedenszustand und Moralisierung vgl. Höffe 2001, insbes. den III. Teil.

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Die Moralisierung der Individuen kann also nur im Rahmen staatlicher Institutionen geschehen, denn nur sie können jenen Zustand von Frieden und Rechtssicherheit schaffen, in dem die Individuen ruhig an die eigene moralische Vervollkommnung denken können. Das bedeutet keineswegs, dass sich der Staat um die Moralität der eigenen Bürger kümmern soll – im Gegenteil: Kant unterscheidet sehr eindeutig zwischen einer legitim zu erwartenden Legalität der von den Bürgern durchgeführten Handlungen einerseits und andererseits der Moralität der Bürger, die vom Staat keineswegs gefordert werden darf (vgl. 5.15 und 5.16). Wenn also von Moralisierung der Individuen in Bezug auf die Rolle der staatlichen Institutionen bzw. auf deren geschichtliche Entwicklung (wie im Fall des von Kant thematisierten rechtlichen Fortschritts) die Rede ist, so bedeutet das keinesfalls, dass solche Moralisierung Aufgabe des Staates ist: Dieser soll vielmehr die äußere Bedingungen vorbereiten, unter denen die Individuen selbst die eigene Moralisierung vornehmen können. So verwundert es nicht, dass Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften den Begriff der Moralisierung der Gattung in Verbindung mit dem Begriff des rechtlichen Fortschritts, nicht jedoch mit dem einer individuellen Vervollkommnung setzt.32 Die Idee, dass Moralisierung nur im Rahmen staatlicher Institution möglich sei, verbindet sich allerdings bei Kant mit einer weiteren Idee: Das Volk sei nicht imstande, in sich selbst die Kraft und die Energie zu finden, um die eigene Moralisierung vorzunehmen. In der Beantwortung kam das dadurch zum Ausdruck, dass das (selbstverschuldet) unmündige Volk nur durch die Tätigkeit der Gelehrten allmählich aufgeklärt werden kann, welche die staatliche Autorität auf Missstände und Verbesserungsmöglichkeiten aufmerksam machen sollen. Im Streit der Fakultäten (1798) wird die Idee wieder aufgenommen: Die Aufklärung des Volkes ist Aufgabe freier „Rechtslehrer, d. i. Philosophen“, deren Stimme jedoch „nicht vertraulich ans Volk (als welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet“ wird (Streit VII, 89). Der Fortschritt zum Besseren der Gattung kann daher nur „von oben herab“ und nicht „von unten herauf“ geschehen (Streit VII, 92). In einer Reflexion zur Anthropologie, die aus jenen Jahren stammt, behauptet Kant, dass wir in dreifacher Hinsicht Kinder sind: als Kinder eines Hausvaters (also als eigentliche Kinder), als Kinder eines Landesvaters und als Kinder eines Beichtvaters. Uns interessiert hier die zweite Art der Unmündigkeit, die Kant ‚bürgerlich‘ nennt: „Wir werden nach Gesetzen gerichtet, die wir nicht alle kennen können, und nach Büchern, die wir nicht verstehen würden. Unsere Freyheit und Eigenthum ist unter der Wilkühr derjenigen Macht, die doch nur darum da ist, um die Freyheit zu erhalten und sie nur durchs Ge-

32 „Kant beschränkt den Fortschritt auf die politische Gerechtigkeit, auf Rechtsverhältnisse im nationalen und internationalen Bereich, die als Rechtsverhältnisse die Zwangsbefugnis einschließen. Weil es in der Geschichte um äußere Ereignisse geht, ist es auch nicht möglich, dass ihr letzter Sinn in einem ‚inneren‘ Fortschritt, in einer Entwicklung der moralischen Gesinnung liegt. Der Fortschritt kann nur im Äußeren erwartet werden, in der Einrichtung von Rechtsverhältnissen nach Maßgabe der reinen praktischen Vernunft.“ (Höffe 52000, 244 f.) Vgl. dazu auch Louden 2000, 147 ff. und Pinzani 2003.

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setz einstimig zu machen. Wir sind dadurch so unmündig geworden, dass, wenn dieser Zwang auch aufhörete, wir uns doch selbst nicht regiren könten“ (R 1524, XV.2, 899). Es ist also nicht so, dass Kant die Bürger bzw. Untertanen bezichtigt, die alleinige Verantwortung für ihre Unmündigkeit zu haben, wie es aus der Beantwortung hervorging:33 Schuldig ist vielmehr jene Macht, deren Aufgabe darin besteht, unsere Freiheit zu erhalten – also die staatliche Macht selbst. Sie entmündigt ihre Untertanen zwiefach: erstens durch die Komplexität und Dunkelheit, die das rechtliche System in den Augen eines Nichtfachkundigen verschleiern;34 zweitens durch die einfache Erfüllung ihrer Aufgabe. Wir sind nämlich so daran gewöhnt, dass der Staat unser Zusammenleben regelt, dass wir nicht mehr imstande wären, selbst eine solche Regelung vorzunehmen. Hier nimmt Kant eine Kritik vorweg, die noch heute von vielen Seiten zu hören ist, und eher einen libertären als einen liberalen Charakter hat: Der Staat entmündigt die Bürger und nimmt ihnen die Fähigkeit weg, für das eigene Leben wirklich verantwortlich zu sein. Während sich heutzutage diese Kritik eher gegen den Sozialstaat richtet, scheint hier Kant die staatliche Tätigkeit tout-cour im Visier zu haben – sogar die grundlegendste Aufgabe, nämlich die Erhaltung der Freiheit. Andererseits könnte man die Stelle auch im Sinne einer Kritik an die herrschende Form der Machtausübung, wie sie im absolutistischen Staat üblich war, interpretieren. Danach würde Kant nicht die staatliche Macht selbst bezichtigen, die Bürger zu entmündigen, sondern nur jene Form ihrer Ausübung, in der die Bürger bloße Untertanen sind, die deswegen die Gesetze nicht kennen und sie nicht verstehen, weil diese Bürger nicht selbst ihre Autoren sind. Nicht zufällig spricht Kant in dem Zusammenhang von der Beziehung der Untertanen zum Landesvater, also nicht zum abstrakten Souverän als Rechtsperson, sondern zu dem Herrscher als konkretem Individuum. Die Unmündigkeit dauert nur so lange an, wie die Menschen Untertanen, aber nicht gleichzeitig auch Staatsbürger (d. h. bei Kant immer: Teilnehmer am Gesetzgebungsprozess) sind. Wie schon Rousseau gemerkt hatte, sind die Menschen, was die Regierungen aus ihnen machen (EP 238; vgl. oben 4.8): Es ist also die absolute, nicht-demokratische Regierung, welche die Menschen unmündig macht. Der Austritt aus der Unmündigkeit der Bürger könnte somit nicht nur durch eine aufklärende Tätigkeit von oben geschehen, sondern auch durch die Errichtung einer Staatsform, in der die Individuen selbst als Herrscher, als Souverän tätig sind. Eine solche Meinung vertritt Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften nicht ausdrücklich. Sie ist jedoch in seinen rechtlich-politischen Schriften vorhanden und ermöglicht uns, vom 6. Satz der Idee eine alternative Lesart zur ‚pessimistischen‘ zu finden. Danach bestünde beim Problem der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung die gesuchte Lösung nicht in der Unterwerfung unter ein menschliches, weil selbst aus krummen Holze gemachten Oberhaupt, sondern in der Schaffung von Institutionen, die sich durch allmähliche Korrekturen (die durch Reformen oder Revolutionen stattfinden 33 Ein Grund für diesen Positionswechsel könnte vielleicht darin liegen, dass die Beantwortung u. a. als Verteidigung der Aufklärung vor der Anklage, aufrührerische Positionen zu vertreten, gemeint war. Daher der etwas vorsichtige Ton der Schrift. 34 Das Thema der Rechtswissenschaft als Kenntnis besonderer Art spricht Kant auch am Anfang der Rechtslehre an: RL § A, VI, 229.

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können) dem republikanischen Ideal annähern sollen. Zwar werden jene Institutionen anfänglich unvollkommen oder gar ungerecht sein, da sie von Menschen entworfen werden. Aber im Laufe der Geschichte werden sie sich verbessern können – und zwar dank des reformatorischen Willens gut gesinnter Monarchen, der aufklärenden Tätigkeit der Gelehrten und nicht zuletzt der republikanischen Denkungsart der Staatsbürger (vgl. unten 5.20). Wobei es sich zeigt, dass bei Kant die Geschichte der Gattung als Geschichte der menschlichen Autonomie keineswegs Ergebnis der Tätigkeit einer höheren absichtsvollen Natur, sondern genuines Ergebnis freier menschlicher Handlung (d. h. der Handlungen freier Individuen) ist.

5.12. Exkurs: Der selbstständige Bürger zwischen Erziehung und Emanzipation Es gibt eine Anekdote über Kant, die so bekannt geworden ist, dass sie auch von Menschen zitiert wird, die ansonsten nichts von ihm gelesen haben. Kants Alltag folgte einem sehr regelmäßigen Kurs, der durch fest bestimmte Gewohnheiten bezeichnet war. Eine davon war der nachmittägliche Spaziergang, den Kant jeden Tag, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter vornahm. Der Philosoph war dabei so pünktlich, dass die Königsberger Bürger nach diesem Spaziergang angeblich ihre Uhren stellen konnten. Eines Tages geschah jedoch etwas Überraschendes: Kant erschien nicht zu seinem Spaziergang. Besorgte Mitbürger eilten zu seinem Haus, um sich von seinem Wohlsein zu überzeugen, und erfuhren, dass der Herr Professor in der Lektüre eines Buches so vertieft gewesen sei, dass er seinen Spaziergang vergessen habe. Es handelte sich um ein Buch Rousseaus: allerdings nicht um den Contrat social, sondern um Emil. Das ist bezeichnend, wenn man überlegt, welche Bedeutung der Erziehung des Kindes in Kants politischer Philosophie – besonders in der Rechtslehre – zukommt.35 Rousseau hatte vor, aus Emil einen selbstständigen Menschen zu machen – in jeder Hinsicht: unabhängig von anderen Menschen für seine Unterhaltung, unabhängig von ihrer Meinung, unabhängig sogar von der Gesellschaft, und fähig schließlich, die Schläge von Fortuna mit guter Miene zu ertragen. Auf ähnliche Ergebnisse zielt Kant bei der Erziehung des Kindes ab. Ihr Ziel ist die „Entlassung (emancipatio)“, womit gemeint ist, dass der nun Erwachsene „künftig sich selbst erhalten und fortbringen“ kann (RL VI, 282; zur emancipatio vgl. Sommer 1988). Die Selbsterhaltungsfähigkeit zeichnet den Einzug des Individuums in die bürgerliche Gesellschaft als ihr aktives Mitglied aus: Sie entspricht der bürgerlichen Selbstständigkeit als Vermögen, „seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens, verdanken zu können“ (RL VI, 314). Eine solche Selbstständigkeit weisen aber weder Gesellen, Dienstboten, noch Frauen, noch

35 Ich lasse die Vorlesungen über Pädagogik unberücksichtigt, da ihre Authentizität umstritten ist (vgl. dazu Weisskopf 1970). Wer jenes Werk liest, wird dort noch deutlichere Beweise für die hier vorgestellte Rekonstruktion von Kants Position finden.

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„der Unmündige (naturaliter vel civiliter)“ auf (a. a. O.). Der natürliche Unmündige ist eben das Kind, dessen Erhaltung bis zu seiner Entlassung von den Eltern gesichert wird. Es gibt drei Gründe, warum die emancipatio nicht stattfinden kann: Das Kind ist ein „Frauenzimmer“ (VI, 314);36 das Individuum wird civiliter, durch rechtliche Bestimmung, für unmündig erklärt (Kant denkt offensichtlich an geistig gestörte Menschen, senile Greise usw.); das Individuum bleibt für seine Erhaltung von der Willkür anderer abhängig, die nun nicht weiter seine Eltern, sondern seine Herren sind. In diesen drei Fällen hat die Erziehung ihr Ziel verfehlt, entweder aus natürlichen Gründen (Geschlecht, geistige Störung) oder aus Gründen anderer Natur (das Individuum erreicht keine wirtschaftliche Selbstständigkeit). Nun sind von den drei Umständen nur die beiden ersten unvermeidlich, bzw. weder den Eltern noch dem betroffenen Individuum anzulasten. Die dritte Möglichkeit kann hingegen entweder auf einen Mangel bei der elterlichen Erziehung oder auf die Unfähigkeit des Individuums zurückgeführt werden. Erst wenn die dritte Möglichkeit eintritt, kann man eigentlich von einem Scheitern des Erziehungsprozesses sprechen, da das Individuum nicht sein eigener Herr ist. Das hat für Kant die wichtige Folge, dass dieser Mensch kein vollkommener Staatsbürger sein darf. Kant charakterisiert nämlich republikanische Staatsbürgerschaft durch drei Kriterien: In einer Republik sind alle Individuen 1) frei als Menschen (d. h. als Glieder der Gesellschaft); 2) gleich als Untertanen; und 3) selbstständig als Staatsbürger (zur Trias Freiheit – Gleichheit –Selbstständigkeit vgl. Brandt 1989). Zu 1): Freiheit besteht in der individuellen Autonomie, die einem Menschen ermöglicht, das eigene Glück nach Gutdünken zu suchen. Das drückt Kant in der Formel aus: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein.“ (GS VIII, 290) In der Friedensschrift und in der Rechtslehre wird Freiheit noch stärker als politische Autonomie im Sinne der Teilnahme an der Gesetzgebung definiert, nämlich als „die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ (ZeF VIII, 350; vgl. RL VI, 314). Ihre Negation stellt eine paternalistische Regierung dar (GS VIII, 290 f.). Zu 2): Diese Gleichheit ist die rechtliche Gleichheit vor dem Gesetz (mit Ausnahme des Staatsoberhauptes: GS VIII, 291). Die Individuen werden hier in ihrer Rolle als Untertanen angesehen, die „von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ abhängig sind (ZeF VIII, 349). Kant unterscheidet sie ausdrücklich von der wirtschaftlichen Gleichheit („Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz mit der größten Ungleichheit der Menge und den Graden ihres Besitztums nach“: GS VIII, 291), betont gleichzeitig, dass wirtschaftliche Ungleichheit keinen Grund für rechtliche Ungleichheit darstellen darf, und dass jeder 36 Über die Geringschätzung der Frauen bei Kant gibt es mittlerweile eine ausführliche Literatur (sehr interessante Anmerkungen in: Shell 1996, 87 ff.). Ich glaube, man kann hier annehmen, dass Kant (der in vielen anderen Fragen eine Position vertritt, die zeitgenössisch vorherrschenden Meinungen entgegensteht) in diesem Punkt Kind seiner Zeit ist, d. h. einer Zeit, in der die Frau tatsächlich eine untergeordnete Position innehatte und keine zu ihrer Selbsterhaltung hinreichende gewerbliche Tätigkeit ohne Missbilligung durch das soziale Umfeld hätte ausüben können.

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eine faire Chance haben soll, dorthin zu gelangen, „wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können“ (a. a. O., 292): Kant spricht sich daher gegen die erbliche Aristokratie und für soziale Mobilität aus. Zu 3): Umso verwunderlicher ist es, dass Kant dann die wirtschaftliche Lage eines Individuums zur Bedingung seiner politischen Teilnahme macht. Weit davon entfernt, neben Freiheit und Gleichheit lediglich ein Merkmal zu sein, das die Bürger einer Republik kennzeichnet (sie werden erst unter einer republikanischen Verfassung frei und gleich vor dem Gesetz), gibt die Selbstständigkeit vielmehr eine Bedingung vor, um ein vollkommener Staatsbürger zu sein. Wer nämlich nicht imstande ist, „sein eigener Herr“ zu sein – und das heißt: Wer kein Eigentum besitzt, „welches ihn ernährt“; wer also für sein Überleben von den anderen abhängt, denen er sein einziges Eigentum, nämlich seine Arbeit, verkaufen soll (Hausbedienten, Ladendiener, Tagelöhner usw.); und wer die schon erwähnte ‚natürliche‘ Fähigkeit zur Selbstständigkeit nicht besitzt (Frauen, Kinder usw.); der genießt zwar den rechtlichen Schutz des Staates, die sog. negativen Freiheitsrechte, nicht jedoch die politischen Teilnahmerechte (GS VIII, 295). Er ist nur ein „Schutzgenosse“ (a. a. O., 294), ein bloß „passive[r] Staatsbürger“ (RL VI, 314)37. Abgesehen davon, dass es – wie Kant selbst gesteht – schwer ist, „die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können“ (GS VIII, 295 Fn.), ist es nicht leicht einzusehen, wie der Begriff der Republik mit der Existenz von Staatsbürgern zweiten Ranges in Einklang gebracht werden kann. In der Friedensschrift scheint Kant diese Schwierigkeit zu sehen. Dort formuliert er die drei Merkmale, welche die Staatsbürger einer Republik kennzeichnen, völlig anders: neben der Freiheit als Menschen und der „Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen)“ (was der rechtlichen Gleichheit vom Gemeinspruch entspricht), spricht er dort von der ‚Gleichheit als Staatsbürger‘, ohne sie allerdings näher zu definieren (auch die entsprechende Anmerkung bringt kaum Erklärung: ZeF VIII, 350). In der späteren Rechtslehre kehrt er jedoch auf die ursprüngliche Trias Freiheit–Gleichheit–Selbstständigkeit zurück, so dass sie als Ausdruck von Kants endgültiger Position angesehen werden soll. Diese Position verdient einige Bemerkungen. Kant spricht manchen Bürgern das Recht auf aktive politische Partizipation nicht auf Grund mangelnder intellektueller Fähigkeit dazu ab – wie hingegen manche Republikaner (vgl. oben 4.13). Dabei hätte Kant seine Position statt auf einer so kontingenten Tatsache wie der sozialen Position eines Individuums auf ein anthropologisches Merkmal stützen können. Die politische Urteilskraft ist schließlich eine Fähigkeit, die nicht alle Individuen im gleichen Maße besitzen, wie eben die erwähnten Republikaner betonten. Das jedoch scheint Kant nicht zu interessieren: Er erwähnt die Frage kaum, und wenn er das macht, dann entweder im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie als Argument zugunsten einer von oben geführten Aufklärung (Streit VII, 92; vgl. oben 5.11), oder um aus der politischen Urteilskraft ein wichtiges Merkmal des guten Staatsbürgers zu machen, wie im Gemeinspruch (vgl. unten 5.20). In dieser Hinsicht kann man Kant

37 Kants Selbstständigkeit ist Gegenstand zahlreichen Interpretationen. Unter den neuesten hebt sich Lalatta Costerbosa 1999 hervor.

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nicht bezichtigen, ein elitäres Verständnis von politischer Partizipation zu haben, denn vom Gesichtspunkt der intellektuellen Fähigkeiten her sind alle Bürger dazu gleichberechtigt, mögen jene Fähigkeiten untereinander auch sehr unterschiedlich sein. Die wahre Gefahr sieht Kant vielmehr in der Möglichkeit der politischen Heteronomie. Seine Sorge ist, dass sich manche Individuen bei ihrer politischen Tätigkeit von fremden Interessen bestimmen lassen. Das ist nach seiner Meinung der Fall, wenn Bürger ökonomisch nicht selbstständig sind. Kant fürchtet sich offensichtlich vor der Möglichkeit des Klientelismus und des entsprechenden Missbrauchs politischer Institutionen und öffentlicher Ressourcen zugunsten der Privatinteressen ihrer Gönner. Sollte man annehmen, dass jeder politisch aktive Bürger nur das eigene Privatinteresse verfolgt, wären diese Interessen, jedes für sich genommen, zu schwach. Sie hätten daher auf Staat und Gesellschaft nicht jene negativen Auswirkungen, die ein Individuum oder eine Gruppe verursachen können, wenn sie nur genug Macht haben, um die Wahl bzw. die Entscheidungen einer großen Anzahl anderer Bürger zu beeinflussen. Der Egoismus einzelner Bürger kann von den Institutionen neutralisiert werden, wenn Letztere gut sind (in der Hinsicht spricht sich Kant eindeutig für eine Herrschaft der Gesetze in republikanischem Sinne aus). Die wirtschaftliche und politische Übermacht mancher Individuen stellt hingegen eine Bedrohung auch für gute Institutionen dar und muss deshalb entwaffnet werden. Das geschieht eben dadurch, dass den Individuen, welche die Instrumente solcher Übermacht sein können (d. h. den Individuen, die ihre Stimme gegen Entgelt oder in Erwartung von Gegenleistung zur Verfügung stellen können), die politische Teilnahme verboten wird. Kant identifiziert die Klasse der „käuflichen“ Individuen mit der Klasse nicht-selbstständiger Arbeiter. Nur wer sich selbst unterhalten kann, ist imstande, den Versuchungen des Klientelismus und der Korruption zu widerstehen. Kant scheint daher mit der klassischen republikanischen Tradition die Idee zu teilen, dass nur Individuen, die etwas zu verlieren haben, jeweils das eigene Interesse und nicht das fremde Interesse eines Einzelnen oder einer Gruppe verfolgen werden, während Individuen, die ökonomisch von anderen Staatsbürgern abhängig sind, von ihnen als Verfechter ihrer Interessen höchstwahrscheinlich zu gewinnen bzw. zu kaufen sind (vgl. Niesen 2001, 582 f.). Diese Auffassung beruht auf einer noch grundlegenderen Idee: Das Interesse der Gemeinschaft, kurz: das Gemeinwohl, steht in keinem Konkurrenzverhältnis zu den Einzelinteressen, denn Ersteres besteht in der Kanalisierung der Letzteren (vgl. unten 5.18). In der Vorstellung, dass wirtschaftliche Selbstständigkeit eine notwendige Voraussetzung für politische Partizipation sei, drückt sich daher ein Moment aus, das man gleichzeitig liberal und republikanisch nennen könnte (das beweist noch einmal, dass es manchmal schwer ist, beide Traditionen eindeutig voneinander zu unterscheiden). In der Forderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der aktiven Staatsbürger drückt sich auch eine zweifache Sorge aus: Die „republikanische“ Sorge um populistische Manipulationen der unselbstständigen Individuen (d. h. der Menge) durch die ökonomisch Mächtigen einerseits, und die „liberale“ Sorge um die Verfolgung der Privatinteressen, in deren Kanalisierung das Gemeinwohl identifiziert wird. Im Mutmaßlichen Anfang scheint Kant zudem die rechtliche Ungleichheit unter den Menschen durch äußere gesellschaftliche Umstände zu rechtfertigen: „Ein drittes Beispiel“ des „Widerstreits zwischen der Bestrebung der Menschheit zu ihrer sittlichen Be-

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stimmung einerseits und der unveränderlichen Befolgung der für den rohen und thierischen Zustand in ihrer Natur gelegten Gesetze andererseits“ könnte „die Ungleichheit unter den Menschen und zwar nicht die der Naturgaben oder Glücksgüter, sondern des allgemeinen Menschenrechts derselben sein: eine Ungleichheit, über die Rousseau mit vieler Wahrheit klagt, die aber von der Kultur nicht abzusondern ist, so lange sie gleichsam planlos fortgeht (welches eine lange Zeit hindurch gleichfalls unvermeidlich ist), und zu welcher die Natur den Menschen gewiß nicht bestimmt hatte, da sie ihm Freiheit gab und Vernunft, diese Freiheit durch nichts als ihre eigene allgemeine und zwar äußere Gesetzmäßigkeit, welche das bürgerliche Recht heißt, einzuschränken. Der Mensch sollte sich aus der Rohigkeit seiner Naturanlagen selbst herausarbeiten und, indem er sich über sie erhebt, dennoch Acht haben, dass er nicht wider sie verstoße; eine Geschicklichkeit, die er nur spät und nach vielen misslingenden Versuchen erwarten kann, binnen welcher Zwischenzeit die Menschheit unter den Übeln seufzt, die sie sich aus Unerfahrenheit selbst anthut“ (MA VIII, 117 f.). Die Unerfahrenheit der Menschen verursacht also die rechtliche Ungleichheit: Es handelt sich um ein unvermeidliches Übel, das nur vorläufigen Charakter besitzt. Derartige Ungleichheit darf nämlich nur so lange gelten, als sich die Menschen „aus der Rohigkeit“ ihrer Naturanlagen herausgearbeitet haben. Auf dieser Ebene findet eine Parallele zum Prozess statt, durch den die Individuen zu ihrer Emanzipation gelangen. Wenn das Ziel des Erziehungsprozesses die bürgerliche Selbstständigkeit ist, so ist das Ziel des Prozesses, durch den die Menschen ihre Naturanlagen verfeinern, sprich: das Ziel der Geschichte der menschlichen Gattung (vgl. oben 5.6), eine bürgerliche Gesellschaft, in der alle Individuen rechtlich gleich, daher wirtschaftlich selbstständig sind. Der vorläufige Charakter der vorhandenen rechtlichen Ungleichheit wird auch durch die Vorläufigkeit der entsprechenden wirtschaftlichen Ungleichheit betont, denn Erstere basiert eigentlich auf Letzterer – zumindest in Bezug auf die politischen Teilnahmerechte. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist nämlich von der ungleichen Verteilung des Eigentums – das für Kant (wie für Rousseau) in erster Linie Bodeneigentum ist – verursacht; das Eigentum untersteht aber dem Erlaubnisgesetz (RL VI, 247) und besitzt daher „eine bloß provisorische Verbindlichkeit“ (Maus 1992, 24). Kant ist sich somit des kontingenten Charakters der in der Gesellschaft herrschenden Besitzverhältnisse bewusst. Andererseits ist es durchaus denkbar, für Kant sogar sehr wahrscheinlich, dass die Verteilung des ursprünglich gemeinsamen Bodens nicht gerecht erfolgt. Nichtsdestoweniger muss sie als rechtlich bindend, als gültig anerkannt werden (RL VI, 267; vgl. auch GS VIII, 296). Wie diese scheinbare Aporie zu lösen ist, soll hier offen bleiben (vgl. dazu Pinzani 2005). Auch auf Kants Eigentumslehre im Allgemeinen werde ich hier nicht näher eingehen, denn das würde den Rahmen dieser Untersuchung übersteigen (dazu vgl. Brandt 1982, Brocker 1987, Kühl 1984 und 1999): Auf jeden Fall ist festzustellen, dass Kant nicht nur die Möglichkeit offen lässt, dass die faktischen Besitzverhältnisse an sich kontingent und womöglich illegitim sind, sondern auch den (im Begriff eines Erlaubnisgesetzes implizierten) Umstand betont, dass sie nur im bürgerlichen Zustand und durch einen Akt des vereinigten Volkswillens rechtlich verbindlichen Charakter bekommen können (RL VI 246, 256 f., 259, 306).

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In Kants Auffassung ist daher kein Platz für ein vorpositives Eigentumsrecht; und sogar das positive Recht auf Eigentum ist darüber hinaus nur Ergebnis der Unvollkommenheit menschlicher Gesellschaften, d. h. der Ungeschicklichkeit der Menschen, zu einer wirklich gerechten Verteilung des Bodens zu gelangen. Besteht daher eine Verpflichtung, die faktischen Besitzverhältnisse zu sanktionieren (vgl. Pinzani 2005), so heißt das nicht, dass eine Veränderung nicht stattfinden darf. Im Gegenteil, sie wird das folgerichtige Ergebnis jenes historischen Prozesses der Moralisierung, der zu einer immer besseren Verfassung, d. h. auch zu einer immer gerechteren Gesellschaft führen soll. Kant stemmt sich vielmehr gegen die Möglichkeit, das positive Eigentumsrecht der Einzelnen im Namen der Gesellschaft zu beschneiden. Es ist diese genuin liberale Sorge um die Rechte des Individuums und um den Vorrang des Letzteren vor der Gemeinschaft, die Kant dazu führt, die Sanktionierung der herrschenden Besitzverhältnisse für ein kleineres Übel als eine Umverteilung durch den Staat zu halten. Damit sind jene Interpretationen widerlegt, die Kant des wirtschaftlichen Konservatismus bezeichnen (Zotta 2000) oder seine politische Theorie vereinfachend als besitzindividualistische Vertragstheorie interpretieren (Saage 1973; zum Begriff Besitzindividualismus vgl. Macpherson 1966; kritisch dazu Maus 1992, 23 f.). Wie im Fall der Ablehnung des Widerstandsrechtes zugunsten der Anerkennung der faktischen Kraft der Revolution stellt Kants Verteidigung der faktischen Besitzverhältnisse nur anscheinend ein konservatives oder gar reaktionäres Moment dar: Während er für das individuelle Recht auf Eigentum plädiert, entzieht ihm Kant gleichzeitig jegliche vorpositive Legitimierung à la Locke. Somit bleibt sogar der Weg zu einer revolutionären Umverteilung des Bodens offen, obwohl Kant solche Möglichkeit nirgendwo ausdrücklich erwähnt. In Bezug auf die Frage der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Bürger heißt das, dass die rechtliche Ungleichheit unter den Staatsbürgern (d. h. die Weigerung aktiver Teilnahmerechte für manche Gruppen von ihnen) keineswegs einen notwendigen Bestandteil der Verfassung der Republik darstellt, wie es aus einer ersten Lektüre der oben zitierten Stellen hervorgehen könnte. Der Sinn dieser Stellen ist vielmehr, dass die Ungerechtigkeit, die aus der rechtlichen Ungleichheit der Staatsbürger resultiert, einer Situation vorzuziehen ist, in der es für einige Individuen möglich ist, den Willen von Mitbürgern durch den eigenen Reichtum zu kontrollieren und zu eigenen Zwecken einzusetzen. Letztlich würde eine solche Situation ihrerseits auf jener wirtschaftlichen Ungleichheit basieren, deren Sanktionierung durch das öffentliche Recht Kant als vorläufige Lösung begrüßt. Nur wenn die Menschen imstande sein werden, eine so vollkommene wie möglichst bürgerliche Verfassung zu schaffen, werden sowohl die wirtschaftliche als auch die rechtliche Ungleichheit abgeschafft werden – und zwar werden sie von selbst verschwinden. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Menschen durch ihre Kräfte zu jener wirtschaftlichen Selbstständigkeit gelangen, welche die Bedingung für die aktive politische Teilnahme darstellt. Das Ziel der Erziehung des Individuums ist somit nicht nur die Emanzipation von den Eltern, sondern auch die Erreichung politischer Autonomie.

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5.13. Kants Tugendethik wiederentdeckt Eines der Hauptverdienste der neueren Kantforschung (u. a.: Höffe 1979 und 2001, O’Neill 1990 und 1996, Sherman 1990, Herman 1993, Korsgaard 1996, Münzel 1999, Seubert 1999, Wood 1999, Guyer 2000, Louden 2000, Denis 2001) besteht in der Widerlegung der Auffassung, dass Kants Moralphilosophie eine rein formale Prinzipienethik sei, die sich kaum für die Anwendung ihres obersten Moralprinzips, des kategorischen Imperativs, in der Praxis interessiert; und dass in ihr wegen ihres Formalismus kein Platz für so etwas wie Tugenden ist. Solch verfälschende Lesart beruht auf einer selektiven Wahrnehmung von Kants Ethik, die Werke wie die Kritik der Urteilskraft oder die Metaphysik der Sitten außer Betracht lässt, ihr Interesse auf die Grundlegung und auf die zweite Kritik reduziert und auch diese Werke nur selektiv und partiell liest. So konnten z. B. pauschale Bezeichnungen wie „Ein-Satz-Ethik“ (Marquard 1987, 111) oder die Alternative „Kant vs. Aristoteles“ entstehen (vgl. dazu Höffe 2001, 36 ff.). Unberücksichtigt blieben dabei zwei wesentliche Elemente seiner Ethik: die moralische Urteilskraft und die Tugend. Dass moralische Urteilskraft in Kants Ethik eine wichtige Rolle spielt, ist mittlerweile zum festen Befund der Kant-Forschung geworden (vgl. dazu vor allem Herman 1993, Fleischacker 1999 und Höffe 2001). Auch Kants Tugendethik wird heutzutage in ihrer ganzen Tragweite berücksichtigt. Die Wiederentdeckung jenes vernachlässigten Aspektes von Kants Ethik konzentriert sich vorwiegend auf die letzten Jahre. Schon 1963 hatte Mary Gregor ein wichtiges Buch der Darlegung von Kants Tugendethik gewidmet (Gregor 1963), aber erst in den 90er Jahren, dank der oben erwähnten Interpreten, wurde das Thema endgültig thematisiert (obwohl Judith Shklar schon in den 80er Jahren festgestellt hatte: „In fact, Kant has also supplied us with an ethic of character in The Metaphysical Principles of Virtue.“; Shklar 1984, 232) Es war unvermeidlich, dass bei der schon mehrmals angesprochenen allgemeinen Wiederentdeckung des Themas der Bürgertugenden auch die eventuellen Verbindungen zwischen Kants Tugendethik und seiner politischen Philosophie zum Gegenstand von Untersuchungen wurden. Aber im Gegensatz zu Hobbes spricht Kant nie ausdrücklich von politischen oder von Bürgertugenden. Wollte man daher trotzdem jenes Thema bei Kant aufspüren, konnte man entweder versuchen, wie Sandra Seubert (Seubert 1999), eine Theorie solcher Tugenden „nach Kant“ zu entwickeln, oder ihre Existenz im Werk Kants aufspüren. Beide Strategien schließen sich gegenseitig nicht aus, d. h. sie können sich ergänzen; sie erwecken allerdings Bedenken, besonders in Bezug auf zwei Charakteristika des politischen Denkens Kants: Die strikte Trennung von Recht und Moral einerseits, und andererseits die These, dass eine Republik auf die Tugend ihrer Bürger verzichten kann, so dass ihre Errichtung auch für ein Volk von Teufeln möglich ist, gemäß dem viel zitierten Kantspruch (Frieden, VIII, 366)38. Aber bevor ich auf die beiden 38 Kant behauptet, dass Engel hingegen keinen Staat brauchen. Gregory Kavka hat versucht, die Behauptung zu widerlegen (Kavka 1995). Kavka meint, auch moralisch vollkommene Menschen (d. h. Menschen, die dieselbe Moral teilen und immer versuchen, gemäß ihren Normen zu handeln) könnten moralische Meinungsverschiedenheiten haben – und zwar aus vier Gründen: 1) Kognitive Grenzen (unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen und Informa-

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Punkte eingehe (5.15 ff.), möchte ich kurz skizzieren, wie Kant a) Tugend definiert und wer b) ein tugendhafter Mensch ist. a) Kants Tugendbegriff. Im partiellen Unterschied zu Platon und Aristoteles39 und im Einklang mit der christlichen Auffassung des Menschen als Sünder sieht Kant die Moralität der Individuen in der Reinheit ihrer Handlungsmotive. Er ist jedoch gleichzeitig davon überzeugt, dass man nie sicher sein kann, ob diese Motive tatsächlich rein sind, und dass eine Einmischung „unreiner“ Elemente (Neigungen, Leidenschaften usw.) bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist. Tugendhaftigkeit besteht also nicht bloß in der einfachen Übernahme einer guten Maxime, sondern in der dauernden Bekämpfung des Einflusses „unreiner“ Elemente – also in einer Einstellung, in der man versucht, die gute Maxime über alle anderen Motive triumphieren zu lassen. Nicht zufällig sind die „wichtigsten“ Tugenden, die Kant in der Tugendlehre einführt, nämlich die Tugenden, die den vollkommenen Pflichten entsprechen (vgl. weiter unten in diesem Paragraph), negative Tugenden, d. h. Tugenden, die eigentlich in der Vermeidung eines entsprechenden Lasters bestehen. Insofern erkennt Kant die Notwendigkeit einer moralischen „Diätetik“ an. Sie besteht in der Ausübung moralisch gebotener Handlungen, auch wenn man sie nicht vollkommen aus rein moralischem Grund, aus bloßer Achtung vor dem Gesetz, vollzieht. In der Tugendlehre ist häufig von solchen Übungen die Rede, bei denen die Vollendung bestimmter Handlungen eine wichtige Bedingung für die Moralisierung des Individuums darstellt – also eine Bedingung dafür, dass man schließlich solche Handlungen aus Achtung vor dem Gesetz vollzieht. Dass Moralität nur das Ergebnis einer Erziehung zu ihr sein kann, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass Kant von einem moralischen Katechismus spricht (VI, 480 ff.) und viel von ihm erwartet. Kant definiert Tugend mehrmals als eine „Stärke des Willens“, die in einem ständigen Kampf gegen die natürlichen Neigungen und Leidenschaften engagiert ist. Ihr verdienstvoller Charakter besteht eben in der „inneren Nötigung“, nicht in der Konformität zum Gesetz. „Eine solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermenschlichen) Wesen zukommen, in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne thut“ (VI, 405), aber dann wäre jene Stärke eben keine Tugend, da sie mit keiner Anstrengung verbunden wäre. Das scheint prima facie merkwürdig: Ein heiliges Wesen kann nicht tugendhaft sein. Aber das folgt

tionen, unterschiedliche Überzeugungen über die Welt und ihre Charakteristiken, usw.); 2) „unvollständiger Objektivismus“ (unterschiedliche Auffassungen über die zentralen Begriffe der geteilten Moral, unterschiedliche Schlüsse bei der Anwendung von Kenntnissen über die Welt in moralischen Urteilen, usw.); 3) ungünstige Interaktionssituationen, die Koordination von Außen brauchen; 4) begründeter Glauben (die Motive des Handelnden werden von subjektiven Überzeugungen bzw. Haltungen bestimmt: Wunschdenken, „saure Trauben“, Selbsttäuschung usw.). Alle diese mögliche Quellen von Meinungsverschiedenheiten machen die Existenz einer äußeren Instanz, die unser Zusammenleben regelt, unvermeidlich (Kavka zeigt sich hier als ein richtiger Nachfolger von Hobbes). „Government“ – schließt Kavka am Ende seinen Aufsatzes – „is a cross we must bear for more than our sins“ (a. a. O., 18). 39 Über Kants Beziehungen zu Platon und Aristoteles vgl. Cassirer 1921, 446 ff. und Riley 1993, 9 und passim. Zu Aristoteles vgl. insbesondere Höffe 2001, 36 ff.

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notwendigerweise aus Kants Definition der Tugend als „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (VI, 405; vgl. auch VI, 394). Und Kant betont zu Recht: „Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Princip der innern Freiheit“ (VI, 394).40 Für ein heiliges Wesen gibt es jedoch keine Hindernisse, daher auch keine Pflichten, da diese eine Nötigung des Willen darstellen – im Fall der Tugendpflichten eine innere Nötigung. Ein heiliges Wesen handelt moralisch ohne Nötigung, daher nicht aus Pflicht, sondern aus seiner heiligen Natur heraus, und das ist nicht verdienstvoll, daher nicht tugendhaft. Kant spricht von „Kraft und herkuläischer Stärke“, die notwendig sind, „um die lastergebärenden Neigungen zu überwältigen“ (VI, 375), und definiert Tugend als fortitudo, als „Tapferkeit“, d. h. als „überlegte[n] Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun“ (VI, 380), wobei der starke, ungerechte Gegner unsere Triebe sind. Und dieser Kampf wird in uns von unserer Vernunft geführt, da sie Ursprung des moralischen Prinzips selbst ist. Die Dialektik des Kampfes zwischen Trieben und Vernunft artikuliert sich dadurch, dass beide Parteien dem Menschen unterschiedliche Zwecke vorschweben, die ihn zur Handlung bewegen sollten (VI, 380 f.; zur Kritik der Kantischen Vorstellung der Tugend als Kampf vgl. Trianofsky 1990). Auf die Beziehung von Tugend und Zweck werde ich zurückkommen (vgl. unten 5.14). b) Kants tugendhafter Mensch. Kant kann – dank seiner Definition der Tugend als moralische Stärke und im Unterschied zu Platon und Aristoteles – außerdem behaupten, Moralisierung sei für alle Individuen erreichbar, nicht nur für die Philosophen oder jene Individuen, die über die natürlichen oder sozialen Anlagen dafür verfügen (vgl. auch Shklar 1984, 232 f. und 236). In diesem Sinne ist Kants Moralphilosophie genuin demokratisch, da sie die Idee einer moralischen Aristokratie vollkommen ausschließt (vgl. unten 5.19). Moralität ist weder die Folge richtiger Erkenntnis (wie bei Hobbes) noch die Charakteristik einer guten Natur, sondern das Ergebnis strenger Disziplin – also eines langen individuellen Moralisierungsprozesses, der für alle möglich ist. Ich skizziere hier die Eigenschaften, die Kants tugendhafter Mensch aufweisen sollte: 1) Er versucht immer, aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln, d. h. er versucht immer, aus rein moralischer Absicht zu handeln. Wie schon erwähnt, ist es unmöglich festzustellen, ob das tatsächlich geschieht, da unsere Absichten auch uns selbst immer verschlossen bleiben. Nur Gott kann uns im Herz lesen und weiß über unsere Moralität Bescheid. Aber Tugend besteht eben in einer dauerhaften Bestrebung nach Moralität (TL, VI, 394 und passim). 2) Er respektiert die Menschheit in seiner Person und in jedem anderen Menschen. Er respektiert daher den moralischen Charakter, der allen Menschen als autonomen

40 Zu den „Antrieben der Natur“ als „Hindernisse der Pflichtvollziehung“ vgl. auch VI, 380.

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Wesen zukommt. Er behandelt sie nie wie bloße Mittel zu seinen Zwecken, sondern sieht in sich und in ihnen Mitglieder eines Reichs der Zwecke (vgl. unten 5.14). 3) Er erfüllt die Verpflichtungen gegen sich selbst, die Kant im ersten Teil der Ethischen Elementarlehre der Tugendlehre (§§ 1-22, VI 417-447) einführt, und zwar: die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst als animalisches Wesen (Verbot des Selbstmordes, der „wollüstigen Selbstschändung“ und der Unmäßigkeit beim Essen und Trinken) und gegen sich selbst als moralisches Wesen (Verbot der Lüge, des Geizes und der Kriecherei), und die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst (Entwicklung seiner natürlichen Talente und „Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit“), deren Erfüllung er zwar anstrebt, nicht jedoch auf unbedingte Weise wie bei den vollkommenen Pflichten durchführen muss. Wie man sieht, sind die vollkommenen Pflichten, d. h. die unbedingten Pflichten, nur negativ formuliert, während die unvollkommenen zwar eine positive Formulierung bekommen, ihr Inhalt jedoch weitgehend unbestimmt bleibt. 4) Er erfüllt die Pflichten gegen andere, die Kant im zweiten Teil der Ethischen Elementarlehre der Tugendlehre (§§ 23-47, VI 448-473) einführt, und zwar die Pflichten, die aus Liebe, und diejenigen, die aus Achtung entstehen. Zu den Ersten zählt Kant Wohltätigkeit, Dankbarkeit und Anteilnahme auf. Die Letzteren bestehen wieder aus der Unterlassung bestimmter Laster, nämlich Hochmut, „Afterreden“ und Verhöhnung. Wie schon bei den Pflichten gegen sich selbst, gelten die negativ formulierten unbedingt, während die anderen „weite“ Pflichten sind, die nicht immer und unter allen Umständen erfüllt werden müssen – im Gegenteil: Sie können sogar in eine Demütigung und Verletzung der Selbstachtung der anderen münden (besonders die Wohltätigkeit), und müssen daher mit Hilfe der Urteilskraft erfüllt werden. Den vollkommenen Pflichten entsprechen die Rechte der Anderen, den unvollkommenen nicht. Liebe und Achtung bilden keine entgegensetzten Prinzipien, wie manche Kritiker schon zu Kants Zeiten dachten.41 Sie können vielmehr eine „innigste Vereinigung“ in der Freundschaft finden (§§ 46-47). Dass Freundschaft eine Pflicht darstellen kann, mag zwar merkwürdig vorkommen, ist es aber nicht im Sinne von Kants Ethik. 5) Er muss auch über jene „Beiwerke (parerga)“ (VI, 473) der wahren Tugenden verfügen, die seinen Umgang mit den Anderen charakterisieren sollen: Zugänglichkeit, Gesprächigkeit, Höflichkeit, Gastfreiheit, „Gelindigkeit“ im Widersprechen usw. (§ 48).42

41 Berühmt ist Schillers Wort: „Gerne dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ 42 Glaubt man Kants Biographen, hat er all diese Eigenschaften im höchsten Maß besetzt: Kant war nämlich als Gastgeber und Gesprächspartner hochgeschätzt und beliebt (vgl. Malter 1990).

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5.14. Das Reich der Zwecke als politische Gemeinschaft? Entgegen der allzu häufig anzutreffenden Kritik des Formalismus verbindet Kant Moralität mit der Setzung von Zwecken, und zwar schon in seinem ersten ethischen Werk aus der kritischen Zeit, der Grundlegung.43 Dass Moralität einen Zweck verfolgen kann, steht nämlich keineswegs im Widerspruch zur Definition vom guten Willen, die Kant dort anbietet (IV, 393ff.). Kant weist vielmehr darauf hin, dass der gute Wille ebenfalls einen Zweck verfolgt: Auch er entscheidet sich nämlich für eine Maxime, und alle Maximen, sagt Kant, haben eine Form (die Allgemeinheit der Formel) und eine Materie, „nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: dass das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse“ (GMS IV, 436). So verfolgt auch der gute Willen einen Zweck, allerdings einen besonderer Art (IV, 437). Es handelt sich nämlich um einen Zweck, der „von der Neigung unabhängig, a priori gegeben sein muss“, wie es in der Tugendlehre heißt (TL VI, 381). Dieser Zweck ist das Subjekt selbst bzw. die Würde der Menschheit in jedem Individuum: „So wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muss. Dieser kann nun nichts anders als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein.“ (GMS IV, 437; vgl. auch IV, 439) Daraus leitet dann Kant die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs ab: „Handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, dass es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte.“ (A. a. O.) Man kann bekanntlich drei solche Formeln unterscheiden, auch wenn es eigentlich mehrere Wiedergaben derselben gibt, die teilweise nicht übereinstimmen (zu den verschiedenen Formeln vgl. Paton 1947; Ross 1954, Kaulbach 1988, Wood 1999). Die erste Formel betrifft den formalen Aspekt des kategorischen Imperativs (seine Allgemeinheit) und besagt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ bzw. „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch

43 In der Tugendlehre wird die praktische Vernunft unmissverständlich als „ein Vermögen der Zwecke überhaupt“ definiert, „in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch: weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde“ (VI, 395). Daher besagt nach Kant das oberste Prinzip der Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (VI, 395). William Galston erkennt den teleologischen Charakter von Kants Ethik an, sieht jedoch diese teleologische Ethik als gespalten („bifurcated teleology“, Galston 1993, 215) zwischen den Zwecken der Neigungen und den objektiven Zwecken der Moralität. Er scheint Aristoteles’ Position vorzuziehen, da sie Harmonie zwischen den verschiedenen teloi herstellt (a. a. O.), und wirft Kant vor, seine Identifizierung des objektiven Zweckes mit dem absoluten Wert der Menschheit in jedem Individuum könne nicht all diejenigen überzeugen, die Gott auf eine höhere Ebene als die Menschen stellen, oder die Tiere und Menschen für gleichwertig halten (a. a. O., 217).

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deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (GMS IV, 421; Hervorheb. – Kant). Die schon erwähnte zweite Formel betrifft den Inhalt des Imperativs und besagt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (a. a. O., 429). Die dritte Formel ist die Reich-der-Zwecke-Formel und besagt in ihren zwei Varianten: [Handle so] „dass der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“ (a. a. O., 434); „demnach muss ein jedes vernünftiges Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ (A. a. O., 438; vgl. auch: „Handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke“, a. a. O. 439). Die dritte Formel ist entscheidend, denn sie führt die Idee ein, dass der Wille selbstgesetzgebend ist, und zwar „oberst selbstgesetzgebend“. Er gehorcht keinen anderen Gesetzen als den seinigen und untersteht keiner höheren Instanz (etwa dem Selbstinteresse oder der Selbstliebe) – eine Möglichkeit, welche die zwei anderen Formulierungen noch nicht ausschließen (GMS IV, 432; dazu vgl. Pirni 2000, 29). Die Idee eines Reichs der Zwecke folgt aus der Idee der Autonomie eines jeden vernünftigen Wesens (GMS IV, 433). Unter Reich versteht Kant „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“. Das Reich der Zwecke ist daher „ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung“ (a. a. O.). Kant stellt dabei eine Analogie mit dem Reich der Natur fest, die ist allerdings nach Naturgesetzen, d. h. nach „äußerlich genötigter wirkenden Ursachen“ möglich, während das Reich der Zwecke nach „selbst auferlegten Regeln“, d. h. nach den von der Vernunft gebotenen Maximen möglich ist. Wenn sie „allgemein befolgt würden“, würde das Reich der Zwecke auch „wirklich zu Stande kommen“ (a. a. O., 438).44 Das Reich der Zwecke ist kein bloßes Ideal, sondern die Gemeinschaft, die alle rationalen Wesen insofern bilden, als sie moralische Persönlichkeit haben (Yack 1993, 226; vgl. Pirni 2000, 31). Es stellt eine vernünftige Gemeinschaft dar, deren Mitglieder sich gegenseitig als moralische Personen, d. h. als Zwecke an sich anerkennen. Die Idee eines solchen Reiches bringt den Gedanken zum Ausdruck, dass das moralische Gesetz nur auf gemeinschaftlicher Ebene möglich ist (das widerlegt ‚monologische‘ Interpretationen von Kants Ethik à la Arendt, Apel oder Habermas: vgl. oben 5.2). Erst als Mitglied dieser Gemeinschaft, also als moralischer Gesetzgeber, erreicht das Individuum Würde und Erhabenheit (Pirni 2000, 64). Die gegenseitige Anerkennung der Menschen 44 Kant schreibt weiter: „Übrigens bleibt die Idee einer reinen Verstandeswelt als eines Ganzen aller Intelligenzen, wozu wir selbst als vernünftige Wesen (obgleich andererseits zugleich Glieder der Sinnenwelt) gehören, immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens, wenn gleich alles Wissen an der Grenze derselben ein Ende hat, um durch das herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen), zu welchem wir nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns zu bewirken.“ (GMS IV, 462 f.)

