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German Pages 280 [279] Year 20221
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Peter Schröder, London Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 158
Manon Westphal [Hrsg.]
Agonale Demokratie und Staat
© Titelbild: Stefan Klatt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6024-4 (Print) ISBN 978-3-7489-0144-0 (ePDF)
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1. Auflage 2021 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Editorial – Understanding the State
Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technol‐ ogy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s in‐ volvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Manon Westphal Einleitung: Agonale Demokratie – Institutionen(kritik) – Staat
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Institutionen bei Chantal Mouffe: Diagnosen und Weiterentwicklungen Dirk Jörke und Christoph Held Verstrickt in der Liberalismusfalle. Für eine machiavellistische Erweiterung der Mouffeʼschen Demokratietheorie
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Stefan Wallaschek Über Parteien, Bewegungen und Solidarität in Chantal Mouffes agonaler Demokratietheorie
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Malte Miram Die Vielfalt der Institutionenverständnisse im Kontext des institutionellen Defizits und als Maßstab der Kritik. Betrachtungen am Beispiel Chantal Mouffe
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Demokratische Repräsentation Steffen Herrmann Agonale Institutionen. Für einen radikaldemokratischen Republikanismus Milos Rodatos und Rieke Trimçev Die demokratische Repräsentation des agon. Erkundungen mit Jacques Rancière und Ernesto Laclau
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Verfassung und Recht Franziska Martinsen Streit um Zugehörigkeit. Der Begriff des Demos und das Paradox des Politischen
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Oliver W. Lembcke A-Legal Democracy? Die agonale Demokratietheorie auf der Suche nach dem roten Faden, mit dem sich Politik und Recht verknüpfen lassen
171
Danny Michelsen Die Verfassung der agonalen Demokratie. Zum Verhältnis von Konstitutionalismus und Demokratie bei James Tully, Chantal Mouffe und Bonnie Honig
199
Die Herausforderung rechter Institutionenkritik und -politik Luzia Sievi Agonale Demokratie und Rechtspopulismus. Institutionenkritik von rechts am Beispiel der Dieselfahrverbote
225
Gabriele Wilde Die Macht der Gesellschaft. Das Autoritäre im Kontext von (Geschlechter-) Differenz und Konfliktualität
253
Die Autorinnen und Autoren
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Manon Westphal Einleitung: Agonale Demokratie – Institutionen(kritik) – Staat
Agonale Demokratietheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Pluralität, Dis‐ sens und Konflikt zentrale Merkmale des Politischen sehen und das Ausfechten von politischem Streit als elementar für die Demokratie bewerten. Auf eine mit der Rezeption der kommunitaristischen Theorien in den 1980er Jahren vergleichbare Weise wurden die Arbeiten agonaler Demokratietheoretiker*innen zunächst primär als Bausteine einer Kritik an etablierten liberalen Theorien wahrgenommen. Chantal Mouffe beispielsweise, eine der prominentesten Vertreter*innen der agonalen Demo‐ kratietheorie, hat sich vor dem Hintergrund der agonalen Prämissen bezüglich des konflikthaften Wesens des Politischen kritisch mit den Theorien von John Rawls und Jürgen Habermas auseinandergesetzt1 und damit die demokratietheoretische Debatte über den Umgang mit Pluralität um eine mittlerweile breit rezipierte Kritik an den konsensorientierten Annahmen liberaler und deliberativer Demokratietheorien bereichert.2 Allerdings hat sich die agonale Demokratietheorie zusehends als eine Theoriefamilie eigenen Rechts im zeitgenössischen demokratietheoretischen Diskurs etabliert. Die agonale Kritik an den liberalen und deliberativen Demokratietheorien wurde längst ergänzt durch Ansätze einer agonalen Demokratie, die zeigen, wie sich das Plädoyer für eine umfassendere Anerkennung der oft hartnäckigen Persistenz von Dissensen in pluralistischen Gesellschaften konstruktiv wenden und in konflikt‐ betonte Konzeptionen demokratischer Praxis übersetzen lässt. Dabei haben agonale Theoretiker*innen, zu denen neben Chantal Mouffe in der Regel vor allem James Tully3, Bonnie Honig4 und William Connolly5 gezählt werden, durchaus sehr unter‐ schiedliche Ansätze vorgelegt. Agonale Theoretiker*innen eint die Annahme, dass demokratischer Streit Dissense produktiv verarbeiten kann, ohne eine Einigkeit über Gerechtigkeitsprinzipien oder eine Orientierung an einem Konsensideal vorauszuset‐ zen – aber die Frage, wie eine solche Verarbeitung aussehen sollte, ist Gegenstand des Dissenses in der agonalen Theoriefamilie.6
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Mouffe 2000, S. 80-98; Mouffe 2005a, S. 41-59; Mouffe 2005b. Siehe etwa Flügel-Martinsen 2013. Z.B. Tully 1995, 2008a, 2008b. Z.B. Honig 1993, 2009. Z.B. Connolly 1991, 1995. Für einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede agonaler Demokratietheorien siehe etwa Wenman 2003 und Wingenbach 2011, S. 21-78.
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Ein Einwand, der häufig gegen die agonale Theoriefamilie angeführt wird, lautet, dass sie der institutionellen Seite demokratischer Politik unzureichend Beachtung schenke. Agonale Theoretiker*innen forderten eine stärkere Berücksichtigung von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten, ohne auszubuchstabieren, was dies für die Gestaltung von demokratischen Institutionen und Verfahren bedeutet. Wenn unter Rekurs auf diese Beobachtung von einem „institutionellen Defizit“ agonaler Demokratie gesprochen wird,7 ist damit nicht etwa gemeint, dass agonale Theoreti‐ ker*innen die Relevanz von Institutionen für die Demokratie gar nicht thematisieren oder sogar bestreiten würden. Vielmehr stellt die Kritik am institutionellen Defizit agonaler Demokratie darauf ab, dass agonale Theoretiker*innen über das Themati‐ sieren der allgemeinen Relevanz von Institutionen oft nicht hinausgehen und die Frage nach spezifisch agonalen Funktionen und Funktionsweisen von Institutionen weitgehend unbearbeitet lassen. Mit anderen Worten: Der Einwand lautet nicht, dass die agonale Demokratietheorie anti-institutionell sei, sondern dass sie hinsichtlich ihrer institutionellen Implikationen vage und unausgearbeitet sei. Agonale Theoretiker*innen betonen explizit die Relevanz staatlicher Strukturen für die agonale Demokratie. James Tully beispielsweise geht es darum, ein Vielfalt und Dissens affirmierendes Verfassungsverständnis zu entfalten.8 Chantal Mouffe betont die zentrale Rolle des Parlaments und der hierin streitenden politischen Parteien für die Demokratie.9 Sie wendet sich gegen Ansätze, die radikaldemo‐ kratische Politik jenseits staatlicher Strukturen verorten, und argumentiert, dass eine Ablehnung des Staates und die Weigerung, sich mit staatlichen Strukturen auseinanderzusetzen, politische Akteur*innen „zur Machtlosigkeit“ verdammen.10 Emanzipatorische politische Akteur*innen, die versuchen, Ungleichheiten zu politi‐ sieren und zu überwinden, sich aber aus den staatlichen Institutionen zurückziehen, vernachlässigten, dass „der Staat eine wichtige Rolle in der Bekämpfung dieser Unterdrückungsformen spielen kann“.11 Aber wie sehen die Institutionen einer agonalen Demokratie aus? Was hieße es konkret, staatliche Strukturen agonal zu denken und zu gestalten? Ausschlagge‐ bend für die Aussicht auf Möglichkeiten, das institutionelle Defizit agonaler Demo‐ kratie zu überwinden, ist ein Merkmal agonaler Demokratietheorien, das neben dem konsenskritischen Plädoyer agonaler Theoretiker*innen für eine umfassendere Anerkennung von Pluralität und Streit oft eine geringere Berücksichtigung findet. Dieses Merkmal ist die normative Dimension agonaler Demokratietheorien. Weder nehmen agonale Theoretiker*innen an, dass politischer Streit in der Demokratie grenzenlos sein könnte – es gibt politische Positionen und Ideen, die der Demo‐ 7 8 9 10 11
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Siehe exemplarisch Jörke 2004, S. 182; Howarth 2008, S. 189. Tully 1995. Mouffe 2007a, S. 33. Mouffe 2009, S. 39. Mouffe 2009, S. 45.
kratie gefährlich werden können12 –, noch geht es ihnen darum, Streit per se zu befördern. Agonale Formen des Ausfechtens von Konflikten über die Formen und Regeln sozialer Ordnung zeichnen sich mindestens dadurch aus, dass die Beteilig‐ ten das Recht der jeweils anderen Parteien anerkennen, im politischen Streit für ihre jeweiligen Positionen einzutreten. Dissenstoleranz und eine basale Form des Respekts vor Andersdenkenden unterscheiden Mouffe zufolge politische Konflikte, die in einem agonistischen Modus ausgetragen werden, von solchen, die in einem antagonistischen Modus ausgetragen werden.13 Manche agonale Theoretiker*innen, insbesondere William Connolly, gehen diesbezüglich noch deutlich weiter und argu‐ mentieren, dass demokratischer Streit von einem pluralistischen Ethos geprägt sein sollte, das eine Offenheit politischer Akteur*innen gegenüber marginalisierten Iden‐ titäten und Sichtweisen impliziert und eine regelmäßige Öffnung und Neugestaltung der bestehenden Formen und Regeln sozialer Ordnung ermöglicht.14 Agonale De‐ mokratietheorien beschreiben also auf die eine oder andere Weise erstrebenswerte Formen politischer Konfliktverarbeitung. Zwar kann kein Institutionensetting garantieren, dass bestimmte normative An‐ sprüche an demokratische Politik realisiert werden; aber Institutionen, die die Bühne und die Spielregeln politischen Streits definieren, können Voraussetzungen dafür schaffen und Beiträge dazu leisten, dass demokratische Politik auf Weisen funktio‐ niert, die diesen normativen Ansprüchen entsprechen oder zumindest nahekommen. Weil agonale Demokratietheoretiker*innen nicht bei einem Plädoyer für (mehr) Streit stehenbleiben, sondern spezifizieren, was dieses Plädoyer für demokratische Formen des Streits bedeutet, bieten sie Ressourcen für Reflektionen darüber, wel‐ che Institutionen geeignet sein könnten, um diesen Formen des Streits möglichst förderliche Bedingungen bereitzustellen. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass das institutionelle Defizit kein notwendiges Merkmal agonaler Demokratie ist, sondern sich Überlegungen zu den institutionellen Implikationen agonaler Demokra‐ tietheorien anstellen lassen, die über jene Thematisierungen hinausgehen, die in den Werken der Begründer*innen dieser Theoriefamilie zu finden sind. Ein weiteres Merkmal agonaler Demokratietheorien sorgt allerdings dafür, dass alle Bemühungen um eine Schärfung des institutionellen Profils agonaler Demokra‐ tie vor der Aufgabe stehen, eine Spannung zwischen Ordnungskonstitution und Ordnungsunterminierung auszutarieren. Dieses Merkmal ist die Idee des Politischen, nach welcher soziale Beziehungen grundsätzlich von „Offenheit, Unentscheidbarkeit und Kontingenz“ geprägt sind.15 Agonale Theoretiker*innen argumentieren, dass das Politische auf der Ebene der Politik eine Entsprechung in Form demokratischer 12 13 14 15
Mouffe 2005b, S. 227. Mouffe 2007b, S. 45. Connolly 2005, S. 65. Flügel/Hetzel/Heil 2004, S. 13.
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Gestaltbarkeit finden sollte. Weil keine politische Frage letztgültig entschieden wer‐ den kann, sollte es in der Demokratie möglich sein, grundsätzlich jeden Aspekt einer sozialen Ordnung in Frage zu stellen, zu einem Gegenstand von politischem Streit zu machen und dann gegebenenfalls auf neue Weisen zu gestalten. Das bedeu‐ tet, dass im Rahmen agonalen Denkens auch die Institutionen der Demokratie als Gegenstände eines fortlaufenden, nie endgültig abschließbaren politischen Streits verstanden werden müssen. Alle Institutionen in ihren jeweils konkreten Formen – die bestehenden und die, die gegebenenfalls zukünftig politisch erstritten werden – müssen kritisierbar und weiterhin gestaltbar bleiben.16 Es braucht aus agonaler Perspektive also beides: Es braucht einerseits die Konsti‐ tution von Ordnung, weil demokratische Politik auf gemeinsame politische Räume und Spielregeln angewiesen ist, und es braucht andererseits auch die Unterminierung von Ordnung, weil eine Isolierung existierender Ordnungsformen von politischem Streit den demokratischen Charakter des politischen Gemeinwesens unterlaufen würde. Politische Institutionentheorie auf eine Weise zu betreiben, die diesem Span‐ nungsverhältnis Rechnung trägt, ist eine zentrale Herausforderung für alle, die das institutionelle Defizit agonaler Demokratie bearbeiten möchten. Der Umstand, dass in der agonalen Demokratie sowohl die Konstitution als auch die Unterminierung von Ordnung wichtig sind, legt allgemein nahe, dass Institutionenkonzeption und Institutionenkritik als zwei gleichermaßen wichtige Bestandteile einer politischen Theorie agonaler Institutionen betrachtet werden sollten. Fraglich ist aber nicht nur, wie beides am besten realisiert wird, sondern auch, was es für die Durchführung der einen Aufgabe bedeuten könnte oder sollte, die Relevanz der jeweils anderen zu berücksichtigen. Mindestens drei Erwägungen, so soll hier vorgeschlagen werden, sprechen dafür, dass es ein lohnendes Unterfangen ist, sich der beschriebenen Herausforderung anzunehmen und die Frage nach agonalen Perspektiven auf Institutionen und Institu‐ tionengestaltung stärker in den Fokus der Debatte über agonale Demokratietheorien zu stellen. Die Vollständigkeit agonaler Demokratietheorie. Eine agonale Demokratietheo‐ rie, deren institutionelle Implikationen ausgeleuchtet sind, ist eine vollständiger ausgearbeitete Demokratietheorie. Die Bedeutung von nicht-institutionalisierten po‐ litischen Prozessen darf zwar nicht geringgeschätzt werden. Zweifelsohne ist es ein Verdienst agonaler sowie anderer radikaler Demokratietheoretiker*innen, dass sie gezeigt haben, wie wichtig es ist, demokratische Politik nicht auf das Handeln in und gemäß den Regeln von Institutionen zu reduzieren. Aber solange agonale Theorien nicht mehr zu dem Wesen, zu den Funktionen und zu den Formen von Institutionen sagen, vernachlässigen sie Faktoren, die Politik maßgeblich prägen. 16 Dieses Argument bringt etwa Chantal Mouffe gegen die Theorien von John Rawls und Jürgen Habermas in Stellung. Hierzu Jörke 2004, S. 171.
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Das oben exemplarisch ausgewiesene Plädoyer agonaler Theoretiker*innen dafür, die Bedeutung von Institutionen für die Demokratie anzuerkennen, bliebe dann ein nur vages programmatisches Bekenntnis mit unklaren demokratietheoretischen Implikationen. Die Pluralisierung politischer Institutionentheorie. Eine Ausarbeitung institutio‐ neller Implikationen agonaler Demokratietheorien würde nicht nur dem agonalen Theoriediskurs zugutekommen, sondern könnte auch den bereiteren demokratietheo‐ retischen Diskurs über institutionelle Gestaltungsmöglichkeiten bereichern. Sofern ausbuchstabiert wird, was agonale Perspektiven auf Institutionen auszeichnet, sind andere Ergebnisse zu erwarten als im Feld der vorherrschenden liberalen und deli‐ berativen Demokratietheorien, wo Institutionen primär die Aufgabe zugeschrieben wird, Voraussetzungen und förderliche Bedingungen für den öffentlichen Vernunft‐ gebrauch bereitzustellen. Eine konstruktive Bearbeitung des institutionellen Defizits agonaler Demokratie könnte für eine Pluralisierung der Debatten sorgen, deren Gewinn eine Perspektivenerweiterung und, damit verbunden, ein geschärftes Ver‐ ständnis für die Vielfalt an Möglichkeiten wären, den institutionellen Rahmen der Demokratie zu denken und zu gestalten. Herausgeforderte staatliche Institutionen. Dass eine Bearbeitung des institutio‐ nellen Defizits agonaler Demokratie zu einer Pluralisierung des institutionentheore‐ tischen Diskurses beitragen könnte, spricht insbesondere angesichts der gegenwär‐ tigen Situation in westlichen Demokratien dafür, eine solche Bearbeitung zu unter‐ nehmen. Zum einen sorgen strukturelle Entwicklungen wie Prozesse der Globalisie‐ rung und Transnationalisierung zunehmend dafür, dass der Staat als „äußere Form der Demokratie in die Krise gerät“.17 Zum anderen steht hinter dem Erfolg des auto‐ ritären Populismus, der westliche Demokratien derzeit herausfordert, eine breite Un‐ zufriedenheit mit dem aktuellen Zustand der Institutionen westlicher Demokratien. Die Wahlerfolge autoritärer Populist*innen sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil der Bürger*innen von den Leistungen der repräsentativen Insti‐ tutionen enttäuscht ist.18 Solche Befunde sollten zum Anlass genommen werden, potenzielle Um- und Neugestaltungen demokratischer Institutionen zu diskutieren. Es könnte sein, dass sich einer solchen Debatte fruchtbare Impulse geben lassen, indem institutionelle Implikationen des agonalen, auf den Streitcharakter von Politik abstellenden Demokratieverständnisses ausgelotet werden. Nachdem die Forschung das institutionelle Defizit agonaler Demokratie lange Zeit mehr kritisiert als zum Gegenstand von Bemühungen gemacht hat, die agonale Demokratietheorie weiterzuentwickeln, hat sich dies in den vergangenen Jahren zu‐ sehends geändert. Das institutionelle Defizit agonaler Demokratie wird längst nicht mehr nur als eine Schwäche agonaler Demokratietheorien beklagt, sondern vermehrt 17 Manow 2020, S. 152. 18 Norris/Inglehart 2019, S. 4; Schäfer/Zürn 2021, S. 91; Selk 2020, S. 25.
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zu einem Ausgangspunkt von Untersuchungen gemacht, die sich mit der Bedeutung von staatlichen Institutionen für die agonale Demokratie, mit institutionellen Voraus‐ setzungen agonaler Politik, oder mit konkreten Vorschlägen für ein agonales Institu‐ tionendesign befassen.19 Nicht zuletzt hat der von Andreas Hetzel herausgegebene Band zu den staatstheoretischen Implikationen des Denkens von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, der 2017 in der Staatsverständnisse-Reihe erschienen ist, zu dieser Entwicklung der Debatte beigetragen.20 Jener Band hat die Kritik, radikalde‐ mokratisches Denken zeichne sich durch eine Institutionenvergessenheit aus, auf ihre Berechtigung geprüft und gezeigt, dass – auch wenn man „eine explizite und ausgefaltete Staatstheorie im Werk von Laclau und Mouffe vergebens“ sucht – das Laclau-Mouffesche Denken zahlreiche Ansatzpunkte für eine nicht-essentialistische Konzeptualisierung der Staatlichkeit von Demokratie sowie für ein „verändertes Denken des Staates“ bietet.21 Der vorliegende Band knüpft hier an und trägt zu einer Weiterentwicklung der Debatte über agonale Perspektiven auf die staatliche Verfasstheit demokratischer Politik bei, indem er das Spektrum agonaler Demokratietheorien aufspannt und der Frage nachgeht, wie sich mit den Ressourcen unterschiedlicher agonaler Theo‐ rien neue Perspektiven für eine Institutionentheorie erschließen lassen, die für die Bedeutung von Dissens und Konflikt im Politischen sensibilisiert ist. Zum einen wird die Debatte über agonale Institutionenverständnisse weiterentwickelt. Es wird ausgelotet, wie sich ausgehend von agonalen Politikverständnissen das Wesen von Institutionen deuten, Funktionen von Institutionen spezifizieren sowie Vorschläge für die Gestaltung von Institutionen unterbreiten lassen. Zum anderen wird das Unterfangen einer agonalen Institutionenkritik präzisiert, indem agonale Maßstäbe für eine kritische Bewertung von Institutionen(formen) ausformuliert sowie Grenzen einer Institutionenkritik ausgeleuchtet werden, die agonaler Demokratie förderlich ist. Es geht dem Band darum, die Vielfalt agonal-demokratischen Denkens und die Vielfalt an Institutionen und Institutionenverständnissen sichtbar zu machen, die sich mit agonalen Theorieperspektiven erschließen lassen. Die Theorien von Mouffe und Laclau spielen in vielen Beiträgen eine zentrale Rolle, aber auch die institutionentheoretischen Ressourcen der agonalen Theorien von Bonnie Honig, William Connolly und James Tully werden freigelegt. Außerdem werden Argumente und Konzepte von Theoretiker*innen wie Niccolò Machiavelli, Philip Pettit, Iris Marion Young, Jacques Rancière und Étienne Balibar diskutiert, die bisher nicht im Zentrum von Debatten über die agonale Demokratie stehen, aber
19 Herrmann/Flatscher 2020; Lowndes/Paxton 2018; Michelsen 2018; Paxton 2020; Wallaschek 2017; Westphal 2018, 2019; Wingenbach 2011. 20 Hetzel 2017a. 21 Hetzel 2017b, S. 14.
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Prämissen des agonalen Theoriediskurses teilen und Impulse stiften, mit denen sich das Unterfangen einer agonalen Institutionentheorie weiterentwickeln lässt. Auch mit Blick auf die behandelten Institutionen und Institutionenverständnisse bringt der Band eine Multiperspektivität in Stellung. Es werden das Parlament, Parteien und politische Repräsentationsbeziehungen diskutiert, ebenso der „Demos“, die Institution des Rechts und die Verfassung. Der Band lenkt den Blick aber auch über die klassischen politischen Institutionen hinaus, etwa auf die Institution Wissenschaft. Ferner wird gezeigt, wie fruchtbar es sowohl für eine Nuancierung von Diagnosen bezüglich des institutionellen Defizits agonaler Demokratietheorie als auch für die Analyse von aktuellen Kämpfen um Hegemonie ist, wenn auch verstetigte soziale Praktiken und Diskurse als Institutionen verstanden werden. Mit dieser doppelten Multiperspektivität führt der Band, um es mit James Tullys Worten zu sagen, einen „Multilog“22 über die reichhaltigen Potenziale einer agona‐ len Institutionentheorie. Diese Potenziale sichtbar zu machen, in neue Richtungen auszudeuten und so der Debatte über die agonale Demokratie, Institutionen(kritik) und den Staat neue Impulse zu geben, sind die Anliegen dieses Bandes.
Übersicht über die Beiträge Dirk Jörke und Christoph Held argumentieren, dass das Vorhaben, eine radikalde‐ mokratische Institutionentheorie zu entwickeln, nicht darauf fokussiert sein sollte, Chantal Mouffes Überlegungen zu den institutionellen Voraussetzungen agonaler Demokratie auszudeuten. Es sollte diese Annahmen vielmehr problematisieren, um das Spektrum an Institutionen zu erweitern, die dieses Vorhaben in den Blick neh‐ men kann. In ihrem enggeführten Bekenntnis zu den traditionellen Institutionen der liberalen Demokratie – wozu vor allem das allgemeine Wahlrecht, der Parlamenta‐ rismus und die politischen Parteien gehören – nehme Mouffe an, dass mit der libe‐ ralen Demokratie prinzipiell ein institutioneller Rahmen eingerichtet wurde, der si‐ cherstellt, dass der Ort der Macht leer bleibt und alle nach der demokratischen Revo‐ lution verbliebenen Herrschaftsverhältnisse politisiert und revidiert werden können. Dabei wird Jörke und Held zufolge aber vernachlässigt, dass die liberale Ordnung Herrschaft festigende und entpolitisierende Effekte hat. Das liberal-demokratische Institutionensetting stabilisiere zum Beispiel bestehende Eigentumsverhältnisse und entziehe viele ökonomische Belange dem Zugriff demokratischer Gestaltungsmacht. Vor diesem Hintergrund schlagen Jörke und Held vor, Überlegungen dazu, wie sich die Institutionen der Demokratie agonal gestalten ließen, neu auszurichten: Die spezifischen Ausschlüsse des liberalen Ordnungsmodells sollten freigelegt werden,
22 Tully 2004, S. 92.
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um hiervon ausgehend Institutionen zu konzipieren, die diese Ausschlüsse proble‐ matisieren. Anregungen dazu, wie solche Institutionen aussehen könnten, geben die Autoren ausgehend von John McCormicks, durch Machiavelli inspiriertem Ar‐ gument für „plebejische“ Institutionen, die den unteren Klassen mehr Einflussnahme im Gesetzgebungsprozess ermöglichen könnten. Stefan Wallaschek problematisiert die institutionentheoretischen Prämissen von Mouffes Theorie mit Blick auf die Bedeutung, die sie politischen Parteien zu‐ schreibt. Mouffe nehme zwar an, dass drei Typen von Akteuren wichtige Beiträge für das agonale Funktionieren der Demokratie leisten: das Parlament, Parteien und Bewegungen. Weil sie es für essenziell erachtet, dass gegenhegemoniale Kräfte den staatlichen Raum besetzen und auf neue Weisen gestalten, konzipiere sie das Verhältnis dieser Akteure jedoch hierarchisch. Bewegungen müssten Themen so politisieren, dass Parteipolitik sie aufgreifen und auf der parlamentarischen Agenda platzieren kann. Wallaschek argumentiert gegen eine solche Hierarchisierung. Eine Reduzierung von Bewegungen auf politische Kräfte, die Parteien zuliefern, sorge etwa dafür, dass bloß solche Themen adressiert werden, die Parteien wahlstrategisch erfolgversprechend erscheinen. Radikaldemokratischer Politik müsste es aber primär um die Vervielfältigung von politischen Räumen gehen. Insbesondere spreche die zentrale Bedeutung von Solidarität für den ethisch-politischen Horizont agonaler Demokratie dafür, das Verhältnis von Parteien und Bewegungen hierarchiefrei zu konzipieren. Während Mouffe als ethisch-politische Prinzipien agonaler Demokratie Gleichheit und Freiheit nennt, fehle in ihrem Bild die Solidarität, die – sowohl in ge‐ meinschaftsstiftender als auch in kämpferischer, Ausschlüsse politisierender Form – elementar sei für die Ausbildung kollektiver politischer Identitäten. Weil Bewegun‐ gen auf maßgebliche Weise zu der Entfaltung von Solidaritätsdynamiken beitragen können, entspreche ein hierarchiefreies Verhältnis von Parteien und Bewegungen der Idee agonaler Demokratie besser als jene parteienfokussierte Hierarchisierung, die Mouffe favorisiere. Malte Miram zeigt, dass es für die Sondierung von agonalen Institutionen hilf‐ reich sein kann, zunächst den Institutionenbegriff an sich zu betrachten und die Viel‐ falt an Möglichkeiten zu klären, „Institution“ zu definieren. Während die Soziologie unter Institutionen habitualisierte Formen sozialen Handelns verstehe, meine die Politikwissenschaft mit Institutionen klassischerweise Staatlichkeit konstituierende Ordnungsformen, oder beschreibe politische Institutionen als soziale Institutionen, deren Spezifikum ist, dass sie Regelsysteme für die allgemeinverbindliche Entschei‐ dungsfindung verkörpern. Miram unternimmt eine von den unterschiedlichen In‐ stitutionenverständnissen geleitete Suche nach agonalen Institutionen in Mouffes Demokratietheorie und zeigt, dass sich auf diese Weise ein vielfältigerer Befund zu den institutionentheoretischen Ressourcen ihrer Theorie erschließen lässt, als oft angenommen wird. Neben den klassischen politischen Institutionen, zu denen
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Mouffe sich explizit äußere, ließen sich auch soziale Institutionen identifizieren. He‐ gemoniale Diskurse, in denen politische Subjekte sich überhaupt erst konstituieren, verstetigten soziale Praktiken und strukturierten Verhaltens- und Wahrnehmungsfor‐ men. Maßstäbe für die (konstruktive) Kritik sowohl an sozialen als auch an politi‐ schen Institutionen gewinnt Miram aus der Idee des Politischen: Genuin politisch seien alle diejenigen Institutionen, die Verhaltensmuster, Sinnorientierungen oder Regelsysteme für das Politische offenhalten, das heißt Kritik und Neugestaltung des Bestehenden ermöglichen und fördern. So plädiert Miram dafür, nicht nur die Perspektive auf die potenziellen Gegenstände einer agonalen Institutionentheorie zu erweitern, sondern auch stärker die Vielfalt möglicher Funktionsweisen von Institu‐ tionen in den Blick zu nehmen. Steffen Herrmann führt agonales und republikanisches Denken zusammen, um zu zeigen, wie sich staatliche, und konkret legislative Institutionen so gestalten ließen, dass sie ein Infragestellen hegemonialer Regeln und Entscheidungen ermöglichen und fördern. Mit Philip Pettit argumentiert Herrmann, dass der Staat kein Hindernis für Demokratie ist, sondern ganz im Gegenteil Bedingungen dafür schafft, dass die Demokratie zum Ausdruck kommen kann. Aus agonaler Perspektive hänge alles davon ab, wie die staatlichen Institutionen gestaltet sind. Einen wichtigen Schritt in Richtung einer agonalen Staatsgestaltung sei Pettit gegangen, insofern er, im Lichte seines republikanischen Ideals von Freiheit als Nicht-Beherrschung, kontestative Institutionen fordert, die es Minderheiten ermöglichen, Mehrheitsentscheidungen zu verhindern oder herauszufordern. Allerdings müsse Pettits Ansatz weitergedacht werden. Unzureichend agonal sei das republikanische Modell vor allem dort, wo es Fürsprecher*innen einsetzen möchte, anstatt die minoritären Gruppen mit eigener Stimme im legislativen Prozess sprechen zu lassen. Herrmann schlägt eine Radikal‐ demokratisierung kontestativer Institutionen vor, indem er, inspiriert von Iris Marion Youngs Theorie, argumentiert, dass solche Institutionen gemäß der Idee deskriptiver Repräsentation gestaltet sein sollten. Insbesondere mit dem Instrument gruppenspe‐ zifischer Sondersitze könnten legislative Körperschaften zu Gegen-Institutionen ge‐ macht werden, die minoritäre Gruppen befähigen, in der Politik mit eigener Stimme zu sprechen, um hegemoniale politische Diskurse und Entscheidungsfindungspro‐ zesse zu unterbrechen und die Konfliktivität des Politischen innerhalb staatlicher Strukturen zur Geltung zu bringen. Milos Rodatos und Rieke Trimçev greifen die Theorien von Jacques Rancière und Ernesto Laclau auf, um Perspektiven für eine agonale Gestaltung von demo‐ kratischer Repräsentation aufzuschließen. Sie wählen die Theorien Rancières und Laclaus, um zu zeigen, dass gerade jene Versionen agonaler Demokratietheorie, die einer verbreiteten Wahrnehmung zufolge besonders institutionenkritisch sind, ein er‐ giebiges und bis dato unausgeschöpftes Potenzial bergen, repräsentative Demokratie anders als üblich zu denken. Rodatos und Trimçev arbeiten die Besonderheiten von
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Rancières ästhetisch und Laclaus psychoanalytisch fundierter Perspektive auf Reprä‐ sentation heraus und konturieren Gestaltungsstrategien, die den agonalen Merkma‐ len dieser Perspektiven institutionelle Formen geben könnten. Sowohl für Rancière, dessen ästhetisches Regime der Kunst beschreibt, wie Zuschauer*innen sich stets neue, von Routinen abweichende Wahrnehmungsmöglichkeiten erschließen können, als auch für Laclau, der argumentiert, dass sich Subjekte erst durch Repräsenta‐ tion konstituieren, sei ein emanzipatorisches Potenzial die politische Pointe von Repräsentation. Jene Asymmetrie, die Repräsentationsbeziehungen notwendig kenn‐ zeichnet, könne immer zum Ausgangspunkt von Forderungen nach Einlösung des radikaldemokratischen Versprechens auf egalitärere soziale und politische Verhält‐ nisse gemacht werden. Die institutionelle Infrastruktur der Demokratie könne dazu beitragen, die Asymmetrie von Repräsentationsverhältnissen produktiv konfliktiv zu bearbeiten, indem sie Repräsentationsbeziehungen unterbricht (Rancière) oder ver‐ vielfältigt (Laclau). Indem sie eine Reihe von unterbrechenden und vervielfältigen‐ den institutionellen Gestaltungsmaßnahmen beschreiben, veranschaulichen Rodatos und Trimçev, wie sich aus agonalen Verständnissen von Repräsentation konkrete Vorschläge für die Ausgestaltung repräsentativer Demokratie gewinnen lassen. Franziska Martinsen beleuchtet das Konzept des Demos durch die Brille eines agonalen Politikverständnisses. Die Verfassungen demokratischer Rechtsstaaten de‐ finierten die Grenzen des Demos, indem sie die Gruppe derjenigen bestimmen, die, ausgestattet mit dem aktiven und passiven Wahlrecht, an der Gestaltung von Politik mitwirken können. Im Lichte eines agonalen Politikverständnisses stelle sich eine solche Grenzziehung als eine kontinuierlich zu bearbeitende politische Herausforde‐ rung dar. Martinsen greift William Connollys und Bonnie Honigs Idee des „Paradox des Politischen“ auf und argumentiert, dass der Demos nicht in einem singulären Anfangsmoment gegründet wird, um dann unverändert fortzubestehen, sondern dass stattdessen die Frage nach der (Neu-) Gründung des Demos das demokratische All‐ tagsgeschäft begleiten muss. Um die Figur des Demos im agonalen Sinne demokra‐ tisch auszudeuten, müsse es in der politischen Praxis darum gehen, die Betroffenen von Gesetzen stets an der kritischen Befragung der Demosgrenzen und an einer permanent initiierbaren Neuverhandlung der Zugangskriterien teilhaben zu lassen. Es sei dann nicht notwendig, aus dem exkludierenden Charakter von Zugangskriteri‐ en zu schlussfolgern, das der Demos-Begriff obsolet geworden und stattdessen die prinzipielle Verneinung von Grenzziehungen vorzugswürdig ist. Vielmehr ließe sich, mit Étienne Balibar, eine „Demokratisierung der Grenzen“ anstreben, die nicht nur auf eine Politisierung der Frage zielt, wer Teil des Demos ist oder sein soll, sondern auch die Modalitäten der Verhandlung von Demosgrenzen selbst der fortlaufenden demokratischen Neuverhandlung anheimstellt. Oliver W. Lembcke nimmt die Institution des Rechts in den Blick und macht Hans Lindahls Konzept der A-Legalität zum Ausgangspunkt für eine Bestimmung
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des Verhältnisses von agonaler Politik und Recht. Neben den dichotom getrennten Bereichen des Legalen und Illegalen gibt es hiernach den dritten Bereich der A-Le‐ galität, aus dem heraus Kritik an der Art und Weise artikuliert wird, wie die Grenzen zwischen dem Legalen und dem Illegalen gezogen sind. Um zu konkretisieren, wie sich diese Idee demokratietheoretisch fruchtbar machen lässt, betrachtet Lembcke die Theorien von Honig, Tully und Mouffe. Das von Honig fokussierte Paradox des Politischen fundiere ein Argument für die stete Wiedergründung von Recht. Das An‐ liegen der emergency politics sei es, den Ursprung des Rechts im Politischen sicht‐ bar und, über die „Veralltäglichung“ außergewöhnlicher Handlungen hinsichtlich der Rechtsauslegung wie auch hinsichtlich der Rechtsgestaltung, praktisch wirksam zu machen. Tully hingegen gehe es nicht um den Moment der Wiedergründung, sondern um den Prozess einer kollektiven Aneignung von Recht, den er als eine auf Dauer gestellte, dialogische und an der Integration von Diversität orientierte Aushandlung beschreibt. Mouffe liefere insofern einen wichtigen Beitrag für die Bestimmung des Verhältnisses von agonaler Politik und Recht, als sie zeigt, dass der politische Kampf um das Recht jene Integration, die die Demokratie braucht, selbst erzeugen kann – und es hierfür keinen einhegenden, entpolitisierten Konsens über grundlegende Regeln braucht. Danny Michelsen untersucht, wie sich die Verfassung eines Staates agonal mo‐ dellieren ließe, und schöpft hierfür ebenfalls Ressourcen der Theorien von Tully, Mouffe und Honig ab. Tully gehe es darum, Verfassungspolitik in die alltägliche politische Praxis einzubetten, um so den Streit über Verfassungen zu erleichtern. Ein diesem Ziel dienliches verfassungsrechtliches Instrument sei etwa die notwith‐ standing clause der kanadischen Grundrechtecharta, nach der Richter*innen zwar die Kompatibilität von Gesetzen mit der Verfassung prüfen können, die finale Ent‐ scheidungskompetenz aber der Legislative und damit dem politischen Streit obliegt. Derart konkrete Vorschläge ließen sich bei Mouffe nicht finden. Aber Michelsen argumentiert, dass sich aus Mouffes Konzept des konflikthaften Konsenses eine grundlegende Kritik an rechtlichen Normenkontrollverfahren ableiten lässt. Wün‐ schenswert erscheinen aus dieser Sicht Instrumente, die das politische Wesen von Verfassungsgerichtsbarkeit hervorkehren, wie zum Beispiel richterliche Sondervo‐ ten oder eine stärkere Kopplung von Verfassungsgerichten an die Politik. Honigs Theorie bleibe in puncto institutionelle Konkretheit zwar auch hinter Tully zurück, eröffne aber einen eigenständigen agonalen Blick auf Verfassungsrecht, indem sie dessen „Fremdheit“ – seinen Charakter als etwas Beschränkendes und von anderen Gesetztes – als politisch produktiv ausweist: Die Entfremdungserfahrung lenke den Blick auf Legitimitätslücken der bestehenden Ordnung und sei somit stets poten‐ zielle Quelle von Protest und Widerspruch. Entscheidend sei, dass Verfassungen
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auf Weisen gestaltet werden, die ihre Offenheit für politische Forderungen nach Neu-Gründungen markieren. Luzia Sievi fragt, was aus agonaler Sicht produktive von problematischen Formen der Institutionenkritik unterscheidet. Sie unterbreitet einen Vorschlag, wie sich eine solche Unterscheidung treffen lässt, und wendet diesen für eine Analyse der Diesel‐ fahrverbote-Debatte an, in welcher die Institution Wissenschaft in den Fokus politi‐ scher Kritik geraten ist. Die Wissenschaft sei grundsätzlich eine wichtige Säule der agonalen Demokratie, weil sie ein Kontingenzbewusstsein und eine Skepsis gegen‐ über vermeintlich letztgültigen Wahrheiten institutionalisiert hat und außerdem dem öffentlichen Diskurs stetig Ressourcen für eine Kritik am Status Quo bereitstellt. Sievi zeichnet nach, dass rechte Akteur*innen, die in der Dieselfahrverbote-Debatte besonders sichtbar als Institutionenkritiker*innen in Erscheinung getreten sind, eine Mischung aus agonistischen – die agonale Demokratie potenziell belebenden – und antagonistischen – die agonale Demokratie gefährdenden – Strategien anwenden. Auf agonistische Weise sei etwa der Umstand politisiert worden, dass die Festlegung von Grenzwerten für den Schadstoffausstoß von politischen Entscheidungsträger*in‐ nen als eine rationale und objektive Konsequenz aus wissenschaftlichen Fakten statt als eine politische Entscheidung dargestellt wurde. Auf antagonistische und kritik‐ würdige Weise hingegen habe die Rechte beispielsweise agiert, indem sie politische Entscheidungen als „diktatorisch“ gebrandmarkt, Verschleierungstaktiken genutzt, Falschinformationen gestreut, und Wissenschaftler*innen sowie wissenschaftliche Institutionen diffamiert hat. In solchen Fällen werde der Kontrahent als ein Antago‐ nist und nicht agonal, als ein Gegner, angegangen. Insgesamt sei die von rechts artikulierte Institutionenkritik in der Dieselfahrverbote-Debatte deshalb als ein ago‐ nistisch-antagonistisches Hybrid zu bewerten. Gabriele Wilde argumentiert für ein erweitertes Institutionenverständnis und geht in ihrer Analyse des Autoritären von Mouffes Annahme aus, dass das Politische in gesellschaftlichen Machtverhältnissen angelegt ist, die anhand diskursiver Praxen zum Ausdruck kommen und sich in Institutionen als Wissensordnungen manifestie‐ ren und hegemonial werden. Ausgehend davon argumentiert sie, dass gegenwärtige Gefährdungen der Demokratie vor allem dann adäquat analysiert werden können, wenn ernstgenommen wird, dass die Konfliktualität des Politischen in den vielfäl‐ tigen Machtbeziehungen der Gesellschaft und keineswegs nur oder primär in staat‐ lichen Institutionen und demokratischen Prozessen zum Ausdruck kommt. Drehund Angelpunkt des autoritären Populismus sei die diskursive Konstruktion einer geschlossenen Gesellschaft, die Geschlechtergerechtigkeit und plurale Geschlechter‐ identitäten ablehnt. So führe der autoritäre Populismus vor allem in vier Bereichen der Gesellschaft zu institutionellen Manifestationen unterschiedlicher Formen der Macht: organisierte Zivilgesellschaft, politische Öffentlichkeit, familiale Privatheit, und hegemoniale Diskurse. Wilde zeichnet nach, wie identitäre Protestbewegungen,
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die Verdrängung von Frauen* aus dem öffentlichen Raum, die Re-Traditionalisie‐ rung dichotomer Geschlechterbilder und normalisierende sprachliche Wissenskon‐ struktionen als Facetten eines Handlungsprogramms verstanden werden können, das darauf zielt, der Gesellschaft autoritäres Denken und Handeln einzuschreiben. Hinsichtlich einer agonal-demokratischen Antwort auf die Herausforderung des Au‐ toritären rekurriert Wilde auf das Konzept der Performativität von Judith Butler und zeigt, wie sich dieses agonale Verständnis der Volkssouveränität mit dem Erschei‐ nen einer Vielzahl von Körpern in der Öffentlichkeit als eine Institution realisiert, anhand derer bestehende Ungleichheiten und prekäre Lebenssituationen thematisiert und Ansprüche auf Schutz und bessere Lebensbedingungen formuliert werden. In diesem erweiterten Institutionenverständnis stehe Prekarität für eine Erfahrung ge‐ sellschaftlicher Realität, die nicht zuletzt in parlamentarischen Institutionen verhan‐ delt wird.
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Institutionen bei Chantal Mouffe: Diagnosen und Weiterentwicklungen
Dirk Jörke und Christoph Held Verstrickt in der Liberalismusfalle. Für eine machiavellistische Erweiterung der Mouffeʼschen Demokratietheorie
Chantal Mouffe ist im deutschsprachigen Raum zu einer der einflussreichsten po‐ litischen Theoretiker*innen geworden und bestimmt den Diskurs der „radikalen“ Demokratie maßgeblich. Einerseits hat sie sich als Kritikerin normativer Demokra‐ tietheorien liberaler Denker wie John Rawls und Jürgen Habermas einen Namen gemacht, andererseits beschäftigt sie sich aber auch kritisch mit anderen „radikalen“ Demokratietheoretiker*innen, deren konzeptionelle Unzulänglichkeiten sie immer wieder aufgezeigt hat. Die ersten würden die Konflikthaftigkeit des Politischen zugunsten eines konsensfokussierten Politikmodells vernachlässigen, den zweiten wirft sie ein mangelndes Interesse, wenn nicht gar eine gefährliche Abneigung gegen etablierte liberal-demokratische Institutionen vor. Auf diese Vernachlässigung institutioneller Politik wurde bereits wiederholt hingewiesen.1 Diese Vorwürfe tref‐ fen jedoch nicht nur auf Antonio Negri, Michael Hardt, Paolo Virno und Jacques Rancière zu, wie Mouffe meint, sondern teilweise auch auf sie selbst.2 Ein Blick auf ihre jüngeren Veröffentlichungen (ab Mitte der 2000er) lassen zwar eine Hin‐ wendung zu Institutionen als Möglichkeitsraum emanzipativer Politik erkennen, mehr als ein allgemeines Bekenntnis zu den Kerninstitutionen der liberalen Demo‐ kratie, insbesondere dem allgemeinen Wahlrecht, dem Parlamentarismus und den Parteien, wurde daraus aber nicht. Um den von ihr beklagten postdemokratischen Tendenzen begegnen zu können, müsse es lediglich zu einer Repolitisierung der politischen Auseinandersetzung innerhalb dieses liberaldemokratischen Rahmens kommen. Diese Position ist, wie wir in diesem Artikel argumentieren werden, in doppelter Hinsicht nicht überzeugend. Zum einen verschenkt Mouffes Bekenntnis zur liberalen Demokratie die Perspektive einer alternativen und wie wir denken, de‐ 1 Wallaschek 2017; McCormick 2019; Süß 2019; auch von Mouffe selbst 2007; 2014; 2018. 2 So trifft die Kritik McCormicks gegenüber den „radikalen“ Demokratietheorien, eine Herr‐ schaftskritik von den Rändern zu praktizieren, aber nichts von der Beteiligung des Volkes an der Herrschaft wissen wollen (McCormick 2019), nur bedingt auf Mouffe zu, welche perma‐ nent herrschaftsfreie, direktdemokratische, spontanistische und „nichtrepräsentative“ Demokra‐ tiekonzepte kritisiert (Mouffe 2007; 2014; 2018). Für sie sind die repräsentativen Institutionen notwendig, um dem Pluralismus moderner Gesellschaften gerecht werden zu können. Dabei unterscheidet sie sich rhetorisch und konzeptionell stark von herrschaftskritischeren Theorien, für die die Ausübung von Herrschaft per se etwas Problematisches ist.
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mokratischeren Institutionalisierung politischer Beteiligungsprozesse. Zum anderen gerät sie in die Falle des „Politizismus“3, insofern sie nämlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des sich zu Ende neigenden Erfolges der liberalen Demokratie nicht mitreflektiert. Die Pointe unserer Argumentation wird sein, dass zwischen diesen beiden Schwachpunkten ein Zusammenhang besteht und sich Mouffe trotz einiger Umwege über Gramsci und Schmitt zu sehr auf liberale Autoren stützt. Sie kauft dabei einen institutionellen Universalismus mit ein, der in der Konsequenz zu einer Verstetigung gesellschaftlicher Machtungleichgewichte führt.4 Insbesondere ihre Übernahme von Claude Leforts Forderung, dass der Ort der Macht „leer“ bleiben müsse, hat sie letztlich zu affirmativ gegenüber der liberalen Demokratie‐ theorie werden lassen. Um zu zeigen, dass sie ihren eigenen Ansprüchen dabei nicht genügt, werden wir zunächst ihre Kritik an anderen „radikaldemokratischen“ Theorien rekonstruieren, welche ihr zufolge ein institutionelles Defizit aufweisen (1). Anschließend geht es um ihr eigenes Verständnis von Institutionen, welches jedoch kaum über generelle Aussagen über die Vorzugswürdigkeit repräsentativer Institutionen hinaus geht und damit dem Denkhorizont der liberalen Elitendemokra‐ tie verhaftet bleibt (2). Solch ein Mangel ist deswegen verwunderlich, weil Mouffe eine Theoretikerin eines linken Populismus ist und von sich selbst behauptet von Machiavelli beeinflusst zu sein. Dieser hat sich bekanntlich für ganz konkrete demo‐ kratische, aber dezidiert nicht-liberale, Institutionen ausgesprochen, „die vor allem die gewöhnlichen Bürger ermächtigten, das Verhalten der Eliten zu beschränken.“5 Derartige Überlegungen hätten für Mouffes Theorie den Anstoß geben können, über das liberal-prozedurale Demokratieverständnis hinaus zu kommen, von dem sie selbst meint, dass es Ungleichheit produziert und unter den heutigen postde‐ mokratischen Bedingungen einer neoliberalen Elite in die Hände spielt. Weil sie aber in die Lefortʼsche Liberalismusfalle geraten ist, ist sie nicht im Stande, das liberale Institutionenarrangement selbst als Problem zu erkennen, sondern lediglich dessen mangelnde agonale Vitalität. Allerdings erscheint dieser Vitalitätsschwund nur bei einer oberflächlichen Betrachtung einzig eine Folge der Hinwendung linker und sozialdemokratischer Parteien zu einer Art „Neoliberalismus light“ zu sein. Vielmehr tritt angesichts des Bedeutungsverlustes des Nationalstaates einerseits und der immer offensichtlicher werdenden Grenzen des Wachstums andererseits eine Problematik hervor, die von der liberalen Demokratietheorie bislang erfolgreich ver‐ drängt worden ist: dass die sogenannten demokratischen Revolutionen auf halbem Wege stehen geblieben sind und zu politischen Ordnungen geführt haben, mit denen die Wenigen die Vielen in Schach halten (3). Doch trotz der Selbstverortung von 3 Fraser 2019, S. 77. 4 Für eine Position, die mehr die antiliberalen Züge von Mouffe (und Laclau) betont, vgl. Priester 2014. 5 McCormick 2019, S. 27; vgl. auch McCormick 2018.
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Mouffe in der Tradition von Machiavelli folgt sie ihm nicht bei seinen Überlegungen zur Institutionalisierung des damals wie heute grundlegenden Konfliktes zwischen den Wenigen und den Vielen. Stattdessen verbleiben ihre Überlegungen im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses, das jedoch immer weniger zu überzeugen vermag. Wie ein von Machiavelli inspiriertes Institutionendesign am Anfang des 21. Jahrhunderts aussehen könnte und wieso wir denken, dass es sowohl gegenüber libe‐ ralen als auch gegenüber den sogenannten „radikaldemokratischen“ Modellen vor‐ gezogen werden sollte, wollen wir im abschließenden Abschnitt zumindest noch an‐ deuten (4).
1. Aufräumen im eigenen Haus – „radikale“ Demokratietheorien und die Institutionenfrage Mouffes kritische Auseinandersetzung mit Theoretiker*innen aus dem eigenen La‐ ger ist für die Institutionenfrage von besonderem Interesse, um zu zeigen, wovon sie sich abzusetzen versucht und worin sie die aktuellen Probleme der Linken sieht. Dabei hat sie sich explizit mit der Arendtʼschen Theorie von Bonny Honig und der Nietzscheanischen von William Connolly sowie mit Postoperaisten, wie Paolo Virno, Michael Hardt und Antonio Negri, auseinandergesetzt.6
1.1. „Agonismus ohne Antagonismus“ bei Bonny Honig und William Connolly Die Unterschiede zwischen Mouffe und den Demokratietheorien von Honig und Connolly scheinen auf den ersten Blick sehr gering zu sein. Alle drei sehen es als wesentliche Aufgabe der Kritik, die Kontingenz der gesellschaftlichen Machtver‐ hältnisse aufzuzeigen, und möchten jeglichen Essenzialismus oder Schließung der öffentlichen Debatte verhindern. Universale Aussagen, unbedingte Entscheidungen und unveränderbare Positionen kann und darf es damit nicht geben. Zudem teilt Mouffe ausdrücklich die Forderung nach einem neuen „demokratischen Ethos des Engagements“ und einem „agonistischen Respekt“7, auf dessen Grundlage die Kon‐ flikte nicht antagonistisch, sondern agonistisch, d.h. friedlich, mit den politischen Kontrahenten ausgetragen werden können.8 Honig und Connolly fehle jedoch ein adäquates Verständnis von „Antagonismus und Hegemonie“9, die das politische
6 Für einen Überblick unterschiedlicher Ansätze „radikaler“ Demokratie vgl. Comtesse et. al. 2019. 7 Mouffe 2014, S. 37. 8 Vgl. Mouffe 2007, S. 43. 9 Mouffe 2014, S. 37f.
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Feld maßgeblich strukturieren. Beide würden den „agonistischen Wettstreit“10 nicht hegemonietheoretisch-„realistisch“ konzeptualisieren, einschließlich der politisch gezogenen Grenzen und Ausschlüsse. Deswegen spricht Mouffe hier von „Agonis‐ mus ohne Antagonismus“.11 So sei man gegenüber hegemonialen gesellschaftlichen Machtverhältnissen blind, wenn man glaube, dass die Überredung – für Arendt, auf die sich Honig stützt, der „eigentliche“ Modus politischer Auseinandersetzung –, neutral sei und nicht auf Exklusion und Machtstrukturen basiere. Folge man dem Pluralismusverständnis von Arendt, und nicht dem konflikttheoretischen von Mouf‐ fe, rückt man den „Aspekt der Freiheit, im Sinne des Handelns im Kontext von Sprachakten und der Präsentation des Selbst, zu sehr in den Vordergrund […] und [nimmt] dabei das Problem der Gerechtigkeit – die Frage, was zu tun ist – nicht ernst genug.“12 Kurzum, der Wille politisch zu gestalten und Gegenhegemonien zu ihrer politischen Durchsetzung zu verhelfen, falle hinter diesen anderen Fragen zu‐ rück. Solch ein theoretischer Zugang, der sich nur gegen die Beendigung der Debat‐ te zur Wehr setzt, übersehe, dass es nicht ausreicht, „sich ausschließlich auf die De‐ konstruktion der „Werheit“ und die Proliferation von Identitäten [zu] konzentrie‐ ren.“13 Möchte man eine Alternative zum vorherrschenden Neoliberalismus durch‐ setzen, müsse nach der Dekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung die „Rearti‐ kulation“ einer Gegenhegemonie erfolgen.14 Dafür muss der Mut aufgebracht wer‐ den, über die bloße Geste der „Politik des Störfeuers“15 – die Herausforderung des Bestehenden – hinaus, die Debatte vorrübergehend auszusetzen und politisch eine Entscheidung zu treffen „was wir tun sollen“,16 um anschließend neue politische Identitäten artikulieren und „neue Institutionen entwerfen“ zu können.17 Wie letztere aber aussehen könnten, erklärt Mouffe jenseits von Allgemeinplätzen, wie „Politisie‐ rung“ und „Demokratisierung“ im Rahmen der bereits vorhandenen repräsentativen Institutionen, nicht. Sie stellt nur fest, dass es ohne politische Entscheidungen, die notwendig Ausschlüsse mit sich bringen, nicht gehe und deswegen agonistische De‐ mokratiemodelle wie jene von Honig und Connolly nicht ausreichend seien.
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Ebd., S. 34. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 117. Ebd., S. 38. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34.
1.2. Postoperaistischer Exodus und das Ressentiment gegen Institutionen Während Mouffes Auseinandersetzung mit Honig und Connolly nur wie ein Ne‐ benschauplatz wirkt, der ihr dazu dient, das eigene Profil als Theoretikerin des Agonismus zu schärfen, stellen Postoperaisten wie Michael Hardt, Antoni Negri und Paolo Virno entscheidendere Kontrahenten in der Auseinandersetzung innerhalb der „radikaldemokratischen“ Theoriebildung dar. Vor allem, weil Mouffe zufolge deren Theorien vom Auszug aus den Institutionen (Exodus) in zu vielen aktuellen Debatten, besonders aber auch in sozialen Bewegungen18 präsent sind und damit die politische Schlagkraft der Linken verringern.19 Mouffe distanziert sich insbesondere von Hardts und Negris Ablehnung der re‐ präsentativen Demokratie sowie von deren Kritik an den Ideen der Souveränität und des Nationalstaats, welche alle im Zuge der zunehmenden Globalisierung immer mehr an Bedeutung verlieren und Platz für die Multitude machen würden.20 Diese Entwicklung besitzt ihr zufolge – und wir teilen diese Kritik – trotz radikalem Gestus große Ähnlichkeiten mit „postpolitischen“ Projekten wie jenen des sozialde‐ mokratischen dritten Weges oder kosmopolitischen Global Governance-Theorien.21 Das ließe sich etwa in ihrer souveränitätskritischen Haltung zeigen, die laut Mouffe symptomatisch für die Postdemokratie sei. Die Postdemokratie sei durch das zuneh‐ mende Schwinden der zweiten Säule der modernen Demokratie – der Souveränität und der Gleichheit – zu Gunsten der liberalen Freiheit bestimmt.22 Deswegen decke sich ein weit verbreitetes anti-institutionelles und antietatistisches Ressentiment mit dem postoperaistischen Verlangen nach der Verwirklichung der „absoluten Demo‐ kratie“23 durch die Multitude. Solch eine Demokratie würde aber den „Exodus“ der Vielen erfordern, d.h. ihren Auszug aus den etablierten liberal-demokratischen Institutionen, um einen Zustand zu erreichen, in dem „es keine Machtbeziehungen – keine Konflikte, keine Antagonismen – mehr gibt.“24 Dieses postoperaistische Politikverständnis werde von einer „Ontologie der Immanenz“ – im Gegensatz zu ihrer eigenen Ontologie des Antagonismus – getragen, die nicht in der Lage sei, „ra‐ dikale Negativität, sprich: Antagonismen abzubilden.“25 Von dieser ontologischen Weichenstellung aus erklärt sich für Mouffe, warum Hardt und Negri keinen konkre‐ 18 Sie denkt dabei etwa an Occupy Wall Street, alternative Globalisierungsbewegungen, die Pi‐ queteros in Argentinien oder die Indignados in Spanien. Also alle politischen Bewegungen, die mit Staat, Parlamenten und Parteien nichts zu tun haben wollen; vgl. Mouffe 2014, S. 120-122; Mouffe/Miessen 2012, S. 94. 19 Oppelt 2014, S. 276. 20 Negri/Hardt, 2003. 21 Mouffe 2007, S. 142-144. 22 Mouffe 2008, S. 20. 23 Mouffe 2014, S. 111. 24 Mouffe/Miessen 2012, S. 93. 25 Mouffe 2014, S. 123.
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ten Ort der politischen Entscheidung benennen wollen und ein durchweg negatives Staatsverständnis an den Tag legen.26 Für die beiden ist der Staat nichts als ein „monolithischer Herrschaftsapparat […], den man nicht grundlegend verändern kann.“27 Deswegen die Notwendigkeit des Exodus. Dem widerspricht Mouffe jedoch vehement. Erstens könne von einem Bedeutungsverlust der Nationalstaaten entgegen Hardts und Negris Diagnose keine Rede sein. Zweitens würden die Postoperaisten „die Bedeutung der Leidenschaften […], die bei der Schaffung von lokalen, regionalen oder nationalen Identitätsformen mobilisiert werden“28 und wichtige Größen in der Politik sind, ignorieren.29 Werden diese Identitäten aufgrund eines illusorischen Kosmopolitismus missachtet, verzich‐ ten politische Akteure auf ein für linke Politik entscheidendes strategisches Mittel zur Mobilisierung.30 Hält man jedoch wie Hardt und Negri lokale und nationale Identitäten sowie den Staat lediglich für repressiv und dem „progressiven“ Prozess der „Deterritorialisierung“ und der Entfesselung einer fluiden Multitude entgegenge‐ setzt, ist das für Mouffe kein erfolgsversprechendes Konzept für die Linke, welche sich damit in politische Bedeutungslosigkeit manövrieren würde.31 Lediglich auf die messianische Kraft der unbestimmbaren Multitude zu hoffen, die einen von diesen „regressiven“ Identitäten und der Herrschaftsausübung durch das „Empire“ befreien soll, sei naiv.32 Diese unberechtigte Hoffnung sei auch der Grund für die Ablehnung demokratischer Repräsentation, die für die beiden unweigerlich mit ebenso abzuleh‐ nenden Begriffen wie Volk, Staat und Identität zusammenhängt. Laut Mouffe kommt man in einer pluralistischen Gesellschaft aber nicht um repräsentative Verfahren herum. Hardts und Negris Verständnis vom homogenen „Volk“ – dem Gegenbegriff der nicht-repräsentierbaren Multitude –, als Voraussetzung für den liberal-demokra‐ tischen Staat, sei falsch. Für Mouffe ist das „Volk“ eine politisch bedingte „Form der Einigkeit […], die Vielfalt respektiert und Differenzen nicht beseitigt.“33 Wegen die‐ ser Vielfalt brauche es auch die liberale Demokratie, „soziale Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften“ und politische Entitäten lokaler, nationaler und globaler Art. Ein „Exodus“ wie er Paolo Virno vorschwebt, oder eine „Desertion“, wie bei Hardt und Negri, als Lossagung vom Staat und seinen Institutionen, seien illuso‐ rische Vorstellungen einer sich selbstorganisierenden Macht, die angeblich keine
26 Wir werden weiter unten aber noch zeigen, dass Mouffe, in ihrem Versuch den Ort der Macht leer zu halten, selbst eine liberale Scheu beweist. 27 Mouffe 2014, S. 123. 28 Mouffe/Miessen 2012, S. 92f. 29 Praktisch sieht Mouffe in der Wiedereinführung der Leidenschaften die Lösung für die postde‐ mokratischen Verfallserscheinungen. 30 Vgl. Mouffe 2007. 31 Mouffe 2007, S. 149; übrigens eine Diagnose, die sich bereits bei Rorty 1999 findet. 32 Mouffe 2014, S. 113. 33 Mouffe 2014, S. 119.
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Artikulation eines politischen Willens oder Formen der Repräsentation benötigt.34 Demgegenüber hält Mouffe auch in ihrem jüngsten Buch fest: „Die [linkspopulisti‐ sche] Lösung besteht nicht in der Abschaffung des repräsentativen Systems, sondern darin, unsere Institutionen repräsentativer zu machen.“35 Mehr als diesen Voluntaris‐ mus, einfach wieder politischer zu sein, hat sie auf die Institutionenfrage jedoch auch nicht anzubieten. Die Gründe dafür werden wir in den nächsten Kapiteln be‐ sprechen.
2. Ein leeres Bekenntnis zur liberalen Demokratie Was setzt Mouffe dem postoperaistischen Ansatz von Negri und Hardt bzw. dem agonistischen Modell von Honig oder auch Connolly entgegen? Wie gezeigt, wirft sie ihnen insbesondere zwei Punkte vor. Erstens seien diese Ansätze nicht in der Lage, die „Grenzen des Pluralismus“36 aufzuzeigen. Zweitens würden sie nicht über „eine Politik des Störfeuers“37 hinausgehen, sie seien also rein negativ ausgerichtet. Demgegenüber plädiert Mouffe für eine institutionalistische Wende der „radikalen“ Demokratietheorie und fragt: „welche Institutionen und Formen der Machtausübung gilt es zu schaffen, um einen Prozess der Radikalisierung der Demokratie zu er‐ möglichen?“38 Das Anforderungsprofil an eine derartige Institutionentheorie ergibt sich spiegelbildlich aus Mouffes Defizitanalyse der zuvor besprochenen alternativen „radikalen“ Demokratietheorien sowie ihren Überlegungen zu einem agonistischen Politikmodell. Die Institutionen müssten also erstens nicht nur eine Politik des Protestes, sondern auch eine positive Politikgestaltung ermöglichen und sie müssten zweitens dafür Sorge tragen, dass politische Konflikte nicht eskalieren, sondern im Horizont eines demokratischen Miteinanders verbleiben. An dieser Stelle fühlt man sich an Ernst Fraenkels Unterscheidung zwischen dem kontroversen und dem nichtkontroversen Sektor erinnert, nach welcher ein Konsens über die grundlegenden Verfahren und Werte der Demokratie existieren muss, vor dessen Hintergrund allein ein demokratischer Streit möglich ist.39 Allerdings steht die Demokratietheorie von Fraenkel nicht in dem Ruf, sonderlich „radikal“ zu sein. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Mouffe über dieses liberale Demokratieverständnis hinausgeht. Hinzu kommt ein weiteres Problem, und zwar beklagt Mouffe – aus unserer Sicht durchaus zu Recht – einen Verfall der politischen Kultur westlicher Demokratien in Folge von Neoliberalismus und Entpolitisierung, d.h. das Ausbleiben maßgeblicher 34 35 36 37 38 39
Ebd., S. 114. Mouffe 2018, S. 70. Mouffe 2008, S. 37. Ebd., S. 38. Ebd. Fraenkel 1991.
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politischer Konflikte, welche sich um „echte Alternativen“ drehen, die in „der heu‐ tigen Glorifizierung der leidenschaftsfreien und unparteiischen Demokratie“ fehlen würden.40 Nun hat sich seit dieser Diagnose vor ca. zehn Jahren die politische Kultur westlicher Demokratien infolge des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien deutlich verändert. Von einer „leidenschaftsfreien und unparteiischen Demokratie“ kann nicht länger die Rede sein, auch wenn viele Demokratietheoretiker*innen sich nach dieser Zeit zurücksehnen. Zum Problem wird diese veränderte realpolitische Gefechtslage, auf deren Ursachen wir weiter unten kurz eingehen werden, für Mouffe aber nun insofern, als ein Konsens über die Grundlagen eines „agonalen Wettstreits“ nicht mehr vorausgesetzt werden kann. An dieser Stelle wirkt ihr Plä‐ doyer für einen „linken Populismus“, der freilich die Bahnen der liberalen Demokra‐ tie nicht überschreiten darf, ebenso hilflos, wie jene liberalen Theoretiker*innen, die angesichts der rechtspopulistischen Revolte „unsere Werte“, „Pluralismus“ oder „Weltoffenheit“ beschwören,41 jedoch dabei genauso nostalgisch auf ein vermeint‐ lich goldenes Zeitalter der liberalen Demokratie zurückblicken, wie es bei Crouchs „Postdemokratie“-Diagnose der Fall ist, wobei sein stärker sozialdemokratisches goldenes Zeitalter etwas länger zurückliegt.42 Ein erstes Indiz für diese Schwäche, die Mouffe mit liberalen Ansätzen teilt, lässt sich darin erkennen, dass sie sich gleichfalls in Allgemeinfloskeln verliert, wie bei dem Aufruf zur Belebung der politischen Öffentlichkeit, zur Repolitisierung43, zur Etablierung einer Gegenhegemonie44, zur Demokratisierung von Institutionen und zu einer „profunden Transformation von Machtverhältnissen“45. Das wird stets auf sehr abstrakter Ebene verhandelt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen frühen oder einen späteren Text von Mouffe handelt. Lediglich eine Verschiebung lässt sich beobachten. Hat sie in früheren Schriften – vor allem in Hegemonie und radikale Demokratie – stärker auf die Neuen Sozialen Bewegungen rekurriert,46 so kommt es in jüngster Zeit (s. o.) zu einer deutlichen Kritik an einem präsentistischen Demokratieverständnis und zur Aufwertung traditioneller Institutionen der liberalen Demokratie, wobei Mouffe insbesondere Parteien und Parlamente im Sinn hat, die repolitisiert bzw. radikalisiert werden müssten: „[I]ch meine, dass es in einer pluralistischen Demokratie, die anerkennt, dass das Volk geteilt ist, wichtig ist, Par‐ teien zu haben, die unterschiedliche Positionen vertreten und die ein repräsentatives
40 41 42 43 44 45 46
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Mouffe 2007, S. 40f. Für viele Levitsky/Ziblatt 2018; Mounk 2018; Schäfer/Zürn 2021. Vgl. Crouch 2008. Vgl. Mouffe 2007. Vgl. Mouffe 2018. Mouffe 2008, S. 118. Laclau/Mouffe 1991.
System brauchen.“47 Das Bekenntnis zur „Radikalität“48 stellt jedoch größtenteils ein Lippenbekenntnis dar, wie auch Wallaschek festhält: „Der formale Rahmen liberaler und repräsentativer Demokratie soll demnach anerkannt werden, und die substanzielle Ausgestaltung obliegt den jeweiligen politischen Akteuren und deren hegemonialen Strategien. Trotz des missverständlichen Rufes nach einer radikalen Demokratie fordert Mouffe demnach keine Neubegründung politischer Ordnung, da sie eher in einer schrittweisen Veränderung von Diskursen die Möglichkeit für Verbesserungen sieht.“49 Mouffe unterstreicht zwar die Notwendigkeit einer möglichst breiten Teilhabe, jedoch lediglich im Rahmen der liberalen Repräsentationsdemokratie und ohne kon‐ krete Vorschläge zu unterbreiten, wie diese inklusiver gestaltet werden könnten.50 Der entscheidende Grund liegt darin, dass sie wie viele „radikaldemokratische“ Demokratietheoretiker*innen das „Volk“ als „leeren Signifikanten“ ansieht und es nicht inhaltlich bestimmen möchte.51 Dieser könne dann in der politischen Ausein‐ andersetzung der liberalen Öffentlichkeit potenziell von jeder Gruppe beansprucht werden, wenn auch dieser Anspruch fragil sei und permanent umstritten bleibe, wer erfolgreich das „Volk“ zu sein beanspruchen kann. Dem entspricht die weiter unten näher besprochene Rede von dem „leeren Ort der Macht“, die sich einem liberalen Universalismus verpflichtet fühlt und sich einer „substanzielle[n] Ausgestaltung“52 zugunsten eines freien Spiels der politischen Kräfte verwehrt. Für eine Analyse rhetorischer Positionierungen unterschiedlichster politischer Akteure in der Öffent‐ lichkeit mag das ein hilfreiches Konzept sein. Aus einer stärker soziologischen Perspektive jedoch ist es adäquater – gerade für ein linkspopulistisches Projekt, für das Mouffe plädiert –, die Teilung zwischen den Wenigen und den Vielen und deren institutionelle Reflexion, wie sie Machiavelli vollzogen hat (nämlich, dass die Eliten ihre Macht missbrauchen werden, wenn das einfache Volk keine wirksamen Institutionen besitzt, um dies zu verhindern) ernst zu nehmen. Doch dazu kommt es bei Mouffe nicht.53
47 Mouffe/Miessen 2012, S. 107f. Für eine Kritik an dem Stellenwert von Parteien in Mouffes Theorie, siehe den Beitrag von Wallaschek in diesem Band. 48 Mouffe 2018, S. 51-70. 49 Wallaschek 2017, S. 6. 50 Tatsächlich sieht Cross (2017, S. 186) darin Mouffe Thomas Hobbes näher als Machiavelli. 51 Die Gründe dafür werden an späterer Stelle noch genauer erläutert. Zum „leeren Signifikanten“ siehe auch Stäheli/Hammer 2016, S. 72f. 52 Wallaschek 2017, S. 6. 53 Dieser Mangel wird besonders deutlich, betrachtet man die Diskrepanz zwischen der konflikt‐ theoretisch „realistischen“ agonalen Demokratie als überzeugenderes analytisches Alternativ‐ modell zum aggregativen und deliberativen Demokratiemodell auf der einen Seite und dem von ihr ständig geforderten, aber vage gehaltenen und scheinradikalen ethisch-politischen Pro‐ jekt der „Radikalisierung der liberal-pluralistischen Demokratie“ (Oppelt 2014, S. 266) auf der anderen Seite. Dies sind eigentlich zwei verschiedene Theorieprojekte, die in Mouffes Oeuvre nebeneinander bestehen aber nicht überzeugend miteinander vermittelt werden.