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als Zwecke an sich weist zudem auf einen wichtigen Aspekt hin. Nach Kants Meinung ist es nicht genug, die Anderen nicht als bloße Mittel zu betrachten: Wir müssen sie vielmehr als Zwecke behandeln („Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als Andern Zweck, und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht“; VI, 395). Pirni betont zu Recht: „Ein Individuum als Zweck an sich zu behandeln, heißt zur Förderung der Menschheit in seiner Person beizutragen.“ (Pirni 2000, 71; Übersetzung A. P.). Da Letztere in der moralischen Autonomie besteht, muss ich den Anderen dazu verhelfen, den Geboten der praktischen Vernunft zu gehorchen. Das geschieht vor allem dadurch, dass ich ihm das Beispiel meines moralischen Handelns anbiete („Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch gegen Andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten unter einander Verkehr zu treiben“, TL VI, 473); aber auch dadurch, dass man zur Beseitigung aller Umstände beiträgt, welche die Anderen bei der Entwicklung der eigenen moralischen Autonomie (also der eigenen Menschheit) behindern (Pirni 2000, 71 ff.). Solche Hindernisse können zwar subjektiver Natur sein, wie Pirni merkt: Wenn der andere z. B. die Verantwortung für sein Handeln nicht übernehmen will, bzw. wenn er sich nicht dessen bewusst ist, dass er moralische Autonomie besitzt und daher gegen die eigenen tierischen Neigungen und entsprechend dem (selbstgegebenen) moralischen Gesetz handeln kann. Nur wenn der Mensch diese Verantwortung übernimmt, erweist er sich als vollständiges Mitglied des Reiches der Zwecke als Gemeinschaft der moralischen Gesetzgeber (ob er erst dadurch Würde erlangt, wie Pirni meint – a. a. O., 72 – ist m. E. jedoch fraglich). Die Hindernisse können jedoch auch objektiver Natur sein. Sie betreffen dann die äußeren Umstände, unter denen die Menschen handeln. Und das ist das Gebiet des Rechts und der Politik. Letztere kann (und muss) die Bedingungen schaffen, damit das Handeln der Individuen moralischen Charakter annimmt. Das geschieht z. B. dadurch, dass die Menschen von Furcht und Not befreit werden, denn diese verleiten die Individuen dazu, ihren unmittelbaren Neigungen zu gehorchen – wie schon Hobbes festgestellt hatte.45 Die Beseitigung solcher Hindernisse findet somit durch die Herstellung einer rechtlichen Ordnung (und d. h. einer politischen Verfassung) statt, in der die Menschen ihre Moralität entwickeln können: eine rechtliche Ordnung, die Frieden garantiert. Das ist jedoch nur ein – negativer – Aspekt der Schaffung objektiver Bedingungen moralischen Handelns. Ein weiterer, positiver Aspekt ist die Herstellung einer Ordnung, die den Menschen ermöglicht, nicht nur in Bezug auf die eigenen Neigungen, sondern auch in Bezug auf den Willen anderer autonom zu handeln – mit anderen Worten: die Herstellung einer nicht paternalistischen Regierung, und das heißt schließlich mit der Herstellung einer Republik, wie wir gesehen haben (vgl. oben 5.8). Die innere Autonomie der Menschen (ihre Moralität) und ihre äußere Autonomie (ihre rechtliche und politische

45 In dieser Hinsicht ist Riley zuzustimmen, wenn er schreibt: „The moral and the legal realms [...] share a set of ends (peace and civility).“ (Riley 1993, 19)

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Freiheit) sind miteinander verbunden. Das Gebot der Errichtung einer republikanischen Verfassung ist die direkte Folge von Kants Moralprinzip und lässt sich durch Hinweis auf die dritte Formel des kategorischen Imperativs begründen. Moral, Recht und Politik sind miteinander verbunden, da sie alle Instrumente der Entfaltung menschlicher Freiheit in ihren verschiedenen Gestalten (d. h. als innere und als äußere Autonomie) darstellen. Es ist allerdings fraglich, ob Kant meint, eine solche Gemeinschaft wie das Reich der Zwecke könne je politisch realisiert werden.46 Sicher ist kein politisch realisiertes Reich der Zwecke möglich, das alle vernünftige Wesen einschließt: die Möglichkeit einer politischen Gemeinschaft der Menschen mit Gott oder anderen nicht-menschlichen Wesen (seien sie Engel, Teufel oder Außerirdische) ist ausgeschlossen. Im besten Fall wäre eine partielle Realisierung derselben denkbar, und zwar als Weltgemeinschaft. Gegen eine solche Idee führt Kant zwar in der Friedensschrift und in der Rechtslehre verschiedene Argumente ein, die jedoch nicht überzeugend sind und der Prämisse von Kants Argumentation selbst widersprechen (vgl. dazu Pinzani 1999). Gleichzeitig kann man die respublica noumenon als ein auf eine bestimmte politische Gemeinschaft beschränktes Reich der Zwecke ansehen: In ihr sind nämlich alle Bürger gleichzeitig Gesetzgeber, und in ihr werden durch das Recht die privaten Zwecke der Individuen miteinander nicht nur verträglich gemacht, sondern „systematisch verknüpft“ – denn in der respublica noumenon kommt das Recht seinen metaphysischen Prinzipien, so wie sie in der Rechtslehre dargestellt werden, am nächsten und erreicht somit das höchstmögliche Niveau an Systematik. Dass Kant die vollkommene republikanische Verfassung für eine solche Verträglichkeit der privaten Zwecke bzw. Interessen hält, zeigt außerdem – neben den schon erwähnten, in der Idee dargestellten Überlegungen – die berühmte Stelle der TeufelRepublik (ZeF VIII, 366). Bevor ich darauf eingehe (5.18), muss aber noch eine entscheidende Frage zum richtigen Verständnis insbesondere jener Passage selbst und der politischen Philosophie Kants im Allgemeinen geklärt werden: die Frage des Verhältnisses von Recht und Moral.

5.15. Recht und Moral (I): ein kompliziertes Verhältnis Die Frage des Verhältnisses von Recht und Moral stellt Kant in der Metaphysik der Sitten ausführlich dar – allerdings ist die dort angebotene Darstellung komplizierter, als man bei einer ersten Lektüre vermuten könnte.47 Daher werde ich im Folgenden eine textnahe Analyse seiner Darstellung vornehmen. Die Hauptstelle ist der III. Teil (in der Ludwig-Ausgabe der IV. Teil) der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ mit dem Titel „Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten“ (VI, 218-221). Ich werde mich jedoch in meiner Analyse auch auf andere Stellen dieses Werkes beziehen, nämlich auf die „Einteilung der Rechtslehre A: Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten“ (VI, 236 f.), 46 Langhaler meint sogar, dass dieser Begriff mehr auf die Sphäre des Rechts als auf die der Ethik angewandt werden sollte (Langthaler 1991). 47 Zur Frage dieser Beziehung im Allgemeinen, gleichzeitig jedoch aus einer kantischen Perspektive heraus vgl. Höffe 1979a.

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auf die „Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ (VI, 239 ff.) und auf die „Einleitung zur Tugendlehre“ (VI, 379 ff.) Eine erste, flüchtige Lektüre zeigt uns eine doppelte Unterscheidung, jene zwischen zwei verschiedenen Arten der Gesetzgebung und jene zwischen zwei möglichen Einstellungen des Subjekts in Bezug auf Gesetze. Es gibt zunächst eine ethische Gesetzgebung, welche die Idee der Pflicht als einzige Triebfeder der Handlung zulässt, und eine juridische, welche die Triebfeder offen lässt. Die Befolgung eines Gesetzes aus der Idee der Pflicht heißt Moralität; ein einfaches gesetzmäßiges Verhalten, bei dem diese Idee nicht die Triebfeder darstellt, heißt Legalität. Die juridische Gesetzgebung fordert die einfache Legalität, die ethische fordert Moralität. So weit die flüchtige Lektüre. Nimmt man die Stelle genauer unter die Lupe, zeigen sich plötzlich viele unerwartete Probleme, beginnend mit dem selben Begriff der Gesetzgebung. Zu jenem Begriff gehören laut Kant zwei Momente: 1) das Gesetz und 2) die Triebfeder der Handlung. Das Gesetz stellt eine Handlung als objektiv notwendig dar und macht daher aus ihr eine Pflicht; die Triebfeder verknüpft subjektiv die Vorstellung des Gesetzes mit dem Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung (VI, 218). Die zwei Arten von Gesetzgebung unterscheiden sich in Bezug auf die Triebfeder, denn beide sehen – durch ihre Gesetze – bestimmte Handlungen als objektiv notwendig an. Sie unterscheiden sich somit in Bezug auf das subjektive Moment. Die ethische Gesetzgebung definiert sich dadurch, dass sie 1) eine Handlung zur Pflicht und 2) diese Pflicht zur Triebfeder macht (VI, 219). Die juridische Gesetzgebung macht hingegen zwar 1) eine Handlung zur Pflicht, sie lässt jedoch 2) auch andere Triebfedern als nur die Idee der Pflicht zu (a. a. O.). Die ethische Gesetzgebung fordert Moralität: Die gebotene Handlung muss aus der einfachen Idee der Pflicht vollzogen werden. Die juridische Gesetzgebung fordert hingegen bloß Legalität. Allerdings unternimmt Kant eine Einschränkung bezüglich der von der juridischen Gesetzgebung zugelassenen Triebfedern: Es muss sich einfach um Abneigungen handeln, da diese Gesetzgebung eine nötigende, keine einladende sein soll. Die Furcht vor der Strafe ist somit als Triebfeder zugelassen, nicht jedoch eine Verlockung, wie z. B. die Hoffnung auf eine Prämie usw. Die juridische Gesetzgebung ist nur „nötigend“. Wieso das? Wieso könnte ich nicht zur Einhaltung der rechtlichen Normen durch Versprechen von Belohnungen statt durch Androhung von Bestrafungen bewegt werden? Weil das Recht nur jene Sphäre negativ definiert, deren Grenze ich nicht überschreiten darf (denn ansonsten könnte meine Willkür nicht mit den anderen Willküren nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit koexistieren). Daher sind alle rechtlichen Normen in Form von Verboten interpretierbar, da sie die Grenze meiner Willkür festsetzen. Ein Verbot wird durch Androhung einer Strafe bei Übertreten durchgesetzt. Die juristisch einzig relevante Handlung ist der Gesetzesbruch, nicht die Einhaltung der Gesetze. Und die einzige juristische Reaktion ist die Strafe des Bruchs (vgl. Kants wesentliche Verbindung von Recht und Zwang als Reaktion auf ein Unrecht in VI, 231 f.). Ethische Gesetzgebung und juridische Gesetzgebung unterscheiden sich somit primär, was den Punkt 2), was die Triebfeder betrifft. Unmittelbar danach aber nimmt Kant Unterscheidungen auch in Bezug auf 1) vor: Nur äußere Handlungen können von der juridischen Gesetzgebung zur Pflicht gemacht werden (VI, 219), während die ethische Ge-

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setzgebung auch innere Pflichten kennt (a. a. O.). Äußere Pflichten sind Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen (VI, 220), innere sind also Verbindlichkeiten zu inneren Handlungen; eine innere Handlung ist z. B. das Sich-einen-Zweck-Vorsetzen, das Kant als Beispiel für eine von außen nicht erzwingbare Handlung (VI, 239) ansieht. Auf jeden Fall kann nach Kant die ethische Gesetzgebung „keine äußere sein“ (VI, 219), denn sie schließt die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit ein (a. a. O.): Die Verpflichtung darf nicht durch äußeren Zwang stattfinden. (Eine äußere ethische Gesetzgebung ist zwar denkbar, sie würde sich aber nicht von einer juridischen unterscheiden: so z. B. wenn man versucht, die Leute dadurch zur Einhaltung moralischer Gesetze zu zwingen, dass man ihnen mit der ewigen Strafe in der Hölle oder mit sozialer Ächtung droht.) Man würde dann erwarten, dass nun die juridische Gesetzgebung nur äußere Gesetzgebung sein kann, dass sie die innere Triebfeder niemals in ihr Gesetz mit einschließt: Kant sagt aber: „Die ethische Gesetzgebung ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann“. (VI, 220; Hervorheb. – A. P.). Wieso denn „auch“ statt „nur“? Kann denn die juridische Gesetzgebung doch auch innerlich sein? An anderer Stelle kommt die Zweideutigkeit ebenfalls wieder zum Vorschein: Rechtspflichten sind solche, „für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“, Tugendpflichten jene, „für welche eine solche nicht möglich ist“ (VI, 239), da sie sich auf Zwecke bezieht – und man kann durch keine äußere Gesetzgebung dazu gezwungen werden, sich einen Zweck vorzusetzen. Kant sagt hier lediglich, dass die ethische Gesetzgebung nicht äußerlich sein kann, nicht dass die juridische Gesetzgebung nur äußerlich und nicht innerlich sein kann. Es scheint also, dass er die Möglichkeit einer inneren juridischen Gesetzgebung nicht ausschließt, aber es ist nicht klar, wie sie aussehen soll. Schaut man auf die Tabelle von RL VI, 240, wird eine innere Pflicht als vollkommene Rechtspflicht gegen sich selbst eingeführt, nämlich die Pflicht, der das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person entspricht. Auf dieses Recht bezieht sich Kant auch an der Stelle, wo er die „innere Rechtspflicht“ des „Honeste vive“ einführt (VI, 236). Darauf werde ich noch zurückkommen (vgl. unten 5.17). Die Tabelle von RL VI, 240 leitet zu einer weiteren interessanten Feststellung: Die vollkommenen Pflichten werden hier mit den Rechtspflichten schlechthin identifiziert, die unvollkommenen mit den Tugendpflichten, obwohl wir wissen, dass es vollkommene Pflichten gegen sich selbst gibt, nämlich diejenigen, die Kant in der Tugendlehre einführt (Selbstmordverbot, Verbot der „wohllüstigen Selbstschändung“, Verbot der Unmäßigkeit beim Essen und Trinken; TL VI, 421 ff.). Auch vollkommene Pflichten gegen die anderen können übrigens Tugendpflichten sein, wie z. B. das Lügenverbot. Es sind eben Pflichten, die sowohl Rechts- als auch Tugendpflichten sein können. Während Rechtspflichten immer vollkommene Pflichten sind, ist es möglich, dass Tugendpflichten sowohl vollkommen als auch unvollkommen sind. In der Hinsicht scheint die Einteilung der Pflichten mindestens unvollständig zu sein. Diese Frage lasse ich im vorliegenden Kontext offen. Zur Unterscheidung zwischen ethischer Gesetzgebung und juridischer Gesetzgebung kommt noch die schon erwähnte Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität hinzu, die jedoch nur die Einstellung des Subjekts, nicht die Qualität der Gesetzgebung

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oder des Gesetzes (und somit der daraus resultierenden Pflicht) betrifft. Handele ich gemäß dem Gesetz aus der Idee der Pflicht, so handele ich moralisch. Handele ich zwar gemäß dem Gesetz, aber aus anderen Triebfedern, so handele ich nur gesetzmäßig, und meine Handlung ist zwar legal, besitzt aber keine moralische Qualität. Die juridische Gesetzgebung fordert nur Legalität, die Triebfeder bleibt für mich offen: Das resultiert aus der Definition der juridischen Gesetzgebung als jener Gesetzgebung, welche die Triebfeder in ihr Gesetz nicht mit einschließt. Sie lässt jedoch die Möglichkeit offen, ihre Gesetze aus der Idee der Pflicht, d. h. aus Moralität zu folgen (und Kant erwähnt solche Möglichkeit ausdrücklich in TL, VI 390). Die ethische Gesetzgebung fordert immer (auch per Definition) Moralität, denn ansonsten hätte die Befolgung ihrer Gesetze keine moralische Qualität. Wer die Tugendpflichten aufgrund einer anderen Triebfeder als der Idee der Pflicht erfüllt, handelt zwar legal, aber nicht moralisch. Eine solche Handlung ist dann für Kant nicht interessant48, obwohl sie einen gewissen Wert haben kann, nämlich als moralische Übung – jene Übung, die uns dazu führen soll, moralisch gebotene Handlungen zunächst aus Gewohnheit und schließlich aus Pflicht zu vollziehen. Aus Kants Perspektive lassen sich somit vier Möglichkeiten denken (vgl. auch Höffe 2001, 112 f.): 1) Juridische Legalität: Das Subjekt erfüllt eine aus der juristischen Gesetzgebung heraus entstehende Verpflichtung und der Bestimmungsgrund seiner Handlung kann auch bloß die Abneigung gegen eine mögliche Strafe sein. 2) Ethische Legalität: Das Subjekt erfüllt eine aus der ethischen Gesetzgebung heraus entstehende Verpflichtung und der Bestimmungsgrund seiner Handlung kann auch bloß die Abneigung gegen eine mögliche Strafe (durch Gott, die Gemeinschaft usw.) sein. 3) Juridische Moralität: Das Subjekt erfüllt eine aus der juristischen Gesetzgebung heraus entstehende Verpflichtung und der Bestimmungsgrund seiner Handlung ist die bloße Idee der Pflicht. 4) Ethische Moralität: Das Subjekt erfüllt eine aus der ethischen Gesetzgebung heraus entstehende Verpflichtung und der Bestimmungsgrund seiner Handlung ist die bloße Idee der Pflicht. Relevant für unsere Thematik sind die Möglichkeiten 1 und 3. Erstere beschreibt die Haltungen der Rechtsgenossen einer liberalen Gesellschaft, so wie sie die meisten (liberalen und nichtliberalen) Denker theoretisch fassen. Letztere beschreibt die Haltung, welche die Individuen gemäß den meisten Bürgertugendtheorien aufweisen sollen. Vertritt nun Kant die Notwendigkeit von juridischer Moralität? Plädiert er gar zugunsten von Bürgertugenden?

48 Darunter sollte übrigens auch die Gesetzeinhaltung eines Christen fallen, der nur deswegen „gut“ handelt, um im Himmel seine Belohnung zu bekommen: Es ist die anlockende Triebfeder, die im Falle der juridischen Gesetzgebung nicht zugelassen ist.

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5.16. Recht und Moral (II): Rechtbürgerlicher und ethischbürgerlicher Zustand Ein erstes Argument gegen die Idee, dass sich bei Kant Bürgertugenden finden lassen können, weist darauf hin, dass Kant tatsächlich die Meinung vertritt, das Recht fordere nur (juridische) Legalität und nicht (juridische) Moralität. Daher ist Moralität für die Erhaltung einer Rechtsordnung nicht notwendig. Somit sind auch Bürgertugenden – vorausgesetzt, man könne von solchen bei Kant sprechen – nicht notwendig. Eine wichtige Stelle zur Unterstützung jener Lesart findet sich in der Religionsschrift, wo Kant den Begriff eines ethisch-bürgerlichen Zustandes einführt, in dem die Menschen nicht wie im rechtsbürgerlichen Zustand unter öffentlichen Rechtsgesetzen, sondern „unter zwangsfreien, d. i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind“ (VI, 95). Diesem Zustand steht ein ethischer Naturzustand entgegen, der auch im rechtsbürgerlichen Zustand weiter besteht: „In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich alle politische Bürger, als solche doch im ethischen Naturzustande, und sind berechtigt, auch darin zu bleiben“; da man nicht gezwungen werden darf, tugendhaft zu sein (a. a. O.; kursiv – A. P.). Kant schließt dieser Behauptung eine eindeutige Warnung an: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.“ (VI, 96) Zwar ist es normativ geboten, aus dem ethischen Naturzustand auszutreten, solche Pflicht besteht jedoch nicht für die Einzelnen, sondern für die Gattung. Kant verbindet hier den Begriff eines ethisch-bürgerlichen Zustandes mit der Idee des Reichs der Zwecke in seinem moralischen Sinn und knüpft an seine geschichtsphilosophischen Beobachtungen an: „Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen. Daher kann eine Menge in jener Absicht vereinigter Menschen noch nicht das ethische gemeine Wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft heißen, die zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hinstrebt, um ein absolutes ethisches Ganzes zu errichten, wovon jede partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema ist, weil eine jede selbst wiederum im Verhältniß auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande sammt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann (wie es auch mit verschiedenen politischen Staaten, die in keiner Verbindung durch ein öffentliches Völkerrecht stehen, eben so bewandt ist).“ (VI, 96) Dementsprechend gilt die Verpflichtung zum Austritt aus diesem Zustand für die ganze Menschheit: „Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt

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wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, dass es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht der Art und dem Princip nach von allen andern unterschieden.“ (VI, 97 f.) Die hier erwähnte Republik nach Tugendgesetzen kann als das Reich der Zwecke in seiner moralischen Variante interpretiert werden. Somit definiert Kant die Beziehungen zwischen Recht und Moral, Reich der Zwecke im politischen und im moralischen Sinn, politischer Republik und moralischer Republik noch einmal mit aller Klarheit: Die ersten Begriffe dieser Paarungen betreffen die einzelnen politischen Gemeinschaften, die zweiten die Menschheit als Ganze. Alle jedoch sind nur im Lichte von Kants Geschichtsphilosophie zu verstehen, denn schließlich sind Republikanisierung und Moralisierung praktische Ideale, die nur im Rahmen der Geschichte der Gattung eine, wenn auch partielle, aber immerhin konkrete Realisierung finden können (vgl. unten 5.19).

5.17. Recht und Moral (III): innere Rechtspflichten? Ein Argument zugunsten der Idee, dass sich bei Kant juristische Moralität doch begründen lässt, könnte auf die Existenz einer inneren Rechtspflicht hinweisen, die Kant bei der allgemeinen Einteilung der Rechtspflichten vornimmt (RL, VI 236 f.). Hier nimmt Kant auf drei Formeln Rekurs, die im Corpus iuris civilis beinhaltet sind und traditionell dem römischen Jurist Ulpian zugeschrieben wurden, die jedoch – wie oft in ähnlichen Fällen – wohl als eine Art Kompendium der Position Ulpians anzusehen sind, ohne dass er selbst sie formuliert hat. Daher sollte man sie genauer als pseudo-ulpianische Regel bezeichnen. Der Grund, warum Kant ausgerechnet auf diese drei Formeln Rekurs nimmt, liegt in ihrer historisch bedeutenden Rolle für die Tradition der juristischen Wissenschaft. Kant erweckt sie jedoch zu neuem Leben, indem er ihnen eine Bedeutung gibt, die weit über die übliche Interpretation geht, welche die Tradition davon hatte. Die drei Regeln sind: „Honeste vive“, „Neminem laede“ und „Suum unicuique tribue“. Es handelt sich um keine neuen Gebote. Besonders vom Letzten kennt man unzählige Varianten schon seit der klassischen römischen Literatur (Cicero usw.). Nun Kants Reformulierung: „1. Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältnis zu Anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti). 2. Tue niemandem Unrecht (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit anderen herausgehen und alle Gesellschaft meiden müssen (Lex iuridica).

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3. Tritt (wenn du das Letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit Anderen, in welcher Jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). – Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: „Gib jedem das Seine“, würde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemandem etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn haben soll, so müßte sie lauten: ‚Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann‘ (Lex iustitiae).“ (VI 236 f.) Diese Trias kehrt in der Rechtslehre zurück, wenngleich nicht immer ausdrücklich. Sie bildet irgendwie die innere Struktur dieses Werks (vgl. Pinzani 2005). Da die drei Formeln die Einteilungsprinzipien der Rechtspflichten darstellen, basiert das Recht offensichtlich auf den Pflichten, die uns die praktische Vernunft auferlegt. Privat- und öffentliches Recht entstehen, damit die beiden Vernunftgebote erfüllt werden können, nach denen 1) niemand Unrecht leiden soll, und 2) eine Gesellschaft errichtet werden soll, in der jeder das Seine bekommt (darauf komme ich unten ausführlicher zurück). Wie steht es jedoch mit dem ersten Prinzip, „Honeste vive“? Kant sagt, dass es „das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ betrifft (VI 236). Ein solches Recht kann an sich nicht Gegenstand der Rechtslehre sein, denn ihr Gegenstand ist das Recht, und das lässt sich durch drei Elemente definieren, die mit dem Gedanken des Rechts der Menschheit in unserer Person nichts Gemeinsames haben können. Diese Elemente sind die Intersubjektivität, die Reziprozität und der Formalismus (VI 230). Das Recht betrifft die Beziehungen zwischen Willküren. Daher wird der Teil der Rechtslehre, der dem inneren Recht gewidmet ist, in den „Prolegomenen“ zur eigentlichen Rechtslehre behandelt (VI 238), denn der Gegenstand des inneren Rechts, nämlich das einzige angeborene Recht, die äußere Freiheit, hat mit den Verhältnissen der Willküren untereinander nur mittelbar zu tun – und zwar insofern jene Willküren ihre äußere Freiheit gegen die anderen schützen wollen. Zu diesem Zweck verhilft ihnen eben das Recht. An sich ist das innere Recht gar kein Recht im strikten Sinne, denn es ist immer nur das völlig äußere, das erworbene Recht (VI 232), also in erster Linie Privatrecht (das öffentliche Recht erweist sich dann als notwendig, um dem Privatrecht peremtorischen Charakter zu leihen). Das ist der Grund, warum sich der erste Teil der Rechtslehre mit dem „äußeren Mein und Dein“, nicht jedoch mit dem inneren beschäftigt. Und das ist auch der Grund, warum aus dem Recht der Menschheit in unserer Person eine Klasse von Pflichten, die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, entsteht, die Kant zwar als innere Rechtspflichten bezeichnet (im Schema von VI 240), jedoch eigentlich zur Ethik (also zur Tugendlehre) gehören. Dementsprechend führt Kant bei der allgemeinen Einteilung der Rechtspflichten ein Prinzip ein, das die rechtliche Ehrbarkeit gebietet (gemäß der pseudo-ulpianischen Regel „Honeste vive“) und den inneren Rechtspflichten vorsteht (VI 236 f.): Ein Prinzip, das Kant sowohl in seinen Vorlesungen als auch in seinen Vorarbeiten nicht zufällig erst in der Tugendlehre eingeführt hatte: „Die Moral besteht aus der Rechtslehre (doctrina iusti) und der Tugendlehre (doctrina honesti) jene heißt auch ius im allgemeinen Sinne, diese Ethica in besonderer Bedeutung (denn sonst bedeutet auch Ethic die ganze Moral). – Wenn wir die letztere zuerst nehmen so können wir mit Ulpian die Formel derselben so ausdrücken: honeste vive – Die Rechtslehre enthält zwey Theile die des Privatrechts und des öffentlichen – Neminem laede, suum cuique tribue also das Recht des Naturzustandes und des bürgerlichen.“ (XXIII, 386)

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In der sogenannten „Metaphyisik Vigilantius“49 bezieht Kant zwar diese Regel noch auf die ethischen Pflichten (XXVII/2.1, 527); dort findet sich jedoch eine Stelle, die eher der Position von 1797 nahe kommt: „... so sind die Rechtspflichten gegen sich selbst die höchsten Pflichten unter allen. Sie betreffen das correspondierende Recht der Menschheit in seiner eigenen Person, sind daher vollkommene Pflichten, und jede Pflichthandlung wird von dem Recht der Menschheit unerläßlich gefordert, und ist an und für sich selbst Pflicht. Eine jede Uebertretung ist also Verletzung des Rechts der Menschheit in seiner eigenen Person, er macht sich also des ihm anvertrauten Besitzes seiner Person unwürdig, und wird nichtswürdig, da die Erhaltung seines eigenen Werthes nur in der Beobachtung der Rechte seiner Menschheit besteht: er verliert allen inneren Werth, und kann höchstens als ein Instrument für andere, deren Sache er geworden, angesehen werden.“ (XXVII/2.1, 604) Es stellt sich nun die Frage, wieso dann Kant bei der endgültigen Fassung jenes Prinzip in die Rechtslehre mit aufnimmt. Die Beantwortung dieser Frage kommt der Beantwortung der Frage gleich, ob man von innerem Recht und von inneren Rechtspflichten überhaupt sprechen kann. Da das strikte Recht nur ein äußeres sein kann, scheint eine solche Position kaum haltbar zu sein. Allein der Begriff von „inneren Rechtspflichten“ ist an sich – wie Wolfgang Kersting zu Recht bemerkt – „eine contradictio in adiecto“ (Kersting 21993, 214), denn „alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist“ (VI 239).50 Nun kann die gebotene rechtliche Ehrbarkeit unmöglich Gegenstand einer äußeren Gesetzgebung sein, da sie zwar die Gesetzmäßigkeit der Handlungen (die Legalität) fordert, jedoch nichts über die innere Haltung oder die Motive der Handlungen (die Moralität) besagt, die nur Gegenstand einer inneren Gesetzgebung sein können: Ehrbarkeit ist eine innere Haltung und darf also einer äußeren Gesetzgebung nicht als Rechtspflicht vorangestellt werden. Eine erste Erklärung des „Honeste vive“, könnte besagen, dass das, was hier gefordert wird, die rechtliche Ehrbarkeit, dem Verbot, auf die eigene Freiheit selbst zu verzichten (sich den anderen als Mittel anzubieten), gleichkommt. Eine solche Pflicht betrifft die Rechtspersönlichkeit und als solche kann sie als Rechtspflicht angesehen werden, obwohl sie eine innere Haltung fordert. „Als Gebot des rechtlichen Selbsthalts formuliert sie die inneren Bedingungen der äußeren Freiheit.“ (Kersting 21993, 219) Insofern formuliert sie auch die innere Bedingung für die Existenz von Recht überhaupt, denn nur

49 Es handelt sich um Aufzeichnungen der Vorlesung über die Metaphysik der Sitten, die Kant im Wintersemester 1793/94 gehalten hat, und die vom Justizrat Johann Friedrich Vigilantius verfasst wurden. 50 Das hindert jedoch Kant nicht, auf der folgenden Seite, im „Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zu Pflicht“ genannten Schema, doch von einer vollkommenen Rechtspflicht gegen sich selbst zu sprechen, nämlich das unter Nr. 1 erwähnte „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ – eine Formulierung, die auch bei der ersten pseudo-ulpianischen Regel wiederzufinden ist.

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freie Willküren können in einem rechtlichen Verhältnis zueinander leben, wie nun zu erklären ist. Auf Seite 238 ist von der Qualität des Menschen, „sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“, (VI 238) die Rede (eine Formulierung, die übrigens auf die Entsprechung von „Honeste vive“ und innerem Mein und Dein nochmals hinweist). „Sein eigener Herr“ ist jemand, der das Recht der Menschheit in seiner eigenen Person respektiert und sich den Anderen nie zum bloßen Mittel macht. Die rechtliche Ehrbarkeit besteht also zunächst nicht in der Befolgung der Gesetze (wir befinden uns noch in einem vorrechtlichen Zustand, wie Kant auch zwei Zeilen später betont), sondern in der Behauptung seines Wertes als Mensch im Verhältnis zu anderen. Es ist eine innere Haltung, die der Existenz von rechtlichen Normen, also von Recht überhaupt, vorausgeht. Das Gebot des „Honeste vive“ zielt zunächst auf den Schutz der äußeren Freiheit vor dem Selbstverzicht. Es dient sozusagen dem inneren Schutz dieser Freiheit, während das Recht dem äußeren Schutz, dem Schutz vor möglichen Angriffen anderer dient. Diese erste Regel stellt daher in erster Linie ein Verbot dar, nämlich das Verbot der Selbstversklavung. Die Frage der Selbstversklavung wird zweimal in der Rechtslehre ausdrücklich berührt: im § 30 und in der Allgemeinen Anmerkung D (aber vgl. auch VI 270 und 282). Hier die erste Stelle: „... ein Vertrag aber, durch den ein Teil zum Vorteil des Anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht tut, mithin aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht hat, einen Vortrag zu halten, sondern nur Gewalt anerkennt, [ist] in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig [...]. (Von dem Eigentumsrecht gegen den, der sich durch ein Verbrechen seiner Persönlichkeit verlustig gemacht hat, ist hier nicht die Rede)“ (VI 283). Davon ist eben in der Allg. Anm. D die Rede: „Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers; außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines Anderen (entweder des Staates oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht wird. [...] Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen“ (VI 329). Beide Stellen verdeutlichen, was geschehen würde, wenn die erste pseudo-ulpianische Regel nicht eingehalten wird: Wenn sich ein Mensch verdingt und gegen die Menschheit in seiner eigenen Person verstößt, hört er dadurch auf, ein Rechtssubjekt zu sein – was alle von ihm abgeschlossenen Verträge nichtig machen würde. Dieses Argument stellt keine besondere Neuigkeit dar: Die Selbstversklavung wird in der naturrechtlichen Tradition als etwas angesehen, das mit der Natur des Menschen im Widerspruch steht. Auch Rousseau, im Gesellschaftsvertrag, liefert dazu Argumente, die denjenigen Kants sehr ähnlich sind (CS I, 4). Aber er und die anderen Theoretiker des Naturrechts scheinen eher die Unmöglichkeit bzw. Widersprüchlichkeit des Verzichts auf Freiheit hervorzuheben, während Kant diesen Verzicht zum Gegenstand eines Verbotes macht, das zugleich moralischen und rechtlichen Charakter besitzt: Wer sich selbst verdingt, bricht nicht nur mit seiner menschlichen Natur, sondern verletzt eine Pflicht, die er gegenüber der Menschheit in seiner eigenen Person hat. Es entsteht jedoch eine Schwierigkeit in Bezug auf den Begriff eines Rechts der Menschheit in unserer eigenen Person. Wenn meine Menschheit darin besteht, ein Selbst-

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zweck zu sein, der nie zu einem einfachen Mittel gemacht werden kann – weder von den anderen noch von mir selbst –, dann stellt sich die Frage, was es genau heißt, eine Verpflichtung gegenüber meiner Menschheit zu haben. Dafür scheint prima facie aus der Perspektive Kants zwar eine Begründung für moralische Pflichten gegen sich selbst möglich zu sein (und Kant bietet sie in der Tugendlehre, in den ersten Paragraphen des 1. Teils der Elementarlehre, an), aber keine für die Rechtspflichten, da sie nur gegenüber anderen Menschen entstehen können. Beim „Honeste vive“ handelt es sich um eine innere Rechtspflicht, bei der die anderen angeblich noch nicht im Spiel sind, so dass die Verpflichtung nur uns gegenüber, d. h. gegenüber der Menschheit in unserer eigenen Person, bestehen kann: Eine solche Pflicht wäre somit per Definition eine moralische Pflicht (d. h. eine Selbstverpflichtung). Aber die anderen sind doch schon beim „Honeste vive“ im Spiel, und zwar als mögliche Partner eines rechtlichen Verhältnisses, in dem man seinen Wert als Rechtsperson, z. B. als Vertragspartner, behaupten soll. Man könnte jene Regel somit als das Gebot sehen, für die anderen ein mögliches rechtliches Gegenüber zu sein. Die Behauptung der eigenen Freiheit, der eigenen Handlungsfähigkeit als Zurechnungsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit, ist deswegen notwendig, damit Recht überhaupt entsteht. Wenn ich mich weigere, als freies und zurechnungsfähiges Rechtssubjekt aufzutreten, können die anderen unmöglich mit mir in ein Rechtsverhältnis eintreten. Ich schulde rechtliche Ehrbarkeit den anderen zumindest genauso wie mir selbst (oder der Menschheit in meiner eigenen Person). Diese Verpflichtung kann jedoch weiter kein Gegenstand einer äußeren Gesetzgebung sein, da hier eine Haltung gefordert wird: Ich kann also nicht durch Zwang zu ihrer Erfüllung bewegt werden. Sie besitzt gleichzeitig dadurch rechtlichen Charakter, dass sie mein rechtliches Verhältnis zu den anderen Willküren betrifft. In ihrer Zweideutigkeit stellt sie den Übergang von der ethischen Dimension des Respekts der eigenen Menschenwürde zur rechtlichen Dimension der Behauptung der eigenen Rechtspersönlichkeit anderen gegenüber dar. Als ein solches Zwitterwesen erfüllt diese Verpflichtung keine der Bedingungen vollständig, die zu einer rein ethischen oder rein rechtlichen Pflicht vonnöten sind. Sie ist insofern eine ethische Pflicht, als sie als Forderung einer inneren Haltung nur Gegenstand einer inneren Gesetzgebung sein kann, und als sie mit der Menschheit in unserer Person zu tun hat; sie bezieht sich jedoch gleichzeitig auf das rechtliche Verhältnis zu den anderen Willküren und stellt eine Verpflichtung ihnen gegenüber dar. Als solche kann sie daher als eine rechtliche Pflicht bezeichnet werden, sie kann jedoch nicht als Gegenstand einer äußeren Gesetzgebung gelten, d. h. sie kann nicht durch Zwangsandrohung oder -anwendung zur Erfüllung gebracht werden. Um Bedeutung und Stellenwert solch innerer Rechtspflicht besser zu verstehen, kann außerdem ein kurzer Vergleich mit anderen inneren Pflichten helfen, nämlich mit den in der Tugendlehre erwähnten Pflichten gegen sich selbst. Kant erwähnt zunächst eine Schwierigkeit, die solche Pflichten stellen: Der Verbindende und die Verbundenen sind ein und dasselbe. Da der Verbindende den Verbundenen jederzeit von der Verbindlichkeit lossprechen kann, ist das Subjekt an eine Pflicht, die es sich selbst auferlegt, gar nicht gebunden (TL, VI 417). Daraus entsteht eine noch schlimmere Folge: Wenn es keine solche Pflichten gibt, „so würde es überall gar keine, auch keine äußere Pflichten geben. – Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur so

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fern ich zugleich mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehnung meiner selbst bin.“ (VI 417) Hier deutet sich schon „der Aufschluss dieser scheinbaren Antinomie“ an, der darin besteht, dass der Mensch mit seinen zwei Eigenschaften als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) und als begabtes Wesen mit innerer Freiheit (homo noumenon) betrachtet wird. Der Verbindende ist somit der Homo noumenon, während der Verbundene der Homo phaenomenon ist, der gleichzeitig ein zu den Tierarten gehöriges Sinneswesen und Vernunftwesen ist. Daraus entstehen zwei Klassen von Pflichten gegen sich selbst (VI 418): erstens als animalisches und zugleich moralisches Wesen (Verbot von Selbstmord, von unnatürlichem Gebrauch der Geschlechtsneigung und vom unmäßigen Genuss von Nahrungsmitteln) und zweitens als bloßes moralisches Wesen (betreffend die Würde der Menschheit in seiner Person), so wie sie dann im 1. Teil der Elementarlehre dargestellt werden. Interessant für unsere Analyse ist die Bemerkung, dass ich mich mit anderen nicht als verbunden erkennen kann, „als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde“ (VI 417). Hier besteht eine Analogie mit der rechtlichen Ehrbarkeit: Erst insofern ich mich als verbindlichkeitsfähiges Subjekt erkenne und behaupte, kann ich eine Verbindlichkeit gegen andere eingehen. Jeder Verpflichtung, sei es rechtlich oder moralisch, geht also eine Selbstbehauptung als Wesen voraus, das imstande ist, eine solche Verpflichtung überhaupt aufzunehmen; diese Selbstbehauptung besteht letztlich in einer Selbstverpflichtung, in einer Verbindlichkeit gegenüber der Menschheit in meiner Person. Das ist der Berührungspunkt von Rechts- und Tugendlehre, von Recht und Moral. Beide beruhen auf der Fähigkeit des Subjekts, für sich selbst Verbindende zu sein – eine Fähigkeit, die aus der Eigenschaft des Menschen entsteht, für sich selbst gesetzgebend zu sein. Es ist letztlich die praktische Vernunft, die Recht und Moral überhaupt denkbar macht, ja gar gebietet. Zudem ist die Tatsache interessant, dass Kant hier auf den Begriff der honestas in Bezug auf das Verbot der Selbstverdingung zurückkommt, diesmal allerdings nicht als honestas iuridica sondern als honestas interna, da es ums Verbot geht, sich der inneren Freiheit (und nicht der äußeren wie beim honeste vive) zu berauben und „dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache, zu machen“ (VI 420). Die entsprechenden Laster sind Lüge, Geiz und falsche Demut. Die „Tugend, welche allen diesen Lasten entgegen steht“, ist eben die „Ehrliebe (honestas interna)“ (a. a. O.). Sie besteht somit im Verzicht, sich zur Sache zu machen, und im Behalten der eigenen Freiheit, genauso wie im Falle der honestas iuridica, mit dem (freilich entscheidenden) Unterschied, dass es sich diesmal um die innere Freiheit handelt. Das scheint zu beweisen, dass die rechtliche Ehrbarkeit, von der in der ersten pseudo-ulpianischen Regel die Rede ist, tatsächlich die Fähigkeit darstellt, die eigene äußere Freiheit zu behalten. Von einer Bürgertugend kann auf jeden Fall hier keineswegs die Rede sein.

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5.18. Trennungsthese und politische Tugenden: rationale Teufel als gute Bürger Obwohl die Trennung von Recht und Moral gewisse graue Zonen aufweist, ist es nichtsdestoweniger klar, dass für Kant tugend-moralische Haltungen nicht rechtlich geboten werden dürfen. Die rechtliche Ordnung kann eine Gemeinschaft freier, friedlich zusammenlebender, miteinander verträgliche Zwecke verfolgender Willküren, nicht jedoch eine Gemeinschaft tugendhafter Individuen stiften (Pinkard 2002, 55). Das Recht regelt schließlich die Koexistenz von voneinander unabhängigen Willküren, während Moralität – da sie in erster Linie mit der Gesinnung zu tun hat – eher einer Sache des Willens ist (nämlich des guten Willens).51 Wie Reinhard Brandt zu Recht betont, entwirft Kants Rechtsphilosophie „keine gute Polis oder Gesellschaft, sondern zeigt jedem einzelnen Staat, nach welcher formalen Idee er sich reformieren muss, im Prinzip in jedem Augenblick der Geschichtszeit“. Dabei unterscheidet er sich von Rousseau, der „die Staatsgesellschaft als eine sittliche Gemeinschaft faßt, in der und durch die der Mensch ein physisch und moralisch gutes Leben realisieren kann“. Kant hingegen „verweist die Fragen der Ethik oder Sittlichkeit“ auf das Innere des Menschen (in der Tugendlehre) oder auf die religiöse Gemeinschaft (in der Religionsschrift). „Dadurch“ – schließt Brandt – „ist das rechtliche Gemeinwesen bei Kant von den Problemen eines Tugendstaates oder einer Zivilreligion von vornherein entlastet“ (Brandt 2000, 276 f.). Das bedeutet jedoch weder, dass Sittlichkeit, Moralität und Politik keine reziproke Beziehung eingehen (vgl. auch Höffe 2001, 105 ff.52), noch dass Kant eine moralische Haltung gegenüber rechtlich gebotenen Handlungen nicht gutheißt. In der „Einleitung zur Tugendlehre“ (VI, 390) erwähnt Kant die Möglichkeit, dass man den rechtlichen Normen auch aus reiner Achtung vor dem Gesetz folgt – was einer juridischen Moralität gleichkommt.53 Die Befolgung rechtlicher Normen aus reiner Achtung vor dem Gesetz ist verdienstvoll, da man über das bloße Gebotene hinausgeht; und es könnte zu einer Tugend werden, wenn es zu einem Habitus, zu einer zweiten Natur würde. Politische Tugenden können zwar nie rechtlich geboten werden (auch bei Hobbes nicht), aber es ist doch möglich, sie gutzuheißen oder gar von den Bürgern einer Republik zu fordern. An sie zu appellieren, käme keineswegs einer Aufhebung der strikten Trennung von Recht und Moral oder der Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität gleich, sondern würde eine Aufforderung darstellen, über die Stufe bloßer Legalität hinauszugehen. Die Frage ist, was für einen normativen Status diese Aufforderung besitzt. Da sich die geforderte Moralität auf die juridische Gesetzgebung bezieht, ist ein solcher Appell normativ weniger verbindlich als die Aufforderung, die Normen ethischer Gesetzgebung zu verfolgen. Ethische Moralität besitzt des weiteren einen höheren 51 Vgl. dazu Beck 1993, der allerdings die gesetzgeberische praktische Vernunft mit Rousseaus Gemeinwille (Beck 1993, 46) identifiziert (sie wäre eher Diderots Gemeinwillen gleich). 52 Vgl. auch Seubert 1999, 27: „Die Legalität ist für Kant keine Alternative, sondern die notwendige Bedingung der Moralität.“ 53 Otfried Höffe hat jener Haltung den Rang eines elementaren Rechtssinns zugesprochen: Höffe 1999, 195 ff.; vgl. auch Pinzani 2000b.

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moralischen Status als juridische Moralität, wie Terry Pinkard (übrigens mit Hinweis auf den Begriff des Reichs der Zwecke) auch feststellt: „The citizen learns to subordinate his inclinations that conflict with the public law to the public law itself – which is justified as making possible the equal freedom of all – and the virtuous person exercises his unconditioned autonomy of will to act only on those maxims and pursue only those ends that all members of the ideal ‚kingdom of ends’ could pursue. Whereas the free citizen exercises a lesser form of self-rule, the virtuous individual exercises a supreme form of freedom as self-rule, a full autonomy.“ (Pinkard 2002, 58) Es ist m. a. W. eine vollkommene Pflicht, ein guter Mensch, nicht jedoch ein guter Bürger zu sein. Im Gegensatz zu Machiavelli und Rousseau meint Kant nicht, eine Republik bedürfe der Tugendhaftigkeit der Staatsbürger, um zu bestehen. Das wird offensichtlich, wenn man die Passage mit der Teufels-Republik in Betracht zieht: „Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen dass viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen zu Hülfe, so dass es nur auf eine gute Organisation des Staates ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, dass eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so dass der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ‚Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.‘ Ein solches Problem muss auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, dass sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen. Man kann dieses auch an den wirklich vorhandenen, noch sehr unvollkommen organisierten Staaten sehen, dass sie sich doch im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschreibt, schon sehr nähern, obgleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht die Ursache ist (wie denn auch nicht von dieser die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr umgekehrt von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten ist), mithin der Mechanism der Natur durch selbstsüchtige Neigungen, die natürlicherweise einander auch äußerlich entgegen wirken, von der Vernunft zu einem Mittel gebraucht werden kann, dieser ihrem eigenen Zweck, der rechtlichen Vorschrift, Raum zu machen und hiermit auch, soviel an dem

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Staat selbst liegt, den inneren sowohl als äußeren Frieden zu befördern und zu sichern. – Hier heißt es also: Die Natur will unwiderstehlich, dass das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte.“ (VIII 366 f.) Peter Niesen hat in dieser Passage drei Thesen ausgemacht. Die erste, die er „die der moralischen Substitution“ nennt (Niesen 2001, 593), besagt, dass die Natur durch die (hier freilich nicht ausdrücklich erwähnte) „ungesellige Geselligkeit“ dem „ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen“ zu Hilfe kommt (VIII, 366). Die Natur ersetzt also die Moralität der Bürger als eines der Instrumente zur Erhaltung der politischen Gemeinschaft. Niesen bezieht sich auf ein Stichwort der politischen Soziologie, nämlich dasjenige der „Integration durch Konflikt“ (vgl. Dubiel 1994, 106 ff.). Miteinander in Konflikt geratende Privatinteressen werden zum Mittel der sozialen Integration dadurch, dass sie „politisch gedeutet werden“ (Niesen 2001, 594): Somit wird der Konflikt der einzelnen Interessen zu einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Auffassungen des Gemeinwohls (z. B. zwischen einer konservativen und einer sozialdemokratischen Auffassung). Die Alternative zu jener integrativen Wirkung entgegensetzter Interessen wird von Niesen im Lobbyismus oder sogar im Stimmenkauf geortet, d. h. in Formen, die dadurch charakterisiert sind, dass der Konflikt auf der Ebene privater Interaktionen gelöst wird, so dass die staatlichen Institutionen zu einem Instrument verdeckter privater Interessen verkommen, die dem Urteil der Öffentlichkeit entzogen sind. In der republikanischen Verfassung hingegen ersetzt ein „öffentlich-strategische[s]“ Handeln das „latent-strategische“ Handeln anderer Formen von Konfliktlösung (a. a. O.). Die zweite These, die „der moralischen Simulation“, besagt, dass die Organisation des Staates die Bürger zwingt, als gute Bürger zu handeln, auch wenn sie nicht moralisch-gute Menschen sind. Das Zusammenleben der Menschen (bzw. der Teufel) wird so geordnet, dass ihre einander entgegenstrebenden Privatgesinnungen neutralisiert werden („als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten“). Demnach nähern sie sich „im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschriebt, [...] obgleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht die Ursache ist“ (VIII, 366). Niesen interpretiert diese Passage im Lichte jener Theorien kommunikativer Prozesse (Niesen erwähnt Luhmann, Habermas und Elster), die durch die öffentliche Austragung von Argumenten deren strategischen Sinn vermindert sehen wollen. Auch wenn die Bürger rein egoistisch-strategisch denken, tragen sie zur Definition des Gemeinwohls dadurch bei, dass sie ihre Privatinteressen mit dem Mantel allgemeinerer Interessen umhüllen. Niesen zitiert dabei Elster, der von der „zivilisierenden Kraft der Heuchelei“ spricht (Niesen 2001, 599). Die dritte These, die der „moralischen Wirkung“ einer republikanischen Ordnung, besagt, dass nicht aus der Moralität der Bürger eine gute Staatsverfassung, sondern umgekehrt aus dieser jene zu erwarten ist. „Kant kehrt gegenüber dem Zivilrepublikanismus die Kausalitätsrichtung um. Nicht von gemeinwohlorientierten Einstellungen ist die Reproduktion eines freiheitlichen Staatswesens zu erwarten, sondern es ist die freiheitliche Staatsverfassung, von der ‚aller erst die moralische Bildung eines Volkes zu erwarten ist‘“ (Niesen 2001, 599). Das ist eine Auswirkung der in der zweiten These erwähnten moralischen Simulation, denn „in einer republikanisch verfaßten Gesellschaft können selbstinteressierte Nutzenmaximierer im Grunde nicht vermeiden, moralisches Wissen zu erwerben“ (601). Niesen möchte dies allerdings von der Erzeugung von Bür-

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gertugenden unterscheiden: „Vor der Einbettung ins habituelle Handeln macht die moralische Bildung halt; sie drängt allein auf ihre permanente soziale Zugänglichkeit und Präsenz“ (a. a. O.). Niesens Interpretation ist insofern zu teilen, als man in dieser Kantischen Stelle die drei Momente der moralischen Ersetzung, der moralischen Simulation und der moralischen Bildung durch die republikanische Verfassung eindeutig ausmachen kann. Plausibel ist vor allem die Erste, die Substitutionsthese, nach der in der republikanischen Verfassung der nach Kant natürliche Interessenkonflikt gelöst werden kann, ohne dass man an die Moralität der Bürger appellieren muss, und nach der diese Konflikte sogar eine sozio-integrative Kraft entfalten können (gemäß Kants Idee der ungeselligen Geselligkeit). Weniger überzeugend ist die zweite These, bzw. Niesens Auffassung der Rolle der Institutionen in Bezug auf die Regulierung des naturwüchsigen Interessenkonflikts und auf die Moralität der Bürger. Während die republikanische Verfassung nach Kants Meinung eindeutig imstande ist, den Ersteren ohne Appell an die Letztere zu lösen, scheint mir Niesens Interpretation jener Stelle im Lichte kommunikationstheoretischer Überlegungen textuell nicht gerechtfertigt. Kant erwähnt keine Kommunikationsmechanismen, sondern bezieht sich eher auf die Fähigkeit staatlicher Institutionen, entgegensetzte Interessen so zu harmonisieren, als ob die Individuen keine egoistische Gesinnung hätten. Auch Niesens Behauptung, die moralische Bildung käme keineswegs einer Errichtung von Bürgertugenden gleich, überzeugt nicht vollkommen. Sie trifft nur insofern zu, als man von einer anspruchsvollen Bedeutung von „Bürgertugenden“ ausgeht (etwa wie manche Kommunitaristen bzw. Zivilrepublikaner). Wird aber Bürgertugend zunächst und minimal als die Fähigkeit beschrieben, über das bloße rechtlich Gebotene hinauszugehen (eine Lesart, die mit Kants Position durchaus vereinbar ist), so gewinnt die moralische Bildung der Bürger wohl die Züge einer „Errichtung von Bürgertugenden“. Niesen neigt m. E. eher zu einer Lektüre von Kants Position, die den Königsberger in die Nähe von Mandeville und vor allem Adam Smith rücken lässt, denn er würde die Idee vertreten, dass die privaten Konflikte paradoxerweise in eine höhere soziale Harmonie münden würden (Niesen 2001, 593 ff.). Tatsächlich behauptet Kant an dieser Stelle jedoch lediglich, dass die Natur die Menschen zu dem treibt, wozu die Vernunft „verehrt aber zur Praxis ohnmächtig“ (VIII 366; kursiv – A. P.) sie nicht führen kann, nämlich zur Errichtung einer politischen, durch Gesetze geregelten Gemeinschaft, d. h. zur Errichtung eines Staates. Er behauptet weiter, dass in einer solchen Vereinigung, wenngleich sie auch vergleichsweise aufgezwungen ist (in der Idee definiert Kant sie als „pathologisch“, vgl. VIII 21), die negativen Wirkungen des individuellen Egoismus so neutralisiert werden, dass er kaum mehr vorhanden zu sein scheint. Aber das kann nur dann geschehen, wenn kein besonderes Interesse über die anderen die Oberhand gewinnt (deswegen folgt Kant sowohl im Gemeinspruch als auch in der Rechtslehre der aristokratisch-republikanischen Tradition vieler Autoren (vgl. unten 7.2) und schließt aus der aktiven Staatsbürgerschaft, d. h. aus der konkreten politischen Teilnahme, denjenigen aus, der nicht „sein eigener Herr (sui iuris)“ ist und kein „Eigentum habe [...], welches ihn ernährt“ (VIII 295; vgl. auch VI 314 f.; vgl. oben 5.12). Kant spricht weder von einer vollkommenen Harmonisierung der Privatinteressen miteinander noch von einer Eliminierung ihres gegenseitigen Konfliktes, sondern nur

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von der Tatsache, dass innerhalb republikanischer Institutionen (einschließlich der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Staatsbürgerschaft) die Auswirkungen eines solchen Konflikts neutralisiert werden – wohlgemerkt: innerhalb und mittels der republikanischen Institutionen, nicht dank einer unsichtbaren Hand oder dank geheimnisvoller, der Gesellschaft oder dem Markt inhärenter Mechanismen. Die Neutralisierung der negativen Auswirkungen des Egoismus kann nur auf der politischen Ebene stattfinden. Nicht zufällig findet in der Rechtslehre der Staat seine logisch-rechtliche (nicht moralische oder geschichtliche) Rechtfertigung in der Sanktionierung der privatrechtlichen Beziehungen, insbesondere der Eigentumsverhältnisse. Der Sinn der Rechtfertigung ist also nicht die Sanktionierung des vorstaatlichen status quo, wie manche Interpreten meinen (z. B. Saage 1973 und Zotta 2000) – als ob Kant versuchen würde, den „ungerechten Pakt“ zu legitimieren, von dem Rousseau im zweiten Discours spricht. Kants Position sieht im Gegenteil die Unterordnung der zivilen Gesellschaft (im Hegelschen Sinne) dem Staat gegenüber vor. Die rechtlichen Verhältnisse, die sich innerhalb der Ersteren herausgebildet hatten, sind so lange bedeutungslos, bis sie der Letztere durch seine sanktionierende Tätigkeit nicht endgültig („peremptorisch“) macht. Nur innerhalb der staatlichen Institutionen erreichen die Individuen die wahre Freiheit – eine Freiheit, die im vorstaatlichen Zustand notwendigerweise nichtdeterminiert und inhaltslos ist. Außerdem behauptet Kant in der Passage, in der er die Teufels-Republik erwähnt, dass die republikanischen Institutionen zur Eliminierung des Phänomens der heutzutage sogenannten ‚Trittbrettfahrerei‘ führt (der Ausdruck war zu Kants Zeiten selbstverständlich unbekannt). Im Gegensatz zu Hobbes, der im Kapitel 15 des Leviathan die Verteidiger dieser Haltung als „Narren“ bezeichnet hatte, hält Kant sie für „vernünftige Wesen“, und diesem Zusammenhang ist außerdem zu entnehmen, dass er unter solchen Wesen neben den Teufeln die Totalität der Menschen versteht. Dank der republikanischen Institutionen bleibt solche parasitäre Haltung in der Praxis wirkungslos, ohne dass die Individuen sie jedoch aufgeben müssen. Auch darin zeigt sich, dass Kants Republik das Konfliktpotenzial der einzelnen Interessen nicht eliminiert – im Gegenteil, sie lebt davon, denn sie ist aus ihr (dank der ungeselligen Geselligkeit) entstanden. Die Republik ermöglicht lediglich die friedliche Koexistenz der einzelnen Interessen. Aber das ist für Kant nicht genug. Es ist notwendig, wie er in der Idee schreibt, dass „so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes“ verwandelt werden kann (VIII, 21; vgl. unten 5.19). Man kann daher im Anschluss an Niesen auf folgende Thesen in dieser Passage hinweisen: 1. Die Natur zwingt die Menschen, trotz ihrer selbstsüchtigen Neigungen, miteinander so zu leben, dass die zerstörende Kraft jener Neigungen aufgehalten wird. Dafür wird von den Individuen keine besondere moralische Einstellung gefordert, vorausgesetzt, dass man über eine „gute Organisation des Staates“ verfügt. 2. Die republikanische Verfassung ermöglicht somit den Individuen, weiter ihren Privatinteressen nachzugehen, da sie die zerstörerischen Kräfte und die Konfliktpotentiale, die von der Verfolgung dieser Interessen ausgelöst werden, so kanalisieren kann, dass im Endeffekt die Menschen „keine solche böse Gesinnungen“ zu haben scheinen.

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3. Während zu einer guten Verfassung keine guten Menschen notwendig sind, ist aus ihr „die moralische Bildung eines Volkes zu erwarten“. Punkt 1. und Punkt 2. scheinen denselben Inhalt zu haben, aber in der Tat ergänzen sie sich gegenseitig. Der erste besagt nämlich, dass Individuen von Natur aus ihre Interessen verfolgen, und dass dadurch Konflikte entstehen; und dass die Natur selbst (durch die „ungesellige Geselligkeit“ vom 4. Satz der Idee) die Individuen in einen Zustand zwingt, in dem die Konflikte ohne Moralisierung der Individuen neutralisiert (nicht: eliminiert) werden können.54 Der zweite besagt, dass diese Neutralisierung nur im Rahmen einer republikanischen Verfassung geschehen kann, dass also diese Verfassung die einzig mögliche „gute Organisation des Staates“ ist. Das ist insofern entscheidend, als Kant ausdrücklich verneint, dass der Interessenkonflikt unter den Menschen anders als durch die republikanische Verfassung gelöst werden kann. Im Unterschied zur Idee eines selbstregulierenden marktwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Mechanismus, der auch ohne staatliche Intervention funktionieren würde, geht Kants Auffassung von der Überzeugung aus, eine gute, d. h. republikanische Organisation des Staates sei zur Neutralisierung dieses Konfliktes notwendig.

5.19. Moralisierung durch Recht Kants Trennungsthese scheint in seinen geschichtsphilosophischen Schriften zum Teil aufgehoben zu werden, nämlich dort, wo Kant von einer Moralisierung der Menschen durch das Recht spricht. In der Tat versteht Kant hier unter Moralisierung etwas anderes als die individuelle moralische Vervollkommnung. Letztere bleibt Aufgabe anderer Institutionen als der staatlichen, in primis der Familie und/oder des Pädagogen, wie z. B. des Lehrers des moralischen Katechismus, von dem Kant in der Tugendlehre einige „Bruchstücke“ anbietet (VI, 480 ff.). In der Religionsschrift betont Kant mit Entschlossenheit, dass die Moralisierung der Individuen keine staatliche Aufgabe sein kann und darf (VI, 96; vgl. oben 5.16). Es ist also undenkbar, dass der Staat in Richtung einer solchen Moralisierung handeln kann. Das Wort bezieht sich vielmehr auf einen Prozess, durch den die menschliche Gattung einen Zustand wachsender Rechtssicherheit und schließlich des ewigen Friedens erreichen sollte. Die Benutzung des Begriffs der Moralisierung bietet tatsächlich die Möglichkeit eines gewissen Missverständnisses an, ist jedoch im Lichte der oben eingeführten Unterscheidung von juridischer und ethischer Moralität zu verstehen: Die Erreichung eines Zustandes ausnahmsloser rechtlicher Sicherheit bzw. ewigen Friedens stellt die wichtigste Bedingung dar, damit die Individuen das Recht aus reiner Achtung (also aus juridischer Moralität) befolgen. Das erleichtert wiederum die Erreichung eines Zu54 Gerard Raulet hat zu Recht bemerkt, dass die bürgerliche Gesellschaft gerecht ist, nicht weil sie die Konflikte eliminiert, sondern weil sie die Konflikte auf gerechte Weise regelt – und zwar dadurch, dass sie jedem die möglichst höchste Freiheit garantiert. Die Republik besitzt daher ein zerbrechliches Gleichgewicht der Willküren, eine dynamische Wirklichkeit, die sich ständig zum Ideal der respublica noumenon hinbewegt (Raulet 1999, 57 ff.).

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standes ethischer Moralität, da sich die Individuen angewöhnen, aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln. Gegen Interpretationen, die in Kants Moralphilosophie eine ausschließlich auf abstrakten Prinzipien basierenden Ethik sehen, erweist sie sich hier nochmals als eine durchaus auf ihre praktische Anwendung bezogene Theorie: Kant betont nämlich mehrmals die Wichtigkeit der Gewohnheit bei der Entwicklung von Tugenden und auch bei der Erreichung persönlicher moralischer Vollkommenheit. Durch rein pflichtgemäßes Handeln (durch ethische Legalität) kann man zu rein moralischem Handeln (zur ethischen Moralität) kommen. Die Durchführung moralisch gebotener Handlungen lehrt die Individuen, diese Handlungen aus reiner Achtung vor dem sie gebietenden moralischen Gesetz vorzunehmen. Das gilt – wie gesagt – auch für das Recht und die juridische Moralität: Schon die Unterwerfung unter staatliche Gewalt setzt den Prozess der Moralisierung in Gang. In der Friedensschrift (in einer Fußnote des ersten Anhangs) vertritt Kant diesbezüglich eine Position, die stark an diejenige von Hobbes angelehnt ist, da sie von der Idee einer bösartigen menschlichen Natur ausgeht. In dieser Perspektive dient der Staat der Einschränkung der negativen Auswirkungen solcher Bösartigkeit und zwingt die Menschen zu jenem friedlichen Zusammenleben, dessen sie ansonsten unfähig wären. Kants Sprache erinnert an die Machiavellis oder Hobbes’, wenn er von der „Neigung zur wechselseitigen Gewalttätigkeit der Bürger“ spricht, die nur durch die „größere Gewalt“ der Regierung unterdrückt wird. Der durch Gewaltandrohung ausgeübte Zwang bewirkt jedoch eine Moralisierung der Menschen, da er die Achtung für das Recht fördert – möge auch der Gehorsam der Individuen zunächst nur von ihrer Furcht vor der staatlichen Gewalt verursacht werden. Das geschieht dadurch, dass der Staat eine wesentliche Bedingung erfüllt, auf die schon Hobbes hingewiesen hatte: Die Individuen können davon ausgehen, dass alle anderen das Recht respektieren werden, und brauchen nicht länger zu fürchten, dass sie als einzige die mit dieser Achtung einhergehenden Konsequenzen tragen werden. Es handelt sich um die Situation, die bei Hobbes dann eintritt, wenn die Individuen entscheiden müssen, ob sie auf ihr natürliches Recht verzichten müssen. Sie tun das nur unter der Bedingung, dass auch alle anderen dasselbe machen – aber die einzige Garantie dafür ist die Existenz einer äußeren Gewalt, die den Wortbrecher bestrafen kann. Der Staat schafft m. a. W. jene Rechtssicherheit, welche die allererste Bedingung dafür darstellt, dass die Bürger eine genuine Achtung vor dem Recht entwickeln können. Das ist, wie Kant betont „ein großer Schritt zur Moralität (obgleich noch nicht moralischer Schritt)“: ein ‚Schritt zur Moralität‘, weil er in Richtung rechtlicher Moralität führt; ‚nicht moralisch‘, weil er nicht aus moralischer Absicht (aus gutem Willen) stattfindet (ZeF VIII, 375 f.). Ein ähnlicher Prozess erfolgt auf der Ebene der Gattung und wird von Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften dargestellt. Dort stellt Kant der Moralisierung der menschlichen Gattung zwei Argumente entgegen: einerseits die Zivilisierung als das bloße „Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußerlichen Anständigkeiten“ (Idee, VIII 26) und andererseits die individuelle Moralisierung, welche die Maxime und das Herz des Menschen betrifft. Da sich die menschliche Gattung als Ganze weder eine Maxime aufstellt noch ein Herz besitzt, besteht ihre Moralisierung, ihr Fortschritt zum Besseren, offensichtlich nicht in einem „immer wachsende[n] Quantum der Moralität in der Gesinnung“,

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wie im Falle des Individuums. Daher definiert Kant die Moralisierung der Gattung im Streit der Fakultäten als „Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen; d. i. in den guten Taten der Menschen“, die hier lediglich wegen ihrer Gesetzmäßigkeit und nicht wegen ihrer Absicht als gut bezeichnet werden (VII 91). Wenn Kant von einer Moralisierung der menschlichen Gattung spricht, meint er also nicht, dass die einzelnen Individuen in ihrer Totalität moralisch besser werden, sondern nur, dass auf der globalen Ebene die moralkonformen Handlungen zahlreicher werden. Und nach Kant ist das nur insofern möglich, als die Herrscher stufenweise auf die willkürliche Gewaltanwendung verzichten, d. h. in dem Maße, in dem Reformen stattfinden, die auf eine Republikanisierung abzielen. Diese Reformen sollen dem Monarch allmählich die absolute Macht entziehen und sie dem Volk übergeben (auch wenn Kant an selbiger Stelle solche Folge nicht ausdrücklich erwähnt). Der Abnahme der willkürlichen Gewaltanwendung seitens des Herrschers entspricht eine Zunahme des Rechts, das von Kant der Willkür des Einzelnen entgegengesetzt wird. Die „pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung“ (VIII, 21) wird somit allmählich zu einem moralischen Ganzen (im eben spezifizierten „schwachen“ Sinne) – und zwar im Laufe eines Prozesses, in dem sich das Recht sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene langsam durchsetzt. Im ersten Fall sind die Folgen dieses Prozesses „mehr Wohlthätigkeit, weniger Zank in Prozessen, mehr Zuverlässigkeit im Worthalten u. s. w.“ (VII 91 f.). Die Moralisierung auf nationaler Ebene, d. h. die Moralisierung eines Volkes, erwirkt daher, dass Konflikte entschärft, nicht dass die Individuen besser werden. Im Einklang mit dem, was Kant in der Friedensschrift geschrieben hat, kann man ein guter Bürger sein, ohne ein guter Mensch zu sein – die zwischenmenschlichen Konflikte werden zwar kanalisiert, nicht jedoch abgeschafft. Die positiven Wirkungen werden sich dann endlich auch „auf die Völker im äußeren Verhältnis gegeneinander bis zur weltbürgerlichen Gesellschaft erstrecken, ohne dass dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden darf; als wozu auch eine Art von neuer Schöpfung (übernatürlicher Einfluss) erforderlich sein würde“ (VII 92) – d. h. ohne jene ‚neue Schöpfung‘, die nach der Religionsschrift für die Moralisierung des Individuums vonnöten ist (vgl. VI 47). Auf politischer Ebene erfordert die Moralisierung weder Herzensänderungen, noch Revolutionen in der Gesinnung, noch eine individuelle bzw. kollektive Neugeburt, sondern nur die allmähliche Durchsetzung des republikanischen Ideals, in dem das Recht seine vollkommenste Form erreicht. In dieser Hinsicht zielt der Ansatz der Idee auf Zweifaches ab: Einerseits ermöglicht er die Entwicklung einer Philosophie der Geschichte, welche die republikanische Verfassung zum letzten Ziel der Völker (und theoretisch der menschlichen Gattung) macht; andererseits bietet dieser Ansatz für Kant und die Philosophen im Allgemeinen ein wichtiges Werkzeug politischer Kritik – eine Kritik, die (wie später auch Marx sagte) sowohl als theoretischer Angriff als auch als praktische Handlung verstanden wird. Aus Kants Perspektive – sei sie die ‚reformatorische‘, die Koselleck und Langer thematisieren, sei sie die ‚revolutionäre‘, auf die sich Burg und Losurdo beziehen – gilt Folgendes: Je mehr die Institutionen in republikanischer Hinsicht verändert werden,

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d. h. je mehr die gesetzgebende Tätigkeit dem konkreten Volkswillen entspricht, um so größer ist die Freiheit der Individuen. Das geschieht nicht etwa, weil die Einschränkungen der individuellen Willkür abhanden kommen (d. h. nicht wegen einer quantitativen Zunahme individueller Freiheit), sondern weil diese Abgrenzungen von den Individuen, die ihnen unterstehen, selbst festgesetzt werden (d. h. wegen einer qualitativen Zunahme individueller Freiheit). Der Republikanismus – verstanden als Republikanisierung – stellt mithin eine allmähliche Durchsetzung der individuellen Freiheit auf immer höheren Stufen dar. Das kritische Potenzial des politischen Denkens von Kant wird häufig unterschätzt, obgleich es auch in den rechtlich-politischen Werken vorhanden ist, die üblicherweise eine eher statische Auffassung des status quo aufweisen. Selbst der Begriff des Gesellschaftsvertrages nimmt in jenem Kontext eine potenziell umstürzlerische Rolle an. Kant – wie schon Hobbes und Rousseau – ist sich der Tatsache bewusst, dass der Ursprung von Recht und Staat keineswegs in einem freiwilligen Zusammenkommen, sondern vielmehr in der Furcht vor Gewalt und letztlich in der blanken Macht liegt. Der historische Ursprung politischer Institutionen ist daher weder rational noch moralisch legitim. Es sind die Menschen, die den Institutionen Rationalität und Legitimation durch den Begriff des ursprünglichen Vertrages verleihen müssen. Dabei formulieren sie jedoch eine normative Auffassung solcher Institutionen, welche die konkrete politische Verfassung unvermeidlich beeinflusst. Die angebliche Rechtfertigung a posteriori des status quo, die Kant von einigen Interpreten vorgeworfen wird, erweist sich in der Tat als Werkzeug für eine Kritik und eine Veränderung der faktischen politischen Verhältnisse. Deshalb wird bei Kant das Recht, vorhandene Institutionen im republikanischen Sinn zu kritisieren und zu verändern, zur eigentlichen Pflicht und zur ersten und wichtigsten politischen Tugend55 (vgl. unten 5.20).

5.20. Kants demokratische Tugenden: Kritik als Bürgertugend? Judith Shklar setzt Kant Aristoteles entgegen, nicht jedoch um die Tugendethik gegen eine rein formale auszuspielen (das ist, wie gesehen, eine falsche Alternative: vgl. oben 5.13 und passim), sondern um den „demokratischen“ Charakter der Kantischen Ethik (die nach ihrer Meinung durchaus eine Tugendethik ist: Shklar 1984, 232) hervorzuheben. Kants Mensch und Bürger erkennt die anderen als seinesgleichen im Sinne von gleichwürdigen Menschen an und schuldet ihnen in erster Linie Respekt: eine Haltung, die alle annehmen können. Im Gegensatz zu Aristoteles, für den nur einige Individuen aufgrund ihrer personellen Eigenschaften bestimmte Tugenden entwickeln können (Politik III, 4; 1276b35), sind alle Menschen imstande, tugendhaft im Kantischen Sinn zu werden: „Anyone can in principle aspire to become a Kantian good character. It requires no special gifts of intelligence, beauty, wealth, or good luck. You do not have to be an

55 Zur Rolle des Philosophen als Kritiker politischer Verhältnisse mit Bezug auf Kants eigene Position vgl. Knippenberg 1993.

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aristocratic, superbly endowed Greek male to be a decent character. This is a thoroughly democratic liberal character, built to preserve his own self-respect and that of others, neither demanding, nor enduring servility“ (a. a. O., 233).56 Im Unterschied zu Aristoteles’ tugendhaftem Mann, der nur ein relativ wohlhabender freier Bürger sein kann (Frauen, Sklaven, einfache Arbeiter bleiben von diesem Ideal ausgeschlossen), kann in Kants Vorstellung jeder Mensch tugendhaft werden, auch Frauen und auch unselbstständige Arbeiter.57 Und was von einem Menschen verlangt wird, damit er sich tugendhaft nenne, kann auch von jedem vollbracht werden, denn Tugendhaftigkeit ist nur durch Selbstdisziplin, durch Verzicht auf Lasterhaftes und durch Übung in guten Taten zu erreichen (auch wenn es keine Garantie gibt, die dann tatsächlich erreicht wird, bzw. dass die Absichten unserer Handlungen immer rein moralisch sind). Und trotzdem behauptet Kant keineswegs, ein solcher Charakter sei für die Errichtung bzw. Erhaltung einer liberalen Republik notwendig, wie Shklar auch feststellt. Und noch weniger fordert er, dass ein solcher Charakter durch direkten Einfluss staatlicher Institutionen bzw. irgendeiner Autorität geschafft oder verordnet werden darf, denn das stünde im Widerspruch zum eigentlichen Begriff eines tugendhaften Charakters. Im Gegenteil: Die Individuen müssen freigelassen werden, den eigenen Charakter so zu bilden, wie es ihnen beliebt. Der Staat muss dabei lediglich die Bedingungen aufstellen, damit sie das in Freiheit und Frieden machen können. Die Freiheit der Bürger ist für Kant (und für Montesquieu, den Shklar hier erwähnt) wichtiger als ihre Tugendhaftigkeit (a. a. O., 235). Gute Bürger brauchen eben keine guten Menschen zu sein, wie Kant in der Friedensschrift betont hatte. Eine freiheitliche Regierung wird vielmehr imstande sein, sie zu guten Menschen zu bilden – aber das ist keine notwendige oder erstrangige Aufgabe für sie. Kants Anspruch an den liberalen Staat ist wesentlich bescheidener, und Shklar fasst ihn gut zusammen: „Liberal government for bad characters did not promise us that freedom would make us good; it merely argued that it would remove the most horrible obstacles to any ethical undertaking that we might conceivably try“ (a. a. O., 236). Es ist allerdings nicht klar, ob Kants Ethik deswegen die ideale Ethik des Liberalismus ist, wie Shklar meint, und das aus zwei Gründen: Es ist erstens fraglich, ob der Liberalismus einer Ethik bedarf; und es ist zweitens fraglich, ob diesbezüglich Kants Tugendethik bzw. seine Ethik im Allgemeinen in Frage käme. Die erste Frage werde ich in Kapitel 7. behandeln; hier möchte ich mich mit der zweiten auseinandersetzen. Kant habe nach Shklars Meinung zwar die Errichtung einer Republik vom guten Charakter ihrer Bürger unabhängig gemacht, das sei jedoch geschehen, um Machiavellis Argument zu schwächen, die menschliche Natur sei eine solche, dass eine Republik nur dann möglich ist, wenn die Bürger tugendhafte Menschen sind: Ansonsten können sie nur durch Macht und Furcht (durch einen absoluten Herrscher, den Fürsten) gezügelt werden (Shklar 1984, 234). Kant habe deswegen die Frage nach der Moralität der Individuen 56 Eine Verteidigung von Aristoteles gegen diese und ähnliche Kritiken (und gleichzeitig eine Attacke gegen die gegenwärtigen Vertreter liberaler Positionen und Verteidiger des Vorrangs der Rechte vor dem Guten) findet in: Beiner 1992 statt. Eine Replik darauf in: Larmore 1992. 57 Gleichzeitig jedoch folgt Kant Aristoteles darin, dass er beiden Gruppen von Menschen die Fähigkeit abschreibt, vollkommene Staatsbürger zu sein, wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 5.12).

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und die Frage nach der Errichtung guter Institutionen voneinander abgekoppelt. Er habe jedoch diese Institutionen so bedacht, dass sie die Entwicklung eines guten Charakters erst ermöglichen: „The only opportunity, the only hope we can possibly have for selfimprovement, is under conditions of freedom and the strict enforcement of legal rules. In the end, the purpose of politics is to serve our capacity, minuscule though it be, for putting together a better set of dispositions than we have done so far.“ (Shklar 1984, 234) In Shklars Lesart sind Politik und Recht der Moral in dem Sinne untergeordnet, dass ihr letzter Zweck in der Schaffung der Bedingungen besteht, unter denen Menschen einen guten (oder mindestens einen besseren) Charakter entwickeln können. Das scheint Kants Auffassung nicht zu entsprechen. Der Königsberger Philosoph sagt zwar, aus einer guten Verfassung sei die moralische Verbesserung der Bürger zu erwarten, macht jedoch niemals aus dieser Moralisierung den wahren Grund für die Errichtung einer Republik. Die moralische Begründung der Notwendigkeit der Republik besteht vielmehr in der Tatsache, dass erst in ihr die Menschen (äußerlich) frei sind, und dass das eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für die individuelle Durchführung moralischer Handlungen ist, wie wir schon gesehen haben (vgl. oben 5.16). Und wir haben auch gesehen, wie die moralische Verbesserung durch gerechte, republikanische Institutionen auf der Gattungsebene, daher nur mittelbar auf der individuellen Ebene stattfindet (vgl. 5.19). Indem Shklar aus der individuellen Moralisierung den wahren Grund für die Errichtung der vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung macht, schmuggelt sie durch die Hintertüre das herein, was Kant durch die Vordertüre aus seiner Republik gebannt hatte, als er die Metapher der rationalen Teufel eingeführt hatte. In seiner Darstellung von Kants Beitrag zu einer Theorie der liberalen Bürgertugenden geht Peter Berkowitz – im Unterschied zu Shklar – von einem Kantischen Ausgangspunkt aus und identifiziert den Grundzweck der Politik mit dem Schutz der individuellen Freiheit als äußerer Freiheit (Berkowitz 1999, 111). Innere Freiheit kann nämlich unmöglich durch äußere Gesetze berührt werden (sie kann also von ihnen weder geschützt noch erzwungen werden). Das Recht und die politischen Institutionen haben daher keine direkte Auswirkung auf unsere innere Freiheit, d. h. auf unsere Moralität. Und sie gründen auch nicht auf unserem guten Charakter, sondern nur auf unserem „Verstand“ – jene Eigenschaft, die Kant auch von seinem Volk von Teufeln fordert. Berkowitz sieht allerdings in dieser Eigenschaft weit mehr als die einfache Fähigkeit, das eigene Interesse festzustellen: „Kant’s devils with understanding grasp long-term or enlightened self-interest; they possess the capacity to respond to institutional incentives and legal sanctions so as to perform the acts enlightened self-interest counsels.“ Daher wird es auch für ein Volk von Teufeln notwendig sein – wenn sie eine liberale Republik errichten und behalten wollen –, wenigstens jene geistigen und moralischen Eigenschaften zu erlangen, die als Mindestziel den Respekt der Staatsgesetze (was wir im Anschluss an Höffe „Rechtssinn“ genannt hatten) ermöglichen. „Whether one gives these qualities the name ‚virtue‘ is less important than appreciating that, on Kant’s own account, liberal republics require them, and, though Kant does not delve deeply into the matter, that since they do not arise spontaneously, particular beliefs, practices and associations must be instituted and sustained to foster them.“ (Berkowitz 1999, 127) Berkowitz neigt wie Shklar dazu, die notwendigen subjektiven Bedingungen für die Errichtung einer

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Republik moralisch zu überfrachten. Was Kant von seinen Teufeln verlangt, ist die Fähigkeit, ihr eigenes Interesse zu erkennen. Dass es sich dabei nicht bloß um das unmittelbare, gegenwärtige Interesse, sondern eher um das langfristige, „aufgeklärte“ (Berkowitz) Interesse handelt, kann man noch vermuten, obwohl Kant das nicht sagt. Diese Fähigkeit kann man jedoch auf bloßer prudentieller Basis ergründen, und sie muss nicht so weit gehen, besonders moralische Haltungen einzuschließen. Auch die andere von Berkowitz erwähnte Eigenschaft, unser „Rechtssinn“, besitzt keinen eigentlichen moralischen Charakter. Und die Frage, ob eine Republik auch ohne sie auskommen und sich den Gehorsam ihrer Bürger durch bloße Gewaltandrohung sichern kann, ist – wie schon oft betont – eine empirische Frage, die eher prudentielle Lösungen à la Hobbes zulässt. Ich glaube, dass beide Lesarten die wahre Dimension politischer Tugenden bei Kant nicht richtig erfassen. Shklar macht aus ihnen bzw. aus dem guten liberalen Charakter, den die Republik fördert, die Bedingung für die Entwicklung genuin moralischer Tugenden: Gute Verfassungen würde demnach gute Bürger erzeugen, damit diese dann zu guten Menschen werden. Der von Berkowitz entwickelte Gedanke, die Bürger einer Republik müssten die Fähigkeit entwickeln, ihr „aufgeklärtes“ Interesse zu begreifen, verweist auf eine traditionell republikanische Idee, die besonders klar in Rousseaus Begriff des Gemeinwillens auftritt. Es ist die Idee, dass es für die Individuen ein höherrangiges Interesse gibt, das schließlich mit dem allgemeinen Interesse deckungsgleich ist. Die geforderte politische Tugend ist somit die ‚republikanische‘ Einsicht in die Notwendigkeit, das Gemeinwohl zu verfolgen. Damit wäre Kant von Rousseau kaum zu unterscheiden, was die Frage der Haltung angeht, die der Staatsbürger annehmen sollte. Während bei Shklar die politischen Tugenden instrumentellen Charakter in Bezug auf die zu entwickelnden moralischen Tugenden haben, besitzen sie bei Berkowitz einen instrumentellen Charakter in Bezug auf die Erreichung des Gemeinwohls. Bei Kant hingegen dienen die politischen Tugenden nur zur Errichtung einer möglichst vollkommenen republikanischen Verfassung. Ihr Zweck (denn sie haben natürlich einen Zweck: Kants Ethik ist eben nicht bloß formeller Natur; vgl. oben 5.13 und 5.14) ist daher politisch immanent, weist nicht auf die moralische Sphäre hin, wie Shklar meint. Kant geht jedoch über die einfache Verfolgung des Gemeinwohls einer konkreten politischen Gemeinschaft hinaus (was nach Berkowitz der Zweck solcher Tugenden sein sollte), um auf die weitgehendere, internationale Dimension der Republikanisierung hinzuweisen. Sandra Seubert hat auf eine Unterscheidung hingewiesen, die m. E. nicht nur Kants diesbezügliche Position besser erläutert, sondern ihre Differenz zur Auffassung der Bürgertugenden klar hervorhebt, die sowohl Hobbes als auch die Republikaner haben. Man kann, wie Hobbes und die Republikaner, von einem „guten Bürger“ in einem rein funktionalistischen Sinne sprechen. Der gute Bürger wäre dann jener, der die Eigenschaften besitzt, „die nötig sind, um die jeweilige politische Ordnung, was immer es auch für eine sein mag, zu unterstützen“ (Seubert 1999, 16). Man kann jedoch den guten Bürger auch als jenen betrachten, der dazu beiträgt, eine gerechte politische Ordnung, wie z. B. die Kantische Republik, aufrechtzuerhalten – und zwar eine Ordnung, die an sich gerecht ist, nicht als Mittel zur individuellen Moralisierung. Insofern sollte man bei Kant weniger von Bürgertugenden, die vom Staatsbürger als solchem zu erwarten sind, als vielmehr von politischen Tugenden sprechen – d. h. von Tugenden, die weniger mit der

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eigenen Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft, und mehr mit der Errichtung gerechter Institutionen im Allgemeinen (auf nationaler und auf internationaler, tendenziell auf globaler Ebene) zu tun haben. Mit dem Versuch Sandra Seuberts, die mit Kant über Kant hinausgehen will (sie versucht, eine bei Kant nicht vorhandene Theorie der Bürgertugenden durch Elemente zu begründen, die sie aus dem Kantischen Œuvre übernimmt: Seubert 1999) werde ich mich hier nicht auseinandersetzen. Vielmehr möchte ich zeigen, dass sich der Bürger bei Kant mit einer umfangreichen und moralisch anspruchsvollen Agenda konfrontiert sieht, die weit über seine Rolle als Staatsbürger hinausgeht. Da die darin enthaltenen Pflichten weit über die einfachen Rechtspflichten (für welche die bloße Konformität mit den Gesetzen, d. h. die bloße Legalität erforderlich ist) hinausreichen, und da sie vom Individuum fordern, dass es eine bestimmte innere Haltung annimmt (und das bedeutet, dass sie die Moralität betreffen), kann man von richtigen Tugenden sprechen. Man muss allerdings bedenken, dass es sich nicht um die Bürgertugenden der republikanischen Tradition handelt, wie z. B. Bescheidenheit, Bereitschaft, das eigene Interesse zugunsten des Gemeinwohls zu opfern, Bereitschaft, für die Republik zu kämpfen, militärische Tapferkeit, Vaterlandsliebe. Kants politische Tugenden sind sui generis und stehen häufig dem Bürgerideal des Zivilrepublikanismus entgegen, da sie auf eine weitgehendere Dimension als die einer einzelnen politischen Gemeinschaft verweisen.58 Die erste und wichtigste jener Tugenden besteht, wie betont, in der republikanischen „Denkungsart“, d. h. im Willen, die eigene politische Gemeinschaft nach einer republikanischen Verfassung zu organisieren. Da Kant dem republikanischen Ideal den Charakter eines Vernunftgebots zuspricht, erteilt er jedem Individuum die Aufgabe, die Realisierung dieses Ideals zu ermöglichen. Offenbar muss das zunächst innerhalb der eigenen politischen Gemeinschaft geschehen; da es sich jedoch um eine moralische Pflicht handelt, müssen die Individuen alles tun, damit das Ideal allerorts realisiert wird. Der Republikanismus ist ein Prozess, der gleichzeitig alle Bürger eines Einzelstaates, jeden Staat in seinen Beziehungen zu anderen Staaten und jeden Menschen in seinen Beziehungen mit allen fremden Staaten betrifft.59

58 Joaquim Salgado identifiziert dabei drei Arten von Verpflichtungen, die stufenweise zur Errichtung eines Zustandes ewigen Friedens führen sollten: „1) Die Verpflichtung für alle, in eine bürgerliche Gesellschaft einzutreten; 2) die Verpflichtungen für alle, einschließlich des Staatsoberhaupts, einen durch eine republikanische Verfassung organisierten Staat, in dem a) jeder nur dem Gesetz gehorcht, an dessen Erlassung er teilgenommen hat, und b) die Gewalten so verteilt sind, dass die gesetzgeberische dem Volke zukomme, und letztere diese Funktion durch Repräsentanten ausübt, so dass die vom Gesetzgeber gesetzten Gesetze eine solche Natur haben, als sie durch den Willen des gesamten Volks entstanden sind; 3) der ewige Frieden unter den Völkern – verstanden als das höchste politische Gut und als der Zustand, in dem Moralität und Glückseligkeit (respektive durch Aufhebung der Gewalt und durch Beiseitigung des Kriegs) – unter den Menschen auf der Erde realisiert werden muss“ (Salgado, 21995, 295; Übersetz. – A. P.). 59 Es handelt sich um dieselbe Triade, die im Fall des Rechts ein nationales öffentliches Recht, ein internationales öffentliches Recht oder Völkerrecht und ein internationales Privatrecht oder Weltbürgerrecht entstehen lässt.

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Der Republikanismus, oder besser gesagt: die Republikanisierung, findet sowohl auf der nationalen Ebene als Reform der politischen Verfassung des Einzelstaats statt als auch auf internationalen Ebene als Erweiterung der republikanischen Verfassung auf immer mehr Staaten – genauso wie im gegenwärtigen politischen Denken von Demokratisierung die Rede ist, sowohl auf nationaler Ebene (nämlich als Erweiterung der demokratischen Entscheidungs- und Kontrollmechanismen auf immer breitere Gebiete) als auch auf internationaler Ebene (nämlich als Erweiterung der demokratischen Regierungsart auf eine immer wachsende Anzahl von Staaten). In dieser Hinsicht stellt die Verpflichtung, einen republikanischen habitus mentis anzunehmen, eine patriotische und gleichzeitig wahrhaft kosmopolitische Tugend dar. Sie ist insofern patriotisch, als sie dem politischen und moralischen Fortschritt der eigenen politischen Gemeinschaft dient (im Gemeinspruch bezeichnet Kant jede republikanische Regierung als eo ipso „vaterländisch“. VIII 291); sie ist insofern kosmopolitisch, als sie dem politischen und moralischen Fortschritt der menschlichen Gattung dient. Man kann also mit Nussbaum, Kleingeld und Höffe und gegen Riedel feststellen, dass bei Kant Vaterlandsliebe und Kosmopolitismus keine sich einander ausschließende Haltungen sind, sondern sich einander notwendigerweise ergänzen (vgl. Riedel 1996, Nussbaum 1997, Kleingeld 2000 und Höffe 2001).60 Hauptmotor des Republikanisierungsprozesses ist daher für Kant die Haltung der Bürger den Institutionen gegenüber – und das sowohl in Bezug auf den eigenen als auch auf fremde Staaten. Im letzten Fall stellt ein jedes Individuum einen Teil jenes Publikums dar, auf dessen Urteil in Bezug auf die Französische Revolution Kant soviel Wert legt. Die positive Reaktion von Bewunderung und von einer Teilnahme, „die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbun60 Riedel bezieht sich auf die Anthropologie („So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urteilen: dass die Vermischung der Stämme (bei großen Eroberungen), welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht alles vorgeblichen Philanthropinismus ungeachtet nicht zuträglich sei“; ApH VII, 320) und auf die Reflexionen, insbes. R 1353 („Weil er eine absicht der Vorsehung ist, dass Völker nicht zusammenfließen, sonder durch zurücktreibende Kraft unter einander im conflikte seyn, so ist der Nationalstolz und der Nationalhass zu trennung der Nationen notwendig“ R 1353, XV 590). Er zitiert auch die unmittelbar darauf folgende Stelle, in der Kant schreibt: „Regierungen sehen diesen Wahn gerne. Dieses ist der Mechanismus in der Welteinrichtung, welcher uns instinktmäßig verknüpft und absondert. Die Vernunft giebt uns andrerseits das Gesetz, dass, weil instincte blind seyn, sie die Thierheit an uns zwar dirigiren, aber durch Maximen der Vernunft müssen ersetzt werden. Um deswillen ist dieser nationalwahn auszurotten, an dessen stelle patriotism und cosmopolitism treten muss.“ (R 1353, XV 590 f.) Das hindert jedoch Riedel nicht, daran zu schließen: „Kein Zweifel: Kant bekämpft den Aufklärungsgedanken universaler Menschheitsverbrüderung“ (Riedel 1996, 342) – ein Urteil, das eher auf Rousseau zutrifft (vgl. oben 4.20). Wenn Kant übrigens jede republikanische Regierung als „vaterländisch“ bezeichnet (RL VI, 317), bezieht es sich weniger auf Vaterland im Sinne von Nation (wie Riedel zu meinen scheint) als vielmehr im Sinne von Gesamtheit der Staatsbürger. Im Völkerrecht (§ 53) bezeichnet Kant zwar die Republik als eine „Familie (gens, natio)“, deren Glieder die Staatsbürger sind; er betont jedoch, dass es sich um eine Analogie handelt: „Die Menschen, welche ein Volk ausmachen, können, als Landeseingeborene, nach der Analogie der Erzeugung von einem gemeinschaftlichen Elternstamm (congeniti) vorgestellt werden, ob sie es gleich nicht sind.“ (RL VI, 343; kursiv – A. P.)

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den war“, stellt für Kant den Beweis der „moralische[n] Anlage im Menschengeschlecht“ dar (VII, 85). Auf nationaler Ebene ist die Lage komplexer. Dort ist es nämlich nicht ausreichend, Sympathie oder Anteilnahme zu zeigen, sondern notwendig, auf den Republikanisierungsprozess direkten Einfluss zu nehmen. Kant zeigt sich jedoch ziemlich misstrauisch gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten der gemeinen Bürger. Meines Erachtens ist Kants größte Furcht diejenige, dass die Individuen die Institutionen aus instrumentellen Gründen kritisieren könnten, d. h. dass sie der Tendenz unterliegen, sich dem Gesetz zu entziehen – eine Tendenz, welche die Kehrseite jener Tendenz darstellt, sich öffentlichen Gesetzen zu unterwerfen. Nicht zufällig geht bei Kant die Verurteilung jeder durch die gemeinen Bürger ausgeübten Kritik mit der Ablehnung des Widerstandsrechts zusammen (VI 318 ff.). Aber auch wenn nicht jeder Bürger die staatliche Autorität kritisieren darf, ist das mindestens einigen Individuen erlaubt, nämlich den Gelehrten, Philosophen und Wissenschaftlern, die durch ihre Kritik der Vernunft Stimme verleihen, wie im Aufsatz über die Aufklärung ausdrücklich betont wird (vgl. oben 5.11). Die Intellektuellen nehmen also jene Aufklärungsarbeit vor, ohne die das Volk seinen Zustand von Unmündigkeit nicht verlassen kann. Die Individuen, die diesen Zustand verlassen haben, müssen dann die Tätigkeit der Institutionen bewachen und eventuelle Missstände und Missbräuche denunzieren. Wie Judith Shklar behauptet, besteht die Haupttugend der Bürger einer liberalen Demokratie schließlich darin, ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Handeln von Institutionen und vor allem gegenüber den Regierenden zu haben. (Shklar 1984, 238). Die Erziehung des Volkes, von der Kant in der Passage zur Teufels-Republik spricht, scheint daher die Züge einer Erziehung zur politischen Analyse und Kritik anzunehmen. In Anlehnung an Samuel Fleischacker können wir auch sagen, dass in Kants Augen die Urteilskraft die wichtigste Fähigkeit im politischen Leben ist (Fleishacker 1999, 193 f.). Nicht zufällig besteht im Gemeinspruch die Hauptaufgabe der Bürger nicht so sehr im „Räsonieren“ oder in philosophischer Spekulation, sondern im „Beurteilen“ (wie man auch der ständigen Wiederkehr dieses Wortes im Text entnehmen kann). In diesem Kontext besitzt das Wort „beurteilen“ eine doppelte Bedeutung (noch eine Zweideutigkeit!). In einem ersten Sinn bedeutet „beurteilen“ die Feststellung einer Handlungsrichtlinie durch die Anwendung einer allgemeinen Regel (hier die republikanische Verfassung) auf Einzelfälle. „Beurteilen“ heißt in einem zweiten Sinn jedoch auch, das Handeln anderer Individuen, z. B. das des Monarchen oder der Regierenden, zu bewerten. Die beiden Bedeutungen schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil: Es ist möglich, das Handeln der Regierung dadurch zu beurteilen, dass man sich des republikanischen Ideals als Urteilskriteriums bedient. Und es ist möglich, Vorschläge zu unterbreiten, die sich in Richtung auf jenes Kriteriums hin orientieren –wie es die Gelehrten beim öffentlichen Gebrauch ihrer Vernunft machen sollten. In jedem Fall ist es erlaubt, das politische Handeln der Regierenden zu bewerten, d. h. zu beurteilen, ob dasselbe dem Ideal der Vernunft entspricht. Man besitzt jedoch deswegen nicht das Recht, so Kant, gegen die Entscheidung der Regierung zu rebellieren (VIII 298). In der Beantwortung zitiert Kant Friedrich II.: „Räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur ge-

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horcht!“ (VIII 41). Man könnte den Satz nun so umformulieren: Beurteilt, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, nur gehorcht! Im Streit der Fakultäten scheint Kant seine Position zum Teil zu korrigieren, als er ein grundlegendes Misstrauen in Bezug auf die konkrete Möglichkeit einer Volkserziehung ausdrückt. Das nicht nur, weil eine solche Erziehung „nach einem überlegten Plane der obersten Staatsmacht und nach dieser ihrer Absicht entworfen, ins Spiel gesetzt und darin auch immer gleichförmig erhalten wird“, sondern vor allem wegen der „Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ (VII 92). Kant teilt ein derartiges Misstrauen dem Volk gegenüber mit den Jakobinern und den Anhängern des aristokratischen Republikanismus (die im Hinblick auf diesen Punkt bezeichnenderweise einer Meinung sind). Er ist außerdem überzeugt, dass nur der Monarch – nicht zuletzt dank der Ratschläge der Gelehrten – imstande sei, das Volk zu einem Zustand des Friedens zu führen – aber auch nicht weiter. Dabei ist der Widerspruch nur scheinbar ein solcher. In der Tat bezweifelt Kant lediglich die Wirkung, welche die Vernunft („verehrt aber zur Praxis ohnmächtig“) auf die Moralität der Menschen haben kann. Andererseits betont Kant noch einmal sein Vertrauen in die republikanischen Institutionen und in ihre Fähigkeit, sich selbst, unabhängig von der inneren Haltung der Bürger, zu verstärken. Seiner Meinung nach können wir das moralische Fortschreiten der Menschheit nur von einer „bloß negative[n] Weisheit“ erwarten, welche die Menschen dazu führt, den Krieg abzuschaffen, und „eine Verfassung einzuschlagen, die ihrer Natur nach, ohne sich zu schwächen, auf echte Rechtsprinzipien gegründet, beharrlich zum Bessern fortschreiten kann“ (VII 92). Die ‚republikanische Vernunft‘ ist ihrer Natur nach ausschlaggebend für den dauerhaften Fortschritt der Menschheit, denn sie hält die Moralisierung der menschlichen Gattung und die gute moralische Erziehung des Volkes in Bewegung. Kant stellt im Voraus Böckenfördes Diagnose auf den Kopf, unsere säkularisierte Demokratie basiere auf moralischen Ressourcen, die sie selbst nicht reproduzieren kann (Böckenförde 1991, 112). Er sieht vielmehr in den republikanischen Institutionen das Gegenmittel gegen die „Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“.