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Zudem benennt sie in ihrer Zeitdiagnose zum Neoliberalismus zwar konkrete Phänomene, insbesondere die wachsende Ungleichheit und den Zerfall der politi‐ schen Kultur. Zugleich blendet sie aber aus, dass diese sozialen Verwerfungen aus dem institutionellen Arrangement der liberalen Demokratie selbst resultieren, welches Mouffe nicht antasten möchte. Stattdessen reicht es für sie, Affekte als wesentlichen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung anzuerkennen und eine linke Partei zu fordern, die es vermag, ein breites soziales Bündnis unterschiedlichs‐ ter politischer Akteure zu schmieden. Dies kommt im Wesentlichen der Forderung nach einem Wiedererstarken einer breit aufgestellten linken Volkspartei gleich (vgl. „Volk“ als leerer Signifikant), die ein gegenhegemoniales Bündnis als Alternative zum neoliberalen Konsens anzubieten vermag und den Konflikt und die Wahl zwi‐ schen unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen in die postpolitische Konsensdemo‐ kratie wieder einführen soll.54 Für sie gibt es daher auch keine „Krise der repräsentativen Demokratie „per se“, sondern nur eine „Krise ihrer derzeitigen, postdemokratischen Inkarnation.“55 „Das Hauptproblem an den bestehenden repräsentativen Institutionen liegt darin, dass sie keine agonistische Konfrontation zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Projekten ermöglichen, die doch die Voraussetzung für eine lebendige Demokratie darstellt.“56 Diese Argumentation ist jedoch wenig überzeugend, und ihr wohnt ein nostalgischer Zug inne, der Postdemokratie-Diagnose von Crouch nicht unähnlich. Ein erstes Indiz dafür, dass die glorreiche Zeit der liberalen Demokratie unwieder‐ bringlich verloren ist und Wahlen kaum noch in der Lage sind, die Responsivität politischer Eliten gegenüber ihrer Wählerschaft zu garantieren, liefert der Aufstieg und Fall von Syriza in Griechenland. Denn die linkspopulistische Syriza, trotz guter Absichten, den Willen ihrer Wähler*innen umzusetzen, und trotz einer deutlichen Repolitisierung und Emotionalisierung der Politik, scheiterte bekanntlich bei der Abkehr von der Austeritätspolitik.57 In der These, dass dieses Scheitern erfolgen musste, besteht die Wahrheit der Postdemokratiediagnose. Trügerisch ist jedoch die Hoffnung, den liberaldemokratischen Rahmen mittels eines linkspopulistischen Projektes restaurieren zu können. Vielmehr werden immer stärker die Grenzen der liberalen Demokratie offenbar. Und diese Grenzen sind der spezifischen Form der Institutionalisierung des Klassenantagonismus am Ausgang der „demokratischen“ Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts zuzuschreiben. Die vergleichsweise hohe Stabilität des liberaldemokratischen Kapitalismus war dabei zwei Voraussetzungen 54 Ein Trend, der laut Mouffe, womöglich ein bisschen zu optimistisch, bereits in Großbritannien mit Jeremy Corbin und seiner Labour Partei eingetreten sein soll (Mouffe 2018, S. 49f.). Nach den Wahlen vom 12. Dezember 2019 dürfte diesbezüglich jedenfalls eine gewisse Ernüchte‐ rung eingekehrt sein. 55 Mouffe 2018, S. 65. 56 Ebd., S. 70. 57 Vgl. Süß 2019.
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geschuldet, die in den vergangenen Jahren zunehmend erodierten: der Handlungsfä‐ higkeit des Nationalstaates sowie die Möglichkeit, über Wirtschaftswachstum die so‐ zialen Konflikte zu bändigen. Darauf wollen wir im folgenden Abschnitt eingehen.
3. Die Lefortʼsche Liberalismusfalle Fassen wir die bisherige Argumentation kurz zusammen. Erstens lässt sich bei Mouffe – entgegen einer weit verbreiteten Gleichsetzung von „radikaler“ Demokra‐ tie und Antiinstitutionalismus – ein Bekenntnis zu den Institutionen der liberalen Demokratie finden. Zweitens vertritt sie weiterhin den Anspruch, eine „radikale“ Demokratietheorie zu formulieren und wird auch zu dieser Theoriefamilie gezählt.58 Drittens haben wir gezeigt, dass Mouffes Institutionentheorie weniger „radikal“ als ziemlich konventionell ist. Sie lässt sich am ehesten als liberal-pluralistisch be‐ zeichnen. Denn obwohl behauptet wird, dass die „radikale“ Demokratietheorie „den derzeitigen demokratietheoretischen Mainstream herausfordert“,59 erschöpft sich die „Radikalität“ der Mouffeʼschen Theorie darin, in allgemeinen Begriffen eine Repo‐ litisierung der liberalen Demokratie, etwa durch einen „linken Populismus“ einzu‐ fordern.60 Diese Forderung mag bei einigen Demokratietheoretiker*innen61 zwar für Empörung sorgen, welche reflexhaft durch derartige Rufe nach Populismus ihr Idealbild von einer pluralistischen Gesellschaft in Gefahr sehen – doch bei genauerer Betrachtung verbleibt Mouffe im Rahmen eines liberaldemokratischen Dispositivs. Ursächlich hierfür ist die Übernahme einer Denkfigur, deren Wirksamkeit im demokratietheoretischen Diskurs der Gegenwart immens ist: die von Claude Lefort stammende Behauptung, dass in Folge der Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts der Ort der Macht zu einer Leerstelle geworden sei. Diese Denkfigur findet sich neben der Hinwendung zur Hegemonietheorie Antonio Gramscis und der Anleihe an damals modische postmoderne Sozialtheorien bereits in dem von Mouffe Mitte der 1980er Jahre zusammen mit Ernesto Laclau verfassten Werk Hegemonie und radika‐ le Demokratie62. Dieses Werk stand unter dem Einfluss der Krise des Marxismus63 einerseits und dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen andererseits. Bei‐ des führte bei Laclau und Mouffe zu einer Akzeptanz liberaldemokratischer Grund‐ prämissen, zu denen zentral die Behauptung gehört, dass der „Ort der Macht […] zu einer Leerstelle“64 wird. Mit dieser Metapher verbunden ist, und das wurde und wird 58 59 60 61 62 63 64
Marchart 2019. Comtesse et al. 2019, S. 11. Vgl. Mouffe 2018. Cohen 2019; Urbinati 2019. Laclau/Mouffe 1991. Althusser 1978. Lefort 1990, S. 293.
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von Theoretiker*innen der „radikalen“ Demokratietheorie endlos wiederholt, „die Möglichkeit eines unendlichen Prozesses der Infragestellung“65 sozialer Herrschafts‐ strukturen, eben weil es keine letzte Instanz (etwa Gott oder eine philosophische Letztbegründung) gäbe, die die bestehende soziale Ordnung fundieren könnte. Das mag auf einer abstrakten Ebene durchaus zutreffen. In liberalen Gesellschaften wird niemand mehr wegen Gotteslästerung oder der Kritik am Königshaus angeklagt, ge‐ schweige denn hingerichtet. Genauso können die grundlegenden Macht- und Eigen‐ tumsverhältnisse ganz offen und ganz „radikal“ infrage gestellt werden, wie es auch schon unzählige Male gemacht wurde. Zum anderen soll die Rede von dem „leeren Ort“ darauf verweisen, dass die Macht immer nur temporär (nach Wahlen) besetzt werden könne, dass es also in der Demokratie keine gesellschaftliche Kraft gäbe, die den leeren Signifikanten „Volk“ und damit den Ort der Macht in der Demokratie dauerhaft für sich beanspruchen kann. Allein die Frage bleibt, warum dann dennoch die Herrschafts- und Machtverhältnisse in liberalen Demokratien so stabil sind, nicht zuletzt mit Blick auf die Eigentumsverhältnisse. Unsere These ist, dass es die mit der liberalen Demokratie verbundenen Institutionen politischer Auseinandersetzung und deren rechtsstaatliche Einhegung sind, die eine radikale Veränderung – im Unterschied zu einer „Infragestellung“ – verhindern. Mouffe verklärt im Anschluss an Lefort die demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und vernachlässigt den machtpolitischen Hintergrund der damaligen Verfassungsdebatten, die den libe‐ ralen Demokratien ihre bis heute bestehende Grundform verliehen haben. Wie ist das zu verstehen? Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass mit den sogenannten demokratischen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur eine „entscheidende Veränderung im politischen Imaginären“66 erfolgte, sondern es auch zur Erfindung eines ganz spezifischen Ensembles politischer Institutionen gekommen ist. Hierzu zählte neben Rechtstaatlichkeit und der Erklärung der Menschenrechte – zu denen übrigens so‐ wohl in den USA als auch in Frankreich an vorderster Stelle das Eigentumsrecht gehörte –, das Prinzip der Gewaltenteilung, das Repräsentationsprinzip sowie das Wahlrecht, zunächst für die Besitzbürger, später auch das allgemeine Männerwahlund noch später dann auch das allgemeine Frauenwahlrecht. Die sukzessive Auswei‐ tung des Wahlrechts lässt sich im Licht des liberalen Universalismus als Ergebnis der „Infragestellung“ von nicht zu rechtfertigenden Ausschlüssen deuten. Gleich‐ wohl sollte der Frage nicht ausgewichen werden, wie „demokratisch“ die Revolutio‐ nen damals tatsächlich gewesen sind. Zumindest mit Blick auf das in der Folge etablierte institutionelle System politischer Teilhabe bzw. Nichtteilhabe ist daran zu erinnern, dass sich in erster Linie „gemäßigte“ Positionen durchzusetzen vermoch‐ ten, die den Einfluss des Volkes auf ein Minimum beschränken wollten. Namentlich 65 Laclau/Mouffe 1991, S. 253. 66 Ebd., S. 214.
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politische Denker wie James Madison in den Vereinigten Staaten von Amerika oder Abbé Sieyès in Frankreich verfolgten dabei eine dezidiert antidemokratische Agenda. Das von ihnen entworfene Repräsentationssystem, die Ausdehnung des Raums politischer Herrschaft sowie das berühmte System der checks and balances sollten dabei allzu „radikale Forderungen“, vor allem die nach einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse, ins Leere laufen lassen. Der entscheidende Schachzug bestand damals darin, sich der Rhetorik der „popular sovereignty“ (Madison) bzw. der „volonté nationale“ (Sieyès) zu bedienen, doch zugleich deren Einfluss auf die periodische Wahl von Repräsentanten zu beschränken, denen zudem in grundlegen‐ den, also gesellschaftstransformatorischen Fragen die Hände gebunden waren.67 In der Folge standen und stehen die gewählten Volksvertreter*innen, die vorüber‐ gehend den „leeren Ort der Macht“ besetzen und politische Entscheidungen treffen sollten, tatsächlich mit leeren Händen da. Solange Mouffe an diesem liberal-demo‐ kratischen Institutionenensemble festhält, wird ihr es nicht gelingen, unter Anrufung der Volkssouveränität und linkspopulistischer Repolitisierung der repräsentativen Demokratie dem heute vorherrschenden „Demokratiedefizit“68 und der Hegemonie des Neoliberalismus überzeugend entgegenzutreten. Dabei operiert das liberale Re‐ gime auf Basis eines ausgeklügelten Systems von checks and balances-Mechanis‐ men als auch mit Formen der Entpolitisierung und entzieht ganze Bereiche der Regierungsangelegenheiten der demokratisch gewählten, vermeintlich souveränen Entscheidungsmacht. Das wird gegenwärtig nirgends so deutlich, wie im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wie Joseph Vogl überzeugend gezeigt hat, ist der „Architektur“ der „modernen Markt- und Wirtschaftsgesellschaften“ eine weitgehende „Beschränkung volkssouveräner und demokratischer Spielräume“ eingebaut.69 Insbesondere wurde – noch vor den autoritären Entwicklungen in Folge der Eurokrisenpolitik – eine von den politischen Entscheidungen isolierte Finanzordnung als „vierte Gewalt“ etabliert, welche in ihrer „strategischen und technischen Ausrichtung am investie‐ renden Finanzpublikum“ orientiert ist.70 Durch den Schutz der Zentralbanken, ein‐ schließlich der Europäischen Zentralbank, sind finanz-, schulden- und geldpolitische Fragen, also entscheidende Bedingungen für eine linke Umverteilungspolitik, der Einflusssphäre repräsentativer Institutionen und der „Tyrannei der zufälligen Majo‐ rität“71 nachhaltig entzogen worden: „Gerade unter der Bedingung von Gewaltentei‐ lung und Repräsentationssystem haben sie [die unabhängigen Zentralbanken] sich als parademokratische, isolierte Regierungsenklaven etabliert, die als wesentliche
67 68 69 70 71
Vgl. Jörke 2011. Mouffe 2008, S. 21. Vogl 2015, S. 235. Vogl 2015, S. 162. Knut Wicksell zitiert nach Vogl 2015, S. 154; vgl. auch die Analyse von Biebricher 2021.
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Organe zur Sicherung und Erhaltung kapitalistischer Finanzstrukturen operieren.“72 Mouffes Modell einer linkspopulistischen Repolitisierung innerhalb dieser liberalen Ordnung greift mithin so lange zu kurz, wie diese antidemokratische Gewaltentei‐ lung bestehen bleibt. Dem Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Grundzügen etablierten elitistischen Politikmodell standen jedoch dezidiert radikaldemokratische Forderungen etwa von den Antifederalists oder den Sansculotten entgegen, die sich damit nicht begnügen wollten, sondern ein ganzes Arsenal an Institutionen einforderten, die eine „Tyrannei der Minderheit“ bzw. eine Etablierung der Vorherrschaft der „natural aristocracy“ verhindern sollten: Dazu zählten neben häufigen Wahlen etwa imperative Mandate, die Abberufbarkeit der Repräsentanten, die Ablehnung der Gewaltenteilung bzw. das deutliche Primat der Legislative sowie die Forderung nach einer Beibehaltung des Jurysystems auch mit Blick auf Fehlverhalten von politischen Repräsentanten bei den Antifederalists und eine Aufwertung lokaler Primärversammlungen (eine Art Rätesystem) bei den Sansculotten.73 All diese Institutionalisierungsvorschläge − und das ist entscheidend − zielten auf eine Begrenzung der Tyrannei der Minderheit.74 Zwar mag man darüber streiten, ob diese Institutionen einem großen Flächenstaat angemessen sind, ob also Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich eine demokratische‐ re Alternative zum liberalen Politikmodell existiert hat. Gleichwohl erscheint es angemessener, mit Blick auf die Institutionalisierung des neuen „politischen Imagi‐ nären“ gerade nicht von einem „radikalen“ Gehalt auszugehen. Nun hebt Mouffe ausdrücklich hervor, dass das Ergebnis der „demokratischen Revolution“ in der gemeinsamen „Artikulation zweier unterschiedlicher Traditionen“, nämlich der libe‐ ralen Tradition der Freiheitsrechte und der demokratischen Tradition der Volkssou‐ veränität bestehe, und dass das Verhältnis dieser beiden Traditionen abhängig sei von kontingenten historischen Konstellationen.75 Vor diesem Hintergrund wäre es dann lediglich eine Frage der gesellschaftlichen Hegemonie, wie sich das Verhältnis von Volkssouveränität und individuellen Rechten jeweils gestaltet. So braucht es gegenwärtig laut Mouffe auch nur eine entsprechende Portion von „Linkspopulis‐ mus“, um die aus ihrer Sicht gestörte Balance wieder in eine stärker demokratische Richtung zu bewegen. Ohne es an dieser Stelle ausführlich begründen zu können, halten wir diese Argumentation für trügerisch. Die aktuelle politische Konstellation zeichnet sich zweifelslos durch eine liberale Vereinseitigung aus und verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die neoliberale Hegemonie, wie sie in den meisten westlichen Demo‐ kratien von Ende der 1970er Jahre bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 72 Vogl 2015, S. 162f. 73 Vgl. Jörke 2011. 74 Zu der Gefahr einer „oligarchischen Vereinnahmung“ von Repräsentation und möglichen Ge‐ genmaßnahmen siehe den Beitrag von Rodatos und Trimҫev in diesem Band. 75 Mouffe 2013, S. 20.
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2008 bestand.76 Dass die neoliberale Ideologie jedoch fortwirkt, ist dem Wegfall von zwei zentralen Bedingungen des Klassenkompromisses geschuldet: nämlich der sukzessiven Auflösung der wirtschafts- und finanzpolitischen Gestaltungsmacht der Nationalstaaten einerseits und dem Ende des starken Wirtschaftswachstums anderer‐ seits. Ersteres hat dazu geführt, dass selbst die liberal eingehegten demokratischen Prozesse zunehmend leerlaufen und daher als post-liberaldemokratisch zu beschrei‐ ben sind. Letzteres hat den Verteilungs- und damit auch Befriedungsspielraum der Staaten des liberaldemokratischen Kapitalismus erheblich eingeschränkt. Auch an‐ gesichts der immer stärker thematisierten ökologischen Grenzen des Wachstums sollte nicht von einer Rückkehr des sozialdemokratischen Zeitalters bzw. der Trente Glorieuses ausgegangen werden. Kurzum, die weitere Existenz der Voraussetzungen der Balancierung demokratischer und liberaler Prinzipien sollte bezweifelt werden. Vielmehr war diese Balancierung einer historischen Konstellation geschuldet, die der Vergangenheit angehört. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf Mouffes Darstellung der „demokratischen Revolution“ des 18. Jahr‐ hunderts zu werfen. Mouffe zufolge ist nämlich durch die damals entstandene „Logik der Demokra‐ tie“ die „soziale Teilung“ sichtbar gemacht worden, und dies deshalb, weil mit der temporären Inbesitznahme des „leeren Orts der Macht“ notwendigerweise ge‐ sellschaftliche Konflikte einhergehen, welche allerdings integrativ, nicht spaltend wirken würden. Mouffe folgt Lefort also nicht nur mit der Betonung der Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen, sondern auch in der Hinwendung zu einer agonisti‐ schen Demokratietheorie.77 An dieser Stelle muss dann auch der Name Machiavelli fallen: „Als Inspirationsquelle für die Entwicklung einer solchen Vorstellung könnte vielleicht die Tradition des Bürgerrepublikanismus mit ihrer Betonung der aktiven Partizipation an der politischen Gemeinschaft dienen. Neu gefasst, so dass er Raum für Pluralismus lässt, könnte der Bürgerrepublikanismus in seiner von Machiavelli inspirierten ‚plebejischen‘ Version zu einer Rückbesinnung auf die Bedeutung des kollektiven Handelns und den Wert der öffentlichen Sphäre beitragen, die in den Jahren der neoliberalen Hegemonie unter Dauerbeschuss standen.“78 Dabei hebt sie im Anschluss an Machiavelli die freiheitssichernde Funktion po‐ litischer Konflikte hervor,79 eine Annahme, die sich bereits bei Lefort findet und an dessen Machiavelli-Deutung Mouffe anknüpft.80 Allerdings handeln sich sowohl Lefort als auch Mouffe insofern den Anachronismusvorwurf ein, als sie Machiavelli als modernen Demokratietheoretiker interpretieren und eben nicht anerkennen, dass 76 77 78 79 80
Brown 2015. Mouffe 1993, S. 147. Mouffe 2018, S. 78; vgl. bereits Mouffe 1993, S. 19, 35f. Mouffe 1993, S. 36. Oppelt 2014, S. 268; zu Leforts Anschluss an Machiavelli vgl. Marchart 2010, S. 25. Eine ähn‐ liche Deutung findet sich auch bei Skinner 1998.
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er seine Überlegungen im Rahmen der frühneuzeitlichen Mischverfassungstradition formuliert hat. Er hat sich mithin gerade nicht für allgemeine Institutionen, wie dem allgemeinen Wahlrecht, sondern für partikulare Vetoinstanzen zum Schutz der Vie‐ len vor den Übergriffen der Wenigen ausgesprochen. Machiavelli ist also nicht in die Falle eines falsch verstandenen Universalismus getappt, die in der Illusion eines nicht nur de jure, sondern auch de facto gleichen Zugangs zum „leeren Ort der Macht“ besteht. Wie das zu verstehen ist und wie man vielleicht auch heutzutage der liberalen Gleichheitsfiktion entkommt, wollen wir abschließend darlegen.
4. Die machiavellistische Alternative Wie John McCormick in einem Handbuchartikel über Machiavelli hervorhebt, wür‐ den sich Autor*innen der „radikalen“ Demokratietheorie stark vom politischen Denken des Florentiners als einem „Vorläufer“ der radikalen Demokratie unter‐ scheiden.81 Insbesondere würden sie implizit „anti-populare Motive“ vertreten.82 Namentlich kritisiert McCormick die antiinstitutionelle Stoßrichtung der Radikalde‐ mokrat*innen. Dieser Vorwurf lässt sich freilich nicht ohne Weiteres auf Mouffe übertragen, bekennt sie sich doch, wie gezeigt, ausdrücklich zu einem institutio‐ nellen Demokratieverständnis. Gleichwohl zeigt sich eine doppelte Differenz zu Machiavelli. Da ist zunächst einmal ihr Versuch, dessen Antinormativismus liberal einzuhegen. Ganz in diesem Sinne schreibt sie in The Return of the Political: „A republican conception which draws inspiration from Machiavelli, but also from Montesquieu, Tocqueville and Mill, can make room for that which constitutes the central contribution of liberalism: the separation of public and private and the defense or pluralism.“83 An dieser Stelle reibt man sich verwundert die Augen, werden hier doch Autoren verheiratet, die unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen Seite steht mit Machiavelli (neben Rousseau) der zentrale Denker des neuzeitlichen Republikanis‐ mus. Das politische Denken des Florentiners entstammt nicht nur dem Kontext der italienischen Renaissance, sondern ist auch auf die Stadtrepublik bezogen, deren politische Autonomie er zu verteidigen bestrebt war. Hinzu kommt – und darauf hat John McCormick hingewiesen – das Bestreben von Machiavelli, die Vielen (i popoli) durch spezifische Institutionalisierungen vor den Übergriffen durch die Wenigen zu schützen, sie zum Teil sogar zu ermächtigen.84 Auf der anderen Seite befinden sich mit Montesquieu, Tocqueville und Mill drei Autoren, die nicht nur 81 82 83 84
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Vgl. McCormick 2019. Ebd., S. 31. Mouffe 1993, S. 36. McCormick 2011; 2018.
vor dem Hintergrund des Autonomieverlusts der Stadtrepubliken geschrieben haben, sondern in je unterschiedlicher Weise auch Strategien der Entmächtigung der Vielen entworfen haben. Deren demokratisches Begehren soll sprichwörtlich ins Leere laufen. Montesquieu spricht sich nicht nur für ein System der Gewaltenteilung aus, son‐ dern auch für das Repräsentativsystem und eine möglichst große Unabhängigkeit der Repräsentanten.85 Zudem plädiert er bei der Gesetzgebung für eine Beschränkung der Volksgewalt.86 Tocqueville lobt mit Blick auf die USA ebenfalls die Aufteilung der Gesetzgebungsgewalt zwischen einem aristokratischen Senat und einem demo‐ kratischen Repräsentantenhaus, wie er insgesamt die Notwendigkeit der Bändigung der Demokratie durch aristokratische Elemente betont.87 Auch Mill traut den Vielen nicht und billigt ihnen, solange sie noch nicht richtig erzogen worden sind, nicht das gleiche Stimmrecht wie den Gebildeten zu.88 Alle drei sind mithin von einer „radi‐ kalen Demokratie“ denkbar weit entfernt, sie bemühen sich vielmehr, die Macht der Vielen einzuhegen. So schreibt Montesquieu: „Die Mehrzahl der alten Republiken hatte einen großen Fehler; das Volk hatte nämlich das Recht, aktive Entschließungen zu fassen, die eine Durchführung erfordern, etwas, wozu es ganz und gar unfähig ist.“89 Ganz ähnliche Auffassungen lassen sich bei Tocqueville und Mill finden. Doch vielleicht hat sich Mouffe gar nicht eingehend mit der Institutionentheorie und den damit verbundenen antidemokratischen Grundüberzeugungen von Montes‐ quieu, Tocqueville und Mill auseinandergesetzt, weil sie lediglich ein allgemeines Bekenntnis zu Gewaltenteilung und Liberalität beabsichtigte – nicht zuletzt um die Pluralität der modernen Gesellschaften institutionell abzusichern. Letzteres ist nor‐ mativ überzeugend. Gleichwohl muss man sich dabei vor Augen halten, dass unter dem Deckmantel dieses liberal-universalistischen Schutzes von Minderheiten auch ökonomische Eliten und ihr privilegierter Zugang zu politischen Entscheidungen geschützt werden, solange keine Institutionen installiert werden, die genau das zu verhindern vermögen. Umso verwunderlicher scheint es zu sein, dass sich Mouffe für Machiavellis Ausführungen zur Institutionalisierung des Konfliktes zwischen den Wenigen (i grandi) und den Vielen (i popoli) nicht weiter interessiert. Statt‐ dessen bleibt es in ihrem jüngsten Buch bei einem bloßen Bekenntnis zu einer „plebejischen“ Lesart von Machiavelli.90 In der Folge gelingt es ihr nicht, über das liberaldemokratische Institutionendesign hinauszudenken, verbunden mit der wohl‐ feilen Forderung nach einem „linken Populismus“. Sollte die oben knapp skizzierte 85 86 87 88 89 90
Montesquieu 1748/1951, S. 219. Ebd., S. 220. Tocqueville 1835/1976. Mill 1861/2013. Montesquieu 1748/1951, S. 219. In The Return of the Political (Mouffe 1993, S. 20) hat sie sich noch der Machiavelli-Deutung von Quentin Skinner angeschlossen.
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Analyse der Erschöpfung der Möglichkeit den vermeintlich „leeren Ort“ wieder mit einem „linken“, etwa klassisch sozialdemokratischen, Inhalt zu füllen, zutreffend sein, wäre es jedoch verwunderlich, wenn der „linke Populismus“ nicht ins Leere laufen würde. Das hat zum einen mit den Effekten des europäischen Supranationalismus zu tun.91 Zum anderen – und nur darum soll es im Folgenden gehen – sind die Grenzen eines „linken Populismus“ dem liberalen Universalismus und dessen institutionellen Umsetzung geschuldet. Darauf hat im Anschluss an Machiavelli insbesondere John McCormick hingewiesen. Für McCormick erzeugen Wahlen einen „aristocratic ef‐ fect“, der darin besteht, dass reiche Leute und Prominente „a persistent advantage in generally wide electoral contests“92 besitzen. Der Grund dafür ist, dass politi‐ sche Institutionen, die grundsätzlich für alle zugänglich sind, von ihnen besetzt oder zumindest dominiert werden, dank ihren erheblichen Ressourcenvorteilen ge‐ genüber anderen. Dazu zählen in erster Linie Geld, aber auch soziale Netzwerke und kognitive Kompetenzen. Gerade Wahlverfahren, so schon die Einsicht von Aristoteles in seiner Politik, bevorzugen die aristoi.93 Dass Aristoteles mit dieser Einschätzung auch heute noch richtig liegt, zeigt der Blick in die Zusammensetzung auch „demokratisch“ gewählter Parlamente. Die dort versammelten Repräsentanten sind kein Spiegel der allgemeinen Bevölkerung. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Elite mit spezifischen sozioökonomischen Merkmalen, etwa mit Blick auf ihre Ausbildung oder soziale Herkunft. Das geht wiederum mit einer spezifischen Wahrnehmung der politischen und sozialen Welt einher, die nicht notwendig mit der der Wähler*innen korrespondieren muss. Das ist alles ausführlich erforscht und braucht hier nicht weiter vertieft zu werden.94 Das normative Ideal der politischen Gleichheit hat in seiner liberal universalis‐ tischen Ausführung mithin zu einer Institutionalisierung geführt, die dessen Ver‐ wirklichung im Wege steht. Ein wesentliches Problem des liberalen Universalis‐ mus besteht nämlich darin, dass dessen Institutionalisierung von einer Fiktion der Gleichheit ausgeht, die sich mit der rechtlichen Gleichstellung zufriedengibt und die ausschließenden Effekte der bestehenden Verfahren und Praktiken ignoriert. In diesem Punkt unterscheidet sich das moderne, liberale Politikverständis von dem Machiavellis, welcher der Theorie der Mischverfassung verbunden war: „As a result of class-anonymity and sociological ‘holism’, modern constitutions seem less con‐ cerned with, and may be less adept at, keeping wealthy citizens from dominating politics than were traditional constitutions in which the people comprised a subset, the largest subset, of the citizenry.“95 91 92 93 94 95
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Vgl. Jörke 2019. McCormick 2011, S. 98. Aristoteles 2012. Vgl. u.a. Borchert 2003; Schäfer 2015. McCormick 2011, S. 12.
McCormick schlägt vor diesem Hintergrund vor, auch in modernen Demokratien wieder klassenspezifische Institutionen einzuführen. Nur in einer politischen Ord‐ nung, in der die Vielen ihre eigenen Institutionen haben – wie die Volkstribune oder spezifische Versammlungen –, seien sie vor der Herrschaft durch die Grandi schützt. Konkret plädiert er für die Einrichtung einer Tribunatsversammlung als eine Art zweiter Kammer, die sich aus Bürger*innen zusammensetzt, die jedes Jahr ausgelost werden. Diese Kammer, in der politische Eliten und insbesondere wohlhabende Bürger nicht vertreten sein dürfen, soll als institutionelles Gegengewicht zu den professionalisierten Ansichten und Denkweisen der politischen Eliten dienen. Die so gebildete Tribunatsversammlung hat die Aufgabe, die Gesetzgebung und das Regierungshandeln zu überwachen. McCormick überträgt den Tribunen Vetorechte gegen Gesetzgebungsakte, das Recht, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten und das Recht, ein Referendum einzuleiten. Einer der Verfasser dieses Beitrages hat vor einigen Jahren den Vorschlag unter‐ breitet, den Angehörigen der unteren Klassen ein Vetorecht mittels eines fakultativen Referendums einzuräumen.96 Es soll kein absolutes Veto sein, sondern nur ein auf‐ schiebendes Veto, das sich auch auf Gesetzesvorhaben im Bereich der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik beschränken soll – wie die „Hartz-Reformen“ in der Bundesrepublik Deutschland oder bei sogenannten „Konsolidierungsprogrammen“ wie sie im Zuge der „Eurorettung“ in Spanien, Portugal, Italien und Griechenland umgesetzt worden sind. Im Gegensatz zu klassischen Volksabstimmungen und auch zu Wahlverfahren dürfen also nicht alle Bürger*innen an diesen Verfahren teilneh‐ men, sondern nur eine Teilgruppe. So sind nur diejenigen Bevölkerungsgruppen teilnahmeberechtigt, die sich in deutlich geringerem Maße am demokratischen Pro‐ zess beteiligen – möglich wäre hier, all jenen das Recht zur Teilnahme zu gewähren, die eine bestimmte Schwelle bei der Einkommenssteuer nicht überschreiten und nicht über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügen. Ziel dieses Vorschlags ist es, den unteren Klassen zumindest ein besseres Gehör und möglicherweise mehr Einfluss zu verschaffen. Er soll dazu beitragen, deren Interessen und Bedürfnisse bei jenen politischen Entscheidungen zu stärken, die die grundlegende Verteilung von Gütern und Lebenschancen betreffen. Ein weiterer Vorschlag, der auf eine Aktualisierung des Mischverfassungsden‐ kens von Machiavelli zielt, besteht in der Einführung von Quoten für Nicht-Aka‐ demiker*innen auf den Wahllisten der politischen Parteien. Alle drei Vorschläge bedeuten gewiss einen Bruch mit dem liberalen Universalismus, sie sind aber von der aktuellen Diskussion über die Einführung von verbindlichen Frauenquoten auf Wahllisten nicht weit entfernt. Und sie sind an dieser Stelle auch nur illustrativ ge‐
96 Jörke 2013.
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meint, um institutionelle Alternativen zu den exkludierenden Effekten des liberalen Universalismus aufzuzeigen.97 Allerdings sollte man nicht zu viel von der bloßen Einrichtung derartiger „plebe‐ jischer“ Kanäle politischer Einflussnahme im Rahmen kapitalistischer Gesellschafts‐ formationen erwarten. Wie oben argumentiert, ist im Zuge der „demokratischen“ Revolutionen ein institutionelles Ensemble eingerichtet worden, welches vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ schützen sollte und mithin nicht nur den Einfluss der Vie‐ len auf die periodische Wahl politischer Eliten beschränkte, sondern darüber hinaus die Wenigen und namentlich die Reichen durch vielfältige Vorkehrungen wie dem System der checks and balances, der Garantie des Eigentums als Menschenrecht und die Geld- und Schuldenpolitik der Zentralbanken abschirmt. In der Konsequenz wur‐ de gesellschaftliche Macht geradezu verschleiert. Eine „radikale“ Demokratietheorie müsste daher zunächst einmal dieses liberal-kapitalistische Arrangement „in Frage stellen“, also auf eine Veränderung der grundlegenden, aber größtenteils verdeckten Strukturen der Absicherung von Eigentum,98 aber auch von Bildungsprivilegien drängen, und nicht länger von einer „leeren Stelle der Macht“ schwadronieren.
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Stefan Wallaschek Über Parteien, Bewegungen und Solidarität in Chantal Mouffes agonaler Demokratietheorie1
1. Einleitung Chantal Mouffe gilt als eine der einflussreichsten politischen Theoretiker*innen und hat besonders das Forschungsprogramm einer agonalen und radikalen Demo‐ kratietheorie in den letzten zwei Dekaden stark vorangetrieben. Sie hat sowohl im internationalen als auch im deutschsprachigen Raum Debatten angestoßen und wurde breit und kontrovers rezipiert.2 Zudem beteiligt sich Mouffe vermehrt in der Öffentlichkeit mit einer explizit parteiischen Position.3 Mouffe gilt als eine der theoretischen Wegbegleiter*innen der neuen sozialen Bewegungen, weil sie mit Ernesto Laclau in Hegemony and Socialist Strategy das transformative Potential dieser damals neuen sozialen Bewegungen für demokrati‐ sche Ordnungen erkannt und untersucht hat.4 Die Bewegungs- und Protestforschung hat vor allem ihre Arbeiten mit Ernesto Laclau zur Diskurs- und Hegemonietheorie breit rezipiert.5 Mouffes aktuelle Arbeiten diskutieren hingegen vielfach politische Parteien, wenn sie sich mit Repräsentation in parlamentarischen Demokratien und Linkspopulismus auseinandersetzt. Bewegungen und Parteien sind damit zentrale Akteure im Theoriegebäude der agonalen Demokratie von Mouffe. Doch wie lässt sich deren Rolle verstehen und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander in Mouffes Demokratietheorie? Der folgende Beitrag untersucht das ungeklärte Verhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen in Chantal Mouffes agonaler Demokratietheorie. Ich werde argumentieren, dass in Chantal Mouffes Theorie Parteien und sozialen Bewegungen in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Soziale Bewegungen werden insofern 1 Ich möchte mich besonders bei der Herausgeberin, Manon Westphal, sowie bei Daniel Staemmler und Patrick Kahle für die konstruktiven Kommentare und Hinweise zu früheren Textfassungen bedanken. 2 Hetzel 2017; Jörke 2004; Nonhoff 2007; Flügel-Martinsen/Marchart 2014; Stäheli 2009. 3 Insbesondere in den links-politischen Stiftungen ist Chantal Mouffe präsent. Die Heinrich-BöllStiftung veranstaltete im Juni 2013 eine Podiumsdiskussion mit Rainer Forst und Chantal Mouffe zu Demokratietheorie (Heinrich Böll Stiftung 2013). Im IPG-Magazin der FriedrichEbert-Stiftung schrieb Mouffe einen Text zum Populismus (Mouffe 2019) und bei der Rosa-Lu‐ xemburg-Stiftung hielt sie 2018 die stiftungseigene Luxemburg Lecture (Mouffe 2018c). 4 Laclau/Mouffe 2014/1985. 5 Ganz 2015; Leinius/Vey/Hagemann 2017; Rüdiger 2017.
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relevant für Parteien, als dass sie Menschen durch neue Themen und Konflikte mobilisieren und damit dem antagonistischen Charakter der Gesellschaft Raum ge‐ ben. Schließlich mündet diese Mobilisierung in parteipolitische Konstellationen. Nur so kann der Antagonismus produktiv in einen Agonismus umgewandelt werden. Soziale Bewegungen sind bei Mouffe also politischen Parteien untergeordnet. Es bedarf institutioneller Kanäle, um die Konflikte zu zähmen und da sieht Mouffe vor allem Parteien und die parlamentarische Repräsentation in der Pflicht. Mouffe degradiert soziale Bewegungen zu Mobilisierungsmaschinen für Parteien, um eine agonale Politik in Demokratien umzusetzen. In der Konsequenz reduziert diese Her‐ angehensweise den politischen Handlungsspielraum sozialer Bewegungen jenseits parteipolitischer Fragen und die „Wiederbelebung und Vertiefung der Demokratie“6 orientiert sich einseitig auf die Parteipolitik. Um dieser Hierarchisierung von sozialen Bewegungen und Parteien beizukom‐ men, so werde ich argumentieren, muss der Solidaritätsbegriff in Mouffes agonaler Demokratietheorie betont werden. Es überrascht, dass neben Freiheit und Gleichheit dem Wert der Solidarität keine Beachtung geschenkt wird. Solidarität scheint als Ideal linker Politik bei Mouffe keine relevante Rolle zu spielen, obgleich die Idee und Praxis der Solidarität stark bei linken Parteien, der Gewerkschaftsbewegung und sozialen Bewegungen verankert ist.7 Mit Kurt Bayertz lassen sich zwei Typen von Solidarität unterscheiden: Unter Kampfsolidarität versteht Bayertz das Einste‐ hen und Erkämpfen von Rechten für andere (Individuen oder Gruppen), während Gemeinschaftssolidarität auf moralischen Verpflichtungen und der Zugehörigkeit Einzelner zu einer sozialen Gruppe basiert.8 Ich werde argumentieren, dass Mouffes Konzept der „Äquivalenzkettenˮ9 ein indirekter Bezug auf Solidarität ist und eine Hervorhebung von Solidarität in der agonalen Demokratietheorie dazu beitragen kann, soziale Bewegungen und Parteien als gleichwertig in der Politik zu verstehen. Um die von Mouffe proklamierte „De‐ mokratisierung der Demokratieˮ10 in der agonalen Demokratietheorie zu verankern, schlage ich vor, dass Äquivalenzketten als ein Wechselspiel aus Gemeinschaftsund Kampfsolidarität verstanden werden sollten. Nur durch diese Dynamik in der Solidarität, so werde ich aufzeigen, ist Solidarität mit Mouffes Theorie kompatibel und ermöglicht es, über Mouffes Argument hinauszugehen und ein hierarchiefreies Verhältnis von sozialen Bewegungen und Parteien zu denken. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut. Zuerst wird die agonale Demokratietheorie von Mouffe knapp rekonstruiert (2.). Danach wird näher auf Mouffes Verständnis und der Rollen von Parteien und sozialen Bewegungen in der agonalen Demokratie‐ 6 7 8 9 10
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Mouffe 2010/2005, S. 45. Zoll 2000; Featherstone 2012; Bayertz 1998a. Bayertz 1998b, S. 48-51. Laclau/Mouffe 2014/1985, S. 113-120; Mouffe 2010/2005, S. 71-72. Mouffe 2010/2005, S. 8.
theorie eingegangen und das Hauptargument dieses Beitrags anhand ihrer aktuellen Arbeiten ausbuchstabiert (3.). Nachfolgend wird sich der Solidaritätsproblematik bei Mouffe gewidmet (4.). Abschließend werden die Implikationen für die agonale De‐ mokratietheorie aufgezeigt und reflektiert (5.).
2. Antagonismus, Hegemonie und agonale Demokratietheorie Mouffes agonale Demokratietheorie baut auf zwei Kernprämissen auf, die sie zu‐ sammen mit Ernesto Laclau bereits in Hegemony and Socialist Strategy entwickelt hat.11 Erstens konstituiert sich die Gesellschaft durch Antagonismen und ist dem‐ nach konflikthaft strukturiert. Dem Sozialen, so Mouffe und Laclau, obliegt kein Essentialismus, der alles determiniert, sondern das Soziale unterliegt der kontingen‐ ten Emergenz und Austragung von Konflikten. Der hervorgebrachte Antagonismus aus Wir-Sie schafft das Soziale und wird in die Politik überführt. Demnach ist auch die Politik durch Antagonismen gekennzeichnet. Zweitens ist die politische Sphäre durch eine Hegemonie geprägt. Sie besitzt stets vorläufigen Charakter und nimmt niemals die totalitäre Ordnung der Unveränderbarkeit ein. Die Hegemonie wird durch Diskurse hergestellt und wird durch diese legitimiert, damit die Hegemonie als solche bestehen bleibt. Im Umkehrschluss kann die Hegemonie durch andere Hegemonien abgelöst werden und die Möglichkeit der Ablösung der hegemonialen Ordnung ist dem Politischen eingeschrieben. Damit die Hegemonie jedoch nicht auf einem Antagonismus beruht, der die Gesellschaft und das Politische als feindliche Wir-Sie-Differenz strukturiert, benötigt es Mouffe zufolge eine Umformung des Antagonismus in einen Agonismus, d. h. aus Feind*innen werden Gegner*innen, die sich als legitim erkennen und sich nicht auslöschen wollen (trotz aller Unterschiede und Interessensdivergenzen). Die Konflikttransformation ins Agonistische wird durch institutionelle Kanäle und Insti‐ tutionen moderiert, wobei eher unklar bleibt, wie dies vonstattengeht.12 Die agonale Demokratietheorie verweist in der Umformung des Antagonismus in den Agonismus auf normative und institutionelle Schranken. Es gelte dann, um diese Schranken zu streiten (statt diese einreißen zu wollen) und eine konstruktive Wir-Sie-Formierung voranzutreiben. Die Agonalität der Demokratie soll durch zen‐ trale Akteure wie Parlamente, Parteien und Bewegungen geschaffen werden und damit gegen die „Postpolitik“ und neoliberale Hegemonie in Stellung gebracht wer‐ den.13
11 Laclau/Mouffe 2014/1985. 12 Wallaschek 2017; Westphal 2017; Westphal 2019. 13 Mouffe 2010/2005.
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Seit Mouffe ihr Modell einer agonalen Demokratietheorie entworfen hat14, fokus‐ siert sie auf die drei genannten Akteure. (1) Das Parlament wird als Ort der Ent‐ scheidung gesehen, in der die politische Auseinandersetzung kulminiert, und in der verschiedene Hegemonieprojekte um die Hegemonie ringen. In der Gegenüberstel‐ lung von Regierung und Opposition in westlich-liberalen Demokratien werden Kon‐ flikte repräsentiert, die sich gesellschaftlich zeigen und sich in politischen Projekten kristallisiert haben. In der Entscheidung um Gesetze wird den gesellschaftlichen Verhältnisse politischer Ausdruck verliehen und eine Hegemonie (vorläufig) fixiert. (2) Parteien sind unerlässlich, weil sie zur politischen Meinungs- und Willensbil‐ dung und der Formierung von Machtpositionen beitragen. Ohne Parteien, so ließe sich Mouffe verstehen, formiert sich keine Hegemonie in westlich-liberalen Demo‐ kratien. Damit werden auch die Bedingungen repräsentativer Demokratie von Mouf‐ fe anerkannt. Diese werden nicht nur gegen Kritiker*innen verteidigt, sondern eine Kritik an ihnen wird als gefährlich für die Stabilität und die Errungenschaften west‐ lich-liberaler Demokratien angesehen. Das bedeutet, dass Demokratie bei Mouffe nicht ohne Repräsentation und auch nicht ohne Parteien (im Parlament) denkbar ist. Dies untermauert sie mit dem Schmitt’schen Bezug auf den Dezisionismus und der Frontstellung zwischen Regierung und Opposition im Parlament.15 Diese theoretische Fokussierung führt dazu, dass Parteien einen sehr hohen Stel‐ lenwert bei Mouffe erhalten. So stellt sie die These zu den Unruhen in Paris 2005 auf, dass diese nur in Gewalt umgeschlagen sind, weil es keinen Raum für politische Artikulationen gab. So stellt sie fest: „it is high time to find spaces within the liberal democratic framework for them to articulate their claims in a political way. This is what the Front de Gauche in France and Syriza in Greece are already trying to do […]ˮ.16 Dies wäre ganz im Sinne einer agonalen Demokratietheorie, die auf eine Artikulation von Konfliktthemen abzielt, wenn Mouffe nicht ausschließlich auf die Parteien verweisen würde. Anstatt den Raum für politische Artikulationen breiter zu fassen, verschiedene Akteursgruppen wie Gewerkschaften, Bewegungen oder Initiativen als Orte politischer und kollektiver Identifikation zu verstehen, reduziert sie die Artikulation politischer Forderungen auf die Existenz von und (erfolgreiche) Adressierung durch linke Parteien. Dies verwundert insofern, als dass Mouffe als Theoretikerin neuer sozialen Bewegungen bekannt geworden ist und ihr die Sichtweise zugeschrieben wurde,
14 Mouffe 2010/2005; Mouffe 2018b/2000. 15 Das Buchcover der BpB-Ausgabe von Über das Politische ziert treffend das britische Unter‐ haus. Darin stehen sich sprichwörtlich Opposition und Regierung gegenüber und drücken ihren Konflikt gezähmt durch institutionelle Regeln im sprachlichen Wettstreit miteinander aus. Am Ende solcher institutionellen Arrangements steht schließlich die parlamentarische Entscheidung über Gesetzesvorhaben. 16 Mouffe 2013, S. 122.
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Parteien als Politikdinos anzusehen.17 Schon fast umgekehrt argumentiert Mouffe in ihrem jüngsten Buch Für einen linken Populismus.18 Sie nennt hier häufig Bewe‐ gungen und Parteien in einem Atemzug und bezieht sich affirmativ auf Bewegungs‐ parteien wie Podemos, Syriza oder die Momentum-Unterstützung der britischen Labourpartei. Schließlich betont Mouffe vor allem die parteipolitische Seite dieser Bewegungsparteien, um eine linkspopulistische Agenda zu verfolgen und so dem Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen.19 (3) Bewegungen scheinen bei Mouffe insofern eine Rolle zu spielen, als dass sie Konflikte in die Öffentlichkeit tragen, Projektionsflächen bilden, zu denen sich Menschen zugehörig fühlen (oder diese ablehnen können) und damit das Konflikt‐ hafte des Politischen ausdrücken. Sie artikulieren Forderungen, die bisher im politi‐ schen Gefüge kein Gehör finden. Occupy Wall Street, die spanischen Indignados oder die griechische Aganaktsimenoi werden von Mouffe genutzt, um zu zeigen, dass der Protest sich seine Öffentlichkeit sucht und neue Konfliktfelder eröffnet, die vorher nicht bestanden oder nicht im Diskurs wahrgenommen wurden.20 Bewe‐ gungen werden von Mouffe auch immer dann erwähnt, wenn es um die Bildung von Äquivalenzketten geht, die den Antagonismus ausdrücken, um eigene gegenhe‐ gemoniale Position zu artikulieren. Äquivalenzketten eint die Vielfalt unterschiedli‐ cher Gruppen und Positionen mit dem gemeinsamen Interesse, den von der Äquiva‐ lenzkette konstituierten A(nta)gonismus als kollektiven Willen zu artikulieren und sich als Alternative zur hegemonialen Ordnung zu präsentieren. Oder wie Mouffe schreibt: „it was necessary for the left to establish a chain of equivalences among all these diffe‐ rent struggles […]. The objective of the left, we claimed, should be to create a collective will of all the democratic forces in order to push for the radicalization of democracy and to establish a new hegemonyˮ.21
Äquivalenzketten sollen keine Vereinnahmung oder Homogenisierung der Akteure in dieser Konstellation bewirken. Dies unterstreicht Mouffe mehrfach in ihren Ar‐ beiten.22 Indem sie argumentiert, dass parlamentarische und außer-parlamentarische Akteure zusammenarbeiten sollten, um die gegenwärtige (neoliberale) Hegemonie zu stürzen, Konflikte zu artikulieren und damit die Postpolitik aufzuheben, scheint Mouffe auf ein egalitäres Verständnis zwischen sozialen Bewegungen und Parteien abzustellen. Wie sie festhält:
17 18 19 20 21 22
Priester 2012, S. 114. Mouffe 2018a. Mouffe 2018a, S. 30-35; Mouffe 2018a, S. 65-70. Mouffe 2013, S. 109-19. Mouffe 2018a, S. 133. Mouffe 2018a, S. 92-95; Mouffe 2013, S. 74-76.
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„this requires establishing a synergy between a plurality of actors: social movements, parties and trade unions […] through a combination of parliamentary and extra-parlia‐ mentary struggles we must bring about a profound transformation of those institutions, so as to make them a vehicle for the expression of the manifold of democratic demands which would extend the principle of equality to as many social relations as possible.ˮ23
Ich werde nachfolgend zeigen, dass Mouffe, obwohl sie die Zusammenarbeit zwi‐ schen den verschiedenen Akteuren hervorhebt, ein hierarchisches Verhältnis von Parteien und Bewegungen denkt. Statt egalitärer Positionen schafft ihre Argumenta‐ tion eine Pyramide, in der alles darauf abzielt, neue oder alte Parteien zu befördern und ins Parlament oder gar in die Regierung zu bringen, um eine neue Hegemonie zu etablieren. In ihrer Kritik an nicht-repräsentativen Bewegungen bzw. deren Kritik an der repräsentativen Demokratie zeigt sich, wie latent hierarchisch Mouffes Poli‐ tikverständnis ist und wie viel Einfluss sie Parteien in ihren jüngsten Überlegungen zur agonalen Demokratie einräumt. An der Rolle von Parteien und deren (erfolgrei‐ chen) Artikulation von Konflikten scheint sich in der agonalen Demokratie alles zu entscheiden.
3. Das Verhältnis von Parteien und Bewegungen Welche Rollen schreibt Mouffe nun Parteien und Bewegungen zu? Zunächst schei‐ nen sie ähnliche Rollen zu erfüllen, weil sie als institutionelle Kanäle bezeichnet werden, die den Antagonismus einhegen und in einen Agonismus umwandeln sol‐ len. Sie kanalisieren den Konflikt und bilden damit den Grundstein für die Reali‐ sierung der demokratischen Auseinandersetzung.24 Aussagen von Mouffe wie „der Gegensatz zwischen Parteien und Bewegungen oder zwischen parlamentarischen und außerparlamentarischen Bemühungen ist zurückzuweisen“25 deuten darauf hin, dass beide Akteure auf Augenhöhe miteinander agieren würden. Zudem schreibt Mouffe sozialen Bewegungen zu, Menschen zu mobilisieren und neue Themen und Konflikte hervorzubringen, die jedoch schließlich in die Parteiorganisationen getragen werden müssen. Nur dann kann der Konflikt (Antagonismus) produktiv in einen Agonismus umgewandelt werden. Es bedarf institutioneller Kanäle, um die Konflikte zu sortieren und einzuhegen und da sieht Mouffe vor allem Parteien und schließlich Parlamente in der Pflicht. Obwohl sie betont, dass es parlamentarische und außerparlamentarische Kräfte geben soll, läuft es bei Mouffe am Ende doch darauf hinaus, dass Parteien die Alternativen in der Politik artikulieren, den Bür‐ ger*innen anbieten und somit eine Gegenhegemonie zur existierenden Hegemonie 23 Mouffe 2013, S. 75. 24 Wallaschek 2017; Westphal 2019. 25 Mouffe 2018a, S. 81-82.
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formulieren. Nur die Übernahme staatlicher Institutionen und die Regierungsbildung durch linke Parteien sind am Ende entscheidend für Mouffe. Folgerichtig wird dann auch u.a. Occupy Wall Street dafür kritisiert, keine klaren Forderungen an die Politik gestellt zu haben, nicht in die staatlichen Institutionen reingehen zu wollen, um die Spielregeln der repräsentativen Demokratie zu befolgen.26 Deswegen lobt sie nicht nur die Zusammenarbeit von Bewegungen und den Zusammenschluss in der griechischen Partei Syriza, sondern gerade auch den Wahlerfolg von Syriza im Januar 2015.27 Ein Jenseits der demokratischen Institutionen wie Parteien und Parlamente er‐ scheint Mouffe nicht zielführend. Die Ablehnung der gegenwärtigen institutionellen Arrangements wird von ihr kritisiert und gleichzeitig fordert sie ein „engagement with institutions“, um eine andere Hegemonie herbeizuführen.28 Anhand verschiede‐ ner Beispiele wie Syriza oder Podemos versucht Mouffe zu verdeutlichen, dass aus agonaler Perspektive ein Verlassen des Staates nicht möglich ist. Der Versuch, die Legitimität des Staates in Frage zu stellen, indem darin nicht partizipiert wird und man sich nicht auf die Logik staatlicher Institutionen einlässt, erscheint ihr irrefüh‐ rend und als Verkennung der gegebenen Hegemonie. Vielmehr müsse man Staat werden, wie sie im Anschluss an Gramsci formuliert.29 Mouffes Feststellung, dass der Staat nicht als neutrale Arena anzusehen ist,30 sondern besetzt und übernommen werden muss, scheint keine andere Möglichkeit offen zu lassen, als parteipolitisch aktiv zu werden. Das heißt, aus der Bewegung muss eine Bewegungspartei im Sinne Podemos werden, die an die Regierungsmacht strebt, um die bestehende Hegemonie zu brechen (und eine eigene Hegemonie zu etablieren).31 In umgekehrter Weise argumentierte Mouffe bereits in Über das Politische, dass sich linke Parteien transformieren sollten, indem sie stärker Bewegungselemente mit aufnehmen und so zur Realisierung radikaler Demokratie beitragen könnten: „Zu diesem Zeitpunkt [2005 zur Erstveröffentlichung von On the Political, Anm. S.W.] war ich, wie mir heute bewusst ist, noch immer davon überzeugt, dass sozialistische und sozialdemokratische Parteien so umgestaltet werden könnten, dass sie das von uns in Hegemonie und radikale Demokratie propagierte Projekt der Radikalisierung der Demokratie umsetzen könnten [kursiv im Original]ˮ.32 Mouffe führt zwar nach‐ folgend aus, dass diese Transformation der Parteien nicht erfolgt ist, aber nicht, weil der konzeptionelle Fokus auf Parteien zu eng war, sondern weil die Konfliktlinie
Mouffe 2013, S. 115-19. Mouffe 2018a, S. 30-31. Mouffe 2013, Kap. 4. Mouffe 2018a, S. 60. Trotz dieser Feststellung, bleibt bei Mouffe unklar, wie die agonale Demokratietheorie Institu‐ tionen im Staat konzipiert, siehe Wallaschek 2017. 31 Kouki/Gonzalez 2016; kritisch Breuning 2017. 32 Mouffe 2018a, S. 15.
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von links-rechts auf den populistischen Konflikt zwischen „Volkˮ und „Oligarchieˮ gewechselt ist.33 Dahingehend argumentiert sie in ihrem jüngsten Essay Für einen linken Popu‐ lismus34 für eine Äquivalenzkette, die einen Antagonismus zwischen Volk und Oligarchie artikuliert und produktiv in eine linke Perspektive rückt und dabei auch Bewegungen miteinbezieht. Sie nennt soziale Bewegungen und Protestbewegungen jedoch nur als politisierende Akteure. Sie scheinen weiterhin untergeordnet zu sein, weil sich der eigentliche politische Konflikt in der Parteienkonstellation ausdrückt. Nur durch die parteipolitische Einbettung und Transformierung werden aus politi‐ schen Konflikten Entscheidungen im parlamentarischen System der agonalen Demo‐ kratie. Nur diese erscheinen relevant, weil sie den Gegensatz aus Volk und Olig‐ archie in Mouffes linkem Populismus für eine relevante Konfliktlinie politisieren können. Die Betonung des Konflikts um Volk und Oligarchie zeigt sich auch daran, dass sie neben dem hegemonialen Neoliberalismus vor allem rechtspopulistische Parteien als Gegner*innen wahrnimmt. Mouffe hat schon frühzeitig den Aufstieg der österreichischen FPÖ um Jörg Haider analysiert und die fehlende Austragung von Konflikten dafür verantwortlich gemacht. Die rechtspopulistischen Parteien würden die Konfliktlinie Volk und Oligarchie ansprechen, indem sie die Konstruktion eines Volkes vorantrieben sowie eine moralisierende Elitenkritik äußerten.35 Ihr Fokus auf Parteien und die latente Hierarchisierung von Bewegungen und Parteien bestehen in der agonalen Demokratie demnach schon lange, doch scheint sich dieser Fokus in ihren letzten Publikationen verstärkt zu haben. Programmatisch formulierte Mouffe im Jahr 2015: „Die entscheidende Konfrontation wird zwischen dem linken Populismus und dem rechten Populismus stattfindenˮ.36 Das führt dazu, dass der Parlamentarismus, die Wahl von Parteipolitiker*innen sowie die Repräsen‐ tation durch Parteien in westlich-liberalen Demokratie in Mouffes agonaler Demo‐ kratietheorie fest eingeschrieben wird und die theoretischen Grenzen der agonalen Demokratietheorie daraufhin nicht mehr reflektiert werden.37 Zudem bleibt fraglich, ob mit einer Fixierung auf Parteien und der Unterordnung der Bewegungen es tatsächlich zu einer „radicalization of liberal pluralist democracyˮ38 kommen kann. Die Gefahr für das Projekt einer Radikalisierung der Demokratie wäre, dass der Pluralismus insofern eingeschränkt wird, dass nur noch Themen angesprochen werden, die für die Parteien in den nächsten Wahlen erfolgversprechend erscheinen. Eine Radikalisierung des Pluralismus durch die Repräsentation verschiedener The‐ men und Positionen im öffentlichen Diskurs würde nicht erfolgen. Einem Pluralis‐ 33 34 35 36 37 38
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Mouffe 2018a, S. 15-18. Mouffe 2018a. Mouffe 2005; Mouffe 2010/2005, S. 87-91; Mudde/Rovira Kaltwasser 2019, S. 30-38. Mouffe, 2015. Siehe hierzu auch den Beitrag von Jörke/Held in diesem Band. Oppelt/Mouffe 2014, S. 266.
mus wären demnach schon institutionelle Grenzen gesetzt, weil es zu einer Überset‐ zungsleistung von Bewegungen auf Parteien kommen müsste in Bezug darauf, wie Themen formuliert, gesetzt und besetzt werden müssten, d.h. eine neue Hegemonie etabliert werden kann. Eine Radikalisierung liberaler und pluraler Demokratie würde sich aber nicht zuvorderst darum kümmern, wie diese in eine parteipolitische Posi‐ tionierung umgesetzt werden kann, sondern darum, möglichst viele Räume und Möglichkeiten zu eröffnen, verschiedenen Akteuren eine Stimme zu geben. Der so geschaffene Pluralismus würde auch eine Konfliktlage schaffen, weil diverse politi‐ sche Positionen sich artikulieren könnten. Eine Radikalisierung der pluralen und li‐ beralen Demokratie erscheint im Hinblick auf die Parteienzentrierung also nur be‐ grenzt erfolgversprechend für die Transformation des Antagonismus in einen Ago‐ nismus. Schließlich wären es dann vor allem die Parteien, die die institutionellen Kanäle darstellen würden, die den Konflikt einhegen und umwandelt könnten. Da‐ mit beraubt Mouffe jedoch alle anderen Akteure des politischen Spielraumes und Einflusses, um diese Art von Konflikten überhaupt umzuformen und zu artikulieren. Dabei geht es Mouffe ursprünglich um die Transformation des Antagonismus in den Agonismus durch demokratische Mittel und Strukturen.39 Neben institutionellen, sind auch ethisch-politische Fragen für die agonale Demo‐ kratietheorie zentral, weil sie die Basis für die Erlangung einer hegemonialen Ord‐ nung in der agonalen Demokratie darstellen. Dementsprechend ist es wichtig, die ethisch-politischen Fragen näher in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie diese das Verhältnis zwischen Parteien und Bewegungen beeinflussen. Wie ich zeigen werde, nimmt dabei der Wert der Solidarität eine wichtige Rolle ein, die jedoch von Mouffe bisher nicht beachtet wurde.
4. Ethisch-politische Werte und die fehlende Solidarität Oliver Marchart hat jüngst festgehalten, dass Solidarität zu einem der grundlegends‐ ten Prinzipien der Demokratie gehört, wenn darunter die Tendenz der Selbstentfrem‐ dung von sich selbst zu verstehen ist: „Um überhaupt solidarisch mit jemanden sein zu können, der die eigene Position gerade nicht teilt, muss von der Identifikation mit der eigenen Position teilweise abgerückt werdenˮ.40 An eben diesen Möglichkeiten, solidarische Beziehungen als diskurstheoretische Äquivalenzkette zu konzeptualisie‐ ren und sie für die agonale Demokratietheorie fruchtbar zu machen, fehlt es jedoch Mouffes Theorie. Wie Mouffe festhält, braucht es institutionelle Kanäle, um den Konflikt einzu‐ hegen, damit aus Feind*innen (Antagonist*innen) Gegner*innen (Agonist*innen) 39 Siehe auch Westphal 2017. 40 Marchart 2018a, S. 40.
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werden können. Diese Gegnerschaft beruht aber nicht nur auf der Anerkennung institutioneller Spielregeln, sondern auch auf Voraussetzungen, die Mouffe als „ethisch-politischeˮ Werte oder Prinzipien von Demokratien bezeichnet.41 „Gleich‐ heit und Freiheit für alleˮ müssen als Grundkonstanten von allen anerkannt werden. Dabei geht es nicht um eine spezifische Version dieser Werte, sondern um die Art und Weise wie Gleichheit und Freiheit politisch ausgestaltet werden. Für Mouffe drückt sich in verschiedenen Vorstellungen von Freiheit oder Gleichheit, die in hege‐ monialen Projekten formuliert werden, der konfliktive Charakter der Gesellschaft aus. Die liberale Annahme, dass es nur eine richtige Vorstellung von Freiheit und Gleichheit gebe, lehnt sie ebenso ab wie die grundsätzliche Infragestellung beider Werte. Ersteres entspricht nicht einem agonalen Demokratiemodell, weil es demnach keine Konflikte um die Ausgestaltung von Freiheit und Gleichheit und damit auch kein Ringen verschiedener Hegemonien geben würde. Letzteres würde ein Feindbild erschaffen, indem spezifische soziale Gruppen a priori exkludiert würden. Der „con‐ flictual consensusˮ, den Mouffe betont, fungiert hingegen als ethische Basis für die agonale Demokratietheorie.42 Während sie in ihren Schriften Über das Politische und Agonistics die Unabding‐ barkeit der „Gleichheit und Freiheit für alleˮ betont,43 spricht sie zuletzt abwech‐ selnd von Gleichheit und Gerechtigkeit oder Gleichheit und Volkssouveränität als den zentralen normativen Merkmalen, die in einer agonalen Demokratie nicht ver‐ letzt werden dürfen.44 Mit der Volkssouveränität greift sie ein Prinzip auf, mit dem Sie sich bereits in Das demokratische Paradox auseinandergesetzt hat. Sie verortet die Idee der Volkssouveränität dabei in der Demokratie, während sie individuelle Rechte und Freiheiten dem Liberalismus zuordnet und schließlich daraus die Span‐ nung – das Paradox – im Verhältnis von Demokratie und Liberalismus in gegenwär‐ tigen westlichen Gesellschaften ableitet.45 Weshalb das Ideal der Freiheit für alle in ihren jüngeren Schriften wegfällt, wird von Mouffe nicht begründet. Ein Grund mag sein, dass Freiheit von Mouffe als zu sehr vom Neoliberalismus vereinnahmt angesehen wird, als dass sich Freiheit für die agonale Demokratie länger anbieten würde. Zudem scheint der Ruf nach Freiheit kein zentrales Motiv im populistischen Diskurs zu sein, während Fragen nach Gerechtigkeit oder dem souveränen Volk auf Resonanz stoßen.46 Dass dabei jedoch weiterhin der Wert der Solidarität unbeachtet bleibt, überrascht insofern, als dass für linke Akteure Solidarität zu einem der zen‐
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Mouffe 2010/2005, S. 43; Mouffe 2013, S. 7. Mouffe 2010/2005; Liebsch 2010; Oppelt/Mouffe 2014. Mouffe 2013; Mouffe 2010/2005. Mouffe 2018a, S. 23-29; Mouffe 2018a, S. 51-52. Mouffe 2018b/2000. Mudde/Rovira Kaltwasser 2019, S. 30-33; Siehe hierzu auch den Beitrag von Wilde in diesem Band.
tralsten Werte gehört und zuletzt viel Beachtung in der wissenschaftlichen Debatte erfahren hat.47 Soweit mir bekannt ist, nutzt Mouffe überhaupt nur ein einziges Mal in ihren jüngeren Publikationen den Begriff der Solidarität und dies in einem Interview aus dem Jahr 2007. Darin fordert sie Formen und Verknüpfungen von Solidarität durch linke Akteure, um die Hegemonie des Neoliberalismus global anzugehen.48 Ansonsten gehört Solidarität als polit- und sozialtheoretischer Begriff offenbar nicht zum Repertoire ihrer agonalen Demokratietheorie. Versteht man jedoch ihr Konzept der Äquivalenzketten als ein Substitut für Solidaritätsaussagen und solidarische Praktiken, dann zeigt sich, dass Solidarität wichtiger für ihre Theorie ist, als Mouffe selbst anerkennt. Wie Nonhoff mit Blick auf die Entstehung von Äquivalenzketten schreibt: „Das bedeutet, dass verschiedene Forderungen als gleichgerichtet verstanden werden, so dass man von einem gemeinsamen Willen, der ihnen allen zugrunde liegt, ausgehen kann. Dafür ist allerdings eine Konstruktionsleistung seitens der Protagonisten der Forde‐ rungen erforderlich. Denn die Forderungen sind ja zunächst different und haben keine positive Gemeinsamkeit. Was sie aber verbinden kann, ist ein gemeinsamer Gegner.ˮ49
Es sind also zwei Merkmale notwendig, um eine Äquivalenzkette zu bilden. Erstens soll es zu einer Zusammenarbeit verschiedener Akteure kommen, um die gegenwär‐ tigen Machtverhältnisse (Hegemonie) herauszufordern. Man denke zum Beispiel an Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams, um Ungerechtigkeiten zu artikulieren und auf Missstände hinzuweisen, die bisher ungehört geblieben sind. Zweitens versammeln sich diese Akteure unter einem diskursiven Banner, welches kollektive Identität stiftet, aber die Pluralität der Akteure nicht aufhebt. Diese zwei Merkmale können auch als Mobilisierung und Entfaltung von solidarischen Bezie‐ hungen interpretiert werden. Für diesen Zweck handeln Akteure gemeinsam, um ein Ziel zu erreichen und kreieren dabei eine kollektive Identität, die jedoch Raum für interne Differenzen und Reflexionen lässt.50 Wie Oliver Marchart zurecht festhält, ist Solidarität der „Balanceakt […], die zwei widersprüchlichen Prinzipien der Äqui‐ valenz und Autonomie miteinander in Beziehung zu setzenˮ.51 Äquivalenzketten können somit als ein Wechselspiel zwischen zwei Typen von Solidarität52 verstanden werden: Das heißt, sie können sich ex negativo bilden, weil eine Gefahr droht oder ein*e gemeinsame*r Gegner*in identifiziert wurde. Damit wäre es die Bayertz’sche ‚Kampfsolidarität‘, die die Verteidigung oder Durchset‐ 47 Stjernø 2009; Featherstone 2012; Bormann/Jungehülsing/Shuwen/Hartung/Schubert 2015; Della Porta 2018; Wallaschek 2019. 48 Geiselberger 2007, S. 125. 49 Nonhoff 2012, S. 42. 50 Dean 1995; Scholz 2008. 51 Marchart 2018b, S. 10. 52 Siehe auch Wallaschek 2016, S. 108-11.
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zung von Rechten zum Ziel hat, aber nicht notwendigerweise eine gemeinsame Identität voraussetzt. Oder die Solidarbeziehungen weisen einen positiven Bezugs‐ punkt auf, womit die Bayertz’sche ‚Gemeinschaftssolidarität‘ und die Stärkung von Verpflichtungen in der partikularen Gruppe gemeint sein können, ohne dass jedoch das Erkämpfen von Rechten für Andere als Ziel ausgegeben wird.53 Die so verstandenen Äquivalenzketten ‒ als Wechselspiel zweier unterschiedli‐ cher Solidaritätsformen ‒ würden sich in die konflikthafte Natur des Sozialen bei Mouffe einfügen. Überdies würde es einen ethischen Wertebezug jenseits der pro‐ klamierten Freiheit und Gleichheit für alle liefern, der jedoch diesen Werten nicht widerspricht, sondern vielmehr darüber hinausgeht. Dieser Horizont würde darin bestehen, dass es zu einer Verschiebung der Grenzen des Solidarischen kommen kann. Das heißt, wer sich mit wem solidarisch zeigt und ob die Äquivalenzkette eher auf Kampf- oder Gemeinschaftssolidarität basiert, ist stets veränderbar.54 Die Gemeinschaftssolidarität würde vor allem auf die Konstruktion einer Wir-Sie-Dif‐ ferenz abzielen. Während dies die Zugehörigkeit in der Gemeinschaftssolidarität stärkt, führt es gleichzeitig zu Ausschließungen, wer mit wem solidarisch handeln soll. Stephan Lessenich hat darauf hingewiesen, dass eine solidarische Praxis nicht nur versucht, Grenzen zu überwinden und Ungleichheiten zu begegnen, sondern gleichzeitig Grenzen zieht, auf Differenzen aufmerksam macht und Fragen der Wi‐ derständigkeit und Veränderung hervorruft.55 Die genannte Kampfsolidarität würde demnach Grenzziehungen hinterfragen, die die individuellen und kollektiven Rechte einschränken. Sie würde darauf abzielen, Rechte zu erkämpfen und für weitere soziale Gruppen verfügbar zu machen. Bayertz nennt das Beispiel solidarischer Aktionen in westlich-liberalen Gesellschaften gegen das Apartheids-Regime in Südafrika. Dabei wurde für die Rechte von Schwarzen eingetreten, ohne dass eine substantielle Gemeinschaftsbeziehung bestehen würde. Der Streit um das erfahrene Unrecht von anderen steht dabei im Mittelpunkt der Kampfsolidarität.56 Geht es also um eine Kampfsolidarität, stehen auch existierende Grenzen und hegemoniale Ordnungen zur Disposition.57 Für eine solidarische Praxis wird es „immer ein Gegenüber [geben], gegen dessen Widerstreben die Demokrati‐ sierung der Demokratie zu erkämpfen wäreˮ.58 Um die Demokratie wiederzubeleben und zu radikalisieren, wie Mouffe fordert, und dabei jedoch die Parteizentrierung zu minimieren, kommt es auf dynamische Solidaritätsverhältnisse an. Die Äquivalenzkette sollte nicht einseitig nur auf Ge‐ meinschafts- oder nur auf Kampfsolidarität basieren, sondern sollte vielmehr ein 53 54 55 56 57 58
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Bayertz 1998b. Wallaschek 2020. Lessenich 2019, S. 104-5. Siehe auch Taylor 2015. Heindl/Stüber 2019. Lessenich 2019, S. 106.