5.21. Fazit: Republikanisierung vs. Republikanismus Bei Kant nimmt die Frage der Bürgermoralität eine bei den anderen Bezugsautoren unerwartete Dimension ein. Die ‚republikanische Denkungsart‘ entspricht keiner der traditionellen republikanischen Bürgertugenden. Sie bezieht sich keineswegs auf die Priorität, welche die Staatsbürger dem Gemeinwohl einräumen sollten. Sie ist eigentlich überhaupt keine Bürgertugend, denn sie stellt nicht die Haltung der Bürger eines bestimmten Staates dar, sondern eine allgemeine Einstellung, die alle Menschen einnehmen sollten. Sie ist nämlich das Ergebnis des Vernunftgebotes, das zur Republikanisierung verpflichtet – und zwar auf nationaler und auf internationaler Ebene. Die Bürgertugenden werden hingegen traditionell als die Tugenden bezeichnet, die das Verhalten der Staatsbürger auf nationaler Ebene, in ihrer Beziehung zum Staat bestimmen sollten. So werden sie auf jeden Fall von unseren anderen Bezugsautoren, von der republikanischen Tradition und von jenen liberalen Theorien definiert, die sie erwähnen (vgl. unten 7.6).

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Bei Kant reduzieren sich die traditionellen Bürgertugenden schließlich auf einen allgemeinen Rechtssinn, wie wir gesehen haben: Der gute Bürger ist danach derjenige, der rechtliche Normen nicht nur aus instrumentellen Überlegungen (aus Kalkül oder aus Furcht) oder – kantisch ausgedrückt – aus Legalität befolgt, sondern aus Achtung vor den Gesetzen, aus Moralität. Im ersten Fall wäre er nämlich einfach ein gehorsamer Bürger, der – wie die Untertanen bei Hobbes – sich dem Zwang des Gesetzes beugt oder seinem wohlüberlegten Interesse folgt (er hält es für vorteilhafter, den Gesetzen zu gehorchen). Der gute Bürger hingegen gehorcht den Gesetzen aus juristischer Moralität. Die republikanische Denkungsart übersteigt jedoch diese Haltung bei weitem: Sie bezieht sich auf eine allgemeinere Dimension politischen Handelns und politischer Institutionen, die weit über diejenige einer einzelnen Rechtsordnung hinausgeht. Insofern ist sie keine Bürgertugend, obwohl sie eine genuine politische Tugend darstellt, da sie sich auf die Sphäre des Politischen, nicht auf die der Moral bezieht. Sie fordert eine Haltung, die gleichzeitig patriotisch und kosmopolitisch ist. Trotz ihrer Bezeichnung als ‚republikanisch‘ setzt sie sich somit dem klassischen republikanischen Begriff von politischer Tugend als patriotischer Bürgertugend entgegen. Darin besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Kants Position und dem traditionellen Republikanismus. Andere Elemente in Kants politischem Denken rücken es in die Nähe der republikanischen Tradition: a) Er zieht eine Herrschaft der Gesetze „in abstracto“ einer Herrschaft der Gesetze vor, die konkret vom Volk stammen; b) er misstraut der Menge sowohl in Bezug auf ihre intellektuellen Fähigkeiten (die selbstverschuldete Unmündigkeit) als auch in Bezug auf die verfolgten Interessen (Furcht vor Klientelismus; Verdacht, dass eine eventuelle Kritik an den Gesetzen und an den Gesetzgebern in Wirklichkeit aus dem Wunsch entsteht, sich den Gesetzen zu entziehen). Es gibt zudem eine Stelle der Anthropologie, die Kant als regelrechten Republikaner erscheinen lässt: „Man sieht, daß nur die letztere [d. h. Gewalt mit Freiheit und Gesetz – A. P.] eine wahre bürgerliche Verfassung genannt zu werden verdiene; wobei man aber nicht auf eine der drei Staatsformen (Demokratie) hinzielt, sondern unter Republik nur einen Staat überhaupt versteht und das alte Brocardicon: Salus civitatis (nicht civium) suprema lex esto nicht bedeutet: Das Sinnenwohl des gemeinen Wesens (die Glückseligkeit der Bürger) solle zum obersten Princip der Staatsverfassung dienen; denn dieses Wohlergehen, was ein jeder nach seiner Privatneigung, so oder anders, sich vormalt, taugt gar nicht zu irgend einem objectiven Princip, als welches Allgemeinheit fordert, sondern jene Sentenz sagt nichts weiter als: Das Verstandeswohl, die Erhaltung der einmal bestehenden Staatsverfassung, ist das höchste Gesetz einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; denn diese besteht nur durch jene.“ (Anthropologie, VII, 330 ff.) Die Erhaltung der Staatsverfassung, von der hier die Rede ist, stellt allerdings „das höchste Gesetz einer bürgerlichen Gesellschaft“ nicht in demselben Sinne wie bei den Republikanern dar: nicht also, weil die Existenz des Staates ein Zweck an sich ist. Was Kant hier verwirft, ist die Idee, der Staat existiere bloß dafür, dass die Staatsbürger als einzelne Individuen glücklich werden. Seine Existenz wird vielmehr dadurch begründet, dass er die Bedingung für die Ausübung und Weiterentwicklung der menschlichen Autonomie darstellt – und zwar sowohl der äußeren Freiheit als auch der inneren Freiheit bzw. der konkreten Realisierung moralisch relevanter Maximen.

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Kants Grundidee diesbezüglich ist klar: Die bloße Tatsache, dass man in einer rechtlichen Ordnung lebt, leistet einen wichtigen Beitrag zur individuellen moralischen Vervollkommnung. Durch das Leben in einer rechtlich geregelten Gemeinschaft lernt man, pflichtgemäß zu handeln – was zwar noch nicht dasselbe ist, wie aus Pflicht zu handeln, jedoch einen wichtigen Schritt in diese Richtung bedeutet. Das Recht zwingt uns dazu, bestimmte Handlungsgewohnheiten anzunehmen, unsere Leidenschaften und Wünsche zu zügeln, unseren Egoismus zu mäßigen (vgl. Louden 2000, 149). Zwar ist das nicht genug: Erziehung, Religion und sogar Kunst und Wissenschaften (KU V, 43361) spielen bei der Moralisierung der Individuen eine wichtige Rolle („Die Bedürfnis in beyden [in Kultur und Zivilisation, die noch keine Moralisierung der Menschen darstellen – A. P.] wird endlich die Moralisierung erzwingen, und zwar durch Erziehung, Staatsverfassung und Religion“ R 1460; XV, 641). Sie alle sind jedoch ohnmächtig, wenn die Individuen durch das Zusammenleben in einer rechtlichen Gemeinschaft nicht lernen, sich zu kontrollieren und die anderen mindestens äußerlich zu respektieren. Es gibt natürlich keine Garantie dafür, dass die Individuen aus Pflicht und nicht nur pflichtgemäß handeln werden, denn wir können niemals wissen, ob unsere Gesinnung rein moralisch ist: Wir können nur die äußeren Handlungen kennen, und in ihnen nach Spuren einer moralischen Gesinnung suchen (Rel. VI, 67). Das ist jedoch unwichtig, wenn es darauf ankommt, die Auswirkungen der Existenz staatlicher Institutionen aus einer moralischen Perspektive zu beurteilen: Ohne diese Institutionen kann sich Moralität – und zwar die individuelle Moralität – kaum konkret entwickeln. Dass eine rechtliche Ordnung individuelle Moralität fördert, heißt jedoch nicht, dass sie diese fordert. Es ist im Gegenteil keineswegs notwendig, dass die Rechtsgenossen bzw. die Staatsbürger gute Menschen sind. Gute Institutionen brauchen sogar keine guten Bürger, denn sie sind imstande, die egoistischen Triebe und die entgegensetzten Interessen zu kanalisieren und somit mögliche Konflikte zu entschärfen. Die Errichtung solcher Institutionen verlangt allerdings individuellen Einsatz: zunächst von den Regierenden, dann von den Gelehrten, schließlich von allen Individuen. Die Regierenden sollen durch Reformen zur Republikanisierung der Verfassung der von ihnen regierten Gemeinschaft beitragen. Die Gelehrten sollen ihnen dabei durch ihre aufklärende, kritische Haltung helfen. Die einfachen Staatsbürger sollen schließlich eine republikanische Denkungsart annehmen, welche die Reformarbeit ihrer Regierenden erleichtert oder sogar erzwingt (wobei die Frage offen bleibt, ob sie das durch eine regelrechte Revolution erreichen oder durch ihren – immerhin ziemlich bedrohlichen – Enthusiasmus für revolutionäre Ereignisse, die anderswo stattfinden). Die wichtigste politische Tugend, die Kant von den Staatsbürgern fordert, ist somit eine kritische Aufmerksamkeit für alles, was die Republikanisierung ihrer Gesellschaft hindert: Institutionen, rechtliche Normen, politische Entscheidungen der Regierenden usw. Sie dürfen allerdings nicht „vernünfteln“ (RL VI, 318), also über die Legitimität der obersten Staatsgewalt mit der Absicht urteilen, diese Legitimität anzuzweifeln, denn das würde bedeuten, die Legitimität der rechtlichen Ordnung schlechthin in Frage zu stellen. Da-

61 Hier ist der Einfluss von Rousseaus Abhandlung über die Künste und die Wissenschaften unverkennbar.

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her überlässt Kant die Aufgabe, die kritischen Einwände gegen die oberste Staatsgewalt konkret zu formulieren, lediglich den Gelehrten – in der Überzeugung, dass sie ihren Scharfsinn nicht dafür missbrauchen werden, um Anarchie und Unordnung zu säen. Kants schon mehrmals erwähntes Misstrauen gegen das einfache Volk darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich für eine politische Lebensform ausspricht, die weitgehend demokratisch ist, ja sogar radikal-demokratische Züge trägt. Sein Misstrauen ist zudem durch den Umstand gerechtfertigt, dass im aktuellen Zustand die Individuen noch nicht aufgeklärt, noch nicht insgesamt emanzipiert und selbstständig sind (vor allem im wirtschaftlichen Sinn), und noch allzu viel der Versuchung unterliegen, sich den Gesetzen zu entziehen. Dieser Zustand würde sich allerdings ändern, wenn erstens republikanische Umstände herrschen würden – wenn also durch institutionelle Reformen die Souveränität tatsächlich dem Volk zukäme und es sich als Autor des Rechts, nicht bloß als sein Adressat auffassen würde, die Staatsbürger sich somit als Souveräne und nicht bloß als Untertanen verstehen würden; wenn zweitens eine allgemeine Aufklärung stattgefunden haben wird, und wenn drittens schließlich die wirtschaftliche Lage jedes einzelnen Staatsbürgers politisch unbedeutend wird. Kants Misstrauen nimmt somit einen eher provisorischen Charakter an – was übrigens durchaus im Einklang mit seiner Geschichtsphilosophie steht. Es ist also möglich, dem traditionellen Republikanismus – mit seiner Orientierung am absoluten Wert des Staates gegen die Individuen, mit seiner Auffassung des Gemeinwohls als Erhaltung der politischen Gemeinschaft auch auf Kosten des individuellen Wohlseins, mit seiner Forderung nach Bürgertugenden – dem Kantischen Republikanisierungsgedanken entgegenzusetzen, der im Staat die Bedingung für die Ausübung und Weiterentwicklung menschlicher Freiheit (nicht für die einfache Verfolgung von Einzelinteressen) und daher für weitgehende politische und soziale Reformen plädiert. Wie sie konkret aussehen sollen, sagt uns Kant nicht – mit Ausnahme der allgemeinen Forderung, absolute Herrscher sollen stufenweise auf ihre uneingeschränkte Macht verzichten und sie in die Hände des Volkes bzw. von dessen Repräsentanten legen. Aber auch wenn das politische Projekt Kants unbestimmt bleibt (im Unterschied etwa zu Rousseau und seinen Verfassungsskizzen), übt es eine nicht zu leugnende Faszination aus, die den unglaublichen Einfluss erklären kann, den es noch heute auf so viele Denker hat. Es bleibt allerdings fraglich, ob man dieses Projekt ohnehin in der aktuellen Welt realisieren kann, oder ob es einer weitgehenden Revision bedarf, um überhaupt brauchbar zu sein – eine Revision, die weit über Kants Intention hinausgehen würde, um z. B. die Frage der Errichtung globaler rechtlicher Institutionen oder diejenige einer Umverteilung der Güter bzw. des Reichtums in Betracht zu ziehen. Wenn man die im 1. Kapitel erwähnten Gründe bedenkt, die in Bezug auf die Einbeziehung neuzeitlicher Theorien in die aktuelle politische Debatte mindestens zur Vorsicht raten (wenn sie nicht Perplexität entstehen lassen), erscheint eine solche ‚Operation‘ ziemlich schwer durchführbar, wenn nicht gar fragwürdig zu sein. Das führt uns somit dazu, eine Art Zwischenfazit unserer historischen Analysen zu ziehen, bevor wir auf die eher systematische Frage eingehen, ob und wie politische Tugenden in unseren liberalen Demokratien einen Platz haben können oder sollen.

Kapitel 6 Eine Art Zwischenfazit

6.1. Fehlende Perspektiven bei unseren Bezugsautoren Die ersten beiden Denker, deren Position hier analysiert wurde, leben in einer Krisenzeit. Das beeinflusst sie sowohl in Bezug auf ihr theoretisches Hauptanliegen als auch in Bezug auf die Lösungen, die sie zum Verlassen der Krise anbieten. Machiavellis diplomatische Tätigkeit fällt in eine Zeit schwerer politischer Krisen nicht nur für die Florentiner Republik, sondern für Italien insgesamt (das Land gerät immer stärker unter ausländischen Einfluss). Sein Hauptanliegen ist daher die Errichtung einer stabilen politischen Gemeinschaft in Italien und die von ihm angebotene Lösung ist die Bildung eines Nationalstaates. Hobbes schreibt in einer Zeit ungeheuerlicher Konflikte: In Europa tobt der Dreißigjährige Krieg und England wird vom Bürgerkrieg nicht nur materiell tief erschüttert. Sein Hauptthema ist ein Staat, der Frieden und Sicherheit garantiert, seine Lösung besteht darin, die absolute Macht dem Souverän zu übergeben. Es existiert allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Autoren, den Herfried Münkler „pointiert zusammengefasst“ hat: „War für Machiavelli der Staat und seine Selbsterhaltung das oberste Ziel, dem alles untergeordnet werden musste, so stand bei Hobbes die Lebenssicherung der Individuen am höchsten, der sich selbst der mächtige Leviathan zu beugen hatte.“ (Münkler 1984, 98) Um es noch einmal pointiert zusammenzufassen, könnte man auch sagen, dass dies gleichzeitig der Hauptunterschied zwischen Republikanismus (bzw. Kommunitarismus) und Liberalismus ist Münkler – der hier Macphersons Ansatz übernimmt, wenngleich nicht ausdrücklich – gibt eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Interpretation der unterschiedlichen Rangfolgen von Staat und Staatsbürger und erwähnt in Bezug auf Machiavelli und Hobbes den sozialhistorischen Abstand, „der den an einer insgesamt vorkapitalistischen Wirtschaftsordnung partizipierenden Handelskapitalismus (Florenz vom 14. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts) vor dem die Produktion nach seinen Erfordernissen umgestaltenden Manufakturkapitalismus (England im 17. Jahrhundert) trennt“ (Münkler 1984, 98). Allgemeiner könnte man sagen, dem Republikanismus und dem Liberalismus liegen zwei verschiedene Auffassungen der Gesellschaft im Allgemeinen und deren wirtschaftlicher Ordnung im Besonderen zugrunde. Trotz der wiederholten Mahnung, kein Bürger dürfe so reich sein, dass er die Stimmen anderer Mitbürger kaufen kann, schenken die Republikaner den tatsächlichen wirtschaftlichen Zuständen der Gesellschaft, die sie reformieren möchten, kaum Aufmerksamkeit – mit Ausnahme von Rousseau, dessen Vorschläge (vollkommene wirtschaftliche Autarkie; Verzicht auf Handel und Industrie, um sich auf die Landwirtschaft zu konzentrieren; Verzicht auf Geld; soziale und geographische

EINE ART ZWISCHENFAZIT

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Immobilität usw.) jedoch schon zu seiner Zeit ziemlich unrealistisch waren. Insgesamt scheinen die klassischen Republikaner eine ziemlich vereinfachte Auffassung der Wirtschaft einer modernen Gesellschaft zu haben (man denke nur an Rousseaus vereinfachende Klassifizierung der Sozialklassen in „Reiche und Arme“). Auch die Liberalen unterliegen oft der Versuchung, sich eine irenische Auffassung wirtschaftlicher und sozialer Konflikte anzueignen – wie Adam Smiths berühmt-berüchtigte Idee der „unsichtbaren Hand“ beweist. Aber insgesamt scheinen sie sich der Nichteliminierbarkeit solcher Konflikte bewusst zu sein und versuchen lediglich, Rezepte anzugeben, um das Konfliktpotential in Grenzen zu halten (das gilt für Hobbes sowie für Kant). Sicher ist die wirtschaftliche Struktur unserer Gesellschaften weit komplexer als die der neuzeitlichen Gesellschaften geworden; und das Verhältnis von Wirtschaft und Politik geht bei weitem über die Gefahr des Stimmenver- und -abkaufs hinaus, um die sich die klassischen Republikaner Sorge machten. Dieses Verhältnis findet vielmehr Ausdruck in einer zunehmenden Unterwerfung der Politik unter die Imperative der Wirtschaft oder – noch schlimmer – in deren Ausnutzung zugunsten der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen von Gruppen (möge es sich dabei um eine Minderheit der Bevölkerung oder um eine Mehrheit handeln). Gegen solche Aushöhlung des politischen Begriffs selbst kommt allerdings die klassische liberale Sorge um die rein formelle rechtliche Gleichheit zu kurz: Letztere kann sogar manchen Sonderinteressen eine konkrete Möglichkeit anbieten, um sich gegen allgemeinere bzw. gegen konkurrierende Interessen zu behaupten (vgl. 7.9). Die Denker der Neuzeit konnten zudem die Herausforderungen nicht voraussehen, die der Marxismus, der Sozialismus und die verschiedenen Arbeiterbewegungen sowohl an die ideologische Selbstauffassung der liberal-kapitalistischen Gesellschaft als auch an ihre politische und soziale Struktur stellten. Ausgerechnet die Massen der unselbstständigen Arbeiter, denen Rousseau so misstraute und Kant den aktiven politischen Status entziehen wollte, erlangten durch langwierige politische Kämpfe nicht nur volle Partizipationsrechte, sondern setzten darüber hinaus die Gewährung sozialer Rechte durch und steuerten somit einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Sozial- und des Wohlfahrtstaates bei (vgl. Anhang). Unser Staat ist nicht länger der Minimalstaat, an den z. B. Hobbes und Kant denken (möge man auch bei Kant einige Argumente zugunsten eingeschränkter Sozialrechte aufspüren: vgl. Höffe 2001, 132 ff.; vgl. dazu auch Merle 1999). Seine Aufgaben sind zu vielfältig dafür, und die rechtliche Regelung hat zu stark zugenommen und ist zu einem enormen (fast abnormen) System geworden, in dem sich zu den durch die üblichen Kanäle nationaler Gesetzgebung erlassenen Normen unzählige Normen gesellen, die Ergebnis internationaler Abkommen sind – Abkommen, die den Einzelstaaten die ausschließliche Souveränität in Bezug auf bestimmte Fragen entzogen haben. Dieses Phänomen ist nicht negativ zu bewerten, im Gegenteil, es hat viele positive Auswirkungen, aber die relativ einfache Begrifflichkeit unserer Bezugsautoren scheint mir kaum imstande, solchen Umständen gerecht zu werden. Hobbes’ absolute souveräne Macht überlebt heute häufig nur noch als rein rechtlich-formale Fiktion, die bestimmten, auf internationaler Ebene gesetzten Regelungen auf nationaler Ebene juristische Verbindlichkeit verleihen soll.

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KAPITEL 6

Andererseits zeigt der Staat seine Präsenz durch ein zunehmendes Eingreifen ins Leben der Individuen, die in seiner Gesetzeshoheit leben. Er dringt in viele einzelne Aspekte ihres Lebens ein, und zwar nicht nur durch soziale Maßnahmen (die sich eher rechtfertigen ließen), sondern durch eine ins Ungeheuerliche aufgehende Bürokratisierung und, besonders in den letzten Jahren, durch angeblich vorbeugende Maßnahmen zur Garantie der Sicherheit der Bürger selbst – Maßnahmen, die jedoch allzu häufig einen repressiven Charakter annehmen, die aus jedem Bürger einen möglichen Straftatverdächtigen machen. Republikanische und liberale Denker, die sich vehement gegen die staatliche Zensur und für die Rechte auf privacy, auf Briefgeheimnis, auf die Unantastbarkeit der eigenen Wohnung, auf die freie Meinungsäußerung aussprachen, würden sich kaum in einen Staat wiedererkennen, der in diese Rechte im Namen der angeblich bedrohten inneren und internationalen Sicherheit stark eingreift – auch dank der Hilfe einer neuen, mit öffentlichen Geldern ausdrücklich zu diesem Zweck geschaffenen Technologie. Einem Staat, der sich mehr für die Meinungen seiner Staatsbürger als für ihre konkreten Lebensumstände interessiert und bereit ist, mehr für die Einmischung in die Privatsphäre und die Anschaffung immer anspruchsvollerer Verteidigungssysteme als für die Erhaltung oder den Ausbau sozialstaatlicher Maßnahmen auszugeben, würden die meisten neuzeitlichen Denker mit großen Misstrauen begegnen – vielleicht mit Ausnahme von Hobbes und (allerdings nur zum Teil) Rousseau. Alle unsere Autoren, wie die meisten Denker der Neuzeit, beziehen schließlich ihre Auffassung vom Staat auf einen Begriff, der m. E. heutzutage eine neue Definition braucht: den Begriff des Volkes. Das Volk kann – wie bei Hobbes – stumme Ganzheit der Untertanen sein. Oder das Volk kann wiederum stumme gesetzgeberische Versammlung wie bei Rousseau sein. Oder das Volk ist in miteinander kämpfende Klassen geteilt: von den Regierenden bis zum zu kontrollierenden (oder gar zu manipulierenden) Volk – wie bei Machiavelli. Oder es handelt sich um das aufzuklärende Volk – wie bei Kant. Aber alle diese Denker geben zu, dass das Volk das entscheidende Moment einer jeglichen Verfassung ist. Der Staat entsteht nur, wenn die vereinzelten Individuen sich zu einem Volk zusammenschließen oder – wie es bei Machiavelli und Hobbes der Fall sein kann – von jemandem zusammengeschmiedet werden.1 Die politische Macht, und somit die Souveränität, geht also immer vom Volk aus: Möge es sie auch ein für allemal veräußern – wie bei Hobbes. Oder möge das Volk die Souveränität kaum ausüben und den Regierenden überlassen – wie bei Machiavelli. Oder möge es sie nur in bestimmten Angelegenheiten (bei der Versammlung) und nur zur Ratifizierung anderswo getroffener Entscheidungen ausüben – wie bei Rousseau. Oder möge seine Souveränität zunächst nur nominell eine solche sein, um dann durch einen langwierigen reformatorischen Prozess zu einer tatsächlichen, allerdings nur durch Repräsentanten ausgeübten Souveränität 1

Machiavelli postuliert sogar die Notwendigkeit dieser gewaltsamen Vereinigung durch den Fürsten, während Hobbes sie bloß als empirische Möglichkeit erwähnt (seine Perspektive ist letztlich eine legitimatorische: Deswegen schenkt er keine große Aufmerksamkeit der Frage der konkreten Entstehung von Staaten); Rousseau behandelt die Frage nicht, und Kant gibt in manchen Reflexionen aus dem Nachlass zu, rechtliche Gemeinschaften würden eher auf Gewalt und einer gezwungenen Einheit beruhen (vgl. oben 5.9).

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zu werden – wie bei Kant. Der Begriff „Volk“ ist somit von vornherein an die Idee der Souveränität gebunden. Wenn jedoch diese Idee in die Krise gerät, bleibt das Volk selbst auch nicht unbeschadet. Das wird besonders an der Tatsache deutlich, dass sich Politik (verstanden als die Fähigkeit, wirtschaftliche und soziale Macht kollektiv zu steuern) heutzutage immer mehr de-territorialisiert. In der traditionellen Auffassung von Politik übt ein Staat die Souveränität auf einem bestimmten geografischen Gebiet aus, das sein Hoheitsterritorium ausmacht. Er besitzt die rechtliche und praktische Fähigkeit, seine eigenen Entscheidungen dort durchzusetzen. Wird Souveränität als Volkssouveränität verfasst, wird sie der Bevölkerung jenes Territoriums zugesprochen. Ob deren konkrete Ausübung auch der Ganzheit der Bevölkerung oder nur einem Teil zugesprochen wird, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass sie einem Volk als dem abstrakten politischen Akteur zukommt (in der Tat gehen alle unsere Bezugsautoren davon aus, dass das souveräne Volk nur aus volljährigen Männern besteht: Hobbes und Rousseau sprechen ausdrücklich von Familienvätern, Kant schließt Frauen und unselbstständige Arbeiter aus, Machiavelli berührt die Frage nicht, schließt jedoch offensichtlich die Frauen von der Anzahl souveräner Bürger aus). Wenn nun als Folge der Phänomene, die wir Globalisierung nennen, wirtschaftliche und soziale Macht anders als durch die Steuerung durch national betriebene Politik verteilt und ausgeübt wird; wenn sich die Wirtschaft der politischen Steuerung auf innerstaatlicher Ebene entzieht, um sich in einem politisch völlig oder fast völlig unkontrollierten, internationalisierten, tendenziell globalen Markt zurückzieht; wenn somit die Gestaltungsfähigkeit der Politik auch auf innerstaatlicher Ebene stark eingeschränkt wird (da nun Wirtschafts-, Arbeits-, Steuer-, Sozial- und sogar Umweltpolitik der Einzelstaaten von den „Imperativen“ der internationalen Ökonomie bestimmt werden), dann werden die traditionelle Auffassung von Politik und auch der traditionelle Begriff von Volkssouveränität ihres Inhaltes beraubt. Wenn die Krise der Politik, die durch die Globalisierung ausgelöst wird, zur Krise des politischen Handelns wird, brauchen wir eine neue Begrifflichkeit, um derartiges Handeln neu zu denken. Ein territorial aufgefasstes Volk passt darein so wenig wie eine nur innerstaatlich ausgeübte politische Gestaltung, denn beide sind nicht imstande, der De-territorialisierung der Wirtschaft und somit den Prozessen entgegenzuwirken, durch welche nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und politische Macht verteilt wird (vgl. unten 7.9). Aus dem Vorhergesagten geht m. E. hervor, dass die von unseren Bezugsautoren angebotenen Modelle politischen Handelns kaum imstande sind, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Die Idee, dass man z. B. auf die durch die Globalisierung der Märkte verursachten Probleme mit einem Rückzug in die von Rousseau vorgeschlagene wirtschaftliche Autarkie antwortet, ist dabei genauso unhaltbar wie die Vorstellung, man könne eine Lösung durch die Errichtung von mit absoluter Macht ausgestatteten Einzelstaaten, oder durch einen verstärkten Bürgersinn, oder eine größere Tugendhaftigkeit der Bürger erreichen. Nur das Republikanisierungsideal Kants scheint dabei noch „brauchbar“ zu sein, da es auf eine mögliche Internationalisierung der politischen Partizipation und auf eine Dimension überstaatlicher rechtlicher Integration hinweist. Dabei muss man allerdings mit Kant gegen Kant vorgehen bzw. kantisch über Kant

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hinausdenken, da unser Philosoph auf die Existenz von absolut souveränen Einzelstaaten und von unterschiedlich souveränen Völkern nicht verzichten will. Ich werde trotzdem im Folgenden die Modelle unserer Bezugsautoren einer kurzen vergleichenden Analyse unterziehen, um eine (eventuelle) innere Schwäche aufzuzeigen. Diese Schwäche wird unabhängig von den eben erwähnten fehlenden Perspektiven deutlich, will man die Beziehung von Staat und Individuum auf überzeugende Weise darstellen.

6.2. Was kommt zuerst: tugendhafte Bürger oder gute Institutionen? Die Hauptfrage, mit der wir uns in der vorliegenden Arbeit beschäftigt haben, als es darum ging, die Beziehung von staatlichem und individuellem politischem Handeln zu klären, war, ob gute Institutionen gute Bürger hervorbringen, oder ob im Gegenteil Erstere ohne tugendhafte Bürger ohnmächtig sind. Wollte man eine gängige Metapher benutzen, könnte man sagen, es handelt sich um die leidige Frage, ob das Ei oder die Henne zuerst da war. Die Positionen unserer Bezugsautoren werden üblicherweise für miteinander antithetisch gehalten: Machiavelli und Rousseau würden als Republikaner die Notwendigkeit von Bürgertugenden vertreten, während Hobbes und Kant als Liberale darauf verzichten würden, um sich ganz auf die guten Institutionen zu verlassen. Wir haben gesehen, dass die Lage weit komplizierter ist, und dass jenes Urteil auf einer Missdeutung der Positionen dieser Denker beruht. Selbst die Alternative zwischen Republikanismus und Liberalismus stellt in der Tat eine Vereinfachung dar, die es nicht ermöglicht, wesentliche Aspekte des politischen Denkens der Neuzeit zu begreifen – insbesondere, was das Verhältnis zwischen Individuum und Institutionen angeht. Dazu sind einige Betrachtungen notwendig: 1) Alle unsere Autoren gehen davon aus, dass gute Institutionen und gute Gesetze notwendig für die Stabilität und die Erhaltung einer Republik sind. Machiavelli und Rousseau behaupten zwar ausdrücklich, dass sie zu diesem Zweck nicht ausreichen, und dass es dazu auch bestimmter Eigenschaften der Bürger bedarf. In der Tat vertritt diese Position jedoch auch Hobbes. Und Kant räumt seinerseits den politischen Tugenden der Individuen eine wichtige Rolle im Prozess der Republikanisierung und somit bei der Moralisierung der Gattung selbst ein (nicht jedoch zum Zweck der Erhaltung der Institutionen selbst). 2) In der Meinung unserer Autoren (mit Ausnahme von Kant) reichen Institutionen allein zwar zur Erhaltung der Republik bzw. des Staates nicht aus, aber das Gegenteil gilt auch: Die Tugenden der Bürger allein sind unbrauchbar, denn wo keine guten Institutionen vorhanden sind, kann keine Republik bestehen. 3) Die (politische) Tugendhaftigkeit der Bürger ist Folge guter Institutionen: Darüber sind alle unsere Bezugsautoren einig. Die Einigkeit hört jedoch auf, wenn es um die Antwort auf die Frage geht, wie und inwieweit (gute) Institutionen politische Tugenden in den Bürgern erwecken können. Alle Theorien der politischen bzw. Bürgertugenden sehen sich nämlich mit einem Teufelkreis konfrontiert: Damit gute Insti-

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tutionen und Gesetze ein Volk tugendhaft machen können, sollte das Volk schon imstande sein, die Güte dieser Ordnungen zu schätzen; es sollte tugendhaft genug sein, um die positive Auswirkung von Institutionen und Gesetzen anzuerkennen. Die Wirkung sollte zur Ursache werden, wie Rousseau sagt. Alle vier Autoren, mit denen wir uns hier beschäftigen, müssen sich dem Problem stellen. Machiavelli und Rousseau vermochten, den Kreis durch Berufung auf eine äußerliche Instanz, nämlich Gott bzw. den Himmel, zu brechen. Um das Volk dazu zu bewegen, die neu instituierten Ordnungen anzunehmen – obwohl es noch nicht imstande ist, von selbst und aus reiner Tugendhaftigkeit den Gesetzen zu folgen –, appelliert der Gesetzgeber bei Machiavelli wie bei Rousseau an die höhere Autorität der Gottheit. Wenn das Volk die mondäne Autorität des Gesetzgebers aus Mangel an Tugendhaftigkeit nicht genug schätzt, wird es die himmlische Autorität eines Gottes respektieren. Hobbes beruft sich auf die Autorität des Souveräns. Die Individuen müssen einfach gehorchen. Mit der Zeit werden sie vielleicht auch lernen, die Gesetze aus Moralität zu befolgen – wenn sie über genug Einsicht in die Gebote der Vernunft verfügen, und wenn sie sich der Tyrannei der Leidenschaften zu entziehen wissen. Dabei empfiehlt er auch dem Souverän, sich auf den vermeintlichen Willen Gottes zu berufen, um seinem eigenen Willen eine größere Autorität in den Augen der Menschen zu verleihen. Kant versucht nicht einmal, den Kreis zu brechen, da Bürgertugenden in seinem Modell nicht notwendig sind: Auch ein Volk von Teufeln ist imstande, eine Republik aufrechtzuerhalten. Er bestreitet nicht, dass gute Institutionen zur zivilen Erziehung der Bürger beitragen können, sieht aber darin nicht ihre Hauptaufgabe, wie hingegen Rousseau. Andererseits muss er auch die Frage beantworten, wie sich denn republikanische Institutionen durchsetzen können, wenn das Volk nicht imstande ist, „republikanisch“ zu denken (d. h. wenn es bestimmte Eigenschaften und Grundhaltungen nicht aufweist). Die Lösung sieht Kant jedoch keineswegs in der Berufung auf Autorität – weder auf die göttliche wie bei Machiavelli und Rousseau noch auf die irdische des Souveräns wie bei Hobbes. Die Antwort auf die Frage ist vielmehr in seiner Geschichtsphilosophie zu finden, in der die Republikanisierung als langsamer Prozess dargestellt wird, der abhängig ist von der reformatorischen Tätigkeit aufgeklärter Herrscher, von der kritischen Tätigkeit aufklärender Gelehrter und nur zum Teil von der republikanischen Denkungsart aufgeklärter gemeiner Individuen. Um es zusammenzufassen: Wenn es darum geht, die Wirksamkeit der erzieherischen Tätigkeit von Institutionen zu messen, nehmen unsere Bezugsautoren unterschiedliche Positionen ein. Machiavelli und Rousseau zeigen sich dabei ziemlich pessimistisch: Eine Aussicht auf Erfolg gibt es nur bei noch nicht verdorbenen Völkern, und das heißt: nicht bei den zeitgenössischen europäischen Völkern (Rousseau nimmt zwar die Korsen aus – und der Lokalpatriot Machiavelli zum Teil die Toskaner –, aber das verbessert die Lage keineswegs). Hobbes erwartet zwar eine positive Auswirkung vom Handeln des Souveräns – insbesondere was seine Aufgabe angeht, das Volk über die Notwendigkeit der Existenz einer absoluten Macht und über die eigenen Pflichten zu belehren; insgesamt bleibt jedoch die Entwicklung der politischen Tugenden eher den Einzelnen überlassen, und auch dann nur den Individuen, die imstande sind, die Stimme der Vernunft zu hören und deren Weisungen zu befolgen. Bei Kant sind politische Tugenden jene Haltungen,

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welche die Republikanisierung fördern. Sie scheinen die Folge des Aufklärungsprozesses zu sein, der durch die schon aufgeklärten Gelehrten geführt werden sollte und durch entsprechende erzieherische Maßnahmen des Souveräns stattfinden soll (vgl. oben 5.11). Politische Tugenden werden somit „von oben herab“ erweckt und gefördert. Institutionen spielen insofern eine entscheidende Rolle, als sie die erwähnte Volkserziehung vornehmen, und als sie durch die einfache Existenz republikanischer Entscheidungsmechanismen die republikanische Denkungsart umsetzen. Die konkrete Ausübung der Volkssouveränität (wenn auch durch Repräsentanten) stellt gleichzeitig eine politische Erziehung dar: Man lernt, republikanisch (wir würden sagen: demokratisch) zu denken, indem man republikanisch lebt, d. h. indem man unter einer republikanischen Verfassung lebt. Kant vermag somit eine Lösung anzubieten, die keine Voraussetzung in Bezug auf die Moralität der Bürger machen muss, während die Modelle von Machiavelli und Rousseau nur dann funktionieren, wenn die Individuen nicht verdorben sind, und Hobbes’ Leviathan nur dann die Erhaltung des Gemeinwesens längerfristig garantieren kann, wenn genug Individuen „mitmachen“, d. h. wenn genug Individuen die Weisungen der Vernunft befolgen. Bei Kant ist hingegen keine moralische Unverderbtheit bzw. keine Prädisposition zur Befolgung der „Naturgesetze“ vorauszusetzen: Sogar Teufel können eine republikanische Verfassung errichten und eventuell gute Bürger sein, denn das hat nichts mit persönlicher Moral zu tun. Somit vermag Kant auch die schwierige Frage der Beziehung zwischen Moral und Politik zu lösen, die Machiavelli zwar stellt, jedoch nicht auf zufriedenstellende Weise beantwortet.

6.3. Politische Tugenden, Bürgertugenden und Moral Die Frage des Verhältnisses von Moral und Politik stellt sich auf mindestens drei Ebenen: 1) auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Moral und Politik im Allgemeinen, d. h. zwischen Moral und Politik als allgemeine Sphären menschlichen Handelns; 2) auf der Ebene der Beziehung zwischen persönlicher Moral und politischem Handeln bei den Individuen (Politikern und Staatsbürgern bzw. Untertanen); 3) auf der Ebene des normativen Status politischer und von Bürgertugenden. Unsere Bezugsautoren geben unterschiedliche Antworten auf die drei Fragen. 1) Machiavelli ist zu Recht in die Geschichte des politischen Denkens als derjenige eingegangen, der als Erster die vollkommene Trennung von Moral und Politik bzw. die vollkommene Unabhängigkeit der Letzteren von der Ersteren ausdrücklich thematisiert hat. Der einzige Imperativ, der immer zu befolgen ist, besteht für Machiavelli im Gebot, alles zu tun, was der Erhaltung der politischen Macht bzw. der politischen Unabhängigkeit nützen kann. Hobbes folgt ihm insofern, da er die Moral neu definiert: Moralisch sind jene Handlungen, welche die eigene Selbsterhaltung und daher meistens auch den allgemeinen Frieden fördern (Ausnahmen sind die Handlungen, die z. B. nur meine Gesundheit betreffen, wie Mäßigkeit beim Genuss usw.). Da Selbsterhaltung und Frieden nur – politisch – durch die Errichtung und Erhaltung des Leviathans möglich sind, ist jede Handlung moralisch, die diesem Zweck dient. Machiavelli und Hobbes nehmen also in Bezug auf die Frage des Moral-Politik-Verhältnisses eine instrumentelle Position

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ein: Beide verstehen die Gebote, die sie in ihren Theorien anbieten, als pragmatische Imperative, um Kants Sprache zu benutzen.2 Moral wird bei beiden Autoren nicht nur von der Politik getrennt, sondern letztlich ihr unterstellt. Rousseaus Position ist differenzierter, da er verschiedene Konstellationen unterscheidet, in denen von Moral die Rede sein kann. Treffen im Fall des „wahren“ Staatsbürgers Moral und Politik zusammen (wenn das Gute des Einzelnen mit dem Guten des Gemeinwesens identisch ist), so ist Moral für Emil und den modernen zivilisierten Menschen von der Politik unabhängig und zielt auf die persönliche Vervollkommnung ab. Kant nimmt wiederum eine andere Position ein und trennt strikt Moral und Politik voneinander, obwohl er der Meinung ist, Letztere dürfe nie legitim gegen die Erstere verstoßen – nicht einfach, weil es unmoralisch sei, sondern weil es ungerecht (und zwar gegen das Rechtsprinzip selbst) wäre (vgl. den I. Anhang der Friedensschrift). Politik, ebenso wie das Recht, besitzen eine eigene Moralität, die zwar mit der individuellen im Einklang steht, nicht jedoch mit ihr zusammenfällt. Die Frage der Kompatibilität politischer und moralischer Grundsätze wird anhand einer Auffassung von Politik und Recht gelöst, die diese zwar nicht unmittelbar auf Moral gründet, jedoch durch die Idee einer gebietenden praktischen Vernunft in Verbindung zur Letzteren setzt. 2) Wir haben gesehen, dass Machiavelli an der persönlichen christlichen Moral festhält. Die Koexistenz dieser traditionellen Moral mit der politischen Ethik des Staatsbürgers und vor allem des Regierenden wirft jedoch schwierige Fragen auf, die Machiavelli nur zum Teil stellt – nämlich dann, wenn er den ‚kategorischen Imperativ‘ der Erhaltung der Macht für den Herrscher ins Spiel bringt: Regierende müssen im Notfall auf ihre persönliche moralische Untadeligkeit verzichten. Was aber, wenn die Bürger vor einer solchen Wahl stehen? Eine Antwort auf die Frage wird man bei Machiavelli umsonst suchen, denn seine Schriften richten sich in erster Linie an die Regierenden – seien sie alleinherrschende Fürsten oder Mitglieder eines republikanischen Stadtrates. Hobbes hingegen wird eine solche Antwort geben und dabei Moral der Politik weitgehend unterwerfen. Dabei nimmt er allerdings eine wichtige Unterscheidung zwischen Ethik und Moral vor: Alles, was das Zusammenleben der Menschen betrifft, wird der Ethik zugeordnet, und das Gebiet persönlicher Moral wird auf jene Verhaltensweisen reduziert, welche die Selbsterhaltung der Individuen betreffen, vorwiegend Mäßigkeit im Genuss. Ethik erfährt somit durch Hobbes eine Wiederinterpretation aus der rein politischen Perspektive der Friedenserhaltung (daher auch aus der Perspektive der staatlichen Stabilität) heraus und wird konsequent von ihm als die Wissenschaft von dem, was in der Gesellschaft für gut oder böse gehalten wird, definiert. Rousseaus Antwort auf die Frage der möglichen Spannung zwischen traditioneller und Bürgermoralität ist kompromisslos: Die christliche Moral – besser: das Christentum im Allgemeinen ist mit dem republikanischen Ethos überhaupt nicht vereinbar. Wer ein wahrer Bürger sein will, muss lernen, nur jene Werte zu schätzen, zu deren Pflege ihn sein Vaterland aufruft. Allgemeingültige moralische Gebote wie das der Nächstenliebe

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Cassirer erwähnt ausdrücklich Kants pragmatische Imperative in Bezug auf Machiavelli (Cassirer 1946, 154).

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passen in Rousseaus Modell des idealen Staates nicht hinein. Wenn der Genfer die Trennung zwischen Politik und Moral aufgehoben wissen will, wie er im Emil behauptet (Em. 240), dann nur deswegen, weil er dabei unter „Moral“ die Bürgermoral versteht. Kant wird hingegen Machiavellis Trennung anders zuordnen: Bei ihm gilt es, Moral und Recht, sowie Moralität und Legalität zu trennen. Gemäß seiner reicheren Begrifflichkeit (und seines reicheren Problembewusstseins: vgl. Höffe 2001, 105 ff.) wird Kant eine mehrschichtige Trennung vornehmen, in die Machiavellis einfache Antithese schwer passt. Da zwischen gerechtem Recht (und somit Politik als „ausübender Rechtslehre“) und Moral kein Zwist bestehen darf, wird sich die Frage eines Konflikts zwischen moralischen und rechtlichen Geboten in einer gerechten Rechtsordnung (d. h. in einem durch republikanische Verfassung geordneten Staat) nicht stellen. In allen anderen Fällen dürfen die Individuen keinen moralisch begründeten Widerstand gegen die rechtlichen Normen leisten (da das nicht nur die Trennung von Recht und Moral, sondern den Begriff von Recht überhaupt aufheben würde); sie dürfen allerdings zivilen Ungehorsam leisten – dabei müssen sie jedoch die Konsequenzen selbst tragen. Die Individuen bleiben schließlich frei, den rechtlichen Normen aus Achtung oder aber aus Kalkül und Furcht vor einer eventuellen Bestrafung zu folgen. Juristische Moralität ist zu begrüßen, gefordert wird sie allerdings nicht – umso weniger darf sie erzwungen werden. 3) Die Bürgertugenden charakterisieren nicht das Individuum als solches, sondern betreffen nur seine Rolle als Staatsbürger. Sie sind Rollentugenden, wie viele andere auch (z. B. die Tugenden eines guten Lehrers, eines guten Arztes, eines guten Soldaten usw.). Rollentugenden weisen eine Besonderheit auf: Nicht alle Individuen besitzen die persönlichen Eigenschaften, die notwendig sind, um ein Lehrer, ein Arzt, usw. zu werden – geschweige denn Eigenschaften, die einen guten Lehrer oder Arzt ausmachen. Nicht alle Menschen können also Lehrer oder Ärzte werden, und nicht alle Menschen brauchen daher jene Tugenden aufzuweisen, die gute Lehrer oder Ärzte auszeichnen. Dasselbe gilt sogar für Rollen wie die der Eltern: Alle Menschen können Mütter oder Väter werden, manche sollten es jedoch lieber nicht sein, da ihnen die notwendigen Voraussetzungen fehlen, um gute Eltern zu sein. Aber alle Menschen sind nolens volens Bürger irgendeines Staates. Müssen sie deswegen alle jene Tugenden aufweisen, die einen guten Bürger ausmachen? Die Republikaner (darunter auch Machiavelli und Rousseau) beantworten die Frage positiv. Daher geht die politische Natur der Bürgertugenden in eine allgemeine Moral über: Alle Menschen haben eine Pflicht, gute Bürger zu sein, d. h. Bürgertugenden zu entwickeln. Die Trennung von Moral und Politik wird somit mindestens zum Teil aufgehoben. Die Liberalen sind dabei viel vorsichtiger. Hobbes meint – nochmals Aristoteles folgend –, nicht alle Bürger können gute Bürger werden. Nur diejenigen, die imstande sind, die Gebote der Vernunft a) zu erkennen und b) zu befolgen, können schließlich Bürgertugenden entwickeln. Kant übernimmt diese Position nur in Bezug auf den kritischen Geist, den ein guter Bürger haben sollte; ansonsten versucht er konsequent, die Bürgertugenden herunterzuspielen (auch dank seiner Geschichtsphilosophie) und so vage und allgemein zu definieren (sie reduzieren sich schließlich zu einem allgemeinen Rechtssinn), dass a) jedes Individuum sie relativ leicht entwickeln kann, und b) sie nicht so notwendig für die Erhaltung und die Stabilität des Staates sind. Ihnen stellt er vielmehr

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politische Tugenden entgegen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie weniger die Tugenden guter Bürger als vielmehr die Tugenden von Individuen sind, die sich für die Republikanisierung und daher für die Moralisierung der Gattung einsetzen. Sie können von allen Individuen entwickelt werden – müssen es allerdings nicht: Sie behalten einen genuinen supra-erogatorischen Charakter und bekommen somit einen echten moralischen Status (im Gegensatz zu den Bürgertugenden der anderen drei Autoren, die nur instrumentellen Status haben, da sie nur zur Erhaltung bzw. zum Gedeih des Gemeinwesens dienen).