Wechselspiel aus beiden Solidaritätstypen aufweisen. Bewegungen und Parteien können und sollen dabei auf solidarische Beziehungen setzen, um die bestehende Hegemonie herauszufordern und eine alternative Politik zu artikulieren. Dabei gilt es jedoch dem Pluralismus Rechnung zu tragen, indem verschiedene Akteure und Positionen im Diskurs zu Wort kommen. Solidarität kann zu einem hierarchiefreien Verhältnis von Bewegungen und Parteien beitragen, wenn bei der Bildung von Äqui‐ valenzketten sowohl die gemeinschaftsstiftende Funktion von Solidarität als auch die Orientierung auf ein gemeinsam zu erkämpfendes Ziel berücksichtigt werden. Diese Solidaritätsdynamik ermöglicht es, Bewegungen eben nicht nur als Impulsge‐ berinnen der eigentlichen parteipolitischen Auseinandersetzungen zu sehen, sondern als gleichberechtige Akteure im Kampf um die Sichtbarmachung von Marginalisier‐ ten und das Mobilisieren von Themen zu verstehen. Das Wechselspiel der zwei Solidaritätstypen schafft auch einen normativen Horizont für politische Konflikte zur Erreichung von Hegemonien, weil die Kampfsolidarität auf ein Handeln jenseits der eigenen sozialen Gruppe abzielt, d.h. die diskursiven Grenzziehungen der WirSie-Differenz hinterfragt. Gerade die Solidaritätsdynamik verweist aber auch darauf, dass allein Kampfsolidarität nicht ausreicht. Auch die Konstruktion einer kollektiven Identität und die Bildung einer Gemeinschaft sind für politische Prozesse in der agonalen Demokratietheorie zentral, um Zugehörigkeiten zu schaffen. Erst unter Be‐ rücksichtigung eines dynamischen Solidaritätsverhältnisses entzieht sich die agonale Demokratietheorie partiell der Logik von Wahlen, Parteien und parlamentarischer Repräsentation. Und dadurch kann die agonale Demokratietheorie zur radikalen Demokratie werden, die eine Radikalisierung des Pluralismus von Demokratie59 verfolgt und damit auch ethisch verortet werden kann.
5. Fazit Der Beitrag hat das Verhältnis von Parteien und Bewegungen in Chantal Mouffes agonaler Demokratietheorie beleuchtet. Meine These war, dass Mouffe ein eher hierarchisches Verhältnis von Bewegungen und Parteien annimmt, nach welchem Bewegungen Menschen politisieren, Themen setzen und Konflikte aufgreifen, die sie schließlich in die parteipolitische Arena tragen. Bewegungen werden demnach zu Mobilisierungsakteuren, denen aber selbst bloß eine untergeordnete und unterstüt‐ zende Position gegenüber Parteien zugeschrieben wird. Gerade die Fixierung auf die agonale Konfliktaustragung durch Parteien und im Parlament erscheinen im Licht von Mouffes Fokus auf außerparlamentarische Opposition und die gesellschaftliche Verankerung vom nicht aufhebbaren Antagonismus verkürzt. Versuchen Bewegun‐
59 Oppelt/Mouffe 2014, S. 265-66.
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gen wie Occupy Wall Street jenseits der parlamentarischen Repräsentationslogik und der staatlichen Institutionen zu agieren, erscheinen diese in den Augen von Chantal Mouffe eher wenig zielführend. Diese Bewegungen würden die Machtverhältnisse verkennen und kaum dazu beitragen, die bestehende Hegemonie im Sinne einer agonalen Demokratie zu hinterfragen. Um das ungleiche Verhältnis zwischen beiden kollektiven Akteuren – Parteien und Bewegungen – aufzuheben, sollte Solidarität als normativer Horizont der agona‐ len Demokratietheorie berücksichtigt werden. Solidarität wird als Prinzip agonaler Politik – im Gegensatz zu Freiheit, Gleichheit oder Volkssouveränität – von Mouffe nicht adressiert. Dabei kann die Bildung von Äquivalenzketten als Form solidari‐ schen Handelns verstanden werden und damit auch den normativen Horizont für die gewünschte Radikalisierung der Demokratie bieten. Ich habe für eine an die agonale Demokratietheorie anknüpfende Solidaritätskonzeption argumentiert, die ein Wechselspiel aus Gemeinschafts- und Kampfsolidarität darstellt. Ein solches Wechselspiel würde den Pluralismus der Akteure berücksichtigen, als normativer Horizont für politische Mobilisierung dienen und die bestehende Hegemonie hin‐ terfragen. Nur im Zusammenspiel beider Solidaritätstypen ließe sich der Konflikt mit den gegebenen Verhältnissen betonen, das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure herausstellen, ohne jedoch die Homogenität dieser vorauszusetzen oder zum Ziel zu haben, und würde gleichzeitig den normativen Horizont mit der Erweiterung oder Verteidigung von Rechten für andere und die eigene soziale Gruppe liefern. Diese genannten Merkmale von Solidarität könnten dann auch die Basis für ein ega‐ litäres und solidarisches Verhältnis von Parteien und Bewegungen in der agonalen Demokratie sein. In der Konsequenz würde es den starken Parteienfokus in Mouffes Arbeiten mindern und wieder stärker die Dynamik von außerparlamentarischen und parlamentarischen Kräften zur Hinterfragung der Hegemonie und dem Aufbau von Gegenhegemonien herausstellen. Diese dynamische Solidaritätskonzeption kann demnach einen normativen Horizont eröffnen, den es braucht, um die Etablierung einer Hegemonie nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern um solidarischere Verhältnisse in der agonalen Demokratie zu schaffen.
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Malte Miram Die Vielfalt der Institutionenverständnisse im Kontext des institutionellen Defizits und als Maßstab der Kritik. Betrachtungen am Beispiel Chantal Mouffe1
1. Das Problem der Institutionen in der agonalen Demokratietheorie Es ist ein gängiger, fast schon zum Allgemeinplatz gewordener Vorwurf, dass ago‐ nale Demokratietheorien ein institutionelles Defizit haben.2 Demnach hätten sie ein Desinteresse an institutionellen Fragen und infolgedessen insgesamt ein man‐ gelhaftes analytisches Potential.3 Das agonale Demokratie- und Politikverständnis à la Bonnie Honig und Chantal Mouffe befinde sich in einer „Endlosspirale von Ordnung und Zerstörung“.4 Vertreter*innen eines konflikt- und kontingenzaffinen Politikverständnisses argumentieren hingegen, dass man nicht die Konzeptionalisie‐ rung von Institutionen, sondern deren kritische Befragung verfolge.5 Man sehe sich gezwungen, „institutionstheoretischen Belangen“ mit einer grundlegenden Skepsis zu begegnen. Es soll vielmehr „die grundsätzlich prekäre Relation zwischen konsti‐ tuierter und konstituierender Macht in den Blick“ genommen werden.6 Agonale Demokratietheorien beschäftigen sich dann (selbst-)bewusst gerade nicht mit institu‐ tionellen Arrangements und der Begründung von Institutionen, sondern mit Formen politischer Praktiken und Handlungen, die „das Soziale“ konstituieren.7 Das Prob‐ lem an dieser Debatte zwischen Positionen, die ein Institutionendefizit beklagen und Positionen, die eine „widerständige […] Praxis der Institutionen- und Seman‐ tikbefragung“8 einfordern ist aber ein auf beiden Seiten verschwommener und unde‐ finierter Institutionenbegriff. Das Objekt, das entweder fehlt oder befragt werden soll, hat eine wechselnde Gestalt und einen unklaren Umfang. Genau dieses Defizit der Defizitdebatte ist der Ausgangspunkt dieses Beitrags. Am Ende werden sowohl 1 Ich danke Manon Westphal für das konstruktive Feedback und den intensiven Austausch zu diesem Artikel. 2 Exemplarisch Howarth 2008, S. 189; Jörke 2004, S. 182. 3 Thiel 2012, S. 210. 4 Volk 2010, S. 265. 5 Flügel-Martinsen/Martinsen 2014, S. 150. Teile der folgenden Argumentation entspringen eher dem radikaldemokratischen Kontext. Hier wird davon ausgegangen, dass diese kritische Sicht auf Institutionen eines der einigenden Kennzeichen radikaler und agonaler Demokratie ist. 6 Nonhoff 2016, S. 32. 7 Wenman 2003, S. 167. 8 Flügel-Martinsen/Martinsen 2014, S. 150.
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eine differenziertere Diagnose hinsichtlich der institutionellen Defizite agonaler De‐ mokratietheorie als auch mögliche Maßstäbe einer agonalen institutionenkritischer Befragung stehen. Zunächst wird gezeigt, dass die „kaum präzisierbare Allgemeinheit“9 des wissen‐ schaftlichen Institutionenbegriffs zu einer (vereindeutigten) Vielfalt von Institutio‐ nenverständnissen zwischen soziologischer, politiktheoretischer und alltagssprachli‐ cher Tradition führen kann.10 Damit wird eine Heuristik, ein analytisches Instrument geschaffen, um sich der agonalen Demokratietheorie und ihrem institutionenkriti‐ schen Denken zuwenden zu können. Am Beispiel der agonistischen Demokratie‐ theorietheorie Mouffes wird diese Heuristik für eine differenzierte Perspektivierung einer agonalen Demokratietheorie genutzt, welche sich aus drei Gründen lohnt.11 Erstens drohen agonale Demokratietheorien ohne ein Institutionenverständnis ihr kritisches und damit auch demokratisierendes Potential zu verschenken, weil das Objekt der Kritik nicht hinreichend geklärt wird. Zweitens wird ohne eine Verhält‐ nisbestimmung von Institutionen und Institutionenbefragung die Rezeption agonaler Demokratietheorie in politik- und sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen jenseits der Politischen Theorie und Ideengeschichte erschwert. Drittens eröffnet die Vielfalt der Institutionenverständnisse einen neuen Blick auf die agonistische Demokratie‐ theorie Chantal Mouffes: Es finden sich erstaunlich viele institutionelle und institu‐ tionentheoretische Überlegungen; gleichzeitig offenbaren sich Leerstellen, aber auch Maßstäbe für institutionelle Überlegungen. So thematisiert Mouffe zum einen be‐ stimmte klassische Institutionen hinsichtlich spezifischer Funktionen, wobei sowohl die Analyse als auch die Kritik meist oberflächlich bleibt. Zum anderen werden einige Motive institutionentheoretischen Denkens in ihrer diskurstheoretischen He‐ gemonietheorie deutlich reflektiert. Zuletzt lenkt die Breite an Institutionenverständ‐ nissen die Aufmerksamkeit auf die Frage des Politischen von und in Institutionen. Dabei wird zwar deutlich, dass Mouffe – trotz ihrer dezisionistischen Theorieanlage – Entscheidungsprozessen und -momenten wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt. Allerdings lässt sich mit Mouffes spezifischem Politikverständnis ein Maßstab für in ihrem Sinne politische Institutionen entwickeln, womit Ansatzpunkte für Institu‐ tionenkritik und eine Weiterentwicklung agonaler Institutionen entworfen werden können.
9 Dubiel 1976, S. 418. 10 Hier wird aus forschungspragmatischen Gründen vorrangig auf die deutschsprachige Diskussi‐ on zurückgegriffen. Mit dieser Reduktion geht natürlich eine begrenzte Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einher. 11 Der Begriff der agonalen Demokratie wird als Überbegriff verstanden. Die Bezeichnung „ago‐ nistische Demokratie“ ist spezifischer und wird für Mouffes Variante agonaler Demokratie verwendet.
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2. Vielfalt der Institutionenbegriffe „Wer […] noch von ‚Institution‘ reden mag ist out – oder Soziologe.“12 So be‐ schreibt Michael Th. Greven die Politikwissenschaft der 1970er und frühen 1980er Jahre.13 Die Frage nach der Relevanz der politischen wie politikwissenschaftlichen Bedeutung von Institutionen stellt sich bis heute. Dieses spiegelt sich zum einen in der immer wiederkehrenden Frage „nach den Institutionen“ demokratietheoretischer Innovationen wieder.14 Zum anderen wird die Legitimität und die Vertrauensbasis der bestehenden (politischen) Institutionen diskutiert – meist unter dem Stichwort „Krise der Demokratie“.15 Gleichzeitig scheint sich die Diskussion um Institutio‐ nalisierungen und Institutionenkritik in regelmäßigen Abständen insbesondere in Demokratisierungsbewegungen zu reproduzieren.16 Die Rede von den Institutionen erscheint also nicht „völlig out“. Unter den Begriffen der Sozialwissenschaft gehört der Institutionenbegriff dann auch zu den am häufigsten genutzten, er wird allerdings am wenigsten definiert.17 „Social scientists relate to the theoretical concept of institution as ordinary peop‐ le relate to some established institution: They take the meaning for granted and proceed to make use of it.”18 Allein ein Blick in exemplarisch ausgewählte Einfüh‐ rungen in die Politikwissenschaft offenbart einen wenig reflektierten und zum Teil umgangssprachlichen Umgang mit dem Begriff der (politischen) Institution.19 Für Gerhard Göhler umfasst das Alltagsverständnis von politischen Institutionen „Staat und Staatsapparat, Regierung, Parlament, Gerichte usw., also eben die Einrichtun‐ gen, in denen und mit denen Politik gemacht wird.“20 Damit ist die Politikwissen‐ schaft offen für eine große Bandbreite von Institutionenverständnissen. Darüber hinaus – und hierauf verweist ja auch Greven – sind Institutionen gerade in der so‐ zialwissenschaftlichen Subdisziplin der Soziologie von Bedeutung, was die Vielfalt der Definitionen und Bedeutungen wiederum erhöht.
12 Greven 1983, S. 510. 13 Greven bezieht sich dabei auf die empirisch-sozialwissenschaftlichen Reformulierung der Po‐ litikwissenschaft und die Fokussierung der neomarxistischen Politikwissenschaft sowie der Kritischen Theorie auf Unbestimmtheit und Polyvalenz. 14 Exemplarisch: Für die deliberative Demokratietheorie siehe Chambers 2003, für die radikale Demokratietheorie siehe Westphal 2017b, für die agonale Demokratietheorie siehe Wingenbach 2011. 15 Z.B. Merkel, Krause 2015, S. 59. 16 Etwa Rucht 1983; Greven 1983. 17 Offe 2019, S. 3. 18 Ebda.. 19 Siehe z.B. Naßmacher 2002, V–VI; Berg-Schlosser 2006, S. 65-66. Wichtig ist auch der NeoInstitutionalismus (Hug 2007, S. 120). In der Ideengeschichte wird allgemein von Regierungs‐ institutionen und vom Staat als Institutionenapparat gesprochen (Llanque 2013). 20 Göhler 1990, S. 11.
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2.1. Soziologische Institutionentheorie „Der Institutionenbegriff ist nicht vorrangig ein politikwissenschaftlicher, sondern primär ein sozialwissenschaftlicher, ein soziologischer wie sozialtheoretischer Be‐ griff.“21 Für die soziologische Institutionentheorie werden insbesondere Maurice Hauriou und Arnold Gehlen als einflussreich beschrieben.22 Hier soll deshalb auf diese beiden Autoren zurückgegriffen werden, um die Grundzüge der soziologischen Institutionentheorie zu beschreiben. Gehlens Verständnis von Institutionen liegt die anthropologische Beschreibung des Menschen als ein „Mängelwesen“ zugrunde, welches – im Unterschied zum Tier – instinktlos handelt.23 Gehlen rückt also die menschliche Eigenschaft der Instinkt‐ reduktion und die vielfältigen Antriebe des Menschen in den Mittelpunkt. Darüber hinaus sind „die Wandelbarkeit erlernbarer Bewegungen und die ‚Weltoffenheit‘ der Sinne“24 Eigenschaften des Menschen. Demnach besteht eine grundlegende „Plasti‐ zität des Menschen“, eine außerordentliche kulturelle Variabilität und menschliche Lern- und Anpassungsfähigkeit.25 Der Mensch sei beständig bedroht, unstabil und affektüberlastet.26 Diese ständige Bedrohung und die grundsätzliche Offenheit führt für Gehlen zu einem konstitutiven Bedürfnis der Menschen nach Prägnanz und Geformtheit von Verhaltensweisen, welches nur durch Institutionen befriedigt werden könne.27 Demnach ist menschliches, auf Dauer angelegtes Handeln auf Regeln angewiesen. Die Verhaltensregeln und -muster ergeben den Grundriss einer Institution, welche gegenseitiges Handeln zeitneutral und berechenbar machen. Institutionen sind „für den einzelnen eine Entlastung, indem sie eine fallweise Improvisation von Entschei‐ dungen […] ersparen“.28 Sie erfüllen vitale und geistige „Bedürfnisse der Menschen nach Dauer, Gemeinsamkeit und Sicherheit.“29 Dabei verselbstständigen sich Insti‐ tutionen „gegenüber dem Menschen und man handelt von ihnen her, im Sinne ihrer Erhaltung, ihrer Eigenforderung, ihrer Gesetze.“30 Die Erschütterung oder Zerstö‐ rung von Institutionen führt zu einem überhöhten Subjektivismus, zur Verunsiche‐ rung der moralischen und geistigen Zentren und zur Entfremdung des Einzelnen von sich selber und der Welt.31 21 Steinbach 1990, S. 72. Siehe auch Feldmann 2006, S. 197; Schäfers 2016, S. 37. 22 Willms 1970. Zum Einfluss sowohl Gehlens als auch Hauriou siehe: Gukenbiehl 2016, 181; 189; Schäfers 1996, S. 147-153, 2016, S. 135. 23 Gehlen 2016, siehe insbesondere Kap. 44. 24 Gehlen 1975, S. 21. 25 Rehberg 2007, S. 83. 26 Gehlen 1986, S. 71. 27 Gehlen 1975, S. 40. 28 Gehlen 1983, S. 244 (Hrvh. d. Gehlen). 29 Gehlen 2004, S. 130. 30 Gehlen 1975, S. 18. 31 Gehlen 1986, S. 74; ders. 1969, S. 100; ders. 2004, S. 130.
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Dabei ist entscheidend, dass Institutionen Energiereserven vorhalten, um „ergie‐ big, erfinderisch und fruchtbar zu wirken.“32 Institutionen sind aus dieser Perspekti‐ ve für die Fortentwicklung des Menschen unerlässlich. Sie machen auch „so ver‐ sehrbare Dinge wie Freiheit und Bildung erst lebensfähig“.33 Freiheit ist bei Gehlen ein Ertrag der Selbstbegrenzung. Es gebe keine Freiheit, keine ‚edle‘ Natur des Menschen unterhalb der Institution. Die Verwirklichung des Menschen müsse sich durch die Institutionen vermitteln lassen. Aus einer rechtssoziologischen Perspektive definiert Hauriou Institutionen als „eine [Leit]Idee vom Werk oder vom Unternehmen, die in einem sozialen Milieu Verwirklichung und Rechtsbestand findet“.34 Er betont im Unterschied zu Gehlen sowohl jene Leitidee als konstitutiv für die Institution als auch die Unterscheidung zwischen Personen-Institutionen und Sach-Institutionen. Personen-Institutionen sind etwa Staaten, Körperschaften oder Gewerkschaften und fungieren als Handlungs‐ prinzip. Sach-Institution sind zum Beispiel soziale Rechtsnormen, sie sind unpersön‐ lich und ein Prinzip der Beschränkung.35 Auch wenn die soziologische Debatte zum Institutionenbegriff damit keinesfalls umfassend abgebildet ist, lässt sich auf Grundlage dieser Definitionen ein Kernver‐ ständnis soziologischer Zugriffe auf den Institutionenbegriff festhalten. Dabei meint Institution – in einem dann wieder verallgemeinerten und eklektischen Verständnis – „eine Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert.“36
2.2. Institutionen in der Politikwissenschaft Auch in der Politikwissenschaft und insbesondere in der Politischen Theorie und Ideengeschichte werden Haurious Überlegungen und der „Extremist der Ordnung“37 Gehlen bis heute in ihren verschiedenen Facetten aufgegriffen.38 Insbesondere im Kontext der Debatte um eine ideengeschichtlich fundierte Theorie politischer In‐ stitutionen finden sich Anknüpfungspunkte. Diese Debatte fragt nach den institu‐ tionellen Konfigurationen der Politik in ihren Entstehungszusammenhängen und Funktionsbedingungen sowie Verfestigungen und Veränderungspotentialen. Erst auf Gehlen 1986, S. 73. Gehlen 2004, S. 130. Hauriou 1965, S. 34. Neben der Leitidee sind Zugehörigkeitsbekundungen zu dieser und die in ihrem Dienst stehen‐ de „Macht“ (meint Organe) für eine Institution kennzeichnend (Dubiel 1976). 36 Gukenbiehl 2016, S. 174. 37 Diese Bezeichnung wird Rehberg zugeschrieben (Magerski 2011, S. 26; Krossa 2018, S. 10). 38 Siehe beispielhaft Göhler 2012, S. 198; Rehberg 1994, S. 65; Sommer 2018; Kantner/Tietz 2003. 32 33 34 35
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Grundlage einer solchen Theorie politischer Institutionen ließe sich „über Äquiva‐ lente zu bestehenden politischen Institutionen oder sogar über Alternativen zur institutionellen Verfaßtheit von Politik wissenschaftlich diskutieren.“39 Zunächst aber ist das klassische Verständnis politischer Institutionen von Bedeu‐ tung, welches sich weitgehend mit dem Alltagsverständnis deckt. Dies ist ein „sehr handfeste[r] Institutionenbegriff“, der in Form „konkreter realer Gebilde“ Untersu‐ chungsgegenstand der Politikwissenschaft ist.40 Politische Institutionen sind dem‐ nach „formale Organisationen […], die den Prozeß der politischen Handlungsko‐ ordination – der Meinungsbildung, Konfliktaustragung, Konsensbildung, Entschei‐ dungsfindung und des Entscheidungsvollzugs – strukturieren.“41 Institutionen sind dann „Verfassungen und Verfassungsorgane (wie Regierung und Parlament), andere öffentliche Institutionen mit explizit politischem Charakter (wie Gerichte) sowie sämtliche gemeinhin als „politisch“ wahrgenommenen Akteure des „intermediären Bereichs“, sofern sie ein Mindestmaß an Organisation bzw. struktureller Stabilität aufweisen (wie Parteien und Interessengruppen).“42 Im Kontext der Debatte um eine Theorie politischer Institutionen wird hingegen mit einer Definition von Institutionen gearbeitet, die politische Institutionen in den Rahmen sozialer Institutionen stellt. Dabei werden soziale Institutionen verstanden „als relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinnorientierungen mit regulierender sozialer Funktion. Institutionen sind relativ stabil und damit auch von einer gewissen zeitlichen Dauer; ihre Stabilität beruht auf der tempo‐ rären Verfestigung von Verhaltensmustern. Sie sind soweit verinnerlicht, daß die Adres‐ saten ihre Erwartungshaltung, bewußt oder unbewußt, auf den ihnen innewohnenden Sinn ausrichten. Institutionen sind prinzipiell überpersönlich und strukturieren menschli‐ ches Verhalten; sie üben insoweit eine Ordnungsfunktion aus.“43
Politische Institutionen werden in diesem Rahmen als Regelsysteme der Herstellung und Durchführung allgemeinverbindlicher bzw. verbindlicher, gesamtgesellschaft‐ lich relevanter Entscheidung verstanden.44 Diese politischen Institutionen haben ers‐ tens die Funktion der Steuerung mit dem Ziel, gemeinschaftliche Verhaltensweisen durch fokussierte Einschränkungen von Handlungsoptionen zu regulieren.45 Zwei‐ tens wirken sie hinsichtlich der Grundwerte des Gemeinwesens integrativ, um ein Mindestmaß an Identifikation und kollektiver Identität zu erzeugen. Hierbei wird auch auf die Unterscheidung von Personen- und Sach-Institutionen von Hauriou zu‐ 39 Göhler 1990, S. 8. Göhler verweist darauf, dass in der Ideengeschichte „politische Institutio‐ nen“ terminologisch nicht auftauchen. 40 Göhler 1990, S. 20. 41 Seibel 1997, S. 363. 42 Helms 2004, S. 25. 43 Göhler 1990, S. 12. Es ist eine verallgemeinerte und eklektische Essenz der soziologischen De‐ batte. 44 Göhler 1990, S. 12, 1994, S. 22. 45 Göhler 2012, S. 197.
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rückgegriffen. Es gibt „politische Institutionen mit Akteuren und solche ohne Akteu‐ re, ohne dass ihre Mechanismen grundsätzlich verschieden wären.“46 Demnach sind politische Institutionen mit Akteuren Organisationen und werden durch die in ihnen handelnden Personen bestimmt. Dazu gehören dann Parlament, Regierung, Gerichte usw. Politische Institutionen ohne Akteure sind Normensysteme und als solche personenunabhängig. Dazu gehört dann insbesondere die Verfassung oder allgemei‐ ner das Recht.47 Durch die herausgestellte Bedeutung von Akteuren in politischen Institutionen und die genannten Beispiele nähert sich dieses Institutionenverständnis wieder deutlich dem klassischen Verständnis politischer Institution an. Hiernach sind politische Institutionen dann die handfesten, konkreten und formalen Organisatio‐ nen, welche den politischen Handlungsprozess strukturieren (Parlament, Regierung, etc.). Allerdings lässt diese Definition, anders als das klassische Verständnis politi‐ scher Institutionen, grundsätzlich noch Spielraum für andere Regelsysteme kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Wenn politische Institutionen in den Rahmen sozialer Institutionen gestellt wer‐ den, hat das laut Göhler einen Vorteil: Eine Lektüre der politischen Ideengeschichte, die nach Regelsystemen, der Herstellung und Durchführung von allgemeinverbind‐ lichen bzw. gesamtgesellschaftlich relevanten Entscheidungen fragt, könne auch phänomenologisch nicht mehr oder noch nicht ausmachbare politische Institutionen identifizieren. „Es ist ja nicht auszuschließen, […] daß politische Institutionen bei historischer Betrachtungsweise entweder gar nicht benennbar sind oder zumindest das nicht leisten und auch nicht zu leisten beanspruchen, was wir von politischen Institutionen erwarten.“48 So lasse sich eine Suche nach funktionalen Äquivalenten in genetischer und systematischer Absicht aufnehmen. Genau dieses Vorgehen lässt sich auch für die Frage nach den Institutionen in agonalen Demokratietheorien fruchtbar machen. Es kann Raum für die Beschreibung anderer, sich von bestehen‐ den Institutionen unterscheidende politische Institutionen im Sinne der agonalen Demokratie eröffnen. Dafür ist zunächst eine Klärung des Verhältnisses von sozialen und politischen Institutionen erforderlich. Für Göhler sind politische Institutionen nicht einfach als „Sonderfall“ aus sozialen Institutionen ableitbar.49 Es sei also nicht so, dass jede so‐ ziale Institution automatisch eine politische Institution wird, wenn sie die Vorausset‐ zung „politisch“ erfüllt. Göhler argumentiert mit der politiktheoretisch-normativen Aufgabe, sich einer Theorie demokratischer politischer Institutionen zu widmen. Wenn soziale Institutionen nicht den normativen demokratischen Standards entspre‐
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Ebda., S. 198. Göhler 1994, S. 23. Göhler 1990, S. 13. Ebda., S. 12.
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chen, sind aus ihnen keine politischen Institutionen ableitbar.50 Göhler hat darüber hinaus diskutiert, ob die Rahmung politischer Institutionen durch soziale Institutio‐ nen ein Leitfragen-Raster zur Bestimmung unterschiedlicher Konfigurationen in der Politik bereitstellt. „Solche Leitfragen sind z.B. das Theorem der Entlastung durch Institutionen (Gehlen) […] oder das Theorem der Bedürfnisbefriedigung […] oder die »Leitidee« von und in Institutionen (Hauriou)“51. Der Vorteil sei hier, dass man sich nicht von vornherein auf eine bestimmte Theorie festlegen muss, sondern unterschiedliche Ansätze sich gegenseitig ergänzende Fragestellungen bereitstellen. Dieses Verfahren möchte ich im Folgenden für eine spezifischere Diagnose insti‐ tutioneller Defizite in der agonalen Demokratietheorie und die Identifikation von Maßstäben agonaler Institutionen aufgreifen. Sowohl das Verständnis politischer Institutionen als soziale Institutionen als auch die soziologischen Betrachtungen fungieren als Hinweisgeber, als Suchhilfen in einem unbekannten Terrain. Der vor‐ gebrachte Vorteil des Zusammenziehens von sozialen und politischen Institutionen für die Suche nach funktionalen Äquivalenten in systematischer Absicht kommt hier in anderer Form zum Tragen: Es ist nicht nur für die Ideengeschichte von Bedeutung, die Betrachtungen begrifflich und analytisch offen zu halten. Auch für die Diskussion über Institutionen in der agonalen Demokratietheorie hilft eine funk‐ tionale Breite des Institutionenverständnisses. Es ist ja nicht auszuschließen, dass politische Institutionen in agonalen Demokratietheorien nicht das leisten und auch nicht zu leisten beanspruchen, was wir – aufgrund eines spezifischen Verständnisses politischer Institutionen – von politischen Institutionen erwarten. Die politischen In‐ stitutionen agonaler Demokratietheorie könnten also andere sein als die klassischen politischen Institutionen.
2.3. Zwischenergebnis und die Bedeutung des Politikbegriffs Ziel dieses Abschnitts war eine Heuristik der Vielfalt der Institutionenverständnis‐ se. Die sozialwissenschaftliche Bandbreite umfasst erstens die soziologische Institu‐ tionentheorie mit ihrer Betonung der Befriedigung des menschlichen Stabilitätsbe‐ dürfnisses durch habitualisierte Handlungs- und Interaktionsformen, der Entlastung durch Institutionen und der Regelhaftigkeit der Institutionen als Handlungsvoraus‐ setzung. Darüber hinaus ist auf die Unterscheidung von Personen- und Sachinsti‐ tutionen und die Bedeutung der Leitidee verwiesen. Zweitens entspringt der poli‐ tikwissenschaftlichen Debatte ein Verständnis klassischer politischer Institutionen. 50 Göhler 1994, S. 30. Dieses Argument ist nicht unmittelbar überzeugend. Erstens bleibt unklar, warum eine Theorie politischer Institutionen eine Theorie demokratischer politischer Institu‐ tionen sein muss. Zweitens sind politiktheoretisch-normative Standpunkte konstitutiv umstrit‐ ten – worauf nicht zuletzt die agonale Demokratietheorie verweist. 51 Ebda..
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Diese formalen Organisationen, die den Prozess der politischen Handlungskoordina‐ tion strukturieren, umfassen etwa das Parlament, die Regierung, die Gerichte und die Verfassung. Drittens stellt die Theorie der politischen Institutionen politische Institu‐ tionen in den Rahmen sozialer Institutionen. Politische Institutionen konzentrieren sich dann auf die Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaft‐ lich relevanter Entscheidungen. Allerdings ist dabei der zugrunde gelegte Politikbegriff von Bedeutung. Die Defi‐ nition politischer Institutionen setzt einen bestimmten Politikbegriff voraus.52 Der Politikbegriff ist aber noch stärker umstritten als der Institutionenbegriff.53 Es ist offensichtlich, dass Göhler durch seinen auf Verbindlichkeit, gesamtgesellschaftliche Relevanz und „organisierte Entscheidungs- und Willenseinheit“ abstellenden Poli‐ tikbegriff seinem Verständnis politischer Institutionen eine politiktheoretisch-norma‐ tive Schlagseite verpasst. Aus Sicht einer agonalen Demokratietheorie ist diese Schlagseite unbefriedigend, weil sie dem agonalen Politikbegriff mindestens zum Teil entgegensteht. Genau deshalb ist eine soziologische Kontextualisierung wichtig, um sich nicht im Konflikt um unterschiedliche Politikverständnisse zu verfangen. Die soziologischen Institutionenverständnisse stellen Leitfragen und Hinweise für eine Suche nach funktionalen Äquivalenten von Institutionen bereit. Darüber hinaus ist es aber aus Sicht agonaler Demokratietheorien wichtig, die normativen, stabilitätspolitischen und dezidiert konservativen Positionen soziologi‐ scher Institutionentheorien nicht zu reproduzieren.54 Zum einen muss der Blick offen bleiben für die Freiheit erst ermöglichende Kontingenz menschlichen Verhal‐ tens. Zum anderen soll keine Annahme einer funktionalen oder anthropologischen Notwendigkeit von Institutionen angelegt werden, was dazu führen könnte, dass bestehende historische Institutionen der Kritik entzogen werden. Vielmehr soll eine differenzierte Diagnose zum Status institutionentheoretischen Denkens agonaler De‐ mokratietheorien verfolgt und gleichzeitig die Möglichkeit von agonalen Maßstäben der Institutionenbefragung ausgeleuchtet werden.
3. Die Vielfalt der Institutionen in agonalen Demokratietheorien: Das Beispiel Chantal Mouffe Chantal Mouffe bietet sich als Vertreterin agonaler Demokratietheorie für die Fra‐ ge nach den Institutionen ganz besonders an.55 Ihr Entwurf einer radikalen bzw. 52 53 54 55
Göhler 1990, S. 12. Zur ideengeschichtlichen Bestimmung: Göhler 1994, S. 26. Helms 2004, S. 64. Greven 1987, S. 100. Trotz aller Gemeinsamkeiten agonaler Demokratietheorien sind auch Unterschiede zu ver‐ zeichnen (siehe Wenman 2003, 2013). In der folgenden Untersuchung wäre es nicht möglich, den Unterschieden ausreichend Rechnung zu tragen, weshalb eine Einschränkung notwendig
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agonistischen Demokratie ist einer der einflussreichsten Beiträge zur politischen Theorie der Gegenwart.56 Dabei beruhen sowohl die radikale als auch die agonisti‐ sche Demokratie auf der Theorie der politischen Instituierung des Sozialen durch hegemoniale Diskurse und der damit einhergehenden Bedeutung des Politischen.57 Mouffe thematisiert sehr häufig Institutionen. Stefan Wallaschek hat dies als institutionelle Schranke der agonalen Demokratie bezeichnet.58 In der Tat insistiert sie schon gemeinsam mit Laclau darauf, „daß liberale politische Institutionen die notwendige Bedingung für einen wirklichen Pluralismus sind. Tatsächlich sind liberale politische Institutionen […] der wirkliche Garant dafür, daß die individuellen Rechte gegen die Tyrannei der Majorität oder gegen die Herrschaft […] des totalitären Staates geschützt werden.“59
Auch in der agonistischen Demokratietheorie spielt der Begriff immer wieder eine Rolle.60 Mouffe verwendet den Begriff der Institution dabei allerdings recht unter‐ schiedlich und disparat. „So sind der IWF und die WTO ebenso Institutionen […] wie sie allgemein von ‚politischen‘, ‚sozialen‘ oder ‚liberal-demokratischen Institu‐ tionen‘ spricht […]“61. Sie bezeichnet die Trennung von Kirche und Staat sowie die Gewaltenteilung als zu bewahrende liberale Institutionen.62 Sie fordert eine „Vielzahl von Schritten auf einer Vielfalt institutioneller Terrains“ und den Aufbau demokratischerer, egalitärer Institutionen.63 Im Kontext ihrer Forderung nach einem linken Populismus macht sie deutlich, dass es nicht notwendig sei, „die liberalen, demokratischen Institutionen zu zerstören“64. Dieser Vielzahl der terminologischen Bezugnahme liegt keine stringente Begriffsverwendung zugrunde. Es lässt sich aber schon feststellen, dass Mouffe der Vorwurf eines institutionellen Desinteresses nicht völlig trifft. Die Heuristik der Institutionenverständnisse wird im Folgenden dazu genutzt, um zunächst die vorhandene Beschäftigung Mouffes mit klassischen poli‐ tischen Institutionen aufzuarbeiten. Anschließend wird ein Vorschlag unterbreitet, welche Implikation eine soziologische Betrachtung hätte, wie soziale Institutionen
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ist. Um Unterschiede nicht zu verwischen, ist es notwendig, die Heuristik der Institutionen zunächst autorenzentriert anzulegen. Nonhoff 2007, S. 7. siehe auch ders. (Hrsg.), 2007; Stäheli/Hammer 2016; Wenman 2013. Mouffe fordert die Trennung von radikaler und agonistischer Demokratie in ein politisches Projekt und einen analytischen Ansatz (Mouffe 2014, S. 265). Sie hält diese Trennung aller‐ dings keineswegs aufrecht. Die agonistische Demokratie ist eine mögliche Artikulation (Stähe‐ li/Hammer 2016, S. 82). Ebenso ist die radikale Demokratie „nur“ eine Konstruktion eines he‐ gemonialen Projekts (Stäheli 2000, S. 41). Wallaschek 2017, S. 6. Laclau/Mouffe 2000, S. 23. Mouffe 1993, S. 105, 2010, S. 16, 2015, S. 21, 2016, S. 14. Wallaschek 2017, S. 8. Mouffe 1993, S. 105. Mouffe 2016, S. 14. Mouffe 2018, S. 47.
bei Mouffe aussehen könnten und welche Maßstäbe für spezifisch politische Institu‐ tionen aus ihrem Denken abgeleitet werden können.
3.1. Klassische politische Institutionen in der agonistischen Demokratie Die Untersuchung klassischer politischer Institutionen beschränkt sich auf die Staat‐ lichkeit von Politik. Laut Andreas Hetzel kommt dem Staat bei Mouffe eine zentrale Rolle zu, wie sich zum einen in ihrem Plädoyer für einen multipolare Welt zeige. Zum anderen entdecke Mouffe „im Staat [insbesondere dem Wohlfahrtsstaat] eine Einspruchsinstanz gegen die Ökonomisierung des Politischen.“65 Der Blick auf klassische politische Institutionen ist so auch theorieintern begründet. Im Fokus ste‐ hen im Folgenden zunächst politische Institutionen als formale Organisationen, die Personen-Institutionen bei Hauriou. Dazu gehören Parlament, Parteien, Regierung und Gerichte. Im Anschluss werden Sach-Institutionen wie das (Verfassungs-)Recht aufgearbeitet.
3.1.1. Politische Personen-Institutionen Mouffe weist dem Parlament als eine liberale Kerninstitution und politischen Partei‐ en zentrale Rollen in ihrer Vorstellung von Demokratie und Demokratisierung zu. Parlamente werden als diejenigen Institutionen verstanden, welche die notwendige Transformation von Antagonismus in Agonismus leisten können. Hier ist die aus Mouffes Sicht erhellende Beschreibung der Logik parlamentarischer Systeme bei Elias Canetti hilfreich: „[Canetti] führt uns die bedeutsame Rolle des parlamentarischen Systems bei der Trans‐ formation von Antagonismus in Agonismus und bei der Konstruktion eines mit demokra‐ tischem Pluralismus vereinbaren Wir/Sie vor Augen. Wenn parlamentarische Institutio‐ nen zerstört oder geschwächt werden, verschwindet die Möglichkeit einer agonistischen Konfrontation und wird durch ein antagonistisches Wir/Sie ersetzt.“66
Für Christian Volk ist Mouffes Bezugnahme auf Canetti eine „dezisionistische Engführung des Parlamentarismus“67, weil damit die Bedeutung der öffentlichen Debatte, der Möglichkeiten der Opposition, auf die Meinungsbildung einzuwirken, und der daraus entstehende Rechtfertigungszwang unterschätzt werden. Auch wenn Mouffe den Moment der Dezision stark betont, übersieht dieser Vorwurf einen zweiten Aspekt der Rolle des Parlaments bei Mouffe. Parlamente sind immer auch 65 Ebda., S. 186. 66 Mouffe 2010, S. 33. 67 Volk 2013, S. 96.
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Orte der offen gehaltenen Übereinkunft zu verschiedenen Themen. „[W]e have to see parliament not as the place where one accedes to truth, but as the place where it ought to be possible to reach agreement on a reasonable solution through argument and persuasion, while being aware that such agreement can never be definitive and that it should always be open to challenge.“68 Der Sinn des Parlaments besteht im Moment der Entscheidung, der aber gleichzeitig offen für Herausforderungen blei‐ ben muss. Dafür dient dann grundsätzlich die öffentliche Debatte, die Ressourcen‐ ausstattung der Opposition und der damit (möglicherweise) einhergehende Rechtfer‐ tigungszwang der Mehrheit. Parteien wird ebenso eine wesentliche Funktion zugeschrieben. Sie sollen Leiden‐ schaften und Identifikationsmöglichkeiten generieren, eine plurale Bürgerschafts‐ konzeption verteidigen sowie sozialer Teilung und Meinungskonflikten Ausdruck verleihen.69 „But if they fail in their job, conflicts will assume other guises and it will be more difficult to manage them democratically”.70 Mouffe sieht ein wesent‐ liches Krisensymptom moderner Demokratien in der (angeblichen) Unterschiedslo‐ sigkeit von Parteien. Das Verwischen zwischen Links und Rechts und das damit einhergehende Fehlen einer agonistischen Diskussion zwischen den demokratischen Parteien führe dazu, dass Wähler*innen keine Möglichkeit mehr haben, sich mit einer ausdifferenzierten Bandbreite demokratischer politischer Identitäten zu identi‐ fizieren.71 Parteien haben dabei im politischen Willensbildungs- und Entscheidungs‐ prozess (mindestens) eine doppelte Rolle. Zum einen sollen sie den „Unmut von der Straße“, den Protest sozialer Bewegungen und politische Alternativen in den parlamentarischen Entscheidungsprozess überführen.72 Zum anderen fordert Mouffe „eine Kombination parlamentarischer und außerparlamentarischer Bemühungen“, die zur Veränderung der bestehenden Institutionen beitragen sollen.73 Das Ziel sei nicht die ‚Austrocknung‘ des Staates oder der Vielzahl an Institutionen, sondern die Kombination von parlamentarischen und außerparlamentarischen Prozessen. Hier haben Parteien eine zentrale Stellung. Sie können als – prekäre – Subjekte von Hegemonien und (gegen-)hegemonialen Forderungen auftreten. Parteien wirken also innerhalb und außerhalb des Parlaments aufgrund von Impulsen aus der Zivilgesell‐ schaft, aber eben auch aus sich heraus an der politischen Willensbildung mit. Dabei sind Parteien die kollektiven Akteure, die die Transformation des Antagonismus
Mouffe 1993, S. 130. Mouffe 2010, S. 40. Ebda., S. 5. Mouffe 2010, 91-92. Wallaschek 2017, S. 11. Wallaschek wirft Mouffe ein vereinfachtes Verständnis von politischen Parteien und ihrer Rolle im Willensbildungsprozess vor. Siehe dazu auch Wallaschek in diesem Band. 73 Mouffe 2016, S. 119-120. 68 69 70 71 72
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vorbereiten und umsetzen. Der Moment der politischen Entscheidung im Parlament durch Parteien ist dabei mitgedacht. Im Moment der politischen Entscheidungsfindung und -umsetzung steht aber eine weitere Kerninstitution moderner Staaten im Fokus: Die Regierung mit ihren exekutiven Aufgaben ist ein Teil der für Mouffe in Demokratien konstitutiven und zu verteidigenden Gewaltenteilung.74 Diese klassische politische Institution bleibt bei Mouffe allerdings unterthematisiert. Sie fordert „eine klare Trennung zwischen Regierung und Opposition“75. Darüber hinaus werden die vielfältigen Berührungs‐ punkte und institutionellen Settings nicht thematisiert. So gibt es keinerlei Überle‐ gungen dazu, wie (und ob) eine Regierung zur Offenhaltung des politischen Kon‐ flikts beitragen kann oder wie (und ob) sie die Transformation von Antagonismus in Agonismus begleiten kann. Angesichts des Befunds exekutiver Kompetenzzuwächse und der Tatsache, dass moderne Gewaltenteilung eher eine Gewaltenverschränkung denn strikte Trennung ist, erscheint die fehlende Thematisierung und insbesondere die unterbleibende Kritik frappierend.76 Gerichte als zentrale Institutionen liberaler Demokratien würde Mouffe gar nicht thematisieren, so ein Befund.77 Das ist insofern richtig, als dass es nur eine äu‐ ßerst marginale Beschäftigung mit Gerichten gibt. Mouffe grenzt sich von Ronald Dworkin ab, der von einem Primat einer unabhängigen Justiz ausgehe, welche als Interpret der politischen Moral fungiert. „Dworkin zufolge würden die fundamentalen Fragen, denen sich eine politische Gemein‐ schaft in Bereichen wie Arbeitslosigkeit, Erziehung, Zensur, Assoziationsfreiheit usw. gegenübersieht, besser von Richtern gelöst werden, vorausgesetzt, sie interpretieren die Verfassung mit Bezug auf das Prinzip politischer Gleichheit. Sehr wenig bleibt übrig für die politische Arena.“78
Dieses spricht ebenso wie die ablehnende Reaktion auf die Forderung nach der Aus‐ weitung der Kompetenzen internationaler Gerichtshöfe im Rahmen der Diskussion des Kosmopolitismus dafür, dass Gerichte aufgrund ihrer unpolitischen Verfasstheit dem Wesen des Politischen nicht gerecht werden können.79 Sie sind in diesem Sinne keine politischen oder gar demokratischen Institutionen. Allerdings sind Gerichte im Spannungsverhältnis des demokratischen Paradoxes als Hüter der Rechtsstaatlich‐ keit in der liberalen Tradition zumindest konzeptionell mitgedacht. Die liberale Tra‐ dition – gekennzeichnet durch Rechtsstaatlichkeit, die Verteidigung der Menschen‐ rechte und den Respekt vor individueller Freiheit – steht bekanntlich bei Mouffe in 74 Mouffe 1993, S. 105. 75 Mouffe 2010, S. 157. 76 Zum Befund des exekutiven Kompetenzzuwachses siehe z.B. Tils/Bornemann 2004. Zur Ge‐ waltenverschränkung siehe beispielhaft Lhotta 2009. 77 Wallaschek 2017, S. 12. 78 Mouffe 2015, S. 114. 79 Mouffe 2010, 129 ff..
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einem ständigen Austarierungsprozess mit der demokratischen Tradition (Gleichheit, Volkssouveränität).80 Mouffe beschäftigt sich allerdings nicht mit der Frage, welche alternative Rolle Gerichte in einem anders artikulierten Verhältnis von liberaler und demokratischer Tradition einnehmen könnten. Man sucht also vergeblich nach einer möglichen agonistisch-pluralen Rolle von (Verfassungs-)Gerichten. Hierzu schlägt Manon Westphal als radikaldemokratische Reform im Anschluss an Mouffe (und Laclau) vor, die Rolle von Gerichten zu beschränken und ihre Interpretationsmacht rein auf die Schutzfunktion von Grundrechten, insbesondere Freiheit und Gleichheit einzuschränken. (Verfassungs-)Gerichte dürften dann keine materiellen rechtlichen Vorgaben machen, sondern sind auf ihre schützende Funktion zu begrenzen. Gerich‐ te sollten und könnten dann zwar politische Entscheidungen verhindern – etwa zum Schutz der Herausbildung kritischer politischer Gegenmacht –, allerdings müsste die Definition alternativer Entscheidungen an den politischen Prozess zurückgespielt werden.81
3.1.2. Politische Sach-Institutionen Recht strukturiert die politische Entscheidungsfindung innerhalb klassischer poli‐ tischer Institutionen und das zugrundeliegende Verfassungsrecht begründet diese Institutionen und ist selber Institution. Mouffe diagnostiziert in diesem Kontext eine „Hegemonie juridischer Diskurse“ und interpretiert diese als „Schwächung der demokratischen politischen Öffentlichkeit, in der eine agonistische Konfrontati‐ on stattfinden könnte“82. Im Zusammenspiel mit ihrer Kritik an der unpolitischen Verfasstheit von (Verfassungs-)Gerichten kann man davon ausgehen, dass Recht und insbesondere Rechtssetzung und -auslegung durch Gerichte für Mouffe in der agonistischen Demokratie keinen Platz haben. Recht und Rechtsdiskurse würden zu viele relevante Fragen der politischen, agonistischen Auseinandersetzung entziehen. Der „Ort der Macht“ wird durch das Recht besetzt und steht in der politischen Konfliktaustragung nicht mehr zur Disposition. Demnach könnte die Institution des Rechts mit Mouffes Demokratievorstellung inkompatibel sein. Auf der anderen Sei‐ te sind aber Bürgerrechte bei Mouffe „das Mark einer demokratischen Ordnung“83. Westphal bringt zwei Argumente für die prinzipielle Kompatibilität von Recht und Mouffes Demokratieverständnis in Stellung.84 Erstens trage Recht dem konzep‐ tuellen Bestandteil Rechnung, dass Akteure nach Hegemonie streben und diese gegen den Dissens anderer aufbauen. Ohne Recht und Rechtsetzung kann es kei‐ 80 81 82 83 84
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Mouffe 2015, S. 20. Westphal 2017b, S. 122. Mouffe 2015, S. 113. Mouffe 2016, S. 202. Westphal 2017a, S. 382-384.
ne – hinterfragbare – hegemoniale Formation geben, welche aber konstitutiv für die Theorie des Sozialen bei Mouffe ist. Zweitens argumentiert Westphal für die Bedeu‐ tung von Recht bei Mouffe, indem sie Rechte (im Plural) als Elemente der Manifes‐ tation des konfliktiven Konsenses betrachtet. Freiheit und Gleichheit sind als sym‐ bolische Bezugspunkte Teil dieses Konsenses, in welchem interpretationsoffene ethische Prinzipien als Rechte konzeptualisiert werden. Zum einen würden politi‐ sche Kämpfe in der Regel mit Bezug auf die Realisierung oder Vertiefung bestimm‐ ter Rechte und nicht nur abstrakter Werte ausgetragen. Diskursiv eingebettete Bür‐ ger*innen nehmen in ihren konkreten Forderungen nach Modifikationen der eta‐ blierten Ordnung Bezug auf die Rechte, welche mit den ethisch-politischen Prinzipi‐ en verbunden werden. Zum anderen liege in der rechtlichen Kodifizierung der Prin‐ zipien Freiheit und Gleichheit eine (notwendige) artikulatorische Konstituierung ei‐ nes hegemonialen „Wirs“. Zentral ist aber der rein negative Gehalt des konfliktiven Konsenses. „Demokratische BürgerInnen teilen […] die Negation gewisser Posi‐ tionen, die sie als mit Gleichheit und Freiheit inkompatibel erachten, bleiben sich aber mit Blick auf die Erfordernisse einer Realisierung dieser Prinzipien uneinig.“85 Es erscheint richtig, dass demokratische Kämpfe notwendigerweise (auch) in Bezug auf die verrechtlichten Prinzipien Freiheit und Gleichheit geführt werden. Allein deshalb hat die Institution des Rechts einen spezifischen Platz bei Mouffe. Aller‐ dings bleibt fraglich, ob Freiheit und Gleichheit tatsächlich ausschließlich mit nega‐ tivem Gehalt verrechtlicht werden (können). Mouffe hat wohl eine solche Verrechtli‐ chung im Blick, wenn sie schreibt, „daß die individuellen Rechte gegen die Tyrannei der Majorität oder gegen die Herrschaft […] des totalitären Staates“ schützen.86 Da‐ rüber hinaus steht aber der Nachweis noch aus, dass es möglich ist, Freiheit und Gleichheit ausschließlich in der Struktur von Nicht-Freiheit und Nicht-Gleichheit zu verrechtlichen. Allerdings steht mit der Vorgabe einer rein negativen Verrechtli‐ chung von Freiheit und Gleichheit ein Maßstab für die Komptabilität von Recht und agonaler Demokratietheorie im Anschluss an Mouffe zur Verfügung.87
3.1.3. Zwischenfazit: Klassische politische Institutionen bei Mouffe Es ist keineswegs so, dass klassische politische Institutionen bei Mouffe keine Auf‐ merksamkeit finden. Vielmehr wird erstens eine staatliche Organisation prinzipiell begrüßt. Zweitens werden dem Parlament und Parteien mit der Umwandlung des Antagonismus und Agonismus bedeutende Rollen in der agonistischen Demokratie 85 Ebda., S. 384. 86 Laclau/Mouffe 2000, S. 23. 87 Siehe zum Status des Rechts in der agonalen Demokratietheorie auch Lembcke in diesem Band.
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zugewiesen.88 Allerdings bleibt eine detaillierte Analyse aus. Oberflächlich oder nicht existent bleibt auch Mouffes Beschäftigung mit der Regierung und (Verfas‐ sungs-)Gerichten sowie mit der Institution des Rechts. Es ist also ein zweischneidi‐ ges Ergebnis: Hinsichtlich der klassischen politischen Institutionen ist Mouffe kein völliges institutionelles Defizit vorzuwerfen, aber sie nimmt weder eine Analyse oder Begründung dieser Institutionen noch eine systematische Befragung der Institu‐ tionen und der ihnen zugrunde liegenden Praktiken vor. Allerdings ermöglicht es der Fokus auf klassische politische Institutionen, die Rolle und Ausgestaltung dieser In‐ stitutionen im Anschluss an Mouffe systematisch weiterzuentwickeln. Im Folgenden soll zunächst mit der Brille der soziologischen Institutionentheorie auf Mouffes Theorie geblickt werden. Hierbei werden erstaunliche Gemeinsamkei‐ ten, aber auch Unterschiede sichtbar. Die Perspektive sozialer Institutionen im Sinne Göhlers zeigt, dass sich hegemoniale Formationen gewinnbringend als soziale Insti‐ tutionen verstehen lassen. Zuletzt wird die Bedeutung des Politischen bei Mouffe für eine Beschreibung wirklich politischer Institutionen herausgearbeitet und werden Maßstäbe der Kritik und Befragung von Institutionen benannt.
3.2 (Weitere) Befunde aus der Perspektive der vielfältigen Institutionenverständnisse 3.2.1 Hinweise aus der soziologischen Institutionentheorie und die sozialen Institutionen Mit Gehlen lässt sich zunächst nach einem anthropologischen Kern bei Mouffe fragen. Hier ist natürlich festzustellen, dass es bei ihr keine Bestimmung des We‐ sens des Menschen gibt bzw. geben kann. Eine solche Bestimmung widerspricht ihrer „nicht-objektivistischen und postessentialistischen Theorie der politischen In‐ stituierung des Sozialen“89. Bei Mouffe stellt sich die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht, weil sie direkt das Wesen des Sozialen bestimmt: Das Soziale ist diskursiv und durch (antagonistische) Hegemonien strukturiert.90 Das Soziale muss als eine „entscheidungs- und machtimmanente Stabilisierung von Sinn verstanden werden.“91 Innerhalb dieser Anlage kommt es dann auch zur Bestimmung des Subjektes – in einem anderen Sprachduktus könnte man auch vom Individuum sprechen. Bei
88 Zur Kritik an Mouffe mit diesem Fokus auf die klassischen politischen Institutionen in die Liberalismusfalle zu geraten, siehe Jörke und Held in diesem Band. 89 Flügel-Martinsen 2017, S. 20. 90 Laclau/Mouffe 2000, 175 ff.; Mouffe 2007, S. 43, 2010 [2007], S. 27. 91 Hildebrand/Séville 2015, S. 29.
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Mouffe (und Laclau) gibt es kein prädiskursives, kein vorsoziales Subjekt. Vielmehr wird die Kategorie des Subjekts als „,Subjektpositionen‘ innerhalb einer diskursiven Struktur [definiert] […]. Subjekte kön‐ nen demgemäß nicht der Ursprung sozialer Verhältnisse sein, nicht einmal in jenem beschränkten Sinn, daß sie mit Fähigkeiten ausgestattet sind, die eine Erfahrung ermög‐ lichen –, weil jegliche ,Erfahrung’ von präzisen diskursiven Bedingungen ihrer Möglich‐ keit abhängt.“92
In diesem Sinne können die von Gehlen identifizierten Bedürfnisse nach Dauer, Gemeinsamkeit und Sicherheit nicht von vornherein statuiert werden, sie werden vielmehr im Diskurs geschaffen. Zum einen wird hier deutlich, dass Überlegungen zu grundlegenden Eigenschaf‐ ten des Individuums in Mouffes Theorie nicht angelegt sind. Auf der anderen Seite macht Mouffe deutlich, dass ein Subjekt bzw. eine Subjektposition das Ergebnis unterschiedlicher Formen von Identifikation ist. Das Subjekt entsteht durch die Ein‐ bettung in fixierte Praktiken.93 Weil diese Praktiken hegemonial verstetigt sind, stel‐ len sie sich als Verhaltensmuster dar. Die Praxis der Artikulation als Grundlage des Diskurses umfasst die „gesamte materielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale und Praxen“94. Während also Verhaltensmuster bei Gehlen den Menschen entlasten und individuelles Verhalten erst ermöglichen, konstituiert sich bei Mouffe das Subjekt erst durch diese Verhaltensmuster. Es ist in diesem Sinne nicht das in‐ dividuelle Bedürfnis nach Stabilität, sondern eine konstitutive Bedingung des Sozia‐ len, die Verhaltensmuster notwendig macht. Allerdings entlasten Subjektpositionen bzw. die sie stützenden hegemonialen Formationen auch von der Notwendigkeit fallweiser Entscheidungsimprovisation. Mit Gehlen ließe sich der Blick auch auf die Frage richten, was psychologisch und auf der Affektebene im Moment des Zusammenbruchs einer durch den hegemo‐ nialen Diskurs fixierten Subjektposition passiert. Letztlich verweist diese Perspekti‐ ve auf das Problem, wie Kontingenzverstärkung (aufgrund hegemonialer Kämpfe) und die individuelle und kollektive Fähigkeit, Kontingenz auszuhalten und zu be‐ wältigen, ausgeglichen werden können. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es sowohl bei Gehlen mit den Institutionen als auch bei Mouffe mit dem hegemonialen Diskurs ein Phänomen gibt, welches Regulierungen, Einschränkungen und Limitierungen im eigenen Antriebsbereich (Gehlen) bzw. Vorstellungsbereich (Mouffe) vorgibt. Dabei verselbstständigen sich die Institutionen und die hegemonialen Diskurse gegenüber dem Menschen bzw. bringen überhaupt erst Subjekte hervor. Während man bei Geh‐ len nur von den Institutionen her handeln kann, kann das Subjekt bei Mouffe sogar nur durch den Diskurs entstehen. Auch wenn die Begründung und der beschriebene 92 Laclau/Mouffe 2000, S. 153. 93 Mouffe 2014, S. 268. 94 Laclau/Mouffe 2000, S. 146.
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Entstehungsprozess jeweils grundverschieden sind, weist das jeweilige Phänomen (Institution bzw. hegemoniale Formation) in Wirkung und Ergebnis doch erstaunli‐ che Ähnlichkeit auf. Darüber hinaus lenkt die gehlensche Bestimmung menschlicher Eigenschaften den Blick auf ein weiteres Phänomen bei Mouffe. Wie oben dargelegt, ist der Mensch bei Gehlen unter anderem durch ‚Plastizität‘, Weltoffenheit der Sinne sowie außerordentliche kulturelle Variabilität, Lern- und Anpassungsfähigkeit ge‐ kennzeichnet, welche durch Institutionen stabilisiert werden (müssen). Bei Mouffe zeichnen sich das Soziale und das Subjekt durch die grundsätzliche Kontingenz, die Unmöglichkeit der endgültigen Naht der Gesellschaft aus.95 Es ist diese grundsätzli‐ che Unfixiertheit des Sozialen, die durch den hegemonialen Diskurs temporär fixiert wird. Während die Offenheit bei Gehlen normativ ein Problem darstellt, wird sie bei Mouffe als Möglichkeit dargestellt, überhaupt erst Gesellschaftskritik üben und Diskursveränderungen herbeiführen zu können. Es eint sie aber das Bewusstsein für die Existenz einer Kraft, die die grundsätzliche Plastizität bzw. Kontingenz – zumindest auf Zeit – reduziert. Was ist mit der Feststellung dieser Unterschiede und Parallelen gewonnen? Ers‐ tens kann festgehalten werden, dass auch hier die Kritik eines grundsätzlichen insti‐ tutionentheoretischen Defizits die Theorieanlage von Mouffe nicht gänzlich trifft. Sowohl in der Konstruktion von Subjektpositionen als auch im Umgang mit Kontin‐ genz spielen Verhaltensmuster und verstetigte Praktiken als Teil des hegemonialen Diskurses eine wesentliche Rolle. Zweitens eröffnet die Perspektive soziologischer Institutionentheorie die Möglichkeit, über Voraussetzungen agonaler Demokratie‐ theorie nachzudenken: Welche Eigenschaften des Sozialen werden vorausgesetzt, welche müssen – etwa im Rahmen diskursiver Begründungen von Subjektpositionen – gefördert oder gar erschaffen werden und setzt eine solche ‚Erschaffung‘ nicht wiederum eine spezifische, vorgelagerte Instituierung des Sozialen voraus? Der Blick auf die Charakteristika sozialer Institutionen, wie sie in der politikwis‐ senschaftlichen Debatte definiert werden, offenbart dann Institutionen bei Mouffe. Meine These ist, dass hegemoniale Formationen sich als soziale Institutionen (im Sinne Göhlers) verstehen lassen: Hegemoniale Formationen und soziale Institutio‐ nen sind relativ stabil. Sie bestehen über einen längeren Zeitraum. In ihnen verfesti‐ gen sich Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster durch Äquivalenzen. Dabei wirken beide bewusst wie unbewusst auf Subjekte bzw. konstituieren diese sogar. Durch ihre diskursive Beschaffenheit wirken hegemoniale Formationen überpersönlich, was ebenso für soziale Institutionen gilt. Sie sind beide stark internalisiert und stellen Wert- und Sinnkonstruktionen bereit. Soziale Institutionen sind eine Mög‐ lichkeit der Verdichtung des Sozialen. Sie sind eine Variante der Anstrengungen,
95 Stäheli/Hammer 2016, S. 77.
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das unmögliche Objekt Gesellschaft zu instituieren. Es deckt sich mit den Charak‐ teristika sozialer Institution, wenn sich bei Mouffe eine erfolgreiche Hegemonie explizit durch eine Periode relativer Stabilität und der Schaffung eines breit geteilten ‚common sense‘ auszeichnet.96 Der hegemoniale Charakter von Diskursen konstitu‐ iert Ordnung und legt einen spezifischen geteilten, verfestigten Wahrnehmungsraum fest. Hegemoniale Verfahrensweisen etablieren Ordnung und legen die Bedeutung von gesellschaftlichen Institutionen fest.97 Somit stellen sich diese Hegemonien als soziale Institutionen dar. Nun verfolgt Mouffe ja gerade nicht die Verfestigung bestehender Hegemoni‐ en. Ein anderer Teil des Diskurses besteht immer auch in der Herausforderung festgelegter Bedeutungsmuster, „[j]ede hegemoniale Ordnung kann von kontrahege‐ monialen Verfahrensweisen in Frage gestellt werden, d. h. von Verfahrensweisen, die versuchen werden, die bestehende Ordnung zu disartikulieren, um eine andere Form von Hegemonie zu installieren“98 Mouffe fordert eine Gegenhegemonie auf‐ zubauen, welche die Institutionalisierung einer Hegemonie demokratischer Werte anstrebt.99Diese Hegemonie demokratischer Werte stellt sich im Ergebnis ebenso als Institution dar. Sie ist aber – und das gilt auch für soziale Institutionen – immer nur auf Zeit verstetigt und steht der Herausforderung offen.100 Hegemonien sind genauso sowie Gegenhegemonien insgesamt eine Variante einer sozialen Institution. Damit lässt sich festhalten, dass das Verhältnis von Institution und „Gegen-In‐ stitution“ bei Mouffe konzeptionell eingebaut ist. Gegenhegemonien fordern beste‐ hende Hegemonien heraus. Dabei können sich die zugrundeliegenden Verhaltensund Wahrnehmungsmuster widersprechen, überlagern, ergänzen oder auch untermi‐ nieren. Hierbei treten dann verschiedene Institutionen in eine Auseinandersetzung. Es wird grundsätzlich die Wandelbarkeit und die Neukonstituierung sozialer Institu‐ tionen fokussiert. Der Kampf um neue, „bessere“ Institutionen wird so hegemonieund diskurstheoretisch gerahmt.
3.2.2 Politische Institutionen in anderer Perspektive Für die Suche nach politischen Institutionen bieten sich nun zwei Perspektiven an. Erstens ist zu fragen, inwieweit politische Institutionen im Sinne des Politikver‐ ständnisses, welches auf die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher
96 97 98 99 100
Mouffe 1993, S. 53. Mouffe 2010, S. 27. Zur Bedeutung hegemonialer Diskurse siehe auch Wilde in diesem Band. Ebda.. Mouffe 1993, S. 18. Dabei kann der ‚leere Ort der Macht‘ sowohl totalitär als auch (radikal-)demokratisch besetzt werden (Laclau/Mouffe 2000, S. 210).
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Entscheidungen abzielt, bei Mouffe verhandelt werden. Zweitens ist dem spezifi‐ schen Politikverständnis Mouffes Rechnung zu tragen. Für die erste Perspektive wurde oben herausgearbeitet, dass – trotz der Über‐ schneidungen mit den klassischen politischen Institutionen – noch Spielraum für weitere, andere Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, ge‐ samtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen existiert. Es wurde auch gezeigt, dass Mouffe hegemoniale Verfahrensweisen betrachtet, die eine bestimmte Ordnung etablieren und die Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen festlegen.101 Diese nur teilweise und prekär fixierten Verfahrensweisen umfassen dann grundsätzlich auch die Regelsysteme der Herstellung und Durchführung allgemeinverbindlicher Entscheidungen. Darüber hinaus ist auch die zweite Funktion politischer Institutio‐ nen – die Integration hinsichtlich der Grundwerte des Gemeinwesens mit einem Mindestmaß an Identifikation und kollektiver Identität – für Mouffe von Bedeu‐ tung.102 Im Kontext ihres Vorschlags für eine plurale Bürgerschaftskonzeption plä‐ diert Mouffe für die Vereinbarkeit von (liberaler) Freiheit der Bürger*innen und einer (republikanischen) Gemeinschaftsorientierung.103 Sie fordert ein „ethico-politi‐ cal bond that creates a linkage among the participants in the association, allowing us to speak of a political community even if it is not in the strong sense.”104 Dieses ist an anderer Stelle mit dem konfliktiven Konsens über die politischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit beschrieben, welcher als Leitidee (Hauriou) interpretiert werden könnte.105 Die Schaffung und die Aufrechterhaltung eines solchen Bandes können nun gerade auch politischen Institutionen obliegen – zumindest könnten sich diese als Orte anbieten, an denen diese Funktion erfüllt wird. Von Mouffe erfahren wir aber nichts über die Schaffung eines solchen gemeinsamen Bandes. Neue, den aktuellen Verhältnissen kritisch gegenüberstehende Möglichkeiten der (notwendigen) Erzeugung pluraler und konfliktiver Bürgerschaft werden weder in‐ stitutionell noch – wie es etwa ihr Referenzautor Alexis de Tocqueville gemacht hat – hinsichtlich ihrer sittlichen Voraussetzungen ausgeleuchtet. Sie bleibt in ihrer „entschiedenen Unentscheidbarkeit“106 stecken. So deckt die Perspektive politischer Institutionen als Regelsysteme der Herstellung politischer Entscheidungen zwei Schwachstellen bei Mouffe auf. Zum einen kann oder will sie trotz der Thematisie‐ rung von Institutionen den notwendigen Moment der Entscheidung nicht institutio‐ nell weiterentwickeln. Zum anderen zeigt Mouffe nicht, wie sich ein Mindestmaß
101 Mouffe 2010, S. 27. 102 Hinsichtlich der ersten Funktion ist wohl festzustellen, dass Handlungsoptionen zwar durch den hegemonialen Diskurs eingeschränkt werden, allerdings keine zweckbestimmte Steue‐ rung damit verbunden ist. 103 Mouffe 1993, S. 60-74. 104 Ebda., S. 66. 105 Mouffe 2015, S. 105. 106 Lembcke 2012.
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an (pluraler) kollektiver Identität schaffen lässt. Wenn es um mögliche politische In‐ stitutionen als Regelsysteme der Entscheidungsfindung geht, bleibt letztlich nur ein Maßstab: Politische Institutionen müssen herausforderbar sein. Jede als endgültig begriffene Fixierung dieser Regelsysteme steht einem mit der mouffschen Theorie des Sozialen entwickelten Institutionenverständnis entgegen. Ihnen ist aus dieser Perspektive aufgegeben, neue Wahrnehmungen nicht grundsätzlich auszuschließen, sondern sich ihrer eigenen Zeitlichkeit und Kontingenz bewusst zu sein.107 In der zweiten Perspektive lässt sich mit dem spezifischen Politikverständnis Mouffes ein Kriterium für das Politische einer politischen Institution herausarbeiten. Grundsätzlich ist „das Problem des Politischen das Problem der […] der Definition und Artikulation sozialer Beziehungen auf einem kreuz und quer von Antagonis‐ men durchzogenen Feld.“108 Das Politische wird zum entscheidenden Modus und Austragungsort von Kämpfen um die Instituierung des Sozialen. Dem steht die Unterscheidung „des Politischen“ von „der Politik“ zur Seite: „Unter »dem Politischen« verstehe ich die Dimension des Antagonismus, die menschli‐ chen Verhältnissen inhärent ist, viele Formen annehmen kann und in unterschiedlichen Typen sozialer Verhältnisse entsteht. Auf der anderen Seite bezeichnet »Politik« das Ensemble von Praktiken, Diskursen und Institutionen, die eine bestimmte Ordnung zu etablieren versuchen und menschliche Ko-Existenz unter Bedingungen organisieren, die immer potentiell konfliktorisch sind, da sie von der Dimension »des Politischen« affiziert werden.“109
Politik und das Politische müssen also analytisch getrennt werden.110 Allerdings ist damit keine Rangordnung verbunden. Das Politische kann nur in der Politik auftreten.111 Das Politische und die Politik sind konstitutiv aufeinander angewiesen. Wenn man auf diese wechselseitige Bezogenheit aufbaut, wären politische Insti‐ tutionen diejenigen relativ auf Dauer gestellten, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, welche das Verhältnis des Politischen und der Politik aufrechterhalten bzw. wieder zum Leben erwecken. Also wahrhaft poli‐ tische Institutionen sind nur diejenigen Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, ggf. auch Organisationen und Regelsysteme, die „das Politische“ in „die Politik“ einbringen und die „Politik“ für „das Politische“ offenhalten. Es können also sowohl soziale Institutionen als auch die klassischen politischen Institutionen in diesem Sinne politisch oder unpolitisch sein. Die Affizierung durch die Dimension des Poli‐ tischen wird zum Maßstab von Institutionen als politisch. In diesem Sinne können dann etwa Parlamente, Parteien und auch das Recht politische Institutionen sein, sie 107 Die bislang einzige Institution, welche kritisches Denken und Kontingenzbewusstsein institu‐ tionalisiert habe, sei die Institution Wissenschaft, so Sievi in diesem Band. 108 Laclau/Mouffe 2000, S. 193. 109 Mouffe 2015, S. 102-103. 110 Hildebrand/Séville 2015, S. 30. 111 Mouffe 2014, S. 269.
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sind es aber keineswegs notwendiger Weise. Es gibt dann gleichzeitig Institutionen in „der Politik“, die keine politischen Institutionen sind. Im Anschluss an Mouffe wäre dann zu fragen, ob bekannte Institutionen politi‐ sche Institutionen sind. Hierzu bietet sich beispielhaft die Institution der direkten Demokratie als ein Regelsystem der Entscheidungsfindung an. Mouffe plädiert für eine Pluralität von Formen von Demokratie und betont deshalb: „direkte Demokratie kann, da sie nur für reduzierte soziale Räume geeignet ist, nicht die einzige Organi‐ sationsform sein“112 „Representative democracy is better suited in some cases, direct democracy in others“113. Es ist allerdings nichts zu den Kriterien der „Passung“ zu erfahren. Insgesamt ist Mouffes Schweigsamkeit hinsichtlich direktdemokratischer und partizipatorischer Verfahren auffällig – gerade im Vergleich zu ihrer Auseinan‐ dersetzung mit Parlament und Parteien. Ihre Einstellung zur direkten Demokratie als Volksgesetzgebung lässt sich also nur im Kontext ihrer allgemeinen Demokratie‐ theorie und ihres Politikbegriffs rekonstruieren.114 Für Mouffe müsste der Anspruch höherer Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen, welcher immer droht, Widerspruch grundsätzlich zu delegitimieren, ein Problem darstellen. Auch das sich stellende Problem der Essentialisierung eines Volkswillens läuft Mouffes pluraler Bürgerschaftskonzeption zuwider. Allerdings betont sie ja die Notwendigkeit tempo‐ rärer hegemonialer Formationen und die normative Schranke eines – niemals abge‐ schlossenen – Strebens nach Freiheit und Gleichheit. Direkte Demokratie als Volks‐ gesetzgebung kann wohl eine Möglichkeit einer hegemonialen Schließung sein. Wenn allerdings sowohl das Verfahren als auch die Entscheidung aufgrund ihrer direktdemokratischen Legitimation als abgeschlossen kodifiziert und diskursiv ein‐ gebettet sind, ist diese Institution nicht (mehr) politisch. Sobald direktdemokratische Entscheidungsmechanismen ihre Funktion als „Unruheherd“, als Möglichkeit der verstärkten politischen Gleichheit und intensiveren Teilhabe nicht erfüllen, schließen sie sich gegenüber der Dimension des Politischen. Die entscheidende Frage in der Beurteilung dieser Verfahren bleibt deshalb, ob sie ein dauerhaft geschlossenes Volk konstituieren, oder ob sie weiterhin der Revision und der Hinterfragbarkeit für eine mögliche Demokratisierung offenstehen. Dies führt zu einigen grundsätzlichen Fragen zur Beurteilung des Politischen einer Institution. Dabei sind sowohl die zugrunde liegende Regelungsstruktur als auch die Akteure betroffen: Inwieweit werden andere politische Positionen zugelas‐ sen und wie weit werden die Möglichkeiten genutzt, andere politische Impulse einzubringen? Wie inklusiv sind die Zugangsvoraussetzungen, etwa was „Staats‐ 112 Laclau/Mouffe 2000, S. 191. 113 Mouffe 1993, S. 104. 114 Hierzu werden Nonhoffs Überlegungen zur Verträglichkeit direktdemokratischer Partizipation und radikaler Demokratie analogisiert (Nonhoff 2013). Da dieser sein Verständnis radikaler Demokratie mit Jacques Rancière, Jacques Derrida und Ernesto Laclau generiert, sind die Schlussfolgerungen aber nicht direkt übertragbar.
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bürgerschaft“ betrifft, und sind diese dann tatsächlich sozial verankert? Wird die ei‐ gene hegemoniale Grundierung in der Regelungsstruktur mitreflektiert, etwa durch Geltungs- und Evaluationsfristen? Die Offenheit und der Konflikt des Politischen müssten sich dann auch in den individuellen und kollektiven Verhaltensmustern ver‐ festigen. Ob die hierfür notwendige „Kontingenzaushaltekompetenz“ vorhanden ist, bleibt abzuwarten.
4. Fazit Der Ausgangspunkt dieses Beitrages war eine defizitäre Debatte hinsichtlich des institutionellen Defizits agonaler Demokratietheorien. Es braucht ein Verständnis des Begriffs der Institution, um erstens eine spezifischere Diagnose des institutio‐ nellen Defizits agonaler Demokratietheorien vornehmen und zweitens Maßstäbe der Institutionenkritik und -befragung bestimmen zu können. Weil der sozialwissen‐ schaftliche Institutionenbegriff sich einer Vereindeutigung entzieht, wurde hier eine Heuristik der Vielfalt der Institutionenverständnisse entwickelt. Für die agonistische Demokratietheorie Chantal Mouffes folgt daraus hinsichtlich des institutionellen Defizits ein ambivalenter Befund. Der klassischen politischen Institution des Parla‐ ments wird eine spezifische Rolle in der Verarbeitung von „der Politik“ und „des Politischen“ zugewiesen. Auch Parteien als klassische Institutionen haben hinsicht‐ lich der Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten und im Zusammenspiel mit außerparlamentarischen Akteuren eine zentrale Funktion für die Vermittlung des Politischen. Das institutionelle Defizit besteht hier darin, dass die relevanten institu‐ tionellen Folgen und Voraussetzungen nicht thematisiert werden. So ist auch keine umfassende Befragung dieser klassischen Institutionen möglich. Allein die Parteien werden bezüglich ihrer fehlenden Unterscheidbarkeit kritisiert. Mit der Bestimmung der Rolle des Parlaments ist eine implizite Kritik bestimmter parlamentarischer Verfahren verbunden, allerdings bleibt diese unscharf. Die klassische Institution der Regierung bleibt völlig im Dunkeln, während Gerichten ein wenig Aufmerksam‐ keit zukommt. Dabei steht die Kritik einer unpolitischen Verfasstheit von (Verfas‐ sungs-)Gerichten im Fokus. Hierzu wurde aber auch gezeigt, dass Gerichte – sofern sie (selbst-)begrenzt sind – auch die Rahmenbedingungen des politischen Kampfs um Hegemonie schützen können. Ein zentrales Argument gegen die These vom in‐ stitutionellen Defizit bieten die Hinweise aus der soziologischen Institutionentheorie und die strukturellen Ähnlichkeiten von sozialen Institutionen und hegemonialen Formationen. Demnach sind Verhaltensmuster, verstetigte Praktiken und die fallwei‐ se Entlastung von Entscheidungen grundlegender Bestandteil der hegemonie- und diskurstheoretisch begründeten Theorie des Sozialen.
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Mit Blick auf Maßstäbe einer Befragung und Kritik sozialer und politischer Insti‐ tutionen wurde die Bedeutung des agonalen Politikverständnisses hervorgehoben. Es eröffnet die Frage nach dem politischen Wesen von Institutionen, sowohl in Bezug auf bestehende Institutionen als auch in Bezug auf mögliche institutionelle Innova‐ tionen. Darüber hinaus könnte eine hegemonietheoretisch verstandene Institution es ermöglichen, das Verhältnis von Institution und „Gegen-Institution“ besser zu bestimmen. So ist z.B. das Verhältnis von klassischen politischen Institutionen und relativ auf Dauer gestellten, freitäglichen Demonstrationen möglicherweise als ein Kampf um Hegemonie zu verstehen. Auch andere Formen partizipatorischer Demo‐ kratie, wie die institutionalisierten Meinungsbildungs- und Entscheidungsverfahren von Citizen Councils oder Bürgerhaushalten, sind dann als hegemoniale Kämpfe zu erfassen.115 Der Maßstab des Politischen für Institutionenkritik und -innovationen könnte die Anschlussfähigkeit agonaler Demokratietheorien in verschiedenen politikwissen‐ schaftlichen Teildisziplinen erhöhen. Etwa im Bereich Institutionenwandel könnte es Anknüpfungspunkte geben. Das Phänomen des institutionellen Wandels ist in der Institutionenforschung zum Teil unterbelichtet, changiert zwischen revolutionärem und evolutionärem Wandel und bleibt häufig dem Theorem der Pfadabhängigkeit verpflichtet.116 Wenn sich Hegemonie und Gegenhegemonie als Institutionen dar‐ stellen lassen, könnte damit auch der Wandel von Institutionen adäquater gefasst werden. Mit einer hegemonie- und diskurstheoretisch begründeten Vorstellung von institutionellem Wandel rückt etwa die Fragilität der Institution, ihre Einbettung in den Diskurs und die Bedeutung von Subjektpositionen sowie ihre dezidiert poli‐ tische Gründung und Herausforderung in den Fokus. So könnte die Diskurs- und Hegemonietheorie Überlegungen zur Dynamik politischer Institutionen mit relevan‐ ten Kategorien ergänzen.117 Die Vielfalt der Institutionenverständnisse hilft auf unterschiedlichen Ebenen, die Stellung der Institutionen in der agonalen Demokratietheorie präziser auszuleuchten. Sie eröffnet neue Perspektiven auf die Bedeutung von Verhaltensmustern, den Staat, klassische politische Institutionen und weitere demokratische Institutionen. Als Aus‐ blick bleibt aber auch die Frage, wie unter der Bedingung temporärer hegemonialer Verstetigung ein Schließen der letzten Naht, der letzten Differenz verhindert werden kann? Wie können die Beschränkungen hegemonialer Formationen kritisch hinter‐ fragt werden? Und wie kann die Institutionalisierung der Institution Gegenhegemo‐
115 Zu Bürgerhaushalten im Anschluss an Mouffe, siehe Westphal 2017b, S. 124. 116 Göhler 1997; Streeck/Thelen 2010; North 1990. 117 Zu Dynamik politischer Institutionen, siehe Nedelmann 1995.
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nie derart gestaltet werden, dass sie dem eigenen Anspruch einer wiederkehrenden Kritisier- und Überwindbarkeit gerecht wird?
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Demokratische Repräsentation
Steffen Herrmann Agonale Institutionen. Für einen radikaldemokratischen Republikanismus
Agonale Demokratietheorien haben konflikthafte Auseinandersetzungen um die Ordnung des politischen Gemeinwesen in das Zentrum der politischen Theoriebil‐ dung gerückt. In den Fokus ist dabei vor allem die Frage getreten, wer überhaupt als politisches Subjekt zählt und dazu befähigt ist, seine Stimme im politischen Prozess zu erheben. Heute speisen sich agonale Demokratietheorien vor allem aus zwei Strömungen. Einer angelsächsischen, agonistischen Strömung, die mit Namen wie William Connolly, James Tully oder Bonnie Honig verknüpft ist, und einer fran‐ kophonen, radikaldemokratischen Strömung, zu deren Hauptfiguren unter anderem Jacques Rancière, Alain Badiou und Miguel Abensour zählen.1 Gleich nun, welcher der beiden Strömungen man konkret anhängt, wird man sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, dass die agonale Demokratie an einem institutionellen Defizit leidet.2 Sowohl Kritiker_innen als auch Sympathisant_innen der agonalen Demokra‐ tietheorie heben nämlich hervor, dass diese bisher nur wenig über die institutionelle Ausgestaltung eines demokratisch verfassten Gemeinwesens zu sagen hat, weil sie entweder die bestehende Institutionenordnung für eine Wiederbelebung des Streits als mehr oder weniger ausreichend erachtet oder sich damit begnügt, die Kontingenz der politischen Ordnung auszustellen, ohne deutlich zu machen, was daraus für die institutionelle Verfassung politischer Gemeinwesen folgt. Ausgehend von dieser Diskurslage nehmen derzeit die Versuche zu, die agonale Demokratietheorie institutionentheoretisch zu fundieren und mit konkreten politi‐ schen Perspektiven zu verbinden.3 In diesem Geiste möchte ich hier eine agonale 1 In Bezug auf die Benennung der beiden hier genannten Strömungen bieten sich unterschiedli‐ che begriffliche Strategien an: Wenman 2013 unterscheidet strikt zwischen agonalen und radi‐ kaldemokratischen Demokratietheorien und betont deren Differenzen. Comtesse/Flügel-Martin‐ sen/Martinsen/Nonhoff 2019 dagegen betonen die Gemeinsamkeiten beider Strömungen und subsumieren beide unter den Begriff der radikalen Demokratietheorie. Ich wähle hier die um‐ gekehrte Strategie und fasse beide Strömungen unter den Oberbegriff der agonalen Demokratie‐ theorie, um den Konflikt (agon) als gemeinsames Element deutlich zu machen. Um zugleich die Unterschiede zwischen beiden Strömungen im Nachdenken über die Beschaffenheit von Konflikten benennen zu können, verwende ich für die angelsächsische Strömung den Begriff der agonistischen, für die frankophone Strömung dagegen den Begriff der radikalen Demokrati‐ etheorie. 2 Vgl. Jörke 2004, S. 182; Schaap 2006, S. 270; Hirsch 2007, S. 186/154; Howarth 2008, S. 189; Kalyvas 2009, S. 34; Fossen 2012, S. 331; Volk 2013; McNay 2014; Wallaschek 2017, S. 4. 3 Vgl. Flatscher/Herrmann 2020, Lowndes/Paxton 2018, Westphal 2018, Wingenbach 2011.
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Institutionentheorie skizzieren, die sich aus den Traditionen der Radikaldemokratie und des Republikanismus speist, und für das Konzept eines radikaldemokratischen Republikanismus plädieren.4 Unter Radikaldemokratie verstehe ich dabei die oben genannte frankophone Spielart der agonalen Demokratietheorie. Diese, so möchte ich zeigen, ist ebenso wie der Republikanismus auf das Ideal der Freiheit als NichtBeherrschung ausgerichtet. Daraus ergibt sich eine produktive Verbindungslinie, die es erlaubt, die republikanischen Überlegungen zu einem kontestativen Institutionen‐ gefüge als theoretische Verlängerung der radikaldemokratischen Infragestellung der politischen Ordnung der Gesellschaft zu verstehen. Daraus, so meine These, resul‐ tiert das Konzept eines radikaldemokratischen Republikanismus, der sich am Ideal der Freiheit als Nicht-Beherrschung orientiert und sich auf die Einbeziehung minori‐ tärer Perspektiven in den politischen Prozess mittels kontestativer Institutionen ver‐ pflichtet. Mein Plädoyer für einen radikaldemokratischen Republikanismus möchte ich in vier Schritten entwickeln. Im ersten Teil werde ich den Ansatz der radikalen Demokratietheorie und das von ihm in Anschlag gebrachte Prinzip der Freiheit als Nicht-Beherrschung am Beispiel der Überlegungen von Miguel Abensour auf‐ zeigen. Wir werden dabei sehen, dass das institutionentheoretische Potential dieser Überlegungen zwar anerkannt wird, jedoch weitestgehend unausgeschöpft bleibt (1). Im zweiten Teil werde ich dann ausgehend von Philip Pettits Konzeption eines zeit‐ genössischen Republikanismus zeigen, wie die Idee der Freiheit als Nicht-Beherr‐ schung mittels kontestativer Institutionen umgesetzt werden kann. Dabei wird sich zeigen, dass Pettit die radikaldemokratischen Anschlusspotentiale seines Ansatzes zugunsten einer Depolitisierung und Entdemokratisierung des politischen Prozesses verschenkt (2). In einem dritten Schritt werde ich die unausgeschöpften Potentiale von Radikaldemokratie und Republikanismus dann zusammenführen und einen Vor‐ schlag für ein agonales Institutionendesign machen, das sich an Iris Marion Youngs Konzept der deskriptiven Gruppenrepräsentation orientiert (3). Im Anschluss daran werde ich dann einige theoretische und praktische Herausforderungen diskutieren, vor die sich eine Konzeption der agonalen Institutionen gestellt sieht (4), bevor ich abschließend die Grundlinien eines radikaldemokratischen Republikanismus skizzie‐ re (5).
4 Dass zwischen radikaler Demokratietheorie und der republikanischen Tradition eine produktive Verbindungslinie besteht, heben ebenso Niederberger 2009, Richter 2016 und Comtesse 2019 hervor.
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1. Idee und Grenze der radikalen Demokratietheorie Radikale Demokratietheorien nehmen ihren Ausgangspunkt zumeist von der ‚politi‐ schen Differenz‘, wie sie seit Anfang der 1980er Jahre in Frankreich von Claude Lefort, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Alain Badiou, Cornelius Castoriadis oder Jacques Derrida erarbeitet worden ist. Ein Gründungsmoment für die Entstehung dieses Denkens der Differenz ist die Einrichtung des Centre de recherches philoso‐ phique sur le politique im Jahr 1980. Der Name des Zentrums ist dabei Programm: Mit der Betonung von ‚le politique‘ im Gegensatz zu ‚la politique‘ soll nämlich deutlich gemacht werden, dass im Mittelpunkt der Forschung nicht ‚die Politik‘, sondern ‚das Politische‘ steht.5 Auch wenn diese Unterscheidung von den Protago‐ nisten im Einzelnen ganz unterschiedlich gefasst wird, meint sie der Sache nach doch jeweils, dass sich von der Politik als Sphäre der geregelten institutionellen Auseinandersetzung über Sachfragen das Politische als ein Gegenstandsfeld unter‐ scheiden lässt, in dem es um die Konstitution des Raums der Politik geht – etwa in Form der Auseinandersetzung um die Frage, was überhaupt als Sachfrage zu gelten hat und wer als politisches Wesen zählt. Mit dem Fokus auf das Politische wird also die Ontologie einer Gesellschaft zum Thema, die in der Politik je schon vorausgesetzt wird. Die politischen Ereignisse, auf welche sich die Theoretiker des Politischen fokus‐ sieren, sind dabei meist jene disruptiven geschichtlichen Momente, in denen neue politische Protagonisten und Themen auf die politische Bühne treten: Bevorzugt sind das etwa die französische, die amerikanische oder die russische Revolution oder soziale Bewegungen der Vergangenheit und Gegenwart wie etwa die Suffragetten-, Student_innen- oder Occupy-Bewegung.6 Die mit diesen Ereignissen verbundenen Kämpfe um Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind mit weitreichenden Verände‐ rungen in unserer Ontologie verbunden, insofern sie Akteure und Gegenstände in die politische Welt gebracht haben, die zuvor so noch nicht existierten. Der Fokus auf solche extraordinären geschichtlichen Momente hat gleichwohl seinen Preis. Er geht mit einem Begriff von Politik einher, der diese als bloße bürokratische Sachverwaltung des Bestehenden versteht, wodurch das Nachdenken über politische Kämpfe innerhalb des Bestehenden und die Frage, wie politische Institutionen das widerständige Handeln von minoritären Subjekten befördern können, gänzlich aus dem Blick geraten ist. Ich möchte diese Tendenz hier kurz an den Überlegungen von Miguel Abensour deutlich machen.
5 Einen Überblick über die Diskussion liefern die Editionen von Bedorf/Röttgers 2010, Hetzel/ Flügel/Heil 2004, Bröckling/Feustel 2010, sowie die Monographien von Marchart 2010 und Flügel-Martinsen 2017. 6 May 2010, Volk 2018.
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Bei Abensour findet sich die Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik in seiner begrifflichen Unterscheidung zwischen der „rebellierenden De‐ mokratie“ (démocratie insurgeante) und der „streitbaren Demokratie“ (démocratie insurectionnelle) wieder.7 Während die streitbare Demokratie den Konflikt innerhalb des Staates austrägt, siedelt die rebellierende Demokratie den Konflikt außerhalb des Staates im Kampf gegen ihn an. Exemplarisch kommt diese Idee bereits im Titel seiner einschlägigen Monographie Demokratie gegen den Staat zum Ausdruck. Abensour will diesen Titel in zwei Hinsichten verstanden wissen: Zum einen dahin‐ gehend, dass die Demokratie nicht mit dem Staat gleichzusetzen ist, da sie nur in Differenz zu ihm existiert; und zum anderen dahingehend, dass die Demokratie nicht jenseits des Staates zu verorten ist, sondern in einer fortwährenden Bewegung gegen ihn. Die Idee, dass Sinn und Zweck des Demokratischen in der fortwähren‐ den Kontestation des staatlichen Ordnungsgefüges bestehen, sieht Abensour dabei neben Karl Marx’ Konzeption der ‚wahren Demokratie‘ vor allem in Claude Leforts Konzept der ‚wilden Demokratie‘ entwickelt, weshalb sich sein eigenes Denken in einem beständigen Dialog mit diesen beiden Denkern befindet. Mit Lefort geht Abensour zunächst davon aus, dass sich das menschliche Ge‐ meinwesen ausgehend von einer „ursprünglichen Teilung“ konstituiert.8 Gemeint ist damit zunächst einfach, dass menschliche Gemeinschaften aus einer Vielzahl von Teilen im Sinne einer Pluralität von Akteuren bestehen, von denen ein jeder andere Antriebe, Interessen oder Wertvorstellungen verfolgt. Diese Vielzähligkeit der Teile hat für Lefort zur Folge, dass „der Ort der Macht“ in der Demokratie „zu einer Leerstelle“ geworden ist.9 Damit soll gesagt sein, dass demokratische Gesellschaften keine substantielle Grundlagen mehr kennen, die ihnen als Konstruktionsprinzipien für die Ordnung der Gesellschaft dienen, sondern dass sie sich allein auf jene Prinzipien stützen, die sie sich selbst geben. Weil sich die Selbstinstituierung der Gesellschaft dabei auf ganz unterschiedliche Weise vollziehen kann, ist sie immer auch ein strittiges Unternehmen. Die Bedeutung der Demokratie liegt daher darin, den Streit am Grunde der Gesellschaft anzuerkennen. Ihren Gegenpol bildet dabei der Totalitarismus, der nur eine Welt kennt, die er ausgehend von Prinzipien wie Rasse, Nation oder Religion zu begründen versucht. Der Unterschied zwischen demokratischer und totalitärer Politik besteht also darin, dass einmal auf eine nichtidentitäre und einmal auf eine identitäre Form des Volkes Bezug genommen wird, von der aus das Gemeinwesen gegründet wird. Demokratische Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie den leeren Ort der Macht anerkennt. Sie ist ohne Fundament, da sie Ordnung nicht auf überpersönlichen Mächten, denen sich die Vielen dann
7 Abensour 2012, S. 27. 8 Abensour 2012, S. 231. 9 Lefort 1990, S. 293.
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nur zu fügen haben, gründen will, sondern allein auf jener Macht, die durch die Vereinigung der Vielen selbst hervorgebracht wird. In einem nächsten Schritt spitzt Abensour nun Leforts Charakterisierung des Totalitarismus dahingehend zu, dass er davon ausgeht, dass jeder Staatsform, gleich ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, ein totalisierendes Moment innewohnt. „Die Staats-Form verselbstständigt sich, entfaltet ihre eigene Logik, bis sie in ihrer Arroganz die Quelle vergisst, der sie entspringt.“10 Einmal durch eine Verfassung ins Leben gerufen, tendiert der Staat dahin, sich zu verselbstständigen und es drohen Herrschaft und Beherrschung zu seinem letzten Zweck zu werden. Nicht Herrschaft im Dienst der Menschen, sondern Herrschaft über Menschen wird dann zum Telos des Regierens. Zudem wird die politische Macht des Demos, die den Staat überhaupt erst ins Leben gerufen hat, in jenem Moment vergessen, in welchem der Demos im Zuge der Verfassungsgebung der Staatsmacht untergeordnet wird. Abensour spricht diesbezüglich von einer „Verobjektivierung“.11 Der Staat verschleiert also nicht nur seinen politischen Ursprung, sondern trägt zugleich auch zu einer Entpolitisierung des Demos bei. Versteht man den Staat nun derart als eine Instanz der Verobjek‐ tivierung und der Herrschaft, dann ist klar, wieso Abensour ihn als „Organ des Untergangs“ der Demokratie bezeichnen kann.12 Indem er die ursprüngliche Teilung der Gesellschaft aufhebt, trocknet er die Quelle des demokratischen Lebens aus. Ist der Staat nun einmal als Organ des Untergangs der Demokratie gefasst, fällt es leicht, die „rebellierende Demokratie“ als ein gegen-staatliches Unternehmen zu fassen, das sich sowohl gegen die Logik der Herrschaft als auch gegen die Verobjek‐ tivierung des Demos richtet. Dies wird dort möglich, wo sich der Demos in seiner Pluralität zur Geltung bringt und dadurch den politischen Aushandlungscharakter des Zusammenlebens aufscheinen lässt, ersteres dagegen dort, wo dem Staat im Gegen-Handeln vor Augen geführt wird, dass die Souveränität des Demos nicht auf die Souveränität des Staates reduziert werden kann. Exemplarisch kommen diese beiden Dimensionen der rebellierenden Demokratie im zivilen Ungehorsam zum Ausdruck, in dem sich ein Teil des Demos politisch absondert, um sich im Namen der Demokratie gegen staatliche Politiken zu wenden. In solchen Formen des widerständigen Handelns bringt sich nicht nur die ursprüngliche Vielzähligkeit des Demos zum Ausdruck, sondern es wird ebenso sichtbar, dass die Legitimität staatlichen Handelns in letzter Instanz in der konstituierenden Macht des Demos wurzelt.13 An den eben skizzierten Überlegungen von Abensour lassen sich nun exempla‐ risch einige Schwierigkeiten der radikalen Demokratietheorie festmachen. Zunächst 10 11 12 13
Abensour 2012, S. 209. Abensour 2012, S. 133. Abensour 2012, S. 211. Celikates 2010.
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stellt sich die Frage, ob die Behauptung, dass jeder Staatsform ein totalisierendes Moment innewohnt, hinreichend gerechtfertigt werden kann. Zu fragen wäre, ob Abensour, indem er den Staat pauschal der Demokratie gegenüberstellt, nicht genau jenes bekannte Denkschema der westlichen Metaphysik der Etablierung von hierar‐ chischen Gegensatzpaaren wiederholt, welches vor allem das dekonstruktive Denken immer wieder hinterfragt hat. In der einfachen Entgegensetzung von Demokratie und Staat geht ja gerade die Vielfalt der theoretischen Zugriffsweisen als auch die Berücksichtigung ihres komplexen Wechselverhältnisses verloren. Zudem führt die konzeptionelle Konstellierung der Begriffe dazu, dass die Untersuchung der supple‐ mentären Rolle des sekundären, abgewerteten Terminus vernachlässigt wird.14 Weit davon entfernt, die Untersuchung zwischen der rebellierenden und der streitbaren Demokratie damit für überflüssig zu erklären, fragt diese Kritik vielmehr danach, ob sich die rebellierende Demokratie institutionalisieren und in eine Staatsform überführen lässt. Wir hätten es dann mit einer wahrhaft demokratischen Staatsform zu tun, die aus sich heraus der Verobjektivierung des Demos und der Verselbststän‐ digung von Herrschaft vorbeugt. Mit den skizzierten Einwänden setzt sich Abensour im bedeutenden Vorwort von 2008 zur italienischen Ausgabe von Demokratie gegen den Staat auseinander. Auf den Einwand, dass seine radikaldemokratischen Überlegungen die Frage der demo‐ kratischen Institutionen völlig unberücksichtigt lassen würden, antwortet er hier, dass es tatsächlich eine „Übersimplifizierung wäre, das Verhältnis von Rebellion und Institution allein als eines des Antagonismus zu denken“.15 Eine Kontinuität zwischen beiden Bereichen sieht er da gegeben, wo Verfassungen das Recht des Demos auf Widerstand anerkennen. Dass sich dieses Recht heute nicht nur in der universalen Erklärung der Menschenrechte, sondern auch in der Verfassung einiger europäischer Staaten findet, ist bereits ein erster Hinweis darauf, dass die prokla‐ mierte Entgegensetzung zwischen Staat und Demokratie nicht so einfach aufgeht. Noch klarer wird es, wenn Abensour zugesteht, dass die rebellierende Demokratie nicht allen Formen der Institutionalisierung feindlich gegenübersteht, sondern viel‐ mehr zwischen jenen Institutionen unterscheidet, welche die Fähigkeit zum politi‐ schen Handeln fördern, und jenen, die diese Fähigkeit hemmen. Entsprechend hält er fest: „Es gibt keinen systematischen Widerspruch zwischen rebellierender Demo‐ kratie und Institutionen solange die letzteren im Dienste der Nicht-Beherrschung stehen und das Begehren der Mächtigen zu herrschen im Zaum halten.“16 Damit formuliert er aber letztlich nur das Programm jenes zeitgenössischen Republikanis‐ mus, der sich im Anschluss an die römische Tradition die Verteidigung der Frei‐ heit der Bürger_innen im Sinne der Nicht-Beherrschung zur Aufgabe gemacht hat. 14 Derrida 1974. 15 Abensour 2011, S. xxv. 16 Abensour 2012, S. xxvi.
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Die der Nicht-Beherrschung verschriebene radikale Demokratie scheint daher im auf Nicht-Beherrschung gegründeten Republikanismus ihre Fortsetzung zu finden. Ent‐ sprechend möchte ich vorschlagen, einen solchen Republikanismus als institutionen‐ theoretische Verlängerung des Projekts der radikalen Demokratietheorie zu begrei‐ fen.
2. Idee und Grenze des kontestativen Republikanismus Philip Pettit darf als einer der prominentesten Vertreter eines zeitgenössischen Republikanismus gelten. Ausgehend von dem Konzept der Freiheit als Nicht-Be‐ herrschung hat er ein komplexes Modell des demokratischen Staates entwickelt.17 Demokratie und Staat sind bei ihm einander nicht entgegengesetzt, vielmehr findet die Demokratie im Staat überhaupt erst ihren angemessenen Ausdruck, weil nur dieser eine politische Organisationsform sicherstellen kann, in der alle Bürger_innen im gleichen Maße Einfluss und Kontrolle ausüben können. Das ist notwendig, weil gegenstaatliche Formen des politischen Handelns immer mit der Gefahr der Mobbildung und der Tyrannei der Mehrheit verbunden sind. Gerade heute in Zeiten des Populismus zeigt sich, dass Proteste von sozialen Bewegungen nicht immer im Namen der Inklusion geführt werden müssen, sondern ebenso gut Exklusivität zum Ziel haben können.18 Die Organisationsform des demokratischen Staates steht für Pettit daher im Gegensatz zu Abensour nicht im Zeichen der Herrschaft, sondern sie dient gerade umgekehrt als Schutzwall gegen willkürliche Herrschaft und Unter‐ drückung. Freilich sind Pettits Überlegungen nicht ganz unproblematisch, insofern sie zur Realisierung dieses Ziels Mittel vorsehen, die genau dem von Abensour erhobenen Vorwurf der Verobjektivierung Vorschub leisten. Damit deutet sich schon an, dass die Versöhnung von Radikaldemokratie und Republikanismus nicht nur eine konzeptionelle Transformation auf Seiten der ersten, sondern auch auf Seiten des letzteren benötigt. Zunächst jedoch gilt es, Pettits Modell des demokratischen Staates zu rekonstruieren. Gegen jene Tradition, die den Staat als Ausdruck einer Zwangsgewalt versteht, welche die natürliche Freiheit der Individuen je schon beschränkt, argumentiert Pet‐ tit dafür, dass der Staat Ausdruck und Realisierung von Freiheit sein kann. Um dies deutlich zu machen, konfrontiert er das Konzept der Freiheit als Nicht-Einmischung, wie wir es in der liberalen Tradition seit Hobbes finden, mit dem Konzept der Freiheit als Nicht-Beherrschung, das seinen Ursprung im republikanischen Denken Machiavellis hat. Während in der liberalen Tradition Herrschaft mit Nicht-Einmi‐ schung gleichgesetzt wird, macht die republikanische Tradition geltend, dass sich 17 Pettit 1997. 18 Müller 2016.
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Herrschaft durch die Möglichkeit zur willkürlichen Beeinflussung auszeichnet. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens können mit dem Konzept der Freiheit als Nicht-Be‐ herrschung auch paternalistische Formen der Herrschaft thematisiert werden, die nicht über Zwang, sondern über andere Formen der Beeinflussung ausgeübt werden. Pettit führt diesbezüglich zumeist die Figur des benevolenten Herrn ins Feld, der seinen Knecht selbstständig handeln lässt, sich jedoch vorbehält, in dessen Handlun‐ gen zu intervenieren, sollten sie nicht mehr in seinem Sinne sein.19 Ähnlich wie ein Reiter dem Pferd die Zügel solange schießen lässt, wie dieses in die von ihm ge‐ wünschte Richtung läuft, lebt auch der Knecht unter beständigem Kontrollvorbehalt und daher in einem Zustand der Unfreiheit. Zweitens kann mit dem Konzept der Freiheit als Nicht-Beherrschung deutlich gemacht werden, dass nicht jede Form der Einmischung – etwa durch staatliche Eingriffe – als Herrschaft qualifiziert werden muss, sondern nur jene, die auf arbiträrer Basis erfolgt. Arbitrarität meint dabei nicht bloß die Ausübung willkürlicher Verfügungsgewalt, sondern ganz allgemein die Anwesenheit eines fremden, bemächtigenden Willens.20 Nicht die aktuelle oder potentielle Abwesenheit von äußerer Einflussnahme, sondern die Frage, in welchem Maße eine solche Einflussnahme den Willen der betreffenden Person berücksichtigt, bildet den Maßstab zur Bemessung von Freiheit als Nicht-Beherrschung. Dort, wo staatliche Gesetze und Regelungen nun für sich beanspruchen können, den Willen der ihnen Unterworfenen angemessen berücksichtigt zu haben, stehen sie nicht im Gegensatz zur Freiheit der Individuen, sondern sind vielmehr Teil von deren Reali‐ sierung. Die republikanische Aufhebung der liberalen Entgegensetzung von Freiheit und Einmischung eröffnet ganz neue Möglichkeiten, über den demokratischen Staat nachzudenken. Dieser, so Pettit, beruht grundsätzlich auf zwei Funktionsrollen der Bürger_innen: der Rolle der Autorschaft, in welcher sie sich vermittelt über politi‐ sche Repräsentanten selbst ihre Gesetze geben, und der Rolle der Editorschaft, in welcher sie sich all jener Mechanismen bedienen, mit denen die faktischen Entschei‐ dungen des politischen Betriebs auf ihre Legitimität hin geprüft und hinterfragt werden können. Editorschaft ist dabei ein Schutzwall der Freiheit im Sinne der Freiheit als Nicht-Beherrschung, insofern hier geprüft werden kann, ob Gesetze und Verordnungen die erklärten Interessen der Bürger_innen angemessen berücksichtigt haben. Berücksichtigung heißt dabei freilich nicht, dass alle Interessen einbezogen werden müssten und Politik nur als großer Interessenkompromiss möglich sei, sondern vielmehr, dass bei der Auseinandersetzung um bestimmte Politiken alle Positionen zur Kenntnis genommen werden. Eine angemessene Berücksichtigung kann daher auch dort stattgefunden haben, wo die Interessen und Wünsche einer be‐ stimmten Bevölkerungsgruppe zwar zur Kenntnis genommen wurden, jedoch nicht 19 Pettit 1999, S. 165. 20 Pettit 2012, S. 58.
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zur Umsetzung gelangt sind. In solchen Fällen, so Pettit, bedeutet sich einer Politik unterzuordnen nicht, beherrscht zu werden, sondern einfach Pech gehabt zu haben, dass die eigene Position im politischen Prozess nicht hinreichend anschlussfähig war.21 Der Umstand, in der Willensbildung berücksichtigt worden zu sein, ist daher von dem Umstand, sich in der Willensbildung durchgesetzt zu haben, streng zu unterscheiden. Demokratische Editorschaft bildet nun deshalb einen notwendigen Gegenpol zu demokratischer Autorschaft, weil letztere stets in der Gefahr steht, in Herrschaft umzuschlagen. Zwei Formen solcher Herrschaft lassen sich dabei unterscheiden: Die Tyrannei der Minderheit und die Tyrannei der Mehrheit. Erstere findet sich dort, wo sich politische Eliten von ihrer Wählerschaft abkoppeln und ihre eigenen Sonderinteressen verfolgen oder sich von einflussreichen Lobbygruppen vereinnah‐ men lassen. Letztere findet sich dort, wo eine Gruppe ihre Partikularinteressen durchsetzt, ohne auf die erklärten Interessen anderer Mitglieder ausreichend Rück‐ sicht zu nehmen. Eine solche Tyrannei kann unterschiedliche Gründe haben: Es kann sich um epistemische Blindheit handeln, die dort zum Tragen kommt, wo eine Mehrheit übersieht, dass die von ihr verabschiedeten Politiken für eine Minderheit mit gravierender Benachteiligung verbunden sind. Pettit führt diesbezüglich den Fall an, in dem eine Mehrheit von Menschen kein offenes Feuer mehr zu Hause verwendet und sich aus Umweltgründen dazu entschließt, dieses zu verbieten, dabei jedoch unberücksichtigt lässt, dass eine kleine, arme Minderheit immer noch auf diese Heizmethode angewiesen ist.22 Eine zweite Form der Tyrannei der Mehrheit kann dort entstehen, wo exzessive Leidenschaften vernünftige Entscheidungen ver‐ hindern oder untergraben. Pettit führt diesbezüglich ein relativ gut funktionierendes Strafrechtssystem an, das im Zuge eines spektakulären Falls, der große mediale Aufmerksamkeit erregt, unnötig verschärft zu werden droht.23 Eine dritte Form der Tyrannei der Mehrheit schließlich lässt sich auf den moralischen Rigorismus zurückführen, der dort am Werk sein kann, wo die Mehrheit in einer Politik ihre per‐ sönliche Sicht auf moralische Fragen zum Ausdruck bringt, ohne die entsprechenden Konsequenzen für eine Minderheit zu bedenken. Pettit führt diesbezüglich eine negative Haltung gegenüber der Legalisierung von Prostitution an, welche Sexarbei‐ ter_innen in die Hände von Zuhältern treibt.24 Was die drei Formen der Tyrannei der Mehrheit gemeinsam haben, ist, dass jeweils eine Gruppe aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale im Voraus dazu verurteilt ist, im Falle einer Mehrheitsentschei‐ dung mit ihren erklärten Interessen auf der Verliererseite zu stehen, und die Mehrheit diese Situation zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ausnutzen kann.25 Eine 21 22 23 24 25
Pettit 2017, S. 192. Pettit 1999, S. 174. Pettit 2004, S. 54. Pettit 1999, S. 174. Pettit 2012, S. 213.
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politische Entscheidung droht für Pettit daher immer dann tyrannisch zu werden, wenn manche Individuen aufgrund ihrer Identität nicht die gleiche Chance wie andere haben, im politischen Prozess auf der Gewinnerseite zu stehen. Wie nun lässt sich mit der Gefahr der Tyrannei der Mehrheit umgehen? Zum einen erfordert sie, im politischen Prozess eben jene Gruppen zu identifizieren, die qua Identität eine politische Minderheit bilden, und zum anderen muss diesen die Möglichkeit gegeben werden, die durch Mehrheiten herbeigeführten Entscheidungen zu kontrollieren. Dafür bedarf es der Einrichtung von kontestativen Institutionen, mittels derer Bürger_innen die Rolle der Editorenschaft ausüben können. Kontestati‐ ve Institutionen können sich dabei an zwei Prinzipien orientieren: dem Prinzip der Verhinderung oder dem Prinzip der Herausforderung. Ersteres würde bedeuten, Min‐ derheiten eine Veto-Macht bezüglich sie betreffender Entscheidungen zuzusprechen. Diesen Weg hält Pettit allerdings nur für wenig wünschenswert. Da die bloße Mög‐ lichkeit des Einspruchs keine Kompromissbildung vorsieht, droht sie den politischen Prozess zu blockieren, anstatt ihn zu beleben. Entsprechend liegt seine Präferenz auf dem Prinzip der Herausforderung. Dieses lässt sich im demokratischen Prozess auf dreierlei Weise etablieren. Erstens mittels juridischer Institutionen, durch die sich die Berücksichtigung der eigenen Interessen auf der Basis der Herrschaft des Gesetzes einklagen lässt. Exemplarisch hierfür wäre etwa die Institution des Verfassungsgerichts, vor dem die Bürger_innen mittels Verfassungsbeschwerde ihre Rechte einklagen können. Zweitens können konsultative Institutionen als Quelle der Kontestation dienen. Das ist dort der Fall, wo Entscheidungen unter Einbezug von zivilgesellschaftlichen Organisationen gefällt werden, welche politische Maßnahme aus Sicht der Bürger_innen kritisch kommentieren und bewerten. Exemplarisch hier‐ für könnte etwa die Arbeit des Instituts für Technikfolgenabschätzung dienen, das technologiepolitische Fragen mit politischen Akteuren in wissenschaftlichen Foren diskutiert. Drittens schließlich spielen appellative Institutionen eine wichtige Rolle bei der Herausforderung von politischen Entscheidungen. Pettit denkt hier in erster Linie an Ombudspersonen, welche die ungerechte Behandlung von Personengruppen verhindern sollen, indem sie als unparteiische Schlichter fungieren. Exemplarisch hierfür wäre etwa die Rolle von Gleichstellungsbeauftragten zur Förderung und Durchsetzung von Chancengleichheit zwischen Geschlechtern. Um erfolgreich arbeiten zu können, müssen kontestative Institutionen eine dop‐ pelte Autorität besitzen: Sie müssen einerseits von der Regierung geachtet werden, damit ihre Urteile Berücksichtigung im politischen Prozess finden, und sie müssen andererseits auch von den entsprechenden Minderheiten anerkannt sein. Richter_in‐ nen, Expert_innen und Ombudspersonen müssen sich daher durch ein besonderes Maß an Unparteilichkeit und Integrität auszeichnen. Nur so ist zu gewährleisten, dass die Interessen von marginalisierten Gruppen angemessen vertreten und im politischen Prozess zu Gehör gebracht werden. Zur Unterstützung einer solchen
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Unparteilichkeit sollten kontestative Institutionen möglichst auch einer anderen personellen Zusammensetzungslogik gehorchen als die ihnen gegenüberstehenden politischen Entscheidungsgremien. Damit soll sichergestellt werden, dass sich hier nicht die gleichen Parteiungen wie im politischen Prozess wiederherstellen und es auch tatsächlich zu einem anderen Blick auf die infrage stehende politische Angele‐ genheit kommt. Wenn Pettit die politische Logik, die kontestativen Institutionen zugrunde liegt, als eine der Depolitisierung fasst, will er zum Ausdruck bringen, dass die Streitfra‐ gen, die in kontestativen Institutionen verhandelt werden, nicht angemessen von den beteiligten Akteuren beurteilt werden können und daher in unparteiliche Hände gelegt werden müssen.26 Dieser Zug seiner Überlegungen ist in der Folge immer wieder scharf kritisiert worden.27 Während die Idee der Depolitisierung nämlich davon ausgeht, dass sich politische Fragen letztlich auf der Basis gesetzlicher, wis‐ senschaftlicher oder persönlicher Neutralität lösen lassen, hat vor allem der radikal‐ demokratische Strang politischen Denkens immer wieder nachgewiesen, dass auch Gesetze, wissenschaftliche Fakten und individuelle Wahrnehmungen immer wieder neu ausgelegt werden müssen und es entsprechend keinen unparteiischen dritten Standpunkt gibt, von dem aus sich politische Fragen neutral verhandeln lassen. „Politik“, so hat Thomas Bedorf daher formuliert, „ist da, wo der Dritte fehlt“.28 Politische Streitfragen lassen sich nicht durch den Rückgang auf ein Gemeinsames neutralisieren, weil sie genau in der Strittigkeit eben dieses Gemeinsamen bestehen. Politische Konflikte können entsprechend nicht aufgehoben, sondern nur ausgetra‐ gen werden. Dazu aber scheinen die von Pettit angeführten kontestativen Institutio‐ nen nur beschränkt in der Lage zu sein. Statt nämlich die minoritäre Partei selbst zum Handeln zu befähigen und sie zu ermächtigen, mit eigener Stimme zu sprechen, lassen sie Fürsprecher_innen an ihre Stelle treten. Damit zieht sich Pettit aber genau den von Abensour erhobenen Vorwurf der Verobjektivierung zu, der darin bestand, dass staatliche Ordnungspolitiken zu einer politischen Entmächtigung der Bürger_innen führen. Auch wenn Pettits Überlegungen also zeigen, dass ein republi‐ kanisches Gemeinwesen Abensours Kriterium der Nicht-Beherrschung einzuholen vermag, so scheitert er doch daran, dem Kriterium der Nicht-Verobjektivierung gerecht zu werden. Das muss freilich nicht bedeuten, dass das republikanische Projekt per se gescheitert ist, sondern lediglich, dass dieses selbst noch auf radikal‐ demokratische Füße gestellt werden muss. Genau in diese Richtung, so möchte ich abschließend zeigen, gehen die Überlegungen zur politischen Gruppenvertretung von Iris Marion Young.
26 Pettit 2004. 27 Markell 2008. 28 Bedorf 2010, S. 226.
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3. Agonale Institutionen im demokratischen Staat Ein Vorschlag zur Ausgestaltung agonaler Institutionen ist das Konzept der politi‐ schen Gruppenvertretung, wie es vor allem in den 1990er Jahren von der feminis‐ tischen Theoriebildung prominent gemacht geworden ist.29 Theoretikerinnen wie Iris Marion Young, Jane Mansbridge, Melissa Williams oder Anne Phillips haben dafür argumentiert, dass politische Entscheidungsgremien, allen voran die Legisla‐ tive, um Sondersitze ergänzt werden müssen, die für Minderheitenvertreter_innen reserviert sind.30 Das hat seinen Grund darin, dass Minderheiten in der politischen Institutionenordnung auf höheren Entscheidungsebenen meist unterrepräsentiert sind und ihre Anliegen in der politischen Auseinandersetzung daher nicht ausreichend Gehör finden – wo etwa ein politisches Entscheidungsgremium vorwiegend von älteren, weißen, heterosexuellen Männern besetzt ist, ist nicht damit zu rechnen, dass die Perspektive von Jugendlichen, Frauen oder LGBTQs auf politische Sachverhalte ausreichend zur Kenntnis genommen und in Entscheidungsfindungsprozesse einbe‐ zogen wird. Dieses Defizit wollen feministische Demokratietheoretiker_innen durch die Institutionalisierung eines Mitspracherechts von marginalisierten Gruppen besei‐ tigen. Diesem Vorhaben, das Judith Squires als eine der „wichtigsten Innovationen“ der feministischen politischen Philosophie bezeichnet hat, möchte ich mich im Fol‐ genden im Ausgang der Überlegungen von Iris Marion Young zuwenden.31 Politische Auseinandersetzungen, so lautet die Ausgangsdiagnose der Überlegun‐ gen von Young, können von diskursiven Annahmen getragen sein, die zur Repro‐ duktion sozialer, politischer und ökonomischer Ungleichheit beitragen. Eine solche Annahme stellt für sie das Konzept der universalen Staatsbürgerschaft dar.32 Im Kampf um die Etablierung einer egalitären Gesellschaft war es zunächst eine wich‐ tige Errungenschaft: Ganz gleich nämlich, welche spezifischen Unterschiede es zwi‐ schen den Bürger_innen in Bezug auf Reichtum, Ansehen oder Macht geben mag, verleiht dieser Status allen Individuen die gleichen politischen Rechte. Das Ideal der Staatsbürgerschaft hat daher für viele benachteiligte Gruppen im 20. und 21. Jahrhundert ein erstrebenswertes Ziel politischer Kämpfe dargestellt. Konkret gilt das sowohl für die Suffragetten- als auch für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Beide, so Young, mussten jedoch nach der Erlangung dieser Rechte feststellen, dass die Diskriminierung durch Rassismus und Sexismus damit nicht ihr Ende gefunden hatte und sie in der Öffentlichkeit immer noch wie Bürger_innen zweiter Klasse be‐ handelt wurden. Seinen Grund hat das für Young darin, dass die Idee der universalen Staatsbürgerschaft politische Gerechtigkeit mittels abstrakter Gleichbehandlung zu 29 Für ein am Konzept der Klasse orientiertes agonales Institutionendesign vgl. den Beitrag von Jörke und Held in diesem Band. 30 Vgl. Mansbridge 1999; Williams 1998; Young 1993; Young 2000; Phillips 2003. 31 Squires 2000, S. 93. 32 Young 1993, S. 269f.
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erzielen versucht, was dazu führt, dass Gruppendifferenzen und damit einhergehen‐ de Benachteiligungen in der Wahrnehmung gleicher Rechte aus dem Blick geraten.33 Das Ideal der Gleichheit kann dadurch selbst zur Reproduktion von Ungleichheit beitragen. Entsprechend kann wirkliche Gleichheit nicht allein durch das Prinzip der abstrakten Gleichbehandlung umgesetzt werden, sondern muss die spezifische Lage von unterschiedlichen sozialen Gruppen berücksichtigen. Anders gesagt: Politische Rechte sollten nicht unter der Voraussetzung einer undifferenzierten Menschheit entwickelt werden, sondern unter der Voraussetzung, dass Gruppendifferenzen vor‐ handen sind. An die Stelle des Ideals der universalen Staatsbürgerschaft, so Young, muss daher das Ideal einer „differenzierten Staatsbürgerschaft“ treten. 34 „Dies im‐ pliziert, daß an Stelle der stets in universellen Begriffen abgefaßten Rechte und Regeln, die für Differenzen blind sind, manchmal spezielle Rechte für bestimmte Gruppen erforderlich sind.“35 Das Ideal der abstrakten Gleichheit übersieht, dass manchen Gruppen der Zu‐ gang zur Sphäre der Politik nicht in gleichem Maße offensteht, weil ihnen ent‐ weder aufgrund von Unterdrückungserfahrungen das Vertrauen in den politischen Prozess fehlt, sie sich nicht ausreichend informiert sehen oder schlicht keine der kandidierenden Personen als geeignet betrachten, ihre Interessen zu vertreten. Der damit einhergehende Ausschluss vom politischen Prozess hat zur Folge, dass die Interessen und Anliegen von benachteiligten Gruppen in der Folge im politischen Prozess oftmals keine Berücksichtigung finden. Young macht sich daher für die Idee der deskriptiven Repräsentation stark. Gemeint ist damit, dass die politischen Repräsentant_innen in ihrer Person und in ihrer Lebensweise in gewisser Weise als typische Mitglieder jener Gruppe verstanden werden können sollen, die sie im politischen Prozess vertreten. Deskriptiv sollen die politischen Vertreter dabei nicht nur in der Hinsicht sein, dass sie etwa das gleiche Geschlecht oder die gleiche Hautfarbe wie ihre Wählerschaft aufweisen, sondern dass sie auf einen geteilten Erfahrungshorizont zurückgreifen können. Dahinter steht die Annahme, dass eine Frau Interessen von Frauen besser vertreten kann als ein Mann, weil sie mit diesen weitreichende Alltagserfahrungen wie z.B. Sexismus teilt. Gleiches gilt für schwarze Repräsentant_innen, die mit ihrer schwarzen Wählerschaft eine gemeinsame Unter‐ drückungsgeschichte, die tief im kollektiven Bewusstsein der Gruppe verankert ist, verbindet. Zwar können natürlich auch nicht-deskriptive Repräsentant_innen wie z.B. weiße Männer die Interessen von Frauen und Schwarzen vertreten, indem sie sich angemessen über deren Interessen und Anliegen informieren, jedoch reicht dies oftmals nicht für eine effektive politische Deliberation, da die offene, unabsehbare
33 Phillips 2003, S. 147. 34 Young 1993, S. 268. 35 Young, 1993, S. 294. Ähnlich Kymlicka 1995, S. 113.
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und fortdauernde Struktur kommunikativer Prozesse immer wieder auf Erfahrungs‐ horizonte ausgreift, die vorab nicht vollständig geteilt werden können. Dass aus deskriptiver Repräsentation andere Politiken folgen, darauf ist mehr‐ fach hingewiesen worden.36 So stammen Eingaben zur Prävention von sexueller Gewalt, sexueller Belästigung und geschlechtlicher Gleichbehandlung in der Regel von weiblichen Abgeordneten, weil sie mit diesen Themen andere Dringlichkeits‐ erfahrungen verbinden. Ähnlich verhält es sich auch in Bezug auf rassistische Dis‐ kriminierung. Mansbridge führt diesbezüglich einen Fall aus dem Jahr 1993 an.37 Zu dieser Zeit war Carol Moseley-Braun die einzige schwarze Vertreterin im ameri‐ kanischen Senat. Ihr spezifischer Hintergrund war der Grund dafür, dass sie sich als einzige gegen das Vorhaben aussprach, die Konföderiertenflagge als Emblem für die Vereinigung United Daughters of the Confederacy, die sich das Gedenken von konföderierten Soldaten und die Finanzierung von Gedenkstätten zur Aufgabe macht, zu verwenden. Moseley-Braun argumentierte vehement dafür, dass dieses Emblem für die schwarze Bevölkerung ein Zeichen der Unterdrückung darstellt und die staatliche Anerkennung einer Organisation, die dieses Emblem trägt, eine Ver‐ höhnung darstellen würde. Es war in diesem Fall der spezifische afroamerikanische Erfahrungshintergrund von Moseley-Braun, der sie auf etwas aufmerksam werden ließ, das von allen anderen Abgeordneten übersehen wurde. Die Idee der deskriptiven Repräsentation lässt sich in der Praxis nun mit ganz unterschiedlichen Mitteln umsetzen. Ein in den USA beliebtes Mittel ist das gerry‐ mandering, das den Zuschnitt von Wahlkreisbezirken mit dem Ziel ändert, Minder‐ heiten-Mehrheiten-Bezirke zu schaffen. Dies soll minoritären Gruppen erlauben, deskriptive Repräsentant_innen in politische Entscheidungsgremien zu wählen und dort Präsenz zu erhalten. Ein zweites Mittel ist die Einführung von Quoten auf Wahllisten. Mit ihnen soll gewährleistet werden, dass es zu einer besseren proportio‐ nalen Repräsentation der Wählerschaft im politischen System kommt. Als drittes Mittel schließlich führt Young die Einrichtung von gruppenspezifischen Sondersit‐ zen im Parlament an. Verwirklicht findet sich diese Idee im politischen System Neuseelands, wo eine Anzahl von Sitzen speziell für Maori vorgesehen ist.38 Die Besetzung dieser Sitze erfolgt über eine spezielle Maori-Wählerliste, die bereits im 19. Jahrhundert eingeführt worden ist, dort jedoch vor allem zur politischen Aus‐ grenzung und Marginalisierung der Maori gedient hat, lag die Zahl der Sondersitze doch weit unter dem proportionalen Anteil der Maori an der Gesamtbevölkerung Neuseelands. Das hat sich nach der Wahlrechtsreform von 1993 verändert, welche die Zahl der Sondersitze im Parlament anhand der Zahl der in die Maori-Wählerliste eingeschriebenen Wähler_innen berechnet. Entscheidend ist dabei, dass die Wäh‐ 36 Bausch 2013. 37 Mansbridge 1999, S. 646. 38 Einen Überblick geben Banducci 2004 und Nissen/MacDonald 2017.
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ler_innen vor einer Wahl selbst entscheiden können, ob sie auf der Maori-Wahlliste geführt werden wollen oder auf der allgemeinen Wahlliste. Im ersten Fall haben sie die Möglichkeit, die Kandidat_innen für Sondersitze zu wählen, im zweiten Fall werden nach dem personalisierten Verhältniswahlrecht Kandidat_innen politischer Parteien gewählt. Die Maori werden hier also nicht gezwungen, sich der Idee der Minderheitenvertretung anzuschließen, sondern können vielmehr auch versuchen, ihre Anliegen durch ihre Wahlstimme im regulären politischen Prozess zur Geltung zu bringen. Derzeit machen ca. 50% der Maori von der Möglichkeit Gebrauch, ihre gruppenspezifischen Interessen mittels der gesonderten Maori-Liste zum Ausdruck zu bringen.39 Das Konzept der Gruppenrepräsentation mittels Sondersitzen vermag jenen bei‐ den Kriterien gerecht zu werden, die wir eingangs mit Abensour als Prinzipien radikaldemokratischer Politik kennengelernt hatten. Es handelt sich erstens um eine agonale Institution im Dienste der Verwirklichung von Nicht-Beherrschung. Hier geht es darum, einer minoritären Gruppe die Möglichkeit zu geben, ihrer spezifischen Perspektive Geltung zu verleihen, und dafür zu sorgen, dass diese in politischen Entscheidungsprozessen angemessene Berücksichtigung findet. Zweitens handelt es sich um eine agonale Institution zur Blockade von Verobjektivierungspro‐ zessen, insofern politische Konflikte hier nicht durch Ausweichen auf eine dritte, neutrale und unparteiliche Position zu befrieden versucht werden, sondern der kon‐ flikthaften Auseinandersetzung zwischen den beteiligten politischen Parteien selbst Raum gegeben wird. Entsprechend wird man behaupten können, dass wir es bei deskriptiven Gruppenvertretungen mit einer möglichen Institutionalisierung der Idee des radikaldemokratischen Republikanismus zu tun haben, in welcher der Gegensatz von Demokratie und Staat zugunsten ihrer wechselseitigen Realisierung aufgehoben ist.
4. Herausforderungen für eine agonale Institutionentheorie Ich möchte abschließend eine Reihe von Herausforderungen diskutieren, mit denen agonale Institutionen in dem eben skizzierten Sinne im demokratischen Staat kon‐ frontiert sind. Sie beziehen sich auf die Frage, welche Gruppen die Möglichkeit erhalten, in solchen Institutionen repräsentiert zu werden, die Frage, wie effektive Kommunikation unter der Bedingung tiefer Meinungsverschiedenheiten aussehen kann, und die Frage, wie der Verhärtung von Gruppendifferenzen in agonalen Insti‐ tutionen vorgebeugt werden kann.
39 Xanthaki/O’Sullivan 2009.
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1. An das Konzept der Gruppenrepräsentation mittels Sondersitzen ist von zwei Sei‐ ten die Frage herangetragen worden, wie darüber entschieden werden soll, welchen Gruppen ein solches Recht zukommen soll. Während die eine Seite befürchtet, dass die Einführung dieser Maßnahme dazu führt, dass ein zu exzessiver Gebrauch von diesem Mittel gemacht wird, weil es unzählige minoritäre Gruppen in einer Gesell‐ schaft gibt, befürchtet die andere Seite, dass auch gruppenspezifische Repräsentati‐ on wieder Exklusionen mit sich bringt, weil entweder gruppeninterne Differenzen nicht ausreichend zur Geltung kommen oder bestimmte Gruppen gar nicht erst als minoritäre Gruppen anerkannt werden. Der erste Einwand ist von Melissa Williams dahingehend beantwortet worden, dass Gruppen nicht schon deshalb eine politische Gruppenvertretung verdienen, weil sie eine distinkte Identität besitzen,40 sondern erst dann, wenn ihr zwei Attribute zukommen. Es muss erstens eine Ungleichbe‐ handlung im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen geben und zweitens muss eine Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung vorliegen.41 Ersteres ist dort der Fall, wo die Mitglieder einer sozialen Gruppe durch die Mehrheitsgesellschaft abgewertet und dadurch sozial, ökonomisch oder politisch benachteiligt werden. Letzteres ist dort der Fall, wo es in der Vergangenheit durch öffentliche soziale Prak‐ tiken und staatliches Handeln zur systematischen Diskriminierung der betreffenden Gruppe gekommen ist, so dass eine Unterdrückungsgeschichte vorliegt, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Der zweite Einwand verweist uns dagegen wieder zu‐ rück auf die Notwendigkeit einer rebellierenden Demokratie. Als Demokratie gegen den Staat ist es ihre Aufgabe, die Verfasstheit des Staates selbst zu thematisieren, was in diesem Fall bedeutet, auf Gruppen aufmerksam zu machen, welche durch die Raster institutioneller Anerkennung fallen. Die rebellierende Demokratie hat daher in erster Linie eine epistemische Aufgabe: Sie muss politische Akteure als Akteure sichtbar machen, um ihnen dadurch den Zugang zum politischen Prozess zu ermöglichen. Exemplarisch hierfür sind etwa sexuelle Politiken, für die der Kampf um Sichtbarkeit immer schon eine große Rolle gespielt hat. Noch Mitte des 20. Jh. waren von der heterosexuellen Norm abweichende Sexualitäten dazu gezwungen, ihr Begehren geheim zu halten, weil der Schritt in die Öffentlichkeit mit dem Risiko der Gewalt und der Beschämung verbunden ist. Um diese Wahrnehmung zu ändern, formt sich im Anschluss an den Stonewall-Aufstand von 1969 die Gay Libe‐ ration Front, die durch Pride-Märsche zum Coming Out von devianten Sexualitäten beiträgt. Die öffentliche Demonstration des eigenen Begehrens macht dabei nicht nur die Existenz alternativer Subjektivierungsweisen und Lebensformen deutlich, sondern auch, dass diese von der herrschenden staatlichen Ordnung unterdrückt und diskriminiert werden und daher der politischen Gruppenrepräsentation bedürfen. 40 Young 2000, S. 146. 41 Williams 1998, S. 176ff.
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2. Eine zweite Herausforderung für agonale Institutionen betrifft die Frage der Ef‐ fektivität der politischen Kommunikation angesichts tiefer Meinungsverschiedenhei‐ ten. Denn auch wenn es gelingt, deskriptive Repräsentation im politischen Prozess zu verankern, werden die Vertreter_innen minoritärer Gruppen bei Mehrheitsent‐ scheiden immer noch in der Minderheit sein. Plädiert man angesichts dieser Situati‐ on dafür, minoritäre Gruppen mit einem Vetorecht auszustatten, droht andererseits die Gefahr, dass es zu Blockaden des politischen Prozesses kommt. Folgendes lässt sich hier entgegnen: Zunächst muss die Effektivität politischer Gruppenreprä‐ sentation nicht daran gemessen werden, wie es der jeweiligen Gruppe gelingt, ihre ursprünglichen Anliegen im politischen Prozess durchzusetzen. Ganz im Sinne der Freiheit als Nicht-Beherrschung geht es vielmehr darum, dass ihre Perspektive Ein‐ gang in den politischen Prozess findet und dort berücksichtigt wird. Das Mittel der Gruppenrepräsentation kann also auch dann erfolgreich sein, wenn das Anliegen der Gruppe auf nicht vorhergesehene Art (z.B. durch Modifikation, Fortentwicklung oder Kompromissbildung) Eingang in politische Entscheidungen findet. Die Frage der Effektivität politischer Gruppenrepräsentation sollte daher nicht im Register der Durchsetzung, sondern im Register der Perspektiverweiterung verhandelt werden. Wie aber kann politische Kommunikation unter der Bedingung tiefer Meinungs‐ verschiedenheiten gelingen? Der radikaldemokratische Republikanismus setzt in solchen Fällen auf ein Konzept demokratischer Urteilskraft, das zeigen soll, wie auch unter der Bedingung der Abwesenheit gemeinsam geteilter Gründe allgemein anerkennbare Urteile zustande kommen können. Maßgebend hierfür ist unsere öf‐ fentliche Denkungsart, in welcher wir um die Beistimmung von anderen zu unserer politischen Position werben. Da sich eine solche Beistimmung nicht durch den Rückgang auf allgemeinverbindliche Gründe erreichen lässt, da es ja diese Gründe selbst sind, die in solchen Momenten umstritten sind, bedarf die öffentliche Den‐ kungsart einer besonderen rhetorischen Form der Argumentation.42 Statt auf schein‐ bar verallgemeinerungsfähige Gründe greift sie auf Vergleiche, Assoziationen und Kontextualisierungen zurück. Gute politische Argumente werden von ihr nicht allein im Rückgriff auf den Bereich der Logik entwickelt, sondern ebenso im Rückgriff auf den Bereich der Rhetorik: Es geht darum, Darstellungsweisen zu entwickeln, die es erlauben, an die Interessen, Bedürfnisse und Absichten anderer Anschluss zu finden, um sie an der eigenen politischen Perspektive teilhaben zu lassen. Von be‐ sonderer Bedeutung ist daher der kommunikative Modus des Geschichtenerzählens. Geschichten sind in besonderer Weise dazu geeignet, spezifische Erfahrungen, die an die soziale Positionierung der Einzelnen gebunden sind, zu veranschaulichen und Wertvorstellungen zu vermitteln. Sie können zudem immer wieder neu und anders 42 Ausführlich hierzu: Herrmann 2019. Ebenso Young 2000, 57ff. und die einschlägigen Beiträge in Hetzel/Posselt 2017.
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erzählt werden. Anders als logische Argumente sind Geschichten nicht statisch und starr, sondern dynamisch und flexibel. Ihr Stoff lässt sich an die Kontextbedingun‐ gen der jeweiligen Situation anpassen. 3. Kommen wir damit zur dritten Herausforderung. Sie besteht darin, dass die Etablierung von Sondersitzen zu einer Verkapselung der jeweiligen Gruppen in ihrer Gruppenidentität führen kann mit der Folge einer Zunahme gesellschaftlicher Spal‐ tungen und einer Abnahme bürgerschaftlichen Zusammenhalts. Diesem Einwand kann aus meiner Sicht auf dreierlei Weise begegnet werden. Erstens spiegeln sich in politischen Parteiungen nur je schon vorhandene gesellschaftliche Spaltungen wider. Schwarze, Indigene oder Homosexuelle beispielsweise treten ja gerade in Reaktion auf erfahrene Diskriminierung als eine Gruppe in Erscheinung. Sie werden als handelnde Gruppe also von außen und nicht von innen konstituiert. Zweitens sind Individuen nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe festgelegt. Wie das Beispiel des Wahlsystems Neuseelands deutlich gemacht hat, können sich Maori sowohl in der für sie vorgesehenen speziellen Wahlliste als auch in der allgemeinen Wahlliste eintragen lassen und so über ihre politische Identifikation immer wieder neu entscheiden. Drittens schließlich soll das bürgerschaftliche Band nicht als ei‐ nes vorgängiger Gemeinsamkeiten verstanden werden, sondern vielmehr als eine gemeinsame Verpflichtung auf den Modus des geregelten Streits in agonalen Institu‐ tionen. Gerade das gemeinsame Durchstehen von Konflikten bildet eine wichtige Quelle der Sozialintegration, weil es im besten Fall zeigt, dass man sich auf die andere Partei auch dann verlassen kann, wenn diese im politischen Streit unterliegt. Das integrierende Potential agonaler demokratischer Institutionen liegt also gerade darin, dass sie es ermöglichen, Differenz sichtbar zu machen und auszuhalten, so dass sich in der Folge ein Band der Teilung zwischen den Konfliktparteien herzu‐ stellen vermag.43 Die Idee der deskriptiven Gruppenrepräsentation steht daher dem Ideal des bürgerlichen Zusammenhalts nicht entgegen, sondern erlaubt vielmehr, dieses unter Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität neu zu leben.
5. Radikaldemokratischer Republikanismus Agonale Demokratietheorien, so lautete die Ausgangsdiagnose meines Beitrags, leiden an einem Institutionendefizit. Verständlich wird dieses Institutionendefizit vor dem Hintergrund der Genese agonalen Denkens. Viele agonale Demokratietheorien sind als Reaktion auf die postpolitische Situation der 1990er Jahre entstanden, in welcher gesellschaftliche Gegensätze zugunsten einer Politik des dritten Weges
43 Vgl. dazu Bedorf/Herrmann 2016.
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aufgehoben zu sein schienen.44 Diese Politik, so lautet die Kritik, setzt sich nicht mehr mit weltanschaulichen Fragen auseinander, sondern beschränkt sich hauptsäch‐ lich auf die pragmatische Verwaltung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Sind jedoch die Ziele der Politik nicht mehr grundsätzlich verhandelbar, sondern scheinbar von außen durch den Markt vorgegeben, droht Politik zur Verwalterin von Abläufen zu werden. Ihre Aufgabe besteht dann allein noch darin, ein möglichst reibungsloses Funktionieren der Marktgesellschaft nach Effektivitäts- und Rentabili‐ tätskriterien zu sichern. Vor diesem Hintergrund bestand die zeitgeschichtliche Auf‐ gabe agonaler Demokratietheorien darin, zu einer Wiederbelebung politischer Welt‐ anschauungen und des konflikthaften Charakters von Politik beizutragen. Das hatte zur Folge, dass institutionentheoretische Fragen, die sich mit der Gründung einer neuen, anderen Ordnung beschäftigen, eher im Hintergrund geblieben sind. Weil wir diesen zeitgeschichtlichen Kontext im Zuge der populistischen Rückkehr des Politischen mittlerweile hinter uns gelassen haben, ist die Gegenwart der agonalen Demokratietheorien heute jedoch eine andere. Ihre Zukunft hängt an der Frage, ob es ihnen gelingt, ihr begriffliches Grundgerüst auch für eine emanzipative politische Institutionentheorie fruchtbar zu machen. Eine Möglichkeit zur Beantwortung dieser Frage, so habe ich gezeigt, besteht in der Zusammenführung der Traditionen von Ra‐ dikaldemokratie und Republikanismus zu einem Konzept des radikaldemokratischen Republikanismus. Gegenüber radikaldemokratischen Theorien zeichnet sich dieses Konzept dadurch aus, dass es bestrebt ist, ein Modell des demokratischen Staates vorzulegen, ohne dabei die Exklusionsmechanismen auszublenden, die mit politischen Ordnungsgefü‐ gen verbunden sind. Weil der radikaldemokratische Republikanismus darum weiß, dass sich politische Ordnungen zu verhärten drohen, erachtet er die Praxis des zivilen Widerstands, in welcher die Demokratie gegen den Staat rebelliert, als ein wichtiges Mittel der politischen Artikulation des Demos. Er weiß jedoch auch, dass politisches Handeln nicht dann schon erfolgreich ist, wenn die vormals Ausge‐ schlossenen in die politische Ordnung integriert sind. Sowohl die Bürgerrechts- als auch die Frauen- und Schwulenbewegung haben die Erfahrung gemacht, dass die Gewährung von Grundrechten nicht automatisch gleiche politische Mitsprachemög‐ lichkeiten in öffentlichen Angelegenheiten mit sich bringt. Der radikaldemokratische Republikanismus macht sich daher die Ermöglichung gleicher Einflussnahme zur Aufgabe. Ein entscheidendes Mittel dafür ist die Etablierung von Gegen-Institutio‐ nen in staatlichen Körperschaften, die minoritäre Stimmen zu Gehör zu bringen und ihnen politisches Gewicht verleihen. Die weitere Ausarbeitung eines radikaldemo‐ kratischen Republikanismus hängt dabei an der Frage, inwiefern es gelingt, solche Gegen-Institutionen für Legislative, Exekutive und Judikative zu entwerfen. Das
44 Crouch 2008.
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hier vorgeschlagene Konzept der deskriptiven Gruppenrepräsentation in legislativen Körperschaften bildet dafür einen Anfang. Der radikaldemokratische Republikanismus geht jedoch nicht nur mit einer in‐ stitutionentheoretischen Verlängerung der Radikaldemokratie einher, sondern umge‐ kehrt auch mit einer radikaldemokratischen Umformulierung des Republikanismus. Gegenüber dem klassischen Republikanismus weiß er darum, dass sich politische Konflikte nicht durch Depolitisierung lösen lassen, da es keine letzten unabhängigen Gründe gibt, auf die sich alle Streitparteien einigen können. Auch scheinbar allge‐ meine Grundrechte wie Gerechtigkeit und Freiheit sind stets auslegungsbedürftig und werden von unterschiedlichen politischen Gruppierungen ganz unterschiedlich ausgedeutet. Weil der radikaldemokratische Republikanismus darum weiß, dass po‐ litische Konflikte nicht gelöst, sondern nur ausgetragen werden können, macht er sich eine kontestative Umgestaltung des politischen Systems zur Aufgabe. Statt poli‐ tische Fragen an Eliten zu delegieren, setzt er auf eine Devolution des politischen Systems, die politische Teilhabe auch auf lokaler Ebene möglich macht. Der weitere Erfolg eines radikaldemokratischen Republikanismus wird daher auch daran hängen, inwiefern es ihm gelingt, lokale Partizipations- und Entscheidungsstrukturen auszu‐ bilden. Dass die zeitgenössischen Forschungen zu Mini-Publics und Bürger_innen‐ versammlungen diesbezüglich vielversprechend sind,45 darf als ein gutes Zeichen für die Zukunft des radikaldemokratischen Republikanismus gewertet werden.