6.4. Demokratie zwischen republikanischer Verklärung der Vergangenheit und liberalem Verzicht auf Empirie Zur Abrundung des Zwischenfazits möchte ich auf die Frage zurückkommen, ob und inwieweit sich das Denken unserer Bezugsautoren eignet, um Wesen und Probleme unserer liberalen Demokratie zu begreifen. Ich habe schon auf einige Gründe hingewiesen, die dabei zur Skepsis raten (vgl. oben 6.1). Dazu möchte ich folgende Überlegungen hinzufügen, die gleichzeitig einen Übergang zum letzten, eher systematischen als ideengeschichtlichen Kapitel der Arbeit darstellen. Sie beschäftigen sich 1) mit der von Machiavelli und Rousseau vorgenommenen Idealisierung der Vergangenheit und 2) mit dem entgegensetzten Verzicht auf empirische Überlegungen seitens Hobbes’ und Kants. Und sie weisen auch 3) auf die Hauptpunkte hin, worin ein wesentlicher Unterschied zwischen den Positionen unserer Bezugsautoren und der liberalen Verfassungsdemokratie besteht: Hauptziel der Politik, Grenze der Souveränität und Status der politischen Parteien. 1) Entscheidend für die Tugendhaftigkeit der Bürger und das Wohlsein einer Republik sind für Machiavelli und Rousseau neben den Institutionen auch andere Bedingungen, wie z. B. die geo-politischen Umstände: Die Notwendigkeit – möge sie die natürliche wie bei Rousseau oder die durch Fortuna erzeugte wie bei Machiavelli sein – kann die Tugendhaftigkeit unnütz machen: Am Zenith der republikanischen Größe übergeben die Römer die Macht dem Tyrannen (Cäsar); Sparta wirft sich nach achthundert Jahren Frieden und Stabilität in ein verhängnisvolles expansionistisches Unternehmen, das trotz des militärischen Sieges gegen Athen den Anfang des eigenen Unterganges markiert; die Schweizer lassen sich durch den unvermeidlichen Kontakt mit den anderen Völkern verderben. Es ist eben ihr Realismus, der Machiavelli und Rousseau dazu führt, zwischen dem radikalsten Pessimismus und der Flucht in ein utopisches Modell zu schwingen, das mit dem republikanischen Rom oder mit der Schweiz eines mythischen Goldenen Zeitalters identifiziert wird. Es handelt sich auf jeden Fall um Verklärungen einer stark idealisierten Vergangenheit, wenngleich mit unterschiedlichen Folgen (Machiavelli fordert zur Imitierung der antiken Modelle auf; Rousseau hält diese Modelle für nicht länger brauchbar und gelangt zum individualistischen In-sich-Gehen von Emil oder des „einsamen Spaziergängers“). Der republikanischen Auffassung der Politik liegt also eine statische Auffassung der Gesellschaft und der Welt zu Grunde. Die Gesellschaft darf keinen großen Veränderun-

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gen unterliegen, denn sonst müssen auch die Gesetze geändert werden – und das ist gefährlich. Nach Machiavellis und Rousseaus Meinung muss man sich in diesem Fall einem Gesetzgeber zuwenden, man darf die Aufgabe nicht dem Volk überlassen, denn das würde nur Chaos und Anarchie verursachen.3 Aber auch die äußere Umgebung einer Republik, ihre Umwelt, darf sich nicht verändern, ohne ihre Stabilität zu bedrohen. Man denke hier nur an Machiavellis Beispiel der deutschen Städte: Falls sich die günstigen Umstände, die ihnen Frieden garantieren, verändern würden, sollten auch diese Städte auf ihre Friedenspolitik verzichten und aggressiv werden. Das impliziert jedoch eine Änderung in ihren Institutionen, denn eine friedliche Republik kann nicht dieselben Institutionen wie eine expansionistische haben, wie Machiavelli mehrmals mahnt. Wenn sich der Stand der Dinge ändert und neue Gesetze oder Einrichtungen notwendig macht, tritt für die Republikaner ein Notzustand ein, der nach Notlösungen ruft: die Diktatur (im römisch-republikanischen Sinne) eines außerordentlichen Individuums, das der Republik durch solch schwierige Lage zu erneuter Stabilität verhilft – der Fürst oder der Neu-Ordner der Republik bei Machiavelli, der Gesetzgeber bei Rousseau. Auf das Volk kann man sich jedoch in derartigen Fällen nicht verlassen. Dabei weisen die klassisch-republikanischen Autoren entschieden anti-demokratische Züge auf – nicht so sehr, weil sie Raum für absolute Herrscher (Machiavelli) oder für eine sittliche Tyrannei der Mehrheit (Rousseau) offen lassen, sondern vielmehr, weil sie dem Volk prinzipiell misstrauen. Die Republikaner verabscheuen die Vielfalt der Meinungen und halten sie für die Ursache aller Übel des Staates. Sie vertrauen deshalb die Entscheidungsnahme nur einem Einzelnen (dem Fürst oder dem Gesetzgeber) bzw. einer Gruppe von Obrigkeiten (der republikanischen Regierung) an. Sie verstehen somit Volkssouveränität nur so, dass das Volk die letzte Autorität innehat, um die Entscheidungen zu ratifizieren, die von den Regierenden getroffen wurden. Ihre „Demokratie“ ist plebiszitär, nicht deliberativ oder partizipatorisch. Und sie zeigt eine Tendenz zu diktatorischen Maßnahmen bzw. zum Rekurs auf die Tätigkeit außerordentlicher Menschen, die mit unserer Auffassung von Demokratie inkompatibel ist. Judith Shklar hat zu Recht beobachtet: „Most politics are not a question of stark choices at all; they involve bargains [...] and the like. Decisions are rarely made by isolated and heroic individuals sacrificing their conscience and their honor. The Machiavellian ethical pathos and drama of choice are hardly ever relevant.“ (Shklar 1984, 242) Aus all dem Vorhergegangenen ist daher zu schließen, dass die Republik der klassischen Republikaner mit unserer liberalen Verfassungsdemokratie kaum etwas gemeinsam hat und somit als normatives Modell für Letztere keineswegs in Frage kommt. 2) Hobbes und Kant nehmen keine Idealisierung vor. In ihrem Verzicht auf Empirie (die in der Tat keine vollkommene ist) bieten sie zwei Modelle an, die rigoros auf rationeller Basis aufgebaut sind, und die sich in der Gegenwart (als Leviathan bei Hobbes)

3

„Die Pflicht eines weisen und guten Bürgers“ besteht nach Machiavelli darin, „die gewohnten Einrichtungen seiner Vaterstadt nicht umzustürzen“, denn „nichts sei den Menschen so schädlich, als die Veränderung derselben“ (IF IV, 10; SW IV, 174).

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und in der Zukunft (als respublica noumenon bei Kant) realisieren sollen. Es ist nicht so, dass sich die beiden der Rolle von geo-politischen Umständen und der Unvollkommenheit der menschlichen Natur nicht bewusst wären. Aber sie klammern jene Aspekte aus, um eine Theorie aufzubauen, deren Normativismus sich auf rationellen Axiomen gründet, und die somit ihre Rationalität über die chaotische Realität der Empirie aufstülpt. In dieser Hinsicht sind Hobbes und Kant typische moderne Denker, während Machiavelli und Rousseau das Bewusstsein der Grenzen der Rationalität und deren wesentliche Unvereinbarkeit mit der Natur (verstanden als menschliche Natur und als Ganzheit der Naturphänomene) darstellen, da Letztere eine eigene Dynamik besitzt (Fortuna, der Drang nach Perfektibilität usw.). Somit könnte man die Positionen unserer Autoren den zwei Richtungen zuschreiben, die jene „Archetypen“ des modernen politischen Denkens und der Politik darstellen: Liberalismus und Konservatismus – Archetypen, zu denen sich später die verschiedenen Totalitarismen gesellen werden. In einer anderen Hinsicht sind jedoch auch Hobbes und Kant nicht imstande, eine politische Form zu erarbeiten, die derjenigen unserer Demokratien entsprechen würde. Das ist besonders eindeutig bei Hobbes der Fall – allerdings nicht nur, weil er die Absolutheit der souveränen Macht postuliert (eine Absolutheit, die mit unserer Verfassungsdemokratie nicht kompatibel ist, da Letztere – besonders durch die Garantie von Grundrechten – bestimmte Grenzen der Souveränität gegenüber setzt), sondern auch wegen seiner Auffassung von Politik im Allgemeinen, da er von ihr die vollkommene Stilllegung aller möglichen Konflikte zwischen Individuen erwartet. Hinsichtlich der Fähigkeit, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen, hat daher Jean Hampton auf einen wichtigen Unterschied zwischen Hobbes’ Position und unserer modernen Demokratie hingewiesen: „A modern democracy is explicitly designed to deal with and resolve the sort of disagreements about the performance of the rulers that Hobbes thought were inevitable. [...] Rather than rely on a sovereign to banish such disagreement [...] the framers of modern democracy sets up rules that would resolve disagreements about the performance of rulers through the use of various voting procedures.“ (Hampton 1994, 40) Insofern wirkt Kants Position der Unvermeidlichkeit der Konflikte gerechter, da er die Auswirkung politischer Institutionen mit der Kanalisierung (nicht mit der Abschaffung) von Interessens- und Meinungsverschiedenheiten identifiziert. Während Hobbes eine Friedenstheorie des Staates anbietet (d. h. eine Theorie, wonach das Endziel staatlicher Institutionen die Durchsetzung eines restlos friedlichen Zusammenlebens ist), ist sich Kant des konfliktreichen Charakters der Politik völlig bewusst: Sie dient zur Kontrolle und Minimierung der negativen Auswirkungen des unvermeidlichen Kampfes (in Bezug auf Interessen oder auf Meinungen) unter den Menschen, nicht zu dessen Ausrottung. 3) Unsere Verfassungsdemokratie teilt dieselbe Voraussetzung: Sie verfolgt weder ein umfassendes Gemeinwohl noch einen Zustand der Konfliktlosigkeit – mögen jene Ideale an sich auch wünschenswert sein. Sie setzt weder (wie Rousseau) Einstimmigkeit der Meinungen noch (wie Hobbes und zum Teil bei Kant4) bedingungsloses Einver-

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Das Einverständnis ist bedingungslos, was den Gesetzesgehorsam betrifft; es bleibt jedoch Raum für die Kritik der Entscheidungen des Souveräns durch die aufgeklärten Gelehrten.

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ständnis mit den Entscheidungen des Souveräns voraus. Sie stellt vielmehr den institutionellen Rahmen dar, in dem die Interessen- und Meinungskonflikte neutralisiert werden, verlangt allerdings von den Bürgern nicht, dass sie eine weitgehende Friedfertigkeit oder Bereitschaft zur Opferung der eigenen Interessen aufweisen: Es reicht, dass sie die Entscheidungen des Souveräns akzeptieren, auch wenn sie damit nicht einverstanden sind, und dass sie zur Änderung oder Abschaffung von Normen die dazu vorgesehenen institutionellen Mechanismen benutzen. Sie müssen m. a. W. bloß die Spielregeln akzeptieren (vgl. unten 7.6). Unsere Bezugsautoren – mit der partiellen Ausnahme Hobbes5 – setzen zudem den Entscheidungsmöglichkeiten der legislativen Gewalt und somit der konkreten Volkssouveränität Einschränkungen ex ante: vor allem die Unveränderlichkeit der Gesetze (die Republikaner), aber auch Einschränkungen des Wahlrechts (Kant). Unsere Verfassungsdemokratien kennen solche Einschränkungen ebenfalls, allerdings haben sie einen anderen Charakter. Das Wahlrecht wird allen volljährigen Staatsbürgern gewährt: Die einzigen Einschränkungen beziehen sich daher auf den Besitz der Staatsbürgerschaft und auf das Alter, nicht jedoch auf ökonomische Selbstständigkeit (wie bei Kant) oder auf die aktive Wahrnehmung politischer Rechte (wie bei Rousseau – oder noch bei Barber: vgl. unten 7.5). Das ist Ausdruck eines vollkommenen Vertrauens in die Bürger und ihre Autonomie einerseits (es wird angenommen, dass sie sich nicht „kaufen“ lassen), und andererseits einer gewissen Toleranz für politische Gleichgültigkeit (die Bürger sind frei, auf politisches Engagement zu verzichten, ohne deswegen mit Bestrafungen rechnen zu müssen).6 Es gibt dann zwar Einschränkungen, die durch die Unveränderlichkeit der Gesetze entstehen. In unseren Verfassungsdemokratien werden sie von bestimmten Verfassungsartikeln dargestellt, wie z. B. die Grundrechte. Solche Normen sind tatsächlich der gesetzgeberischen Tätigkeit der Legislative entzogen – nicht jedoch vollkommen der Volkssouveränität, denn das Volk könnte sich für eine neue Verfassung aussprechen, auch wenn solche Veränderungen relativ selten vorkommen (aber man denke an Frankreich und an die Entstehung der Fünften Republik). Sie dienen eher zum Schutz der Individuen vor den Institutionen (vor der Regierung, dem Parlament und der Justiz; aber auch vor der Mehrheit im Allgemeinen) als zur Erhaltung der Institutionen vor dem Veränderungswillen des Volkes wie bei unseren Bezugsautoren. Andererseits scheinen sich die Befürchtungen unserer Autoren in Bezug auf die negativen Auswirkungen, die aus der Existenz von Parteien entstehen können, zum Teil bewahrheitet zu haben. Die Parteien haben zwar nur selten zu einem gewalttätigen Krieg der Meinungen oder einem Bürgerkrieg geführt (und wenn das geschehen ist, wie etwa in der Weimarer Republik, im prä-faschistischen Italien oder im republikanischen 5

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Bei Hobbes sind die Grenzen souveräner Macht faktischer Natur: Wenn der Souverän Unmögliches von den Untertanen verlangt und sie ungerecht behandelt, werden sie ihn mit Revolte und sogar Revolution bestrafen. Das heißt nicht, dass Alter und Staatsbürgerschaft als Kriterien für die Gewährleistung politischer Rechte vollkommen gerechtfertigt seien. Beide (besonders jedoch das zweite) könnten in Frage gestellt werden.

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Spanien, dann waren andere Ursachen mit am Werk). Aber sie haben nichtsdestoweniger auch negative Auswirkungen auf den demokratischen Charakter unserer Demokratien. Die Volksvertreter wurden zwar vom imperativen Mandat befreit, aber das bedeutet nicht, dass sie nur als Vertreter des ganzen Volks entscheiden. Sie unterstehen nun dem Imperativ der Partei, der zum Teil sogar gesetzlich geregelt ist. In unseren Parlamenten sitzen weniger Volksvertreter als Parteivertreter, die meistens den Willen ihrer Partei bedingungslos erfüllen und nur selten wirklich nach eigenem Gutdünken oder ihrem Gewissen folgend entscheiden. Unsere parlamentarischen Demokratien sind auf jeden Fall keine deliberativen, sondern Parteidemokratien: Im Parlament wird nicht immer debattiert, um Entscheidungen zu treffen; die „Debatten“ bestehen häufig in Angriffen auf den politischen Gegner und in der Verteidigung der eigenen Position, die man schon eingenommen hat und nicht ernsthaft in Frage stellen will. Wenn die Vertreter ins Parlament kommen, um eine Entscheidung zu treffen, wissen sie meistens bereits, wie sie wählen werden, denn die Partei hat es ihnen schon verordnet. Die meisten Gesetze werden ohnehin weniger auf Initiative der Volksvertreter als auf Empfehlung der Regierung erlassen, die daher eine indirekte gesetzgeberische Tätigkeit de facto ausübt: Die Volksvertreter müssen nur noch zustimmen oder ablehnen (wenn sie in der Opposition sitzen; oder wenn sie zwar der parlamentarischen Mehrheit angehören, jedoch z. B. „mutige Querdenker“ sind). Die stumme Versammlung Rousseaus bekommt somit in unseren Parlamenten allzu häufig Wirklichkeit. Ob dieser Zug allerdings eine notwendige Folge der Existenz politischer Parteien ist, ist fraglich: Es scheint vielmehr Ergebnis einer mangelhaften politischen Kultur seitens der Politiker und der Bürger zu sein. Ich werde nun im letzten Kapitel auf die Frage eingehen, wie eine solche Kultur in einer liberalen Verfassungsdemokratie aussehen sollte. Dabei werde ich zunächst die Position von Denkern untersuchen, die eine Alternative zum Liberalismus anbieten möchten, nämlich die Position der Neo-Republikaner (7.1-7.5); dann werde ich auf die Position liberaler Denker in Bezug auf die Frage der Bürgertugenden hinweisen (7.6); schließlich werde ich skizzenhaft eine mögliche alternative Position zu beiden anbieten (7.7-7.9).

Kapitel 7 Republikanismus, Liberalismus und demokratisches Denken heute

7.1. Die Wiederentdeckung einer „vergessenen“ Tradition Böckenfördes Diagnose, moderne Demokratien würden von Voraussetzungen leben, die sie nicht imstande sind, selbst zu produzieren („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, Böckenförde 1991, 112), ist fast zum locus communis der politischen Philosophie (nicht nur in Deutschland) geworden. Gebetsmühlenartig wird sie von Kritikern des liberalen Staates zitiert, die in einem moralisch oder zumindest ethisch nicht engagierten Gesetzgeber die größte Gefahr für das Weiterbestehen unserer Demokratien sehen. Dem in unseren demokratischen Gesellschaften dominierenden Individualismus und Pluralismus wird angelastet, die Grundsätze jener Gesellschaften selbst irreparabel zerrüttet zu haben, und die Bürger werden aufgefordert, sich ihrer Verpflichtungen gegenüber der politischen Gemeinschaft zu besinnen. Gemeint sind dabei natürlich nicht nur die rechtlichen Verpflichtungen, denn es ist schließlich Aufgabe des Staates selbst, deren Erfüllung zu fordern. Auf etwas mehr als die bloße Legalität im Kantischen Sinne kommt es an: auf authentische Bürgertugenden, die von den Individuen aus anderen Gründen als einfachem Rechtsgehorsam entwickelt werden sollten. Die Debatte über die Bürgertugenden entstand spätestens seit der Veröffentlichung von Pococks Studie über die Einflüsse des italienischen Republikanismus auf das angelsächsische politische Denken (Pocock 1975; man könnte auch Baron 1955/1966 erwähnen, aber dieses Buch hatte weniger Einfluss auf die systematische Debatte als jenes von Pocock).1 Daraus resultiert eine noch heute andauernde Beschäftigung mit der republikanischen Tradition, die auf zwei Ebenen stattgefunden hat.2 Einige Denker haben sich auf die US-amerikanische Realität konzentriert und eine eher aktuell-politische Debatte geführt, die sich mit Fragen wie der Rolle der Religion bzw. des Bürgersinns in der amerikanischen Gesellschaft (Bellah 1975 und Bellah u. a. 1986) oder der Vaterlandsliebe (MacIntyre 1984) auseinandersetzten, und die zum Teil in die Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte einging (vgl. dazu auf kommunitaristischer Seite: Barber 1994 und 1998, Sandel 1995 und 1996, Etzioni 1996; auf liberaler Seite: Macedo 1990, 1

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Ich lasse bewusst die soziologische Debatte über citizenship beiseite, die seit der Veröffentlichung der Werke von Thomas H. Marshall vorwiegend in den USA stattgefunden hat (vgl. vor allem Marshall 1950). Vgl. dazu den Anhang. Zu den möglichen Ursachen dieser Renaissance der republikanischen Tradition vgl. Maak 1999, 160 f. (insbes. 162). Vgl. auch Reese-Schäfer 1997, 323 ff.

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Dagger 1997, Rawls 1993). In Deutschland wurde die eher systematische Debatte vor allem durch Schriften von Claus Offe, Ulrich Preuß und Herfried Münkler belebt (Offe 1989, Offe/Preuß 1991, Münkler 1992, 1995 und 1999; dazu vgl. Reese-Schäfer 1997, 351 ff.).3 Andere Autoren haben sich hingegen mit dem klassischen Bürgerhumanismus der Renaissance beschäftigt, um ihn gegen den Liberalismus auszuspielen: Sie gehören zur Gruppe der sogenannten Neo-Republikaner (vgl. vor allem Pettit 1997, Skinner 1998, Viroli 1999). Skinner, Viroli und anderen ist es gelungen zu zeigen, wie im Italien der Renaissance und vor allem im England der Zeit zwischen 1630 und 1688 (also vor und während der Entstehung des traditionellen Liberalismus durch Hobbes – soweit seine Theorie als liberal bezeichnet werden kann – und Locke), eine Theorie der politischen Freiheit der Bürger entwickelt wurde, die sich als Alternative zur liberalen Freiheitsauffassung anbieten könnte.4 Schon der Titel von Quentin Skinners Buch Liberty Before Liberalism (1998) deutet auf die Absicht dieser Autoren hin, eine Theorie der politischen Freiheit aufzubauen, die mehr oder wenig unabhängig vom traditionellen liberalen Individualismus eines Locke oder eines Constant (aber schließlich auch eines Hayek, Nozick oder Buchanan) ist und auf jener republikanischen Tradition basiert, welche die Bürgerrolle des Individuums hervorhebt. Interessanterweise fehlt bei Skinner ebenso wie bei den anderen Neo-Republikanern eine genaue historische und systematische Definition der kritisierten liberalen Tradition. Am häufigsten zitiert werden Locke oder Mill (der allerdings den Bürgertugenden und der politischen Erziehung einen so großen Wert zusprach, dass man ihn z. T. in die republikanische Tradition einreihen könnte); viele moderne Denker, die als liberal gelten, finden kaum Erwähnung. In Pettits Buch wird Kant – wie betont – nur einmal erwähnt, und zwar als „continental romantic“ zusammen mit Herder, Rousseau, Fichte, Hegel und Marx (Pettit 1997, 18), und sogar Locke wird hier in die Nähe der republikanischen Tradition geschoben. Gegenwärtige Liberale, welcher Ausrichtung auch immer, wie z. B. Rawls, Dworkin, Nozick usw., werden so gut wie nie erwähnt, als ob die polemischen Ziele der Neo-Republikaner nur in der Vergangenheit liegen würden. Dafür wird die republikanische Tradition ziemlich genau definiert. Viroli zählt zum republikanischen Stammbaum, an dessen Anfang die antiken Autoren Cicero (ein Redner und Philosoph), Livius und Sallust (beide Historiographen) stehen, sogar einen Maler wie Ambrogio Lorenzetti (wegen seines allegorischen Freskenzyklus’ im Palazzo Pubblico in Siena; vgl. dazu Riklin 1999), und gelangt über Salutati, Bruni, Palmieri, Rinuccini, Machiavelli, Giannotti, Contarini (allesamt keine Philosophen), den englischen „new roman theorists“ (Francis Bacon und Ben Johnson, James Harrington und John Milton, Algernon Sidney und Lord Bolingbroke bis hin zu Kants Zeitgenossen Jonathan Price) schließlich zu Jean-Jacques Rousseau und zu manchen der US-amerikanischen Founding Fathers (z. B. Madison, Hamilton und den Autoren der Cato’s Letters). Ab 3

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Reese-Schäfer kommt bei einem Vergleich der deutschen und der amerikanischen Debatten zu einem scharfen Urteil: „Man wird also konstatieren müssen, dass der deutsche Tugenddiskurs im Gegensatz zu den [...] amerikanischen Modellen unterbestimmt bleibt.“ (Reese-Schäfer 1997, 360) Was englische Autoren betrifft, zieht Skinner die Benennung „new Roman theories“ vor, da sie nicht immer Gegner der Monarchie und insofern keine wahren Republikaner waren (Skinner 1998, 10 f.). Aber das ist in diesem Kontext unwichtig.

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KAPITEL 7

hier öffnet sich ein republikanisches Vakat, mit den eher auf Italien begrenzten Ausnahmen Giuseppe Mazzini und Carlo Cattaneo (Viroli 1998, XIII f.; zur Geschichte der republikanischen Tradition vgl. Mager 1992 und Dietz 1992). Die Neo-Republikaner meinen, bei allen diesen Autoren bestimmte systematische Hauptmerkmale erkennen zu können, die eine originelle politische Tradition, eben die republikanische, ausmachen. Sie betreffen 1) den Begriff der Republik selbst, 2) einen spezifischen Freiheitsbegriff und 3) die zentrale Rolle der Bürgertugenden. 1) Eine Republik ist in erster Linie ein Gemeinwesen, dessen beide Fundamente das Recht und das Gemeinwohl sind. Cicero, einer der Gründungsväter des Republikanismus, schreibt in De re publica (I, 25): „Das Gemeinwesen [res publica] ist also die ‚Sache des Volkes‘, Volk ist aber nicht jede Vereinigung von Menschen, die sich auf jede nur denkbare Weise wie eine Herde zusammengeschart hat, sondern der Zusammenschluss einer größeren Menschenzahl, der auf der Grundlage einer Rechtsvereinbarung und einer Interessengemeinschaft erfolgt ist.“ (Cicero 1971, 39) Dieser Definition werden auch die späteren Autoren der republikanischen Tradition, von Machiavelli bis Rousseau, nichts Wesentliches hinzufügen. Rousseau sagt im Gesellschaftsvertrag: „Eine Republik nenne ich also jeden Staat, der durch Gesetze regiert wird, unter welcher Form der Verwaltung dies auch geschieht; dann allein herrscht das öffentliche Interesse, hat die öffentliche Sache [la chose publique, französische Übersetzung der lateinischen res publica – A. P.] Geltung.“ (CS II, 6; 299) Man könnte nun auch Kants Begriff der Republik anführen, aber der Königsberger Philosoph wird bezeichnenderweise von unseren neo-republikanischen Autoren nicht erwähnt (mit der erwähnten Ausnahme Pettit). Die Forderung, die Gesetze sollten auf das Gemeinwohl abzielen, ist ein locus communis in der republikanischen Tradition, bleibt jedoch meistens unbestimmt. In der Tat ist es keinem der Vertreter der republikanischen Tradition gelungen, eine allgemeine und unbestrittene Definition des Gemeinwohls anzubieten. Es wird meistens entweder minimalistisch mit der politischen Unabhängigkeit der Republik identifiziert; oder es sollte vom Volk selbst gemäß unterschiedlicher Kriterien definiert werden – was wiederum den Unterschied zu den meisten liberalen Positionen kaum erkennen lässt. Der Begriff des Gemeinwohls bleibt also unterbestimmt und nicht eindeutig definierbar. 2) Die eigentliche Freiheit besteht in der Unabhängigkeit von der Willkür anderer Menschen und setzt die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz voraus; die Bürger sind weiter mit gleichen Rechten ausgestattet. Die Unabhängigkeit von außen gilt in erster Linie für den Staat selbst. Gemäß der berühmten Formel von Bartolus de Saxoferrato ist jene Stadt frei, die keine höhere Macht anerkennt („potestas superiorem non recognoscens“: vgl. oben 1.5). Frei ist die Stadt, die sich selbst regiert bzw. von den eigenen Bürgern regiert wird. Die italienischen Stadtrepubliken stellen nach den Meinungen Skinners, Virolis usw. ein gelungenes Beispiel solch republikanischer Freiheit dar – gelungen deswegen, weil sie trotz aller sozialen Ungleichheiten, trotz aller oligarchischen Tendenzen und trotz ihres endgültigen Scheiterns an der Übermacht ausländischer absolutistisch verfasster Nationalstaaten5

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Ausnahme: das zwar absolutistische, jedoch plurinationale Habsburgerreich.

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das Prinzip der Selbstregierung verkörperten und die Herrschaft der Gesetze und der Institutionen gegen die persönliche Herrschaft absolutistischer Fürsten in die Praxis umsetzten. Die republikanische Freiheit wird zudem der liberalen und der demokratischen entgegengesetzt. Skinner, Pettit und Viroli interpretieren die liberale Freiheit als Freiheit der Einmischung (interference) und die demokratische als Selbstgesetzgebung. Die republikanische bestünde hingegen in der Unabhängigkeit von der Willkür anderer. Skinner, Pettit und Viroli meinen, dass der Liberalismus Freiheit einfach als Abwesenheit von Hindernissen auffasst. Das mag zum Teil die Position eines Hobbes sein, trifft jedoch für die meisten Vertreter des Liberalismus nicht zu. Auch die Republikaner definieren schließlich Freiheit als „non-domination“ wie Pettit, oder als „freedom from dependence“ wie Skinner, und viele, wenn auch nicht alle, würden Viroli zustimmen, wenn er sagt, dass die Einschränkungen, die das Recht den Bürgern auferlegt, keine Einschränkungen ihrer Freiheit sind, sondern eine für diese Freiheit notwendige Begrenzung. Das ist nicht nur die Position der „klassischen republikanischen Autoren“ (Viroli 1999, 31), sondern auch jene von Locke oder Kant. Aber die Neo-Republikaner sind fest entschlossen, ihre Bezugsautoren anderswo zu finden, bevorzugt in der Antike (Viroli zitiert z. B. Stellen aus Livius, Sallust und – natürlich – Cicero: a. a. O.). Die republikanische Freiheit ist unseren Autoren zufolge zwar eine negative Freiheit, wie beim Liberalismus, unterscheidet sich jedoch dadurch von ihm, dass sie als Unfreiheit nicht nur die Einmischung und Behinderung durch andere, sondern darüber hinaus die Möglichkeit einer Einmischung durch „willkürliche Mächte“ (Viroli 1999, 24), also die Möglichkeit der Abhängigkeit von anderen und der Aufhebung der rechtlichen Gleichheit definiert. Dabei unterlaufen unseren Autoren zwei Fehler. Erstens: Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen, wie sie manche liberale Autoren definieren, ist nicht bloß Freiheit von konkreten, punktuellen Behinderungen (Ausnahme: Hobbes und seine mechanistische Handlungstheorie, aber ob und inwiefern Hobbes’ Position eine liberale ist, wurde schon diskutiert: vgl. 3.15), sondern eine prinzipielle Freiheit fremder willkürlicher Einmischungen, somit auch die von tyrannischen Willkürakten. Die Republikaner missdeuten also den liberalen Freiheitsbegriff. Daraus folgt zweitens, dass die republikanische Freiheit kleiner als die liberale ausfällt, da der liberale Freiheitsbegriff die Unabhängigkeit von der Willkür anderer schon immer enthält. Noch interessanter ist die Distanzierung vom demokratischen Begriff der Freiheit als Autonomie, als Selbstgesetzgebung. Im partiellen Widerspruch zur Definition der Republik als selbstregiertes Gemeinwesen wird nun das Wesen der republikanischen Freiheit nicht in der Autonomie der einzelnen Staatsbürger gesehen. In Anlehnung an Rousseau sagt Viroli, dass der Wille dann autonom ist, wenn er vor der dauernden Gefahr eines äußeren Zwanges geschützt wird, nicht jedoch, wenn das Gesetz oder die Norm, welche mein Handeln bestimmen, meinem konkreten Willen entsprechen. Autonomie als die Fähigkeit, für sich selbst Gesetze zu erlassen, ist nur ein Mittel, um frei zu leben. Entscheidend ist dabei aber nicht, dass die Gesetze von den Bürgern selbst erlassen wurden, sondern die Tatsache, dass sie auf das Gemeinwohl abzielen. Unter dem Deckmantel des Herrschaftsprinzips der Gesetze gegen die Herrschaft der Menschen legen die Neo-Republikaner ein starkes Misstrauen gegenüber dem Volk an den Tag.

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Dieses Prinzip stellt uns übrigens vor eine weitere Frage: Die Gesetze sind das entscheidende Kriterium für das Handeln; aber wer hat das Recht, sie zu erlassen, wenn nicht das Volk? Platon, Machiavelli, Rousseau und andere Befürworter der Gesetzesherrschaft geben implizit oder explizit eine ziemlich paternalistische Antwort auf diese Frage: Allwissende, fast übermenschliche Individuen fungieren bei ihnen als Gesetzgeber. Die Neo-Republikaner berühren die Frage überhaupt nicht. Alle neigen sie jedoch dazu, Demokratie als bloße Verfahrensdemokratie zu verstehen, als eine Regierungsform also, in welcher der Mehrheitswille das alleinige Entscheidungskriterium darstellt. Damit ist auch die Möglichkeit einer Tyrannei der Mehrheit nicht ausgeschlossen (eine solche Meinung vertritt Viroli ausdrücklich: Viroli 1999, 27). Unsere Autoren schließen sich somit einer rein formalen und institutionellen Definition der Demokratie an, nach der das Wesen jener Staatsform lediglich darin bestünde, dass in ihr die Mehrheit regiert. Dass dies eine sehr partielle und irreführende Definition ist; und eine Demokratie eher dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Minderheit von eben jener abgeschworenen Tyrannei der Mehrheit durch strenge und nicht der Mehrheit zur Disposition stehenden institutionellen Vorkehrungen schützt, scheint den Neo-Republikanern zu entgehen. Wenn also Viroli behauptet, „der republikanische Freiheitsbegriff sei anspruchsvoller als sowohl der liberale als auch der demokratische“ (Viroli 1999, 27), irrt er sich. Jener Begriff fokussiert eher die beiden, und hebt einen Aspekt hervor, der in beiden schon miteingeschlossen ist: Die Bürger müssen frei von der Willkür anderer sein – möge das die Willkür aller anderen Bürger oder einer Mehrheit unter ihnen sein. 3) Keine Republik kann lange bestehen, wenn ihre Bürger keine spezifischen Tugenden aufweisen. In der Meinung Herfrieds Münklers wurde in der politischen Theorie der Gegenwart der republikanische Tugenddiskurs durch den Interessensdiskurs liberaler Theorien6 ersetzt – d. h. durch eine Auffassung vom Staat als bloßes Instrument zur Durchsetzung individueller Interessen: „Geht das Interesse als sozio-politische Ordnungskategorie vom Individuum aus, das immer schon als konstituiert, interessebewusst und kalkülrational vorausgesetzt wird, [...] so wird dagegen im Tugenddiskurs der Einzelne aus der Sicht des bereits konstituierten Gemeinwesens ins Auge gefasst [...]. Eine Gesellschaftstheorie, die vom Individuum ausgeht, muss systematisch mit dessen Rechten beginnen“, während eine Gesellschaftstheorie, „deren systematischer Ausgangspunkt nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft ist“, auch die Pflichten des Individuums zu ihrem zentralen Element machen wird (Münkler 1992, 33). In der liberalen Gesellschaft werden die Bürger „moralisch entlastet [...]. Man kann es mithin als die tragende Grundüberzeugung des liberalen Rechtstaates ansehen, dass der öffentliche Raum von politisch durchsetzbaren, gar erzwingbaren moralischen Forderungen frei blieb und, in den Begriffen Kants, allein der Legalität unterstand, während sich die Moralität in den nicht-öffentlichen, politisch wie rechtlich nicht sanktionierbaren Raum des Privaten zurückzog. [...] Politische Tugend war hier nicht

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Münkler echot die typische kommunitaristische Kritik und spricht von einer „voraussetzungslose[n] Gesellschaftstheorie“ (Münkler 1992, 38).

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nur nicht gefordert, sondern ihr imperatives Auftreten wurde sogar als eine Bedrohung von Rechtsstaatlichkeit wie Liberalität“ angesehen (Münkler 1992, 26). Münklers Gegenthese hingegen lautet, dass politische Tugend, „verstanden als nicht erzwungene und nicht erzwingbare Intention der Orientierung unserer Handlungen am Gemeinwohl“, noch von zentraler Bedeutung für eine Gesellschaft ist, „welche die Ideale von Freiheit und Toleranz weniger mit dem Imperativ ihrer institutionell gebundenen Verstetigung als vielmehr dem ihrer Regenerations- und Anpassungsfähigkeit unter den Bedingungen traditionelle Werte konsumierender und/oder korrumpierender gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen zu kombinieren sucht.“ (A. a. O., 28) Darüber, was jene politischen Tugenden sind, herrscht allerdings keine Einigkeit unter den Republikanern, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

7.2. Einige Varianten des Republikanismus In der Tat bieten die Neo-Republikaner eine verkürzte historische Darstellung der republikanischen Tradition an. Nach Robert Dahl gibt es hingegen mindestens zwei Varianten dieser Tradition: eine demokratische und eine aristokratische. Erstere sieht im Übergewicht politisch und ökonomisch dominierender Minderheiten das Hauptrisiko für den Staat. Sie wittert somit in der oligarchischen Entartung der Republik die Gefahr, die um jeden Preis vermieden werden soll. Sie hält mithin die uneingeschränkte Volksregierung für das beste Gegenmittel gegen eine solche Möglichkeit: Ihr Modell ist das Athen des Ostrakismos. Die aristokratische Variante fürchtet sich eher vor den Entscheidungen einer plebejischen Mehrheit, die sie für leicht manipulierbar und bestechlich, auf jeden Fall für unfähig hält, das Gemeinwohl zu erkennen. Ich glaube, dass im Bürgerhumanismus eben diese aristokratische Tendenz die Oberhand behält, während im moderneren, amerikanisch geprägten Republikanismus (der auch von Barber, Etzioni, Sandel usw. vertreten wird) die demokratische dominierend ist, auch wenn sich in beiden Traditionen Autoren finden lassen, die der jeweils entgegensetzten Tendenz nahe stehen, wie im Fall von John Adams oder anderen Founding Fathers von Madison bis hin zu Washington, die der Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, wenig vertrauten (vgl. Schudson 1999, 48 ff.). Auch in Bezug auf den wohl auffälligsten Bestandteil der republikanischen Theorie, nämlich die Idee der Notwendigkeit von Bürgertugenden, gehen die Meinungen der Republikaner auseinander. Alle sind sich jedoch über mindestens eine Tugend einig, wie Michael Sandel sehr prägnant formuliert hat: „Im Mittelpunkt der republikanischen Theorie steht der Gedanke, Freiheit beruhe auf Bürgertugend, also auf der Bereitschaft der Bürger, das Gemeinwohl höher zu stellen als ihre privaten Zwecke, nämlich die Bereitschaft, das Eigeninteresse zugunsten des Gemeinwohls zu opfern.“ (Sandel 1995, 55; ähnlich Münkler 1992, 25) Abgesehen von den Schwierigkeiten, welche die Definition des Gemeinwohls aufwirft (z. B.: Worin besteht es? Wie findet man es? Wer definiert es?), stellt eine solche Bereitschaft allerdings keine spezifische republikanische Bürgertugend dar. Sogar in Hobbes’ Modell findet man eine Rechtfertigung einer solchen Haltung, wenn auch eine prudentielle

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KAPITEL 7

und keine moralische oder ethische. Die meisten liberalen Denker sehen in dieser Bereitschaft eine notwendige Bedingung des Weiterbestehens des Staates, da sie diesen als kooperatives Unternehmen auffassen, in dem die Individuen zum Zweck des gemeinsamen Erfolges (bei der Durchsetzung und Erhaltung von Frieden oder bei anspruchsvolleren Zielen) zu manchen Opfern bereit sein müssen. Die Republikaner meinen, diese Bereitschaft soll so weit gehen, dass der Bürger alles, auch sein Leben, für den Staat opfern muss. Andere Tugenden, die als mögliche Kandidaten für die „Ausstattung“ des guten Bürgers erwähnt wurden bzw. werden, sind bekanntlich die Vaterlandsliebe, die Solidarität unter Bürgern, die aktive Teilnahme am politischen Leben, die militärische Tapferkeit, die Anständigkeit, ein weitgehender Gemeinschaftssinn, ein gewisser Grad an Religiosität. Die letzten vier Tugenden lassen sich kaum überzeugend als normativ erforderliche Bürgertugenden rechtfertigen; die ersten drei lassen sich kaum überzeugend definieren, wie wir in den nächsten Abschnitten zum Teil sehen werden.7 In ihrer Betonung der Notwendigkeit von Bürgertugenden nehmen die Republikaner schließlich sehr unterschiedliche Positionen ein. Jefferson appelliert z. B. im Namen einer archaisierenden agrarischen Gesellschaft, die sich gegen die negativen Einflüsse eines sich anbahnenden Industriekapitalismus sperren sollte (vgl. Jefferson 1999, 170 f.). Rousseau schwankt zwischen Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit (dem Goldenen Zeitalter der Schweizerischen Kantone) und der Hoffnung einer utopischen Zukunft (wie im Entwurf für die Verfassung von Korsika). Gegenwärtige Denker bemühen sich eher darum, das republikanische Ideal an die moderne Gesellschaft anzupassen – z. B. Barber, der gezielte Maßnahmen zur Förderung einer aktiven politischen Partizipation durch die neuesten technischen Mittel vorschlägt (vgl. vor allem Barber 1998, aber solche Ideen waren schon bei Barber 1994 vorhanden). Ein weiterer umstrittener Punkt ist der Bürgerstatus selbst. Autoren, die zwar den NeoRepublikanern nahe stehen, sich jedoch nicht als solche verstehen, heben einen wichtigen Aspekt der Problematik der Staatsbürgerschaft hervor. Anstatt zwei konkurrierende Denktraditionen (Liberalismus vs. Republikanismus) auszumachen, stellen sie fest, dass die Gestalt des Staatsbürgers selbst eher einen historischen als einen ideologischen Wandel vollzogen hat. In einer früheren Phase wurde Staatsbürgerschaft mit aktiver politischer Partizipation identifiziert; in einer späteren Phase wurde sie zu einem rechtlichen Status. Ich benutze hier absichtlich die unpräzisen Bezeichnungen „früher“ und „später“, da die Autoren hinsichtlich des genauen Zeitpunkts dieser Wandlung nicht übereinstimmen. Pocock führt sie auf die römische Kaiserzeit zurück, als nämlich immer mehr Individuen und schließlich durch Caracallas Erlass von 212 n. Ch. so gut wie alle Untertanen des Kaisers zu cives wurden (Pocock 1992; zur allgemeinen Frage der Staatsbürgerschaft im alten Rom vgl. Donati/Poma 1996). Jener Begriff war lange Zeit nur für die römischen oder italienischen Einwohner reserviert und mit der Idee einer aktiven politischen Partizipation stark verbunden (auch wenn sie im Laufe der Zeit und vor allem mit der Entstehung des Kaiserreiches eher unbedeutend geworden sein mag). Nun

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Ich kann auf die Frage der Vaterlandsliebe nicht eingehen, da sie den Rahmen des vorliegenden Beitrags übersteigen würde.

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wurden Staatsbürgerschaft und politische Partizipation endgültig voneinander abgekoppelt: Civis romanus war in der Folge ein bloßer Träger von Rechten, vor allem in Bezug auf die Gerichtsbarkeit (ein berühmtes Beispiel, das auch Pocock erwähnt, ist dasjenige von Paulus in: Apostelgeschichte 22, 25 ff.). Der ‚moderne‘ Status von civis ist also durch bestimmte Rechte definiert, während der alte civis vor allem Pflichten gegenüber der politischen Gemeinschaft hatte – allen voran partizipatorische, aber auch Pflichten in Bezug auf die Annahme von Ämtern, auf die Einsetzung seines Reichtums zugunsten des Gemeinwesens, auf eine bestimmte Lebensführung usw. Deswegen setzt auch Pocock den republikanischen Freiheitsbegriff dem liberalen entgegen, sieht jedoch im Unterschied zu den oben erwähnten Neo-Republikanern im Ersteren „eine positive Auffassung von Freiheit“, nach welcher der Mensch „als animal politicum so beschaffen sei, dass seine Natur nur durch eine vita activa in einem vivere civile verwirklicht werden könne“. Freiheit bestünde dann in der Teilnahme an der politischen Macht, am „imperium“, so dass die Bürger gleichzeitig Regierende und Regierte sind (Pocock 1993, 140) – was eher dem von den Neo-Republikanern als „demokratisch“ bezeichneten Freiheitsbegriff gleichkommt.8 Auch andere Autoren beziehen sich auf den Unterschied zwischen „citizenship as practice“ und „citizenship as status“ (Meyer 1998, 75 f.), setzen ihn jedoch nicht in einen Zusammenhang mit gewissen historischen Ereignissen wie der von Pocock zitierten Erweiterung der Staatsbürgerschaft in der Kaiserzeit. Meyer spricht zum Beispiel allgemein von „the early formative period of modern democratic thought“ (a. a. O.) und scheint dabei die neo-republikanische These indirekt zu unterstützen, nach der jene Epoche mit der Differenzierung der republikanischen und der liberalen Tradition zusammenfällt (wann sie nach Meyers Meinung genau stattfindet, ist nicht klar, aber aus dem Zusammenhang kann man feststellen, dass sie sicher nicht vor Hobbes und Locke anfing). Alle diese Denker scheinen den Wandel im Bürgerstatus negativ zu beurteilen, denn damit hörte die Staatsbürgerschaft auf, das entscheidende Merkmal bei der Identitätsbildung der Individuen zu sein. Sie wurde bloß zu einer Eigenschaft unter anderen. Ein Athener der klassischen Zeit war in erste Linie ein Bürger der Stadt Athen, und allein durch jene Eigenschaft bekamen alle anderen Aspekte seines Lebens (sein Beruf, seine Position in der Familie, usw.) Sinn und Farbe. Der moderne Mensch (möge diese „Modernität“ auch auf die römische Kaiserzeit zurückgehen) ist hingegen in erster Linie privates Individuum, und seine Staatsbürgerschaft ist für die Definition seiner Identität nicht entscheidender als seine Rolle als Mutter, Vater, ArbeiterIn, FreiberuflerIn usw. Der von Pocock und den anderen Autoren festgestellte Wandel im Bürgerstatus ist nicht zu leugnen. Es ist allerdings nicht einzusehen, weshalb er eine negative Erscheinung darstellt – es sei denn, man teilt von vornherein die Auffassung, Staatsbürgerschaft solle das entscheidende Merkmal bei der Identitätsbildung von Individuen sein. Eine solche Auffassung ist jedoch genauso begründet (oder: unbegründet) wie die entgegensetzte, nach der es besser sei, wenn sich Menschen von den Zwängen der Gemeinschaft

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Pocock echot hier Constants berühmte Unterscheidung zwischen der Freiheit der Antike und der Moderne.

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befreien und als freie Individuen behaupten können. Zudem: Selbst wenn man die negative Beurteilung dieses Wandels teilen würde, bleibt die geschichtliche Veränderung endgültig, da sie mit einem historischen Prozess verbunden ist, der nicht umkehrbar ist: Man kann die heutige hochkomplexe, post-industrielle Gesellschaft unmöglich in Perikles’ Athen verwandeln. Es wäre vielmehr angebracht, nach Formen politischer Partizipation zu suchen, die eine aktivere Teilnahme der Bürger moderner Demokratien am politischen Leben ermöglichen (eine Suche, die von Barber, Habermas und vielen anderen unternommen wird: zu Barber vgl. unten 7.5). Eine weitere, in der Literatur beliebte Unterscheidung ist jene zwischen dem Individuum als Bürger und dem Individuum als Konsument, die u. a. von Habermas unternommen wird (Habermas 1981, II 514). Die Bürger der gegenwärtigen liberalen Demokratien sind danach zu bloßen Konsumenten staatlicher Dienstleistungen geworden. Anstatt die res publica mitzugestalten, geben sie sich damit zufrieden, dass ihnen der Staat bestimmte Güter (innere und äußere Sicherheit, Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem usw.) zukommen lässt. So wie der Kunde die Herstellung eines Produktes nicht selbst unternimmt und die „Politik“ der Firmen nur indirekt beeinflusst, beschränkt sich der Einfluss der Bürger auf den demokratischen Entscheidungsprozess nur noch auf die Wahl von Berufspolitikern. Die Parteien werden somit zu Produzenten und ihre Programme zu Warenkatalogen, unter denen der Bürger-Kunde zu wählen hat. Statt dass die Bürger selbst bestimmte Funktionen und Ämter ausüben, wie in der klassischen Demokratie der Antike, des Mittelalters und der Renaissance, wird der staatliche Apparat (dessen Aufgabe, wie betont, lediglich in der Verteilung von Dienstleistungen besteht) von Bürokraten verwaltet, über deren Tätigkeit die Bürger kaum Kontrolle besitzen.

7.3. Kritische Stimmen zum Republikanismus In diesem Abschnitt werde ich einige kritische Stimmen von Denkern darstellen, die den Republikanismus als Denkrichtung oder einzelne seiner Vertreter bzw. Positionen kritisiert haben. Die erhobenen Kritiken weisen nämlich m. E. auf wichtige Defizite und Probleme der republikanischen Position hin und können uns dabei helfen, Elemente für eine alternative Position in Bezug auf die Frage der Haltung der Bürger zum Staat zu entwickeln. Im Folgenden werde ich mich an die kritischen Einwände von a) Robert Dahl, b) Kenneth Baynes und c) Michael Walzer und Stephen Holmes anlehnen, gleichzeitig jedoch auch meine eigenen darstellen. a) Dahl und die „ungelösten Probleme“ des Republikanismus Robert Dahl führt die Tatsache, dass der Republikanismus in all seinen Varianten im Laufe der Zeit an Einfluss stark eingebüsst hat, auf einige „ungelöste Probleme“ der republikanischen Tradition zurück, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu deren Verfall führten (Dahl 1989, 27f.): 1) Der in dieser Theorie benutzte Begriff von Interesse war zu vereinfachend, um die Wirklichkeit komplexer moderner Gesellschaften akkurat zu beschreiben und zu steuern.