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Milos Rodatos und Rieke Trimçev Die demokratische Repräsentation des agon. Erkundungen mit Jacques Rancière und Ernesto Laclau1
„Es gibt für mich ein grundlegendes Kriterium der Effektivität politischen Handelns, dass es nämlich die Institutionalisierung der Bedingungen seiner eigenen Existenz erschafft, erweitert und erlaubt.“ Jacques Rancière „I believe in an administered antagonism. If there are institutions within which antago‐ nism distinguishes the Left from the Right and both participate in one same institutional game, then we have a healthier society.“ Ernesto Laclau
Lange Zeit wurde die demokratietheoretische Bühne von dem Schaukampf zwischen Ideen der repräsentativen und der partizipatorischen Demokratie geprägt. Unser Bei‐ trag geht von der Beobachtung aus, dass der jüngere Gegensatz zwischen liberaler und der agonalen Demokratietheorie den Dualismus zwischen Repräsentation und Partizipation nicht einfach nur ablöst, sondern vielmehr das Potential besitzt, den Fokus auf Alternativen innerhalb der repräsentativen Demokratie zu lenken. Deswe‐ gen, so unser Vorschlag, eröffnet auch der Repräsentationsbegriff einen geeigneten Zugang zur Frage nach der institutionellen Dimension der agonalen Demokratie‐ theorie. Bevor wir diese Idee aber weiter erörtern, soll dargelegt werden, was in diesem Beitrag unter agonaler Demokratietheorie verstanden wird, und warum wir der Auffassung sind, dass die Frage nach Institutionen nichts den agonalen Ansätzen Fremdes ist. Agonale Demokratietheorien zeichnen sich durch zwei typische Annahmen aus: Erstens begreifen sie Konflikte aus historischen, ontologischen oder normativen Gründen als Grundprinzip von Demokratien; Konflikte, die nicht mit dem Verspre‐ chen einer konsensualen Befriedung einhergehen, werden eher als Normal- denn als Ausnahmefall betrachtet. Die auf den antiken Wettkampfgeist zurückgehende Semantik des agon verweist aber noch auf eine zweite, darüber hinausgehende An‐ nahme: Demokratische Konflikte zeichnen sich durch einen engen Bezug zwischen Handeln und Regeln aus. Demokratische Regeln sind auf ihre ständige performative Verkörperung in politischem Handeln angewiesen; dabei können die Regeln aber 1 Wir danken Tobias Müller und Manon Westphal für ihre kritischen Rückfragen zu diesem Beitrag.
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im Handeln auch stetig verändert oder gar durch andere Regeln ersetzt werden.2 Da agonale Demokratietheorien also davon ausgehen, dass Regelbrüche in einem gewissen Maße zum demokratischen Alltag gehören dürfen und müssen, ist es wenig verwunderlich, dass sie zuvorderst von radikaldemokratischen Positionen aus entwickelt wurden. Allerdings sind „agonale“ und „radikale Demokratietheorien“ deswegen noch keineswegs deckungsgleich. Vielmehr finden die Grundannahmen der agonalen Demokratietheorie auch in bestimmten Teilströmungen der liberalen oder republi‐ kanischen Demokratietheorie Anknüpfungspunkte, sodass sich agonale Demokratie‐ theorien als Arena des argumentativen Austauschs zwischen Radikaldemokratie und den konfliktiven Spielarten des Liberalismus und Republikanismus deuten lassen.3 Allerdings sind radikaldemokratische agonale Demokratietheorien nicht notwendig auf die theoretische Schützenhilfe aus dem liberalen oder republikanischen Lager angewiesen, um etwas Sinnvolles über Institutionen zu sagen. Wir meinen also, dass Institutionen – oder einfacher gesprochen: kontinuierliche Regelsysteme politischen Handelns – kein notwendiger blinder Fleck agonaler De‐ mokratietheorien sind, und ihr vielgescholtenes institutionentheoretisches Defizit prinzipiell bearbeitbar ist. Institutionenskepsis ist noch keine Systemopposition. Die‐ se Sicht setzt sich in der Sekundärliteratur zunehmend durch. Mit Manon Westphal4 lassen sich dabei bisher zwei Perspektiven unterscheiden: Zunächst wurde versucht, die agonalen Theorien in bestimmte Institutionendesigns zu übersetzen; für ein sol‐ ches „Institutionalizing agonism“ stand beispielsweise Wingenbach.5 Während die Institutionenfrage hier noch sehr stark von außen an die „agonists“ herangetragen wurde, schlägt Westphal ein zugleich bescheideneres und ertragreicheres Vorgehen vor: Nicht agonale Institutionen seien das Ziel, sondern agonale Kriterien in der demokratietheoretischen Bewertung von Institutionen. Dahinter steht die Einsicht, dass es die agonalen Institutionen nicht gibt, wohl aber Verfahren und Strukturen, die aus einer agonalen Perspektive „besser“ oder „schlechter“ sind.6 Auf dem Weg, die Institutionenfrage nicht nur an die agonale Demokratietheorie zu stellen, sondern aus ihr heraus, möchten wir noch einen Schritt weitergehen. Wir nehmen an, dass agonale Demokratietheorien nicht nur Bewertungsmaßstäbe für, sondern tatsächlich auch Beschreibungen von demokratischen institutionellen Formen bereithalten – zumindest implizit. Weiterhin nehmen wir an, dass man 2 Vgl. Trimçev 2018, S. 358ff. 3 Aus dieser Perspektive lassen sich Hannah Arendt (vgl. Straßenberger 2019) oder John McCor‐ mick (siehe den Beitrag von Dirk Jörke und Christoph Held in diesem Band) als republikanische agonale Theoretiker*innen interpretieren. Ein Beispiel für eine liberale agonale Demokratie‐ theorie ist James Tully (1999), aber auch Chantal Mouffe wurde bereits im Register eines konfliktiven Liberalismus gelesen (Rzepka/Straßenberger 2014). 4 Westphal 2019. 5 Wingenbach 2011, S. XII. 6 Westphal 2019, S. 192.
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über die Kategorie der Repräsentation auf diese Analyseebene zugreifen kann. Tat‐ sächlich arbeiten viele der agonalen Demokratietheorien mit zwei unterschiedlichen Repräsentationsbegriffen – einem allgemeinen und einem engeren. Der allgemeine Repräsentationsbegriff, der sich nicht nur auf den politischen Bereich, sondern auf alle Arten von Zeichen oder theatrale Praktiken bezieht, gelangt theoriegeschichtlich aus der Verarbeitung der geisteswissenschaftlichen „Krise der Repräsentation“ 7 in die Texte vieler Radikaldemokrat*innen. Der enge Repräsentationsbegriff be‐ zieht sich auf politische Repräsentation, die oft auch polemisch kommentiert wird. Unsere Hypothese lautet nun, dass das sehr grundsätzliche Durchdenken des all‐ gemeinen Repräsentationsbegriffes noch brachliegende Potentiale für einen Blick auf politische Repräsentationsprozesse und ihre institutionelle Ausgestaltung bietet. Die fruchtbare Herausforderung, vor die agonale Demokratietheorien die etablierte liberale Demokratietheorie stellen, ist, einen Blick für Alternativen innerhalb der repräsentativen Demokratie zu schärfen. Der „demokratischere“ Zwilling der so oft und weiterhin angefeindeten liberalen Demokratie ist also nicht außerhalb der repräsentativen Demokratie, beispielsweise in einer „partizipatorischen“ Demokratie zu finden, sondern in der repräsentativen Demokratie selbst. Damit werden agonale Demokratietheorien anschlussfähig für den breiteren Trend innerhalb der Theorien politischer Repräsentation, insofern sie die repräsentative Demokratie nicht länger als second best-Lösung für demokratische Ordnungen verstehen.8 Um einen besonders starken Punkt für eine agonale Theorie demokratischer Institutionen zu machen, entwickeln wir unsere Überlegungen anhand von zwei Theoretikern, für die ein solches Unternehmen am wenigsten erfolgversprechend erscheint: Jacques Rancière und Ernesto Laclau. Beide sind in der Literatur zu agonaler Demokratie und Institutionen bisher nicht nur unterrepräsentiert; vielmehr kommt ihnen gerade in der deutschsprachigen Politikwissenschaft noch immer der Nimbus zu, besonders radikale Positionen zu beziehen.9 So wird Rancière gern als anarchistischer, und Laclau als populistischer Denker wahrgenommen. Wir halten diese Interpretationslinien nicht für falsch, denken aber, dass sie nur eine mögli‐ che, tendenziell verkürzende Perspektive auf das Werk von Rancière und Laclau darstellen. In beiden Fällen gibt es mindestens sehr starke Indizien, um diese bisher dominante Wahrnehmung aufzubrechen und in altbekannter Manier „mit ihnen über sie hinaus“ zu denken. Wir stellen also im Folgenden keinen streng exegetischen 7 Vgl. z.B. Gumbrecht 1984. 8 Vgl. Plotke 1997; Näsström 2011; Disch 2015. 9 So bestreitet beispielsweise Wingenbach, dass Rancières Version der agonalen Demokratietheo‐ rie für institutionentheoretische Fragen anschlussfähig sein könne, vgl. Wingenbach 2011, S. 9; S. 44ff. Laclaus Populismustheorie hingegen wird häufig mit einem dezidierten Anti-Institutio‐ nalismus verknüpft, vgl. z.B. Hildebrand/Seville 2015; 2019. Für beide Autoren lassen sich je‐ doch auch bereits gewinnbringende und differenziertere Zugänge in der Literatur finden, so Flü‐ gel-Martinsen 2020, S. 143 für Rancière und Jörke/Selk 2017, S. 142-144 sowie Marchart 2018 für Laclau.
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Anspruch, sondern sind daran interessiert, einige Aspekte aus den Theorien von Rancière und Laclau aufzunehmen und demokratietheoretisch durch das Prisma po‐ litischer Repräsentation weiterzudenken. Wir gehen in drei Schritten vor. In einem ersten Schritt stellen wir kurz dar, welche Position Rancière und Laclau in Bezug auf Institutionen einnehmen. Unser Anliegen ist dabei eine Differenzierung der Institutionenkritik beider Autoren, die sich nicht in einem bloßen anti-institutionellen Impuls erschöpft. In einem zweiten Schritt rekonstruieren wir, auf welchen Wegen Rancière und Laclau zu einer sehr grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Repräsentationsbegriff gelangen. Wäh‐ rend der Repräsentationsbegriff bei Rancière über den Umweg der Ästhetik zu einer Grundkategorie seines politischen Denkens wird, entwickelt Laclau den Repräsenta‐ tionsbegriff als ontologische Kategorie im Zuge der Zuwendung zur Psychoanalyse. Im dritten Schritt fragen wir, welches Irritations- und Unterscheidungsvermögen wir aus diesen Repräsentationsverständnissen für repräsentativdemokratische Institutio‐ nen und Verfahren gewinnen können.
1. Institutionenkritik 1.1 Rancière: radikaldemokratische Politik gegen oder durch die Polizei? Jacques Rancière gilt vielen als anarchistisches enfant terrible der radikalen De‐ mokratietheorie.10 Auf allzu simplistische Weise teile er den gesamten politischen Bereich auf das Gegensatzpaar von „Polizei“ (police) und „der Politik“ (la politi‐ que) auf, wobei letzteres Konzept zum Verdruss aller auf analytische Trennschärfe erpichter Leser*innen auch noch weitestgehend synonym zu seinen Konzepten von „Demokratie“ und „Emanzipation“ ist. Zur „Polizei“ gehört bei Rancière all das, was hierarchische Sozialbeziehungen festigt, indem bestimmte Menschen auf spezifische Denk-, Sprech- und Handlungs‐ weisen festgelegt und dabei an bestimmte Orte und Zeiten gebunden werden: „Die Polizei ist in ihrem Wesen das im Allgemeinen unausgesprochene Gesetz, das den Anteil oder die Abwesenheit eines Anteils der Teile bestimmt. Aber um das zu bestimmen, muss zuerst die Gestaltung des Sinnlichen, in welche sich die einen und die anderen einschreiben, bestimmt werden.“11 Wichtig ist zu betonen, dass Rancière mit dem Konzept weniger auf „spektakuläre Kontroll- und Repressions‐ strategien“ als auf die Schaffung und Aufrechterhaltung von einem „System von wahrgenommenen Offensichtlichkeiten“ abzielt.12 Ein paradigmatisches Beispiel für 10 Zu anarchistischen Lesarten von Rancière siehe z.B. May 2008. 11 Rancière 2002, S. 40f. 12 Rancière 2014a, S. 170.
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polizeiliche Praktiken ist also weniger das sogenannte Racial Profiling (obwohl auch das natürlich ein Beispiel für „Polizei“ im Rancièrschen Sinne ist), sondern ein Staatsbürgerrecht, das auf der Prämisse beruht, dass Menschen mit „Migrati‐ onshintergrund“, die sich an unterschiedlichen Orten dieser Welt zu Hause fühlen mögen, an einem Ort nichts verloren haben: im Wahllokal. Und nicht nur politische Instanzen im gewöhnlichen Sinne wirken an der „Polizei“ mit: Auch ökonomische Doktrinen machen uns verständlich, wer einen wertvolleren oder weniger wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leistet, und sozialwissenschaftliche Analysen erklären uns, warum bestimmte Menschen genau an dem sozialen Ort stehen, an dem sie stehen.13 „Die Politik“ ist dagegen all das, was diese hierarchische Ordnung gehörig stört.14 Diejenigen, die ihren Anspruch auf Teilnahme an politischen Dingen nicht auf mehr gründen können als auf die bloße Tatsache, dass sie zum Regieren nicht schlechter geeignet sind als zum Regiert-Werden, erobern einen Anteil am Raum der Ordnung: „Die Politik existiert, wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen wird durch die Einrichtung eines Anteils der Anteillosen.“15 Die Anteillosen kön‐ nen ihren Anspruch nicht rechtfertigen, sondern nur durch eine Inszenierung ihrer Gleichheit gegenüber den Anteilhabenden verwirklichen; im Zuge eines Prozesses der Subjektivierung – einer fiktionalen Verdopplung der eigenen Identität, auf die später noch genauer einzugehen sein wird – artikulieren sie ihre Forderungen „als ob“ sie Gleiche unter Gleichen wären. Die Rollen von good cops und bad cops scheinen so auf den ersten Blick nur allzu gut verteilt. Aus institutionentheoretischer Perspektive muss dann der Hauptvorwurf an Rancière lauten, dass er innerhalb der „Polizei“ keine weiteren Unterscheidungen, beispielsweise „zwischen einer diktatorischen und einer rechts‐ staatlichen Polizei“, zu treffen vermöge.16 Wenn man Rancière aufmerksam liest, müssen solche Vorwürfe allerdings über‐ raschen. Erstens hat Rancière bereits im Unvernehmen darauf hingewiesen, dass „Polizei“ und „Politik“ enger zusammenhängen, als es viele seiner Interpret*innen zugestehen wollten. Für Rancière lässt sich „die Politik“ nicht durch ihre hehren demokratischen Ziele auszeichnen,17 sie hat auch keinen ihr eigenen Ort (die Zivil‐ gesellschaft, den Protest, den Aufstand) – vielmehr ist „die Politik“ bei Rancière eine Form.18 Als solche ist sie immer eng mit den Dispositiven der Polizei verbun‐ den, weil letztere das Feld sind, in dem „die Politik“ agiert.19 So schreibt Rancière
Vgl. Rancière 2010, S. 225ff. Rancière 2008a, S. 15. Rancière 2002, S. 24. Abbas 2019, S. 392. Projekte und Politiken, die sich den Wert der Gleichheit auf die Fahnen schreiben, können selbst sehr hierarchisch organisiert sein und waren es tatsächlich oft genug. 18 Rancière 2002, S. 43. 19 Ebd.; Rancière 2011, S. 249.
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sehr deutlich: „Ein und dieselbe Sache – eine Wahl, ein Streik, eine Demonstration – kann Politik stattfinden lassen oder sie nicht stattfinden lassen.“20 Zweitens hat er in diesem Kontext auch darauf hingewiesen, dass das Konzept der „Polizei“ im Prinzip durchaus Raum für Unterscheidungen bietet: „Es gibt eine schlechtere und bessere Polizei“, und die bessere ist „diejenige, die die Einbrüche der gleichheitlichen Logik am häufigsten von ihrer ‚natürlichen‘ Logik abgelöst haben.“21 Die „bessere“ Polizei zeichnet sich also dadurch aus, dass sich die Effekte demokratischer Politik bereits in ihr niedergeschlagen haben – als Ausweitung des Wahlrechts zum Beispiel. Hier bleibt noch offen, ob die „bessere“ Polizei einfach nur weniger willkürlich ist und „der Politik“ daher mehr Freiraum lässt, oder ob die Demokratisierung von Institu‐ tionen tatsächlich zu Charakteristika führt, die zukünftige Demokratisierungsprozes‐ se selbst ermöglichen. In jüngeren Interviews hat Rancière allerdings genau diesen letzten Zusammenhang explizit behauptet: „Es gibt für mich ein grundlegendes Kriterium der Effektivität politischen Handelns, dass es nämlich die Institutionalisie‐ rung der Bedingungen seiner eigenen Existenz erschafft, erweitert und erlaubt.“22 Und fünf Jahre später beharrt er schlussendlich darauf, dass emanzipatorische Politik über die flüchtige Unterbrechung der polizeilichen Ordnung hinausgehen muss: „Aber diese Unterbrechung [emanzipatorischer Politik] ist kein Ereignis einer kurzlebigen Erhebung. Es handelt sich um eine Neukonfiguration der Denkbarkeit der Macht selbst, die sich in konkreten Institutionen materialisiert und dauerhafte geschichtliche Traditionen erzeugt.“23 Unter den Rancière-Interpret*innen sind es insbesondere Samuel A. Chambers und Benjamin Arditi,24 die an dieser Stelle weiter gedacht haben. Aus der Einsicht in die Verwobenheit von Politik und Polizei hat Samuel A. Chambers geschlussfolgert, dass es in Rancières Sinne so etwas wie eine demokratische „Politik der Polizei“ geben müsse, die wachsam das Veränderungspotential innerhalb der polizeilichen Ordnung aufgreift.25 Darauf aufbauend hat Benjamin Arditi angemerkt, dass eine solche „Politik der Polizei“ auch bedeute, dass Demokratisierungsprozesse nicht notwendigerweise von den „Anteillosen“ ausgehen müssen. 26 Wenn wir den Gegensatz von „der Politik“ und „Polizei“ so nuancieren, kann auch die anarchistische Dimension von Rancières Denken genauer verortet werden: Man kann Rancière zu Recht als einen philosophischen Anarchisten verstehen,27 der die Plausibilität gängiger Rechtfertigungen von Herrschaftsverhältnissen in Fra‐ Rancière 2002, S. 44, Übersetzung angepasst. Rancière 2002, S. 42. Rancière 2012a, S. 272, eigene Übersetzung. Rancière 2017, S. 729. Chambers 2011, 2013; Arditi 2019. Chambers 2013, S. 87. Arditi 2019, S. 72. Damit entkoppelt Arditi demokratische Politik von der Notwendigkeit von Subjektivierungs- und Emanzipationsprozessen. 27 So auch Rancière 2011, S. 238. 20 21 22 23 24 25 26
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ge stellt, ohne sie deshalb grundlegend abschaffen zu wollen; das Etikett des politi‐ schen Anarchismus würde die Interpretation dagegen in eine falsche Richtung füh‐ ren.28 Ausgehend von dieser Nuancierung kann es nicht um die Entwicklung von Kriterien oder Modellen gehen, mit deren Hilfe alle staatlichen Institutionen als de‐ mokratisch beschrieben werden können. Rancières nüchterne Diagnose „wir leben nicht in Demokratien“29 verstellt dann aber keineswegs die Frage nach institutionel‐ len Konfigurationen, die demokratische Politik eher möglich machen als andere.30
1.2 Laclau: radikaldemokratische Politik gegen die Institutionen oder gegen das Establishment? Auch im Fall von Ernesto Laclau scheint es im deutschsprachigen Diskurs häufig schon begründungsbedürftig, wenn man seine Arbeiten für demokratietheoretische Fragestellungen in Anschlag bringen möchte.31 Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass Laclau seit der Veröffentlichung von On Populist Reason 2005 vor allem als Populismustheoretiker wahrgenommen wurde. Gerade im Vergleich zu den de‐ mokratietheoretischen Arbeiten von Chantal Mouffe, werden Laclaus dezidiert radi‐ kaldemokratischen Positionierungen häufig ausgeblendet.32 Dennoch bietet Laclaus Werk eine Reihe von Anknüpfungspunkten, um Fragen der Institutionalisierung von agonaler Demokratie produktiv zu bearbeiten. Laclau begreift Populismus als „politische Logik“. Populistische Projekte werden damit weniger über spezifische und empirisch erfassbare Inhalte definiert, sondern als diskursive Konstrukte, die sich im spannungsreichen Zusammenspiel zweier po‐ litischer Logiken entfalten: der Logik der Differenz und der Logik der Äquivalenz.33 Während erstere Gesellschaft als ein Ensemble weitestgehend isolierter Diskursposi‐ tionen konstituiert, entsteht mit der Logik der Äquivalenz eine Verknüpfung eben jener Partikularitäten. Im Populismus artikuliert sich diese Äquivalenz als gemein‐ same Ablehnung vis-à-vis einer institutionellen Ordnung. Einen solchen Vorgang erklärt Laclau ausgehend von demands als kleinste Analyseeinheiten und Diskurspo‐ sitionen. Gelingt es politischen Akteuren, die Zurückweisung verschiedener deman‐ ds zu artikulieren, verknüpfen sich diese zu einer Äquivalenzkette. Die demands bewahren ihre jeweiligen differentiellen Inhalte, teilen aber nun die gemeinsam er‐ Vgl. ähnlich Flügel-Martinsen 2017, S. 191. Rancière 2012b, S. 89. Vgl. auch Celikates/Keller 2006. Vgl. einführend Nonhoff 2019. Wir verstehen die Entwicklung beider Autor*innen seit der gemeinsamen Veröffentlichung von Hegemony and Socialist Strategy (Laclau/Mouffe 2014 [1985]) nicht als Changieren zwischen radikaldemokratischer und populistischer Affirmation, sondern als Verschiebungen innerhalb des gemeinsamen Theoriegebäudes. 33 Vgl. Laclau 2005a, S. 80.
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fahrene Abweisung durch eine institutionelle Ordnung.34 Das Verhältnis der beiden Logiken ist für uns von Relevanz, weil Laclau ihr Verhältnis zueinander auch als einen Gegensatz zwischen einem institutionellen und einem populistischen Diskurs beschreibt: „The difference between a populist and an institutionalist totalization is to be found at the level of these privileged, hegemonic signifiers which structure, as nodal points, the ensemble of a discursive formation. Difference and equivalence are present in both cases, but an institutionalist discourse is one that attempts to make the limits of the discursive formation coincide with the limits of the community. “35
Populistische Diskurse zielen dagegen auf einen antagonistischen Bruch des politi‐ schen Raums. Entlang dieses Bruchs wird der populistische Kollektivakteur (the people) artikuliert und gegen eine institutionelle Ordnung in Stellung gebracht, die jegliche Spaltung der Gesellschaft zu unterbinden versucht.36 Die anti-institutionelle Stoßrichtung dieser antagonistischen Relation liegt auf der Hand und in Verbindung mit der Zentralität starker Führungspersönlichkeiten innerhalb der affektiven Struktur populistischer Projekte, sind wir mit einer Theo‐ rie konfrontiert,37 die scheinbar wenig Raum für institutionelle Argumente lässt. Gleichzeitig wirft sie die Frage auf, ob egalitäre und emanzipatorische Errungen‐ schaften innerhalb liberaldemokratischer Institutionen durch linkspopulistische Pro‐ jekte bewahrt werden können.38 Wir können jedoch ein differenziertes Bild zeichnen, wenn wir den, häufig nur sporadisch bedachten, dritten Teil von On Populist Reason stärker heranziehen, in dem Laclau unter anderem verschiedene historische Spielarten populistischer Pro‐ jekte analysiert. In Kritik an Yves Surels Analyse populistischer Parteien39 plädiert Laclau für eine dynamische Einordnung des Anti-Institutionalismus populistischer Bewegungen, der sich für Laclau in Abhängigkeit zum konkreten Zustand der insti‐ tutionellen Ordnung bestimmt: Befindet sich diese in weitestgehender Desintegrati‐ on – Verhältnisse, die Laclau mit Gramscis Begriff der organischen Krise beschreibt – organisieren sich populistische Akteure in grundlegender Opposition und zielen auf eine umfassende Rekonstituierung der politischen Ordnung ab. Besitzt das insti‐ tutionelle Gefüge jedoch ausreichend Stabilität, wird jede Form des Anti-Institutio‐ nalismus marginalisiert und kann nur randständig als Herausforderung artikuliert werden. Zwischen diesen beiden Optionen liegen institutionelle Ordnungen, die
34 35 36 37 38 39
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Vgl. Laclau 2005a, S. 72-77 und 82-83. Laclau 2005a, S. 81. Vgl. Laclau 2005a, S. 154. Vgl. Laclau 2005a, S. 99-110. Vgl. Cohen 2019, S. 396-404. Vgl. Surel 2003, S. 111-129.
nicht bis ins letzte Glied durchstrukturiert sind und damit in gewisser Weise Raum für periodische Prozesse der Rekonstituierung lassen:40 „[P]opulism presents itself both as subversive of the existing state of things and as the starting point for a more or less radical reconstruction of a new order whenever the previous one has been shaken. The institutional system has to be (again, more or less) broken if the populist appeal is to be effective. [...] [P]opulism never emerges from an absolute outside and advances in such a way that the previous state of affairs dissolves around it, but proceeds by articulating fragmented and dislocated demands around a new core. So some degree of crisis in the old structure is a necessary precondition of populism for, as we have seen, popular identities require equivalential chains of unfulfilled deman‐ ds.“41
Wir sollten den Anti-Institutionalismus von populistischen Projekten deshalb als graduelle Eigenschaft erfassen, die sich daran bemisst, wie sehr die institutionelle Ordnung in der Lage ist, von populistischen Projekten artikulierte Forderungen auf‐ zunehmen.42 Aufgrund der Konflikthaftigkeit des Politischen wird eine institutionel‐ le Ordnung nie in der Lage sein, alle an sie herangetragenen Forderungen umfassend aufzunehmen, sodass die oben aufgeführten Krisensymptome eher wiederkehrendes Alltagsgeschäft als Ausnahmezustand sind. Für einen differenzierteren Blick auf Laclaus Anti-Institutionalismus spricht auch ein kürzerer Text über das Konzept der radikalen Demokratie.43 Dort bestimmt Laclau das Konzept der radikalen Demokratie anhand dreier Dimensionen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: eine liberale Dimension, in der „ra‐ dikale Demokratie“ vor allem vor dem Hintergrund institutioneller Verfahren und Regeln gedacht wird; eine populistische Dimension, in der die Konstituierung eines Kollektivakteurs im Zentrum steht, sowie eine pluralistische Dimension, die auf die Radikalisierung von Pluralismus als konstituierendes Gesellschaftsprinzip abstellt.44 Radikale Demokratie wird damit zu einem politischen, artikulatorischen Akt, der sich als das kontingente Zusammenspiel von Verschiebungen, Überlagerungen und Ausbalancierungen der jeweiligen Dimensionen zu- und gegeneinander verstehen lässt.45 Eine spannungsfreie Artikulation ist nicht möglich. Für Fragen nach der institutionellen Ausgestaltung agonaler Demokratie ist dabei von besonderer Bedeu‐ tung, dass für Laclau die Idee radikaler Demokratie kollabiert, sofern man sie in einer der drei Dimensionen des Begriffs aufgehen lässt. Mit dieser Begriffsbestimmung radikaler Demokratie ergibt sich so die Chance, sich der von Laclau bezeichneten und bisher nicht ausgearbeiteten institutionellen 40 41 42 43 44 45
Vgl. Laclau 2005a, S. 177-178. Laclau 2005a, S. 177. Vgl. Mirò 2019, S. 118-119. Vgl. Nonhoff 2019, S. 344-345. Vgl. Laclau 2005b, S. 258-261. Vgl. Laclau 2005b, S. 258, 261.
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Dimension mit Hilfe seiner Populismustheorie anzunehmen: Einerseits, indem wir potentielle Spannungslinien zwischen diesen beiden Dimensionen benennen und verhandeln. Andererseits, indem wir Möglichkeiten ergründen, die eine produktivere Verbindung der jeweiligen Dimensionen zueinander begünstigen. Damit ist der Übergang zu Fragen institutioneller Ausgestaltung demokratischer Ordnungen mit und gegen populistische Projekte bereits greifbar. Wir schlagen vor, die graduellen Möglichkeiten im Verhältnis zwischen Populismus und institu‐ tioneller Ordnung mit Hilfe der beiden Pole „Anti-Establishment“ und „Anti-In‐ stitutionalismus“ zu beschreiben. Populistische Projekte sind in jederlei Hinsicht Diskurse, die sich gegen ein wie auch immer konstruiertes Establishment wenden. Doch erst wenn das Argument hinzutritt, dass nur eine Überwindung des gesamten institutionellen Gefüges eine Überwindung der hegemonialen Machtposition des Establishments verspricht, kann man einen populistischen Diskurs auch als strikt anti-institutionell bezeichnen. Selbst dann werden populistische Projekte jedoch über verschiedene Anknüpfungspunkte innerhalb der institutionellen Ordnung ein neues institutionelles Gefüge in ihrem Sinne konstruieren.46 Ein radikal anti-institutioneller Populismus ist für Laclau zwar keine Unmöglichkeit, er weist ihm aber nur eine marginale strategische Bedeutung zu: „In a situation of complete institutional stabi‐ lity (and ‚complete’, of course, implies a purely ideal situation) the only possible opposition to that system would emanate from a pure outside – that is, it would come from purely marginal and ineffective strata.“47 Laclaus Institutionenkritik ist aus dieser Perspektive von einem strikten Anti-In‐ stitutionalismus getrennt und versperrt damit auch nicht mehr grundsätzlich die Zuwendung zu institutionellen Fragen demokratischer Ordnungen. Dabei sind wir davon überzeugt, dass bereits in der Form der Institutionenkritik sowohl bei Ranciè‐ re als auch bei Laclau Argumente zu finden sind, die eine stärkere Fokussierung auf das Konzept der Repräsentation nahelegen.
2. Zwei Umwege zum Repräsentationsbegriff Ihren skeptischen, dabei aber nicht unproduktiven Blick auf politische Institutionen gewinnen sowohl Rancière als auch Laclau nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem marxistischen Strukturalismus von Louis Althusser und dessen ökonomi‐ schen Determinismus.48 In Folge des Bruchs mit dem Strukturalismus wird werkbio‐ graphisch im Denken unserer beiden Protagonisten der „Verlust des Referenten“ virulent, der viele Theoretiker*innen des späten 20. Jahrhunderts dazu führt, das 46 Vgl. Stavrakakis 2011, S. 313. 47 Laclau 2005a, S. 177. 48 Vgl. Laclau 1990a, S. 177-179, Rancière 2014b.
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Konzept der Repräsentation grundlegend neu zu überdenken. Hier aber trennen sich die Wege: Während Rancière einen neuen Repräsentationsbegriff auf den Pfaden der Ästhetik entwickelt, beschreitet Laclau den Weg hin zum Verständnis von Repräsen‐ tation als ontologischen Grundbegriff vor allem über eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und ihren politiktheoretischen Implikationen.49
2.1 Der ästhetische Pfad: Rancière In seiner Doktorarbeit studierte Rancière die Selbstwahrnehmung der Mitglieder der französischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Hier entdeckt er einen intrinsischen Zusammenhang von Politik und Ästhetik, der sein Werk in der Folge prägte. „Ästhetisch“ meint dabei für Rancière in einem sehr grundsätzlichen Sinne das Zusammenspiel zwischen Formen der Darstellung (oder Formen der Repräsen‐ tation) und Formen der Wahrnehmung des Repräsentierten. Eine Maler*in, eine Schauspieler*in, eine Redner*in zeigt etwas, das von einem Publikum gesehen, gehört, gefühlt, verstanden wird. Diese sinnlichen Interaktionen sind für Rancière nicht nur in der Kunst relevant, sondern auch in der Politik – in ihnen trifft sich die politische Dimension der Kunst mit der ästhetischen Dimension der Politik, die Rancière einen starken Fokus auf symbolische Repräsentationsprozesse legen lässt.50 In seinen Texten zur Ästhetik unterscheidet Rancière drei Kunstparadigmen: das ethische, das mimetische und das ästhetische Regime der Kunst.51 Diese Paradigmen stellen Rancière Denkfiguren bereit, die er auch in seine Analyse von politischen Phänomenen überträgt. Sie lassen uns nicht nur verstehen, worauf es ihm bei poli‐ tiktheoretischen Unterscheidungen wie jener zwischen „Polizei“ und „der Politik“ tatsächlich ankommt; sie führen vor allem dazu, politische Phänomene stets auf ihre zwar meist impliziten, aber spezifischen Verknüpfungen von Darstellungsformen und Wahrnehmungsformen hin zu befragen. Deswegen lohnt es sich, die drei Kunst‐ paradigmen genauer einzuführen. Im ethischen Regime der Kunst stehen die Effekte im Vordergrund, die ein Kunst‐ werk in seinen Betrachter*innen hervorruft.52 Werden sie tugendhaftere Menschen sein, wenn sie das Buch schließen? Werden sie sich zum Kampf für die richtige Sache ermächtigt fühlen, wenn sie den Theatersaal verlassen? Einflussreiche Dra‐ 49 Damit ist auch behauptet, dass Rancières Politiktheorie „ohne Ontologie“ auskommt, wie Flü‐ gel-Martinsen 2017, S. 185 und Arditi 2019, S. 57f. argumentieren. Obwohl Rancière mit dem Konzept „des Politischen” arbeitet, wird es zu einer „Residualkategorie”, wie Oliver Marchart 2011, S. 131, im Vergleich zu anderen Postfundamentalist*innen zeigt. 50 Vgl. z.B. Rancière 2014a, S. 161. 51 Vgl. insb. Rancière 2008b, S. 36ff. 52 Rancière 2008b, S. 36.
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matiker wie Bertolt Brecht hätten „das Theater zum Ort gemacht, wo das passive Publikum der Zuschauer sich in sein Gegenteil verwandeln sollte, in den aktiven Körper einer Gemeinschaft, die ihr Lebensprinzip ausagiert.“53 Die Repräsentation soll sich und die ihr eigene Distanz zu Gunsten einer unmittelbaren „Selbstgegen‐ wart“ überwinden.54 Wichtig ist für Rancière, dass das ethische Regime der Kunst eine Prämisse als selbstverständlich unterstellt: dass es sowohl möglich als auch wünschbar ist, ein Kunstwerk so zu gestalten, dass es einen spezifischen und steuer‐ baren Effekt auf das Publikum hat. Vom ethischen Regime der Kunst unterscheidet Rancière das mimetische Regime der Kunst. Der charakteristische Zug ist hier nicht nur, dass ein Kunstwerk einen Re‐ ferenten möglichst treu imitiert; wichtig ist hier vor allem, dass mimesis als Prinzip nur dann sinnvoll und möglich ist, wenn es a) Referenten gibt, die es weniger oder mehr wert sind, repräsentiert zu werden; und wenn es b) Formen der Darstellung gibt, die ihre Funktion besser erfüllen als andere.55 Zuschauerschaft besteht dann darin, diese Hierarchien der Gegenstände und die Hierarchie ihrer Sag- und Darstell‐ barkeitsformen zu akzeptieren. Insgesamt geht es im mimetischen Regime der Kunst also darum, Hierarchien zu rechtfertigen, und insofern zeigen sich viele Parallelen zu den Dispositiven der Polizei.56 Wenn man das ethische mit dem mimetischen Regime der Kunst vergleichen möchte, so könnte man sagen, dass ersteres die Kunst in den Dienst einer Verände‐ rung der Welt stellt und letzteres die Kunst in den Dienst einer Stabilisierung des Status quo stellt. Wichtig ist: Beide stellen die Kunst in den Dienst der Welt. Sie sind deswegen beide bemüht, die Form der Darstellung der Künstler*in in eine stabile Beziehung zur Form der Wahrnehmung der Betrachter*in zu stellen. Die Dis‐ tanz zwischen dem Repräsentierten und den Zuschauer*innen soll somit verfügbar gemacht werden. Genau in dieser Hinsicht macht das ästhetische Regime der Kunst, das Rancière bevorzugt, einen Unterschied: „Im Kern dessen, was ich ästhetisches Regime der Kunst nenne, liegt der Verlust jedes bestimmten Verhältnisses zwischen einem Werk und seinem Publikum [...].“57 Das ästhetische Regime unterstellt eine prinzipielle Heterogenität zwischen den Formen der Darstellung und den Formen der Wahrneh‐ mung;58 es wertet damit die Distanz zwischen Repräsentiertem und Zuschauer*in‐ nen auf – denn Distanz „ist die normale Bedingung jeder Kommunikation.“59 Wenn die Wahrnehmung aber der Verfügbarkeit durch die Darstellung entzogen wird, dann 53 54 55 56 57 58 59
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Rancière 2015, S. 15, siehe auch Rancière 1998. Rancière 2015, S. 16. Rancière 2008b, S. 38. Vgl. Rancière 2008b, S. 39. Rancière 2014a, S. 162f. Vgl. Rancière 2008b, S. 39. Rancière 2015, S. 21.
erscheint das Zuschauen nicht mehr nur als passiv, sondern als Aktivität eigenen Rechts: „Emanzipation beginnt dann, wenn man den Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage stellt, wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die in dieser Weise die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung angehören. Sie beginnt, wenn man versteht, dass Sehen auch ein Handeln ist, das diese Verteilung der Positionen bestätigt oder verändert. Auch der Zuschauer handelt, wie der Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das, was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten von Orten.“60
Mit dieser „Emanzipation des Zuschauers“ beschreibt Rancière den Beginn eines Subjektivierungsprozesses,61 in dem sich der Zuschauer zunächst mit der ihm zuge‐ wiesenen Rolle des „bloßen Betrachters“ des-identifiziert, sich in seinem Austesten von interpretativen Möglichkeiten oder dem „Schreiben seines eigenen Gedichtes“62 mit einer neuen, ihm eigentlich unmöglichen Rolle identifiziert, und sich genau in dieser Doppelung als dem auctor der Repräsentation ungleich und ebenbürtig zugleich begreift. Nun stellt sich die Frage: Gibt es bereits in der Anlage der ästhetischen Interak‐ tion von Darstellungs- und Wahrnehmungsformen etwas, das die Subjektivierungs‐ prozesse des „emanzipierten Zuschauers“ begünstigt? Unserer Ansicht nach muss diese Frage positiv beantwortet werden. Rancière besteht in seinen Beispielen für das ästhetische Paradigma stets darauf, dass der Übergriff von der Darstellung auf die Wahrnehmung durch ein „drittes Ding“ gebrochen wird. Eine Heterogenität zwischen Darstellungsform und Wahrnehmungsform wird dann erfahrbar, wenn das, was repräsentiert wird, fremde Objekte in die selbstverständlichen Hierarchien der mimesis einschleust. Ein Beispiel, das Rancière mit einer „Emanzipation der Zuschauer“ verbunden hat, ist das aus der Not geborene pädagogische Experiment des „unwissenden Lehrmeister“ Joseph Jacotot.63 Im flämischen Exil, aber der flämischen Sprache seiner Studierenden nicht mächtig, muss Jacotot wohl oder übel seine gewohnten didaktischen Methoden variieren. Er weist seine Studierenden an, eine zweisprachi‐ ge Ausgabe der Abenteuer des Telemach auswendig zu lernen. Sie lernen auf diese Weise nicht nur Französisch, sondern liefern Jacotot am Ende des Experiments In‐ terpretationen in ihrer Fremd- und seiner Muttersprache, die eigenständiger sind als einst jene seiner französischen Schüler. Denn mit Hilfe der „gemeinsamen Sache“
60 61 62 63
Rancière 2015, S. 23f. Vgl. Rancière 2019, S. 90f. Ebd. Rancière 2009.
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oder dem „dritten Ding“ – dem Buch Fénélons – zwang Jacotot zwar den Willen der Schüler*innen, nicht aber ihre Intelligenz.64 Es war ihm schlicht unmöglich, ihnen eine „richtige“ Interpretation des Textes beizubringen. Paradoxerweise erhält die Kunst in diesem „ästhetischen Regime“ ihre stärkste Autonomie im Verhältnis zur Welt – und zeigt zugleich das stärkste disruptive Potential für jene Welt. Warum ist das so? Weil ästhetische Erfahrungen in diesem Regime Möglichkeiten greifbar werden lassen, die sich von dem Möglichkeitshaus‐ halt unserer gewohnt-alltäglichen Routinen deutlich abheben. Hier sieht man bereits die Attraktivität der Denkfigur des „ästhetischen Kunstregimes“ für radikaldemokra‐ tische Ambitionen: Das Beispiel zeigt, dass emanzipative Subjektivierungsprozesse selbst in hierarchischen – und damit auch polizeilichen – Settings ihren Ausgang nehmen können. Und es zeigt, dass solche Subjektivierungsprozesse durch die Art des Settings selbst zwar nicht unbedingt „produziert“, aber begünstigt werden kön‐ nen. Rancière selbst hat das „ästhetische Regime der Kunst“ nicht nur auf den pädago‐ gischen, sondern auch auf den politischen Bereich übertragen. Dabei weist er aller‐ dings auch auf ein besonderes Merkmal der „Emanzipation des Politikzuschauers“ hin: „Politische Deklarationen oder Demonstrationen sind wie die künstlerischen Formen Gefüge von Worten, Montagen von Gesten, Besetzungen von Räumen. In beiden Fällen findet eine Modifikation des sinnlichen Gewebes statt, eine Verwandlung des sichtbar Gegebenen, der Intensitäten, der Namen, die man den Dingen geben kann, der Land‐ schaft der Möglichkeiten. Die politischen Aktionen zeichnen sich eigentlich dadurch aus, dass diese Operationen Akte eines Kollektivsubjekts sind, das sich für einen Repräsen‐ tanten aller, für die Fähigkeit aller ausgibt. Diese Art der Erfindung ist spezifisch, aber sie vollzieht sich auf der Grundlage von Modifikationen des sinnlichen Gewebes, die insbesondere von den künstlerischen Umgestaltungen der Räume und der Zeiten, der Formen und Bedeutungen geschaffen werden.“65
Was ist unter den „Akten eines Kollektivsubjekts“ zu verstehen? Damit ist nicht gemeint, dass politische Emanzipationsbewegungen zunächst stets die Konstituie‐ rung eines Kollektivsubjekts benötigen. Vielmehr ist entscheidend, dass die nach der Des-Identifikation angenommene neue Rolle als eine artikuliert wird, die nicht nur dem Individuum und seinem besonderen Genie vorbehalten ist, sondern jedem Beliebigen offen steht – allen anderen Anteillosen, aber auch den Anteilhabenden. Wie im Folgenden deutlich wird, ergibt sich hier ein wesentlicher Unterschied zu Laclau, für den die Bedeutung der Konstituierung von Kollektivsubjekten durch Repräsentationsbeziehungen im Zentrum steht.
64 Rancière 2009, S. 12 und 23. 65 Rancière 2014a, S. 169f.
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2.2 Der psychoanalytische Pfad: Laclau Bereits 1988 verweist Laclau auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Theorie der Repräsentation, die psychoanalytische Einsichten aufnimmt und in den Kontext poli‐ tischer Prozesse im Spätkapitalismus stellt, um die Konstituierung einer politischen Totalität vollständig zu erfassen.66 Jene Notwendigkeit charakterisiert die Entwicklung in Laclaus Arbeiten in den Jahren nach der Veröffentlichung von Hegemony and Socialist Strategy, die eben nicht nur in eine umfassende Populismustheorie mündete, sondern auch eine von der Verbindung zwischen Psychoanalyse und politiktheoretischen Diskursen inspirierte Repräsentationstheorie hervorbrachte,67 die allerdings weitgehend en passant zu den hegemonietheoretischen und populismustheoretischen Argumentationen entsteht. Laclau begreift Repräsentation als ontologische Kategorie, die eine wechselsei‐ tige und konstitutive Relation zwischen Repräsentierten und Repräsentant*in be‐ schreibt. Der Status einer ontologischen Kategorie meint dabei nichts Geringeres, als dass jegliche Prozesse von Identifikation bzw. Subjektformation durch Repräsen‐ tationsdynamiken erst ermöglicht werden. Laclau nähert sich dieser Position aus verschiedenen Richtungen, im Kontext seiner Populismustheorie ist es aber vor allem seine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Einsichten, die ihn an den Punkt führen, Repräsentation als Modus Operandi jeglicher sozialer Realität zu begreifen: „The main ontological consequence of the Freudian discovery of the unconscious is that the category of representation does not simply reproduce, at a secondary level, a fullness preceding it which could be grasped in a direct way but, on the contrary, representation is the absolutely primary level in the constitution of objectivity.“68
Dabei handelt es sich keineswegs um einen transparenten, objektivierbaren Prozess. Im Gegenteil: „There is an opaqueness, an essential impurity in the process of representation, which is at the same time its condition of both possibility and impos‐ sibility.“69 Diese paradoxale Gleichzeitigkeit von Möglichkeit und Unmöglichkeit fungiert als wiederkehrende Denkfigur Laclaus und ist das Ergebnis einer negati‐ ven Ontologie, die jegliche Form von sozialer Realität immer wieder mit ihrer möglichen Erosion und Infragestellung konfrontiert.70 Laclau erfasst diese potentiell 66 Vgl. Laclau 1990b, S. 230-231. 67 Vgl. Thomassen 2019; Glynos/Stavrakakis 2004, S. 201-206. Die Eingrenzung von Repräsen‐ tation durch den Zusatz ‚politisch’ wäre für Laclaus Überlegungen einerseits eine verfehlte Einschränkung, weil er Repräsentation als ontologischen Begriff versteht und andererseits irre‐ führend, weil der Zusatz das von Laclau vertretende Primat des Politischen gegenüber dem So‐ zialen verdecken könnte, vgl. Laclau 1990b, S. 34-36. 68 Laclau 2005a, S. 115. 69 Laclau 1996, S. 98. 70 Vgl. Laclau 1990b, S. 36.
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jederzeit mögliche Verschiebung sozialer Realität, die eine unhintergehbare Kontin‐ genz nach sich zieht, mit dem Begriff der Dislokation.71 Diese Form der Subversion jedweder Objektivität erschöpft sich jedoch nicht nur innerhalb einer negativen Dimension. Dislokationen eröffnen für Laclau erst die Möglichkeit des Handelns für politische Subjekte: „The dislocated structure thus opens possibilities of multiple and indeterminate rearticulations for those freed from its coercive force and who are consequently outside it.“72 An diesem Punkt greifen eine Reihe von zentralen Konzepten Laclaus ineinander. Wenn einerseits soziale Realität sich aufgrund von Dislokationen nie als eine abgeschlossene Totalität konstituieren kann, bedarf es eines Prozesses, der es dennoch ermöglicht, mindestens prekäre und temporäre Formen von Ordnungen zu produzieren, da ansonsten die Ordnung als Ganzes nicht erfassbar wäre.73 Genau ein solches Anwesendmachen einer abwesenden Totalität leistet Repräsentation. Dabei sind solche Repräsentationsprozesse für Laclau stets hegemonialer Natur, da eine Partikularität innerhalb eines Diskurses sich der Rolle annimmt, den Diskurs als Ganzes zu symbolisieren: „This relation by which a parti‐ cular content becomes the signifier of the absent communitarian fullness is exactly what we call a hegemonic relationship.“74 Im Kontext seiner Populismustheorie ist eben jene Relation die diskursive Verbindung eines leeren Signifikanten mit einer Äquivalenzkette unterschiedlicher demands, die den populistischen Kollektivakteur als solchen erst konstituiert.75 Repräsentation operiert dabei mit einem Mythos, da die hegemoniale Formation etwas vorgibt (eine geschlossene Totalität), das sie auf‐ grund ihres konstitutiven Mangels nicht sein kann. Gerade deshalb ist die affektive Dimension von Repräsentationsprozessen von zentraler Bedeutung. Nur durch ein starke affektive Bindung – Laclau spricht von einem radikalen Investment76 – ist es überhaupt möglich, dass die Partikularität eine vermeintliche Einheit repräsentieren kann: „No social fullness is achievable except through hegemony; and hegemony is nothing more than the investment, in a partial object, of a fullness which will always evade us because it is purely mythical.“77 Dieser Konvergenzpunkt der verschiedenen Begrifflichkeiten – Dislokation, He‐ gemonie, Repräsentation, Affekt und radikales Investment – ist deshalb relevant, weil wir so zentrale Charakteristika des Repräsentationsbegriffs bei Laclau zusam‐ menfassen können: Erstens, dass Repräsentation eine konstitutive Funktion besitzt und die Subjekte an den jeweiligen Polen innerhalb einer Repräsentationsbeziehung
Vgl. Laclau 1990b, S. 41-45, ausführlich Glynos/Stavrakakis 2004. Laclau 1990b, S. 42-43. Vgl. Laclau 2005a, S. 69. Laclau 1996, S. 43. Vgl. Laclau 2005a, S. 69-71. Der Zusatz radikal verweist dabei auf die Unbestimmtheit des Objekts des Investments, vgl. ausführlich Laclau 2005a, S. 110-117. 77 Laclau 2005a, S. 116. 71 72 73 74 75 76
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erst durch eben diese Relation konstituiert werden. Zweitens, dass diese Beziehun‐ gen kontingent sind und nicht durch irgendeine Form logischer Verknüpfung vorbe‐ stimmt sind. Ihre Konstituierung ist damit immer prekär, bedroht durch Dislokatio‐ nen, so dass, drittens, Repräsentation eben auch eine hegemoniale Beziehung ist, die eines radikalen Investments bedarf. Anders ausgedrückt: Die Konstituierung und der Bestand von Repräsentationsbeziehungen ist das prekäre und diskursive Resultat von affektiv bestimmten Machtkämpfen.78 Führen wir uns diese Charakteristika vor Augen, ist es nicht wirklich verwunder‐ lich, dass Laclau die symbolische Repräsentation verteidigt,79 die Hanna F. Pitkin in einer einflussreichen Kritik als irrational und arbiträr bezeichnet hat, gerade weil symbolische Repräsentationsbeziehungen affektiv strukturiert sind. 80 Fehlt somit die Möglichkeit einer logischen und rationalen Basis, führt symbo‐ lische Repräsentation laut Pitkin in affektgesteuerte Manipulation, insbesondere betrieben von charismatischen Führungspersönlichkeiten, die sich selbst als Sym‐ bol für die gesellschaftliche Einheit konstituieren.81 Für Laclau hingegen ist die Frage nach der Rationalität innerhalb repräsentativer Relationen irreführend, weil die Möglichkeit rationaler Legitimität der konstitutiven Funktion von Repräsentation nachgelagert ist: „Once some basic political identifications have taken place, reasons can be given for particular decisions and choices, but the latter require as their point an identity which does not precede but results from the process of representation.“82 An diesem Punkt lässt sich jedoch innerhalb der diskursiven Praxis von Populis‐ mus eine Tendenz identifizieren, die zu einer Asymmetrie zwischen Repräsentant*in und Repräsentierten führt. Zwar geht Laclau einerseits davon aus, dass es zwischen der Autonomie der Repräsentant*in und der Autonomie der Repräsentierten ein Spannungsverhältnis gibt, das bei einer einseitigen Überstrapazierung zur Auflösung der Relation in Gänze führen würde. Doch andererseits wird jenes Spannungsver‐ hältnis im Kontext von Populismus zugunsten des populist leader verschoben: „[T]he unity of the equivalential ensemble, of the irreducibly new collective will in which particular equivalences crystallize depends entirely on the social productivity of a name.“83 Die Operation des naming ist, dieser Logik folgend, eine alleinige Operation der Repräsentant*in und führt zu einer Hierarchisierung. Anders ausge‐ drückt: Repräsentation aus dieser Perspektive wäre immer ein Prozess, der zuerst von oben nach unten verläuft. Thomassen weist jedoch zurecht darauf hin, dass die Operation des naming immer auf Anerkennung derjenigen angewiesen ist, die
78 79 80 81 82 83
Vgl. Laclau 2004, S. 299-300. Vgl. Laclau 2005a, S. 157-164. Vgl. Pitkin 1972, S. 100. Vgl. Pitkin 1972, S. 101-103. Laclau 2005a, S. 161. Laclau 2005a, S. 108.
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als Totalität durch einen Namen erfasst werden. Die vermeintliche Souveränität der Repräsentant*in ist immer bereits partiell und eingegrenzt.84 Die Bestimmung der Repräsentationsbeziehung über ihre affektive, konstitutive und kontingente Dimension erlaubt es uns, das Verhältnis zwischen dem Prozess der Repräsentation und ihrer institutionellen Einbettung spezifischer zu erfassen und bildet damit eine Grundlage, über etwaige Potentiale verschiedener institutioneller Settings zu verhandeln. Im Kontext der drei Dimensionen radikaler Demokratie bildet Repräsentation damit das Terrain, auf dem wir die Spannungen zwischen der liberalen, institutionellen Dimension und der populistischen Dimension bearbeiten können. Gerade deshalb ist es wichtig, die sich andeutende Priorisierung der Reprä‐ sentant*in als populist leader innerhalb von Repräsentationsbeziehungen bei Laclau offenzulegen und mit Thomassen als eine partielle Souveränität zu begreifen, die eingebettet ist in einen spezifischen institutionellen Kontext. Es ist offensichtlich, dass Laclaus Repräsentationsbegriff keinerlei a priori normative Verzahnung mit (liberal-)demokratischen Institutionen besitzt. Mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Reformulierung seiner Institutionenkritik und der Rekonstruktion seines Repräsenta‐ tionsverständnisses können wir uns jedoch auf die Suche nach demokratischen und emanzipatorischen Potentialen von Institutionen begeben. Laclau selbst gibt eine Richtschnur, welcher Pfad eingeschlagen werden sollte, um solche Potenziale zu heben: „This means that we cannot escape the framework of the representative processes, and that democratic alternatives must be constructed that multiply the points from and around which representation operates rather than attempt to limit its scope and area of operati‐ on.“85
3. Spielarten einer demokratischen Repräsentation des agon Trotz der sehr unterschiedlichen Repräsentationskonzepte, die Rancière und Laclau aus ihren ästhetischen bzw. psychoanalytischen Überlegungen gewinnen, zeichnen sich beide durch eine Aufwertung symbolischer Repräsentation aus. Beide begreifen symbolische Repräsentationsprozesse als konstitutiv für die Beziehung zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten und nehmen damit eine wichtige Einsicht des sogenannten constructivist turn in der politischen Repräsentationsforschung vor‐ weg. Und für beide bergen symbolische Repräsentationen ein radikaldemokratisches Versprechen, weil sie Emanzipationsprozesse befördern können. 84 Vgl. Thomassen 2019, S. 337. Eine vergleichbare Argumentation vollzieht Laclau selbst, wenn er sich mit dem Verweis auf die ethische und normative Verknüpfung im Konzept des radika‐ len Investment gegenüber dem Vorwurf des Formalismus und normativen Defizits seiner Theo‐ rie verteidigt, vgl. Laclau 2004, S. 268-288; siehe auch Critchley 2004. 85 Laclau 1996, S. 99, eigene Hervorhebung.
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Dennoch bleibt die Beziehung zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten für Rancière und Laclau immer eine asymmetrische, von Ungleichheit gekennzeich‐ nete Beziehung. Denn die üblichen Legitimierungen der Repräsentant*in durch Au‐ torisierung oder Rechenschaft greifen zu kurz, wenn anerkannt werden muss,86 dass sich die Positionen von Repräsentant*in und Repräsentierten erst im Repräsentati‐ onsprozess selbst symbolisch konstituieren. Dieses Problem machen beide Theorien bearbeitbar, indem sie nicht das Ziel verfolgen, diese Asymmetrie zu überwinden, sondern über die Anerkennung dieser Ungleichheit den Fokus auf deren konkrete in‐ stitutionelle Ausgestaltung lenken, in der die Asymmetrie konfliktiv adressiert wer‐ den kann. In der Folge geben wir eine Aussicht darauf, wie diese alternativen insti‐ tutionellen Gestaltungsmöglichkeiten mit Rancière und Laclau aussehen könnten.
3.1 Repräsentationsbeziehungen unterbrechen In Der Hass der Demokratie fällt Jacques Rancière ein harsches Urteil über die re‐ präsentative Demokratie. Sie sei eigentlich gar keine Demokratie, sondern historisch als ihr „genaues Gegenteil“ entstanden: als „eine oligarchische Form vollen Rechts, eine Repräsentation von Minderheiten, die dazu berechtigt sind, sich um die Angele‐ genheiten der Gemeinschaft zu kümmern.“87 Letztlich aber bleibt er seiner Aussage treu, dass es eine „bessere“ und eine „schlechtere“ Polizei, und mithin auch eine „bessere“ und eine „schlechtere“ Erscheinungsform der politischen Repräsentation geben kann.88 Heutige repräsentative Demokratien sind eine „Mischverfassung“, die „ursprünglich auf dem Privileg der ‚natürlichen‘ Elite gründet“, die aber „durch demokratische Kämpfe nach und nach verfremdet wurde.“89 Repräsentative Demo‐ kratien sind ein „instabiler Kompromiss“, der umso demokratischer sei, je mehr Raum er der „Macht der Beliebigen“ gebe.90 Hier wird Rancière sogar sehr konkret: „Man kann aus dieser Perspektive die maßgeblichen Regeln für jenes Minimum aufzäh‐ len, das es einem repräsentativen System erlaubt, sich als demokratisch zu verstehen: kurze, nicht akkumulierbare und nicht erneuerbare Mandate; das Monopol der Volksver‐ treter über die Ausarbeitung der Gesetze; das den Staatsfunktionären auferlegte Verbot, zugleich Abgeordnete zu sein; die Reduktion der Wahlkampagnen und ihrer Kosten auf ein Minimum und die Kontrolle der Einmischung ökonomischer Kräfte in die Wahlvor‐ gänge.“91
86 87 88 89 90 91
Vgl. Castiglione/Warren 2019, S. 25-29. Rancière 2012b, S. 65. Rancière 2012b, S. 87. Rancière 2021b, S. 66, Übersetzung angepasst. Rancière 2012b, S. 87. Rancière 2012b, S. 88.
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In einem späteren Interview fügt Rancière dieser Liste noch „Maßnahmen zur Entprofessionalisierung der Politik und zur Repräsentation aller sozialen Klassen“, „Partizipation der Ausländer“ und eine „Einführung des Losverfahrens bei der Auf‐ stellung der Kandidaten“ hinzu.92 Diese Bemerkungen zeigen, dass Rancière seinen Leser*innen keine Denkverbote für die institutionelle Ausgestaltung des Repräsenta‐ tionsprinzips auferlegt, wenngleich diese Liste die Frage aufwirft, warum gerade diese Verfahren besonders geeignet sein sollen. Dazu muss rekonstruiert werden, welche Gedankengänge zwischen der Forderung nach einer Institutionalisierung der „Macht der Beliebigen“ und konkreten Verfahrensvorschlägen liegen. Hier hilft nun der Rekurs auf die Konzepte des „ästhetischen Regimes“ und des „emanzipierten Zuschauers“. Mit Hilfe der Figur des „emanzipierten Zuschauers“ kann zunächst problemati‐ siert werden, dass politische Repräsentation als acting for mit der Prämisse eines doppelten Defizits der Repräsentierten arbeitet: Erstens handeln sie als passive „Politikzuschauer“ nicht, und zweitens wissen sie weniger als diejenigen, die sie repräsentieren.93 Die Frage muss dann lauten: Wie sehen Subjektivierungsprozesse aus, die gemäß der „Methode der Gleichheit“94 diese Prämissen aus repräsentativen Verfahren heraus effektiv in ihr Gegenteil verkehren? Mit Rancières „ästhetischem Regime“ lässt sich vorschlagen: Das Zusammenspiel zwischen der Darstellung der Repräsentierenden und der Wahrnehmung der Repräsentierten muss institutionell unterbrochen werden, um die Heterogenität beider Teile des Repräsentationspro‐ zesses anzuerkennen. Dass die Repräsentationsbeziehung ‚asymmetrisch‘ ist, heißt dann nicht länger, dass sie durchgängig hierarchisch sein muss. Hier lassen sich zwei Typen von agonaler Repräsentation mit Rancière entwer‐ fen. Demokratische Repräsentation des ersten Typs nimmt ihren Ausgang von Akteur*innen, die durch die Selbstverständlichkeitssysteme der Polizei bisher mar‐ ginalisiert oder ausgeschlossen wurden. Sie stellen fest, dass die Entscheidungen, die von anderen gefällt werden und für sie gelten, die paradoxe Struktur eines Befehls haben: Einerseits unterstellen sie Ungleichheit – eine Ungleichheit zwischen jenen, die befehlen (sprechen), und jenen, die gehorchen (hören). Andererseits wird unterstellt, dass die Gehorchenden den Befehl verstehen. Wer aber verstehen kann, empfängt den Sinn des Befehls nicht nur, sondern besitzt ihn. Und er teilt eine gemeinsame Fähigkeit mit jenen, die befehlen und darin diese Ebenbürtigkeit der Fähigkeiten unterschlagen.95 Emanzipierte Repräsentierte nehmen diese „gemeinsa‐ me Sache“ zum Ausgangspunkt, um als selbst-autorisierte Akteure ihren Dissens zu formulieren. 92 93 94 95
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Rancière in Celikates/Keller 2006. Vgl. Pitkin 1972, S. 118-119. Rancière 2012a. Rancière 2002, S. 28.
In repräsentativen Institutionen, deren oligarchisches Prinzip bereits demokratisch verfremdet wurde, werden solche Prozesse der Selbst-Autorisierung der vermeint‐ lich passiven Politikzuschauer*innen umso wahrscheinlicher, weil in ihnen jene Gleichheit der Fähigkeiten, die selbst ein Befehl zu einem gewissen Grade unter‐ stellen muss, in Form von Gesetzen und Rechten bereits eine von konkreten kom‐ munikativen Akten unabhängige Form gefunden hat. Wichtig ist nun, dass es den Anteillosen gelingt, sich nicht nur ausgehend von diesen „gemeinsamen Dingen“ selbst als „Gleiche“ zu verstehen, sondern die zugleich unterstellte und verneinte Gleichheit auf eine gemeinsame Bühne zu bringen. Im Prozess der Repräsentation muss die abwesende Gleichheit anwesend gemacht werden. Doch wie kann die Gleichheit aller Beliebigen aufgeführt werden? Indem die Anteillosen so tun, als ob sie „Mitglieder einer bereits existierenden Gemeinschaft wären. Wir tun das gerade, insofern wir diejenigen sind, die nicht zu dieser Gemeinschaft zählen. Wir tun das, indem wir in unsere Zählung diejenigen einbeziehen, die uns nicht mitzählen, die unsere Leistung nicht als einen politischen Akt und die Raum-Zeit, in der wir sie vollbringen, nicht als dem Raum und der Zeit der Politik zugehörig anerkennen.“96
Für Rancière ist ein gelungenes Beispiel für die polemische Unterstellung eines solchen ‚Wir‘ im französischen Studierendenstreik von 1986 zu finden. Denn die Protestierenden hätten sich das Gesetz, das ihren Zorn auf sich zog, weil es die Uni‐ versitäten einer „selektiven Orientierung“ unterziehen wollte, erfolgreich angeeig‐ net. Sie hätten den Gesetzestext gelesen, kommentiert und für schlecht befunden. Sie hätten dieses Urteil den verantwortlichen Politikern mitgeteilt: „[M]an [nahm] sie als Gesetzgeber ernst und tat so, als ob sie durchaus Gesetze machen könnten, die im allgemeinen Interesse sind, weil sie ja dazu da waren.“97 In dieser „dialogischen und polemischen Struktur“ radikaldemokratischer Repräsentation, wird bereits ein Unterschied zu Laclau deutlich:98 Wenn sich das ‚Wir‘ bei ihm zumindest gegen das Establishment artikuliert, dann ist radikaldemokratische Struktur auch polemisch, aber eben nicht dialogisch. Die oben aufgeführten Reformen liberaldemokratischer Institutionen suggerieren aber, dass es noch einen zweiten Typ agonaler Repräsentation gibt, der zwar von Anteilhabenden ausgeht, aber aus dem Inneren der Polizei heraus an einer verän‐ derten „Aufteilung des Sinnlichen“ arbeitet. Denn das gemeinsame Prinzip aller von Rancière unterbreiteten Vorschläge ist, dass sie das Verfahren der Wahl selbst zum Ausgangspunkt eines demokratischen Subjektivierungsprozesses99 machen – 96 97 98 99
Rancière 2014a, S. 183. Rancière 2019, S. 80. Ebd. An dieser Stelle differenzieren wir die in 1.1 angeführte Argumentation von Arditi: „Politik als Polizei“ ist eine Form der Politik, die zwar ohne Emanzipationsprozesse auskommt, aber dennoch auf einem demokratischen Subjektivierungsprozess beruht.
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auch in ihrem „Normalbetrieb“, also außerhalb der Kämpfe um die Ausweitung des Wahlrechts, aus denen Rancières sonstige Beispiele häufig stammen. Auch dieser Subjektivierungsprozess beginnt mit einer Des-Identifizierung. Denn viele Vorschläge seiner Liste trennen das Verfahren der Wahl von der Idee, dass Re‐ präsentierende eine bestimmte Eigenschaft aufweisen müssten, um den demos han‐ delnd zu verkörpern: Wenn Wahlkämpfe von wirtschaftlichen Prozessen entkoppelt werden, wird die Übersetzung von ökonomischen in politisches Verdienst erschwert; wenn auch Nicht-Staatsbürger*innen wählen dürfen, hört die Nationalität auf, ein selbstverständlicher Name für den demos zu sein; wird die Dauer von Mandaten verkürzt und eine unmittelbare Wiederwahl untersagt, werden zugleich ‚Wissen‘ und ‚Erfahrung‘ als Prädikate des politischen acting for entwertet; wird das Losprinzip bei der Aufstellung von Listen genutzt, hören soziale und kulturelle Ähnlichkeit auf, „Beliebige“ zu bekannten Verbündeten zu machen. Was macht dann den demos aus, der zur Wahlurne schreitet? Er teilt und wird geteilt durch den Streit darüber, was von den Wählenden zum Kriterium ihrer Wahl gemacht wird; und jeder der Vorschläge von Rancière weitet diesen Streit aus.100 Die demokratische Qualität des Handelns der Repräsentierenden selbst muss dann separat betrachtet werden. Denken wir das Verhältnis zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten in den Kategorien von Rancières „ästhetischem Regime“, dann ist es umso demokratischer, je mehr die Darstellung der eigenen Argumente und Entscheidungen dem Versuch widersteht, ihre Wahrnehmung und Aufnahme zu steuern.
3.2 Repräsentationsbeziehungen multiplizieren Auch Laclaus Repräsentationstheorie zielt weniger auf die Überwindung der Asym‐ metrie zwischen Repräsentant*in und Repräsentierten ab, sondern rückt unter Aner‐ kennung dieses Machtungleichgewichts die Vervielfältigung der Gelegenheiten zur Herausforderung der Position der Repräsentant*in in den Fokus. So lassen sich mit der Multiplikation der Möglichkeiten für eine Repräsentationsbeziehung die Punkte vervielfältigen, von denen aus die bestehende Hierarchie innerhalb der Beziehung verschoben werden kann. Auf der Ebene symbolischer Repräsentationen erfordert dies zunächst eine Vervielfältigung von Mythen, die um die Repräsentation einer Gesellschaft als Einheit ringen. In Kapitel 2.2 haben wir bereits die affektive Funktion von Mythen im Rahmen der symbolischen Repräsentation einer Gesellschaft als Ganzes nachvollzogen. Ver‐ einfacht gesprochen bedarf es eines nicht erfüllbaren (mythischen) Versprechens 100 Die daraus resultierende letztgültige Unbestimmtheit des demos greift Martinsen in ihrem Beitrag in diesem Band auf.
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der letztgültigen Einheit einer Gesellschaft, um Ordnung zu ermöglichen.101 Die Anerkennung dieser paradoxen gleichzeitigen Unmöglichkeit und Möglichkeit von Ordnung, ist ein zentraler Bestandteil radikaler Demokratie für Laclau, die anders als utopische, postpolitische Visionen des Zusammenlebens den konfliktiven Prozess der Gesellschaftswerdung durch die Produktion von Mythen in den Fokus rücken: „If utopia presents us a social order from which power has been radically eliminated, myth, on the other hand, tends to constitute a will of power.“102 Dies ist ein Prozess, in dem auf Grundlage von unterschiedlichen Mythen (sprich Partikularitäten) um Hegemonie (sprich die Repräsentation der Gesellschaft als Universalität) gerungen wird, wobei sich ein zunehmend hegemonial werdender Mythos als imaginärer Horizont einer Gesellschaft strukturieren kann und so temporär die Grenzen des Möglichen für eine Ordnung festsetzt.103 Laclau geht davon aus, dass spätkapitalistische Gesellschaften immer stärker auf ihre Re-Konstituierung durch Mythen angewiesen sind, weil sie sich immer häufiger mit weitreichenden strukturellen Dislokationen konfrontiert sehen.104 Dies stellt für ihn eine zentrale Ermöglichungsbedingung für radikaldemokratische Projekte dar,105 so dass sich hieran anschließend zwei Schlussfolgerungen treffen lassen: Erstens muss das institutionelle Setting von Demokratien die Möglichkeiten für deren eigene symbolische Re-Konstituierung vorhalten und stärken. Es ist nicht verwunderlich, dass Laclau, bei aller Formalität seiner Populismustheorie, populistischen Diskursen mit einer gewissen Affinität begegnet. Die Konstituierung eines Kollektivakteurs (the people) im Populismus erfüllt eben jene Notwendigkeit der symbolischen ReKonstituierung.106 Zweitens können wir jedoch die Re-Konstituierung nicht nur als alleiniges Terrain von populistischen Diskursen begreifen, wenn wir die Frage stellen, welche und wie viele Akteure innerhalb von Gesellschaften in der Lage sind, solche Prozesse anzustoßen. Auf der Ebene der symbolischen Repräsentation der Gesellschaft geht es dann darum, die Möglichkeiten zur Produktion von Mythen zu vervielfältigen, um so egalitäre und emanzipatorische Potentiale zu heben. Egalitär, weil Gesellschaften demokratischer werden, wenn die Möglichkeiten für Konflikt und Herausforderung des Status quo ausgeweitet und gestärkt werden.107 Institutionalisieren wir die Ver‐ vielfältigung von Repräsentationsbeziehungen, werden im Zuge dessen die Möglich‐ keiten ausgeweitet, bestehende symbolische Repräsentationen von Gesellschaften 101 Vgl. Laclau 1990b, S. 61-63. 102 Laclau 1990b, S. 232, siehe auch Stavrakakis 2011, S. 322. 103 Vgl. Laclau 1990b, S. 63-65. Diese Unterscheidung ähnelt der von Laclau vorgenommenen Differenzierung zwischen leeren und flottierenden Signifikanten, vgl. Laclau 2005a, S. 129-156. 104 Vgl. Laclau 1990b, S. 67-68. 105 Laclau 1990b, S. 45. 106 Vgl. Laclau 2005a, S. 169. 107 Vgl. Laclau 1996, S. 100.
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anzufechten; selbst im Zuge hegemonialer Dominanz durch einen imaginären Hori‐ zont, wird so der Raum für die Produktion neuer Mythen geschaffen, die diesen Horizont verschieben und ablösen können. Die emanzipatorischen Potentiale wer‐ den deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie stark für Laclau Emanzipation von der Möglichkeit der Formulierung eines eigenen symbolischen Bildes von Gesellschaft abhängt: „The relation of representation thus becomes a vehicle of universalization and, as universalization is a precondition of emancipation, it can also become the road to the latter.“108 Die Effekte einer Multiplikation von Repräsentationsbeziehungen lassen sich so‐ mit als paradoxe De-Stabilisierungsdynamik begreifen. Einerseits wirkt sie destabili‐ sierend, weil sich eine stärker dezentrierte Ordnung schwerer als Einheit artikulieren lässt.109 Andererseits stabilisiert dies aber eine gesellschaftliche Ordnung auch, weil die Ausweitung der grundsätzlichen Möglichkeiten zur Herausforderung und Ver‐ schiebung des Status quo die Bereitschaft stärkt, das bestehende institutionelle Set‐ ting nicht in Gänze zu verwerfen. Hier zeigt sich der Mehrwert der Differenzierung von Laclaus Institutionenskepsis: Die Vervielfältigung von Repräsentationsbezie‐ hungen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft zähmt den anti-institutionellen Impuls eines populistischen Projekts. Für Laclau ist es dabei keineswegs eindeutig, dass solche Prozesse immer politisch gewollte Emanzipationspotentiale realisieren. Gerade hier sieht er einen zentralen Unterschied zu Rancière: „Rancière identifies the possibility of politics too much, I believe, with the possibility of an emancipatory politics, without taking account other alternatives – for example, that the uncounted might construct their uncountability in ways that are ideologically incompatible with what either Rancière or I would advocate politically [...].“110
Anders als bei Rancière gibt es bei Laclau allerdings keine Liste konkreter Verfah‐ rensvorschläge für die demokratischere Ausgestaltung von Institutionen. Wir schla‐ gen deshalb vor, die Vervielfältigung von Mythen durch eine Multiplikation von Repräsentationsbeziehungen als eine mögliche Spielart der Repräsentation des agon auf die Ausgestaltung von demokratischen Institutionen zu übertragen. Dies soll anhand zweier kurzer Beispiele skizziert werden. Ein erstes Beispiel wäre ein Wahlkampf um einen Parteivorsitz, in dem nicht nur Parteitagsdelegierte, sondern jedes Parteimitglied, registrierte Unterstützer*innen ohne Parteibuch und Mitglieder verbundener Organisationen wie Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Gruppierungen eine Stimme besitzen. In einem solchen Setting erschöpfen sich die üblichen Machtstrukturen des Partei-Establishments, und die Frage, wer an der Spitze die Partei als Ganzes repräsentiert, wird vielschichtiger und konfliktiver. Ein zweites Beispiel wäre ein gesetzlich verankertes Recht auf 108 Laclau 2000, S. 212. 109 Vgl. Laclau 1990b, S. 40. 110 Laclau 2005a, S. 246.
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unentgeltliche gewerkschaftliche Vertretung von Arbeiter*innen in der gesamten Produktionskette innerhalb eines Unternehmens. Ein solches Recht wäre eine of‐ fensichtliche Dislokation der kapitalistischen Produktionsweise – aber es könnte eben auch die Emanzipation von Personen ermöglichen, die in westlichen Arbeits‐ kämpfen bisher kaum eine Rolle spielen, wie zum Beispiel Arbeiter*innen des globalen Südens. In beiden Fällen erweitert sich konfliktiv auf Kosten der Stabilität der Institution (Partei bzw. Unternehmen und Gewerkschaft) der Kreis derjenigen, die einen Anspruch auf die Prinzipien der Ausgestaltung der jeweiligen Institution formulieren können. Gerade in der Ausweitung dieses Anspruchs liegt das Stabili‐ sierungspotential. Ein unterlegener Parteiflügel ist weniger gewillt, die Spaltung der Partei zu suchen, weil die Möglichkeiten für einen zukünftigen Sieg in der Organisation über die eigentlichen institutionellen Grenzen der Partei hinweg reali‐ siert werden können. Gewerkschaftsvertreter*innen erhalten mit der Ausweitung der Repräsentationsbeziehungen die Möglichkeit, das Ausspielen von Arbeiter*innen an Standorten eines Unternehmens in unterschiedlichen Ländern zu durchbrechen, in‐ dem von allen Standorten aus die gegenwärtige Machtkonstellation im Unternehmen herausgefordert werden kann. Ferner wird die Frage nach der gewerkschaftlichen Praxis nicht mehr allein von der Kontinuität wichtiger Mitgliedsbeiträge westlicher Arbeiter*innen und der institutionellen Einhegung von Gewerkschaftsfunktionären bestimmt, sondern ihre Ausgestaltung wäre das Ergebnis gewerkschaftsinterner Aus‐ einandersetzungen, an denen auch Arbeiter*innen des globalen Südens partizipieren. Beide Beispiele verdeutlichen auch, wie die Multiplikation von Repräsentations‐ beziehungen die partielle Souveränität von Repräsentant*innen weiter einschränkt, denn wenn wir die Anzahl an Punkten innerhalb einer Institution vervielfältigen, von denen aus Ansprüche einer Repräsentant*in angefochten werden können, wird die Hierarchie innerhalb einer Repräsentationsbeziehung von oben nach unten mit einer Vervielfältigung des unten konfrontiert.111 Trotz der aufgezeigten Emanzipationspotentiale sollten wir nicht vergessen, dass die Abwägung, inwieweit Akteure etablierten Regeln und Verfahren folgen oder diese überwinden wollen, eben auch eine strategische Entscheidung in hegemonialen Kämpfen ist.112 Diese Tatsache macht das Denken von Institutionen keineswegs obsolet, sondern ordnet es einem Primat des Politischen unter, welches wie ein zuverlässiger Motor eine De-Stabilisierungsdynamik antreibt, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Institutionalisierung agonaler Demokratien in Bewegung hält.
111 Eine weitere Umsetzung dieser Vervielfältigung von unten skizziert Herrmann in diesem Band mit Verweis auf das Konzept der Gruppenrepräsentation und die institutionelle Veran‐ kerung der Repräsentation von Minderheiten, wobei das dabei zugrundeliegende deskriptive Repräsentationsverständnis nicht deckungsgleich ist mit den hier bei Rancière und Laclau rekonstruierten Repräsentationsbegriffen. 112 Vgl. Laclau 1990b, S. 11.
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4. Schlussbetrachtungen Mit Rancière und Laclau lassen sich sehr unterschiedliche Antworten auf die Fra‐ ge nach einer demokratischen Repräsentation des agon geben. Ein Blick auf die Kreuzungspunkte beider Autoren erlaubt zu verstehen, wie weit sich das Feld für institutionelle Gestaltungsmöglichkeiten zwischen Institutionenkritik und Repräsen‐ tation aufspannen lässt. Wir verdeutlichen dies, indem wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Rancières und Laclaus Institutionenkritik, ihrem Repräsenta‐ tionsverständnis und dessen institutionellen Implikationen zusammenfassen. Sowohl Rancière als auch Laclau eint eine grundsätzliche Skepsis gegenüber institutionalisierten Regeln und Praktiken moderner Demokratien, die sich allerdings nicht auf einen rigorosen Anti-Institutionalismus verkürzen lässt. Für beide ist radi‐ kale Demokratie eine Praxis, die sich zwar immer gegen, aber zugleich durch die bestehenden Institutionen vollzieht. Diese geteilte Perspektive schafft den Raum für Fragen nach „besseren“ institutionellen Settings, wobei die Antworten hierauf sehr unterschiedlich ausfallen: Für Rancière besitzen institutionalisierte Repräsentations‐ beziehungen radikaldemokratisches Potential, wenn sie durch vergangene demokra‐ tische Kämpfe bereits verfremdet und folglich heterogen sind. Mit Laclau lässt sich dagegen eine destabilisierende Vervielfältigung von Repräsentationsbeziehungen als Emanzipationsstrategie denken, die Institutionen durch die Möglichkeit ihrer eige‐ nen Erschütterung und Verschiebung Robustheit gewährt. Rancières und Laclaus produktiver Blick auf demokratische Institutionen bricht sich durch das Prisma ihrer jeweiligen Repräsentationsverständnisse. Beide stoßen auf die konstitutive Funktion von symbolischen Repräsentationsprozessen und deren grundsätzliche Bedeutung für die soziale und politische Wirklichkeit. Dabei tut sich aber erneut ein Unterschied auf: Durch seine psychoanalytisch informierte Argumentation konzipiert Laclau die Produktivität von Repräsentation als Produkt eines Mangels, denn im Angesicht radikaler Negativität und Kontingenz lässt sich Gesellschaft erst durch symbolische Repräsentation als Ganzes denken. Rancière hingegen versteht die Produktivität von symbolischer Repräsentation analog zur Kraft eines ästhetischen Objekts, viele unterschiedliche und widerstreitende Deutun‐ gen und Reaktionen zu mobilisieren. Diese Unterschiede zeigen sich sehr deutlich in dem Verständnis des zentralen Mediums der Emanzipation, the people bzw. der demos. Sowohl Laclau als auch Rancière begreifen die Kraft dieses ‚Wir‘ als eine, die gerade auf ihrer „Leere“ beruht. Doch während das bei Rancière meint, dass der demos stets unbestimmt und ein „Name der Namenslosen“ ist, meint es bei Laclau, dass erst durch die Benennung eines Kollektivakteurs, die Bestimmung eines Namens, die Möglichkeit für Emanzipation entsteht. Symbolische Repräsentationsprozesse haben zwar ein radikaldemokratisches Po‐ tential, aber sie bringen auch spezifische Probleme mit sich. Weil Emanzipation
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bei Rancière stets vom Individuum her gedacht wird, entsteht das Problem, wie diese Prozesse von anderen aufgegriffen und wiederholt werden können. Institutio‐ nen als kontinuierliche Regelsysteme politischen Handelns werden deshalb zum Konvergenzpunkt einer Vielzahl andernfalls nur flüchtiger Emanzipationsprozesse. Für Laclau stellt sich das Problem gerade andersherum dar: Die emanzipativen symbolischen Repräsentationsprozesse sind von vorneherein kollektiver Natur und entfalten eine Dynamik, die selbst keine Grenzen kennt. Institutionen werden hier deshalb wichtig, um diese Dynamik durch Multiplikation zu bändigen. Bis zu dieser Stelle diente der Argumentationsgang unseres Aufsatzes dem Nach‐ weis, dass die Frage nach Institutionen in der agonalen Demokratietheorie aus der radikalen Demokratietheorie selbst gestellt werden können. Darüber hinaus haben wir argumentiert, dass es dabei sogar Raum für sehr unterschiedliche institutionelle Reformvorschläge gibt: Während Rancières Ansatz auf das Prinzip einer Unterbre‐ chung von Repräsentationsbeziehungen hinausläuft, ließe sich aus Laclaus Ansatz das Prinzip einer Multiplikation von Repräsentationsbeziehungen folgern. Beide Prozesse sollen der stets möglichen oligarchischen Vereinnahmung von politischer Repräsentation zu Lasten ihres demokratischen Potentials Einhalt bieten. Wo im Feld der agonalen Demokratietheorie über institutionelle Fragen gestrit‐ ten wird, können radikaldemokratische Ansätze eine eigenständige und vielfältige Stimme erheben. Es obliegt Letzteren, ihre Vorschläge gegenüber ihren stärksten Gegnern, dem konfliktiven Liberalismus und dem konfliktiven Republikanismus, auch institutionentheoretisch zu verteidigen.
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Verfassung und Recht
Franziska Martinsen Streit um Zugehörigkeit. Der Begriff des Demos und das Paradox des Politischen
1. Einleitung Für moderne politikwissenschaftliche Demokratie- und Institutionentheorien ist der Begriff des Demos (‚Staatsvolk‘) ein methodologischer und epistemologischer Kernbegriff. Mit ‚Demos‘ wird die rechtlich-politische Entität der Bürger*innen, aus der die Volkssouveränität entspringt, bezeichnet. Im Unterschied zu ethnisch oder national definierten Vorstellungen eines ‚Volkes‘1 meint ‚Demos‘ alle diejenigen, die über das aktive und passive Wahlrecht zur Mitgestaltung der Politik verfügen. ‚Demos‘ wird als in normativer Hinsicht abgrenzender Begriff verwendet, mit dem unterschieden wird, wer als im politischen Sinne zugehörig gilt und wer nicht. Die inhaltliche Definition des Demos ergibt sich aus der jeweiligen Verfassung eines de‐ mokratischen Rechtsstaates, sie kann daher empirisch variieren: Die Zugehörigkeit zum Demos, d.h. politische Mündigkeit, ist u.a. abhängig vom Staatsbürgerschafts‐ status, Mindestalter, der mentalen oder psychischen Zurechnungsfähigkeit eines Menschen. Demos und die Anzahl an Einwohner*innen eines Staates sind daher nicht deckungsgleich. 2 Als Kernbegriff3 der Demokratietheorie ist ‚Demos‘ insofern zu verstehen, als die Konzeption der Demokratie im Rekurs auf ihn überhaupt erst ihre spezifische Bedeutung gewinnt, und zwar als Herrschafts- und Regierungsform
1 Mein Beitrag setzt sich mit der Frage der Zugehörigkeit zum „Demos“ auseinander, also mit der politischen Kategorie, die dezidiert abgegrenzt ist von kulturellen, nationalen, ethnischen oder gar völkischen Verständnissen eines Volkes. Viele der hier behandelten Autor*innen verwenden den technisch-theoretischen Terminus „Demos“ und die aus der emanzipativen Ideengeschichte stammende traditionsreichere Bezeichnung „Volk“ („people“, „peuple“) häufig synonym. Auch ich gebrauche beide Begriffe, z.B. um an Zitatkontexte besser anschließen zu können, obwohl in dem deutschen Begriff „Volk“ die genannten mitschwingenden Konnotationen nur schwer auszublenden sind. 2 In einigen Staaten, wie beispielsweise in Frankreich oder in den USA, erhalten Menschen qua Geburt auf staatlichen Territorium die Staatsbürgerschaft (ius soli), so dass sie mit dem Erreichen des Mündigkeitsalters zum Demos zählen. In anderen Staaten hingegen, z.B. in Deutschland, kann die Staatsbürgerschaft zwar auch erworben werden, doch wird sie hier in erster Linie gemäß dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) zugesprochen. 3 Vgl. Martinsen 2020.
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im Sinne der Volkssouveränität einer – epistemologisch und methodologisch – defi‐ nierten, d.h. begrenzten, politischen Einheit.4 Theoretiker*innen wie William Connolly, Bonnie Honig, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie Jacques Rancière, Étienne Balibar, aber auch Michael Hardt und Antonio Negri, die der agonalen bzw. radikalen Demokratietheorie5 zuzurech‐ nen sind und auf die ich mich im Folgenden beziehen werde, erachten diese Lesart des Demos in mehrerlei Hinsichten als problematisch. Sie kritisieren, dass die theo‐ retische Erläuterung von Demokratie auf der Grundlage des Demosbegriffs den Versuch einer Harmonisierung der konflikthaft-politischen Dimension der Frage nach der Zusammensetzung des Demos und damit nach der politischen Zugehörig‐ keit darstelle. Die vermeintlich eindeutige Bezeichnung des Gegenstandes ‚Demos‘ (bzw. ‚Volk‘) für ein politisches Kollektivsubjekt sei vielmehr als eine Herausforde‐ rung für die Politische Theorie und weniger als deren Antwort zu verstehen. Der Begriff des Demos verweist somit für die genannten Theoretiker*innen auf das zentrale Paradox des Politischen, dass demokratische Ordnungen auf Handlun‐ gen, Strukturen und Institutionen beruhen, die erst durch die Demokratie selbst über‐ haupt hervorzubringen sind.6 Damit ist gemeint, dass die Konstitution eines Demos einhergeht mit Ausschlüssen, die den demokratischen Werten der Gleichheit und Inklusion widersprechen. Dies sind Exklusionen eines als ‚Außen‘ der politischen Gemeinschaft definierten Bereichs, der alle diejenigen Nicht-Staatsbürger*innen umfasst, die nicht dazugehören (sollen). Die Konstitution eines Demos speist sich dabei vor allem aus Einigungs- und Einheitsvorstellungen, die wiederum sowohl mit der prinzipiell pluralistischen und damit immer auch konflikthaften Verfasstheit als auch mit dem dynamischen Charakter demokratischer Gesellschaften unvereinbar sind. Dies hat zur Folge, dass die Bildung des Demos auch zu einer Aufspaltung innerhalb der Gesellschaft beiträgt, weil er, z.B. in Bezug auf die Wahlberechtigung, bestimmte Bevölkerungsanteile nicht mit einbezieht.7
4 Auf die Debatten zur trans- und supranationalen bzw. globalen Demokratie werde ich hier aus systematischen Gründen nicht eingehen, da viele Ansätze in methodologischer Hinsicht die Idee des „Demos“ nicht aufgeben, sondern entweder pluralisieren („Demoi“) oder nicht auf einen einzigen Nationalstaat, sondern beispielsweise auf ein „Mehrebenen“-Gebilde beziehen (vgl. u.a. Habermas 1998). 5 Vgl. Livingston 2019; Agridopoulos/Heumann 2019; Marchart 2019, Nonhoff 2019; Abbas 2019; Schwenk 2019; Ziegler 2019. 6 Vgl. exemplarisch Honig 2009, S. 85 ff. 7 Darüber hinaus gibt es eine weitere wichtige Dimension des Paradoxes, die in diesem Beitrag nicht weiter behandelt wird. So charakterisiert beispielsweise Iris Marion Young mit Blick auf die faktischen sozioökonomischen Asymmetrien – trotz rechtlich-formaler Garantie auf Freiheit und Gleichheit –das Paradox des Politischen innerhalb von demokratischen Gesellschaften fol‐ gendermaßen, dass „soziale Macht einige Staatsbürger gleicher macht als andere und die Gleichheit des Staatsbürgerstatus manche Menschen zu mächtigeren Staatsbürgen macht“ (Young 2000, S. 95).
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Im Folgenden werde ich darlegen, dass es den hier diskutierten demokratietheore‐ tischen Ansätzen jedoch gerade nicht darum geht, das Paradox des Politischen auf‐ zulösen, wie dies z.B. deliberative Demokratietheorien mithilfe einer vernunfttheo‐ retischen Begründung – so etwa Habermas mit seiner diskurstheoretisch erläuterten These der Übereinstimmung von Adressat*innen und Urheber*innen der Gesetze bzw. der Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie – anstre‐ ben.8 Vielmehr geht es radikaldemokratischen und agonalen Ansätzen darum, die Konfliktpunkte, die es im Zusammenhang mit dem Begriff des Demos und mit ihm verbundenen Konzepten wie ‚Volkssouveränität‘ oder ‚demokratische Legitimi‐ tät‘ gibt, zum Anlass für demokratie- und institutionentheoretische Reflexion zu nehmen. In meinem Beitrag lege ich zunächst den demokratietheoretischen Kontext des Streits um Zugehörigkeit anhand des sog. Paradoxes des Politischen dar (Ab‐ schnitt 2), um dann den Begriff des Demos im Spannungsfeld von Exklusion und Ermächtigung zu erläutern (Abschnitt 3). Daraufhin rekonstruiere ich im Rückbezug auf Laclau eine Lesart der Entstehung von kollektiven Identitäten im Rahmen ge‐ sellschaftlicher Konflikte (Abschnitt 4), bevor ich im Schlussteil die unauflösbare Spannung zwischen Demos und Multitude aufzeige, die jedoch durchaus als Motor für Demokratien fungieren kann (Abschnitt 5).
2. Das Paradox des Politischen Es ist für viele Ansätze agonaler Demokratietheorie charakteristisch, das Paradox des Politischen nicht als zu beseitigenden Störfaktor oder als aufzulösenden Wider‐ spruch zu begreifen. Doch was ist mit dem ‚Paradox‘ des Politischen eigentlich gemeint? Für William Connolly und Bonnie Honig hat in der politischen Ideenge‐ schichte vor allem Jean-Jacques Rousseau das Paradox des Politischen in einer bestimmten Form, nämlich als Paradox der politischen Gründung, identifiziert: Die Gründung einer Republik erfordere ein Volk von guten (tugendhaften) Bürger*in‐ nen, die qua Volksherrschaft über gute Gesetze entscheiden. Doch da die partiku‐ laren Interessen der Bürger*innen einander widerstreiten können und damit nicht notwendigerweise zu einer guten, d.h. am Allgemeinwohl orientierten, Gesetzge‐ bung führen, benötigt Rousseau eine von der Summe der Einzelwillen unabhängige volonté génerale, mit deren axiomatischen Richtigkeit die Basis für eine gute politi‐ sche Ordnung und deren Gesetzgebung zu legen sei.9 Das Gelingen demokratischer Prozesse und Institutionen ist also von Eigenschaften der politischen Bürger*innen abhängig, die erst durch die demokratische Verfassung hervorgebracht werden: 8 Vgl. Habermas 1992, S. 135 ff.). 9 Vgl. Rousseau 1977, Buch 2, Kap. 3.
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„Damit ein werdendes Volk die gesunden Grundsätze der Politik schätzen und den grundlegenden Ordnungen der Staatsraison folgen kann, wäre es nötig, daß die Wirkung zur Ursache werde, daß der Gemeinsinn, der das Werk der Errichtung sein soll, der Errichtung selbst vorausgehe und daß die Menschen schon vor den Gesetzen wären, was sie durch sie werden sollen“.10
Wie anspruchsvoll und schwerwiegend die Transformation in eine solche gute poli‐ tische Ordnung ist, macht Rousseau im zweiten Buch seines einschlägigen Textes über den Gesellschaftsvertrag, Du contral social (1762), unmissverständlich deut‐ lich. Um eine gute politische Ordnung aus der Unordnung hervorzubringen, bedarf es nämlich einer „totalen Entäußerung“ („aliénation totale“11) aller Individuen, die durch den Gesellschaftsvertrag einen Demos bilden.12 Bonnie Honig bemerkt in diesem Kontext jedoch, dass nicht nur der Gründungs‐ moment einer Demokratie einmalig, sondern vielmehr der demokratische Alltag fortdauernd von diesem Paradox geprägt sei. Auch wenn das Paradox des Politi‐ schen in der demokratietheoretischen Debatte häufig mit dem Paradox der Gründung gleich gesetzt werde, umfasse es also mehr als dieses, insofern als es in jedem Moment des politischen Alltags präsent bleibe und nicht nur im Augenblick der Gründung zum Tragen komme.13 So bilde sich auch der Demos nicht in einem einzigen bestimmten zeitlichen Anfangspunkt, um dann unverändert fortzubestehen, sondern sei kontinuierlich in einem dynamischen Wandel begriffen: „Every day – through birth, immigration, maturation to adulthood – new citizens are received by established regimes and every day established citizens are reinterpellated into the laws, norms and expectations of their regimes such that the paradox of politics is replayed rather than overcome in time.”14
Daher verfehlt eine häufige Lesart des Paradoxes des Politischen als Problematik von ‚Henne oder Ei‘15 dessen eigentlichen Clou. Ginge es tatsächlich in erster Linie um eine lineare Angelegenheit, die in einer ‚Stunde Null‘ ihren Anfang nimmt, wäre Rousseaus ‚Trick‘ eines unfehlbaren Gemeinwillens durchaus als die geeignete Lösung anzusehen. Es ginge dann lediglich darum, dass das für Heteronomie nur allzu anfällige Volk, das sich verunsichern und irreleiten lasse und damit in Gefahr ist, als bloße Menge partikularer Interessen, Anliegen, Begehren und Ansprüchen 10 Rousseau 1977, S. 46. 11 Rousseau 1977, S. 46. Die französischen Originalzitate entstammen der digitalisierten Fassung des Textes aus dem Jahr 1762, vgl. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k202715b/f3.image.tex teImage. 12 Zwar geht es in erster Linie darum, dass die Einzelnen durch den Akt der totalen Entäußerung ihre ursprüngliche Freiheit des Naturzustands im Gesellschaftszustand wiedererlangen bzw. erhalten, doch ist unverkennbar, dass es sich eben um einen Transformationsprozess handelt, der eine regelrechte Wesensänderung abverlangt. 13 Vgl. Honig 2007, S. 2. 14 Honig 2008, S. 88. 15 Honig 2008, S. 88 sowie Honig 2007, S. 2 und Honig 2009, S. 14.
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zu agieren, diese Lösung im Moment der Gründung erkennt und einstimmig befür‐ wortet. Problematisch bleiben in dieser Lesart gleichwohl Rousseaus Annahme einer ‚Reinheit‘ des Gemeinwillens, die durch die Pluralität der Einzelwillen zerstört wer‐ de, und die daraus resultierende normative Unterscheidung zwischen dem peuple, das der Volkssouveränität würdig ist, und der multitude aveugle, der „verblendeten Menge“16, die von einem allwissenden Experten, dem etwas ominös bleibenden Gesetzgeber („législateur“), zur Einsicht gezwungen werden müsse.17 Die Lesart des Paradoxes des Politischen als Teufelskreis („vicious circle“18) ist somit umso zutreffender, denn tatsächlich lässt sich der Widerspruch zwischen De‐ mos („Volk“, „peuple“) und Multitude (Menge), zwischen der Summe der Partiku‐ larinteressen und dem Gemeinwillen, aber auch zwischen Volks- und Gesetzesherr‐ schaft nicht ohne Zuhilfenahme fragwürdiger Argumente19 auflösen, selbst wenn es eine „Stunde Null“ gäbe. William Connolly hingegen sieht im Paradox des Politi‐ schen bzw. in den vielfältigen Paradoxa, mit denen Demokratien konfrontiert sind, eine originäre, fortwährende Herausforderung für das demokratische Geschehen: „paradoxes are salient clues to political life’s secrets; they are challenges to be negotiated, not puzzles to be solved or overcome.”20 Das Paradox des Politischen wird von Demokratietheoretiker*innen nämlich nicht nur als das eine Paradox der Gründung („paradox of founding“ bzw. „paradox of constitutional democracy“), sondern auch als Paradox der demokratischen Legiti‐ mation („paradox of democratic legitimation“) gelesen.21 Für Honig resultiert das Paradox des Politischen in erster Linie daraus, dass die demokratische Gesellschaft grundlos ist, d.h. die Demokratie kann ihre eigenen Voraussetzungen nicht (letzt-)be‐ gründen. In diesem Punkt stimmt sie mit Chantal Mouffe überein, die wiederum das „demokratische Paradox“22 nicht nur, wie anhand von Rousseaus Zugang veran‐ schaulicht, in republikanischen, sondern ebenfalls in liberalen Ansätzen verortet. Nach Mouffes Auffassung verbinden sich in modernen Demokratien zwei wider‐ streitende Prinzipien, zum einen das der individuellen Freiheit und Menschenrechte, das jedoch nicht unbedingt demokratisch ist, zum anderen das der Volkssouveränität Rousseau 1977, S. 42; vgl. auch Honig 2009, S. 13 ff. Vgl. Rousseau 1977, Buch II, Kap. 7. Honig 2009, S. 14 ff. und Honig 2007, S. 2 ff. Rousseaus vermeintlich plausibles Argument der Unfehlbarkeit der volonté génerale erweist sich in Buch II, Kap. 3 des Gesellschaftsvertrags letztlich als bloße Behauptung. In empirischer Hinsicht scheint ein allgemeiner Wille, der von sämtlichen Individuen gemeinsam vertreten, zugleich aber eine singuläre, vereinigende Willensbekundung darstellt, wenig überzeugend. Eine solche Einstimmigkeit könne wohl nur mithilfe von Unterdrückung oder Verschleierung von Abweichungen erlangt werden. Nicht zuletzt trägt damit die Gründung der politischen Ordnung auch gewaltsame Züge, wie etwa am Beispiel der von Rousseau propagierten Unter‐ ordnung der Frauen deutlich werde (vgl. Connolly 1995, S. 138). 20 Honig 2009, S. 12, s. auch Honig 2008, S. 85. 21 Honig 2009, S. 25. 22 Mouffe 2008.
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und Gleichheit, das nicht notwendigerweise liberal ist. Liberale Demokratietheorien tendieren dazu, das Paradox zugunsten der Freiheit aufzulösen,23 republikanische zugunsten der Gleichheit. Der deliberative Ansatz von Jürgen Habermas erachtet demgegenüber die Prinzipien private Autonomie (‚Freiheit‘, ‚Menschenrechte‘) und politische Autonomie (‚Volkssouveränität‘) als „gleichursprünglich“.24 In seiner Deutung ist das Paradox des Politischen somit überwindbar, sofern rationale Delibe‐ rationsprozesse dafür sorgen, dass die Bürger*innen zur Identität als Autor*innen und Adressat*innen im Sinne der Selbstgesetzgebung gelangen. Habermas‘ Vorstel‐ lung von der Auflösung der Heteronomie der Interessen, Ansprüche, Anliegen und Begehren der Gesellschaftsmitglieder ist hier, dass sich Bürger*innen ausschließ‐ lich den eigenen (vernünftigen) Gesetzen unterwerfen. Entsprechend kann eine Ver‐ fassung den Demos nicht beschränken, denn auftretende Widersprüche zwischen Gesetzgebung und Demos sind zumindest prinzipiell – wenn auch nicht immer em‐ pirisch – aufgrund der begrifflichen Übereinstimmung von Autor*innen- und Adres‐ sat*innenschaft auflösbar.25 Diese harmonistische Sichtweise wird von agonalen und radikalen Demokratietheorien jedoch kritisiert, denn sie verschleiere in ihren Augen den dissensualen Charakter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und versuche, Politik auf an rationalistisch-universalen Prinzipien orientierte rechtlich-moralische Prozeduralisierungen zu reduzieren. Im Unterschied dazu ist Honig der Ansicht, dass gerade aufgrund der parado‐ xalen, konflikthaften Verfasstheit demokratischer Gesellschaften die erforderliche Erkenntnis darin besteht, „that politics never gets things right, over, and done with. The conclusion is not nihilistic but radically democratic. To accept and embrace the perpetuity of contest is to reject the dream of displacement, the fantasy that the right laws or constitution might some day free us from the responsibility for (and, indeed, the burden of) politics.”26
Die Differenz zwischen der harmonistisch-deliberativen Sichtweise auf das Paradox der Politik (vor allem in der Variante des Paradoxes demokratischer Legitimation) und der radikaldemokratisch-agonalen zeigt sich nicht zuletzt an der Bedeutung der Rolle des Rechts und der Gesetzgebung. Anders als in republikanischen und deliberativen Ansätzen wird der Rückbezug auf die demokratische Gesetzgebung als solche nicht als feste Begründung für die Unterscheidung zwischen der Gesamtheit der Einzelwillen und der volonté générale, zwischen der (ungeordneten) Multitude und dem (vernünftigen) Demos angesehen. Vielmehr geht es vor allem der radikalen Demokratietheorie darum, den Zugang zum Gesetzgebungsprozess und damit auch
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Vgl. Marchart 2019, S. 375. Habermas 1992, S. 112. Vgl. Habermas 1992, S. 154 ff. Honig 1995, S. 210/211 (eigene Herv.).
das Recht, das für die Unterscheidung konstitutiv wird, der Befragung, Transforma‐ tion und Neubildung durch demokratische Prozesse anheim zu stellen.27 Das wiederum heißt dann allerdings auch, dass diese demokratischen Prozesse uns immer wieder in ein neues Paradoxon stürzen und uns keine festen Kriterien oder Gründe hinterlassen können, um mit Zuversicht den Willen aller und den allgemeinen Willen, die Menge und die Menschen zu unterscheiden. Denn die Perspektive, aus der dies geschieht, und die Identitäten, um die es geht, sind selbst in Frage gestellt oder in (Neu-)Bildung begriffen. Konstitutionalismus ist daher keine Lösung ein für alle Mal, sondern verweist auf eine weitere Variante des Paradoxes des Politischen, nämlich auf das Paradox der Verfassungsdemokratie („paradox of constitutional democracy“28), mit dem sich der Kreis schließt, weil es sich mit dem Paradox der Gründung überschneidet. Wie bereits bei diesem erläutert, herrscht unter agonalen und radikaldemokratischen Theoretiker*innen Skepsis gegenüber der Auffassung, dass das Problem, wie der gute allgemeine Wille in Ermangelung eines vorhergehenden guten Gesetzes, durch das der Allgemeinwille geformt wird, gesichert werden könne, konstitutionell lösbar sei.29 Denn es ist ja gerade für De‐ mokratien charakteristisch, dass der Demos aufgrund der temporalen, historischen und gesellschaftlichen Dynamiken immer in Veränderung begriffen ist, die volonté générale fortwährend im Wechselverhältnis mit der empirischen Gesamtheit der Einzelwillen steht und die Figur des législateur nicht aufgehen kann im Konzept der Volkssouveränität. Aus diesem Umstand folgert Honig daher: „If the paradox of politics is real and enduring, then a democratic politics would do well to replace its faith in a pure general will with an acceptance of its impurity and an embrace of the perpetuity of political contestation that the impurity makes necessary. In such a setting, democracy’s necessary conditions (e.g. the reproduction of a supposed general will) may be found to offend some of its own commitments (to freedom and self-rule) in ways that call for (a certain model of) democracy’s self-overcoming (i.e. in quest of a different democracy).”30
3. Der Begriff des Demos im Spannungsfeld von Exklusion und Ermächtigung Demokratietheorien betrachten gemeinhin den ‚Demos‘ bzw. das politische ‚Volk‘ als unhinterfragte Entität, die entweder aggregativ (wie in liberalen Demokratie‐ ansätzen) oder symbolisch-identitätsstiftend (wie in republikanischen Ansätzen) verstanden wird. Diese Selbstverständlichkeit wird von zahlreichen agonalen und 27 Vgl. Honig 2009, S. 25. Für Diskussionen des Paradox des Politischen im Zusammenhang mit der Institution des Rechts siehe auch die Beiträge von Lembcke und Michelsen in diesem Band. 28 Honig 2009, S. 16. 29 Vgl. Honig 2009, S. 27. 30 Honig 2009, S. 38-39, s. auch Honig 2008, S. 87.
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radikaldemokratischen Demokratietheorien in Frage gestellt.31 Zwar versteht etwa Balibar unter „Demos“ ähnlich wie herkömmliche Demokratietheorien ein kollekti‐ ves „Repräsentations-, Entscheidungs- und Rechtssubjekt“,32 doch problematisiert er diesen Begriff, z.B. wenn es um die Diskussion der Erweiterung von Staatsbürger‐ schaft über den nationalstaatlichen Bezugsrahmen hinaus, etwa als europäische oder globale Bürger*innenschaft, geht.33 In diesem Sinne versteht Balibar ‚Demos‘ eben‐ falls als eine der originären Herausforderungen demokratischer Gesellschaften, die es laut Connolly, statt sie im Vorhinein der konflikthaften gesellschaftlichen Realität durch rationale Operationen zu entziehen, im Rahmen politischer Auseinanderset‐ zungen zu bewältigen gilt. Hierfür ist es nach Ansicht agonaler und radikaldemokra‐ tischer Autor*innen erforderlich, dass der Demos gerade nicht als eine vorfindliche oder ‚natürliche‘ Entität begriffen wird. „Denn ‚das Volk‘ existiert nicht“34 per se, gibt Jacques Rancière zu bedenken. Wenn es um die Frage gehe, ob eine bestimmte Gruppe von Menschen als Demos bezeichnet werden könne oder ob eine bestimmte Gruppe von Menschen das Recht habe, sich selbst so zu nennen, werde deutlich, dass es sich hierbei bereits um eine politische Positionierung handele. Statt von ‚dem‘ Demos bzw. ‚dem‘ Volk sei von verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Figuren ‚des Volkes‘ auszugehen, die „konstruiert werden, indem bestimmte Versammlungsweisen, gewisse Unterscheidungs‐ merkmale, gewisse Fähigkeiten oder Unfähigkeiten bevorzugt werden. Es gibt das eth‐ nische Volk, das von der Gemeinschaft der Scholle oder des Bluts definiert wird; das Herden-Volk, das von den guten Hirten gehütet wird; das demokratische Volk, das die Kompetenz derer umsetzt, die keine besondere Kompetenz besitzen; das unwissende Volk, das die Oligarchen auf Distanz halten und so weiter.“35
Sämtliche hier genannten Varianten können in jeweiligen historisch-kontingenten Kontexten zu einem Demos werden, doch keine von ihnen stellt für sich betrachtet eine Gewissheit im Sinne eines (metaphysischen, rationalen, kulturellen oder morali‐ schen) „Grundes“ für die Reklamation als Demos dar. Mit der im Zitat enthaltenden Formulierung „keine besondere Kompetenz” meint Rancière daher auch die radikale Grundlosigkeit der Zugehörigkeit zum Demos. Dasjenige Kennzeichen, das die Demokratie von anderen Regierungsformen unterscheidet, besteht ja gerade darin, dass man nicht zu einer vorgängigen Kategorie – etwa zu einem bestimmten Stand oder zur Gruppe der Reichen – gehören oder über eine bestimmte Kompetenz – etwa ein Amt oder eine Qualifikation – verfügen muss, um politisch dazuzuzählen.
31 Vgl. hierzu Flügel-Martinsen/Martinsen/Moulin-Doos 2019, wo Aspekte der hier diskutierten Argumente dargestellt werden. 32 Balibar 2003, S. 27. 33 Vgl. Balibar 2003, S. 205. 34 Rancière 2017, S. 98. 35 Rancière 2017, S. 98.
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Deshalb sind die Kriterien für den externen Zugang zu einem bestehenden Demos, die von politischen Ordnungen herangeführt werden, aus radikaldemokra‐ tischer Perspektive umso genauer in den Blick zu nehmen. Mit einem gesellschafts‐ theoretisch geschärften Fokus auf die historischen Auseinandersetzungen mit dem jeweils geltenden Recht und den entsprechenden Institutionen wie Verfassung und Staatsbürgerschaftsgesetzgebung lässt sich nachvollziehen, dass in der Vergangen‐ heit beispielsweise anhand der Kriterien Geschlecht, Klasse oder ‚Fremd‘- bzw. ‚Andersheit‘ bestimmte Personen und Personengruppen von der politischen Bür‐ ger*innenschaft exkludiert werden – teils mit ‚Begründungen‘, die bereits in ihrem jeweiligen Zeithorizont einen eklatanten Widerspruch zur Idee von Gleichheit dar‐ stellten und nicht mit etwaiger Unwissenheit erklärt werden können. Hedwig Dohm z.B. empört sich über das Skandalöse des Ausschlusses von Frauen vom Demos: Solange Frauen an der Abstimmung über Gesetze nicht beteiligt werden, schreibt sie blieben diese Gesetze per se „gegen sie, weil ohne sie“.36 Dohms bedient sich hier eines normativen demokratietheoretischen Arguments, das einhundert Jahre später für Habermas zentral sein wird, nämlich, dass Betroffene von Gesetzen auch ihre Urheber*innen sein müssen. Im Unterschied zu Habermas formuliert Dohm hier je‐ doch eine normative Forderung, in der die radikal gesellschaftspolitische Frage nach dem Zugang zum Demos noch erkennbar ist. Sie weist auf einen gesellschaftlichen Missstand hin, der politisch zu lösen ist – und nicht etwa auf eine moralisch-rationa‐ listische Weise, die solange gönnerhaft bleibt, wie Männer allein die Kriterien für politische Gleichheit der Geschlechter definieren. Dohm macht klar, dass es nicht vom guten Willen oder der kognitiven Einsicht des männlich zusammengesetzten Demos abhängig zu machen ist, ob Frauen dazugezählt werden. Es geht ihr vielmehr darum, dass der Demos genau dann nicht als politisch – und das heißt: demokratisch – zu erachten ist, wenn er die Betroffenen von Gesetzen nicht einbezieht. Ein ähnli‐ cher Kampf um Teilhabe am Wahlrecht und damit um Zugehörigkeit zum Wahlvolk zeigt sich in der Gegenwart in den öffentlichen Demonstrationen der sans papiers37 für ein gleiches Recht auf politische Partizipation. An diesen Forderungen, die in vielen europäischen Ländern öffentlich vorgebracht werden, wird deutlich, dass die aus dem jeweils herrschenden Demos- bzw. Volksbegriff Exkludierten genau jenen rancièreschen Anteil der Anteillosen („la part des sans-part“38) bilden, der durch seine Handlungen zum politischen Subjekt wird, indem er einen Dissens über die bestehenden Grenzziehungen des Demos-Begriffs zwischen Staatsbürger*innen und Nicht-Zugehörigen, zwischen Teilhabenden und Exkludierten, anmeldet.39 Bei Rancière heißt es dazu: 36 37 38 39
Dohm 1873, S. 166. Vgl. Rancière 2011, S. 480 f.; s. auch Ludwig 2008. Rancière 2002, S. 22. Vgl. Rancière 2002, S. 22 f.
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„Im Namen des Unrechts, das ihm von den anderen Teilen angetan wird, identifi‐ ziert sich das Volk mit dem Ganzen der Gemeinschaft. Wer ohne Anteil ist – die Armen der Antike, der dritte Stand oder das moderne Proletariat –, kann in der Tat nur am Nichts oder am Ganzen Anteil haben. Aber auch durch das Dasein dieses Anteils der Anteillosen [la part des sans-part], […], existiert die Gemeinschaft, das heißt […] durch einen Streit, der sich auf die Zählung seiner Teile bezieht, selbst noch bevor er sich auf ihre ‚Rechte‘ bezieht.“ 40 An diesem Zitat kann veranschaulicht werden, dass der Demos/Volksbegriff so‐ wohl in ideengeschichtlicher als auch in systematischer Hinsicht eine starke Span‐ nung aufweist. Einerseits enthält er das verbindende und konstitutive Potential zu einer kollektiven Ermächtigung – z.B. im Namen der Freiheit und Gleichheit gegen Ständegesellschaften, gegen Unterdrückung und Exklusion. Andererseits tritt das zentrale Problem des Volks- bzw. Demoskonzepts darin hervor, dass in den meisten Anrufungen eines Volkes lediglich ein bestimmter Teil der Bevölkerung für sich beansprucht, das Volk zu verkörpern,41 während die Ansprüche anderer Teile der Einwohner*innen marginalisiert oder gar verleugnet werden. Dieser ambivalente Charakter des Demosbegriffs spiegelt sich im Spektrum ago‐ naler und radikaldemokratischer Demokratietheorien wider. So wird auf der einen Seite betont, dass der Volks- bzw. Demosbegriff, wie Antonio Negri mit Blick auf Ernesto Laclaus Konzeption popularer Identität bemerkt, in konstituierender Weise die Vielfältigkeit und Heterogenität von Singularitäten in eine Einheit zu übersetzen vermöge. Zugleich ist er jedoch skeptisch gegenüber der häufig anzutreffenden Eng‐ führung von Demos und Herrschaft, die sich in der bereits bei Hobbes anzutreffen‐ den Vorstellung, dass es die politische Macht sei, die das Volk formiere, ausdrückt.42 Sobald die Einheit eines Demos dann auch noch ethnisch, national oder ‚kulturell‘ begründet wird, entlarve sie sich letztlich als bloß „imaginäre[…] Gemeinschaft der Zugehörigkeit“ 43 bzw. als Phantasma, dessen politische Selbstbehauptung in der Regel nur gewaltsam erfolgen könne.44 Mit Blick auf nationalistische, rassistisch konnotierte und völkische Bezugnah‐ men auf die Konzeption des Volkes konstatiert Alain Badiou, dass diese neben diesen „negativen“, auf eine „abgeschlossene Identität“ abstellenden Anklängen durchaus „positive Bedeutungen“ habe.45 Zum einen handele es sich um das bereits angedeutete konstitutive Potential, mit dem sich ein Demos, beispielsweise im Wi‐ derstand gegen koloniale oder imperiale Unterdrückung, selbst als ein Neues hervor‐ bringt. Zum anderen besitzt der Begriff des Volkes/Demos, ähnlich wie bei Rancière 40 41 42 43 44 45
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Rancière 2002, S. 22. Vgl. Badiou 2017, S. 13. Vgl. Negri 2015. Balibar 2003, S. 27. Vgl. Derrida 2000, S. 138. Badiou 2014, S. S. 219, Übers. d. Verf.
angesprochen, das Potential, auf ebenjene Differenz zwischen einer herrschenden Repräsentationsordnung und einem nicht-repräsentierten Anteil, der sich in emanzi‐ patorischer Absicht politisch ermächtigt, um die bestehende Ordnungslogik zu durchbrechen, hinzuweisen.46 Damit wird Demos zu einem Begriff der Befragung und Brechung von konstituierten Ordnungen und von konstituierten politischen kol‐ lektiven Identitäten.
4. Demokratische kollektive Identität im Streit um Zugehörigkeit Anhand von Laclaus Erläuterung der Entstehung von kollektiven Identitäten lassen sich Dynamik und Wechselhaftigkeit der Prozesse der Konstitution kollektiver Iden‐ tität veranschaulichen. Laclaus gemeinsam mit Mouffe geteilte Grundannahme ist, dass die Verfasstheit der Gesellschaft konflikthaft und gespalten ist.47 Somit sind für ihn politische Einheiten wie Gruppen innerhalb von Gemeinschaften oder ein gesamter Demos erklärungsbedürfte Phänomene innerhalb von Gesellschaften. Statt also eine Gruppe als basale Einheit („basic unit“) einer politischen Gemeinschaft zu betrachten, wie dies gemeinhin in soziologischen oder politikwissenschaftlichen Analysen geschieht, geht es Laclau vor allem darum, ihre Entstehungs- und Bil‐ dungsprozesse zu hinterfragen und dabei zu untersuchen, auf welche spezifische Weise sich kollektive Identitäten konstituieren und welche hegemonialen Kämpfe sie dabei innerhalb demokratischer Gesellschaften austragen. Laclau erörtert daher mithilfe der Kategorie der sogenannten demands (Forderungen), wie sich kollektive Identitäten („Gruppen“) innerhalb von Gemeinschaften herausbilden.48 Für diesen Vorgang der Transformation beliebiger Forderungen in populare Ansprüche (popu‐ lar demands) verwendet Laclau den Begriff des ‚Populismus‘, der heutzutage zu‐ meist in polemischer oder pejorativer Weise – als Bezeichnung fragwürdige Politi‐ ken oder für Demagogie – gebraucht wird.49 Laclau hingegen versteht hingegen un‐ ter Populismus den Modus der Konstitution der Einheit einer Gruppe,50 die sich nur unter der Bedingung der Bündelung bestimmter Forderungen zu ebenjenen popular demands, herstellen lässt. Diese popular demands grenzt Laclau von „isolierten“ demands ab, die er – im hier diskutierten Kontext eigentümlicher- und irreführen‐
46 Vgl. Badiou 2014, S. 219-220. 47 Vgl. Laclau/Mouffe 1985, S. 158 ff. 48 Vgl. Laclau 2005, S. ix. „Demands“ bilden für Laclau insofern den Gegenstand der Untersu‐ chung, als diese es erlauben die Einheit der „Gruppe“ aufzusplitten und darauf zu verweisen, dass Gruppen nicht per se homogene Gebilde sind. Gruppen sind als Ergebnisse der Artikulati‐ on von demands zu verstehen und nicht umgekehrt (vgl. Laclau 2005, ix f., Herv. d. Verf.). 49 Vgl. Jörke/Selk 2017, S. 10. 50 Vgl. Laclau 2005, S. 73.
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derweise – democratic demands nennt.51 Democratic demands sind als partikulare Forderungen zu verstehen, die sich nicht mit anderen, äquivalenten Begehren und Zielsetzungen verbinden und deshalb isoliert bleiben. Erst im Zuge hegemonialer Kämpfe innerhalb der Gesellschaft werden sie zu popularen Forderungen, die eine gemeinsame Identität zu stiften vermögen. Damit die Konstitution einer solchen popularen Identität bis hin zu einem ganzen people, gelingen kann, ist es für Laclau erforderlich, dass eine antagonistische Grenze etabliert wird, welche die populare Identität von der gegenwärtig hegemonialen Macht trennt. Dazu müssen die Forde‐ rungen in eine Äquivalenzordnung und in ein „stabiles System der Signifizierung“52 gebracht werden.53 Ist dieser Prozess erfolgreich, stehen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Lager antagonistisch gegenüber, und die populare Identität des Volkes (people) beansprucht, „als die einzig legitime Totalität wahrgenommen zu werden“54. Laclau begreift diesen Konstitutionsprozess popularer Identität zunächst einmal als deskriptiv zu erfassenden Vorgang, der sich durchaus innerhalb von demokra‐ tischen Ordnungen vollzieht. In seinen Überlegungen wendet sich Laclau somit keinesfalls von der Demokratie ab und einem Populismus in einem demagogischen Sinne zu. Vielmehr ist Laclaus Ansatz so zu verstehen, dass die ‚populistische‘ Perspektive analytisch tiefer blickt: Mit ihr lässt sich ermitteln, wie eine politische Dimension erst im Zuge der agonistischen Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft entsteht. Die analytische Hinwendung zum Populismus liegt somit auf einer anderen Ebene als die (normative) Frage nach der Demokratie. Dabei wird offensichtlich, dass die Konstitution popularer Identitäten durchaus nicht-emanzipa‐ torische, nicht-demokratische Züge annehmen kann. Entscheidend ist für Laclau, die populistische Logik des Politischen zu verstehen, um die politische Dimension gesellschaftlicher Konfigurationen zu begreifen. Ein solches soziologisch informiertes Verständnis von politischen Konstitutions‐ prozessen ist nicht in allen agonalen und radikaldemokratischen Ansätzen ähnlich präsent wie bei Laclau, weil es in vielen Texten agonaler und radikaldemokratischer Autor*innen stärker um eine normative Befragung demokratischer Institutionen denn deren erläuternde Herleitung geht. Laclaus Überlegungen verweisen jedoch da‐ 51 Vgl. Laclau 2005, S. 125-128. Siehe hierzu Flügel-Martinsen/Martinsen/Moulin-Doos 2019, S. 488 ff. Bei der Bezeichnung democratic demands handelt es sich um eine „genealogisch re‐ konstruierte“ (Laclau 2005, 125) Verwendungsweise, in der die marxistische Sichtweise zum Ausdruck kommt, nach der Demokratie mit dem Kampf der aufsteigenden Bourgeoisien gegen Feudalismus und Absolutismus verbunden war. Demokratische Forderungen seien also von Natur aus bürgerlich und im Wesentlichen mit der Errichtung eines liberal-demokratischen Re‐ gimes verbunden. Diese setzt Laclau bewusst von sozialisch-egalitären Forderungen ab (vgl. Laclau 2005, S. 125-126). 52 Laclau 2005, S. 74, Übers. übernommen aus Flügel-Martinsen/Martinsen/Moulin-Doos 2019, S. 489. 53 Vgl. Laclau 2005, S. 93. 54 Laclau 2005 S. 81, Übers. d. Verf.
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rauf, dass es für ebenjene Befragung von Konstitutionsprozessen in kritisch-norma‐ tiver Absicht erforderlich ist, zu untersuchen, ob es sich bei ihnen um emanzipativöffnende oder um abschließende Tendenzen handelt, wie sie sich seit geraumer Zeit anhand erstarkender rechtspopulistischer Bewegungen in vielen Staaten der Welt be‐ obachten lassen. D.h., dass Deutungskämpfe um die Zugehörigkeit zu einem Demos nicht einfach zwischen einer gegebenen politischen Ordnung und ‚widerständigen‘55 popularen Kollektiven ausgetragen werden, sondern dass auch die Deutungskämp‐ fe selbst pluralistisch verfasst sind – und dass dieser Pluralismus in Bezug auf emanzipatorische Forderungen durchaus problematisch werden kann, wenn rechte Bewegungen die kollektive Semantik des demokratischen Volkes auf ihre völkische Weise zu besetzen und umzudeuten suchen. Aus diesem Grund beabsichtigt etwa Chantal Mouffe, das Feld der Thematisierung politischer Kollektividentität nicht den rechten Populist*innen zu überlassen. Entsprechend unterstützt sie linke popu‐ listische Bewegungen wie Podemos in Spanien oder Les Insoumis in Frankreich in konzeptioneller und publizistischer Weise.56 Inwiefern ihre Überzeugung, dass das „Ziel einer linken Volksbewegung“ darin bestehen sollte, „Leidenschaften für die Konstruktion eines ‚Volkes‘ zu mobilisieren, um so einen progressiven ‚kollektiven Willen‘ zu formen,“57 – so sinnvoll sie in pragmatischer Hinsicht sein mag – in kritisch-normativer Hinsicht plausibel erscheint, steht dabei auf einem anderen Blatt. Abschließend möchte ich mich wieder Connollys Einladung zuwenden, die pa‐ radoxalen Momente des Politischen als Anregung für die demokratietheoretische Reflexion und den Begriff des Demos als offene Frage zu begreifen. Die funk‐ tionalistischen und praxisorientierten Bezugnahmen auf die konstitutive Kraft des Popularen insbesondere der agonalen Ansätze Laclaus und Mouffe stellen den am‐ bivalenten, ja regelrecht ‚widerhakenden‘ Charakter des Demosbegriffs nicht still. Im Gegenteil, die Affirmation von agonalen Grenzziehungen (um willen kollektiver Konstitutionsprozesse), die von entscheidender epistemologischer und methodologi‐ scher Relevanz für diese Ansätze sind, wird dort fraglich, wo die kritisch-normative Frage danach aufgeworfen wird, wer überhaupt beanspruchen könne, das ‚Volk‘ zu repräsentieren. Sie wird umso fraglicher, wenn – aufgrund von Kontingenz, Dynamik und Konflikthaftigkeit der Gesellschaft – letztlich ungeklärt bleiben muss, wer ‚das‘ Volk bzw. ‚der‘ Demos sei. Hardt und Negri verzichten daher gänzlich auf den Begriff des Demos bzw. des Volks. Im Rückgriff auf Baruch de Spinoza58 entwickeln sie eine Variante der sogenannten absoluten Demokratie, die sich an der Konzeption der Multitude orien‐ 55 Während Widerstand in vielen emanzipatorischen Ansätzen eine Schlüsselbedeutung hat, wur‐ de dieser Terminus unterdessen ebenfalls von rechten Diskursen vereinnahmt. Vgl. Bruns/ Glösel/Strobl 2017. 56 Vgl. Errejón/Mouffe 2016; Hamburger 2018. 57 Mouffe 2014, S. 181. 58 Vgl. Spinoza 1974 [1677], Kap. II, § 17, Kap. III, § 7.
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tiert und auf eine partizipatorische, sich selbst organisierende Gemeinschaftsform, in deren Zentrum das geteilte soziale Leben steht, abzielt.59 Der Terminus „Multitu‐ de“60 bezeichnet dabei keine Entität, sondern die potentielle Macht individueller Ak‐ teur*innen, sich im Rahmen von (spontanen) Subjektivierungsprozessen zu vereini‐ gen. Sie stellt damit ein Paradebeispiel für einen Gegenbegriff zum Demos oder Volk dar, da sie auf keinerlei Kriterien wie Ethnie, Nation, Staatsbürgerschaft oder Ähnliches rekurriert, die der Existenz oder dem politischen Handeln von Individuen, die sich zu einem Kollektiv zusammenschließen, vorgelagert wären.61 Diese in ge‐ wisser Weise wesenhaft revolutionäre Multitude ist daher keine konstante Größe ei‐ nes politischen Gebildes, sondern sie bildet sich überhaupt erst im demokratischkollektiven Handeln selbst, und dies dezidiert in einer sowohl die konzeptuellen Grenzen von Nationalstaaten als auch die Idee von Volkssouveränität überschreiten‐ den Dimension.
5. Fazit: Demos versus Multitude Im Spannungsfeld zwischen der sich bei agonalen Konstitutionsprozessen begriff‐ lich einstellenden Affirmation und Perpetuierung von Grenzziehungen (gegenüber Gegner*innenschaften außen und innen) und einer kompletten Aufhebung oder An‐ nullierung jeglicher Grenzen versucht Balibar stattdessen, die „Demokratisierung von Grenzen“62 zu denken. Dabei stellt er klar, dass „die Abschaffung der Grenzen, zumindest als abstraktes Schlagwort, in mancher Hinsicht noch gefährlicher ist als die Existenz von Grenzen, zumindest unter den gegenwärtigen Bedingungen.“63 Vielmehr hat Balibar den prinzipiell inklusiven, unabschließbaren Aushandlungspro‐ zess diverser Akteur*innen, die nicht allein auf staatliche Verantwortungsträger*in‐ nen zu beschränken sind, im Sinn. Ein solcher Aushandlungsprozess bedeutet dann tatsächlich eine radikale „Infra‐ gestellung der Bedingungen, unter denen das Problem entstanden ist“,64 wenn die auf Rousseau zurückgehende systematische Unterscheidung zwischen dem politisch relevanten peuple, das qua vernünftiger, kollektiver Konstitution eine republikani‐ sche Ordnung schafft, und der ungeordneten Menge, die zuweilen als verblendet dar‐ gestellt wird, nicht als gegeben, sondern selbst als verhandelbar begriffen wird. Für Rousseau ist in normativer Hinsicht die konzeptuelle Aufwertung der Gruppe von Menschen, die sich gemeinsam für einen Gesellschaftsvertrag entscheidet, als peup‐ 59 60 61 62 63 64
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Vgl. Saar 2006, S. 200. Hardt/Negri 2004, S. 109, 386 f. Vgl. Martinsen 2016, S. 131 f. Balibar 2002/3, S. 127, Übers. d. Verf. Balibar 2002/3, S. 127, Übers. d. Verf. Balibar 2002/3, S. 128, Übers. d. Verf.
le für die Legitimierung der politischen Ordnung wichtig. Dieser konstituierende Demos kann jedoch auch mit der besten Gesetzgebung in einer imaginären „Stunde Null“ die sich daran anschließenden zeitlichen, räumlichen und soziokulturellen Dy‐ namiken und Konflikte innerhalb der Gesellschaft niemals stillstellen, und daher gilt Honigs Einschätzung: „[t]he people, the so-called center of democratic theory and practice, are always inhabited by the multitude, their unruly ungovernable double.”65 Diese Spannung also zwischen ‚Volk‘ und ‚Menge‘, zwischen ‚Demos‘ und ‚Multitude‘ lässt sich unter der Kontingenzbedingung politischer Ordnungen, also aufgrund des Fehlens letzter Gründe, nicht auflösen. Die politische „paradoxicality in daily life“66 bleibt bestehen: Jeder Mensch webt durch seine Geburt einen neu‐ en Faden in die gemeinsame Welt, wie es bei Hannah Arendt heißt. Durch diese Fäden verändert sich das Muster des Gewebes, das bereits vorher da war, nun aber ein anderes ist.67 Selbst innerhalb der vorgegebenen Struktur eines Demos, der per Staatsbürgerschaft und nationalstaatlicher Logik definiert wird, stellt jeder Neuzugang, ob qua Geburt oder qua Immigration, wie bereits von Honig zitiert, eine potentielle Veränderung der Ordnung da. Ob im Modus der Rechtmäßigkeit (per Wahlen) oder im Modus der ‚irregulären‘ Herausforderung (wie im Falle der Demonstrationen ausgeschlossener Frauen oder sans papiers) – das Kriterium der Zugehörigkeit kann jederzeit bestritten, angezweifelt oder für obsolet erklärt werden. Daher solle über Zugangskriterien offen verhandelt werden, schlägt Balibar vor. Für eine praktische Umsetzung dieser Idee liefert er keine konkrete institutionali‐ sierbare Anleitung. Und auch bei Theoretiker*innen, die ähnliche Ideen verfolgen, finden sich keine praktikablen Ansätze. Doch sie verweisen eindringlich auf die Paradoxien demokratischer Ordnungen und offerieren damit zumindest gedankliche Ansatzpunkte für die kritische Reflektion.68 Arash Abizadeh etwa, der sich selbst sicherlich nicht als agonaler oder radikaler Demokratietheoretiker versteht, sondern dem liberalen Spektrum zuzuordnen ist, legt in Bezug auf territorial-nationalstaatli‐ che Grenzen, dar, dass die staatliche Grenzhoheit demokratietheoretisch nicht zu legitimieren sei, da es keine demokratische Abstimmung über den Grenzverlauf bzw. die Passierbarkeit von Grenzen gebe. Weder die Staatsangehörigen eines Terri‐ toriums noch Nicht-Staatsangehörige, die ebenfalls prinzipiell von ihnen betroffen sind, weil sie die individuelle Mobilität beschränken, haben die Möglichkeit, über die Institution der Grenze zu entscheiden.69 Abizadehs Überlegungen stellen ebenso wenig eine Praxisempfehlung dar. Doch bezogen auf Balibars Vorstellung einer Verhandlung über die Grenzen des Demos bieten sie eine Anknüpfungsmöglichkeit, Honig 2009, S. 3. Connolly 1991, S. 119. Vgl. Arendt 1981, S. 226. Für Überlegungen zu Institutionen, die Politik für das Politische offenhalten, siehe auch den Beitrag von Miram in diesem Band. 69 Vgl. Abizadeh 2017; vgl. Martinsen 2019, S. 256. 65 66 67 68
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um deutlich zu machen, dass es nicht nur darum gehen kann, dass Wahlberechtigte sich mit Nicht-Zugehörigen ins Vernehmen setzen und damit die Bedingungen der Verhandlung vorgeben, sondern dass die Verhandlungsmodalitäten tatsächlich offen und inklusiv sein müssen und Akteur*innen unterschiedlicher räumlicher, kulturel‐ ler, ökonomischer und politischer Reichweite einbeziehen. In dieser Richtung ließe sich das Konzept der Einbeziehung von Betroffenen von Entscheidungen weiterden‐ ken: Als zunächst utopisch anmutender Vorstoß ginge die Idee einer Einladung zum Streit über Zugehörigkeit im binnengesellschaftlichen ebenso wie im Staatsgrenzen überschreitenden Modus insofern über Hedwig Dohms Forderung nach Teilhabe der Frauen hinaus, weil auch in Dohms Thematisierung implizit nationalstaatliche Koordinaten mitschwingen. Es ging ihr zunächst um die Ehefrauen, Töchter, Mütter und Schwestern der männlichen Wahlberechtigten, die das Wahlrecht erkämpften. Die Begrenzung qua Geschlecht wurde von Dohm als grundlose Grenzziehung angefochten, die nationale hingegen nicht explizit problematisiert. Dabei ist jegliche Begrenzung des Demos letztlich grundlos. Es kommt auf die jeweiligen Akteur*in‐ nen und Theoretiker*innen einer historischen Epoche an, dies zu erkennen und darüber in politische Aushandlungsprozesse zu treten. Connolly wirbt regelrecht dafür, den Deutungsstreit um die demokratische Zugehörigkeit als schöpferische Herausforderung zu begreifen. Und auch Balibar beansprucht, die demokratietheore‐ tische Debatte zu sensibilisieren für neue, vielfältigere Modi der Aushandlung über Immigration und Teilhabe, die die gängigen Kriterien des Demos in Frage stellen.70 In diesem radikaldemokratischen Verständnis kann der Begriff des Demos einen Motor für die Demokratie bilden.
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70 Vgl. Connolly 1991, S. 119; Balibar 2002/3, S. 128.
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Oliver W. Lembcke A-Legal Democracy? Die agonale Demokratietheorie auf der Suche nach dem roten Faden, mit dem sich Politik und Recht verknüpfen lassen
In Gegenden, in denen die Broken-Window-Theorie längst von der Praxis eingeholt worden war, fand sich noch vor gut zwanzig Jahren gelegentlich die Formel „legal, illegal, scheißegal“. Eine rechtsphilosophisch durchaus beachtliche Sentenz, könnte sie doch als ein Hinweis gelesen werden, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht erschöpfend ist – vielleicht nicht einmal in der Welt des Rechts selbst. Auf diesen Umstand hat mich in einem Brief kurz vor seinem Tod ausgerech‐ net Gerd Roellecke aufmerksam gemacht; ausgerechnet deswegen, weil Roelleckes Hausgott (neben Hegel) Niklas Luhmann war, der den binären Code des Rechts zwar nicht erfunden, aber zu dessen Verbreitung erheblich beigetragen haben dürfte. Roellecke seinerseits wies nun im Kontext der Aufarbeitung des SED-Unrechts auf das Tertium hin, für das weder das Recht noch das Unrecht angemessen wäre. Und tatsächlich findet sich eine Reihe von Themen, die sich aus dieser Perspektive fassen lassen: So findet sich neben der Frage des Systemunrechts etwa das Thema der rechtsfreien Räume, aus denen sich der Staat mit normativen Vorgaben zurückzieht bzw. nach Vorstellung der Befürworter solcher Konzeptionen zurückziehen sollte. Es hat lange gedauert, bis die Rechtstheorie sich dieser Herausforderung eines tertiären Bereichs zugewandt hat. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ihr disziplinärer Fokus auf das Normative fixiert ist. Einen Anstoß für die rechtstheore‐ tische Innovationsbereitschaft hat offenbar die Politische Theorie geliefert, genauer gesagt die agonale Demokratietheorie. Die Agonisten sind ihrerseits bemüht, eine disziplinäre Stabilitätsfixierung zu überwinden, die sich zweifach zeigt: einerseits in der Bedeutung des Topos der Stabilität politischer Ordnungen innerhalb der Politikwissenschaft und andererseits an dem Einfluss der angelsächsischen Demo‐ kratietheorie mit ihrer Ausrichtung auf majoritäre Regierungssysteme mit einem alternierenden Zwei-Parteiensystem als Herzstück. Die Stabilität der politischen Ordnung, lange Zeit ein unwidersprochenes Gütezeichen gerade auch im demokrati‐ schen Kontext, selbst zum Gegenstand der Kritik gemacht zu haben, ist zweifellos ein Verdienst der agonalen Demokratietheorie. Aus dieser demokratietheoretischen Warte ist die Stabilität kein Wert an sich, sondern ein Hinweis auf Exklusionsprozesse, die den Idealen der Demokratie zuwi‐ derlaufen und deren Legitimität untergraben. In diesem Zusammenhang tritt das 171
Recht typischerweise als Instrument zur Schließung von demokratischen Optionen auf – oder wird doch zumindest von den Agonisten weitgehend so wahrgenommen. Die Gründe hierfür sind in einem ersten Schritt kurz zu rekapitulieren (1.) und um eine Perspektive zu erweitern, die sich als unmittelbar anschlussfähig für das demo‐ kratietheoretische Anliegen der Agonisten erweist (2.). Auf dieser Grundlage wer‐ den drei Suchbewegungen unternommen, um im Kontext agonistischer Anliegen Angebote aufzuspüren, mit denen sich das Verhältnis von Politik und Recht nicht nur in kritischer Absicht, sondern auch institutionenpolitisch in innovativer Weise bestimmen lässt. Konkret geht es dabei um den Gedanken der Widerständigkeit bei Bonnie Honig (3.), der Aneignung des Rechts bei James Tully (4.) sowie der Ge‐ meinschaftlichkeit bei Chantal Mouffe (5.). Diese Elemente stärken die Sicht von Wolin, wonach der agonale Ansatz die Demokratie als einen mode of being versteht1 – im Unterschied zu einem bestimm‐ ten Set an Institutionen und Prinzipien. Allerdings wirft ein solches Verständnis die Frage nach den Voraussetzungen eines solchen Modus auf. Und der naheliegende Rekurs auf das demokratische Subjekt – Masse, Vielheit, Volk etc. – wird gerade in kritischer Hinsicht kaum genügen. Denn wie lässt sich verhindern, dass sich die Mächte, die sich stets aufs Neue zu einem pouvoir constituant zusammenballen kön‐ nen, keine Spirale von Ordnung und Zerstörung auslösen?2 Seit der Französischen Revolution steht diese Frage im Raum – und richtete sich damals an einen der führenden Köpfe unter den Revolutionären. Emmanuel Joseph Sieyès zählt jedoch nicht nur zu den prominenten Revolutionsführern; er war zudem der Spiritus rector der verfassunggebenden Gewalt.3 Es erscheint daher als lohnend, abschließend auf Sieyès zurückzukommen und dessen Bemühen um Formen institutioneller Vernunft (6.). Sein institutionelles Denken mag in mancherlei Hinsicht einen Blueprint lie‐ fern, um das kreative Reservoir der Agonisten im Umgang mit dem Recht in frucht‐ barer Weise mit dem etablierten Diskurs über den Konstitutionalismus zu verbinden.