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2) Interessenkonflikte waren schon ein wesentliches Element der ersten, vom Republikanismus stark idealisierten Republiken, und als solche aus dem politischen Leben nicht auszuschließen. Das Ideal einer Harmonisierung der Privatinteressen durch die Tugend der Bürger wich der Entstehung politischer Parteien, die solche Interessen zu kanalisieren versuchten. 3) Eine auf der Tugend der Bürger basierenden Republik konnte kaum in großen und heterogenen Gesellschaften wie z. B. Frankreich, England oder den USA entstehen. Die traditionelle republikanische Idee war, dass wahre Republiken nur in kleinen Staaten möglich seien (wie schon Montesquieu und Rousseau merkten). Die republikanische Tradition erwies sich daher für die Aufgabe der Demokratisierung der großen Nationalstaaten als ziemlich irrelevant. 4) Die republikanischen Institutionen, vor allem die direkte Teilnahme des Volkes am Entscheidungsprozess, konnten auf der Ebene von weiten Nationalstaaten kaum angewandt werden. Letztere machten vielmehr andere Institutionen erforderlich, allen voran ein repräsentatives System, wie es liberale Autoren wie Locke oder Kant befürwortet hatten. Aus Dahls Sicht ist es daher unverständlich, dass trotz jener vom Republikanismus ungelösten Probleme republikanische Denker jeglicher Prägung immer noch versuchen, Lösungen für die angebliche Krise unserer liberalen Demokratien in der republikanischen Tradition zu finden. Diese Tradition ist nicht nur geschichtlich gescheitert, sondern hat sich auch als theoretisch unbefriedigend erwiesen. Dahls Kritik gründet weniger auf philosophischen Argumenten als vielmehr auf der empirischen Feststellung der Unzulänglichkeit republikanischer Positionen in Bezug auf konkrete politische Probleme. Es ist allerdings auch möglich, eine mehr philosophisch angehauchte Kritik am Republikanismus zu üben, wie z. B. im Fall von Kenneth Baynes, Michael Walzer oder Stephen Holmes. b) Charles Taylors Republikanismus und Kenneth Baynes’ Einwände In einem Aufsatz über die Polemik zwischen Kommunitaristen und Liberalen zweifelt Charles Taylor daran, dass der Liberalismus imstande sei, die Bedingungen zu schaffen, die für eine „republikanische Selbstregierung“ notwendig sind (Taylor 1993). Taylors Position beruht auf zwei im Grunde ziemlich bekannten Argumenten der LiberalismusKritik. Das erste Argument betrifft die Unfähigkeit des Liberalismus, die Individuen an den Staat zu binden, und sie zur Orientierung an ein „gemeinsames Gut“ zu führen. Taylor bemängelt an der liberalen Gesellschaft eine „freiwillige Identifizierung der Bürger mit der Polis“ und schließt sich der „republikanischen These“ an, wonach die „wesentliche Bedingung einer freien (nichtdespotischen) Regierung“ sei, „dass die Bürger diese Art patriotischer Identifikation haben“. Ein solcher Patriotismus ist in einer „prozedural-liberalen“ Gesellschaft nur unwahrscheinlich vorhanden (a. a. O., 114 ff.). Taylors zweites Argument betrifft das unterschiedliche Verständnis des Bürgerstatus, das Liberalismus und Republikanismus haben. Liberalismus gehe danach von miteinander konkurrierenden Bürgern aus, die im Staat ein Mittel zur Erreichung ihrer Privatinteressen sehen. Der Republikanismus definiere hingegen den Bürgerstatus über die

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Tatsache, dass die Bürger an der Regierung teilnehmen und die politischen Institutionen als „Ausdruck ihrer selbst“ betrachten. Daher ihre stärkere Fähigkeit, „gemeinsame Identifikationen“ mit der politischen Gemeinschaft zu entwickeln und Letztere „zu ehren und zu bewahren“ (a. a. O., 122 ff.). Taylor sieht somit eine enge Verbindung zwischen politischer Autonomie (als Selbstregierung) und Patriotismus. Die logische Folge davon wäre: Wenn Letztere nicht vorhanden ist (wie in der „prozedural-liberalen“ Gesellschaft), dann gerät auch Erstere in Gefahr. Abgesehen davon, dass viele Republikaner (und darunter auch die Neo-Republikaner) politische Autonomie keineswegs mit der konkreten Teilnahme der Bürger an der Regierung – besser: an den Gesetzgebungsprozessen identifizieren, bleiben bei Taylors These verschiedene Fragen offen. Die Erste betrifft das Wesen des Patriotismus selbst, auf das hier einzugehen den Rahmen vorliegender Arbeit übersteigen würde. Man kann auf jeden Fall feststellen, (I) dass es sich keineswegs um einen unumstrittenen Begriff handelt, und (II) dass auch aus einer prozedural-liberalen Perspektive heraus bestimmte Formen des Patriotismus (Tocquevilles „vernunftmäßiger Patriotismus“, Sternbergers Verfassungspatriotismus, Verantwortungspatriotismus usw.) möglich sind (Pinzani 2004). Fraglich ist auch, wie und inwieweit eine „freiwillige“ Identifizierung mit der „Polis“ vom Staat selbst gefördert werden kann, ohne dass er in das private Leben der Bürger zu stark eingreift. Eine solche Identifizierung würde vielleicht eher stattfinden, wenn der Staat das Wohl seiner Bürger fördert und gerecht handelt, nicht wenn er sie durch eine patriotische Pflichterziehung von der eigenen Güte zu überzeugen versucht. Weitere Einwände werden von Kenneth Baynes in einem Aufsatz erhoben, in dem er u. a. Taylors These kommentiert (Baynes 1995). Eine erste Reaktion auf Taylors „Argument“ wäre, danach zu fragen, wie die von ihm geforderten, mit seiner Auffassung des Republikanismus verbundenen „politischen Tugenden und die von ihnen hervorgebrachte Form von Patriotismus oder ‚republikanischer Solidarität‘ eigentlich im einzelnen beschaffen sind“ (a. a. O., 446). Baynes fragt sich insbesondere, ob sie sich von den Tugenden unterscheiden, „in denen Rawls eine notwendige Bedingung zur Gewährleistung einer ‚fairen sozialen Kooperation‘ sieht (z. B. Höflichkeit, Toleranz, Vernünftigkeit und Sinn für Fairness)“. (Zu Rawls’ Bürgertugenden vgl. unten 7.6). Aber Baynes’ Haupteinwände gegen Taylor sind andere. „Zum ersten vertritt Taylor, zumindest in dem hier diskutierten Aufsatz, eine extrem unvermittelte Vorstellung vom öffentlichen Leben: Der Wille der Bürger zur Identifikation betrifft unmittelbar die politische Gemeinschaft als Ganze und ist nicht durch ihre Mitgliedschaft in freiwilligen oder sekundären Vereinigungen vermittelt.“ Dem „unvermittelten“ Modell Taylors setzt Baynes Walzers Modell des liberalen Pluralismus entgegen, in dem „die Treue der Bürger in erster Linie den zahlreichen überkommenen und freiwilligen Vereinigungen“ gilt, denen sie angehören, „und nur vermittelt dem neutralen Staat, der diese Vereinigungen schützt“ (a. a. O., 446 f.).9 Mit anderen Worten: Taylor, wie die meisten Kommunitaristen, ist nicht imstande, genau zu erklären, mit welcher Gemeinschaft sich die Indivi-

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Baynes bezieht sich auf Walzers Buch Spheres of Justice.

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duen identifizieren sollen – besonders in unserer pluralistischen Gesellschaft (und der Pluralismus unserer Gesellschaft ist ein Faktum, mögen auch manche Kommunitaristen das nicht gern sehen) – und endet somit in einer Forderung zur Identifizierung mit dem Staat. Der zweite Einwand ist, „dass Taylor an seine Bürger recht große moralische Anforderungen stellt: Er erwartet von ihnen, dass sie sich alle gemeinsam an eine einzige, übergreifende Konzeption eines ‚zentralen‘ Guts des öffentlichen Lebens gebunden fühlen (‚das höchste politische Gut‘) und dass sie bereit sind, ihre eigenen Privatinteressen diesem gemeinsamen Gut unterzuordnen“. Diese Position überfrachtet nicht nur die Bürger mit moralischen Forderungen, sondern sie macht „die Bedingungen für eine deliberative Politik fast ausschließlich an der moralischen Fähigkeit der Bürger“ fest. Dagegen können nach Baynes’ Meinung „diese Anforderungen durch geeignete Institutionen erleichtert und in manchen Fällen sogar von ihnen übernommen werden“ (a. a. O., 447). Auf diese möglichen institutionellen Vorkehrungen werde ich zurückkommen (vgl. unten 7.7). Baynes wirft also Taylor vor, eine ungenaue Definition der gewünschten Tugenden anzugeben und eine moralische Überforderung der Bürger vorzunehmen: zwei Kritiken, die man auf die ganze republikanische Tradition ausweiten könnte, und die letztlich auf das mehrmals im Laufe vorliegender Arbeit angesprochene Problem des republikanischen Teufelkreises der Bürgertugenden hinweist. Die Kritiker des Liberalismus meinen eigentlich, dieser bewegt sich in einem Teufelkreis: Um sich zu reproduzieren, kann eine Gesellschaft nicht wertneutral sein, wie die meisten Liberalen fordern. Auch eine liberale Gesellschaft beruht auf bestimmten Eigenschaften ihrer Mitglieder, die entweder allgemein und für jegliches Gemeinwesen notwendig sind, wie eine friedliche Haltung den Mitbürgern gegenüber, ein minimaler Rechtssinn, ein gewisser Grad an Gemeinsinn, usw., oder die für eine liberale Gesellschaft typisch sind, wie Toleranz, Bereitschaft zum Kompromiss, Abneigung gegen Fundamentalismus, usw. Auch eine liberale Gesellschaft muss sich daher um die Erhaltung solcher Eigenschaften kümmern – etwa durch eine gezielte Bildungspolitik, durch den Rekurs auf symbolische Akte, die den Gemeinschaftssinn der Bürger stärken sollen, usw. Die von den Liberalen geforderte Wertneutralität der Institutionen ist somit nur ein Hirngespinst. Auf die Frage der Bedeutung von Wertneutralität werde ich noch zurückkommen (vgl. unten 7.6). Hier möchte ich nur feststellen, wie der Vorwurf des Teufelskreises, der gegen die Liberalen erhoben wird, schließlich auch deren Kritiker trifft. Wenn bestimmte Haltungen oder gar Tugenden der Bürger zum Erhalt einer Gesellschaft notwendig sind, dann ist eine Gesellschaft, deren Mitglieder solche Haltungen bzw. Tugenden nicht aufweisen, kaum noch zu retten – wie schon Machiavelli und Rousseau (beide Republikaner!) erkannt hatten. Die Entwicklung jener Einstellungen seitens der Individuen setzt nämlich eine soziale und politische Umwelt voraus, die sie ermöglicht: Sie setzt also eine integre Gesellschaft voraus, in der die Individuen schon die geforderten Eigenschaften besitzen – denn Tugend (auch Bürgertugenden) erwirbt man schließlich nicht durch abstraktes Lernen, sondern durch Ausübung derselben und durch die Befolgung von tugendhaften Beispielen.

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c) Die versteckte Gefahr der Radikalisierung Ich möchte schließlich auf eine versteckte Gefahr hinweisen, die m. E. mit dem Republikanismus eng verbunden ist, nämlich auf die Gefahr der Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung. „Die politische Theorie des Republikanismus steht“, wie uns Michael Sandel erinnert, „vor der Herausforderung, den moralischen Charakter der Staatsbürger gegen verderbliche Einflüsse wie Luxus, Reichtum und Macht zu schützen.“ Diese Theorie sei „bestrebt, diejenigen Charakteranlagen der Staatsbürger zu fördern, die für das gemeinsame Gut der Selbstregierung unerläßlich sind“. Der moralische Charakter wird daher von ihr „nicht bloß als Privatsache angesehen, sondern als Sache von öffentlichem Interesse. In diesem Sinne befaßt sich der Republikanismus nicht nur mit den Interessen seiner Bürger, sondern auch mit deren Identität.“ (Sandel 1995, 55 f.) Eben der letzte Punkt zeigt die Gefahren, denen eine so verstandene republikanische Position ausgeliefert ist. Sie rückt nicht einfach nur die individuellen Meinungen und Interessen der Bürger in den Mittelpunkt, sondern sogar ihre Identität als Individuen. Damit wird die Tür zu einer Radikalisierung und letztlich zu einem Gewaltwandel in der Politik geöffnet. Das wurde u. a. von Michael Walzer betont, als er schrieb: „Weil [die republikanische Politik] auf einer gemeinsamen Bindung beruht, ist sie oftmals erbitterter und trennender als die Politik in anderen Regierungssystemen.“ (Walzer 1996, 189) Auch Stephen Holmes weist auf das Konfliktpotenzial hin, das in der republikanischen Idee von der Bürgertugend steckt: „Wenn ‚Tugend‘ die Neigung bedeutet, seinen eigenen Vorteil dem Allgemeinwohl unterordnen zu können, dann ist sie allerdings nicht ganz und gar verläßlich, da verschieden Auffassungen darüber, was das Allgemeinwohl sei, miteinander in Konflikt geraten können.“ (Holmes 1995, 39010) Politische Auseinandersetzungen sind aus einer republikanischen Perspektive heraus nicht bloße Meinungs- und Interessenkonflikte, sondern ideologische Streitigkeiten über das „wahre“ Wesen der Gemeinschaft und die kollektive Identität. Wenn man meint zu wissen, wo das eigentliche Gemeinwohl liegt, und wenn man sich als wahrer Patriot definiert, wird man andere Standpunkte nicht einfach als Ausdruck unterschiedlicher Meinungen bzw. verschiedener Interessen betrachten, sondern schlicht als falsch. Die Polarisierung kann so weit gehen, dass der politische Gegner bestenfalls als ein gewissenloser Ignorant, häufig jedoch als Staatsfeind abgestempelt wird. Die Folgen sind fast unvermeidlich die Diskriminierung des Gegners und nicht zuletzt die offene Gewaltanwendung gegen ihn, damit er dem Land nicht schadet – so die typische Rechtfertigung der meisten Golpisten und politischen Täter, von Pinochet bis hin zu Rabins Mörder, die sich allesamt als Vaterlandsretter dargestellt haben. Walzer bemerkt zu Recht, dass der liberale Staat „kein Heim für seine Bürger“ sein kann, da es ihm „an Wärme und Vertrautheit“ mangelt; und dass ein liberaler Staat „kein kollektives Ziel“ haben kann (Walzer 1996, 190 f.). Aber es ist der Staat, in dem wir leben, und eine Rückkehr zu dem Staat, von dem Rousseau und die traditionellen Re-

10 Das Original hat: „since different conceptions of the common good may violently conflict“ (S. 228 der englischen Ausgabe; kursiv – A. P.)

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publikaner schwärmten, ist nicht möglich. Dieser Staat beruhte in der Meinung jener Denker „auf gesellschaftlicher, religiöser und kultureller Einheit“ (a. a. O.), also auf einem homogenen Volk. Für seine Bürger waren daher Patriotismus und Solidarität fast angeborene Gefühle, wie auch J. S. Mill betonte (zit. in Walzer 1996, 192). Es ist m. E. fraglich, ob es je so einheitliche Gemeinschaften gegeben hat: sicher nicht in Rousseaus Zeiten, da er selbst entweder auf eine stark idealisierte Vergangenheit (die Schweiz des Goldenen Zeitalters) oder auf isolierte Gesellschaften (Korsika) hinwies. Eine solche Einheit ist auf jeden Fall in unseren gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaften keineswegs möglich. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass es nicht sein könnte, auch in unserer pluralistischen Gesellschaft solche Werte wie Solidarität, Zugehörigkeit und politische Teilnahme durchzusetzen. Die Sorge um die Gesinnung der Bürger ist keineswegs ein ausschließliches Merkmal des Republikanismus, sondern wird auch von vielen Denkern geteilt, die gemäß der Kategorisierung der Neo-Republikaner eher der liberalen oder der demokratischen Tradition zuzurechnen sind. Solche Gesinnung hat jedoch in der liberalen Perspektive weder mit Fragen der individuellen noch mit Fragen der kollektiven Identität zu tun, sondern ist eng mit der Frage der Errichtung demokratischer Institutionen verbunden. Das ist paradoxerweise auch das Ergebnis, zu dem zwei republikanische Autoren kommen, wenngleich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Robert Putnam mit seinen empirischen Analysen und Benjamin Barber mit seinem Plädoyer für eine „starke Demokratie“.

7.4. Das Ideal der „civic community“ und seine Grenzen In seiner klassischen Studie über die zivilen Traditionen in Italien hat Robert D. Putnam ein Modell der civic community angeboten, das eine gelungene Zusammenfassung des republikanischen Ideals einer guten Republik darstellt (Putnam 1993, 86 ff.). Er identifiziert folgende Kriterien, die eine solche civic community auszeichnen: „civic engagement“ (das sowohl aktive politische Teilnahme als auch ein Interesse am Gemeinwohl und die Bereitschaft einschließt, das eigene Interesse zum Wohl der Gemeinschaft zu opfern), „political equality“ (die Bürger besitzen alle dieselben Rechte und Pflichten, und die Politiker sind dem Volk gegenüber für ihre Entscheidungen verantwortlich), „solidarity, trust and tolerance“ (die Bürger müssen auf die Mitbürger zählen können), „associations and social structures of cooperation“ (Putnam übernimmt hier Tocquevilles Charakterisierung der Bürgervereinigungen als Hauptpfeiler der amerikanischen Demokratie: Sie üben einen inneren Einfluss auf das Gewissen der Mitglieder sowie einen äußeren Einfluss auf die Gemeinschaft und auf die Politik aus). Anhand bestimmter Indices weist Putnam den verschiedenen Regionen Italiens einen gewissen Grad an civicness zu und stellt fest, dass es eine direkte Korrelation zwischen diesem Grad und dem Grad an administrativer Effizienz gibt. Die Regionen, welche die meisten Züge einer civic community aufweisen, sind auch die effizientesten in Bezug auf Verwaltung, Dienstleistungen usw. Somit scheint die Behauptung bestätigt zu werden, politische Gemeinschaften würden einer bestimmten Einstellung der Bürger bedürfen, um besser zu funktionieren.

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Putnams Analyse beschränkt sich allerdings auf die Feststellung einer Korrelation zwischen der Existenz einer Kultur der civicness und administrativer Effizienz. Die traditionellen Republikaner bestehen eher auf der Korrelation zwischen Bürgertugenden und Erhaltung der republikanischen Freiheit und Souveränität (verstanden als Unabhängigkeit von der Willkür anderer Staaten). Ein hoher Grad an administrativer Effizienz ist auch in nicht-demokratischen Staatswesen denkbar, wie das Beispiel des Habsburger Kaiserreiches zeigt. Und die Kriterien der idealen civic community kann auch eine Gesellschaft erfüllen, die letztlich ausgerechnet aufgrund der Erfüllung dieser Kriterien weniger effizient oder sogar politisch schwächer wird, wie z. B. die Florentiner Republik ab Mitte des 14. Jahrhunderts. Außerdem ist nicht eindeutig, wie die von Putnam angebotenen Kriterien genau zu definieren sind. „Civic engagement“ oder politische Partizipation können viele unterschiedliche Gestalten annehmen: von der bloßen Wahlbeteiligung (die ein eher minimales, wenn nicht minimalistisches Kriterium darstellt) bis hin zur Militanz in politischen Organisationen und Parteien, von der Pflege guter Nachbarschaft bis hin zur Teilnahme an Bürgerinitiativen, von der einfachen Spendenbereitschaft bis hin zum freiwilligen Mitwirken bei karitativen Vereinen und Anstalten. Die Schwierigkeit, Wesen, Ausmaß und Grad des zivilen Engagements festzustellen, teilt Putnam allerdings mit der gesamten republikanischen Tradition. Ähnliches gilt für die Frage der Solidarität: Was ist sie genau, und wie manifestiert sie sich? Putnam spricht von der Tatsache, dass die Bürger auf die Mitbürger zählen können: aber inwiefern und in welcher Hinsicht? Es kann sich um jenes minimale Vertrauen handeln, das mich bei der Erfüllung meiner rechtlichen Bürgerpflichten hoffen lässt, dass sich meine Mitbürger nicht als ‚Trittbrettfahrer‘ erweisen werden. Oder es kann sich um ein weitgehenderes Vertrauen handeln, das eher mit Lebenseinstellungen, Selbstverständnis, Weltanschauungen und Zukunftsvisionen zu tun hat. Die Solidarität kann sich schließlich auf die unmittelbaren Mitbürger meines Dorfes, meines Viertels oder meiner Stadt beschränken (Putnams Ansatz weist auf eine lokale, nicht auf eine nationale Größe hin). Putnams Analyse bleibt hier unbestimmt. Sie zeigt zwar, dass in den Regionen, wo sich die Menschen gegenseitig misstrauen, nur an sich und an die eigene Familie denken und keinerlei Gemeinschaftssinn hegen, das öffentliche Leben ärmer ist und die Institutionen ineffizient werden. Wenn man jedoch von solchen, ziemlich trivialen negativen Ergebnissen absieht, gelingt es Putnam nicht, jene Haltungen und Handlungen genau zu beschreiben, welche die Solidarität unter Bürgern ausmachen. Wie umstritten diese Frage auch in der Praxis ist, zeigen unter anderem die unendlichen Debatten über den Sozialstaat. In den USA scheint dabei die Solidarität eher eine Frage individueller Einstellung zu sein – und das sowohl in der soziopolitischen Praxis der Regierungen aller politischen Couleurs als auch in den Werken republikanischer Denker. In Europa herrschte hingegen bis vor kurzem die Idee, die Solidarität sei in einem staatlichen System verkörpert, das sich um die Verteilung von unbezahlten Dienstleistungen und um die Hilfe bedürftiger Bürger kümmern soll. Neben solchen theoretischen Schwierigkeiten, die mit der Definition des Ideals der civic community selbst – allgemeiner mit der Definition des republikanischen Ideals –

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zu tun haben, mündet Putnams Studie in ein Ergebnis, das die republikanische These der Notwendigkeit einer integren individuellen Haltung seitens der Bürger eher schwächt. Putnams Forschung weist nämlich auf einen strikten Zusammenhang zwischen republikanischer Vergangenheit und dem Vorhandensein von Werten einer civic community hin, die eher in den Regionen Italiens anzutreffen sind, in denen während des Mittelalters und der Renaissance Stadtrepubliken blühten, d. h. vor allem in Nord- und Mittelitalien (allen voran in der Emilia Romagna, der Toskana und Umbrien). Dementsprechend niedrig ist der Bürgersinn in den süditalienischen Regionen, die eher durch die jahrhundertelange Dominanz feudaler und absolutistischer Machtstrukturen gekennzeichnet sind. Empirische Recherchen, wie jene Putnams, beweisen, dass sich eine civic community kaum durch individuelle Einstellungen errichten lässt, dass sie vielmehr Ergebnis bestimmter institutioneller Mechanismen ist. Wie Kant in der Friedensschrift bemerkte: Nicht von der inneren Moralität der Bürger ist „die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr umgekehrt von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten“ (ZeF VIII, 366). Und auch der Republikaner Rousseau meinte: „Es ist gewiss, dass die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht.“ (EP 238) Viroli muss das selbst zugeben, als er – im Anschluss an Machiavellis Diagnose über die Ursachen der Dekadenz Italiens – feststellt: „Es ist nicht schwer zu verstehen, wieso die Bürger, welche zur Teilnahme an der öffentlichen Sache [cosa pubblica, italienisch für res publica – A. P.] gefordert werden, eine andere Mentalität entwickeln als die Leute, die für Generationen als Untertanen eines Monarchen, eines Fürsten oder eines Papstes leben. Der Unterschied besteht darin, dass die ersteren die Fertigkeit erlernen, als Bürger zu leben, die letzteren hingegen jene, als Sklaven zu leben.“ (Viroli 1999, 9; Übersetzung – A. P.) Was aus Bürgern Konsumenten bzw. Kunden machte, war daher weniger die individuelle Einstellung seitens der Bürger selbst, sondern eher eine institutionelle Veränderung, sowie eine Modifizierung der Auffassung (und der Selbstauffassung) der Politik, der Aufgaben des Staates, der Rolle der Politiker und der Bürger. Was die institutionelle Veränderung betrifft, kann man – im Einklang mit den meisten neo-republikanischen Autoren – die Entstehung des modernen Nationalstaates als primäre Ursache für die veränderte Selbstauffassung der Individuen als Bürger nennen. Die Übernahme der meisten Kompetenzen und die Beanspruchung mehr oder weniger ausschließlicher Entscheidungsmacht durch die zentrale Autorität des Nationalstaates (König oder Parlament) und die Entwicklung eines professionellen Beamtentums haben der stadtrepublikanischen Form politischer Partizipation, wie wir sie aus dem Mittelalter oder aus der Renaissance kennen, ein Ende gesetzt.11

11 Das gilt natürlich auch für die italienischen Stadtrepubliken der Renaissance, obwohl sich in Italien bis 1861 kein Nationalstaat durchsetzte: Die Medici in Florenz, die Päpste im Kirchenstaat, die Savoyer im Piemont und die verschiedenen ausländischen Herrscher im restlichen Italien verhielten sich wie die absoluten Monarchen der großen europäischen Nationalstaaten und erstickten meistens jede Form politischer Partizipation seitens ihrer Untertanen.

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Was die Veränderung der Politikauffassung betrifft, ist festzustellen, dass die Hauptverantwortung für die heutige Krise der politischen Partizipation und daher letztlich der Demokratie selbst weniger bei den Bürgern und ihrer Einstellung als vielmehr bei den Berufspolitikern zu suchen ist. Das beweist auch die Tatsache, dass – entgegen ihren andauernden Appellen an die Bürger, sie mögen sich ihrer Pflichten gegen den Staat bewusster werden – die meisten Politiker mit Irritation und sogar Ärger auf jeglichen Einmischungsversuch der Bürger in den politischen Entscheidungsprozessen reagieren. Der fast hysterische Eifer, mit dem sich z. B. deutsche Politiker gegen jede Form direkter Demokratie wie Bürgerentscheidungen oder Referenda sperren, mag historische Wurzeln haben; gerechtfertigt ist er heutzutage kaum. Vom Bürger wird gefordert, dass er sich auf seine Verpflichtungen besinnt, nicht jedoch, dass er wirklich aktiver wird. Hatte Friedrich II. seinen Untertanen noch befohlen: „Räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (zit. in Kants Aufklärungsschrift VIII, 41), so scheint es heutzutage, dass manche Politiker diesen Spruch um den ersten Teil verkürzen möchten und den Bürgern die Fähigkeit absprechen, über die res publica zu urteilen. Gemäß der aristokratischen Variante des Republikanismus sollten die Bürger aus Sicht jener „Volksskeptiker“ nur noch die kompetenten Menschen auswählen, die den Staat lenken werden. Die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften macht es tatsächlich immer schwieriger für den Bürger, ein wohlüberlegtes Urteil sowohl über die konkrete Lage der Dinge als auch über die zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen zu fällen. Aber diese Komplexität macht es auch für den Berufspolitiker oder den Technokraten kaum möglich, die Probleme in ihrer ganzen Tragweite zu fassen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem jede politische Entscheidung unvorsehbare Folgen haben kann – lokal wie global, in der unmittelbaren sowie in der fernen Zukunft. Die wahre Krise der Demokratie wird weniger von der individuellen Haltung der Bürger als von der eingeschränkten Fähigkeit der Politik verursacht, gesellschaftliche Probleme zu erfassen und mindestens steuern zu können, wenn nicht sogar ganz zu lösen. Aus jener Unfähigkeit entstehen dann die negativen Phänomene, welche die Enttäuschung und Distanzierung der Bürger von der Politik kennzeichnen. Die Entpolitisierung der Bürger unserer gegenwärtigen Demokratien ist weniger das Ergebnis individueller Haltungen wie Hedonismus oder Individualismus als vielmehr die Folge einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die dazu geführt hat, dass sich die Bürger ohnmächtig fühlen. Das ist nicht unbedingt eine notwendige Folge der Massendemokratie, wie man im Anschluss an Rousseau denken könnte: Noch vor einigen Jahrzehnten war z. B. die Wahlbeteiligung in den westlichen Demokratien wesentlich höher als heutzutage, obwohl sie schon damals als Massendemokratien galten. Und sicher war der Anteil der in politischen Gruppierungen tätigen Bürger in den 60er und 70er Jahren wesentlich höher. Die Bürger hatten damals mehr Vertrauen in die Politik und in die Politiker. Wenn z. B. in Europa die sog. Europaskeptiker immer zahlreicher werden, liegt das vor allem an der Tatsache, dass die Europäische Union als eine ferne, unkontrollierbare Institution wahrgenommen wird, die willkürliche Entscheidungen über alle möglichen Aspekte des Alltagsleben trifft, ohne sich jedoch um die Meinung der Betroffenen selbst zu kümmern (ob dieses Bild richtig ist oder nicht, bleibe hier dahingestellt). Die Bürger wissen selten, von wem und durch welche Mechanismen die Entscheidungen

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getroffen werden: Ob es das Parlament oder die Kommission oder irgendeine Behörde in Brüssel war. Sie wissen nur, dass z. B. von nun an die Lebensmitteletiketten nicht mehr alle Inhaltsstoffe genau aufweisen müssen, oder dass – umgekehrt – alle Weinetiketten dieselbe, behördlich verordnete, willkürlich festgesetzte Größe haben müssen. Ihre Beziehung zu den Institutionen der Europäischen Union droht somit die gleichen Züge anzunehmen, wie diejenigen von Untertanen eines launischen Monarchen im absolutistischen Staat. Schuld daran sind sicher nicht die Bürger, sondern – auf europäischer sowie auf nationaler Ebene – die Institutionen, die sich von ihnen entfernt haben. Dasselbe gilt für die Unkontrollierbarkeit der Wirtschaft, die von vielen Seiten beklagt wird. Wenn ökonomische Imperative die Oberhand über politische und soziale Überlegungen gewonnen haben, ist jenes Phänomen auf politische Entscheidungen zurückzuführen, die so etwas erst ermöglichten und erleichterten: von der Aufhebung des Bretton Wood-Systems über die deregulations unter Reagan und Thatcher bis hin zu den heutigen Liberalisierungen und Privatisierungen. Dass die Menschen weiterhin willig sind, am politischen Leben teilzunehmen, zeigt sich vor allem in ihrem Engagement in jenen Organisationen und Bewegungen, die in den letzten Jahren als eine alternative, häufig kritische Gegenstimme zur offiziellen Politik entstanden sind. Während sich die Vertreter der Letzteren von der Masse der Bürger auch physisch abkapseln (wie man bei den meisten internationalen Gipfeltreffen in Genua, Calgary, Rostock usw. in schöner Deutlichkeit beobachten kann), kommen die Bürger zusammen, nicht nur um gegen die „fernen“ Volksrepräsentanten zu protestieren, sondern auch, um eigene politische Projekte und Visionen zu entwerfen, die bei solchen Veranstaltungen wie z. B. dem World Social Forum in Porto Alegre deutlich werden. Diese Menschen verstehen sich weniger als Mitglieder einer in sich geschlossenen nationalen Gemeinschaft, sondern mehr als Weltbürger, die von denselben Problemen und Sorgen wie die Bürger anderer Länder berührt sind. Diese globale Dimension politischer Tätigkeit, die immer mehr an Bedeutung gewinnt, wird von den republikanischen Autoren beiseite gelassen – und darin besteht eine offensichtliche Grenze ihrer Position.

7.5. „Starke Demokratie“ und die Frage direktdemokratischer Institutionen Benjamin Barber versteht Republikanismus als eine Position, die für die Errichtung einer „starken“ Demokratie eintritt. Dabei unterscheidet er sich wesentlich von den NeoRepublikanern à la Viroli, die sich im Anschluss an die aristokratischen Stränge des Republikanismus vom demokratischen Ideal der bürgerlichen Freiheit als Selbstgesetzgebung absetzen wollen (Viroli 1999). Barber hingegen identifiziert republikanische Freiheit mit Bürgerbeteiligung, und diese mit der Teilnahme am demokratischen Entscheidungsprozess. Dabei kritisiert er im Anschluss an Rousseau jede Form von repräsentativer Demokratie scharf, denn „durch das Prinzip der Repräsentation werden die Individuen letztlich der Verantwortung für ihre Werte, Überzeugungen und Handlungen beraubt. [...] Repräsentation ist mit Freiheit unvereinbar, da der politische Wille zum Schaden echter Selbstregierung und Selbstbestimmung delegiert, mithin veräußert wird“ (Barber 1994,

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138 f.). Barber tritt daher für direkte Demokratie ein und schlägt eine Reihe von Reformen vor, die zu einer aktiveren Bürgerbeteiligung führen sollen, und die von der Einführung eines Bürgerdienstprogramms bis hin zur Veranstaltung von Fernseh-Bürgerversammlungen und zur Benutzung moderner Kommunikationsformen für die Errichtung von Diskussionsforen und für Abstimmungen reichen (vgl. besonders Barber 1998). Ich werde weder auf Barbers Vorschläge in ihren Einzelheiten eingehen noch auf sein vernichtendes Urteil über die Repräsentation, das Kants Behauptung, es gebe ohne sie keine wahre Republik (RL VI, 341), auf den Kopf stellt. Ich möchte nur festhalten, dass auch Barber schließlich weniger an das Bewusstsein der Bürger appelliert, sondern vielmehr für institutionelle Reformen plädiert. Erst wenn solche Reformen durchgesetzt worden seien, sei eine Veränderung in der Gesinnung der Bürger zu erwarten. Barber schließt allerdings nicht aus, dass manche Bürger die neuen Möglichkeiten der Beteiligung ungenutzt lassen und weiter politisch passiv bleiben. Er scheint in solchem Falle dafür zu plädieren, dass ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannt wird, wenngleich nur vorübergehend, solange sie sich politisch nicht engagieren wollen (Barber 1994, 224 f.). Mit dieser Lösung, die apathische Bürger mit Verbrechern gleichsetzt, da beide ihr Bürgerrecht verwirken (a. a. O., 225), muss man nicht einverstanden sein, um Barbers institutionelle Vorschläge zur größeren Bürgerbeteiligung zu begrüßen. Wenn sie dann nicht immer zur erwarteten Haltung seitens der Bürger führen, muss man damit leben können, wenn wir nicht wollen, dass die erwünschte partizipatorische Demokratie zu einer Zwangsbeteiligung führt, die eher an Diktaturen erinnert, die sich zwar der Wahlbeteiligungen von über 90 % rühmten, durch freie und aktive Teilnahme am politischen Leben jedoch sicher nicht glänzten. Judith Shklar hat zu Recht betont, der so kritisierte liberale Staat stelle immerhin eine bessere Alternative zu den autoritären Staaten dar, da in ihnen die Bürger nicht lernen, moralisch bessere Menschen zu sein, sondern nur, den institutionellen Gewaltandrohungen zu gehorchen und eine bloße äußere Anpassung an die staatlich propagierten Werte vorzunehmen bzw. vorzutäuschen (Shklar 1984, 236). Ein notwendiges Merkmal der Demokratie besteht eben darin, dass es den Bürgern überlassen ist, ob sie am politischen Leben teilnehmen wollen oder nicht. Und ein weiteres darin, dass es ihnen offensteht, ob sie das aus einem echten Interesse für das Gemeinwohl oder aus Nutzenkalkül tun. Würde letztere Haltung die Oberhand gewinnen, geriete die Demokratie sicher in Gefahr, wäre vielleicht sogar zum Untergang verdammt. Das wäre bedauernswert; aber zu denken, eine Demokratie lasse sich dadurch erhalten, dass die Bürger gezwungen werden, gemeinwohlorientiert zu denken, ist naiv und tief anti-demokratisch. Eine Demokratie kann und muss einen gewissen Grad von Apathie und von Egoismus seitens der Bürger ertragen. Wie Bruce Ackerman betont: „So long as your aggressive impulses are controlled, your status as a citizen may not be impugned on behavioral grounds.“ (Ackerman 1980, 82) Eine Grenze vieler republikanischer Autoren scheint eben darin zu bestehen, dass sie die individuelle Haltung der Bürger fokussieren und diese für die Krise der Demokratie verantwortlich machen. Sie lassen dabei sowohl die schon erwähnte Rolle der Berufspolitiker und der politischen Institutionen selbst als auch einen weiteren Aspekt beiseite: Wer für eine aktivere Rolle und eine stärkere Teilnahme der Bürger am politischen Leben eintritt, sollte auch für eine Reduzierung der wirtschaftlichen und politischen Macht-

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konzentration auftreten, denn sie schadet der Freiheit des Einzelnen, höhlt die Bürgertugenden aus und bedroht die politische Gemeinschaft, wie selbst schon die Vertreter des Republikanismus seit der Antike behauptet haben – mögen sie dabei an Julius Cäsar, an die Medici oder an die Großkonzerne gedacht haben. Was Denker wie Cicero, Bruni, Machiavelli, Rousseau, Jefferson, Madison usw. wirklich einigt, ist die Warnung vor der Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht in den Händen einer Minderheit. Interessanterweise war dieses Thema in Europa ausgeklungen. Der Marxismus hatte es sich angeeignet, aber aus anderen Gründen und mit anderen Zielen als der Republikanismus. Da in Europa der Marxismus, jedenfalls in den 90er Jahren, entweder als theoretisch obsolet oder als historisch widerlegt galt, wurde, anders als heute, jede Wiederbelebung der Polemik gegen die wirtschaftliche und politische Machtkonzentration damals sofort als „Schnee von gestern“ abgetan – manchmal sogar von jenen Parteien, die mehr oder weniger als Erben marxistischer Bewegungen gelten (die englische Labor Party, die SPD, die italienischen Democratici di Sinistra usw.). In Amerika wurde solche Polemik weniger von Marxisten, sondern vor allem von Denkern geführt, die ihre Wurzeln im puritanischen Amerika oder in den Vereinigten Staaten der Gründerväter sahen: Josiah Royce, Walter Lippmann, John Dewey, Louis D. Brandeis, sogar Theodore Roosevelt (alle zit. in Sandel 1995, Kap. II, 59 ff.). Brandeis, der selbst justice im Supreme Court war, sah z. B. in einer ungeregelten kapitalistischen Machtkonzentration eine Bedrohung für die Freiheit der Bürger. Er betonte weiter die Notwendigkeit der Erziehung der Bürger und hob die enge Beziehung zwischen dieser Frage der Erziehung und der Arbeitsfrage hervor. Es sei notwendig, dass die Erziehung der Bürger kontinuierlich sei, denn nur so ließen sich die zum demokratischen Leben notwendigen Kenntnisse erreichen. Das setze jedoch voraus, dass die Arbeitsbedingungen so gestaltet sind, dass der Bürger Sicherheit in Bezug auf seine Einkommensquelle besitzt und über genug Freizeit verfügt, denn ohne sie könne er unmöglich jene „geistige Frische“ (freshness of mind) haben, die für seine Erziehung notwendig ist (vgl. Strum 1995, 27 f.; interessanterweise wurde eine ähnliche Analyse schon von Hobbes geliefert12). So Brandeis: „The educational standard required of a democracy is obviously high. The citizen should be able to comprehend among other things the many great and difficult problems of industry, commerce and finance, which with us necessarily become political questions.“ Es ist daher nicht möglich, dass die Erziehung der Bürger mit vierzehn, d. h. mit dem Ende der common school, aufhört; die eigentliche demokratische Erziehung fängt nämlich erst danach an (zit. aus Strum 1995, 93). Die wahren Bedingungen für die demokratische Erziehung der Bürger, also für eine aktive Bürgerbeteiligung, sind deshalb weniger in den Individuen zu suchen als in dem politischen, sozialen und ökonomischen Kontext, in dem sich jene befinden. Die verkürzte Auffassung des Republikanismus, die uns Viroli oder Barber anbieten, klammert diesen Punkt fast vollkommen aus. Eine republikanische Demokratie kann nur gedei12 „Menschen, die durch Notwendigkeit oder Habsucht an ihr Gewerbe und ihre Arbeit gefesselt werden, [...] werden vom gründlichen Nachdenken – eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen der Wahrheit nicht nur in Dingen der natürlichen Gerechtigkeit, sondern auch in allen anderen Wissenschaften – abgelenkt.“ (Lev. 261)

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hen, wenn soziale Ungleichheit, ökonomische Ungerechtigkeit und politische Distanz begrenzt sind bzw. verringert werden. Nicht vom Durchschnittsbürger ist eine tugendhafte Haltung zu erwarten, sondern vielmehr vom Politiker, vom Manager, vom Großaktionär, vom Universitätsrektor. Die wahren Feinde der Demokratie sind nicht apathische Bürger, sondern arbeitslose, ungebildete, arme oder entfremdete Bürger. Ein Mensch, der ständig um seinen Arbeitsplatz bangen oder um zu leben eine erniedrigende Tätigkeit ausüben muss, von der Schule eine rein wirtschafts- und zweckorientierte Ausbildung (die sicher keine Bildung darstellt) bekommt, durch die Medien dumme, verblödende Unterhaltung serviert bekommt, und der beobachten muss, wie sein Leben von den für ihn unverständlichen ‚Imperativen‘ der Wirtschaft bestimmt wird, auf die er keinen Einfluss hat und denen er von seinen Repräsentanten ausgesetzt wird – ein solcher Mensch kann unmöglich ein guter demokratischer Bürger sein. Ihm jedoch die Schuld dafür zu geben, wäre höchst ungerecht.

7.6. Wertneutralität oder liberale Bürgertugenden? Im letzten Kapitel ihres Ordinary Vices, der bezeichnenderweise „Bad Characters for Good Liberals“ betitelt ist, insistiert Judith Shklar darauf, dass eine liberale Gesellschaft durch den Verzicht auf die Forderung charakterisiert ist, dass die Staatsbürger bestimmte Tugenden entwickeln. Im Anschluss an Kant identifiziert sie die Rolle, die der Staat in Bezug auf die Frage der Bürgertugendhaftigkeit annehmen darf, lediglich mit der Schaffung jener äußeren Bedingungen, die den Individuen ermöglichen sollten, eigens einen guten (oder schlechten!) Charakter zu entwickeln. Die Hauptaufgabe des Staates bestehe demnach in der bloßen Garantierung der Freiheit, deren Mangel das schlimmste Hindernis für ein moralisch vollkommenes Leben darstellt (Shklar 1984, 236). Die Bürger liberaler Gesellschaften dürfen daher auch einen „schlechten Charakter“ haben. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Stephen Holmes, der – wie schon Shklar (vgl. oben 7.5) – die diesbezügliche Haltung liberaler und nicht-liberaler Regierungen miteinander vergleicht: „Erstens haben weder vorliberale noch nichtliberale Herrschaftsformen jemals besonderen Wert auf die Persönlichkeitsentwicklung gelegt. Wenn man den Liberalismus mit anderen Herrschaftsformen vergleicht, waren die Liberalen sogar der individuellen Kreativität und der Selbstverwirklichung gegenüber besonders freundlich gesonnen.“ (Holmes 1995, 387) Dabei individualisiert Holmes ein Merkmal, das die Tugendauffassung liberaler Denker von derjenigen der Republikaner à la Machiavelli oder Rousseau unterscheidet: „Die Liberalen waren Verfechter humanistischer und bürgerlicher Tugenden, unbeugsame, kriegerische Tugenden lehnten sie ab. Sie alle schätzten moralische Tugenden wie Vernünftigkeit, Unabhängigkeit, weitgehenden Verzicht auf Gewaltanwendung, Toleranz dem Andersartigen gegenüber, die Weigerung, andere Menschen öffentlich zu demütigen und die Bereitschaft, bei Meinungsverschiedenheiten auch die andere Seite zu hören.“ (Holmes 1995, 390). Republikanische Tugenden sind mit einer Art von politischer Gemeinschaft verbunden, die den Charakter einer geschlossenen Gesellschaft (vgl. oben 4.20) aufweist. Eine solche Gemeinschaft ist aus der Perspektive des legitimatorischen Individualismus (d. h. in normativer Hinsicht) nicht

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wünschenswert. Die „Abschließung“ unserer pluralistischen Gesellschaft würde außerordentliche Kosten (vor allem im Sinn von Unterdrückung) mit sich bringen, die zu Lasten der Individuen gehen würden, und sie würde einen Verzicht auf zahlreiche rechtliche Errungenschaften bezüglich individueller Rechte bedeuten. Die Errichtung einer geschlossenen Gesellschaft lässt sich zudem in unseren liberalen Demokratien kaum denken (sie ist also in empirischer Hinsicht unrealisierbar). Eine solche Forderung stellt nämlich die Verkennung des Pluralismus dar, der unsere Gesellschaft kennzeichnet. Die Hauptcharakteristik liberaler Theorien und liberaler Gesellschaften besteht hingegen in der Anerkennung der Tatsache, dass Individuen unterschiedliche Auffassungen vom Guten und daher vom guten Charakter haben.13 Aber auch Pluralismus stellt – woran uns Charles Larmore erinnert – eine bestimmte Auffassung vom guten Leben dar (Larmore 1992, 191). Diese Feststellung führt Autoren wie Larmore selbst oder Rawls dazu, zwar für eine strikte Trennung von Politik und Moral zu plädieren: Legitim sind danach nur jene politischen Grundsätze, die auch ohne Rekurs auf umstrittene Auffassungen des guten Lebens gerechtfertigt werden können (vgl. dazu Rawls 1975, Höffe 1975 und 1999, Ackerman 1980, Dworkin 1985, Larmore 1987). Gleichzeitig wird jedoch ein gemeinsamer moralischer Grund gesucht, auf dem solche politischen Grundsätze etabliert werden können – ein Grund, der von den meisten Vertretern liberaler Theorien (und dazu möchte ich auch Habermas rechnen) in der Anerkennung der Gültigkeit von zwei Prinzipien besteht, die von den Mitgliedern einer liberalen Gesellschaft vertreten werden sollten: 1) Respekt für die anderen und 2) Bereitschaft, sich mit ihnen aufgrund eines rationellen Dialoges zu verständigen. Auch wenn der Liberalismus die Fakten des Pluralismus und der moralischen Verschiedenheit anerkennt, nimmt er ihnen gegenüber keine neutrale Position ein (vgl. dazu Baynes 1995). Darüber scheint unter den Liberalen so gut wie kein Streit zu herrschen. Meinungsverschiedenheiten entstehen jedoch in Bezug auf die Grenzen jenes moralischen Engagements des Liberalismus. Während die oben zitierten Autoren (allen voran Ackerman, Larmore und Dworkin) auf einer möglichst minimalen Stellungnahme zugunsten „liberaler“ Werte beharren, kritisieren andere Denker (z. B. Galston 1982; Raz 1986 und 1990; Macedo 1992; Walzer 1993) den Begriff der liberalen Neutralität selbst – entweder im Namen einer perfektionistischen Position (wie Raz und Galston), oder weil sie meinen, eine absolute Neutralität würde die Selbsterhaltung liberaler Gesellschaft bedrohen. Macedo, der sogar vom „Trugbild der liberalen Neutralität“ („the mirage of liberal neutrality“) spricht (Macedo 1992, 209), schreibt dazu: „Even in its limited forms liberalism cannot really be neutral among public values. It stands for the supreme worth of certain values: individual liberty and responsibility, tolerance of change and diversity.“ (A. a. O., 207) Macedo begründet seine Behauptung, dass der Liberalismus keineswegs so neutral sei, mit dem Hinweis auf zwei Momente, ein negatives und ein positives. Das negative Moment: Der Liberalismus hält bestimmte Auffassungen vom guten Leben

13 „The enduring insight of liberal thought [...] consists in the recognition that reasonable people tend to differ and disagree about the nature of the good life.“ (Larmore 1992, 191) Siehe dazu Gutmann/ Thompson 1996.

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nicht für vertretbar, und zwar alle diejenigen, welche die Verletzung liberaler Rechte vorsehen (a. a. O., 208). Das positive: Der Liberalismus fordert außerdem von den Individuen die Annahme bestimmter Werte wie Respekt für die rechtliche Gleichheit anderer, den Rekurs auf Argumente statt auf Gewalt und die Unterwerfung unter die Gesetze14 (zu Macedo vgl. Reese-Schäfer 1997, 334 ff.). Macedo meint, dass Liberalismus weit entfernt sei, eine individuelle Privatsphäre zu schaffen, die vor jeglichem Eingreifen durch den Staat geschützt bleiben soll. Er zitiert Beispiele, in denen der liberale Staat im Privatleben seiner Bürger durchaus eingreift und eingreifen darf, wie z. B. beim Verbot der innerehelichen Vergewaltigung. Er zitiert auch Beispiele illegitimen Eingreifens, wie z. B. das Verbot von Verhütungsmitteln oder bestimmter sexueller Praktiken (a. a. O., 212). Er nennt uns jedoch keinen Grund, legitime von unlegitimen Eingriffen zu unterscheiden. Dieser Grund besteht aber genau in der Annahme, dass es eine individuelle Privatsphäre gibt, die der liberale Staat nicht angreifen darf und verteidigen muss. Der Sinn des Verbots der Vergewaltigung der Ehefrau durch den Ehemann besteht eben in der Verteidigung der Privatsphäre der Ersteren. Der staatliche Eingriff besitzt in einem solchen Fall denselben Charakter wie der rechtliche Zwang in Kants Rechtsauffassung (vgl. RL § D, VI, 231): Er stellt lediglich eine Reaktion gegen eine vorausgegangene illegitime Gewaltanwendung dar. Diese und ähnliche Kritiken am liberalen Neutralitätsprinzip beruhen allerdings auf einem Missverständnis über die Natur der gemeinten Neutralität. Kenneth Baynes hat zu Recht darauf hingewiesen, dass jenes Prinzip „selbst kein neutrales oder nicht-moralisches Prinzip ist. Es impliziert nicht einfach eine bloße Verfahrensneutralität hinsichtlich der verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben, welche die Bürger haben mögen“, sondern wird in Verbindung mit einem bestimmten Rechtsprinzip (Baynes erwähnt Kants allgemeines Prinzip des Rechts und Rawls’ Prinzip der gleichen Freiheit) eingeführt (Baynes 1995, 435). Auch wenn dieses Prinzip von jeglicher Vorstellung des Guten und des guten Lebens abstrahiert wird, bleibt es ein moralisches Prinzip, das lediglich besagt, dass es für alle vernünftig ist, wenn der Staat keine bestimmte Auffassung des guten Lebens verfolgt bzw. direkt fördert, sondern nur „einen neutrale Rahmen“ liefert, in dem unterschiedliche und sogar einander widerstreitende Vorstellungen vom guten Leben verfolgt werden können“ (a. a. O., 433).15

14 Tatsächlich fordert Macedo keinen so großen Respekt für diejenigen, welche die liberalen Werte nicht teilen. Er fügt nämlich zu seiner Liste liberaler Werte überraschend hinzu: „... and respect for the rights of those who respect liberal values.“ (A. a. O., 207; kursiv – A. P.). Die Einschränkung ist bezeichnend: Wer liberale Werte wie Toleranz, Respekt, Gesprächsbereitschaft usw. nicht anerkennt, verdient selbst keine Toleranz und Respekt – sogar dessen Rechte dürfen nicht respektiert werden! 15 Baynes geht allerdings über eine derartige Verteidigung des Neutralitätsprinzips hinaus und behauptet, jenes Prinzip verlange „noch nicht einmal“, dass „der Staat jede zulässige Vorstellung vom Guten, die die Bürger haben mögen gleich behandelt“. Es besagt vielmehr, dass „sich die zur Unterstützung spezieller Prinzipien oder politischen Richtungen vorgebrachten Argumente und Überlegungen nicht auf besondere Vorstellungen vom guten Leben berufen dürfen, sondern alle Bürger und deren (zulässige) Vorstellungen gleichermaßen zu respektieren und zu beachten haben“ (Baynes

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Nichtsdestotrotz meinen viele liberale Denker, eine liberale Gesellschaft könne nicht nur auf Wertneutralität und auf liberal-demokratischen Institutionen beruhen, sondern bedürfe zu ihrem Überleben der Tugendhaftigkeit ihrer Mitglieder (dazu vgl. Egle 2000 und 2002). Eine derartige Forderung nach liberalen Bürgertugenden unterscheidet sich allerdings von einer ähnlichen Forderung, die der Republikanismus in allen seinen Formen macht. Wir haben schon gesehen, dass Bürgertugenden Rollentugenden besonderer Art sind: Sie sind Tugenden, die sich auf die Rolle der Individuen als Staatsbürger beziehen; da aber alle Individuen Staatsbürger irgendeines Staates sind, müssten sie gleichzeitig von allen Individuen entwickelt werden – so wie traditionelle moralische Tugenden auch: Gerechtigkeit, Wohlwollen usw. (vgl. oben 6.3). Jener universelle Charakter der Bürgertugenden wird bei den liberalen Theorien derselben noch eindeutiger als bei den republikanischen, da diese eine instrumentelle Auffassung davon haben (Bürgertugenden sind nicht an sich gut, sondern nur, weil sie dem Wohl des Gemeinwesens dienen), und da die republikanischen Bürgertugenden nicht selten gegen die Gebote einer universellen Moral verstoßen (sie fordern von den Individuen, dass sie die Mitbürger immer bevorzugen, und dass sie die Mitmenschen für das egoistische Interesse des eigenen Staates bekämpfen – besonders im Fall der mit einer expansionistischen Vision verbundenen militärischen Tugenden, wie Machiavelli sie definiert). Im Folgenden werde ich einige liberale Theorien der Bürgertugenden darstellen, um sie dann mit dem Argument zu kritisieren, Bürgertugenden sollten vielmehr durch allgemeine politische Tugenden ersetzt werden, die über die einzelstaatliche Dimension hinausgehen (vgl. unten 7.7-9). Ich beginne meine kurze Analyse mit der Hauptfigur unter den gegenwärtigen liberalen Denkern: John Rawls. Er definiert Tugenden als „Haltungen, d. h. Systeme von Neigungen, die von einem Bedürfnis höherer Ordnung bestimmt sind, in diesem Fall dem Bedürfnis, den entsprechenden moralischen Grundsätzen gemäß zu handeln“ (Rawls 1975, 219). Sie gehören mit Intelligenz, Einbildungskraft usw. zu den wünschenswerten Eigenschaften der Bürger. „Das repräsentative Mitglied einer wohlgeordneten Gesellschaft“ wünscht sich m. a. W., dass die anderen bestimmte Grundtugenden, „besonders den Gerechtigkeitssinn“ besitzen (a. a. O., 475). Bei Rawls ebenso wie bei Hobbes sind daher Tugenden weniger wertvoll an sich als vielmehr Mittel zum Zweck – in solchem Fall zum Zweck der Errichtung einer gerechten Gesellschaft. Sie sind weniger Gegenstand eines moralischen Gebotes (etwa der Vernunft, wie bei Kant) als vielmehr etwas für das friedliche und gerechte Zusammenleben Wünschenswertes (der Aspekt der Wünschenswertigkeit der Tugenden wird von Rawls wiederholt ausdrücklich betont: a. a. O., 475 f.). Rawls unterscheidet erstens zwischen Tugenden, die einer autoritätsorientierten Moralität entsprechen, und zweitens Tugenden, die aus einer gruppenorientierten Moralität hervorgehen (a. a. O., 507 ff.). Unter den Ersteren sind „Gehorsam, Demut und Treue

1995, 435). Mehr als die Neutralität staatlichen Handelns würde daher das Prinzip die Neutralität der Rechtfertigung fordern. Dabei schließt er sich den erwähnten Positionen von Rawls, Larmore und Ackerman an.

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gegenüber der Autoritätsperson“. Die Letzteren orientieren sich an moralischen Grundsätzen, „die der Rolle des Betreffenden in den verschiedenen Gruppen entsprechen“. Die korrespondierenden Tugenden sind daher zunächst die Tugenden „eines guten Sohnes oder einer guten Tochter“, dann die „eines guten Schülers oder Schulkameraden, die Ideale eines guten Kameraden und anständigen Kerls“.16 Neue Ideale werden vom Individuum im Laufe seines Lebens erworben: die des guten Ehepartners, des guten Freundes, des guten Staatsbürgers usw. „Zur Gruppenmoralität gehören also viele Ideale, die jeweils auf einen bestimmten Status oder eine bestimmte Rolle zugeschnitten sind.“ (A. a. O., 509) Ein weitere Tugendgruppe kommt mit einer dritten Art von Moralität hinzu, nämlich mit der grundsatzorientierten Moralität (a. a. O., 514). Die Haupttugend stellt dabei der Gerechtigkeitssinn dar, der sich „auf mindestens zwei Weisen“ äußert: „Erstens führt er zur Anerkennung der gerechten Institutionen, in die man eingebunden ist, und die einem selbst wie den anderen Vorteil gebracht haben. Man möchte das Seine zu ihrer Erhaltung beitragen. [...] Zweitens führt ein Gerechtigkeitssinn zu der Bereitschaft, an der Errichtung gerechter Institutionen mitzuwirken [...], ebenso an der Veränderung der bestehenden, wenn es die Gerechtigkeit fordert.“ (A. a. O., 515)17 Die grundsatzorientierte Moralität selbst tritt in zwei Formen auf: „einmal als Sinn für das Rechte und die Gerechtigkeit, zum anderen als Menschenliebe und Selbstbeherrschung“. Sie schließt „auch die Tugenden der autoritäts- und gruppenorientierten Moralität“ ein, denen sie neuen Sinn und neue Tiefe verleiht. „Das ist keine Moralität für gewöhnliche Menschen, und ihre kennzeichnenden Tugenden sind Altruismus, erhöhte Aufgeschlossenheit gegenüber den Empfindungen und Bedürfnissen anderer sowie eine angemessene Bescheidenheit und Selbstlosigkeit.“ Außerdem die Tugenden „des Mutes, der Großzügigkeit und der Selbstbeherrschung“ (a. a. O., 520)18. Rawls’ Modell erweist sich als ein reicher, vielschichtiger Tugenden-Katalog. Das macht allerdings die Sache noch problematischer. Die gewünschten Tugenden scheinen sehr umfangreich zu sein und gehen weit über die Rolle des Staatsbürgers hinaus, um sich auf alle Aspekte des individuellen Lebens zu erstrecken. Mit anderen Worten: Rawls wünscht sich, dass der gute Bürger in erster Linie ein guter Mensch ist – im großen Unterschied etwa zu Kants Teufeln. Die Trennung von Moral und Politik scheint dabei so gut wie aufgehoben, auch wenn man Doppeltes feststellen muss: 1) Rawls erkennt die Existenz mehrerer Arten von Moralität und daher von Tugenden an; 2) es handelt sich bei seinem Modell um wünschenswerte, nicht um moralisch gebotene Tugenden. Nichtsdestoweniger ist es offensichtlich, dass Rawls die Tugenden, die der 16 Rawls’ Gesellschaftsmodell weist eine ausgeprägt männliche Perspektive auf, denn Rawls hält an sehr traditionellen Auffassungen der Familie fest. Das wird ihm von manchen Kritikern – besonders aus dem Gebiet der gender studies – vorgeworfen (vgl. Pateman 1988 und Wilson 1995). 17 Der hier erwähnte Gerechtigkeitssinn hat mit dem Verfassungspatriotismus, der von Sternberger und Habermas formuliert wurde (vgl. vor allem Habermas 1989, 9. f. und 15; Habermas 1990, 149 ff.; dazu Pinzani 2004), vieles gemeinsam. 18 Rawls entwickelt diese Überlegungen in den folgenden Paragraphen seines Hauptwerkes weiter (Rawls 1975 §§ 73-75, 521 ff.).

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grundsatzorientierten Moralität entsprechen, für Tugenden höheren Rangs hält. Dass sie einen schwächeren normativen Status besitzen (sie sind nicht unbedingt geboten, sondern nur wünschenswert), ändert nicht viel an der Tatsache, dass die an die Bürger gestellten Erwartungen in Bezug auf ihre Bürgermoralität ziemlich hoch sind. Eine rein instrumentelle Haltung scheint z. B. so gut wie ausgeschlossen. Die Lage ist bei den anderen liberalen Denkern, die sich mit der Problematik auseinandergesetzt haben, nicht viel anders. Stephen Macedo identifiziert drei Gruppen von liberalen Bürgertugenden, die den drei Gewalten (Judikative, Legislative, Exekutive) entsprechen (Macedo 1990, 275 f.): „Judicial virtues“ wie „impartiality“ und „attachment to principle“, die es den Individuen ermöglichen sollen, bei politischen Entscheidungen unparteiische Urteile zu fällen; „legislative virtues“, welche die Bereitschaft der Individuen betreffen, sich im Prozess der Meinungs- und Entscheidungsbildung zu engagieren (etwa: Gesprächsbereitschaft, Kompromissbereitschaft, Anerkennung und Ernstnahme der Bedürfnisse, Interesse und Meinungen anderer, usw.); „executive virtues“ wie „indipendence of thought“ und „perseverance“, die zur wirksamen Erreichung bestimmter Ziele beitragen (es sind die Tugenden von Individuen, die sich politisch – im weitesten Sinn – engagieren: bei Gruppen und Organisationen, sowie durch freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten). Auch Richard Dagger (der eigentlich einen ‚republikanischen Liberalismus‘ aufbauen möchte) spricht von ‚Bürgertugenden‘ im Plural und identifiziert sechs davon: Für ihn „the republican-liberal citizen is someone who respects individual rights, values autonomy, tolerates different opinions and beliefs, plays fair, cherishes civic memory, and takes an active part in the life of the community“ (Dagger 1997, 196). Wie man sieht, schließt Dagger in seinen Katalog auch Tugenden ein, die eher kommunitaristischen Grundüberzeugungen entsprechen, wie „civic memory“ oder die Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben (er spricht nämlich nicht von politischer Gemeinschaft, sondern von Gemeinschaft im Allgemeinen). Einen differenzierten Katalog von Bürgertugenden bietet auch Otfried Höffe an, der „gemäß vier Dimensionen von Bürgersein“ zwischen vier verschiedenen „fortschreitend anspruchsvollere[n] Tugenden“ unterscheidet: „Für den Rechtsgenossen [...] braucht es einen Rechtssinn, dessen Steigerung in einer Rechtsgesinnung besteht, und zusätzlich braucht es Zivilcourage. Für die Fortbildung der weitgehend gerechten Institutionen und Gesetze, [...] ist ein Gerechtigkeitssinn notwendig und zusätzlich [...] die Toleranz. In Bezug auf den eigenen Staat braucht es einen Bürgersinn und in Bezug auf die eigene Gesellschaft einen Gemeinsinn.“ Dazu kommen als Ergänzung traditionelle Tugenden wie „Besonnenheit, Gelassenheit und Klugheit“ (Höffe 1999, 194; dazu vgl. Münzel 2002 und Pinzani 2000b). Bernard Sutor plädiert für eine Wiederbelebung traditioneller TugendKataloge und bezieht sich auf die vier Kardinaltugenden der christlichen Tugendlehre: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Ein besonderes Gewicht misst er dabei der politischen Klugheit und den damit verbundenen Eigenschaften bei (Lernbereitschaft, Erinnerungsvermögen, Geschicklichkeit, Voraussicht und Verantwortung), sowie der Gerechtigkeit in ihrer unterschiedlichen Ausprägung (Sutor 1997, 47 ff. und 66 ff.). Weniger strukturiert, aber nicht weniger reich, sind die Tugend-Kataloge anderer liberaler Denker. Sie sind allerdings fast immer gleich – wobei Respekt und Toleranz

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als die meist zitierten Tugenden hervortreten. David Strauss listet nur zwei liberale Tugenden auf: „The capacity to be tolerant and respectful toward those with whom one disagrees; and the capacity to welcome, rather than fear and find unsettling, the availability of a wide range of choices about central issues in one’s life.“ (D. Strauss 1992, 200 f.) Wie schon gesehen, identifiziert Stephen Holmes ‚friedliche‘ Tugenden wie „Vernünftigkeit, Unabhängigkeit, weitgehenden Verzicht auf Gewaltanwendung, Toleranz dem Andersartigen gegenüber, die Weigerung, andere Menschen öffentlich zu demütigen und die Bereitschaft, bei Meinungsverschiedenheiten auch die andere Seite zu hören“ (Holmes 1995, 390) als typisch liberal im Gegensatz zu den „kriegerischen“ Tugenden, die wir auch aus der republikanischen Tradition kennen. Bert van den Brink listet folgende Tugenden für die Mitglieder liberaler Gesellschaften auf: „autonomy, reasonableness, the affirmation of value pluralism, toleration, and sensitivity to the vulnerability of individuals“. Hinzu kommen „self-restraint“ und „critical loyalty“ – Letzteres als die Fähigkeit verstanden, sich mit den existierenden Institutionen nicht zufrieden zu geben, und sich für die Wahrung individueller Rechte immer einzusetzen (van den Brink 2000, 171 f.). Diesbezüglich erklärt Judith Shklar, eine kritische Haltung, ja gar ein gesundes Misstrauen seitens der Bürger den staatlichen Institutionen gegenüber stelle eine wichtige Charakteristik der Bürger liberaler Gesellschaften dar (Shklar 1984, 238). Sie plädiert nämlich für einen „liberalism of fear“, der von der Voraussetzung ausgeht, dass die Regierungsmacht gleichzeitig die Macht ist, Furcht und Übel zu verursachen („the power to govern is the power to inflict fear and cruelty“), und der deswegen das Misstrauen gegen den möglichen Missbrauch staatlicher Macht institutionalisieren sollte – etwa durch einen Mechanismus von „check and balance“ der Gewalten und durch (verfassungs-)rechtliche Maßnahmen zur Garantie individueller Rechte. Solch institutionalisiertes Misstrauen kann allerdings nur dann Früchte tragen, wenn die Bevölkerung selbst misstrauisch und wachsam ist („only a distrustful population can be relied on to watch out for our rights“, a. a. O.).19 Die Liste möglicher Kandidaten für den Titel ‚liberale Bürgertugend‘ scheint also ziemlich lang, vielfältig und manchmal sogar widersprüchlich. Eine gewisse Einigkeit herrscht nur in Bezug auf die schon erwähnten Grundhaltungen: Respekt für die Anderen und Bereitschaft zum Verständnis. Aber auch im Fall dieser beiden Tugenden (wenn man sie als solche bezeichnen will) bleibt die Frage offen, wie der liberale Staat, der zur Einhaltung des Neutralitätsprinzips (so, wie es oben definiert wurde) verpflichtet ist, solche Eigenschaften fördern kann. Sicher ist nur, dass sich solche Tugenden innerhalb einer liberalen Rechtsordnung nicht rechtlich erzwingen lassen (van den Brink 2000, 174). Rechtliche Erzwingbarkeit bildet allerdings nicht die einzige Möglichkeit, solchen Tugenden zur „Durchsetzung“ zu verhelfen: Politische Theorie übt auch die Funktion des Überzeugens aus, wie Nagel betont (Nagel 1989, 903), und sie kann daher auch eine durchaus praktische Rolle spielen. Das war und ist das Hauptziel der meisten Kommu-

19 Eine ähnliche Position vertritt mit Bezug auf Kants öffentlichen Vernunftgebrauch Sandra Seubert: Eine kritische Haltung wird dort sogar als die erste Bürgertugend bezeichnet (Seubert 1999, 28).

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nitaristen (allen voran Etzioni: vgl. Etzioni 1996), die eine enge Beziehung zwischen der Entwicklung von politischer Theorie und der Entwicklung von konkreten Modellen der Einflussnahme auf die Wirklichkeit (etwa: pädagogische Modelle oder Modelle politischer Partizipation) herstellen möchten. Solche Strategie hat nicht selten einen gewissen manipulatorischen, belehrenden (wenn nicht gar besserwisserischen) Charakter. So kann z. B. Robert Goodin behaupten: „Sometimes getting people to do what is morally correct involves the more familiar task of getting them to see what is morally correct in first place“ (Goodin 1992, 4; kursiv – A. P.) – wobei der Gedanke zu erzieherischen Figuren wie Machiavellis Stadtgründer, Hobbes’ politischem Wissenschaftler, Rousseaus Gesetzgeber oder Pädagogen oder sogar Kants Gelehrten geht, deren Rolle eben darin besteht, die Augen der ‚blinden‘ Masse für die Wahrheit bestimmter moralischer Grundsätze zu öffnen (siehe z. B. Norton 1991; etwas skeptischer dazu Callan 1997). Die Grenzen von Überzeugungsarbeit und bloßer Überredung sind dabei leider ziemlich labil, wie uns zahlreiche Beispiele aus der Praxis zeigen. Liberalismus lehnt auf jeden Fall die Idee ab, der Staat solle oder dürfe – etwa durch erzieherische Maßnahmen – direkten Einfluss auf die Moralität der Bürger ausüben, und wäre es auch nur zum (von Hobbes für durchaus legitim erklärten) Zweck, den Konflikt unter den verschiedenen Auffassungen des guten Lebens bzw. den moralischen Meinungen zu minimieren.20 Die einzige Alternative, die offen bleibt, scheint somit die Errichtung von Institutionen zu sein, die durch ihre einfache Existenz und ihr Funktionieren bestimmte Einstellungen und Eigenschaften in den Bürgern hervorrufen, gemäß Kants Votum, gute Verfassungen mögen gute Bürger hervorbringen. Wie sollen jedoch solche Institutionen aussehen? Reichen z. B. die rechtlich-formellen Institutionen unserer Demokratien (Verfassung, Parlament, usw.) zu diesem Zweck aus?

7.7. Demokratische Institutionen und Bürgermoralität Die republikanischen Autoren von Rousseau bis Barber, die sich mit der Frage der Bürgereinstellung beschäftigt haben, mußten alle mehr oder weniger ausdrücklich zugeben, dass das entscheidende Moment für die Förderung einer aktiven politischen Beteiligung die Errichtung von Institutionen ist, die diese Teilnahme erleichtern oder erst ermöglichen. Das war auch – wie gesehen – der Schluss, zu dem wir bei der Analyse unserer Bezugsautoren gelangt waren. Was aus den Schweizer Bauern Rousseaus gute, enga20 „Liberalism is a theory about the rightful limits of state power, not about the content of education for children.“ (Feinberg 1990, 88) Und weiter: „It would be antithetical to liberalism to say that society, through the various educative mechanisms open to it, must try to structure citizens’ lives so that the need to make choices is reduced as far as possible.“ (D. Strauss 1992, 200) Sogar Macedo, der ansonsten auf die Notwendigkeit der Entwicklung liberaler Tugenden unter den Mitgliedern liberaler Gesellschaften insistiert, verwirft eine solche Idee („liberals should not tolerate an oppressively educative state even when it purports to be educating for liberal ideals“, Macedo 1992, 229).

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gierte Bürger macht, ist weniger ihre relative Armut und zufriedene Bescheidenheit – wie der Genfer Philosoph meint – als eher ihr Recht auf Selbstregierung und die Möglichkeit, das Recht wahrzunehmen. Wie Habermas zu Recht betont, gibt es keine andere Erziehung zur Demokratie als die Teilnahme an demokratischen Entscheidungsprozessen und die konkrete Ausübung von Demokratie (Habermas 1992, 165 und passim). Man kann hier Kants Optimismus bezüglich der Fähigkeit von Republiken (in unserem Fall: von demokratischen Staaten), ihre Bürger durch ihre einfache institutionelle Gestalt zu erziehen, teilen oder nicht. Sicher ist jedoch, dass eine solche Erziehung nur im Rahmen einer liberalen Verfassungsdemokratie möglich ist. Das setzt allerdings eine Auffassung von Demokratie voraus, die einen gewissen normativen Inhalt besitzt. Sie wird dabei als jene politische Form definiert, in der die Individuen ihre Autonomie am meisten und am besten entwickeln können. Eine solche Auffassung ergänzt somit sowohl solche ökonomischen Theorien der Demokratie (Schumpeter 1942, Downs 1957), die in ihr bloß ein Instrument sehen (um Interessen- und Meinungskonflikte zu neutralisieren, oder um das Zusammenleben zu regeln und zu koordinieren), als auch jene formellen Auffassungen von Demokratie, die diese auf ihre „Spielregeln“ reduzieren (d. h. auf Aspekte wie das Vorhandensein bestimmter Institutionen, die Transparenz der Regel und das Verfahren für Willensbildung und Entscheidungsnahme, die Kontrolle der Regierenden durch die Regierten, usw.) (Bobbio 1984). Vom ersten Gesichtspunkt her ist Demokratie nur einer unter vielen möglichen Werten. Ein politisches System kann nämlich auch danach beurteilt werden, ob es bei der Organisation einer Gesellschaft Kriterien der Effizienz oder der distributiven Gerechtigkeit erfüllt (vgl. Dahl 1989, 8) – Kriterien, die nicht immer leicht mit Demokratie in Einklang zu bringen sind. Es ist m. a. W. möglich, effizientere oder gerechtere (im Sinne der distributiven Gerechtigkeit) Systeme als die Demokratie zu finden bzw. zu rechtfertigen. Rein formelle Auffassungen von Demokratie laufen ihrerseits Gefahr, diese ihres Inhalts zu berauben, besonders hinsichtlich der politischen Partizipation – und auf bestimmte Aspekte zu reduzieren, die nur einige (eben formelle) Merkmale von Demokratie darstellen, ihren Begriff und ihr Wesen selbst allerdings nicht völlig ausmachen. Diese Merkmale sind an sich normativ-neutral: z. B. Gewaltenteilung, allgemeines Wahlrecht, Mehrheitsregel, Existenz von Mechanismen zum Schutz der Minderheiten usw. Letzterer Punkt ist besonders wichtig. In ihrer radikalen Form ist Demokratie nämlich – wie schon mehrmals betont – nicht von der Gefahr befreit, sich in eine Tyrannei der Mehrheit zu verwandeln, da sie dem Volkswillen kein Hindernis setzt. Jenes Risiko wird meistens durch die Einführung von rechtlichen Normen vermieden, die sowohl die Minderheit als Ganze als auch die einzelnen Individuen schützen (z. B. Grundrechte und prozedurale Normen bezüglich der Gesetzgebung und der Veränderung grundlegender Institutionen). Das Ergebnis ist unsere liberale Verfassungsdemokratie, die daher aus den zwei Wurzeln des Liberalismus und der radikal-demokratischen Idee in ihrer reinen Form entstanden ist. Sie weist jedoch auch Merkmale auf, die eher der dritten, der republikanischen Wurzel entsprechen. Unsere Demokratien sind in der Regel repräsentative Demokratien, in denen das Volk nur eine relativ minimale institutionelle Rolle (durch Wahlen und eventuell durch Referenda) ausübt, und in

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denen manche Verfassungsnormen so gut wie unveränderlich sind.21 Insofern nehmen unsere Demokratien sowohl das Misstrauen der Republikaner gegen das Volk als auch die Idee der Herrschaft der Gesetze (in ihrer republikanischen Formulierung als Herrschaft so gut wie unveränderlicher Gesetze) ernst. Unter einem rein formellen und prozeduralistischen Gesichtspunkt lässt sich also Demokratie durch bestimmte formelle Kriterien und Prozeduren definieren, die ihr entsprechen. Es ist jedoch fraglich, ob es nur demokratische Prozeduren sind, die das Wesen der Demokratie ausmachen. Wir können dabei ein Gedankenexperiment ausführen (vgl. Callan 1997, Kap. 1), das uns vom Gegenteil überzeugen wird, und das die Bedeutung von subjektiven Einstellungen seitens der Bürger (also der erwähnten bürgerlichen Tugenden) zeigen sollte. Stellen wir uns eine Demokratie vor, in der alle Grundrechte garantiert werden: negative Freiheitsrechte, politische und partizipatorische Rechte, weitgehende Sozialrechte, sogar Umweltrechte. Nehmen wir weiter an, es herrschen in dieser Demokratie distributive Gerechtigkeitsprinzipien, die eine weitgehend gerechte Güterverteilung ermöglichen. Das Staatsbürgerschaftsrecht ist so organisiert, dass es all denjenigen, die von den politischen Entscheidungen tatsächlich betroffen sind, ermöglicht, am politischen Leben teilzunehmen: Es gibt also eine leichte Einbürgerungsprozedur, und auch Ausländer haben unter gewissen minimalen Bedingungen (z. B. einer bestimmten Aufenthaltsdauer) passives und aktives Wahlrecht. Jedem Bürger steht ferner offen, sich der politischen Karriere mit staatlicher finanzieller Unterstützung zu widmen. Minderheiten sind schließlich weitgehend geschützt und werden sogar (auch finanziell) darin unterstützt, ihre Besonderheit zu erhalten. Aus einem rein formellen Gesichtspunkt ist solche Demokratie fast perfekt, nämlich so perfekt, wie es ein nicht utopisches, konkretes politisches System sein kann. Stellen wir uns nun vor, dass die Bürger jener Demokratie isolierte, egoistische Individuen sind – etwa entsprechend dem Bild, das die Kommunitaristen von den politischen Subjekten liberaler Demokratietheorie haben. Diese Bürger nehmen zwar die Rechte gerne wahr, die es ihnen erlauben, ihren Privatinteressen nachzugehen, sind aber nicht bereit, sich für eine andere Sache als ihre private zu engagieren. Sie sind in dem Maße politisch apathisch, in dem ihnen die Politik nicht zur Durchsetzung der eigenen Ziele verhilft. Ihre privaten Meinungen stehen in einem ziemlich starken Widerspruch zur Liberalität ihres politischen Systems: Sie verachten all jene, die anders sind als sie, und vermeiden den Kontakt zu den anderen sozialen Gruppen so weit wie nur möglich: Kurzum, sie sind rassistisch veranlagt, auch wenn ihre Verachtung nicht notwendigerweise eine ethnische Basis hat. Sie versuchen weiter, ihr Privatinteresse immer zu maximieren, und schöpfen dabei skrupellos alle rechtlichen Möglichkeiten aus, die ihnen der Staat anbietet, oder bemühen sich, alle rechtlichen Hindernisse auf dem Weg zur Erreichung ihrer Ziele zu umgehen. Sie fühlen sich mit den Mitbürgern nicht soli-

21 Das gilt auch für Staaten, die keine geschriebene Verfassung – wie z. B. das Vereinte Königreich – besitzen. Dort wird das Gewicht althergebrachter Gesetze sogar eindeutiger, da sie die Rechtsetzung und Rechtsverwaltung noch nach Jahrhunderten bestimmen.

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darisch, sehen in ihnen vielmehr nur Konkurrenten im Kampf um die wirtschaftlichen und sozialen Güter. In der Wirklichkeit würde eine solche Gesellschaft wahrscheinlich ziemlich rasch zusammenbrechen, und die Demokratie könnte sich nicht lange halten. Aber wir führen ein Gedankenexperiment durch, das uns eben zeigen soll, wie wenig sich eine Demokratie durch institutionelle oder formale Kriterien – wie Gewährleistung von Rechten und ein gutes Wahlsystem – oder sogar durch anspruchsvollere Kriterien – wie eine gerechte Güterverteilung – definieren lässt. Das Gedankenexperiment bringt einen wichtigen Aspekt zum Ausdruck, den eine vollständige Definition von Demokratie nicht beiseite lassen kann: Zum Wesen der Demokratie gehört eine gewisse Einstellung seitens der Bürger oder mindestens seitens einer relevanten Zahl von ihnen. In dieser Hinsicht ist eine Demokratie kein autopoietisches System, das in sich selbst die Quelle seiner eigenen Erhaltung und Reproduktion hat (vgl. nochmals die am Anfang des Kapitels zitierte Diagnose Böckenfördes). Demokratien weisen im Gegensatz dazu eine gefährliche Neigung zur Degeneration auf, wenn sie nicht durch einen ständigen Prozess von Regeneration der demokratischen Ideale ihrer Bürger neue Kraft schöpfen – wie Machiavelli und Rousseau meinten. Werden diese Ideale schwach, so setzt auch ein degenerativer Prozess der Institutionen ein, der sie entweder ihres Sinnes beraubt oder zu Instrumenten einer Macht verkommen lässt, die nicht mehr demokratisch kontrolliert wird. Die Geschichte zeigt genug Beispiele solcher Prozesse, hier seien nur zwei erwähnt: Sowohl der Faschismus 1922 in Italien als auch der Nationalsozialismus 1933 in Deutschland kamen durch Wahlen an die Macht, und bedienten sich dieses typisch demokratischen Instrumentes, um ihre Macht plebiszitär bestätigen zu lassen – allerdings nachdem sie der Wahl jeden wahrhaftig demokratischen Aspekt entzogen hatten. Wenn eine Demokratie zur Diktatur wird, werden oft die äußerlichen Institutionen, manchmal sogar wichtige Elemente einer Demokratie wie die Grundrechte, nominell beibehalten, obwohl jeglichen Sinnes entleert, da sie unter der Kontrolle der Machthaber bzw. zu deren Disposition stehen. Es ist allerdings nicht notwendig, dass es zur Diktatur kommt: In Ländern, in denen die demokratischen Ideale unter den Bürgern schwach sind, besteht immer die Gefahr, dass sich ein Regime der Mehrheit durchsetzt. Ohne eine bestimmte Einstellung seitens der Individuen würde daher auch die institutionell bestens organisierte Demokratie zugrunde gehen. Die Frage ist nun, wie diese Einstellung zu definieren sei. Die Theorien, welche auf die Notwendigkeit (oder auch nur auf die Wünschbarkeit) von bürgerlichen bzw. demokratischen Tugenden hinweisen, würden aus unserem Gedankenexperiment den Schluss ziehen, eine derartige Einstellung sei mit solchen Tugenden zu identifizieren. Von solcher Position ausgehend, scheinen Letztere für ein demokratisches System überlebenswichtig zu werden. Nicht, dass sie per se notwendig sind, dass also eine Demokratie ohne sie überhaupt nicht existieren könnte: Sie wäre jedoch nur rein förmlich eine solche, und vielleicht würde sich hinter der Beibehaltung demokratischer Institutionen ein durchaus undemokratisches System verstecken. Bürgertugenden wären danach für ein längeres Bestehen und für das Gedeihen ‚wahrer‘ Demokratien notwendig, daher mehr als bloß wünschenswert. Mehr oder weniger verläuft so die Argumentation der zitierten liberalen Denker, die auf Bürgertugenden nicht verzichten

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möchten. Es ist aber nicht so sehr die Argumentation der Republikaner, denn wir haben gesehen, dass sie sich weniger um den demokratischen Status einer Republik als vielmehr um deren bloße Erhaltung kümmern. Die Alternativen zur Entwicklung von Bürgertugenden wären in der Meinung dieser Denker der ersatzlose Verzicht darauf (was zu den Ergebnissen des oben beschriebenen Gedankenexperimentes führen würde) oder ihre Substitution durch rechtliche Mittel. Die letztere Möglichkeit wird mit verschiedenen Argumenten abgelehnt. Galston (1991) und andere US-amerikanische Denker weisen auf eine vermeintliche Gefahr hin: Die Sorge um die eigenen individuellen Rechte und die damit verbundene juristisch erzwungene Anerkennung von Weltauffassungen und Lebensweisen, die von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder nicht akzeptiert werden, haben zwar zu einer Verbesserung der rechtlichen Lage von Minderheitsgruppen (Galston denkt besonders an Frauen, ethnische Minderheiten, Behinderte und Schwule) geführt; das sei jedoch auf Kosten der sozialen Kohäsion der US-amerikanischen Gesellschaft geschehen. Rechtlich erzwungene Anerkennung könne soziale Anerkennung unmöglich ersetzen und würde vielmehr Unverständnis verbreiten und somit letztlich sozialen Frieden bedrohen. Demokratische Toleranz lasse sich nicht durch Rechtsprechung herstellen – im Gegenteil. Andere liberale Denker (Shklar z. B.) fürchten sich vielmehr vor einer gefährlichen Zunahme der rechtlichen Regelung, die so weit getrieben werden soll, bis sie auch Bereiche des menschlichen Zusammenleben mit hineinzieht, die bis zu diesem Zeitpunkt der Rechtsregelung entzogen waren und die der Privatsphäre zugerechnet wurden. Somit wäre Kants doppelte Unterscheidung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung und zwischen Legalität und Moralität (Rechtslehre, VI 218 f.) aufgehoben. Jene Unterscheidung ist sehr wichtig, da sie die Grenze zwischen Moral und Recht zieht; und diese Grenze ist in einer Demokratie unverzichtbar, denn sie ist die einzige Garantie für den Einzelnen, dass er nicht rechtlich gezwungen wird, eine bestimmte Auffassung des guten Lebens zu übernehmen. Wenn rechtliche Normen die moralischen ersetzen müssen, wenn das Recht berufen wird, die Rolle der Moral zu spielen, ist das ein besorgniserregendes Zeichen nicht nur für die soziale Kohäsion und die Solidarität der Bürger untereinander, sondern auch für die Demokratie selbst. Es ist nun fraglich, ob der Rekurs auf rechtliche Mittel, um demokratische Werte wie Toleranz, Anerkennung der Minderheiten usw. durchzusetzen oder zu erhalten, tatsächlich so gefährlich und schließlich gar anti-demokratisch ist. Vielmehr kann sich solche Lösung langfristig als unzureichend erweisen: Wenn sie das einzige Mittel darstellt, um die Rechte von Individuen und Minderheiten zur Durchsetzung zu verhelfen, dann ist es um den demokratischen Geist eines Landes sehr schlecht bestellt. Schuld daran ist allerdings weniger die juristisch erzwungene Anerkennung der Rechte von Minderheiten oder Individuen als vielmehr die soziale und moralische Intoleranz der Mehrheit, die diesen Gruppen bzw. Einzelnen nur den Rechtsweg offen lässt. Demokratie kann in einer solchen Gesellschaft nur in einer Form überleben, die an die äußerlich und formell perfekte Demokratie unseres Gedankenexperimentes erinnert. Es gibt allerdings eine dritte Alternative zur Forderung von Bürgertugenden, die weder im Verzicht darauf noch im Rekurs auf rechtliche Mittel besteht: Die Förderung eines demokratischen Geistes unter den Bürgern – wobei damit weniger die Einnahme

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regelrechter Tugenden als vielmehr eine Form politischer Partizipation und die Annahme demokratischer Spielregeln gemeint ist, die weit über die rein formellen Partizipationsformen und Spielregeln hinausgehen, die Gegenstand der oben erwähnten prozeduralen Demokratietheorien sind und sich auf die institutionellen Aspekte von Demokratie beziehen. Mehr als von bürgerlichen oder demokratischen Tugenden sollte daher von demokratischem Geist oder – kantisch ausgedrückt – von demokratischer (bei Kant republikanischer) Denkungsart die Rede sein. Was die Demokratie in unserem Gedankenexperiment so furchtbar macht, ist weniger die Abwesenheit von Bürgertugenden als vielmehr die Abwesenheit einer demokratischen Denkweise unter den Bürgern. Diese Denkweise hat weniger mit der Orientierung an eine einzelne politische Gemeinschaft (wie hingegen die Bürgertugenden) zu tun, sondern weist vielmehr auf eine allgemeine Haltung hin, die man zur Frage menschlichen Zusammenlebens einnehmen sollte. Will man bei einer solchen Haltung von Tugenden sprechen (was durchaus möglich ist), so sollte man allgemein von ‚politischen Tugenden‘ reden. Darunter verstehe ich (im Anschluss an Kant, wie ich meine) Tugenden, die sich auf das politische Handeln im Allgemeinen und nicht nur auf die Mitgliedschaft in einer konkreten politischen Gemeinschaft beziehen. Sie werden daher auf einer Ebene erworben, die weniger mit der institutionalisierten politischen Teilnahme als vielmehr mit einer weitgehenderen Form politischer Partizipation verbunden ist. Eine nichtinstitutionelle Form politischer Partizipation ist typisch für die Demokratie, denn sie besteht aus mehr als einem rein institutionellen Moment: Sie setzt die Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit voraus.

7.8. Demokratische Öffentlichkeit als Ort der politischen Erziehung Die Rolle der Öffentlichkeit in der Demokratie wird u. a. von Jürgen Habermas auf besonders prägnante Weise beschrieben (Habermas 1962 und 1989). Im schon erwähnten Rekurs auf verfassungsrechtlich festgesetzte Normen zum Schutz der Minderheit (möge es sich um die Garantie von individuellen Rechten oder um verfassungstechnische Maßnahmen bezüglich der Gewaltenteilung handeln) sieht Habermas eine Position, die eine Spannung zwischen der Idee der Volkssouveränität und der Idee individueller Rechte ausmacht: „die praktische Vernunft, die sich in der Verfassung verkörpert, gerät [...] in Gegensatz zum souveränen Willen der politischen Massen“. Die Alternative, um „die normative Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit“, zwischen Volkssouveränitätsund Menschenrechtsprinzip aufzulösen, sieht Habermas im Anschluss an Julius Fröbel in einer Auffassung von Demokratie, die auf Diskussion und nicht einfach auf Mehrheitsentscheidung basiert (eine Auffassung, die derjenigen Rousseaus diametral entgegensteht: vgl. oben 4.11): „Eine Mehrheitsentscheidung darf nur so zustande kommen, dass ihr Inhalt als das rational motivierte, aber fehlbare Ergebnis einer unter Entscheidungsdruck vorläufig beendeten Diskussion über das, was das Richtige ist, gelten darf“ – wobei man hier unter das „Richtige“ das verstehen soll, was für eine bestimmte politische Gemeinschaft richtig ist, gemäß Habermas’ Unterscheidung zwischen moralischen

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und politischen Diskursen. „Der öffentliche Diskurs“, so Habermas, „ist die vermittelnde Instanz zwischen Vernunft und Willen.“ (Habermas 1989, 20) Die von Fröbel und Habermas angebotene Auflösung der Spannung zwischen Volkssouveränitäts- und Menschenrechtsprinzip setzt allerdings voraus, dass „Volksbildung, ein hohes Bildungsniveau für alle sowie Freiheit für theoretische Meinungsäußerung und Propaganda“ vorhanden sind, also die Entstehung einer aufgeklärten Öffentlichkeit, deren Publikum „kein Körper mehr“ ist, „sondern nur noch Medium des vielstimmigen Prozesses einer Gewalt durch Verständigung ablösenden Meinungsbildung, die ihrerseits majoritäre Entscheidungen rational motiviert“ (a. a. O., 20 f.). Der Verfassung wird somit „alles Substantielle“ abgestreift: Sie zeichnet sich nicht mehr durch die Garantie natürlicher, vorpolitischer Rechte aus, sondern allein durch die Festsetzung der „Prozedur der Meinungs- und Willensbildung, die gleiche Freiheiten über allgemeine Kommunikations- und Teilnahmerechte sichert. [...] Die Menschenrechte konkurrieren nicht mit der Volkssouveränität; sie sind mit den konstitutiven Bedingungen einer sich selbst beschränkenden Praxis öffentlich-diskursiver Willensbildung identisch.“ (A. a. O., 21; Hervorheb. – Habermas)22 Habermas will allerdings diese Perspektive durch eine Erweiterung des Öffentlichkeitsbegriffes ergänzen. Neben der „verfaßten, zu Beschlüssen führenden politischen Willensbildung“ sieht er „nicht verfaßte, weil nicht unter Entscheidungszwang stehende informelle Meinungsbildungsprozesse“ am Werk. Solche Form nicht organisierter (und nicht organisierbarer) politischer Kommunikation ist wesentlicher Bestandteil eines normativen Öffentlichkeitsbegriffes, denn sie ermöglicht „Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu entdecken, Beiträge zu möglichen Problemlösungen beizusteuern, Werte zu interpretieren, gute Gründe zu produzieren, andere zu entwerten“ (a. a. O., 29 f.).23 Da die nicht organisierten Kommunikationsprozesse nicht zum unmittelbaren Zweck einer Willensbildung stattfinden, auf den demokratischen Entscheidungsprozess jedoch Auswirkung haben können, bilden sie genuin politische Phänomene. Somit wird der Begriff von Demokratie in einem nicht nur eng institutionellen Sinn neu formuliert. Die liberale Verfassungsdemokratie wird um das Element der unorganisierten Öffentlichkeit erweitert und gleicht somit am Ende ziemlich genau Kants Modell einer respublica phaenomenon – fast so, als solle Maus’ These bestätigt werden, dieses Modell sei von 22 Habermas hat diese Ideen in Faktizität und Geltung vertieft (Habermas 1992; dazu Pinzani 2000). Dass die Menschenrechte in keiner Konkurrenz zum Prinzip der Volkssouveränität stehen, sondern es wesentlich ergänzen und somit einen „Kontrapunkt der Moderne“ bilden, hat Otfried Höffe überzeugend gezeigt (in Höffe 1990). 23 Das kann allerdings auch für Habermas „nicht ohne die Rückendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gewöhnten Bevölkerung“ geschehen (a. a. O., 31). Wie schon Machiavelli, Rousseau und Kant behauptet haben: Republikanische Institutionen können nur dort reibungslos (aber nicht völlig problemlos) funktionieren, wo die Bevölkerung eine republikanische Gesinnung hat und an die Selbstgesetzgebung gewöhnt ist (Rousseau deutet allerdings diese politische Autonomie in einem ziemlich einschränkenden Sinn: vgl. oben 4.11).

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der Wirklichkeit unserer demokratischen Staaten noch nicht eingeholt werden (Maus 1992, 15). Der Sinn der Kommunikationsprozesse besteht also nicht nur darin, Themen aufzuwerfen und den Entscheidungsprozess des Gesetzgebers irgendwie zu beeinflussen. Sie dienen auch zur ständigen Re-Formulierung der Selbstauffassung der politischen Gemeinschaft selbst und zur eventuellen Re-Interpretation von deren Institutionen. Letztere sind – wie Bernhard Sutor zu Recht bemerkt – „nicht mechanisch wirkende Einrichtungen, sondern sozial-kulturelle Sinngebilde. Ihr Sinn muss von den Handelnden gewollt und erfüllt werden; diese können dagegen immer auch verstoßen, sie können Institutionen missbrauchen“ (Sutor 1997, 45). Sie bilden die Grundstruktur, um die sich eine politische Gemeinschaft organisiert. Aber im Gegensatz zur Meinung der Republikaner ist diese Struktur weder „heilig“ (Rousseau) noch unveränderbar – genauso wenig wie die Gemeinschaft, deren Leben sie regelt. Eine politische Gemeinschaft ist nämlich immer eine offene Gemeinschaft. In erster Linie zeitlich, gegenüber der Zukunft, aber auch räumlich gegenüber anderen Gemeinschaften und gegenüber Individuen, die ihr nicht angehören (vgl. Pinzani 2004). Die kollektive Identität ist nur das Ergebnis der geteilten Vorstellungen, die eine gewisse Anzahl von Individuen von sich selbst als Mitglieder einer Gemeinschaft haben. Nur wenn sich diese individuellen Vorstellungen auf relevante Weise überschneiden, kann eine kollektive, oder besser: eine Gruppenidentität entstehen (Cerutti 1996, 5). Sie kann als die Bündelung jener Elemente der einzelnen individuellen Identitäten definiert werden, welche die Definition der Gruppen selbst betreffen, und die von mehreren Individuen geteilt werden – natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die nicht geteilten Elemente so wenig relevant sind, als dass sie eine dauerhafte Wir-Identität unter den Mitgliedern der Gruppe unmöglich machen würden (a. a. O., 6), denn sonst kann kein Kollektiv ent- oder bestehen. Damit möchte ich nicht das voluntaristische Element in der Bildung politischer Gemeinschaften überbewerten – als ob z. B. der Gesellschaftsvertrag der modernen Vertragstheorien historische Wirklichkeit besäße und nicht nur eine Fiktion im Rahmen einer zur Legitimation politischer Macht dienenden Theorie wäre. Ich möchte nur auf die historische Dimension hinweisen, in der sich eine bestimmte politische Gemeinschaft aufgrund der Entstehung einer Gruppenidentität unter Individuen bildet – Individuen, die sich bis dahin nicht als Mitglieder jener besonderen Gemeinschaft angesehen haben. Und ich möchte darauf hinweisen, dass diese Identität – nicht nur historisch gesehen – nicht ein für alle Male existiert, sondern dass sie darüber hinaus weder diachronisch konstant noch synchronisch streng definiert ist. Es ist möglich, dass sich im Laufe der Zeit die geteilten Elemente der individuellen Vorstellungen, welche die Identität einer Gruppe definieren, verändern und schließlich zur Krise jener Identität führen.24 24 Ein gutes Beispiel dafür bietet vielleicht Belgien: Das Land ist aus der gemeinsamen Identifizierung von Flamen und Wallonen in der geteilten katholischen Tradition im Gegensatz zum protestantischen Holland entstanden, droht heute aber zu zerbrechen, weil beide Gruppen, besonders jedoch die Flamen, auf ihrer jeweiligen sprachlichen Kultur bestehen.

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Politische Institutionen sind Ausdruck der kollektiven Identität bzw. der Selbstauffassung, die eine Gruppe von Individuen von sich selbst als politischer Gemeinschaft hat. Insbesondere demokratische Institutionen werden von den Mitgliedern einer Gemeinschaft dadurch mit Leben gefüllt, dass sie politisch aktiv werden – und zwar nicht nur institutionell, sondern auch durch die Teilnahme am politischen Diskurs der Öffentlichkeit und an der eventuellen Kritik (Kant!) und Re-Interpretation der Institutionen selbst –, z. B. im Sinne der Einbeziehung von bis dahin exkludierten Individuen in die Rolle aktiver Staatsbürger (oder aber im entgegensetzten Sinn: Demokratie kann immer in ihr Gegenteil umschlagen, denn von allen Formen politischer Organisation und politischen Lebens ist sie die offenste und veränderlichste). Erst in der Teilnahme am demokratischen Diskurs können die Individuen die oben erwähnten politischen Tugenden entwickeln, denn Tugenden werden erst in ihrer Ausübung erworben – darüber sind sich alle Denker, die sie thematisiert haben, einig. Politische Tugenden verlangen nun allesamt vom Individuum eine offene Haltung den anderen gegenüber. Nur die ständige Konfrontation mit anders lautenden Meinungen und anders aussehenden Lebensweisen kann daher den Individuen jene Toleranz und jenen Respekt lehren, die zu den notwendigen Voraussetzungen einer demokratischen Kultur und daher der Demokratie selbst gehören. Demokratie setzt Offenheit voraus – auch im Sinne der Anerkennung der Differenzen. Das weist allerdings weniger auf die Dimension der einzelnen politischen Gemeinschaft hin als vielmehr auf eine überstaatliche, tendenziell globale Dimension.