1. Ent-Schließung Im Kreis der agonalen Demokratietheorie ist das Recht schlecht beleumundet. Um diesen Eindruck wird man schwerlich herumkommen. Wer sich zu diesem Kreis zählt, teilt zwar in der Regel nicht die radikale Auffassung Giorgio Agambens, wonach das Recht, indem es als inhaltslose Form auf das Leben zugreift und sich dessen bemächtigt, immer schon zur dunklen Seite der Macht gehört, die Politik mit
1 Wolin 1994, S. 23. 2 Volk 2010, S. 265. 3 Lembcke/Weber 2010.
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Souveränitätsfiktionen verseucht und letztlich todbringende Biopolitik produziert.4 Gleichwohl steht das Recht für Agonisten doch unter Dauerverdacht: Verdächtig ist seine Status-quo-Orientierung ebenso wie die stabilisierende Wirkung auf die Politik – gerade auch in der Demokratie. Verdächtig ist ebenso die Aura der Neutralität, die selbst schon im Ruch der Ideologieanfälligkeit steht. Verdächtig ist schließlich auch das Legitimationspotential des Rechts, das nur allzu leicht zur Pseudorationali‐ sierung von Machtinteressen durch die Jurisprudenz genutzt wird, wobei die lakaien‐ hafte Dienstbarkeit, die dieser Zunft so oft vorgehalten wird, den Generalverdacht auf Seiten der Agonisten eher noch erhärten dürfte. Solche Karikaturen fallen typischerweise auf einen selbst zurück. Kaum eine Darstellung über die Ansätze der agonalen Demokratietheorie kommt ohne den Zusatz aus, dass diese nur ein Feuerwerk an disruption abfackeln wollen.5 Aber aus welchem Grund, so ließe sich einmal zurückfragen, sollten denn die Agonisten einen Sinn für das Recht entwickeln? Ist es nicht das Instrument der Schließung par excellence, während die Agonisten vor allem und in erster Linie Protagonisten der Ent-Schließung sind? Ihnen geht es in demokratischer Absicht um die Öffnung der Ordnung, d.h. erstens um mehr Inklusion und Partizipation auf der Inputseite, um den Kreis an rechtlich relevanten Akteuren zu erweitern und deren politischrechtliche Einflussmöglichkeiten zu erhöhen,6 und zweitens um ein höheres Maß an Responsivität gegenüber Interessenlagen breiter Bevölkerungsgruppen im Out‐ putbereich, verbunden mit einer schnelleren Reversibilität rechtlicher Regelungen, die diesen Interessenlagen entgegenstehen.7 Und diese Öffnung ist nicht als ein einmaliger Akt gemeint, sondern dem Ziel nach als eine Struktur zu verstehen, als ein radikales Auf-Dauer-Stellen der Offenheit.8 In einer solchen Ordnung stehen zwangsläufig auch deren Grundlagen zur Disposition, ja im Grunde gibt es keine andere Grundlage mehr als den (legitimen) Konflikt über die Ordnung selbst. Aus einer solchen Sichtweise lässt sich leicht der Schluss folgern, dass es ein allgemeines Desinteresse am Thema der institutionellen Ausgestaltung einer politischen Ordnung gibt.9 Und die starke Handlungsorientierung dieser Richtung,10 in der sich nicht selten eine aktivistische Haltung spiegelt,11 legt es nahe, von einem grundsätzlichen
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Agamben 1998. Honig 2014, S. 208. Hier kommt ein breites Spektrum an Regelungen in Betracht: von der Absenkung des Wahlal‐ ters, über ein restriktives Lobbygesetz bis zur Einführung und Ausweitung der Verbandsklage. 7 Dazu kann ggf. auch der Gang nach Karlsruhe dienen, wie das Beispiel der Verfassungsbe‐ schwerde gegen das Klimaschutzgesetz zeigt: 1 BvR 2656/18, vom 24. März 2021. 8 Nullmeier 1998, S. 111. 9 Wallaschek 2017. 10 Buchstein/Jörke 2003, S. 490. 11 Prominent vertreten in der Person von Chantal Mouffe (2018).
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„institutional deficit“12 der Agonisten auszugehen – zumal dieser Befund auch auf Seiten der Agonisten selbst bisweilen konstatiert wird.13 Diese Einschätzung droht jedoch das Reservoir an kreativen Ideen im Umgang mit den pouvoirs constitués, den (rechtlich) verfassten Gewalten zu übersehen. Als einen Einstieg bietet sich der Hinweis auf eine thematische Auffächerung an: So spielt das Thema der Verrechtlichung im Rahmen des – für diese Richtung eminen‐ ten – Phänomens der Entpolitisierung durchaus eine Rolle und gibt Anlass, das Verhältnis von Judikative und Legislative zu befragen.14 Honig und Tully sind dafür einschlägige Beispiele; Mouffe und Connolly nicht.15 Diese Differenzierung bietet wiederum Anlass zur weiteren Reflexion. Verlangt die strukturelle Entschließung, die als Charakteristikum der agonalen Demokratietheorien betrachtet werden kann, nicht ihrerseits nach Institutionalisierung? Oder anders gefragt: Mit welchen Spielre‐ geln lässt sich die Offenheit des demokratischen Streits einschließlich der Auseinan‐ dersetzung über grundlegende Normen der Konfliktbearbeitung organisieren?16 Ein wesentliches Kennzeichen der agonalen Demokratietheorie ist die Kritik an den Konsens-Varianten des demokratischen Konstitutionalismus, der von einem (mitunter geradezu harmonischen) Verweisungszusammenhang zwischen dem Prin‐ zip der Demokratie und jenem der Rechtsstaatlichkeit ausgeht. Ein Beispiel hierfür ist das über den Bereich der normativen politischen Theorie hinausreichende Kon‐ zept der „embedded democracy“, das bestimmte Teilsysteme identifiziert, darunter eine verfassungsrechtlich entwickelte Form der Gewaltenteilung sowie individueller Grundrechtssicherungen, die den demokratischen Prozess u.a. deswegen stärken, weil sie das Spiel von Mehrheit und Minderheit bis zu einem bestimmten Grad vor den Gefahren der Machtkonzentration und des Machtmissbrauchs schützen.17 Während diese Auffassung auf eine lange Tradition innerhalb des politischen Denkens zurückblicken kann – man denke an die „Tyrannei der Mehrheit“ –, wird der Verweisungszusammenhang zwischen den beiden Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von deliberativen Ansätzen zum Gegenstand einer Optimie‐ rung dieses Verweisungszusammenhangs gemacht. Bei allen Unterschieden, die sich etwa im Werkvergleich zwischen Jürgen Habermas und John Rawls feststellen lassen, bleibt doch das gemeinsame Ziel erkennbar, die basalen Regeln der Kon‐ fliktaustragung auf eine vernünftige Basis stellen zu wollen, die im Rahmen der Verfassung selbst außerhalb des Streits stehen soll.18 Wie lassen sich dann aber noch Howarth 2008, S. 189. Westphal 2017, S. 378. Wallaschek 2017, S. 12. Michelsen 2018, S. 151. Schaap 2009, S. 1. Eine gelungene Übersicht über die unterschiedlichen Angebote der agona‐ len Demokratietheorie bietet die Arbeit von Westphal 2018. 17 Merkel 2016. 18 Siehe hierzu die darin übereinstimmenden Kritiken von Honig (1993, S. 126ff.; 2001a) und Mouffe (2008a).
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diese – die Konfliktaustragung selbst regulierenden – Normen anfechten? In dieser Frage ist das zentrale Anliegen der Agonisten eingekapselt. Allerdings bedarf es für eine hinreichende Antwort auf diese Frage institutionenpolitische Vorschläge, die über die Kritik am Liberalismus hinausgehen. Stellvertretend für das Arsenal an Vorschlägen dienen die in den folgenden Abschnitten vorgestellten Ideen und Argu‐ mente von Honig, Tully und Mouffe. Überdies und vorab ist jedoch die Frage aus einer agonalen Perspektive nach dem Begriff des Rechts selbst aufzuwerfen. Ange‐ sichts der für die modernen Gesellschaften Relevanz des Rechts, die von den Ago‐ nisten nicht geleugnet, sondern allenfalls beklagt wird, erscheint ein solches Unter‐ fangen als notwendig. Denn eine Suche nach Alternativen zum Recht als wesentli‐ ches Instrument und Medium der kollektiven Organisation gesellschaftlicher Koope‐ ration und Koordination würde wie eine leere Geste wirken, die der agonalen Demo‐ kratietheorie zudem ihres realpolitischen Impulses beraubte.
2. A-Legalität Einen wesentlichen Beitrag, den Begriff des Rechts aus einer für die agonale De‐ mokratietheorie anschlussfähigen Weise seines binären Charakters zu berauben, hat Hans Lindahl mit seiner Konzeption der A-Legalität vorgelegt.19 Die Rechtswissen‐ schaft hat in ihrer langen Disziplingeschichte zweifellos eine Reihe von Ansätzen hervorgebracht, die einen Zwischenraum zwischen beiden Bereichen des Rechts und des Unrechts markieren. Gibt es einen rechtlich relevanten Bereich, der (noch) nicht Recht ist und der sich der Einordnung in die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht entzieht? Bisher waren diese Perspektiven mit einer sequenziellen Betrach‐ tungsweise verbunden, die sich auf die Emergenz des Rechts beziehen. Geschult in der Tradition des Common Law werden dabei vor allem die Elemente der Gewohn‐ heit, Wiederholung, Dauer oder Akzeptanz erfasst, die das Recht über dessen soziale Reife identifizieren. Erweitert worden ist diese soziologische Perspektive durch den Ansatz des Soft Law, der Idee, dass Praktiken, die menschliches Verhalten steuern, einen Vorgriff auf das Recht darstellen, auch wenn diese Praktiken selbst noch nicht als Recht in einem dafür vorgesehenen Verfahren autorisiert worden sind. Es handelt sich um Recht in einem embryonalen Stadium. Eine erhebliche Aufwertung findet dieser Gedanke durch eine Verbindung mit Gedankengut des Naturrechts. In diesem Kontext sind vor allem die Arbeiten von Lon Fuller zu nennen, der von einer moralischen Qualität des Rechts ausgeht.20 Danach kann die Rechtssetzung nicht (dauerhaft) jenen Eigenschaften widersprechen, die das Recht als Form auszeichnen, ohne sich selbst ad absurdum zu führen. Mit Fuller lässt sich daraus folgern, dass 19 Lindahl 2013a. 20 Fuller 1978.
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Prozesse, die diese Eigenschaften des Rechts besitzen, ohne dass die jeweilige Regel oder Praxis in einem dafür vorgesehenen Verfahren als Recht autorisiert wurde, bereits die Anerkennung als Recht verdienen. Verglichen mit diesen „sequenziellen“ Ansätzen ist der Ansatz der A-Legality, den Hans Lindahl vorgelegt hat, kategorialer. Lindahl bezieht sich direkt auf die Di‐ chotomie zwischen Recht und Unrecht, die er durch die Einführung einer dritten Ka‐ tegorie herausfordern will. Sein Denken kreist nicht um die Frage von „Noch-nichtRecht“ oder „Längst-schon-Recht“, sondern auf Umstände und Handlungen, die sich der Dichotomie entziehen – mit doppelter Wirkung:21 Denn erstens wird durch die Unentscheidbarkeit des Handlungsaktes bereits die (vermeintliche) Dichotomie selbst in Frage gestellt; zweitens zielt auch die Handlungsmotivation darauf ab, diese Dichotomie als (im eigentlichen Sinne des Wortes) fragwürdig vorzuführen. Neben den eingangs erwähnten Beispielen des Systemunrechts oder des rechtsfreien Raumes wäre hier v. a. an Formen des zivilen Ungehorsams zu denken, der seinem Anspruch nach Prinzipien demokratischer Freiheit verteidigt, indem er sich den staatlichen Anordnungen widersetzt, aber dabei noch die Kirche im Dorf lässt und sich mit abgemessenen Weisen der Non-Compliance begnügt. Aber was heißt hier „abgemessen“? Dazu einführend ein „Fall“, den Lindahl selbst zur Illustration seines Konzepts der A-Legality anführt:22 Ungefähr dreißig Mitglieder der MCPL (Mouvement des chômeurs et precaires en lut‐ te)23 gehen am 20. Dezember 2008 in das noble Kaufhaus Lafayette in Rennes, nicht mit dem Ziel, einzukaufen, sondern kostenlos Lebensmittel zu erhalten, die sie im Anschluss an Arbeitslose, Obdachlose und sonstige Mittellose verteilen (autoréduction). Zu diesem Zweck füllen Sie ihre Einkaufstaschen mit unterschiedlichen Lebensmitteln, darunter auch teure Leckereien wie etwa Gänseleberpastete, reihen sich anschließend jeweils zu dritt nacheinander an die Schlangen an sämtlichen Kassen und verweigern die Bezah‐ lung, sobald sie an der Reihe sind. Sie erklären ihre Motive, erheben ihre Forderungen und unterbrechen den normalen Gang des Weihnachtsgeschäfts solange, bis der Ge‐ schäftsführer sich bereit erklärt, mit ihnen zu verhandeln. Nach einigem Hin und Her von ca. 40 min. lässt dieser die chômeurs mit zehn der Einkaufstüten ziehen. Die „kostenlos erhaltenen“ Lebensmittel werden unmittelbar vor der Tür unter den Bedürftigen verteilt.
Wie will man diese Robin-Hood-Aktion strafrechtlich beurteilen: War es Diebstahl? Es fehlt bereits am Vorsatz. Oder Erpressung? Eigentlich wollten sie verhandeln und nicht nötigen. Aber hat man nicht den Geschäftsführer zum Verhandeln „genötigt“? War der Stau an der Kasse schon Ausdruck von Gewalt? Wurde mit einem empfind‐ lichen Übel gedroht (z.B. in Form verringerter Einnahmen aufgrund des zeitweiligen Trubels)? Es gibt sicherlich Strafrechtler, die diesen Fall zumindest zur Anklage 21 Lindahl 2013b, S. 717. 22 Lindahl 2013a, S. 31. 23 Zu Informationen siehe die Homepage der Gruppe, die sich mittlerweile in Mouvement natio‐ nal des chômeurs et precaires umbenannt hat: https://www.mncp.fr.
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bringen würden. Aber er veranschaulicht doch auf seine Weise, wie unpassend die Kategorien des Strafrechts hier erscheinen, und zwar in beide Richtungen: Weder widerfährt dem Kaufhaus eklatantes Unrecht, noch erscheint die Aktion rechtlich „sauber“. Eine der Pointen des Ansatzes von Lindahl besteht eben darin, die Dicho‐ tomie Recht/Unrecht als eine Struktur zu offenbaren, die ein ebenso strukturelles „Außen“ konstituiert, d.h. einen Bereich, der rechtlich relevant ist, ohne Recht zu sein. Die rechtliche Relevanz offenbart sich für Lindahl daran, dass die Grenzzie‐ hungen des Rechts selbst und damit die Wirkungen der Inklusion und Exklusion berührt werden. Er demonstriert dies an vier Dimensionen, nämlich der räumlichen, zeitlichen, materiellen und subjektiven Dimension, wobei sich die Darstellung auf die ersten beiden beschränkt, die zur Veranschaulichung genügen sollten:24 •
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In räumlicher Hinsicht ist das Kaufhaus ein „ought-place“, das sich mit anderen „ought-places“ verbindet, etwa einem Arbeitsplatz (wie sonst soll man die teuren Lebensmittel bezahlen?), einem Zuhause (wo das gute Essen zubereitet wird), einem Parkplatz, einem Taxistand, weiteren Einkaufs- oder Unterhaltungsmög‐ lichkeiten etc.25 Es wird deutlich, dass das Recht räumliche Möglichkeiten eröff‐ net und andere schließt, mit der Folge einer Marginalisierung all derjenigen, die finanziell nicht in der Lage sind, im Lafayette einzukaufen. Indem die chômeurs den Stau an den Kassen bewirken, überschreiten sie diese Grenzziehung des Rechts, unterbrechen die Selbstverständlichkeit von Inklusion und Exklusion und lassen dadurch die Logik der Ausgrenzung für eine kurze Zeit sichtbar werden. Ähnlich verhält es sich mit der zeitlichen Grenzziehung. Diese drückt sich zu‐ nächst in der Abfolge von Arbeit, Einkauf, Bezahlen, Konsumieren aus und wird vom Recht normativ insofern gestützt, als dass das vorangehende Moment jeweils als „normale“, d.h. „richtige“ Bedingung des nachfolgenden Moments erscheint. Und auch diese Grenze wird von den chômeurs überschritten, indem sie einen anderen Ablauf wählen, um den rechten Zeitpunkt neu zu bestimmen, an dem diejenigen ohne Arbeit trotzdem konsumieren können.26
Wie die beiden Dimensionen zeigen, bedeutet A-Legalität nicht einfach NichtRecht. Vielmehr ist es ein für die Normativität des Rechts relevanter Außenbereich, der sich einer Zuordnung der Rechtskategorien entzieht – und gerade dadurch die Entscheidung über Recht und Unrecht als kontingent und bestreitbar markiert. Be‐ reits der Volksmund weiß zu sagen, dass man vor Gericht und auf See in Gottes Hand ist. Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit der Entscheidung ist der Dichoto‐ mie von Recht und Unrecht eingeschrieben; und zu dieser Notwendigkeit besitzt das Außen eine dauerhafte Beziehung, ein kontingentes Moment im Kontext der 24 Siehe zu den folgenden Ausführungen Lindahl 2013a, S. 31ff. 25 Lindahl 2013a, S. 32f. 26 Lindahl 2013a, S. 33f.
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Notwendigkeit, mit dem es die Fragwürdigkeit rechtlicher und/oder gerichtlicher Entscheidungen zum Gegenstand eigenen Handelns machen kann. Diesen Außenbe‐ reich des Rechts nachzuvollziehen, zu vertiefen und für eigene Absichten und Theo‐ rie und Praxis zu nutzen, dürfte sich für die agonale Demokratietheorie als fruchtbar erweisen.
3. Wiedergründung Eine Inspiration auf der Suche nach Anschauung für den Außenbereich der A-Le‐ galität dürfte William E. Connollys Idee einer politics of becoming sein.27 Ihm zufolge besitzt die Politik nicht mehr die Kompetenz, letzte Fragen zu entscheiden (vielleicht hat sie diese auch nie besessen), sie muss aber gleichwohl gerade solche Fragen entscheiden. Politik befinde sich daher in jener Schwebelage der Politik, die stets unfertig, weil im Werden begriffen ist: ein Paradox.28 Nicht nur ist der Grund für die Relevanz der Politik in der Moderne in ihrer Grundlosigkeit „begründet“; auch ihre Geltung offenbart sich erst „im Grunde“ ihrer Wirkung – und bleibt damit zugleich stets unter Vorbehalt der Veränderbarkeit.29 Honig ist von diesen Einsichten maßgeblich geprägt. Ein nicht unwesentlicher Teil ihrer Studien dreht sich um den Versuch, die paradoxe Logik des Politischen zu fassen, die immer schon eine Form von Verbindlichkeit voraussetzen muss, um selbst Verbindlichkeiten schaffen zu können.30 Dieser Vorgriff auf das künftige Gelingen, das maßgeblich zum Gelingen der politischen Ordnungsleistung beiträgt, ohne es selbst garantieren zu können, ist in ihren Augen ein Charakteristikum der Politik. Daher haben politische Entschei‐ dungen ein solches Gewicht. Sie entwickeln bereits typischerweise im Zuge der (antizipierten) Vorwirkung ihre Auswirkung, mit der das Ungefähre des Möglichen überblendet wird. Die Formkraft, die aus diesem Entwicklungsprozess resultiert, ist dabei selbst Gegenstand des politischen Paradoxes und beschränkt sich dabei nicht auf die Grundlegung einer politischen Ordnung. Vielmehr verlängert sich die Reichweite der paradoxalen Logik bis in den politischen Alltag hinein:31 So wird of‐ fenbar, dass die Formkraft politischer Entscheidungen, gestützt auf (und unterstützt von) Moral und Recht, selbst keine dauerhafte Form findet, sondern in der Schwebe verbleibt. Nicht viele Ansätze in der politischen Theorie sind bereit, die Paradoxalität der Politik anzuerkennen und ihre unhintergehbare Kontingenz auszuhalten. Vielmehr soll die Bindung an das Recht (Liberalismus) oder die Moral (Kommunitarismus) 27 28 29 30 31
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Connolly 1999, Kap. 3. Siehe dazu im Folgenden auch Lembcke/Weber 2016. Connolly 2002. Honig 2008. Honig 2007. Siehe hierzu auch den Beitrag von Martinsen in diesem Band. Honig 2009, S. 14.
die Unberechenbarkeit und Willkür sowie die damit verbundene potenzielle Gewalt‐ samkeit des Politischen einhegen. Politik unter der Maßgabe der rule of law erliegt jedoch in den Augen Honigs einer Illusion der Übersetzung: Weder lassen sich moralische Prinzipien „unbeschadet“ in politische Ziele übersetzen, noch können politische Programme durch administrative Vorgaben erschöpft werden. Es bleibt stets ein „Rest“ (remainder) übrig, der sich als emotionales Unbehagen in jedem Einzelnen artikuliert und als Keimzelle von Widerstand und Protest fungieren kann. Brüche und Unsicherheiten, die zu Widerspruch und Subversion führen, sind für Honig nicht Zeichen einer imperfekten Organisation demokratischer Willensbildung, vielmehr sind sie Ausdruck der Vitalität des demokratischen Prozesses. Es geht Honig jedoch nicht darum, die Rechtsbindung der Politik abzuschaffen, vielmehr soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass der Glaube an die Herrschaft des Gesetzes einer gefährlichen Illusion aufsitzt, die verdeckt, dass Ge‐ setze von Menschen gemacht, von Menschen in politische Leitlinien übersetzt und von Menschen juristisch angewendet werden. Die Rede von der rule of law wird nur dann nicht zur Ideologie, wenn sie präsent hält, dass auch sie ein Modus der rule of man ist. Letztlich sind es Interpretationen und Auslegungen, die das Recht zu einem Mittel politischer Steuerung machen – und als solche Handlungen dürfen sie demokratischer Kontrolle nicht entzogen sein.32 Ein Beispiel dafür ist Honigs Konzeption der emergency politics. Diese lässt die „emergence of politics“, d.h. die Entstehung und Entfaltung des Politischen im Ver‐ hältnis zum Recht transparent werden. Honig zielt auf die existentielle Dimension des Politischen, ohne diese selbst zugleich wieder als „außerordentlich“ zu margina‐ lisieren: „Against the Exceptionalism of the State of Exception“ lautet das Motto33 – und es hat eine doppelte demokratische Pointe. Die eine Pointe richtet sich gegen die inhaltliche Verarmung der existentiellen Dimension des Politischen infolge der autoritären Souveränitätskonzeption, wie sie sich in Carl Schmitts Konzeption des Ausnahmezustandes findet.34 Souveränität wie Politik erhalten dadurch eine Fixie‐ rung auf Überlebensfragen, die ihrerseits jedoch nur insoweit in Betracht kommen, als sie eine Bestandsgefahr für die staatliche Ordnung selbst darstellen. Fragen des guten Lebens (more life) – die in republikanischer Tradition nicht nur den Grund des nackten Überlebens (mere life) berühren, sondern auch jenen der politischen Gemeinschaft – bleiben hingegen vollständig ausgeblendet. Dies ist für Honig in praktischer wie in normativer Hinsicht inakzeptabel. Ihr Konzept der emergency politics verlangt daher nach einer demokratischen Variante politischer Souveränität, um dem Zusammenhang von mere life und more life gerecht zu werden. Dafür 32 Honig 1993, S. 210. 33 Honig 2009, S. 66. 34 Schmitt 1996, S. 13. Autoritär ist diese Konzeption, weil hier allein auf die faktische Entschei‐ dungsgewalt über den Bestand der Ordnung abgestellt wird.
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bedarf es aber gerade im Alltag mitunter außergewöhnlichen Handelns, das in der Lage ist, die Routinen des Rechts aus dem Gleichgewicht zu bringen – die zweite Pointe einer Strategie der Veralltäglichung des Ausnahmezustandes, in dem die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué aufgehoben wird. Honig hat die Kraft der subversiven Intervention, von der die demokratische rule of man lebt, immer wieder anhand von unterschiedlichen Figuren verdeutlicht. Zu ihnen gehört Louis F. Post (1849-1928), der 1920 unter Woodrow Wilson in das Amt eines Assistant Secretary im U.S. Labor Departement gelangt und in diesem Zusammenhang die Zuständigkeit für Abschiebungsanordnungen auf Grundlage des Immigration Act von 1918 übernimmt.35 Post fällt diese Aufgabe in einer Zeit zu, als in der amerikanischen Öffentlichkeit eine allgemeine Angst vor linksradikalen Um‐ trieben herrscht und die Administration beginnt, Ausländer unter Generalverdacht zu stellen mit der Folge, dass Unzählige interniert und abgeschoben werden sollen. Post unterläuft diese Politik, die er in Kooperation mit der Einwanderungsbehörde und dem Justizministerium durchführen soll, indem er sein administratives Ermessen zur Etablierung einer quasi-gerichtsförmigen Entscheidungsfindung nutzt. Für Honig offenbart diese Selbstbindung mittels Rechtsauslegung die Macht des Interpreten über die auszulegende Norm, die zu ihrer „Anwendung“ der Interpretati‐ on bedarf. So kann ein kluger Kopf in der Administration (oder auf der Richterbank) Dinge innerhalb vermeintlich bereits entschiedener Rechtslagen bewegen, ohne sich aus der Deckung der Rechtsanwendung begeben zu müssen. Die Güte seiner Absicht sollte jedoch nicht über die dezisionistische Logik hinwegtäuschen, die dieser sich zunutze gemacht hat – und um der es Honig zu tun ist. Es ist gerade nicht der „blin‐ de“ Dezisionismus, der den Erfolg gebracht hat, sondern das vorsichtige Ausloten und die feinfühligen Annäherungen an die Rechtsnormen, durch die sich Spielräume eröffnen und mit denen bisweilen sogar eine Verkehrung der Gesetzeslage oder eine Subversion politischer Ziele gelingen kann. Zu dieser Expertise gehört auch die Fähigkeit, die in der Rechtspraxis (und Rechtswissenschaft) waltende „Reini‐ gungslogik“ für die eigenen Zwecke vereinnahmen zu können:36 Denn das Recht will nichts wissen von seiner untergründigen Abhängigkeit gegenüber personaler Herrschaft. Souveränität erscheint hier nicht als ein Akt der Entscheidung, wie Schmitt glaub‐ te, sondern als ein Geschehen, als accidental souvereignty.37 Anders als die Bahnen der rechtlichen Zurechenbarkeit suggerieren, ist ihr Charakteristikum nicht Gradli‐ nigkeit; sie ähnelt eher einer Punktwolke: bildlicher Ausdruck einer kontingenten Formation von Einzelentscheidungen, zu deren Anordnung Prozesse der Machtallo‐ kation ebenso beitragen wie die Performativität der handelnden Akteure. Das ist der 35 Honig 2009, S. 69-73. 36 Honig 2009, S. 85. 37 Honig 2009, S. 3.
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Raum, den man mit Honig – und ganz im Sinne Lindahls – als aconstitutionality bezeichnen kann.38 Indem Honig die Fragilität, Komplexität und Pluralität solcher Vorgänge betont, bringt sie den Gegensatz zwischen souveräner Einheit und demokratischer Vielfalt, der die klassischen Souveränitätskonzeptionen beherrscht, zum Verschwinden. Zuta‐ ge tritt stattdessen der republikanische Grundzug jedes Souveränitätsanspruchs, der sich nicht allein auf seine Gewaltsamkeit verlassen kann, sondern dessen Realität nicht minder von der Bereitschaft zur Gefolgschaft auf Seiten der Rechtsunterworfe‐ nen abhängt. In Honigs Lesart ist die Souveränität damit auch nicht mehr auf den Ausnahmezustand verwiesen, der gleich einem Wunder (in Schmitts Vorstellung) blitzartig das Außergewöhnliche erhellt und ermöglicht, indem es das Gewöhnliche aufhebt. Vielmehr stellt der Ausnahmezustand einen Kulminationspunkt demokra‐ tischer Willensbildung dar, in dem alte Gegensätze (von Norm und Ausnahme) zugunsten von neuen Chancen auf more life überwunden werden; in Honigs Augen ein Prozess der Wiedergründung (re-founding) der Verfassung.39
4. Aneignung Tully teilt Honigs Ansinnen eines radikaldemokratischen Konstitutionalismus, in dem der politische Kampf sich nicht allein nach den Regeln des Rechts vollzieht, sondern das Recht, einschließlich der grundlegenden Regeln des Verfassungsrechts, selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung macht.40 Er setzt jedoch andere Akzente als sie, weil er sich an dem Rechtsverständnis des Common Law orientiert. Sein Ansatz will von machtvoller Souveränität nichts wissen; ihm geht es auch nicht um das re-founding einer Ordnung, sondern um die Aneignung qua Aushandlung. Sein Denken prämiert überdies weder das gesetzgeberische Handeln noch die Fremdheit der Gesetze. Im Gegenteil: sein Credo sieht das Recht als eine Erscheinung gemeinschaftlicher Praxis an. Tully würde dem Grundsatz des Konstitutionalismus zustimmen, dass jede de‐ mokratische Ordnung immer auch eine Ordnung des Rechts sein müsse, um den eigenen Ansprüchen der Freiheitlichkeit gerecht werden zu können. Für ihn ist es jedoch ein Unterschied ums Ganze, ob diese Rechtsordnung aus dem Gedanken der Einheit oder aus dem Gedanken der Diversität entsteht. Und in seinen Augen ist es ein Kennzeichen des new constitutionalism, dass dieser eine unheilvolle Verbin‐ dung mit der Einheitsvorstellung eingegangen ist, und zwar nicht nur vom Recht, 38 Honig 2001, S. 801. 39 Honig 1993, S. 116. Zur Figur der Neugründung bzw. Neubildung siehe auch den Beitrag von Martinsen in diesem Band. 40 Tully 2008, S. 96.
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sondern typischerweise von der Ordnung selbst. Geprägt worden ist der moderne Konstitutionalismus von Denkern wie Hobbes und Kant, zweifellos Philosophen von Rang, die das Recht aus dem Gedanken des Staates und der Einheit der politi‐ schen Ordnung entwickeln und dafür allgemeingültige Prinzipien gefunden haben, die auch in der Gegenwart bei philosophischen Konzeptionen des konstitutionellen Denkens eine zentrale Rolle spielen, auch wenn diese sich – wie etwa im Falle von Habermas – von der Staatszentriertheit lösen konnten.41 Durch diese Prägung leidet der moderne Konstitutionalismus jedoch nicht nur unter einer strukturellen Differenzblindheit gegenüber der Diversität der eigenen Gesellschaft. Er ist unfähig, mit Diversität in freiheitlicher Weise umzugehen, ablesbar an der Geschichte der konstitutionellen Demokratien mit ihrem eigenen kolonialen Erbe. Und insoweit der Konstitutionalismus selbst, z.B. durch eine rigide Verfassung, verhindert, dass die Wirkungen des Kolonialismus selbst nicht zum Gegenstand gleichberechtigter Aushandlungsprozesse werden können, setzt er seine „imperiale“ Erscheinungsform nach Meinung von Tully fort. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man Tullys Beitrag zur agonalen Demokrati‐ etheorie darin sieht, dass diese sich in Form von „de-imperializing attempts“42 gegen Ausbeutung der legal inkorporierten Kolonien richtet. Das Element der contestation ist gerade bei Tully mithin als ein spezifischer „Kampf ums Recht“ zu verstehen, der sich zum einen gegen den new constitutionalism wehrt, in dem sich die imperialen oder hegemonialen Praktiken der Mehrheitskultur eingenistet haben, und der zum anderen für eine – rechtlich gestützte – Kultur der wechselseitigen Anerkennung von Diversität streitet, in der die Praktiken indigener Einwohner, aber auch anderer marginalized groups einen gleichen Anspruch auf Durchsetzung ihrer Lebensformen haben. Sein Ziel ist es daher, die Sicherung der Demokratie durch den Konstitu‐ tionalismus (konstitutionelle Demokratie) aufzuheben und den Konstitutionalismus selbst zu demokratisieren (demokratischer Konstitutionalismus), und zwar durch eine Politik des permanenten Aushandelns, in dem der Rechtsstaat nicht zuvörderst das Produkt des staatlichen Rechts, sondern Resultat einer gesellschaftlichen Praxis der Übereinkunft ist. Wie man sich einen solchen Prozess des permanenten Aushandelns vorstellen kann, der überdies angemessen mit der Herausforderung des Faktums der Diversität moderner Gesellschaften umgehen kann, welche Prinzipien und Institutionen dafür erforderlich sind, hat Tully vor allem in seiner Schrift Strange Multiplicity dargelegt. Diese Schrift ist als ein Gegenentwurf zum modernen Konstitutionalismus angelegt, indem sie nicht von der Einheit des Demos und der Hierarchie des Gesetzgebers, sondern von einer Pluralität der Gesellschaftsmitglieder ausgeht, die sich durch Abkommen wechselseitig anerkennen, rechtlich binden und auf diese Weise gemein‐ 41 Siehe Tully 1995, Kap. 3. 42 Tully 2007, S. 317.
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sam eine heterarchische Rechtsordnung hervorbringen und weiterentwickeln. Tully bezeichnet diesen stark vom Vertragsgedanken geprägten Konstitutionalismus denn auch als „treaty constitutionalism“,43 der seinerseits auf drei „conventions“ beruht, namentlich auf wechselseitiger Anerkennung, Kontinuität und Konsens.44 Diese Elemente haben in Tullys Augen schon immer dem Geschäft der Gerechtigkeit betrieben, und zwar, so sollte man in seinem Sinne hinzufügen, weil diese Elemente in einem Verweisungszusammenhang stehen. Anerkennung. In seinen Ausführungen zur „mutual recognition“ verweist Tully u.a. auf den Fall Worcester v. the State of Georgia (1832). Gegen Ende seiner langen Karriere am US Supreme Court hat diesen Fall John Marshall als Chief Justice verhandelt, der einer breiten Allgemeinheit aus der Entscheidung Marbury v. Madison (1803) bekannt sein dürfte. In der Entscheidung von 1832 werden die Ureinwohner als „independent nations“ bezeichnet, die mit eigenem Stand daher zu‐ recht in zahllosen vorigen Vereinbarungen aufgetreten sind und an der Entwicklung der zweihundertjährigen Ausformung (ab 1630) dessen, was Tully „Vertragskonsti‐ tutionalismus“ nennen möchte, entscheidend mitgewirkt haben.45 In Tullys Sicht ein Musterbeispiel für das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung – und eine Einladung, nach weiteren Hinweisen zu graben, um den Modus dieses Prinzips näher zu beschreiben. Eine wichtige Einsicht, die er aus seinen Recherchen gezogen hat, bezieht sich auf die Beschreibung der anderen Seite. Spiegelt sich in dieser Beschreibung der Respekt vor der Besonderheit der Lebensform wider – etwa in der Form, dass diese in wesentlichen Aspekten der eigenen Lebensform ähnelt (Vertragsfähigkeit als „free people“), jedoch in anderer Hinsicht als eine besondere Form von der eigenen unterschieden ist –, so erwächst daraus die Pflicht zur Aner‐ kennung dieser Eigenart, die überdies die Pflicht einschließt, auf Werturteile über den vermeintlichen Entwicklungsstand dieser „nation“ zu verzichten.46 Kontinuität. Im Sinne des Verweisungszusammenhangs dient dieses Beispiel überdies dazu, auf das Denken in Präzedenzfällen hinzuweisen. Tully selbst führt als relevanten Fall für die wechselseitige Anerkennung die Royal Proclamation (1763) an, auf die auch Chief Justice Marshall Bezug nimmt. Ein solcher Hinweis besitzt aber nicht nur eine inhaltliche Dimension, er unterstreicht zudem das Kontinuitäts‐ denken, das vielleicht als einzelnes Element die strengste Abkehr vom modernen Konstitutionalismus bedeutet sowie eine Hinwendung zum Rechtspluralismus, der das Nebeneinander von mehreren Rechtsordnungen zum Gegenstand hat. Denn dieser Prozess der vertraglichen Abkommen ist gerade nicht als Begründung von grundlegenden Rechten der Vertragsteilnehmer zu verstehen. Und der Vertrag selbst 43 44 45 46
Tully 1995, S. 100. Tully 1995, S. 116 und passim. Tully 1995, S. 117f. Tully 1995, S. 119ff.
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begründet auch nicht deren Subjektqualität, wie es für die Idee des Gesellschaftsver‐ trages charakteristisch ist. Vielmehr wird qua Vertrag der bereits vor dem Vertrag bestehende Rechtsstatus der Akteure wiederholt und deren Recht auf selbstbestimm‐ te, freie Selbstregierung bekräftigt. Die Vertragsfigur ist mithin nicht konstitutiver, sondern regulativer Art – und bezieht sich auf bestimmte Gegenstände, wie etwa das Eigentum an Grund und Boden, die durch den Vertrag eine (Konflikt-) Regelung erfahren. Die Rechtsgeschäfte, das bargaining, formt die Rechtsbeziehung zwischen den Vertragspartnern aus und knüpft insofern an eine immer schon vorhandene Pra‐ xis von Rechten und Pflichten an. Das Denken in Präzedenzen bringt dieses Rechts‐ verständnis zum Ausdruck und erinnert seinerseits an die Tradition des Common Law, die Tullys Auffassung vom old oder ancient constitutionalism stark beeinflusst hat.47 Konsens. Diese Praxis beruht auf freier Zustimmung. Die maßgeblichen Spiel‐ regeln des Zusammenlebens sind daher in erster Linie emergente Erscheinungen, deren Autor die Gemeinschaft selbst ist. Das schließt Gesetze keineswegs aus; diese sind dann jedoch eher Ausdruck dieser Praxis und bedürfen ihrerseits, sofern sie die Spielregeln ändern wollen, einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung48 – quod omnes tangit ab omnes comprobetur (q.o.t.). Daher trifft Marshall Tully zufolge neuerlich den Nagel auf den Kopf, wenn er in der Entscheidung von 1832 breit ausführt, dass die „Entdeckung“ Amerikas den Kolonialisten kein Recht zur Herrschaft über die Ureinwohner gibt,49 sondern zunächst einmal die Pflicht hervor‐ bringt, sich mit den „first nations“ über die Verteilung des Landes zu einigen. Und wie ersichtlich, verbindet sich dieser Rekurs auf das Prinzip der Zustimmung mit jenen der Anerkennung der Ureinwohner sowie der Kontinuität ihrer Gemeinschaft und deren Rechtspraxis, die auf freiheitlicher Lebensweise beruht.50 Zusammenge‐ nommen machen diese drei Prinzipien die „hidden constitutions of contemporary societies” aus,51 die weder durch Entdeckung noch durch Eroberung außer Kraft
47 Siehe in diesem Zusammenhang auch Tullys Bezugnahme (1995, S. 149f.) auf Pococks Studie Ancient Constitution and Feudal Law (1987). 48 Tully 1995, S. 125. 49 Tully 1995, S. 123. 50 Tully hat ein eigenes Kapitel darauf verwendet, die Bedeutung des Vertragskonstitutionalismus und dessen drei Rechtsprinzipien für eine föderative Ordnung auszubuchstabieren (Tully 1995, S. 140ff.). Er operiert hier, wie im Fall des Konstitutionalismus, mit einem dichotomen Gegen‐ satz: Der Mainstream des föderativen Denkens wird vertreten durch die „discontinuity and uni‐ formity school“, der er seine „continuity and diversity school“ entgegensetzt und für einen compact oder divers federalism plädiert, in dem sich die Integrationsbewegungen nach Gusto der Vertragspartner und d.h. im Zweifel in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit unter‐ schiedlicher Reichweite vollzieht (Tully 1995, S. 142). 51 Tully 1995, S. 99.
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gesetzt werden, sondern nur bei Strafe fortgesetzter Ungerechtigkeit in Form von Unterdrückung und Ressentiment missachtet werden können.52 Dialogizität. Dieser Trias an Rechtsprinzipien entspricht dem Dialog als Modus der Verhandlung. Und da es sich um Dinge von öffentlichem Belang handelt, dürfen auch die Verhandlungen nicht das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Dann wird (und soll) sich zeigen, ob die Verhandlungen tatsächlich von gegenseitigem Respekt getragen werden und ob die Anerkennung der unterschiedlichen Lebensfor‐ men auch begleitet wird von einem Versuch, die jeweiligen Besonderheiten zu ver‐ stehen.53 Tully spricht in diesem Zusammenhang verschiedentlich vom Grundsatz audi alterem partem,54 spielt damit jedoch nicht auf das richterliche Gehör als Ge‐ rechtigkeitsprinzip an, sondern versteht darunter eine der Verhandlung angemessene Art und Weise, die idealiter beide Seiten durch Zuhören in den Stand versetzen sollen, die Lage (Interessen, Rolle etc.) der jeweils anderen Seite nachvollziehen zu können. Anders als Habermas, dessen Diskurstheorie von Tully als „diversity blind“ abgelehnt wird,55 geht es dabei nicht um die Anwendung diskursiv erzeugter Verallgemeinerungsfähigkeit, sondern um das – oftmals mühevolle – Verstehen von Unterschieden vermittels von Reformulierungen,56 an deren Ende die Unterschiede nicht aufgehoben werden sollen, sondern spezifische Interessenlagen angemessen beschrieben werden können, um diese dann in Verhandlungspositionen zu überset‐ zen und durch vertragliche Abreden zu befried(ig)en. Das Multiverse ist das Ziel bei Tully, nicht das Universe wie bei Habermas und den zahlreichen anderen Vertretern des modernen Konstitutionalismus. Nicht nur von diesen Vertretern, sondern auch aus den eigenen Reihen der agona‐ len Demokratietheorie ist Tully vorgehalten worden, dass eine solche Orientierung an den Gerechtigkeitsprinzipien des Common Law etwas weltfremd anmute und die Fremdheit des Gesetzes in ausdifferenzierten Gesellschaften unausweichlich sei.57 Aber diese Art der Kritik wird der Tragweite des Arguments von Tully nicht gerecht. Denn hinter seiner Orientierung am Rechtsverständnis des Common Law steckt nicht der Wunsch, die Gemeinschaft gegen die Gesellschaft auszuspielen – und eine Nachbarschaft in der Rechtsproduktion zu suggerieren, die der Realität einer anonymen Massengesellschaft nicht mehr gerecht wird. Stattdessen ist es 52 Für Beispiele siehe Tully 1995, S. 147f. Ein für das heutige konstitutionelle Denken einflussrei‐ ches Beispiel für eine solche Missachtung ist der Versuch, den normannischen Feudalismus bei der Eroberung Englands zu etablieren (Tully 1995, S. 126). 53 Tully dient das Beispiel der Two Row Wampum Treaty of the Haudenosaunee confederacy als ein Muster für eine diplomatische Lingua franca des Vertragskonstitutionalismus, weil es die Bedeutung von Dialog und Konsens auf der Grundlage von Frieden, Freundschaft und Respekt auch auf symbolische Ebene zu repräsentieren versucht (Tully 1995, S. 127f.). 54 Tully 1995, S. 129 und passim. 55 Tully 1995, S. 131. 56 Tully 1995, S. 133. 57 Honig 2001, S. 30; grundsätzlicher: Lindahl 2008, S. 157.
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Tullys Überzeugung, dass der moderne Konstitutionalismus seinerseits auf einem Irrglauben beruht, nämlich das Recht müsse sich zum eigenen Wohl am Gesetz und dessen Typisierungsleistung orientieren und nicht am Richter und dessen fallbezoge‐ ner Urteilskraft. Bei Kant und den anderen Hohepriestern des Gesetzes sei das für die moderne Rechtswelt typische Streben nach Generalisierung zu beobachten,58 das sich nicht selten mit einer Geringschätzung des Einzelfalls verbindet. Dahinter stehen jedoch zwei Irrtümer, so Tully, die man mit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (PU) aufklären könne. Erstens sollte man sich darüber klar werden, dass die allgemeine Regel nicht die Entscheidung vorgeben könne – ebenso wenig wie ein Wegweiser den Weg, der vom Wanderer dann tatsächlich eingeschlagen werde.59 Dafür bedarf es der Interpretation, weshalb das Verstehen einer Regel eine praktische Tätigkeit sei (und keine theoretisch angeleitete Ableitung), die ihrerseits mit der Praxis, d.h. mit der Lebenswelt des Interpreten unauflöslich verwoben ist. Wer aber glaubt, dass es der Theorie zukomme (etwa der Rechtsphilosophin oder dem Politiktheoretiker), das implizite Regelwissen, das in der Praxis quasi eingelagert sei, herauszuarbeiten und auf diese Weise der Gesellschaft zu offenbaren, irrt neuerlich60 – das zweite Argu‐ ment, das Tully von Wittgenstein übernimmt. Denn eine solche Auffassung verkennt (oder unterschlägt) den Umstand, dass es schlicht zu viele unterschiedliche Arten des Umgangs mit der Regel gibt; einschließlich der Variante, den Regelcharakter zu bestreiten. Grund dafür sind die zahlreichen Nuancen der Unterschiede, die es zwar erlauben, von Ähnlichkeiten zu sprechen, die sich aber Wittgenstein zufolge nie ganz auf den einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.61 Daher Wittgensteins bekanntes Wort von den Familienähnlichkeiten.62 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, worauf der grundlegende Irrtum des mo‐ dernen Konstitutionalismus in Tullys Augen beruht. Dieser ist bestrebt, die Gemein‐ samkeit in den zahlreichen Fällen zu finden und typisierend auf den Begriff zu bringen. Dabei handelt es sich jedoch um eine Jagd nach Trugbildern, denn die Gemeinsamkeiten entpuppen sich bei näherem Hinsehen als vielversprechend und doch trügerisch: in ihrer Ähnlichkeit als ein Versprechen, in ihrem Unterschied als Verrat. Worauf es in solchen Fällen ankomme, so Wittgenstein – auf den Tully in diesem Zusammenhang mit Nachdruck verweist –63 sei die „Fähigkeit des Findens und Erfinden von Zwischengliedern“,64 mit denen die Ähnlichkeit als Grundlage
58 Siehe hierzu auch Tullys Ausführungen zum Rationalismus und Christentum anlässlich seiner eingehenderen Auseinandersetzung mit Descartes (Tully 1995, S. 101f.). 59 Tully 1995, S. 106. 60 Tully (1995, S. 106f.) verweist an dieser Stelle explizit auf Winch. 61 Tully 1995, S. 107. 62 Wittgenstein, PU 67, S. 278. 63 Tully 1995, S. 108. 64 Wittgenstein, PU 122, S. 302.
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für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Regel überhaupt erst hergestellt werden kann. Anders gewendet: Erst in der Anwendung erhellt sich die Bedeutung einer Regel; und bisweilen entstehen Regeln überhaupt erst durch die Anwendung, worauf Wittgenstein aufmerksam macht, wenn er notiert: „Und gibt es nicht den Fall, wo wir spielen – und ‘make up rules as we go along’? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along“.65 Tully kommt durch seine Beschäftigung mit Wittgenstein zur Überzeugung, dass der interpretatorische Umgang mit Regeln und allgemeinen Begriffen eine prakti‐ sche Tätigkeit ist, bei der es auf die Fähigkeit ankommt, Gründe zu finden, warum ein konkretes Beispiel von einer Regel oder einem Begriff erfasst werden kann; und ebenso sehr auf die Fähigkeit, die Besonderheit des Einzelfalles würdigen zu können – beides im Bewusstsein, dass die Verbindungen eine Leistung der Interpretation und d.h. insbesondere der Übersicht über die stets möglichen Verbindungen ist.66 Die Sprache selbst sei „aspectical“, wie Tully in Anlehnung an Wittgenstein formu‐ liert, ein Irrgarten, in dem man leicht die Übersicht verliert. Und dagegen hilft nicht der Irrglaube an falsche Sicherheitsversprechen, wie sie die Gesetzesgläubigkeit mit ihrer Vorstellung einer deduktiven Ableitungstechnik bereithält. Dagegen helfen laut Tully hermeneutische Künste wie eine vergleichende Betrachtung, eine Kontrast‐ technik von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit sowie ein dialogisches Verfahren, in dem der Einzelfall und dessen Besonderheit sowie die anderen ähnlichen Fälle, aus denen die Regel besteht, mit gleichem Recht zur Sprache kommen.67 Tully erinnert daran, dass das Common Law ganz maßgeblich auf diesen hermeneutischen Künsten beruht, und beruft sich dabei auf die Kritik von Matthew Hale, einem gro‐ ßen Rechtsgelehrten des Common Law,68 Richter und späteren Lord-Oberrichter an der Kingsbench, die dieser an Hobbes und dessen Konstruktion eines auf der Hierar‐ chie des Gesetzgebers und des Gesetzes beruhenden Staatsrechts geübt hatte. Nach Hale verlangt der Umgang mit dem Recht, insbesondere dann, wenn Fragen von Verfassungsrang involviert sind, nach praktischen Fähigkeiten und nicht nach einem theoretisch-abstrakten Ansatz, wie ihn Hobbes vertritt. Worauf es Hale ankomme, sei der Sinn für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ganz unterschiedlichen Fällen; und ein solcher Sinn setze Übung und Erfahrung in der Differenzierung voraus – ein Denken im Modus des Abwägens. Solche Fähigkeiten nebst der Be‐ reitschaft zum Austausch und zur Verhandlung ermöglichen eine Gesamtschau des
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Wittgenstein, PU 83, S. 287. Tully 1995, S. 108. Tully 1995, S. 109ff. Neben einer Reihe weiterer Schriften ist posthum von Hale The History of the Common Law of England (1713) erschienen, das zum Standardwerk des Common Law wurde und heutzutage noch gelesen wird.
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Rechts bei der Entscheidung des jeweiligen Falles. Abstrakte Regeln seien hingegen eher hinderlich.69 Es erscheint nicht als übertrieben, dass Tully Wittgensteins Verdienst vor allem darin sieht, dass dieser auf philosophisch-methodischem Wege den Gerechtigkeits‐ anspruch des Common Law zu rehabilitieren verstand. In diesem Sinne ist es kaum überraschend, dass er in seiner Studie Strange Multiplicity auf einen Satz aus King Lear verweist, den Wittgenstein als Motto gewählt hätte, um sein philosophisches Programm auf den Punkt zu bringen: „I’ll teach you differences“ – ein Programm, wie gemacht für einen diversitätssensiblen Konstitutionalismus.70
5. Gemeinschaftlichkeit Während Tully sein Plädoyer für den am Common Law orientierten old constitutio‐ nalism mit einigen konkreten Forderungen zur Ausgestaltung verfassungsrechtlich relevanter Institutionen verbindet, finden sich bei Mouffe auf den ersten Blick kaum konkrete institutionenpolitisch relevante Aussagen. Unter den Agonisten dürfte sie zudem auch weithin als diejenige wahrgenommen werden, die das Primat der Politik gegenüber dem Recht am nachhaltigsten vertritt. In ihren Auseinandersetzungen mit Konsenstheoretikern lässt sie keinen Zweifel daran, dass weder Gerechtigkeitsfragen noch Verfassungsnormen außer Streit gestellt werden können.71 Im Gegenteil: ihre Schrift The Return of the Political stellt eine Abrechnung mit der Politikvergessen‐ heit der liberalen, kommunitaristischen und deliberativen Richtungen innerhalb des „politischen“ Diskurses dar, denen Mouffe die Notwendigkeit und Möglichkeit eines genuin politischen Ordnungsverständnisses vor Augen zu führen trachtet, mit der sich demokratische Gesellschaften von anderen unterscheiden. Wenn sie dennoch als Gegenstand der Suchbewegungen nach innovativen Potentialen der Verbindung von Politik und Recht im Bereich der agonalen Demokratietheorie aufgeführt wird, so vor allem aus zwei Gründen: Erstens liefert Mouffe eine für die agonale Demo‐ kratietheorie besonders einflussreiche Kritik an dem Konsensparadigma; zweitens findet sich bei ihr eine Grundlagentheorie, wie sich Pluralismus und Integration zusammendenken lassen, ohne die Prämissen eines Kampfes um Hegemonie, der immer auch ein Kampf ums Recht ist, aufzugeben. Anders gesagt: Mouffe ermög‐ licht der agonalen Demokratietheorie den Rekurs auf das republikanische Theorem der Integration durch Konflikt.72
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Tully 1995, S. 114. Tully 1995, S. 110, 218 (Fn. 13). Mouffe 1993, S. 52. Dubiel/Frankenberg/Rödel 1990.
Bekanntlich hat sich Mouffe nicht gescheut, sowohl die Kritik Schmitts am Libe‐ ralismus aufzugreifen als auch dessen Politikverständnis. Die Wege trennen sich aber dann beim Demokratieprinzip.73 Contra Schmitt soll Mouffes Modell einer „radikalen Demokratie“ in der Lage sein, den pluralistischen Kampf zwischen den politischen Feinden innerhalb einer Gesellschaft in einen Kampf zwischen legitimen Gegnern zu verwandeln.74 Aus diesem Grund wird zwischen dem antagonistischen „Wesen“ des Politischen und der konkreten Gestalt der Politik, geformt durch In‐ stitutionen und gebildet durch Geschichte, Kultur und politische Praxis, unterschie‐ den.75 Politik steht hiernach in einem modalen Verhältnis zum Politischen, indem sie die Art und Weise des Antagonismus bestimmt, ohne ihn gänzlich aus der Welt bringen zu können. In praktischer Absicht lässt sich aber mit der Veränderbarkeit die Aussicht auf eine demokratische Transformation des Politischen durch die Politik verbinden.76 Kennzeichen demokratischer Politik ist danach die allgemeine Orientie‐ rung an der Freiheit und Gleichheit der Bürger innerhalb eines politischen Verban‐ des.77 In funktionierenden Demokratien ist diese Überzeugung Teil der politischen Kultur, sedimentiert in einem Ethos, welches das Handeln der Akteure in der Politik bestimmt. Deren Ringen spart den Kampf um die hegemoniale Deutungsmacht über die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit keineswegs aus. Gleichwohl gibt es Grenzen, die ein Demokrat nicht überschreiten kann, ohne sein Selbstverständnis zu verletzen. Ein solches Ethos mildert die Härte der Feindschaft, der Feind wird zum Gegner. So ändert die Feindschaft im demokratischen „Kampfmodus“ ihren Charakter und der Antagonismus wird, wie Mouffe schreibt, zum „Agonismus“, in dem es zwar meist auch um Durchsetzung, Macht und Entscheidung geht, in dem sich die Gegner aber mit politischen Siegen in Form demokratischer Mehrheiten begnügen.78 Wie hat man sich diese Metamorphose vom Antagonismus zum Agonismus ge‐ nauer vorzustellen?79 Für Mouffe ist dies zugleich die Frage nach dem ethischen Charakter der Bürgerschaft in einer freiheitlichen politischen Gemeinschaft.80 Für ein entsprechendes Verständnis politischer Gemeinschaft und politischer Bürger‐ schaft rekurriert Mouffe auf den Begriff der civil association, wie er von Oakeshott vor allem in dessen Schrift On Human Conduct entfaltet worden ist. Ein Schlüssel für das Verständnis dessen, was Mouffe mit dem Begriff der civil association verbin‐ det, liefert ihr Rekurs auf Wittgensteins Spätphilosophie.81 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Mouffe 1993, S. 117-134. Mouffe 2007, S. 30. Mouffe 2007, S. 15-47. Mouffe 2008a, S. 104. Mouffe 2007, S. 43. Mouffe 2008a, S. 103f. Siehe dazu im Folgenden die Ausführungen von Lembcke/Henkel 2015. Mouffe 1993, S. 65f. Mouffe 2001, Mouffe 2008b.
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Ihren Rekurs auf Wittgenstein stellt Mouffe in den Zusammenhang eines Dua‐ lismus idealtypischer Theorien der liberalen Demokratie, nämlich des universalis‐ tischen Rationalismus einerseits und des Kontextualismus andererseits. Während Mouffe gegenüber den liberalen und kommunitaristischen Ansätzen eine vermitteln‐ de dritte Position einnimmt, stellt sie sich hier klar auf die Seite der Kontextualisten (Michael Walzer oder Richard Rorty) und nicht auf jene der Rationalisten (John Rawls, Ronald Dworkin und Jürgen Habermas).82 Von Wittgenstein, der ihr – ähn‐ lich wie bei Tully – als Gewährsmann gilt, könne man lernen, dass liberal-demokra‐ tische Institutionen nicht unabhängig von ihren kulturellen und historischen Zusam‐ menhängen begriffen und verteidigt werden können. Diese sind nicht Resultat eines Vertrages oder eines rationalen Diskurses, sondern Folge einer konkreten Praxis, ohne die sie weder verständlich noch zu verteidigen wären. Vor jeder inhaltlichen Übereinstimmung (Meinungen) muss es eine basale Form der Übereinstimmung geben (Sprache): „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen, und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“83 Diese Art der Übereinstimmungen im Handeln und Ver‐ halten ist konstitutiv für das gesellschaftliche Zusammenleben. Nur auf Grundlage dieser geteilten Lebensform sind gemeinsame Institutionen und Prozesse überhaupt möglich. Mouffe hebt diesen Vorrang selbst durch das Begriffspaar Einstimmung versus Einverstand hervor.84 Die gemeinsame Lebensform, die Einstimmung in unserem Umgang miteinander, basiert nicht etwa auf allgemeinen Regeln, auf die man sich geeinigt hat (oder auf die man sich in einem Diskurs einigen würde) und die dann auf bestimmte Fälle angewendet würden. Vielmehr sind umgekehrt die Regeln für Wittgenstein abridgements von Praktiken, die „von spezifischen Lebensformen nicht abgelöst werden“ können.85 Sie sind eingebettet in Ensembles von Umgangsformen, sozial etablierte Gebrauchsweisen und sozial konstituierte Bedeutungen. Dement‐ sprechend ist das Regelbefolgen aus Wittgensteins Perspektive „eine Praktik, und unser Regelverständnis besteht im Beherrschen einer Technik“.86 Eine zentrale Ein‐ sicht, denn die so verstandene Praktik und Technik konstituieren das Ethos einer Ge‐ sellschaft; und sie sind zudem mit einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und inhaltlicher Überzeugungen vereinbar – was besonders für moderne Gesellschaften mit einem liberalen und demokratischen Freiheitsanspruch von Bedeutung ist. Deren 82 Mouffe 2008a, S. 71. Demokratie benötige „keine Wahrheitstheorie und keine Konzepte wie Unbedingtheit und universelle Gültigkeit [...], sondern eine Vielfalt von Praktiken und pragma‐ tischen Spielzügen, um Menschen davon zu überzeugen, die Bandbreite ihrer Verpflichtungen gegenüber anderen zu erweitern und eine inklusivere Gesellschaft aufzubauen“ (Mouffe 2008a, S. 74). 83 Mouffe (2008a, S. 75) verweist hier auf Wittgenstein, PU 241, S. 356. 84 Mouffe 2008a, S. 77f. 85 Mouffe 2008a, S. 76. 86 Mouffe 2008a, S. 79.
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Prozeduren, schreibt Mouffe, „können [...] nicht ordentlich funktionieren, wenn sie nicht von einer spezifischen Form von Ethos unterstützt werden“.87 Die moderne demokratische Gesellschaft lebt in diesem Sinne davon, dass sich die Bürger mit dem liberalen Ethos oder den liberalen Werten identifizieren – „und dies ist ein komplexer Prozess, der sich durch eine Vielzahl von Praktiken, Diskursen und Sprachspielen entwickelt“.88 Mit anderen Worten geht die moderne demokratische Gesellschaft aus Traditionen hervor, d. h. aus den entsprechenden Verhaltensdispositionen, Gewohnheiten und Mentalitäten, die gewissermaßen ein Universum von Sprachspielen – eine Lebensform – konstituieren. Sie setzt hingegen laut Mouffe keinen Konsens über Regeln und Prinzipien voraus. Die Suche danach ist fehlgeleitet.89 Auch bei Mouffe kommt zur Begründung dieser Position Wittgen‐ stein ins Spiel. Wie bereits bei Tully angesprochen, lässt sich mit Wittgenstein erklären, dass gesellschaftliche Institutionen, Prozesse, Regeln und auch Konflikte immer in En‐ sembles von Praktiken und Techniken eingebettet sind. Diese beruhen auf einer elementaren Gleichheit, weil die „Einstimmung“ voraussetzen muss, dass die Be‐ deutung eines Verhaltens oder einer Handlung stets durch die Perspektive des Ande‐ ren vermittelt wird. Das bedeutet namentlich, dass der Stärkere oder der Hegemon die Bedeutung von Akten nicht einseitig festlegen kann90 – mit weiterreichenden Konsequenzen u. a. auch für das Rechtsverständnis: „Denn die Antwort auf Wittgensteins Frage, wer Recht habe, kann demnach „nicht gelöst werden, indem (wie von den Rationalisten) behauptet wird, es gäbe ein korrektes Regelverständnis, das jede rationale Person akzeptieren müsse“, schreibt Mouffe und fährt fort: „Sicher, wir müssen in der Lage sein, zwischen ‚der Regel gehorchen’ und ‚ihr zuwiderhandeln’ unterscheiden zu können. Aber es muss ein Raum eröffnet werden für die vielen unterschiedlichen Praktiken, denen das Befol‐ gen demokratischer Regeln eingeschrieben sein kann. Und dies sollte man sich nicht als eine vorübergehende Stufe in einem Prozess vorstellen, der zur Realisierung eines rationalen Konsenses führt, sondern als konstitutives Merkmal einer demokra‐ tischen Gesellschaft. Demokratische Zivilbürgerschaft kann viele unterschiedliche Formen annehmen, und solch eine Diversität ist weit davon entfernt, eine Gefahr für die Demokratie darzustellen. Sie ist in Wahrheit deren eigentliche Existenzbedin‐ 87 88 89 90
Mouffe 2008a, S. 76. Mouffe 2008a, S. 77. Mouffe 2008, S. 78, 84. Wittgenstein verdeutlicht dies an der Herausforderung der Regelbefolgung – eine Passage, die auch von Mouffe zitiert wird: „Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise. Aber wie, wenn nun der eine so, der Andere anders auf Befehl und Abrichtung reagiert? Wer hat dann Recht?“ (Wittgenstein 1984, S. 346). Die Beantwortung dieser Frage verweist auf die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ (ebd.), die als Bezugssystem die Möglichkeiten einvernehmli‐ cher Lösungen eröffnet.
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gung. Das wird natürlich zu Konflikten führen, und es wäre ein Fehler zu erwarten, dass all diese unterschiedlichen Verhaltensweisen koexistieren, ohne aneinander zu geraten. Aber dieser Kampf wird nicht unter ‚Feinden‘ geführt werden, sondern unter ‚Gegnern‘, da alle Teilnehmer des Wettbewerbs die Positionen der anderen als legitim erachten“.91 Die Anerkennung der Legitimität der Positionen der anderen beruht also auf dem Ethos der freiheitlichen Gesellschaft. Die dieses Ethos teilenden Gegner begegnen sich nicht als Feinde, sondern als „Freunde“ im Sinne der klassischen politischen Theorie. Aristoteles zufolge ist es die politische Freundschaft (philia politike), die die Polis, also die Bürgergemeinschaft, zusammenhält; und diese ist dadurch cha‐ rakterisiert, dass die freien und gleichen – aber höchst verschiedenen Interessen folgenden – Bürger sich in ihrem Zusammenleben vom wechselseitigen Interesse an eben diesem Zusammenleben leiten lassen. Mouffes Rekurs auf Wittgensteins Rekonstruktion des Ethos – oder auch der Sittlichkeit – dieses Zusammenlebens unter Freien und Gleichen eröffnet einen Weg zum Verständnis, warum der Kampf ums Recht nicht durch einen Konsens über die grundlegenden Spielregeln eingehegt werden muss, sondern diese Spielregeln selbst zum Gegenstand haben kann, ohne die Integration der Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen: Erstens weil diese Spielregeln immer schon Bestandteil der Auseinandersetzung sind und als Kontext den Streit ums Recht anleiten, was umgekehrt jedoch auch bedeutet, dass sie offen sind für den a-legalen Raum diverser Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten; zweitens weil sowohl die Pluralität an Interessen als auch die Diversität an Verhaltensweisen die Einstimmigkeit hervorbringen wird, die den Regeln und Institutionen zugrunde liegt, auf die sich jeder beziehen muss, sofern er behauptet, eine Regel oder Instituti‐ on für sich in Anspruch nehmen zu können. Integration wäre hier nicht die Folge eines Konsenses über Prinzipien, Inhalte oder Zwecke, sondern Ausdruck eines „zivilen“ Umganges der Bürger miteinander als Bürger im öffentlichen Raum. Diese zivile Praxis lässt sich als Gesamtheit der die civil association bestimmenden Regeln, Verhaltensweisen, Intentionen etc. ver‐ stehen. Sie stiftet das, was Oakeshott, auf den sich Mouffe bei ihrem Rekurs auf die civil association bezieht, respublica nennt: „the public concern or consideration of cives“,92 womit die respublica allein im Handeln der Bürger ihre Existenz gewinnt. In diesem Sinne kann der neuzeitliche republikanische Staat im Unterschied zum Staat als Zweckgemeinschaft (enterprise association) beanspruchen, eine Freiheits‐ ordnung zu sein. Getragen wird diese Ordnung vom Bürger dieser civil association, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er auf die Möglichkeit verzichtet, seine Interessen gewaltsam durchzusetzen und daher auch darauf verzichtet, die Ordnung gewaltsam zu verändern. 91 Mouffe 2008, S. 80f. 92 Oakeshott 1975, S. 147.
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In Mouffes Lesart des Oakeshottschen Republikkonzeptes bietet die respublica alle Voraussetzungen dafür, dass sich eine „common political identity“ ausbilden kann,93 in der sich die Bürger mit ihrer republikanischen Ordnung, das heißt nament‐ lich mit deren Regeln (lex) identifizieren.94 Und tatsächlich lässt sich von Identität in diesem Zusammenhang sprechen, denn eine lebendige Praxis besitzt eine For‐ mierungskraft, die in überindividuellen Phänomenen wie Traditionen, Mentalitäten, Habitus etc. ihren Ausdruck findet, die ihrerseits wiederum die persönliche Identität maßgeblich prägen und deren Sedimentationen als kollektive oder soziale Identität angesprochen werden können. So ist die respublica für Oakeshott die politische Assoziation schlechthin, die, so ließe sich mit Mouffe hinzusetzen, Produkt und Produzent ihrer eigenen – und deswegen politischen – Identität ist.
6. Knoten statt Klumpen Im Ergebnis lässt sich eine Reihe von Ideen und Inspirationen versammeln, mit denen die agonale Demokratietheorie ihre Beziehung zum Recht ausweiten und stärken kann. Auf zwei Aspekte ist abschließend noch einmal einzugehen, da beide den Kern der agonalen Demokratietheorie berühren. Zunächst zu Lindahl und Honig und der Frage nach der Dimension der contestation: Der subversive Impuls, der das Denken von Honig über Recht und Gesetz durchzieht, ist darauf ausgerichtet, die Nischen und Zwischenräume zu erfassen, in denen das demokratische Recht sei‐ nem eigenen Versprechen der Inklusion, Teilhabe und Gerechtigkeit nähergebracht werden kann. Das ist mit der Idee der Wiedergründung gemeint; diese erhält mit dem Ansatz der A-Legalität ein „konstruktives“ Medium. Denn beide verbindet der Moment der Unterbrechung normativer Normalität. Lindahl kann überdies am Beispiel des Lafayette-Falles zeigen, welche Grenzziehungen das Recht überdies beansprucht, ohne für die daraus folgende Inklusions-Exklusions-Matrix eine hinrei‐ chende demokratische Legitimation zu besitzen. „A-legality makes conspicuous”, schreibt Lindahl,95 „that behaviour spaces; that it times; that it materializes; that it subjectifies“. Die marginalisierenden Wirkungen des Spacing und Timing sind bereits diskutiert worden (siehe 2.); die der Materialisierung und Subjektivierung stehen noch aus, aber es mag an dieser Stelle genügen, auf die Unterschiede hinzu‐ weisen, die in Abhängigkeit von Ressourcen oder Rollen bestehen, wenn es darum geht, Rechte wahrzunehmen. Die aktive und subversive Überschreitung etablierter Grenzen des Rechts, die nicht einfach eine Verneinung im Schilde führt (Unrecht), sondern das Recht herausfordert und mit einer Alternative konfrontiert, die diesem 93 Mouffe 1993, S. 67. 94 Mouffe 1993, S. 69. 95 Lindahl 2013a, S. 37.
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bislang fremd war, begrüßt die normative Desorientierung. Es ist die Irritation über die „xenonomy“, von der sich Lindahl und Honig einen Fortschritt erwarten. Verglichen damit ist Tullys Ansatz konventioneller, in der Konsequenz jedoch nicht weniger radikal, denn er sieht nur solche Demokratien als hinreichend legiti‐ miert an, die die Freiheit beinhalten, die etablierten Gesetze und Rechte, die sich auf die Anerkennung und Identität der Gesellschaftsmitglieder richten, in Frage zu stellen und (neu) zu verhandeln.96 Und das bedeutet für multinationale Demokratie, dass diese den Völkern der jeweiligen Ordnungen das Recht zur Selbstbestimmung einräumen müssen, und zwar in verfassungsrechtlich ausgeformten Verfahren, so etwa dem Recht, eine Verfassungsänderung zu initiieren. Tully hat diesem Selbstbe‐ stimmungsrecht innerhalb einer föderativen Ordnung ein langes Kapitel in Strange Multiplicity gewidmet, um die unterschiedlichen Techniken eines compact oder diverse federalism zu veranschaulichen.97 Im Gegensatz zur Entwicklungslogik der EU ist bei ihm das Integrationsprinzip nicht Selbstzweck. Daher hat er auch wenig Mühe, für einen Föderalismus „unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ einzutreten, der es erlaubt, die kulturellen Eigenarten der jeweiligen Nation zu berücksichtigen. Wie steht es aber mit der Freiheit der Bürgerschaft innerhalb dieses diversity federa‐ lism? Müsste nicht auch für sie die Freiheit gelten, die etablierten Gesetze und Rech‐ te in Frage zu stellen und (neu) verhandeln zu können? Und dies umso mehr, da das Common Law als Produkt gemeinschaftlicher Praxis tendenziell eine große Behar‐ rungskraft besitzt? Hier müsste Tully im Grunde dem Modus der Integration durch Konflikt zustimmen können, wie er von Mouffe unter Rekurs auf die Agonalität moderner Gesellschaft entwickelt worden ist. Das jedoch wirft die Frage nach den potentiellen normativen Grenzen der Offenheit der politischen Auseinandersetzung auf, zumal dann, wenn die Verfassung selbst als eine Errungenschaft im progressi‐ ven Sinne wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang wird typischerweise das Primat der Politik betont, das dann auch für Institutionen wie Verfassungsgerichte zu gelten habe, sofern man einer solchen non-majoritarian institution qua Normen‐ kontrolle überhaupt den Zugriff auf den demokratischen Prozess ebnen wollte.98 Wir sind an dieser Stelle bei dem zweiten Punkt angelangt, der in diesen abschließen‐ den Bemerkungen noch anzusprechen ist – und der zugleich eine Herausforderung markiert, vor der schon die französischen Revolutionäre standen: Wie lässt sich die freiheitliche Ordnung institutionalisieren? Darauf mussten diese eine Antwort finden; und daher lohnt ein kurzer Rückblick.99
96 Tully 2008, S. 220. 97 Tully 1995, Kap. 5. 98 Siehe hierzu auch die Bemerkungen von Michelsen über das Verfassungsgericht Kanadas in diesem Band. 99 Vgl. dazu im Folgenden Lembcke/Weber 2010, S. 80f. Speziell zur Frage der „Repräsentation des agon“ siehe den Beitrag von Rodatos und Trimçev in diesem Band.