7.9. Müssen wir unsere Art und Weise, Demokratie zu denken, neu denken? Aus unserer historischen Analyse hat man den Eindruck gewonnen, dass sowohl die (alten und neuen) Republikaner als auch die klassischen Liberalen ein Gesellschaftsbild anbieten, das kaum der Realität unserer gegenwärtigen, post-industriellen Gesellschaft entspricht – besonders in Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Globalisierung (vgl. dazu den Anhang). Das darf natürlich keine Kritik an den Denkern vergangener Zeiten sein, denn sie konnten unmöglich die wachsende Tendenz zur Komplexität erahnen, die unsere Gesellschaft charakterisiert. Sie ist undurchschaubar geworden – und mit der Globalisierung sind auch die zentralen Stellen wirtschaftlicher und damit schließlich auch politischer Macht unüberschaubar geworden. Mit dieser Unübersichtlichkeit ist auch die Möglichkeit einer durch die Bürger ausgeübten demokratischen Kontrolle über wirtschaftliche, soziale und politische Machtverschiebungen sehr niedrig geworden. Das betrifft ebenfalls die sinkende Möglichkeit, dass dieselben Bürger über die zur Steuerung jener Phänomene notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen mitentscheiden können. Die Komplexität der zu bewältigenden Probleme übersteigt nicht nur die kognitiven Fähigkeiten des Durchschnittsbürgers, sondern scheint häufig die Gestaltungsmöglichkeiten der Politiker zu überfordern. Außerdem leben wir in einer Zeit, in der Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und sogar Umweltpolitik der verschiedenen Länder weniger von den einzelnen Regierungen als vielmehr von den sogenannten ‚Imperativen‘ der internationalen Ökonomie bestimmt werden. Unter all diesen Umständen ist es kein

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Wunder, dass sich unter den Bürgern unserer Demokratien eine gewisse Resignation und politische Apathie ausbreitet, die weniger einem fehlenden Bürgersinn – wie die Neo-Republikaner meinen – als vielmehr dem Bewusstsein der eigenen politischen Ohnmacht zuzuschreiben ist. Dass es den Menschen weniger an politischem Interesse und an Sorge für das Gemeinwesen fehlt, beweist u. a. das zunehmende Engagement einer immer breiteren Anzahl von Individuen in Bewegungen und Gruppierungen, die sich in Bezug auf die traditionellen Formen politischer Partizipation eher als alternativ verstehen: NGO’s, aber auch die sog. „Bewegung von Bewegungen“, die aus den Protesten von Seattle (November 1999) und aus den drei World Social Foren in Porto Alegre (2001, 2002 und 2003) hervorgegangen sind. In diesen Bewegungen artikuliert sich ein Bedürfnis nach politischer Partizipation, das durch die traditionellen institutionalisierten Instrumente (allen voran die Wahl der eigenen Repräsentanten) nicht gestillt wird (vgl. dazu Keck/Sikkink 1998). Obwohl die in solchen Initiativen involvierten Bürger weitgehend eine Minderheit bleiben, beweisen sie, dass es viele Individuen gibt, die auf die zunehmende Ohnmacht der traditionellen Politik mit der Suche nach alternativen Optionen des politischen Handelns antworten. Solch erneutes Engagement nimmt nun die Form einer international übergreifenden Bewegung an: die Form einer Konstellation von lokal aktiven Gruppen, die sich in ein überstaatliches, nicht zentral kontrollierbares und keineswegs festes Netzwerk einfügen. Jene Bewegungen (denn es handelt sich um eine Pluralität von Bewegungen, die mit unterschiedlichen Zielen und Strategien einen gemeinsamen Komplex von Problemen in die Hand nehmen) buchstabieren den Begriff politischer Partizipation als internationales Engagement und brechen so mit der herkömmlichen territorialen Auffassung von Demokratie, nach der sie nur in Einzelstaaten möglich sei und nur durch die Einsetzung bestimmter institutioneller Mechanismen (Wahlen, Parlament, Gewaltenteilung usw.) funktionieren könne. Die neuen internationalen Bewegungen sind somit aus der Perspektive republikanischer Autoren kaum wegzudenken, da Letztere auf die innerstaatliche Dimension fixiert bleiben. Auch viele herkömmliche Theorien der Politik und des Politischen sind kaum imstande, diese neuen Phänomene (Globalisierung, neue Bewegungen, neue Formen politischer Partizipation) zu begreifen, da sie der innerstaatlichen Dimension verhaftet bleiben. In vielen jener Theorien werden Politik und Wirtschaft, politische Theorie und soziale Wirklichkeit streng voneinander getrennt. Das Ergebnis sind abstrakte Auffassungen, in denen alle möglichen politischen und sozialen Konflikte auf individuelle Konflikte reduziert werden, und die postulierte rechtliche Gleichheit der Individuen als ausreichende Garantie angesehen wird, um diese Konflikte zu schlichten bzw. zu reduzieren. In der Tat bestehen die politisch zu bewältigenden Probleme allzu häufig in Interessenkonflikten zwischen Gruppen, die mit unterschiedlicher politischer Macht ausgestattet sind. Die ungleiche Verteilung politischer Macht resultiert meistens aus einer ungleichen Verteilung ökonomischer und sozialer Macht (was eher den Mahnungen traditioneller Republikaner Recht zu geben scheint), aber die wenigsten liberalen Denker haben sich mit der Frage einer politisch gesteuerten Umverteilung dieser Macht befasst. Auch Rawls unterwirft z. B. eine solche Umverteilung strengen Bedingungen in Bezug auf die Erhaltung individueller Rechte, und das endet in der Verteidigung des sozialen und

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wirtschaftlichen status quo, da die Rechte besser gestellter Individuen mit ihrer schon vorhandenen sozialen und wirtschaftlichen Macht gegen die Rechte schlechter gestellter Individuen, die auf eine eventuelle Verbesserung der eigenen sozialen Position und der eigenen wirtschaftlichen Macht abzielen, ausgespielt werden. Ob deswegen die Rechte beider Gruppen tatsächlich gleiche Rechte sind, ist fraglich, so lange man das Ideal der rechtlichen Gleichheit vertritt, ohne sich mit der Frage seiner konkreten Durchsetzung zu beschäftigen. Es ist hier nicht der Ort, um eine Kritik der bestehenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse vorzunehmen. Ich wollte nur andeuten, dass viele politische Theorien, die sich als liberal definieren und daher zur Durchsetzung individueller Rechte verpflichten, allzu häufig die konkreten Rechte einer Minderheit gegen die nur abstrakten Rechte einer Mehrheit der Weltbevölkerung verteidigen, und somit die bestehende Ungerechtigkeit weiter fördern. Durch ihre innerstaatliche Perspektive sind diese Theorien außerdem nicht imstande, die veränderten Umstände zu erfassen, unter denen wirtschaftliche, soziale und politische Macht verteilt und ausgeübt wird. Das hat seine Ursache in der schon erwähnten Trennung von den angeblich untereinander ungleichen Sphären, in der diese verschiedenen Formen von Macht ausgeübt werden sollen. Wenn Wirtschaft von Politik, wirtschaftlicher von politischer Macht in der Theorie und in der auf jener Theorie basierenden Praxis getrennt wird, verwundert es nicht, dass Erstere über Letztere die Oberhand gewinnt, sich nicht nur von jeglicher politischen Kontrolle lossagt, sondern umgekehrt das Handeln politischer Institutionen (Regierungen, Parlamenten, usw.) durch ihre eigenen ‚Gesetze‘ bestimmt. Die Ergebnisse solcher Trennung sind in unseren Augen: zunehmende soziale Ungerechtigkeit (sowohl auf globaler als auch auf einzelstaatlicher Ebene), zunehmende Umweltprobleme, zunehmende Bedrohung für die Demokratie (z. B. durch die Konzentrierung der Informationsmedien in einigen wenigen Kartellen). Wird Wirtschaft nicht als Teil der Politik verstanden, ist eine Lösung dieser Probleme nicht denkbar (vgl. Pinzani 2005a). Die meisten herkömmlichen Theorien können schließlich dem Bedürfnis vieler Bürger nach neuen Formen politischer Partizipation kaum gerecht werden. Angesichts der oben erwähnten Phänomene (Schwächung der Handlungsfähigkeit von Einzelstaaten, neue Formen politischer Partizipation, usw.) scheint nun die Frage angebracht, ob eine demokratische Machtkontrolle auch ohne staatliche Institutionen, eine Demokratie ohne Staat möglich sein könnte. Dabei denke ich weniger an Formen von governance, die ihrerseits fraglich sein können und ein erhebliches Demokratiedefizit aufweisen (Pinzani 2003a), als vielmehr an eine Zurückeroberung des durch die Ökonomie verloren gegangenen Terrains mit Hilfe einer Re-Politisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn wir Letztere im Allgemeinen als politische Beziehungen auffassen (wie es schließlich Machiavelli gemacht hatte), wird es vielleicht möglich sein, Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Umweltschutzes und des menschlichen Wohlbefindens richtig anzupacken und zu lösen. Das kann und will jedoch nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein.

Anhang Vier soziologische Lesarten mit philosophischer Bedeutung

Auf vier soziologische Rekonstruktionen der historischen Entwicklung des Staatsbürgerschaftsbegriffs möchte ich hier hinweisen, die eine weniger alternative als vielmehr ergänzende Perspektive zu unserer Thematik anbieten: a) die Rekonstruktion der Entstehung des Wohlfahrtstaates von Thomas H. Marshall, b) Habermas’ Theorie der Krise desselben Wohlfahrtstaates, c) die Rekonstruktion der schwierigen Beziehung zwischen Staatsbürgerschaft und Subjektivität von Boaventura de Sousa Santos und d) Claus Offes Bemerkungen über die Rolle moralischer bzw. ethischer Einstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft. Marshalls Citizenship and Social Class (Marshall 1950) ist mittlerweile zu einem Klassiker der soziologischen Literatur über das Thema geworden, hat aber auch einen gewissen Einfluss auf politische Denker ausgeübt (vgl. dazu Zolo 1994 und Bulmer/Rees 1996; kritisch zu Marshall: Roche 1987 und Turner 1990); die Theorien von Habermas und Santos verbinden eine sozio-historische mit einer philosophisch-historischen Perspektive und erweisen sich somit für unser Vorhaben von gewissem Interesse. Offe verbindet auf interessante Weise eine funktionelle mit einer verantwortungsethischen Perspektive. Ich werde im Folgenden diese Positionen nur darstellen, ohne auf sie näher einzugehen: Mir genügt es zu zeigen, dass manche Schlüsse, auf die ich aufgrund meiner historischen Analyse gekommen bin, auch von Soziologen geteilt werden, welche die Thematik aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. a) Für Marshall bedeutet Staatsbürgerschaft in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft. Sie ist mit Rechten und Pflichten verbunden und fordert (und ermöglicht gleichzeitig) die Herstellung bestimmter Institutionen, um sozio-politische Wirksamkeit zu erlangen. Es handelt sich also um keinen monolithischen Begriff. Staatsbürgerschaft als rechtlicher Status ist das Ergebnis sozio-geschichtlicher Ereignisse und wird in unterschiedlichen Zeiten für unterschiedliche Gesellschaftsgruppen gewährleistet. Ein solcher Status wird außerdem in erster Linie durch die Gewährung bestimmter Rechte bzw. Rechtsgruppen definiert. Zuerst bezog er sich auf jene Rechte, die wir als ‚traditionell liberale Rechte‘ bezeichnen, d. h. die negativen Freiheitsrechte: Sie bilden das Fundament des modernen Rechtsstaates und der modernen Rechtsordnung und werden in den verschiedenen politischen Theorien allen Individuen zugesprochen. Anders sieht es mit den Rechten auf eine aktive politische Teilnahme aus, die sich im Vergleich zu den negativen Rechten erst später durchsetzen konnten. Solch größere Schwierigkeit bei der rechtlichen und politischen Durchsetzung entspricht einer gewissen Uneinigkeit unter den politischen Denkern sowohl bezüglich der konkreten Form der Teilnahme als auch des Umfangs jener Rechte und der Anzahl der

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ANHANG

Bürger, die sie hätten genießen sollen (das vielleicht bekannteste Beispiel dafür bietet Kants Idee einer aktiven und einer passiven Staatsbürgerschaft). Erst mit der Ausweitung jener Rechte auf alle Staatsbürger und mit dem allgemeinen Wahlrecht (das allerdings anfänglich fast immer auf Männer beschränkt blieb) konnten sich auch diese Rechte als ein unumstrittenes Moment liberaler Demokratie behaupten. Die dritte Gruppe von Rechten sind noch heute die umstrittensten: die sogenannten Sozialrechte. Nach Marshall setzten sie sich erst als Ergebnis der Kämpfe der Arbeiterklasse politisch durch und führten zur Entstehung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Marshalls Modell scheint aus mindestens zwei Gründen wenig überzeugend: Es geht erstens von einer optimistischen, fortschrittsgläubigen Perspektive aus. Die Rechte, die dem Begriff der Staatsbürgerschaft Inhalt und Wirklichkeit verleihen, werden als Ergebnis eines unaufhaltsamen, fast naturgemäß stattfindenden historischen Prozesses dargestellt. In ihrer Entwicklung finden sie kaum Hindernisse, so dass die Entstehung des Wohlfahrtsstaates fast als der unumkehrbare Endpunkt jenes Prozesses dasteht. Die aktuelle Krise dieses Staates scheint Marshalls These zu widerlegen. Marshall übersieht zweitens die Risiken, die schon der Sozialstaat mit sich bringt, und auf die u. a. Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns aufmerksam gemacht hat – allerdings ohne Bezug auf Marshall, der in dem Buch seltsamerweise unerwähnt bleibt (Habermas 1981, II 510 ff.)1. b) Auch für Habermas resultiert der Sozialstaat aus dem Klassenkonflikt, und zwar als Mittel der sozialen Pazifizierung. Sein Ziel ist, die vom Markt verursachten negativen Auswirkungen aufzufangen und so weit wie möglich zu beseitigen bzw. zu kompensieren.2 Der Sozialstaat steht allerdings vor schwierigen Aufgaben, die sowohl den „Umfang sozialstaatlicher Anwendungen unter fiskalischen Einschränkungen“ als auch „die Art der sozialstaatlichen Leistungen und die Organisation der Daseinsvorsorge“ betreffen (a. a. O., II 511). Aber noch schwerwiegender ist in Habermas’ Augen die negative Auswirkung, die das sozialstaatliche Arrangement für die Figur des Staatsbürgers hat, die in der Massendemokratie immer stärker ‚neutralisiert‘ wird: Die Staatsbürger werden somit zu „Klienten wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien“ (a. a. O., II 515), denn „die Klientenrolle ist das Pendant, das eine zur Abstraktion verflüchtigte, ihrer Effektivität beraubte politischen Teilnahme akzeptabel macht“. Mit anderen Worten:

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Habermas benutzt die Termini „Sozialstaat“ und „Wohlfahrtsstaat“ als Synonyme, obwohl sie es nicht sind. Der Einfachheit halber schließe ich mich hier jedoch seinem Gebrauch dieser Begriffe an. „Kernstück ist eine arbeits- und sozialrechtliche Gesetzgebung, die für die Grundrisiken der Lohnarbeiterexistenz Vorkehrungen trifft und Nachteile, die sich aus strukturell schwächeren Marktpositionen (der Arbeitnehmer, Mieter, Kunden usw.) ergeben, kompensiert. Die Sozialpolitik fängt extreme Benachteiligungen und Unsicherheiten auf, ohne freilich die strukturell ungleichen Eigentums-, Einkommens- und Abhängigkeitsverhältnisse zu berühren. Regelungen und Leistungen des Sozialstaates orientieren sich aber nicht nur an Zielen des sozialen Ausgleichs durch individuelle Entschädigungen, sondern auch an der Bewältigung kollektiv spürbarer externer Effekte, bspw. in den ökologisch empfindlichen Bereichen der Standort- und Verkehrsplanung, der Energie- und Wasserwirtschaft sowie des Landschaftsschutzes, oder in Bereichen der Gesundheits-, Kultur- und Bildungspolitik.“ (Habermas 1981, II 510 f.)

VIER SOZIOLOGISCHE LESARTEN MIT PHILOSOPHISCHER BEDEUTUNG

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Die Bürger erhalten die sozialstaatlichen Leistungen als Kompensation für die Tatsache, dass sich die Bedeutung ihrer politischen Teilhabe verflüchtigt hat. In derartiger Lesart wird der Sozialstaat schließlich zum indirekten Instrument der von Habermas festgestellten Kolonisierung der Lebenswelt durch die Systeme der Wirtschaft und der Verwaltung – von der die zunehmende Gesetzgebung in immer breiteren Bereichen unseres Lebens das auffälligste Symptom ist (a. a. O., II 522 ff.). In der Tat ist die Krise des Wohlfahrtsstaates gleichzeitig die Krise des modernen demokratischen Staates, der auf der Idee einer Rückkoppelung zwischen Gesetzgebung durch das Volk und Gesetzanwendung auf das Volk, auf der „Idee einer über Gesetze programmierten Selbsteinwirkung“ (Habermas 1989, 26) basiert, wie man sie auch bei Rousseau oder Kant findet. Die Bürger sind sowohl Autoren als auch Adressaten des Rechts, und das sollte garantieren, dass die politische Macht tatsächlich in ihrem Namen ausgeübt wird (gemäß dem von Hobbes und Kant zitierten Spruch „volenti non fit iniuria“). Soweit die philosophische Theorie (die von Habermas selbst in Faktizität und Geltung wieder aufgenommen wird: vgl. Habermas 1992, Kap. 3). „Die soziologische Aufklärung über den faktischen Macht-Kreislauf“ hat uns jedoch nach Meinung von Habermas „eines Besseren belehrt“ (Habermas 1989, 26): Eine Gesellschaft ist nicht länger „eine Assoziation [...], die sich über die Medien Recht und politische Macht selbst bestimmt“ (a. a. O.) – und vielleicht ist sie es auch niemals gewesen. Aber sie ist es sicher nicht mehr in den gegenwärtigen Zeiten der Globalisierung, in der konkrete politische Gestaltungskriterien der Einzelstaaten und ihrer Regierungen – also auch der jeweiligen Bevölkerung – stark abgenommen haben. Die Kolonisierungsgefahren, die Habermas 1981 auf der innerstaatlichen Ebene feststellte, scheinen sich nun auf globaler Ebene erweitert, ja vervielfacht zu haben. c) Hier setzt Santos’ Reflexion ein. Santos meint, die Moderne bilde ein sozio-kulturelles Projekt, das sehr komplex ist und daher auch widersprüchliche Entwicklungen erleben kann. Die gegenwärtige Zeit, das Zeitalter der Globalisierung, stellt für dieses Projekt ein schwieriges Moment dar – eine Herausforderung, deren Ausgang noch offen ist. Das Projekt der Moderne gründet nach Santos’ Meinung auf zwei Pfeilern: Der erste betrifft die Regulierung und artikuliert sich in drei Prinzipien: das Staatsprinzip (dessen beste Formulierung in Hobbes’ Staatstheorie zu finden ist), das Marktprinzip (dessen beste Formulierung bei Locke zu finden ist) und das Gemeinschaftsprinzip (dessen beste Formulierung bei Rousseau zu finden ist). Der zweite Pfeiler ist derjenige der Emanzipation, der sich in drei verschiedenen Formen von Rationalität artikuliert: die ästhetisch-expressive Rationalität der Kunst und der Literatur, die moralisch-praktische Rationalität der Ethik und des Rechts, und die theoretisch-instrumentelle Rationalität der Naturwissenschaften und der Technologie. Jede dieser Formen besitzt eine privilegierte Beziehung zu jeweils einem der Prinzipien: die ästhetisch-expressive Rationalität mit dem Gemeinschaftsprinzip, die moralisch-praktische Rationalität mit dem Staatsprinzip und die theoretisch-instrumentelle Rationalität mit dem Marktprinzip (Santos 2001, 77). Das Projekt der Moderne ist sehr ehrgeizig, da es versucht, jene zwei Pfeiler sowie ihre verschiedenen Prinzipien und Rationalitätsformen in Einklang oder mindestens ins Gleichgewicht miteinander zu bringen. Der Versuch scheiterte jedoch – und zwar in dem Maße, in dem sich der kapitalistische Produktionsmodus durchsetzte. Im Laufe

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ANHANG

dieses historischen Prozesses verstärkte sich der Pfeiler der Regulierung auf Kosten desjenigen der Emanzipation, obwohl es sich um keinen linearen Prozess handelte, sondern um einen, der mehrere Oszillationen kannte (z. B. zwischen Revolution und Reformen, zwischen Liberalismus und Marxismus, zwischen korporativem System und Klassenkampf, zwischen Faschismus und Demokratie usw.). Zudem fand auch innerhalb beider Pfeiler „Regulierung“ und „Emanzipation“, ein Prozess der Hegemonie durch ein einzelnes Prinzip bzw. eine einzelne Rationalitätsform statt: Im ersten Pfeiler neigte das Marktprinzip dazu, die beiden anderen zu unterwerfen, im zweiten war es die theoretisch-instrumentelle Rationalität, welche die beiden anderen verdrängte. Auch in diesem Fall handelte es sich jedoch um keinen linearen Prozess, denn der Konflikt unter den verschiedenen Prinzipien bzw. Rationalitätsformen verlief durch drei historische Etappen, die jeweils ein unterschiedliches Ergebnis produzierten. Die drei Etappen bezeichnet Santos im Anschluss an Lash und Urry (Lash/Urry 1987; vgl. dazu auch Keane/ Offe 1985) als: liberalen, organisierten und unorganisierten Kapitalismus (Santos 2001, 79). Der Hypertrophie des Marktes in der ersten Phase (19. Jahrhundert seit Beginn der industriellen Revolution) folgte in der zweiten (zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg) ein gewisses Gleichgewicht zwischen Markt- und Staatsprinzip, und zwar als Folge der von den Gewerkschaften und den sozialistischen Parteien geführten sozialen Kämpfe (die Santos für einen Ausdruck des Gemeinschaftsprinzips hält). Das Ergebnis jener Kämpfe ist der Sozial- bzw. Wohlfahrtstaat, den Santos Vorsorgestaat (Estado-Providência) nennt (a. a. O., 237). Jetzt befinden wir uns in der dritten Phase, die eine erneute Hegemonie des Marktprinzips und die entsprechende Krise des Vorsorgestaates erlebt. Trotz der fast nach Hegel anmutenden Struktur von Santos’ Rekonstruktion sind die gerade beschriebenen Prozesse nicht abgeschlossen: Die aktuelle Krise der Staats- und Gemeinschaftsprinzipien ist keineswegs eine solche, sondern kann durchaus als Übergangserscheinung gedeutet werden. Wohin der Übergang führen soll, bleibt vorerst offen, obwohl Santos einen Weg zeichnet, der zu einem erneuten Gleichgewicht und sogar zu einer leichten Hegemonie des Gemeinschaftsprinzips und des Emanzipationspfeilers führen könnte (a. a. O., 256 ff.). Interessant für uns ist jedoch weniger Santos’ Prognose bzw. Therapie als vielmehr seine Diagnose und seine Analyse der Beziehung zwischen den zwei Dimensionen „Staatsbürgerschaft“ (cidadania) und „Subjektivität“ (subjectividade). Santos liest die Geschichte der drei erwähnten Phasen als Geschichte dieser spannungsreichen Beziehung. Die liberale Theorie stellt nach seiner Meinung den Versuch dar, beide Dimensionen in Einklang zu bringen – ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Nach der liberalen Theorie ist Staatsbürgerschaft nur ein Aspekt im Leben der Individuen, und nicht der wichtigste: Sie ermöglicht den Individuen lediglich die Gestaltung des gesetzlichen Rahmens, in dem sie ihrem privaten Lebensprojekt nachgehen können, und besitzt somit einen sekundären Charakter im Vergleich zur Dimension der Befolgung der eigenen Interessen und schließlich des eigenen Glücks. Durch die Definition von individuellen Rechten (und Verpflichtungen) öffnet der moderne, liberale Staatsbürgerbegriff neue Möglichkeiten der individuellen Selbstentfaltung. Andererseits, da es sich um allgemeine Rechte (und Pflichten) handelt, wird die Individualität der Individuen gegen eine abstrakte Rechtspersönlichkeit getauscht. Die rechtliche Gleichheit

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wird somit zur Negation der individuellen Unterschiede – was nicht nur den positiven Effekt der Errichtung einer gerechteren Rechtsordnung zur Folge hat, sondern auch negative Auswirkungen bezüglich der konkreten Wahrnehmung der Rechte und der Subjektivität der Individuen, die nun zu bloßen Rechtspersonen werden (a. a. O., 240). Was ein einfacher Aspekt der individuellen Identität sein sollte, schlägt somit in ihr Gegenteil um: in das einzige wichtige Element zur Definition dieser Identität unter politischem Gesichtspunkt. In der traditionellen liberalen Theorie erschöpft sich die Staatsbürgerschaft im Genuss individueller Rechte und in einer Form der politischen Teilnahme, die ausschließlich in der Ausübung des Wahlrechts besteht – und das auch nur im Rahmen eines repräsentativen Systems, das jede Form direkter Demokratie ausschließt oder stark marginalisiert (wie in den Theorien von Locke oder Kant, aber letztlich auch von Rousseau). Ausdruck solch zunehmender Passivität der Staatsbürger ist in Santos’ Augen auch die vom Liberalismus durch die Theorie des Gesellschaftsvertrages durchgeführte „Naturalisierung“ des Staates: Der Staat wird zur einzigen möglichen Alternative einer Lebensform, in der vereinzelte Individuen einander bekämpfen, also wie ein fast naturgemäßes Phänomen handeln (a. a. O., 238). Die Vertragstheorie stellt außerdem die Gesellschaft als eine Form des Zusammenlebens dar, in der die Individuen freiwillige Verbindungen eingehen – von der Ehe bis hin zum Staat. Diese Vereinigungen sind allesamt Ausdruck der individuellen Autonomie, da sie von den Individuen mitgestaltet und mitgesteuert werden. Dabei werden aber zwei wichtige Aspekte ausgeblendet: I) Das Privatunternehmen, auf dem das moderne kapitalistische System basiert, wird keineswegs von allen Individuen gesteuert, die an ihm teilnehmen bzw. die von dessen Auswirkungen betroffen sind (Arbeiter, Konsumenten usw.), und ist also keineswegs Ausdruck ihrer Autonomie; das Privatunternehmen wird somit der Sphäre der Politik entzogen – was eine Verkennung seines politischen Gewichts ist; II) ausgeblendet bleiben auch (im Gegenteil zu Aristoteles’ Politik) die Rolle und das soziale Gewicht der Hauswirtschaft bei der sozialen Reproduktion, insbesondere bei der Reproduktion der Arbeitskraft (a. a. O., 239). Die Erweiterung der staatlich garantierten Rechte auf den Bereich der sog. Sozialrechte und die Entstehung des Vorsorgestaates öffnete zwar „einen neuen Horizont für die Entwicklung der Subjektivität“, verstärkte jedoch gleichzeitig die Spannung zwischen Letzterer und der Dimension der Staatsbürgerschaft: „Die Sozialrechte und die von ihnen notwendig gemachten staatlichen Institutionen wurden zu Bestandteilen einer gesellschaftlichen Entwicklung, welche die Belastung und die Kontrolle der Individuen durch die Bürokratie erhöhte; die Individuen auf unerhörte Weise der Routine der Produktion und des Konsums unterwarf; einen trennenden und atomisierenden Stadtraum schuf, der die Solidarität traditioneller Sozialnetze von Interaktion und reziproker Hilfe zerstörte; eine Medienkultur und eine Freizeitindustrie förderte, die Unterhaltung und Zerstreuung in einem vorprogrammierten, passiven, heteronomen, der Arbeit sehr nahen Genuss verwandelte.“ (A. a. O., 245; Übersetzung – A. P.). Diese Zeit (die Phase des organisierten Kapitalismus) sieht daher einerseits die Durchsetzung eines Modells von Staatsbürgerschaft, die weitere Bereiche als das Vorige umfasst, und die den Individuen eine größere wirtschaftliche Sicherheit garantiert. Derartige Sicherheit wird andererseits

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ANHANG

auf Kosten der Individualität erreicht, da sie mit Phänomenen zusammengeht, die eine entfremdende Auswirkung auf die Menschen haben. Die Krise des Sozialstaates (die zu einer Krise der Gewerkschaften und zu einem Neokorporatismus führte) und die Studentenbewegung (die eine Revolte der Subjektivität gegen die passive, atomisierende Dimension der Staatsbürgerschaft darstellte) münden nicht in einen ‚Sieg‘ der subjektiven über die staatsbürgerliche Dimension. Die Oberhand gewinnt vielmehr wieder das Marktprinzip – diesmal allerdings ohne Widerstand durch die Arbeiterklasse, wie es im 19. Jahrhundert geschehen war. Die Globalisierung führt in dieser Hinsicht zu einer Dezentralisierung der Produktion (mit den bekannten Folgen: Massenarbeitslosigkeit in den Industrieländern, gnadenloser Standortwettbewerb, Aushöhlung der Gestaltungskraft einzelstaatlicher Regierungen in Bezug auf die Arbeits- und sogar auf die Finanz- und Steuerpolitik, usw.3) und zur politischen Isolierung der Arbeiterklasse, die zu einem bloßen „Bassin“ von Arbeitskräften wurde (a. a. O., 251 ff.). Der Staat zieht sich von seiner Politik sozialer Vorsorge zurück und interveniert gleichzeitig verstärkt im Bereich der Privatwirtschaft – und zwar durch Politik zugunsten der Unternehmen (steuerrechtliche Vergünstigungen, Protektionismus, Subventionen, Übernahme der sozialen Kosten von Missmanagement ohne gleichzeitige Teilnahme an die eventuellen Gewinnen, usw.). Der Siegeszug des Marktprinzips droht zu einem Triumph zu werden, der auf einen Schlag die gewonnenen sozialstaatlichen Garantien beseitigt und die schon durch den Sozialstaat selbst bedrohte Subjektivität der Individuen auf die passive, asoziale und entfremdete Figur des Konsumenten reduziert (a. a. O., 255). Santos sieht jedoch in der zunehmenden Bedeutung von unorthodoxen, nicht-institutionalisierten Formen politischer Teilnahme (z. B. die neue Bewegungen: vgl. oben 7.9) eine mögliche Antwort auf eine derartige Gefahr. Daher lehnt er es ab, die aktuelle Krise des Vorsorge-Staates (und der Demokratie) als endgültig zu bezeichnen, und sieht vor, sie als Übergangserscheinung zu betrachten. d) Auch Claus Offe beschäftigt sich mit den Auswirkungen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Er benutzt in Bezug auf jene politische Theorien, die auf eine Begrenzung der mit den Entwicklungen gegenwärtiger Gesellschaften verbundenen Risiken und Probleme abzielen, „die Metaphern von Bremse und Fessel“, nämlich „die absichtsvolle Selbsthinderung an ‚falschen Bewegungen‘“ (Offe 1989, 745). Ziel solcher Theorien ist es, „durch geeignete Verfahren und Institutionen die zerstörerischen Auswirkungen der technologischen, militärischen, wirtschaftlichen, bürokratischen und ökologischen Modernisierungsdynamik dadurch zu bremsen und zu fesseln, dass Prinzipien der verantwortlichen Selbstbeschränkung zur Geltung gebracht werden“ (a. a. O., 747). Unsere komplexen Gesellschaften brauchen entsprechend dieser Aussage jene Mitglieder, die eine solche ‚verantwortliche Selbstbeschränkung‘ vornehmen: Soziale Systeme unterscheiden sich nämlich nach Offes Meinung „offenbar nach dem Maße, in dem sie auf die autonome moralische Selbstdisziplinierung und die zivilisierte Selbststeuerung ihrer Angehörigen angewiesen sind [...]; in dieser Dimension weisen komplexe Gesell-

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Vgl. dazu Pinzani 2000a und die dort angegebene Literatur.

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schaften und ihre Teilsysteme einen eminenten funktionalen Bedarf an ‚verantwortungsethischen‘ Massenorientierungen (und nicht nur an Verantwortungsethik bei Eliten und Experten) auf“ (a. a. O., 758). Um ihre Steuerungsprobleme zu lösen, bedürfen somit komplexe Gesellschaften „eines zivilisierten Gemeinsinns“. Der basiert auf „verantwortungsethische[n] Dispositionen“, welche „die Qualität moralischer Normen“ haben, „weil sie, so sehr sie auch unter funktionalen Gesichtspunkten für komplexe soziale Systeme bestandswichtig sind, dennoch durch diese Funktionalität nicht motiviert sind, sondern einer unerzwungenen und gar nicht erzwingbaren moralischen Selbstbindung der Handelnden entspringen. Motiv und Funktion fallen also auseinander, und die genannten Dispositionen sind anders als durch ihre Steuerungsrationalität motiviert.“ (A. a. O., 759) Im Gegensatz zu Hobbes meint somit Offe, dass eine rein funktionale Haltung über keine ausreichende motivierende Kraft verfügt, um die Mitglieder einer Gesellschaft zur notwendigen Selbstbeschränkung zu bewegen.4 Die hier kurz skizzierten vier Positionen weisen darauf hin, dass sich das von mir in den letzten beiden Kapiteln vorliegender Arbeit angebotene Bild der gegenwärtigen Probleme, die auf unserer demokratischen Gesellschaft lasten, gewissermaßen empirisch stützen lässt. Es zeigt sich darüber hinaus, dass eine enge Beziehung zwischen der Entstehung dieser Probleme und der Tatsache besteht, dass die traditionellen politischen Theorien eine bestimmte Begrifflichkeit benutzt haben, um ihren Gegenstand zu beschreiben. In dem Moment, in dem sie z. B. die Sphäre der Wirtschaft von derjenigen der Politik trennen, oder einen weniger rechtlich-formellen als vielmehr materiellen Souveränitätsbegriff benutzen, beeinflussen solche Theorien die politische Praxis auf entscheidende Weise und werden somit zu Mitverursachern der aktuellen Probleme: ein Umstand, den viele gegenwärtige Denker, die sich gern der Begrifflichkeit neuzeitlicher Theorien bedienen, nicht gebührend berücksichtigen.

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Offe führt dabei den Begriff der Solidarität ein, nicht nur in Bezug auf die faire Berücksichtigung der Bedürfnisse von Zeitgenossen, sondern vor allem in Berücksichtigung der Bedürfnisse künftiger Generationen: „Wenn schon das schwache Band der Zeitgenossenschaft solidarisches Handeln offenkundig oft nicht hinreichend motiviert, worauf sollte sich intertemporale Genossenschaft stützen? [...] Zumal sich die Gegenwärtigen von den Sanktionen und dem moralischen Tadel der Nachgeborenen gänzlich unbetroffen fühlen können.“ (A. a. O., 762 f.) Eine solche Schwierigkeit lässt sich nur dann vermeiden, wenn man im institutionellen Kontext, wie dem der Nation, dem einer religiösen Gemeinschaft oder dem eines Berufsstandes denkt. Deswegen glaubt Offe an die „katalysatorische Funktion“ assoziativer Kontexte, „auf deren Hintergrund sich Individuen als ‚zugehörig‘ kodieren können [...]. In sozialer Hinsicht können intermediäre Assoziationen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sicherstellen, dass die Verbindlichkeit geltender Regeln intern generalisiert wird, so dass niemand der Beteiligten befürchten muss, dass sein eigenes regelgebundenes Handeln von anderen unerwidert bleibt und von ihnen ausgebeutet wird.“ (A. a. O., 764 f.) Der Hinweis auf „diese Potentiale von Assoziationen, moralischen Orientierungen bei ihren Angehörigen sowohl zu fordern wie zu fördern“, soll auch daran erinnern, dass „die moralische Kapazität der Individuen“ weder „allein von den Strukturen ihrer Ich-Identität“ noch „allein von den rechtlich institutionalisierten Rahmenregelungen der Verfassung“ abhängt (a. a. O., 765). Dabei nähert sich Offes Position derjenigen kommunitaristischer bzw. republikanischer Denker an.

Bibliographische Hinweise

Angegeben werden hier nur die in meiner Arbeit erwähnten oder zitierten Texte. Wurde aus einer deutschen Übersetzung zitiert, ist sie als Erste angegeben. Ansonsten wird immer zuerst die Originalausgabe, dann in viereckigen Klammern die eventuelle deutsche Übersetzung genannt. So bezieht sich z. B. die Angabe „Skinner 1990“ im Text auf die deutsche Fassung eines Buchs, dessen Originalausgabe im Jahr 1981 erschienen ist; die Angabe „Etzioni 1996“ bezieht sich hingegen auf die englische Originalausgabe, deren deutsche Übersetzung erst 1997 erschienen ist. Abromeit, Heidrun 1999: „Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften“, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt a. M., 17-36 Achenwall, Georg/Pütter, Johann St. (1995): Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae), hg. von J. Schröder, Frankfurt a. M. Ackerman, Bruce (1980): Social Justice in the Liberal State, New Haven/London ― (1995): „Warum Dialog?“, in: B. van den Brink/W. van Reijen (Hg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt a. M., 385-410 [zuerst veröffentlicht als: „Why Dialog?“, in: The Journal of Philosophy, I/64, 1989, 5-22] Althusser, Louis (1995): „Machiavel et nous“, in: ders., Écrits philosophiques et politiques, Tome II, Paris, 39-168 Arendt, Hannah (1951): The Origins of Totalitarianism, New York ― (1992): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. und mit einem Essay von R. Beiner, München/Zürich [zuerst veröffentlicht als: Lectures on Kant’s Political Philosophy, Chicago 1982] Aubrey, John (2000): Brief Lives/An Apparatus for the Lives of our English Mathematical Writers/The Life of Thomas Hobbes of Malmesbury, ed. by J. Buchanan-Brown, with a foreword by M. Hunter, London Augustinus, Aurelius (1955): Vom Gottesstaat, hg. von W. Thimme, Bd. II, Zürich Baldassarri, Stefano U. (2000): „Introduzione“, in: L. Bruni, Laudatio Florentine Urbis, Firenze, XIIILXXXIX Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg [zuerst veröffentlicht als: Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley, 1984] ― (1995): Jihad vs. McWorld, New York, Ballantine (with a new introduction 2001) ― (1998): A Place for Us. How to Make Society Civil and Democracy Strong, New York Baron, Hans (1966): The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, revised edition, Princeton [zuerst veröffentlicht 1955] ― (1988): In Search of Florentine Civic Humanism, Princeton Barry, Brian (1964): „The Public Interest“, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volume 38, 1-18 ― (1968): „Warrender and His Critics“, in: Philosophy, Bd. 43, 117-137

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Personenregister

Abromeit, H. 228 Achenwall, G. 230, 237f. Ackerman, B. 20, 338, 341, 343 Adams, J. 191, 240, 325 Alberti, L. B. 53 Alexander VI (Borgia, R.) 42 Alighieri, D. 51ff., 82, 107 Althusser, L. 43, 46f., 54, 60, 63f., 73, 86 Arendt, H. 88, 144, 224f., 230, 274 Aristoteles 22f., 35f., 44ff., 49f., 53, 72, 88f., 96, 98, 125, 133f., 154, 162, 238, 269ff., 273, 295f., 314, 363 Aubrey, J. 104f. Augustinus 51, 107, 114, 180 Bacon, F. 15, 35, 98, 321 Barber, B. 19, 206, 318, 320, 325f., 328, 333, 337ff., 347 Baron, H. 52, 71, 320 Barry, B. 91, 180f., 183 Bartolus a Saxoferrato 25f., 52, 119, 322 Baynes, K. 20, 328ff., 341f. Beck, L. 287 Beiner, R. 22, 296 Bellah, R. 17, 320 Bergson, H. 216f. Berkowitz, P. 16, 133f., 142, 297f. Blum, C. 146, 197, 214 Bobbio, N. 39, 106, 216, 348 Böckenförde, E.-W. 219, 302, 320, 350 Bodin, J. 24, 95f., 118, 189 Bolingbroke, Lord 321 Boonin-Vail, D. 88f. Borgia, C. 34, 42, 63f., 81, 83 Borgia, R. s. Alexander VI Bossuet, J. B. 155, 189 Botticelli, S. 50 Bracciolini, P. 51, 53 Bracton, H. 94 Brandeis, L. D. 19, 339

Brandt, R. 150, 184, 264, 267, 287, Brocker, M. 267 Bruni, L. 50, 52f., 60, 321, 339 Bruyère, La 164 Buchanan, J. 31, 321 Buffon, G. L. Leclerc 158, 163 Buhle, J. G. 88 Burg, P. 223 Cajot, J. 155 Callan, E. 347, 349 Casini, P. 147 Cassirer, E. 37f., 41f., 149, 156, 173, 177f., 208f., 313 Castiglione, B. 76f. Cato der Ä. 80, 157 Cattaneo, C. 322 Cerutti, F. 354 Chabod, F. 39 Charles II (Stuart) s. Karl I Charvet, J. 181 Cicero, M. T. 47, 80, 100, 142, 184, 281, 321ff., 339 Coke, E. 95 Contarini, F. 321 Cooper, L. 147, 150f., 213, 218 Creveld, M. van 38 Croce, B. 9 Dagger, R. 208, 321, 345 Dahl, R. 325, 328f., 348 Dante s. Alighieri, D. Denis, L. 269 Dent, N. L. 202 Derathé, R. 208 Dewey, J. 19, 339 Diderot, D. 155, 169, 175f., 180, 185f., 232f., 287 Dietz. M. J. 89, 134, 142, 322 Downs, A. 348

PERSONENREGISTER Doyle, M. 21 Drei, H. 43, 46 Dubiel, H. 16, 289 Dworkin, R. 321, 341 Egle, Ch. 343 Elster, J. 119f., 289 Epikur 99, 231 Erdmann, K. D. 192 Esposito, R. 201 Etzioni, A. 320, 325, 347, 366 Ewin, R. E. 89 Feinberg, J. 26, 347 Fénelon, F. 155, 199 Fermon, N. 169, 178 Fetscher, I. 122, 146, 156, 163f., 167, 175, 192, 197, 211, 213 Fichte, J. G. 222, 321 Ficino, M. 44, 50 Fleischacker, S. 269, 301 Fleisher, M. 36, 56, 61 Forst, R. 15 Fortescue, J. 95 Frankenberg, G. 16 Friedrich II. 88, 223, 254, 301, 336 Fröbel, J. 352f. Galilei, G. 98, 103 Galston, W. 9, 16f., 273, 341, 351 Gauthier, D. 88, 105f. Gerhardt, V. 222, 225 Gert, B. 89 Giannotti, D. 321 Gierke, O. von 31 Giovanni da Viterbo 53 Gonnelli, F. 230 Goodin, R. E. 347 Gramsci, A. 86 Gregor, M. 269 Grimsley, R. 147, 149, 192 Grotius, H. 24 Guicciardini, F. 39f., 240 Guyer, P. 269 Habermas, J. 9, 21ff., 27, 31f., 98, 121f., 222, 224f., 274, 289, 328, 341, 344, 348, 352f., 359ff.

381 Hamilton, A. 321 Hampton, J. 88, 104, 317 Hardin, R. 132 Harrington, J. 86, 321 Hauser, A. 50 Hegel, G. W. F. 9, 21, 31f., 35, 54, 74, 125, 142, 222, 255, 291, 321, 362 Herb, K. 154 Herder, J. G. 222, 321 Herman, B. 269 Herz, D. 19 Höffe, O. 23, 31, 102, 122, 143, 225f., 261, 269, 279, 287, 297, 300, 307, 314, 341, 345, 353 Hobbes, Th. 9f., 15, 18, 20ff., 44, 46, 48, 55ff., 62f., 66, 71ff., 77, 79, 86, 88-145, 147ff., 159, 161, 164f., 167f., 170f., 176, 178, 180f., 184, 188f., 192ff., 200, 209, 211f., 216, 223, 228, 230f., 233f., 236ff., 244, 251ff., 256, 259, 269ff., 275, 287, 291, 293, 295, 298, 303, 306ff., 321, 323, 325, 327, 339, 343, 347, 361, 365 Holmes, St. 16, 328f., 332, 340, 346 Horaz 155 Hulliung, M. 60, 62 Hume, D. 31 Hunton, Ph. 95 Illuminati, A. 148, 156, 176, 220 Jefferson, Th. 326, 339 John of Salisbury 46, 120 Johnson, B. 321 Johnson, L. 90 Jouvenel, B. de 154, 196, 206 Kant, I. 9f., 17, 20f., 23ff., 34, 36f., 45f., 56, 60, 65f., 72ff., 86, 100, 107, 115, 117, 119f., 124f., 128ff., 135, 140, 142, 145, 147ff., 161, 170f., 173, 178, 182, 188, 190f., 209, 218f., 222-305, 307ff., 320ff., 326, 329, 335f., 338, 340, 342ff., 346ff., 351ff., 355, 360f., 363 Karl I. Stuart 90, 93f., 97, 99, 132, 117, 145 Karl II. Stuart 94, 135f. Kaulbach, Fr. 257, 273 Kavka, G. 88, 106, 269f. Kelly, Ch. 157

382 Kern, F. 250 Kersting, W. 45, 47, 51, 55, 83, 257, 283 Kielmannsegg, P. 227 Kleingeld, P. 300 König, H. 34, 107 Korsgaard, Ch. 269 Koselleck, R. 88, 92, 114, 169, 192, 218, 223, 294 Kühl, K. 267 Kuhlmann, Fr. 225 Langer, C. 223, 294 Larmore, Ch. 20, 296, 341, 343 Latini, B. 51, 53 Leczinski, S. 157, 202 Leo X. (Medici, G.) 42, 64 Leopardi, G. 33, 55 Lippmann, W. 339 Livius (Titus) 35, 46, 54, 60, 67, 321, 323 Locke, J. 16, 24, 37, 153f., 167, 178, 208f., 229, 236f., 268, 321, 323, 327, 329, 361, 363 Lorenzetti, A. 321 Losurdo, D. 223, 247f., 250, 294 Louden, R. 261, 269, 304 Ludwig, B. 89, 109 Luhmann, N. 289 Maak, Th. 16 Macedo, St. 16f., 320, 341f., 345, 347 Machiavelli, N. 9f., 16f., 20f., 23ff., 33-87, 97, 100, 107, 133, 136, 139, 142, 144, 149, 152, 155, 164, 167f., 188f., 192, 195, 198, 201, 209, 212, 214ff., 226, 228, 236f., 240, 247, 250, 288, 293, 296, 306, 308ff., 321f., 324, 331, 335, 339f., 343, 347, 350, 353, 357 MacIntyre, A. 15 Macpherson, C. B. 89, 306 Madison, J. 86, 321, 325, 339 Mager, W. 45f., 322 Mallett, M. 82 Mandeville, B. de 290 Manetti, G. 53 Manin, B. 183f., 220 Mansfield, H. 37, 39 Marquard, O. 269 Marshall, T. H. 320, 359f. Marx, K. 21, 222f., 294, 321

PERSONENREGISTER Matteucci, N. 38 Maus, I. 222ff., 238, 242, 246, 250f., 267f., 353f. Mazzini, G. 322 McNeilly, F. C. 88, 106 Medici, C. 39, 77, 80 Meinecke, Fr. 48 Merle, J. Ch. 307 Metzger, H. D. 88, 94, 135 Meyer, W. 327 Mill, J. S. 321, 323 Milton, J. 321 Montaigne, M. 155 Montesquieu, Ch. L. Secondat baron de 155, 179, 203, 207ff., 216, 219, 227f., 296, 329 Münkler, H. 16, 37, 43, 49ff., 55, 73, 86, 306, 321, 324ff. Münzel, F. 269, 345 Nagel, Th. 346 Newton, I. 231f. Nida-Rümelin, J. 108, 111 Niesen, P. 239, 266, 289ff. Nietzsche, Fr. 66 Nisbet, R. 164 Norton, D. 347 Nozick, R. 31, 321 Nussbaum, M. 300 Offe, C. 321, 359, 362, 364f. O’Neill, O. 269 Palmieri, M. 53, 321 Pascal, B. 178, 180 Pasquino, G. 35, 37 Paton, H. J. 273 Petrarca, F. 47, 51 Pettit, Ph. 17, 222, 321ff. Pico della Mirandola, G. 44, 50f. Pinkard, T. 287f. Pirni, A. 233, 274f. Pitkin, H. F. 120 Polybios 35, 44ff., 49, 65, 69 Platon 23, 35, 44ff., 50, 74, 107, 143, 154, 157f., 182, 229f., 236, 244, 270f., 324 Plutarch 155 Pocock, J. G. A. 17, 320, 326f. Pogge, Th. 118 Poggio s. Bracciolini, P.

PERSONENREGISTER Popper, K. 216f. Pufendorf, S. 159, 161, 208 Putnam, R. D. 333ff. Raulet, G. 235, 292 Rawls, J. 16, 20f., 31f., 321, 330, 341ff., 356 Raynal, G. T. F. 155 Raz, J. 341 Reese-Schäfer, W. 321, 342 Rehm, M. 192, 195 Reitemeyer, U. 161 Remigio de’ Girolami 53 Renaut, A. 255 Riedel, M. 300 Riley, P. 153ff., 181, 275 Rinuccini, A. 321 Robespierre, M. 146 Roosevelt, Th. 339 Rotholz, W. 192 Rousseau, J.-J. 9f., 16f., 20f., 23ff., 34, 36f., 41, 61, 65f., 71f., 74, 79f., 86, 96, 100, 103, 105, 117, 142, 144, 146-221, 222, 226, 228, 230, 236ff., 240, 242ff., 246, 253, 255f., 258, 262, 267, 284, 287f., 291, 295, 298, 300, 304ff., 321ff., 326, 329, 331ff., 335ff., 339f., 347, 350, 352ff., 361, 363 Royce, J. 19, 339 Rusconi, G. E. 17 Saage, R. 268, 291 Saint-Just, L. A. 146 Salgado, J. 299 Sallust 321, 323 Salutati, C. 53, 321 Sandel, M. 320, 325, 332, 339 Saner, H. 231 Santos, B. S. 359, 361ff. Savonarola, G. 57 Schinz, A. 211 Schlegel, Fr. 223 Schmitt, C. 88 Schopenhauer, A. 230 Schudson, M. 325 Schumpeter, J. 31, 348 Seneca 155 Seubert, S. 269, 287, 298f., 346 Shakespeare, W. 105f. Shell, S. M. 230f., 264

383 Sherman, N. 269 Shklar, J. 124, 152, 183, 199ff., 206, 229, 239, 269, 295ff., 301, 316, 338, 340, 346, 351 Sidney, A. 321 Skinner, Q. 17, 42, 45, 47, 51ff., 71, 86, 88f., 94, 321ff. Smith, A. 156, 164, 290, 307 Smith, Th. 95 Soboul, A. 146 Sommer, M. 263 Sokrates 74, 157, 207 Sorell, T. 89 Spaemann, R. 154, 160, 162 Spinoza, B. 24, 27, 35, 119f., 178 Strauss, D. 346f. Strauss, L. 88f., 104, 107, 154, 216 Sullivan, R. 230 Tacitus 155 Taylor, A. E. 89, 91, 127f. Taylor, Ch. 15, 329ff. Taylor, M. 15 Thiebaut, C. 15 Thomas von A. 22, 118 Thukydides 35, 44f., 90, 118 Tocqueville, A. de 330, 333 Todorov, T. 147, 152 Tönnies, F. 88 Tuck, R. 88, 94 Van den Brink, B. 17, 346 Vergerio, P. P. 53 Vico, G. B. 65 Viroli, M. 17, 29, 42, 55f., 86, 147, 149ff., 165f., 217, 321ff., 335, 337, 339 Vollrath, E. 224ff. Voltaire 150, 166, 186, 217 Walzer, M. 31, 328ff., 332f. Warrender, H. 89, 91, 127f. Washington, G. 325 Withelocke, J. 95 Wokler, R. 155, 189f. Wood, A. 269, 273 Xenophon 35, 46 Yack, B. 274 Zotta, F. 268, 291