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Sieyès hatte sich der Herausforderung in seinen bekannten Thermidorreden ge‐ stellt und dabei vor allem in seiner Zweiten Thermidorrede von 1795 Vorschläge entwickelt. Wenn das Volk will, so Sieyès, kann es sich jederzeit eine neue politische Ordnung geben; und einen neuen, an keine Form (der bestehenden Verfassung) ge‐ bundenen pouvoir constituant ins Leben rufen. Aber es kommt einem performativen Selbstwiderspruch gleich, so gab er zu bedenken, wenn eine Verfassung ihre eigene revolutionäre Überwindung regeln wollte. Vielmehr hat sie geeignete Instrumente zum Verfassungswandel innerhalb der eigenen politischen Ordnung bereitzustellen. Dafür kommen nicht die herkömmlichen Verfahren der Gesetzgebung in Frage, da diese nicht über die angemessenen Vollmachten verfügen. Vielmehr bedarf es dafür eines eigenen Verfahrens, in dessen Zentrum nach Sieyès’ Vorstellung die jury constitutionnaire, eine Frühform der heutigen Verfassungsgerichtsbarkeit, als „Garant“ der Verfassung steht. Denn zur Eigenart der Verfassung gehört es, dass ihre Normativität in eine offene Zukunft hineinwirken soll, der sie sich anzupassen hat, ohne ihre Ordnungskraft durch permanente Reformen zu verlieren. Ihre Ordnung verlangt mithin nach Offenheit und ihre Stabilität nach Flexibilität – das setzt einen angemessenen Umgang mit solchen Fragen voraus, die die Gestalt der Verfassung selbst betreffen. Aus diesem Grund schlägt Sieyès ein Verfahren zur Institutionali‐ sierung des Verfassungswandels vor, das neben der jury constitutionnaire sowohl die Primärversammlungen als auch die gesetzgebende Versammlung (législature) einbindet: Die Verfassung selbst, so Sieyès’ Vorschlag, erteilt der jury constitutionn‐ aire den Auftrag, alle zehn Jahre eine Sammlung von Änderungsvorschlägen zu veröffentlichen und dieses Kompendium, nachdem es beiden Kammern des Parla‐ ments bekannt gemacht worden ist, den Primärversammlungen vorzulegen. Deren Entscheidung beschränkt sich sodann auf die Frage, ob die Aktivbürger in ihrer Ei‐ genschaft als pouvoir commettant die législature mit der Vollmacht ausstatten wol‐ len, die Verfassung zu ändern. Erteilt die Aktivbürgerschaft der Gesetzgebung den Auftrag, wird diese zum pouvoir constituant, der ohne weitere Begründungspflicht entscheidet, allerdings nur im Rahmen der vorgelegten Änderungsvorschläge. Die Dauer der Delegation der verfassunggebenden Gewalt an einen pouvoir constitué ist von Verfassung wegen beschränkt – die Repräsentanten des pouvoir constituant müssten „bei jeder Sitzungsperiode völlig erneuert werden“,100 um die dauerhafte Konzentration von Macht in einem bestimmten Staatsorgan zu verhindern. Diese Kombination aus Referendum, Verfassungsgerichtshof und außerordentli‐ cher Versammlung ist vielleicht dazu angetan, die Diskussion über das herkömmli‐ che „Primatsgeklingel“ zwischen der Politik und dem Recht hinauszuführen. Wer Verfassungsgerichte zulässt, muss wissen, worauf er sich einlässt: Diese werden ihre eigene politische Macht akquirieren, übrigens gerade weil die Öffentlichkeit in
100 Sieyès 2010, S. 252.
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ihnen den Hüter der Verfassung sieht. Sieyès‘ Ideen lassen sich hingegen als ein ernsthaftes Bemühen einer Institutionalisierung des pouvoir constituant verstehen, die den Zielen der agonalen Demokratietheorie nahesteht, ohne sich einer komple‐ xen Architektur der Demokratie zu verschließen.
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Danny Michelsen Die Verfassung der agonalen Demokratie. Zum Verhältnis von Konstitutionalismus und Demokratie bei James Tully, Chantal Mouffe und Bonnie Honig
1. Einleitung Alle VertreterInnen der agonalen Demokratietheorie teilen die Überzeugung, dass dem lebhaften Konflikt zwischen divergierenden politischen Prinzipien und Werte‐ systemen für den demokratischen Wettbewerb ein intrinsischer Wert zukommt und dass die Institutionen eines politischen Gemeinwesens solche Konflikte zwar einhe‐ gen, aber möglichst nicht unterdrücken sollten. Daher artikulieren sie ein besonderes Unbehagen an der „Juridifizierung“ des politischen Wettbewerbs und insbesondere an der mit juridischen – anstelle von politischen – Mitteln forcierten Auflösung solcher Konflikte, die Fragen der konstitutionellen Identität eines Gemeinwesens betreffen.1 AgonistInnen gehen nämlich grundsätzlich davon aus, dass solche Fragen nicht auf der Basis höherer Rechtsnormen oder rationaler Diskursmaximen entschie‐ den, sondern nur in politischen Kämpfen ständig neu verhandelt werden können. Aus der Sicht ihrer zahlreichen KritikerInnen beschränkt sich die agonale Demo‐ kratietheorie allerdings auf ein allzu einseitiges Zelebrieren der Umstrittenheit bzw. Deutungsoffenheit selbst grundlegender Normen der Konfliktbearbeitung – der Wert von Verfassungen, stabilen Rechtsordnungen, ja generell von Institutionen werde von ihr nicht genügend anerkannt.2 Dieser Vorwurf eines „institutionellen Defizits“3 hat die Entwicklung der agonalen Demokratietheorie von Anfang an begleitet. Im folgenden Beitrag möchte ich diesem Vorwurf speziell mit Blick auf die rechts- und verfassungstheoretischen Positionen von dreien der prominentesten VertreterInnen der agonalen Demokratietheorie nachgehen.4 Eine kritische Diskussion der Ansätze von James Tully, Chantal Mouffe und Bonnie Honig soll deutlich machen, dass die‐ se sehr unterschiedliche Implikationen für die Gestaltung eines konfliktorientierten Verfassungssystems enthalten und dass der pauschale Vorwurf eines institutionellen Defizits gegen die agonale Demokratietheorie letztlich nicht gerechtfertigt ist. Am 1 2 3 4
Zu diesem Trend: Hirschl 2006. Vgl. Meckstroth 2009, S. 414; Volk 2010, S. 265. Howarth 2008, S. 189. Zum Verhältnis von Politik und Recht in der agonalen Demokratietheorie vgl. auch den Beitrag von Oliver W. Lembcke in diesem Band.
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Ende des Beitrags werde ich, aufbauend auf meiner Diskussion der drei Ansätze im Hauptteil, Vorschläge für eine Weiterentwicklung der normativen Grundlagen eines agonalen Konstitutionalismus skizzieren.5
2. Tully: Das Gewohnheitsrecht als Alternative zum „Imperialismus der modernen konstitutionellen Demokratie“6 Der Kanadier James Tully hat sich in seinem Werk ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie in modernen, multikulturellen Gesellschaften eine Politik der rezi‐ proken Anerkennung kultureller Differenzen gelingen kann, die von der frühneuzeit‐ lichen Maxime audi alteram partem geleitet ist: „Höre immer die andere Seite“.7 Seine Heimat Kanada dient Tully dabei als praktischer Hauptbezugspunkt für seine Überlegungen. In modernen Demokratien, die von Konflikten um die Anerkennung kultureller, religiöser oder geschlechtlicher Identitäten geprägt sind, können aus Tullys Sicht weder der Verweis auf vermeintlich geteilte ethnisch-kulturelle Wurzeln noch die Möglichkeit eines „übergreifenden Konsenses“8 – einer Einigung auf eine in der Verfassungsordnung sich spiegelnde Sammlung universeller Prinzipien – die Bürgerschaft als ganze zusammenhalten und ihr eine kollektive Identität verleihen. Diese könne allein durch „die freien agonistischen Aktivitäten der Partizipation selbst“ wachsen,9 denn erst die Beteiligung der BürgerInnen an konfliktreichen öffentlichen Diskussionen generiere „Bindungen der Solidarität und ein Gefühl der Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen“ – überhaupt werde jede Rechtsperson erst durch die Partizipation an den res publica (und nicht schon durch die Zugehö‐ rigkeit zur bürgerlichen Rechtsgemeinschaft) zu einem/r Bürger/in im eigentlichen Sinne.10 Einigungen, die in solchen öffentlichen Dialogen erzielt werden, seien stets Kompromisse, die die grundsätzlichen Differenzen etwa hinsichtlich der Gestaltung der konstitutionellen Ordnung nicht aufheben und daher stets anfechtbar bleiben.11 In Abgrenzung von John Rawls‘ politischem Liberalismus konstatiert Tully, dass die Meinungsverschiedenheiten, die die öffentlichen Debatten in modernen Demokrati‐ en prägen, legitimerweise „bis auf den Grund der Dinge reichen“, d.h. sie gehen über Konflikte um grundlegende Verfassungsnormen und um „Konzeptionen des Ich baue dabei auf Überlegungen auf, die ich bereits in Michelsen (2018; 2019) formuliert habe. 6 So der Titel eines Aufsatzes in Tully 2009, S. 195ff. 7 Ebd., S. 131. 8 Rawls 2003, S. 219ff. 9 Tully 2008a, S. 147. Aus Gründen der Lesbarkeit wurden Zitate aus englischsprachigen Texten, die als Teilsätze in den Fließtext eingefügt sind, ins Deutsche übersetzt. 10 Tully 2008a, S. 164. Vgl. auch Tully 2008b, S. 271: „Rights are neither necessary nor sufficient conditions of citizenship.“ 11 Vgl. Tully 2008a, S. 147, 163. 5
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Guten innerhalb eines Rahmens fundamentaler Prinzipien der Gerechtigkeit“ hinaus, da sie auch den Rahmen selbst betreffen.12 Tullys erste ausführliche Behandlung der Frage, wie ein Rechtssystem gestaltet sein könnte, das solche Konflikte um grundsätzliche Fragen der konstitutionellen Identität eines politischen Gemeinwesens gleichermaßen einzuhegen und zu fördern vermag, stellt sein 1995 erschienenes Buch Strange Multiplicity dar, in dem er eine Fundamentalkritik der „Sprache des modernen Konstitutionalismus“13 formuliert. Moderne Verfassungen seien im Allgemeinen blind gegenüber kulturellen Differen‐ zen und ließen dem Volk wenig Möglichkeiten, den Verfassungstext auf demokrati‐ schem Wege zu verändern.14 Dieser vorherrschenden Praxis „konstitutioneller De‐ mokratie“, die die Verfassung als relativ unveränderlich und den demokratischen Aktivitäten übergeordnet betrachtet, stellt Tully später, in seiner zweibändigen Auf‐ satzsammlung Public Philosophy in a New Key, einen „demokratischen Konstitutio‐ nalismus“ gegenüber, der „die Verfassung und die demokratische Aushandlung der‐ selben als gleichrangig“ erachtet.15 Tully richtet sich damit gegen die im liberalen Denken verbreitete Skepsis gegenüber der Idee der Revidierbarkeit von Verfassun‐ gen, die z.B. bei John Rawls zum Ausdruck kommt, der die Auffassung vertritt, dass eine gute Verfassung möglichst unveränderlich sein muss; sie sollte „ein für allemal bestimmte wesentliche Verfassungsinhalte festleg[en]“.16 Eine solche (die potentiell beherrschende Wirkung unanfechtbarer Rechtsnormen ausblendende) Perspektive vernachlässigt aus der Sicht von Tully „die agonale Dimension der konstitutionellen Demokratien“, wonach „in einer offenen Gesellschaft keine rechtsstaatliche Verfas‐ sung, kein Verfahren und keine Einigung dauerhaft vor Konflikten in der Praxis si‐ cher ist“.17 Politische Freiheit setzt also die Möglichkeit voraus, „innerhalb der und gegen die konstitutionellen Formen“ handeln zu können,18 was die Voraussetzung dafür ist, dass diese Formen davon abgehalten werden, wie naturwüchsige, notwen‐ dige Arrangements zu erscheinen.19 Tully zufolge können nur solche politischen Ge‐ meinwesen als „frei“ gelten, welche ihre „Verfassung oder die Prinzipien, die sie rechtfertigen, nicht als dauerhafte Grundlage oder als Rahmen der demokratischen Debatte und Gesetzgebung verstehen.“20 Aus einer solchen Perspektive wären nicht nur allzu hohe prozedurale Hürden für Verfassungsänderungen, sondern auch Ewig‐ keitsklauseln wie Art. 79 Abs. 3 GG grundsätzlich als undemokratisch abzulehnen,
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Tully 2009, S. 130f. Tully 1995, S. 41. Vgl. ebd., S. 62ff. Tully 2008a, S. 4. Rawls 2003, S. 335. Tully 2009, S. 113. Ebd., S. 223. Tully 2008b: 110. Tully 2009, S. 114.
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weil sie die Änderung einzelner Verfassungsgrundsätze von vornherein ausschlie‐ ßen.21 Wenn Tully den modernen Konstitutionalismus dafür kritisiert, dass er einen de‐ mokratischen Verfassungswandel unnötig erschwert, geht es ihm dabei nicht zuletzt um die mangelnden Möglichkeiten ethnischer, kultureller und religiöser Minderhei‐ ten, verfassungsrechtliche Veränderungen oder Ausnahmeregelungen gemäß ihrer von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden kulturellen Differenzen zu erwirken. Die Ursache für diese Schwierigkeiten sieht er in einem seit über 200 Jahren do‐ minierenden Paradigma staatlicher Souveränität, welches das Volk und die Nation als eine uniforme Einheit betrachte und somit Ausdruck eines „rechtlichen und politischen Monismus“ sei.22 Unter einer modernen Verfassung, die diesem Ideal entspreche, würden alle BürgerInnen nicht einfach nur gleichberechtigt, sondern geradezu identisch behandelt, was dem von Tully postulierten Ideal der reziproken Anerkennung kultureller Differenzen nicht gerecht wird.23 Da Verfassungen unter dem herrschenden Paradigma der Uniformität als eine relativ unveränderliche Rah‐ menordnung gelten, denen die BürgerInnen einmal und für immer zustimmen, ist es laut Tully nicht möglich, diese Ordnung an die sich mit der Entstehung multi‐ kultureller und multireligiöser Gesellschaften wandelnden kulturellen Differenzen anzupassen.24 Sehr viel besser geeignet sei hierfür das Modell der „antiken Verfas‐ sung angelsächsischer lokaler Selbstverwaltung“,25 die in der englischen Common Law-Tradition konserviert wurde, da diese lediglich aus Konventionen – anstatt aus relativ fixen, universellen Prinzipien – bestehe, die mit den sich wandelnden Gewohnheiten und Umständen in den Aushandlungsprozessen der alltäglichen poli‐ tischen Interaktionen verändert werden könnten.26 Tully schlägt daher eine Art „drit‐ ten Weg“ als Alternative zu den bestehenden Optionen des Verfassungswandelns im modernen Konstitutionalismus vor: Die erste Option ist die Verabschiedung von Verfassungsänderungen mithilfe der in einer Verfassung dargelegten Regeln der Verfassungsgesetzgebung mit ihren besonderen Mehrheitsquoren, die zweite Option ist die Abschaffung der Verfassung durch „Krieg und Revolution“.27 Eine politische Ordnung, die auf dem Gewohnheitsrecht basiert, bietet hierzu aus Tul‐ lys Sicht die bessere Alternative: die Möglichkeit, dass eine Gesellschaft ihren Verfassungsrahmen auf der Ebene ihrer „täglichen, subkonstitutionellen Politik“ verändern kann.28 Es geht Tully also um die kontinuierliche Veränderbarkeit von
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Vgl. hierzu Westphal 2018, S. 329. Tully 1995, S. 66. Ebd. Ebd., S. 69. Ebd., S. 149. Ebd., S. 69. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28.
Verfassungen im täglichen politischen Diskurs – statt in seltenen, singulären „kon‐ stitutionellen Momenten“29 –, die der „moderne Konstitutionalismus“ unmöglich mache, da er Verfassungen als abgeschlossene Rechtsdokumente betrachte, die nur durch hürdenreiche Verfahren geändert werden können. In der Common Law-Tradi‐ tion dagegen sei die konstituierende Macht der BürgerInnen in deren tägliche Le‐ bensweisen „eingebettet“, sodass eine Transformation der konstitutionellen Formen infolge einer Veränderung dieser Lebensweisen „en passant“ erfolgen könne.30 Von den Verfassungsstaaten der Gegenwart werde diese gewohnheitsrechtliche Tradition für gewöhnlich als vormodern verpönt. Der Goldstandard sei eine geschriebene Verfassung, die dem Rechtssystem einen höheren Grad an Autonomie und „forma‐ lem Charakter“ verleiht, indem es „einen gewissen Abstand zu den Aktivitäten der ihm Unterworfenen aufweist bzw. nicht in diese Aktivitäten eingebettet ist“,31 mit der Folge, dass die Rechtssubjekte nicht in der Lage seien, das Rechtssystem „en passant auf agonale Weise zu verändern oder zu transformieren“.32 Offensichtlich favorisiert Tully also ein Verfassungsmodell, welches nach englischem Vorbild auf eine geschriebene Verfassung verzichtet und stattdessen auf einer dichten Samm‐ lung historisch überlieferter, aber im Laufe der Zeit gewandelter Konventionen ba‐ siert – seine eigentliche Bewunderung gilt allerdings den verschiedenen indigenen, „nicht-westlichen gewohnheitsbasierten normativen Ordnungen des Rechts und der Politik“, die durch den „formale[n] Charakter und die Nicht-Eingebettetheit des modernen Konstitutionalismus“ zunehmend verdrängt würden.33 Anders als Chantal Mouffe, deren Ansatz ich im nächsten Abschnitt behandeln werde, geht Tully davon aus, dass „es keine paradoxe Beziehung zwischen der Konstitutionalität oder Verfas‐ sungsstaatlichkeit und der konstituierenden Macht in ihrem Zentrum“ – also mit anderen Worten: zwischen der liberalen Verfassungsstaatlichkeit und der demokrati‐ schen Macht des Volkes, die Regeln des Rechts zu verändern – geben würde, würde die „moderne konstitutionelle Form“ gegen eine vollständig gewohnheitsrechtlich organisierte Verfassungsordnung ersetzt.34 Da Kanada mit der Ratifizierung des Constitution Act von 1982, der einen um‐ fangreichen Grundrechtekatalog, die Canadian Charter of Rights and Freedoms, beinhaltet, von seiner Common Law-Tradition Abstand nahm, mag es zunächst kaum überraschen, dass Tully die Charta als jüngeres Beispiel für einen „kulturblinden liberalen Konstitutionalismus“ anführt, der auf eine Vereinheitlichung von Rechts‐ normen auf Kosten der kulturellen Eigenheiten von einzelnen Provinzen und Urein‐
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Ackerman 1984, S. 1022. Tully 2009, S. 223. Ebd., S. 199. Ebd., S. 211. Ebd., S. 223, 225. Ebd., S. 199.
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wohnerInnen hinwirkt.35 Das ist aber insofern erstaunlich, als Tully andererseits zumindest Teile der Charta als Ausdruck eines „diverse federalism“ beschreibt, einer föderalistischen Ordnung also, die einen „konstitutionellen Dialog“ – Tully spricht auch von einem „multilogue“ – zwischen den gleichberechtigten kanadischen Gliedstaaten bzw. Provinzen mit ihren kulturellen Differenzen nicht nur zulässt, sondern anregt,36 um eine „gleiche Anerkennung und Autonomie der diversen For‐ men provinzieller Selbstverwaltung“ zu erreichen.37 Tully nennt z.B. Artikel 27 der Charta, die dem Gesetzgeber und den Gerichten vorschreibt, dass sie die in der Charta aufgeführten Rechte in einer Weise zu interpretieren haben, die dem multikulturellen Erbe Kanadas gerecht wird.38 Auch die sogenannte notwithstanding clause in Artikel 33 der Charta wird von Tully genannt. Diese weltweit einmalige Regelung des kanadischen Verfassungsrechts war Teil eines Kompromisses, des sog. „Küchenabkommens“ von 1981, das die von Pierre Trudeau angeführte kanadische Bundesregierung mit den Regierungen von Ontario und Saskatchewan ausgehandelt hat, um diese trotz ihrer Furcht vor einer zu starken Beschränkung ihrer legislativen Autonomie durch Normenkontrollverfahren vor dem nun mit Kassationsbefugnissen ausgestatteten Supreme Court zu einer Zustimmung zu der Charta zu bewegen. Artikel 33 erlaubt es dem kanadischen Unterhaus und den Provinzialparlamenten, ein Gesetz trotz seiner (unterstellten) Unvereinbarkeit mit einer Reihe von in der Charta verbrieften Grundrechten zu erlassen und sogar ein entsprechendes Urteil des Supreme Court, das dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, für die Dauer von fünf Jahren zu umgehen. Die notwithstanding clause wird von manchen Auto‐ rInnen als Ausdruck einer „schwachen“ Form von judicial review gedeutet,39 da sie der Judikative keine Letztentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Auslegung von Grundrechtsnormen zugesteht: Der Supreme Court kann zwar die Inkompatibilität gesetzlicher Regelungen mit dem Verfassungstext feststellen und diese Regelungen sogar für unwirksam erklären, aber die Legislativen können sich mit dem Verweis auf Artikel 33 über entsprechende Urteile hinwegsetzen. Der besondere Wert der Klausel liegt Tully zufolge darin begründet, dass sie ein „Hilfsmittel zur Ausbalan‐ cierung“ der oft „hitzigen demokratischen Stimmung“ parlamentarischer Debatten mit der unparteiischen Verfassungsinterpretation durch die Gerichte darstellt. Indem 35 36 37 38 39
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Tully 1995, S. 7. Ebd., S. 24, 140ff. Ebd., S. 142f. Ebd., S. 176. Tushnet 2008, S. 31ff., 90f. Andere Staaten kennen noch schwächere Formen der verfassungs‐ rechtlichen Normenkontrolle, z.B. das Vereinigte Königreich, wo die Gerichte seit der Verab‐ schiedung des Human Rights Act von 1998 zwar eine „declaration of incompatibility“ formu‐ lieren können, nicht aber die Autorität besitzen, ein Gesetz für unwirksam zu erklären. Stephen Gardbaum (2001) sieht in diesen kanadischen und britischen Versionen einer schwachen Form von judicial review Beispiele für ein „New Commonwealth Model of Constitutionalism“, das einen Kompromiss zwischen der Common Law-Tradition und dem von Tully kritisierten mo‐ dernen Konstitutionalismus beschreibt.
sie einen Dialog zwischen beiden Seiten ermöglicht, bewirkt sie im besten Fall, dass die RichterInnen auf der einen und die GesetzgeberInnen auf der anderen Seite ihre Argumente noch einmal überprüfen und eventuell revidieren, wie es der Maxime au‐ di alteram partem entspricht.40 Tullys positive Ausführungen zur kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten machen deutlich, dass seine Begeisterung für das Gewohnheitsrecht und seine Ab‐ lehnung „‚moderne[r]‘ (formale[r]) Verfassungen“41 ihn offenbar nicht dazu führen, mit dem Modell der Verfassungssuprematie vollständig zu brechen. Er scheint anzu‐ erkennen, dass formale Verfassungen und judicial review ein Mittel sein können, um die in föderalistischen Ordnungen wie Kanada ständig kollidierenden Kompe‐ tenzansprüche zu regeln und einen stabilen normativen Rahmen für die damit einhergehenden politischen Kämpfe zu schaffen. Wenngleich man Tully durchaus vorwerfen kann, dass seine Kritik am liberalen Konstitutionalismus mitunter zu pauschal und seine These, dass „gewohnheitsmäßige“ Verfassungen uns ein höheres Maß an politischer Autonomie ermöglichen, allzu romantisch ausfällt,42 geht der gegen die agonale Demokratietheorie erhobene Vorwurf eines generellen Antiinsti‐ tutionalismus im Falle seines Ansatzes ins Leere.
3. Mouffes Plädoyer für einen deutungsoffenen Verfassungskonsens Anders als Tully hat sich Chantal Mouffe, die (zumindest in Europa) bekannteste Vertreterin der agonalen Demokratietheorie, in ihrem Werk kaum explizit mit dem Verhältnis von Politik und Recht im engeren Sinne beschäftigt. Dennoch hat sie mit ihren Ausführungen über das Verhältnis von Liberalismus und Demokratie eine Fundamentalkritik an einem liberalen Konstitutionalismus formuliert, der aus ihrer Sicht die „demokratischen Ideale der Volkssouveränität und Gleichheit“ restringiert und damit wachsenden Unmut in der Bevölkerung über mangelnde politische Ein‐ flussmöglichkeiten hervorruft, welcher sich u.a. in der Wahl rechtspopulistischer Parteien entlade.43 Mouffe geht davon aus, dass die demokratische Tradition, deren zentrale Werte „Gleichheit“ und „Volkssouveränität“ sind, und der liberale Diskurs, der auf die Werte der individuellen Freiheit und der Menschenrechte fokussiert, zwei unterschiedlichen „Logiken“ folgen, die letztlich „inkompatibel“ sind.44 Anders als
40 Tully 1995, S. 174. 41 Tully 2009, S. 199. 42 Vgl. z.B. die Kritik von Christodoulidis 2003, S. 408ff. Für eine Verteidigung von Tullys Re‐ habilitierung der Common Law-Tradition gegen diesen Vorwurf vgl. den Beitrag von Oliver W. Lembcke in diesem Band. 43 Mouffe 2018, S. 18f. 44 Mouffe 2000, S. 2, 5.
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Carl Schmitt, an dessen Behauptung eines „fundamentalen Gegensatzes“45 von libe‐ raler Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sie hier explizit anschließt, nimmt Mouffe aber nicht an, dass beide Logiken deshalb in einem „destruktiven Widerspruch“ zueinander stehen; im Gegenteil sei die Tatsache, dass es keine Möglichkeit gibt, die liberale und die demokratische Logik in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, „die eigentliche Stärke der liberalen Demokratie“, da sie einander ständig heraus‐ fordern, ergänzen und somit letztlich die Schwächen der jeweils konkurrierenden Logik ausgleichen:46 Während der liberale Rechtsdiskurs den vom demokratischen Prinzip gedeckten Prozess der Konstituierung eines Volkes – der eine Grenzziehung zwischen „uns“ und den Anderen, also kollektive Entscheidungen darüber erfordert, wer zum Volk gehört und wer ausgeschlossen wird – konstitutionell einhegt und dadurch den demokratischen Wettbewerb am Leben hält, schafft aus der Sicht von Mouffe die demokratische Logik der Schließung, die die Bildung eines Demos ermöglicht, erst die Voraussetzung dafür, dass es eine Verfassung und die darin kodifizierten subjektiven Rechte überhaupt geben kann.47 Mouffe kritisiert jedoch, dass diese „agonistische Spannung zwischen den liberalen und den demokratischen Prinzipien, die für die liberale Demokratie konstitutiv ist“, in der gegenwärtigen „postdemokratischen“ Konstellation verschwunden sei.48 Als „postdemokratisch“ bezeichnet Mouffe eine Konstellation, in der sich ein liberaler Individualismus, der alle Sphären des sozialen und politischen Lebens durchdringt und der den/die Bürger/in „als einen individuellen Träger von Rechten, frei von jeglicher Identifika‐ tion mit einem ‚Wir‘“, betrachtet, auf Kosten der demokratischen Strukturelemente durchsetzt.49 An dieser Stelle deutet Mouffe an, dass es ihr nicht nur um eine Kritik der Juridifizierung des politischen Wettbewerbs, sondern um eine dezidierte Libera‐ lismuskritik geht. Immer wieder betont sie, dass das westliche Modell der liberalen Demokratie, in dem individuelle Rechte aus der Sicht von Mouffe derzeit einen höheren Status genießen als das Prinzip der Volkssouveränität, von uns nicht als alternativlos betrachtet werden sollte: Vielmehr könne die Demokratie nicht-liberale, kommunitarische Formen annehmen, die ebenso legitim seien, „zum Beispiel For‐ men, in denen der Wert der Gemeinschaft bedeutender ist als die Idee individueller Freiheit“.50 Hier wie auch an anderen Stellen ihres Werkes wird eine problematische Geringschätzung des Wertes bürgerlicher Freiheitsrechte sichtbar, die sich vor allem aus Mouffes (hierin in der Tat Schmitt folgender) allzu einseitiger Assoziation des Demokratiebegriffs mit der Bildung von „commonalities“ und mit der Idee der
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Schmitt 1928, S. 201. Mouffe 2000, S. 9. Vgl. ebd., S. 10, 43. Mouffe 2018, S. 16. Ebd., S. 16, 65. Mouffe 2013, S. 30.
Souveränität ergibt51 – von denen Mouffe offenbar annimmt, dass sie durch liberale Rechte unterminiert werden. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass in einer agonalen Demokratie aus der Sicht von Mouffe idealerweise keine Seite, weder die Seite der Demokratie noch die der liberalen Rechtsstaatlichkeit, über die jeweils andere die Oberhand gewinnen sollte. Wesentlich interessanter für das Thema dieses Aufsatzes sind aber Mouffes Aus‐ führungen zu der Transformation von „antagonistischen“ in „agonistische“ Konflikt‐ konstellationen, die das Zentrum ihrer Theorie eines „agonistischen Pluralismus“ bilden.52 Mouffe assoziiert den Begriff des Politischen grundsätzlich nur mit dem Antagonismus, von dem sie behauptet, dass er menschlichen Beziehungen „inhä‐ rent“ sei.53 Dagegen meint der Begriff der „Politik“ jene Praktiken und Institutio‐ nen, die eine Einhegung des Antagonismus, also die Überführung eines Kampfes zwischen „Feinden“ in einen Kampf zwischen „Gegnern“ ermöglichen sollen, die die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit anerkennen und einander daher als gleich‐ berechtigte Kontrahenten akzeptieren.54 Das gemeinsame Bekenntnis zu diesen bei‐ den Prinzipien nennt Mouffe einen „konflikthaften Konsens“, da dieser keinerlei konkrete, positive Interpretationen der maximal deutungsoffenen Prinzipien Freiheit und Gleichheit umfasst.55 Ihre Bedeutung ist umstritten, und Mouffe geht davon aus, dass Konflikte zwischen den rivalisierenden Interpretationen (z.B. sozialdemo‐ kratischen und libertären Deutungen des Begriffs „Freiheit“) durch Deliberation im Prinzip niemals vollständig aufgelöst werden können.56 Wie Tully hebt auch Mouffe – mit dem Verweis auf Wittgensteins Theorie der Sprachspiele – die Deutungsoffenheit von rechtlichen Regeln und Prinzipien hervor (und die daraus folgende Unmöglichkeit, zu einem allgemeinen Konsens bezüglich ihrer Interpretation zu gelangen, der von der Diskursethik als Idealziel anvisiert wird);57 aber während Tully außerdem die Änderbarkeit der Grundprinzipien als Be‐ dingung einer agonalen Demokratie benennt, ist diese für Mouffe kaum von Interes‐ se. Dies ist vielleicht damit zu erklären, dass der Verfassungsrahmen aus der Sicht von Mouffe idealerweise einem konflikthaften Konsens entsprechen sollte, dessen Prinzipien so offen formuliert sind, dass aus ihnen kaum autoritative Lösungen für politische Streitfragen, die die konstitutionelle Identität eines Gemeinwesens betref‐ fen, abgeleitet werden können. Auf der Grundlage von Mouffes Konzept des kon‐ flikthaften Konsenses ließe sich durchaus eine grundlegende Kritik verfassungs‐ rechtlicher Normenkontrollverfahren entwickeln, da das Recht der Judikative, eine 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Mouffe 2000, S. 55 u. Mouffe 2007, S. 133. Mouffe 2000, S. 103. Ebd., S. 101. Ebd., S. 101f. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 72ff.; Tully 1995, S. 103ff.
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letztgültige Interpretation der konstitutionellen Identität eines Gemeinwesens vorzu‐ nehmen, den Spielraum für konflikthafte Aushandlungen dieser Identität in der poli‐ tischen Sphäre zu beschränken droht. Eine entsprechende Kritik wird derzeit u.a. von VertreterInnen eines „politischen Konstitutionalismus“ formuliert, die davon ausgehen, dass die in jeder demokratischen Gesellschaft bestehenden „vernünftigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich wesentlicher Verfassungsinhalte, inklusive Rechte“, politisch ausgetragen werden müssen, und dass es keine höheren Rechts‐ maßstäbe geben darf, die sich jenseits oder über der politischen Sphäre befinden.58 Ihr Postulat, dass die Interpretation solcher Verfassungsinhalte durch die Legislative daher stets „den Entscheidungen der Gerichte übergeordnet“ sein sollten,59 sehen sie nur in einer nach dem Prinzip der Parlamentssouveränität organisierten politischen Ordnung konsequent realisiert. Wenngleich Mouffe, die in Großbritannien lebt und in ihren theoretischen Diskussionen primär Beispiele aus der britischen Politik her‐ anzieht, häufig die besondere Bedeutung von Parlamenten und der Möglichkeit des Volkes bzw. seiner RepräsentantInnen, souveräne Entscheidungen zu treffen, hervor‐ hebt – in Abgrenzung von anderen linken Theoretikern wie Michael Hardt und An‐ tonio Negri, die eine postsouveräne Ordnung herbeisehnen60 und die Relevanz natio‐ naler Parlamente eher geringschätzen –,61 so gibt es doch keine Hinweise darauf, dass sie ein solches unbedingtes Plädoyer für die Parlamentssouveränität teilt. Aller‐ dings kann man, ausgehend von Mouffes agonistischem Pluralismus, die in Deutsch‐ land u.a. von Ingeborg Maus thematisierte Zweckentfremdung der Verfassung kriti‐ sieren, die sich durch deren Entwicklung von einem prozeduralen Regelwerk und einer Sammlung grundlegender, deutungsoffener Prinzipien zu einem „vorgefertig‐ te[n] Katalog aller denkbaren inhaltlichen Entscheidungen“ vollzieht, welche im Konfliktfall aus den Verfassungsnormen zu deduzieren sind.62 Wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht sich etwa anschickt, aus dem Gebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG die Unrechtmäßigkeit von Hartz IV-Regel‐ sätzen zu deduzieren,63 wird die Deutungsoffenheit eines sehr abstrakten Verfas‐ sungsprinzips, das keinerlei konkrete Handlungsanweisungen gibt, dadurch insofern beschränkt, als diese Auslegung selbst Teil des Verfassungsrechts und der Deutungs‐ spielraum des Gesetzgebers dadurch de facto eingeschränkt wird. Nun muss jedoch zum einen berücksichtigt werden, dass das umfassende Verfas‐ sungsrecht nicht mit dem in Gestalt der grundlegenden Grundrechtsnormen sich manifestierenden konflikthaften Konsens identisch ist. Zum anderen ließe sich argu‐ mentieren, dass aus einer Mouffe’schen Perspektive der politische Kampf um eine 58 59 60 61 62 63
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Bellamy 2011, S. 90. Ebd., S. 92. Vgl. Hardt/Negri 2002. Vgl. z.B. Mouffe 2007, S. 31ff.; Mouffe 2013, S. 119ff. Maus 2011, S. 47. BVerfGE 125, 175 (221ff.).
hegemoniale Interpretation der konstitutionellen Prinzipien nicht nur im Parlament, sondern legitimerweise auch in den Verfassungsgerichten ausgetragen werden kann – erscheint doch gerade aus der Sicht von Mouffe die Vorstellung von einer poli‐ tikfreien Rechtssphäre, in der die RichterInnen unabhängig von ihren ethisch-politi‐ schen Wertmaßstäben urteilen, besonders absurd. Aus agonaler Perspektive ist es deshalb wichtig, dass der konflikthafte Charakter der Verfassungsauslegung nicht verschleiert, sondern institutionell offengelegt wird. In diesem Zusammenhang ist die große Bedeutung von Sondervoten für die Darstellung von Dissens im Rahmen der Verfassungsinterpretation zu nennen: Durch die Formulierung von dissenting opinions bringt ein Verfassungsgericht die Kontingenz seiner Urteile zum Ausdruck und zeigt sich somit als ein Teil der „politischen Gesellschaft“, in der RichterInnen als politische Akteure handeln.64 In Deutschland wurden Sondervoten erst im Jahr 1970 eingeführt, wodurch der „agonale Charakter“ des Bundesverfassungsgerichts zweifellos verstärkt wurde.65 Der deutsche Gesetzgeber folgte damit der dissent-Pra‐ xis des U.S. Supreme Court, wo die Formulierung abweichender Meinungen auf‐ grund der antagonistischen Konfliktstruktur des Gerichts den Normalfall darstellt, während diese Möglichkeit von deutschen VerfassungsrichterInnen relativ selten genutzt wird.66 Aus einer agonalen Perspektive erscheint eine politisierte Verfassungsgerichtsbar‐ keit, wie sie der amerikanische Supreme Court darstellt, sehr viel legitimer als etwa das im Vergleich zum amerikanischen Modell vom politischen Wettbewerb relativ isolierte deutsche Bundesverfassungsgericht. Das gilt vor allem aus der Sicht von Mouffes Theorie, die nahelegt, dass der politische Konflikt zwischen konserva‐ tiv-marktliberalen und sozialdemokratischen – oder aber: rechts- und linkspopulisti‐ schen67 – Interpretationen der ethisch-politischen Prinzipien des Verfassungskonsen‐ ses möglichst alle Dimensionen des politischen Lebens, gerade auch die Ebene der Verfassungspolitik, durchdringen sollte. Der Grad der Politisierung der Verfassungs‐ gerichtsbarkeit hängt maßgeblich von dem Verfahren zur Berufung der RichterInnen ab: Da im amerikanischen Modell die RichterInnen des Supreme Court, die auf Lebenszeit ernannt sind, von der Exekutive nominiert und vom Senat bestätigt werden müssen, hat das Volk die Möglichkeit, mittels Wahlen indirekt Einfluss auf die Besetzung des Gerichts zu nehmen68 – und somit auch auf dessen Urteile, denn als Folge dieser starken Abhängigkeit der RichterInnenselektion von den jeweiligen politischen Mehrheitsverhältnissen spiegelt die Verteilung von Mehrheitsvoten und dissenting opinions in Fällen, die kontrovers diskutierte politische Themen wie z.B.
64 65 66 67 68
Lietzmann 2006, S. 270. Roelleke 2001, S. 380. Vgl. Möllers 2011, S. 386ff. Vgl. Mouffe 2018. Vgl. Dworkin 2012, S. 671.
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Abtreibung oder Migration betreffen, sehr genau die parteipolitische Linie wider, nach der die RichterInnen jeweils ausgewählt wurden. Aber wenngleich das Verfahren der richterlichen Normenkontrolle aus der Per‐ spektive von Mouffes agonaler Demokratietheorie desto legitimer erscheint, je poli‐ tisierter und konfliktorientierter es gestaltet ist, so bleibt doch das grundsätzliche Legitimationsproblem von judicial review bestehen: Die Auslegung einer abstrakten Grundrechtsnorm durch die Judikative droht den Deutungsspielraum der Legislative zu beschränken und auf diese Weise die Offenheit des konfliktiven Verfassungskon‐ senses zu restringieren, da die Legislative eine Auslegung nur dadurch anfechten kann, dass sie den Text der Verfassung durch eine qualifizierte Mehrheit, die die Verfassungsgesetzgebung erfordert, selbst konkretisiert und dadurch erst recht die Deutungsoffenheit der Verfassung einschränkt. Dies gilt freilich nur für ein System der judicial supremacy, das die autoritative und letztgültige Festlegung des Inhaltes einer Verfassungsnorm durch Urteile der Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht. Die im vorangegangenen Abschnitt erwähnten „schwachen“ Formen von judicial review erscheinen hier auch aus einer Mouffe’schen Perspektive als eine vielversprechende Alternative, da sie es dem Volk und seinen parlamentarischen VertreterInnen ermöglichen, juridische Deutungen von Grundrechtsnormen im ein‐ fachgesetzlichen Rahmen anzufechten. Aus einer agonalen Perspektive sollte die Judikative durch ihre Verfassungsinterpretationen „agonistische“ Konflikte über konstitutionelle Grundsatzfragen anstoßen können, ohne dass deren Ausgang aber (allein) von der rationalen Qualität der juridischen Argumentation abhängen sollte. Vielmehr müssen am Ende die Mehrheitsverhältnisse in der politischen Sphäre den Ausschlag geben – und dort, so wird Mouffe nicht müde zu betonen, werden Fragen der konstitutionellen Identität selten durch die ratio, sondern meist durch das Spiel mit Wir-Sie-Unterscheidungen und die damit geweckten Emotionen entschieden.69
4. Honig: „Resistibility“ als Gütekriterium für eine demokratische Verfassung Mouffe hat mehrfach Kritik an den anderen VertreterInnen der agonalen Demokrati‐ etheorie geübt, da diese aus ihrer Sicht nicht konsequent genug mit der liberalen und diskursethischen Ansätzen zugrunde liegenden Prämisse brechen, dass die Er‐ reichung eines universellen Konsenses über moralische Streitfragen qua Deliberati‐ on das Wesen des Politischen darstellt.70 Die Hauptziele dieser Kritik bilden die Schriften von William Connolly und von dessen Schülerin Bonnie Honig, denen Mouffe vorwirft, dass sie die besondere Bedeutung des Antagonismus und der He‐ gemonie im Politischen weitgehend ausblenden, da sich ihre Ansätze einer agonalen 69 Vgl. Mouffe 2007, S. 91ff.; Mouffe 2018, S. 72ff. 70 Vgl. Mouffe 2007, S. 29f.
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Politik auf eine postmoderne Feier des Pluralismus individueller Identitäten und ihrer performativen Inszenierung beschränkten und daher ungeeignet seien, um die Notwendigkeit des „Entscheidungsmoments“ und der „Schließung“, die das freie Spiel der Differenzen im politischen Raum begrenzen, richtig zu erfassen.71 In der Tat assoziiert Honig das Agonale weniger mit dem Kampf kollektiver Identitäten um gesellschaftliche Hegemonie, sondern, im Anschluss an Hannah Arendt und Fried‐ rich Nietzsche, eher mit der Möglichkeit kreativen, spontanen, „außerordentlichen“ Handelns, das sich im Widerspruch gegen bestehende Regeln und Verfahren Bahn bricht.72 Aus der Sicht von Mouffe führt dieser Fokus notwendigerweise zu einer mangelnden Auseinandersetzung mit politischen Institutionen.73 Honig wiederum wendet gegen Mouffe ein, dass sich eine agonale Demokratie‐ theorie um eine Dekonstruktion jener Antagonismen bemühen sollte, die – wie etwa die Freund-Feind-Unterscheidung – von dezisionistischen Ansätzen in der Tradition von Carl Schmitt als Fundament des Politischen betrachtet werden. AgonistInnen sollten eine „Pluralisierung“ solcher binären Gegensätze anstreben, um aufzuzeigen, wie beide Seiten einander in Wirklichkeit wechselseitig bedingen.74 Auch Mouffes „Binarität des Rechts und der Demokratie“ weist Honig aus diesem Grund als unterkomplex zurück:75 Es mache „wenig Sinn, pauschal von Konstitutionalismus versus Demokratie zu sprechen“76, denn dies hieße zu verkennen „dass Kontexte und Verfassungen sich verändern und dass manche für demokratisches Handeln oder Akonstitutionalismus günstiger sind als andere“.77 Anstatt generell von einem Widerspruch zu sprechen, sollten wir von einer Skala ausgehen – je nachdem, welcher der beiden Pole „Demokratie“ und „Konstitutionalismus“ jeweils margina‐ lisiert zu werden droht, sollten wir entweder auf eine Stärkung oder Schwächung „akonstitutioneller“ Elemente hinwirken: „Sometimes justice may require that we heighten the aconstitutionalism of a regime, sometimes it may lead us to defend the temporary stasis of constitutional settlement.“78 Sobald also zum Beispiel die Deu‐ tungsoffenheit der Verfassung durch eine allzu aktivistische Grundrechtejudikatur bedroht ist, müssten Instrumente zur Verfügung stehen, die den „dämpfenden Effek‐ ten eines rechtezentrierten Konstitutionalismus auf spontanes politisches Handeln“ Grenzen setzen.79 Wie Tully führt auch Honig, die ebenfalls gebürtige Kanadierin ist, als ein denkbares Mittel hierfür die notwithstanding clause an. Sie betrachtet die Klausel als ein Instrument, mit dem sich die Spannungen zwischen judicial review 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Mouffe 2013, S. 14f. Vgl. Honig 1993, S. 93f. Mouffe 2013, S. 14f. Honig 2008, S. 188f. Honig 2009, S. 37. Ebd., S. 35. Honig 2001b, S. 800. Ebd., S. 801, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 800.
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und der damit verbundenen rechtsetzenden Konkretisierung deutungsoffener Verfas‐ sungsnormen durch die Judikative einerseits und der vom Prinzip demokratischer Offenheit verlangten Möglichkeit der Legislative, solche juristischen Konkretisie‐ rungen anzufechten, andererseits reduzieren, wenn auch nicht auflösen, ließen. Mit der Klausel gehe die kanadische Verfassungsordnung das Risiko ein, einer „zeitlich begrenzten, schlechten Mehrheitsherrschaft“ Vorschub zu leisten, um die Risiken eines „legalistischen Konstitutionalismus, der keinen Sinn für Kontexte hat“, auszu‐ gleichen.80 Wenngleich also Mouffes These, liberaler Konstitutionalismus und Demokratie folgten mehr oder weniger inkompatiblen Logiken, von Honig als zu undifferenziert abgelehnt wird, so gehen doch beide Autorinnen von einer paradoxen, spannungsge‐ ladenen Beziehung zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität und dessen konsti‐ tutionellen Einhegungen im Herzen des demokratischen Verfassungsstaates aus. Ho‐ nig hat ihre Behauptung eines „Paradoxons der konstitutionellen Demokratie“81 in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Habermas‘ einflussreicher These vertei‐ digt, „dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht in einer paradoxen Beziehung“, sondern „in einer reziproken Beziehung materialer Implikation“ zueinander stehen.82 Habermas geht davon aus, „daß sich das Demokratieprinzip der Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform verdankt“, die einer universalen Grammatik der Verrechtlichung folgt.83 Die Idee der demokratischen Selbstgesetzgebung müsse sich somit zwangsläufig „als ein sich selbst korrigierender geschichtlicher Prozess“ reali‐ sieren.84 Einer der Hauptkritikpunkte, die Honig gegen Habermas ins Feld führt, lau‐ tet, dass sein Modell – der Tradition des deutschen Idealismus folgend – eine tiefere Vernunft und Logik als Quelle verfassungspolitischer Entwicklungen unterstelle, die in Wirklichkeit das Produkt spezifischer Machtverhältnisse seien. Da Habermas die Kontingenz von Verrechtlichungsprozessen vernachlässige, entgehe ihm aber auch die Tatsache, dass Rechtsnormen keine „toten Instrumente“, sondern „lebendige Praktiken“ darstellen.85 Deren Macht und Bedeutung hänge paradoxerweise auch von ihrer Verletzbarkeit ab – also von der Tatsache, dass sie ständig gegen Gefahren verteidigt werden müssen. Habermas sei unfähig, diese Verletzbarkeit zu erfassen, da er die anarchische, „akonstitutionelle“ Seite der Demokratie ausblende, die z.B. in Verfassungsrevisionen, aber auch in Revolutionen und Gründungsakten zum Aus‐ druck komme“.86 Dieser Aspekt wird von Habermas auch deshalb vernachlässigt, 80 Honig 2001c, S. 484. 81 Honig 2009, S. 26. 82 Habermas 2001, S. 146, 149. Zu diesem zentralen Streitpunkt zwischen liberalen bzw. delibe‐ rativen und agonalen Ansätzen der Demokratietheorie vgl. auch den zweiten Abschnitt des Beitrags von Franziska Martinsen in diesem Band. 83 Habermas 1992, S. 154f. 84 Habermas 2001, S. 135. 85 Honig 2001b, S. 800. 86 Vgl. ebd., S. 800.
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weil er seine These der Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Rechtscode u.a. mit dem Argument begründet, dass Grundrechte „die Ausübung politischer Autonomie erst ermöglichen“ und dass sie daher „die Souveränität des Gesetzge‐ bers, obwohl sie diesem nicht zur Disposition stehen, nicht einschränken [können]. Ermöglichende Bedingungen erlegen dem, was sie konstituieren, keine Beschrän‐ kungen auf.“87 Demgegenüber plädieren Honig und die anderen Agonist*innen dafür, die für Anhänger*innen allzu idealistischer Vorstellungen demokratischer Selbstregierung möglicherweise irritierende Tatsache zu akzeptieren, dass liberale Rechtsansprüche unsere politische Autonomie häufig gerade deshalb ermöglichen, weil sie gleichzeitig eine (die Mehrheitsherrschaft und staatlichen Zwang) beschrän‐ kende Wirkung entfalten. An diesem Punkt scheinen die Agonist*innen klassisch-li‐ beralen Demokratietheorien wesentlich näher zu stehen als den von Rousseau bis Habermas reichenden Versuchen, die Spannungen zwischen privater und politischer Autonomie, wenn nicht aufzulösen, so doch theoretisch abzumildern. Honig geht davon aus, dass uns das Recht auch in einem demokratischen Verfassungsstaat stets in einem gewissen Maße „fremd“ bleiben muss, allein schon, weil wir am Prozess der Verfassungsgebung (in der Regel) selbst keinen Anteil hatten.88 Es gebe jedoch gute Gründe, „das Gefühl der Entfremdung zu bewahren anstatt es zu heilen“,89 da eine solche Wahrnehmung des Rechts als etwas fremd Gesetztes unseren Blick auf Legitimationslücken lenke, die die Unabgeschlossenheit und Fragilität des de‐ mokratischen Aneignungsprozesses – im Sinne einer „tätigen Inbesitznahme des fremd Gesetzten“90 – markierten und somit „eine Quelle des zivilen Aktivismus, Aufruhrs und Protests“ darstellten, von der die Demokratie schließlich sogar lebe: „The positive side of ‚alienation‘ is that it marks a gap in legitimation, a space that is held open for future refoundings, augmentation, and amendment.“91 Honig geht – hierin der Argumentationsweise der critical legal studies folgend – davon aus, dass letztlich alle politischen Ordnungen auf „prä-legitimen“ Platzhaltern gegründet werden, die erst ex post als legitime oder illegitime Akte identifiziert werden können, da die Frage, ob sich die Gründung in einem performativen, die Legitimitätsprinzipien des Handelns aus dem Handeln selbst ableitenden oder in einem „konstativen“, (in Honigs Verständnis) auf selbstevidente Wahrheiten rekur‐ rierenden Akt vollzieht, erst beantwortet werden kann, sobald die Gründungserklä‐ rung formuliert und verabschiedet wurde.92 Absolute, scheinbar „unwiderstehliche“ Normgehalte – also z.B. Normen, die mit göttlichen Wahrheiten oder vermeintlichen Naturgesetzen gerechtfertigt werden – sollten wir jedoch in jedem Fall als „eine 87 88 89 90 91 92
Habermas 1992, S. 162; Hervorhebung im Original. Vgl. Honig 2001a, S. 29. Ebd., S. 31. Jaeggi 2005, S. 26. Honig 2001a, S. 31. Honig 1991, S. 108.
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Einladung zur Intervention“ verstehen:93 „By this strategy of intervention, we do not deny the constative moment of founding, but neither do we succumb to its claim to irresistibility. We resist it.“94 In einer Demokratie muss sich die Autori‐ tät der Verfassung und der Verfassungsgewalten aus deren „resistibility“ ergeben, durch die sie sich von Geboten und Institutionen, die mit dem Verweis auf Gott oder die Natur gesetzt wurden, unterscheidet – während letzteren ein zwingender Absolutheitsanspruch inhärent ist, müssen die im Gründungsmoment postulierten Rechtsnormen in einer Demokratie für jede Form des Widerspruchs offen sein. Die wichtigste Maxime eines agonalen Konstitutionalismus sollte es daher sein, „das Gesetz der Gesetze davon abzuhalten, unwiderstehlich zu werden“.95 Eine Institutionalisierung des Prinzips der „resistibility“ setze die „fortwährende Offen‐ heit gegenüber der Möglichkeit der Wieder-Gründung“ voraus, also die permanente Offenheit der Verfassungsordnung für den Einbruch der konstituierenden Macht, die Option von „Wieder-Gründungen“ in Form von „Ergänzungen und Änderun‐ gen der Verfassung“.96 Die Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die Autorität der Verfassung und der Verfassungsorgane in einer demokratischen Ordnung in einer „Praxis der De-Autorisierung“ gründet, d.h. in einer politischen Praxis, die „Wieder-Gründungen“ explizit begünstigt, sodass solche „de-autorisierenden Projek‐ te“ nicht als „ein unautorisierter Anschlag auf die Institutionen der Autorität von irgendeinem Außen“, sondern als konstitutiver Teil einer demokratischen Ordnung erscheinen.97 Was Honig damit genau meint und wie das Prinzip der „resistibility“ in institutioneller Hinsicht konkret ausgestaltet werden könnte, bleibt allerdings unklar und es stellt sich die Frage, ob eine intakte Autorität der Verfassung mit einer grenzenlosen Anfechtbarkeit von Verfassungsnormen und deren Interpretatio‐ nen durch die Judikative tatsächlich so kompatibel ist, wie Honig hier suggeriert. Hannah Arendt, an deren Beobachtungen zur Autorität des Gründungsmoments in der Verfassungsordnung Honig sich hier orientiert, hat in ihrem Buch Über die Revolution ausgeführt, dass die Autorität einer Verfassung daraus erwächst, dass sie „Zusätze zuläßt und erweitert werden kann“,98 also „Wieder-Gründungen“ ermög‐ licht. Andererseits hat Arendt aber auch betont, dass die Autorität einer Institution allein in der „fraglosen Anerkennung“ dieser Institution durch die Rechtssubjekte gründet.99 Besonders sichtbar wird dies am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit, die keinerlei Durchsetzungsmacht besitzt, sondern nur darauf hoffen kann, dass Volk und Gesetzgeber die Autorität der Verfassung und die Befugnis der RichterInnen, 93 94 95 96 97 98 99
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Honig 1993, S. 115. Honig 1991, S. 108, 111. Ebd., S. 109. Honig 1993, S. 116. Ebd., S. 115. Arendt 1965, S. 260. Arendt 1970, S. 46.
diese letztgültig zu interpretieren, respektieren. Werden diese Interpretationen oder gar Teile des Verfassungstextes selbst permanent infrage gestellt, droht die Autorität der Verfassung und der Judikative dauerhaft Schaden zu nehmen. Falls der Grund für einen solchen Autoritätsverlust aber in der mangelnden demokratischen Qualität der Verfassung zu suchen ist, ließe sich mit Honig argumentieren, dass ein solcher Prozess der „De-Autorisierung“ die Voraussetzung für eine Wieder-Gründung wäre, die den Grad der „resistibility“ der Verfassungsordnung am Ende stärken könnte. Die Möglichkeit der BürgerInnen, einen Verfassungswandel zu initiieren, ist in Honigs Ansatz also von ebenso zentraler Bedeutung wie bei Tully. Wie letzterer plädiert Honig außerdem dafür, die Ausübung konstituierender Macht, die „Politik der (Wieder)Gründung“, in die täglichen politischen Aushandlungsprozesse einzu‐ betten und dadurch zu normalisieren.100 Anders als Tully schlägt Honig aber – ab‐ gesehen von ihrem Hinweis auf die notwithstanding clause – keine verfassungspoli‐ tischen Alternativen, wie etwa die Hinwendung zu einem gewohnheitsrechtlichen Konstitutionalismus, vor, durch die sich die Hürden für einen vom Volk initiierten Verfassungswandel senken ließen. Tullys Lösung – die stärkere „Einbettung“ des Rechts und seiner Genese in die Lebenswelt der BürgerInnen – käme für Honig auch gar nicht infrage, weil sie, wie wir eben schon sahen, die Distanz zwischen dem Recht und den ihm Unterworfenen, die Tully als unheilvolles Defizit „formaler Verfassungen“ wertet, für ein unumgängliches Merkmal moderner Gesellschaften und den Traum von einer Auflösung dieser Distanz für eine harmonistische Illusi‐ on hält. Trotz dieser „realistischen“101 Sichtweise setzt sich Honigs theoretischer Entwurf dem Vorwurf des „institutionellen Defizits“ im Vergleich zu Tullys und Mouffes Ansätzen insofern in stärkerem Maße aus, als sie sich in ihren jüngeren Schriften lediglich auf eine Kritik der Souveränität konzentriert, die allenfalls vage Andeutungen darüber enthält, wie eine dem Prinzip der „resistibility“ entsprechende postsouveräne Ordnung aussehen könnte, in der das Volk die Möglichkeit hat, den Anspruch eines Teils der konstituierten Gewalt auf souveräne Entscheidungsmacht zurückzuweisen, „ihrer Anrufung zu widerstehen im Namen einer Offenheit für etwas jenseits oder getrennt von der Unterscheidung zwischen Norm und Ausnahme Existierendes, etwas, das diese Unterscheidung stört oder ins Wanken bringt“.102 Wenn Honig im Anschluss an William Connolly bemerkt, dass sich in solchen Widerstandsakten eine „would-be sovereign assemblage“ formiere, die das Potential
100 Honig 2001a, S. 141. Vgl. auch Honig 2009, S. 107. 101 Honig plädiert für einen „agonistischen Realismus“, den sie zum Teil auch Tully attestiert. Dieser scheue jedoch allzu oft vor einer realistischen Betrachtung des Politischen zurück, da er die Bereitschaft zu gegenseitigem Respekt – aus der Sicht von Honig „genau die Sache, die wir in der realen Politik nicht voraussetzen können“ – als eine notwendige Bedingung für agonistische Aushandlungen betrachte (Honig/Stears 2014, S. 144). 102 Honig 2009, S. 107.
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habe, zu dem Schöpfer eines „Gegen-Rechts“ zu avancieren,103 wird man wohl der Kritik von Mouffe zustimmen müssen, dass bei Honig eher die „Feier einer Politik des Aufruhrs“ im Vordergrund steht – und nicht die ernsthafte Suche nach institutio‐ nellen Alternativen für eine „Radikalisierung“ der Demokratie.104
5. Fazit und Ausblick In den vorangegangenen Abschnitten habe ich zu zeigen versucht, dass die drei hier behandelten TheoretikerInnen sehr unterschiedliche, zum Teil einander widerspre‐ chende verfassungstheoretische Schwerpunkte setzen. Während Tully und Honig in der Möglichkeit des Volkes, geltende Rechtsprinzipien jederzeit neu auszuhandeln, das wichtigste Merkmal einer agonalen Rechtsordnung sehen, fokussiert Mouffe stärker auf die Möglichkeit der BürgerInnen, die jeweils hegemoniale Deutung der möglichst offen formulierten Verfassungsprinzipien im täglichen politischen Meinungsstreit anzufechten. Die wichtigste Voraussetzung hierfür sieht Mouffe in einem Parteienwettbewerb, der den WählerInnen klare Alternativen für die Deutung von Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit anbietet. Eine Voraussetzung hierfür ist wiederum, dass dieser Wettbewerb konstitutionell so wenig wie möglich begrenzt wird: Die Verfassungsgeber sollten sich nur auf denkbar allgemeine Prinzipien einigen, deren Konkretisierung im politischen Kampf (immer nur vorübergehend) entschieden werden muss. Die Frage, ob daraus eine prinzipielle Illegitimität jeder starken Form von judicial review folgt, wird von Mouffe nicht thematisiert – es liegt jedoch nahe, anzunehmen, dass ein System der verfassungsrechtlichen Normenkon‐ trolle aus ihrer Sicht umso legitimer ist, je politisierter es ist, d.h. je stärker z.B. die Zusammensetzung eines Verfassungsgerichts selbst zum Terrain agonistischer Konflikte wird und von den BürgerInnen durch Wahlen indirekt mitentschieden werden kann. Von den drei AutorInnen ist Mouffe die einzige, die einen unaufhebbaren Wi‐ derspruch zwischen dem Liberalismus bzw. dem Konstitutionalismus und der De‐ mokratie konstatiert. Tully sieht einen solchen Widerspruch lediglich in solchen „formalen Verfassungen“ angelegt, die unnötig hohe Hürden für einen Verfassungs‐ wandel errichten. Dass die AgonistInnen das Verhältnis von Demokratie und Konsti‐ tutionalismus unterschiedlich bewerten, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie den Demokratiebegriff mit unterschiedlichen Bedeutungen füllen. Während z.B. Mouffe den Begriff mit der Möglichkeit des Volkes assoziiert, souveräne Entschei‐ dungen zu treffen – z.B. Entscheidungen darüber, welche Gruppen Teil des Volkes
103 Ebd., S. 109. 104 Mouffe 2013, S. 14.
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sind und welche davon ausgeschlossen sind105 –, scheint vor allem Honigs Werk in erster Linie von einer Kritik der Souveränität und der Gewaltsamkeit solcher Aus‐ schlüsse,106 also von dem – laut Andrew Schaap107 für das agonale Ethos elementa‐ ren – Bestreben geleitet, den Moment der souveränen Entscheidung aufzuschieben, um die Offenheit politischer Prozesse zu fördern und auf eine postsouveräne Ord‐ nung hinzuwirken, in der die Antwort auf die Frage, welche Instanz (z.B. in Fragen der Verfassungsauslegung) letztgültig zu entscheiden hat, nicht von vornherein fest‐ steht. Ungeachtet solcher Differenzen lässt sich festhalten, dass eine agonale Demokra‐ tietheorie zumindest folgende verfassungstheoretische Prämissen enthält: Sie betont nicht nur die Deutungsoffenheit der Verfassungsprinzipien; sie favorisiert auch eine größtmögliche Offenheit der Verfassung für die Aktivierung konstituierender Macht. Ein agonaler Konstitutionalismus sollte demnach zum einen nach Instrumenten suchen, die eine autoritative Auslegung der Verfassung durch einfache politische Mehrheiten einerseits und durch Verfassungsgerichte andererseits erschweren, in‐ dem sie z.B. institutionelle Anreize setzen, die die Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem Dialog mit der Zivilgesellschaft und/oder der Legislative bewegen, wie es etwa die oben erwähnte notwithstanding clause tut. Zum anderen sollte ein agona‐ ler Konstitutionalismus für eine Ausweitung der Möglichkeiten des Volkes, seine Verfassung zu ändern, plädieren.108 Beide Ziele stehen aber durchaus in einem Spannungsverhältnis, denn wenn es den VertreterInnen der agonalen Demokratie‐ theorie darum geht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dafür sorgen, dass der Verfassungskonsens für den Kampf gegnerischer Parteien um eine hegemoniale Interpretation dieses Konsenses möglichst offen bleibt, ließe sich dies auch im Sinne einer Zielstellung interpretieren, der zufolge regierende Mehrheiten vorrangig daran gehindert werden sollten, ihre jeweiligen Verfassungsinterpretationen in den Verfassungstext selbst einzuschreiben – und dieses Ziel lässt sich scheinbar nur durch möglichst hohe Hürden für Verfassungsänderungen realisieren. Ein agonaler Konstitutionalismus muss an dieser Stelle von folgendem grundlegenden Dilemma ausgehen: Erhöht man die Revisionshürden der Verfassung, um ihre Deutungsof‐ fenheit vor der Verankerung illiberaler Werte im Verfassungstext durch legislative Mehrheiten zu schützen, könnte dies die Deutungsmacht der juridischen Organe auf Kosten des Volkes bzw. seiner parlamentarischen VertreterInnen erhöhen,109 da damit deren Möglichkeiten beschränkt werden, unpopuläre Auslegungen von vagen Vgl. Mouffe 2000, S. 39, 43. Vgl. z.B. Honig 2009, S. 15f. Schaap 2006, S. 270. Mark Wenman (2013) fokussiert in seiner umfangreichen Einführung in die agonale Demo‐ kratietheorie auf diesen Gedanken der Konservierung konstituierender Macht in der Verfas‐ sungsordnung. 109 Vgl. Brodocz 2009, S. 102f. 105 106 107 108
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Verfassungsnormen durch die Gerichte mittels einer Konkretisierung dieser Normen zu korrigieren. Ein möglicher Ausgangspunkt für eine Abmilderung dieses Dilemmas besteht in der Maxime, dass das in der Verfassung vorgesehene Verfahren der Verfassungs‐ änderung keinem Verfassungsorgan allein das Recht einräumen sollte, die Verfas‐ sung zu ändern, da dies die Gefahr einer Inkorporation des pouvoir constituant durch einen Teil der konstituierten Gewalt befördert. Dies ist eine der Prämissen des Konzepts eines „schwachen Konstitutionalismus“, das von dem radikaldemo‐ kratischen Verfassungstheoretiker Joel Colón-Ríos formuliert wurde und das für eine konzeptionelle Weiterentwicklung der normativen Grundlagen eines agonalen Konstitutionalismus herangezogen werden kann. Aus der Sicht von Colón-Ríos ist das Volk an einem Verfahren der Verfassungsänderung selbst obligatorisch zu beteiligen, z.B. in Form von obligatorischen Verfassungsreferenden oder der Wahl von Verfassungskonventen.110 Hohe Hürden für Verfassungsänderungen (z.B. hohe Mehrheitsquoren in den Parlamentskammern), die von der konstituierten Gewalt ini‐ tiiert und durchgesetzt werden, sind legitim (und geboten), solange für den pouvoir constituant, also das Volk selbst, eine alternative Option besteht, selber einen (we‐ niger hürdenreichen) Prozess der Verfassungsgesetzgebung in Gang zu setzen. Es könnte z.B. die Möglichkeit bestehen, dass das Volk – nachdem eine bestimmte, in der Verfassung vorgeschriebene Zahl an Unterschriften eingeholt wurde – eine Ver‐ sammlung wählt, die bevollmächtigt wäre, über die Modifizierung der Verfassung zu beraten, und deren Entwürfe in einem Referendum vom Volk bestätigt werden müssten.111 Verfassungsänderungen durch die Institutionen der konstituierten Gewalt wären dann zwar nach wie vor der übliche Weg, aber es wäre verfassungsrechtlich definiert, „dass es sich hierbei nur um einen möglichen Weg handelt, Änderun‐ gen der Verfassung zu implementieren“.112 Wichtig ist aber vor allem der – von Colón-Ríos auf der Basis der in einigen lateinamerikanischen Staaten bedeutsamen Doktrin der „konstitutionellen Substitution“ formulierte – Grundsatz, dass in einem Verfahren der Verfassungsänderung, an dem nur Verfassungsorgane, nicht aber das Volk selbst, beteiligt sind, nicht etwa konstituierende, sondern lediglich konstituierte Macht ausgeübt wird und dass mittels eines solchen Verfahrens die Verfassung nur in einem begrenzten Maße verändert werden kann.113 Reformen, die substantielle Verfassungsprinzipien berühren oder gar auf eine Ersetzung der Verfassung durch ein neues Dokument hinauslaufen, sind laut diesem Paradigma als verfassungswid‐ rig zu betrachten, sofern an ihrer Initiierung, Verabschiedung und Ratifizierung nur die konstituierte Gewalt beteiligt war. Aus einer solchen Perspektive kann die 110 111 112 113
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Vgl. Colón-Ríos 2012, S. 156-168. Hutchinson/Colón-Ríos 2011. Westphal 2018, S. 332, Hervorhebung im Original. Colón-Ríos 2012, S. 136.
von Honig postulierte dauerhafte Offenheit der Verfassung für die Möglichkeit von partiellen „Wieder-Gründungen“ also nur verwirklicht werden, wenn die Träger der konstituierten Gewalt an der Ausübung konstituierender Macht gehindert werden und das Volk zu einer solchen Ausübung befähigt wird. Nur so wäre der von Tully ausgegebenen Maxime entsprochen, dass die Rechtssubjekte in einer Demokratie jederzeit die Möglichkeit haben müssen, „das Recht, konstitutionellen Wandel zu initiieren“, tatsächlich auszuüben.114
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Die Herausforderung rechter Institutionenkritik und -politik
Luzia Sievi Agonale Demokratie und Rechtspopulismus. Institutionenkritik von rechts am Beispiel der Dieselfahrverbote
1. Einleitung Die Wissenschaft1 genießt in Deutschland nach wie vor hohes Ansehen. Das Wis‐ senschaftsbarometer ermittelte 2019, dass 46% der Befragten Wissenschaft und For‐ schung vertrauen, womit diesen mehr Vertrauen als Wirtschaft (27%), Medien (18%) und Politik (17%) geschenkt wird.2 Der Verweis auf Fakten, welche durch wissen‐ schaftliche Studien untermauert wurden, sowie der Rückgriff auf die Aussagen und Ratschläge wissenschaftlicher Autoritäten gelten nach wie vor als Grundlage für die Güte und Überzeugungskraft eines Arguments. Zugleich fand 2017 und 2018 weltweit in hunderten Städten gleichzeitig der „March for Science“ statt, um gegen Wissenschaftsfeindlichkeit zu demonstrieren. Ausgelöst wurden diese Demonstrationen von der Furcht, dass die Wissenschaft in Gesellschaft und Politik an Bedeutung verliert und zunehmend eingeschränkt wird. Insbesondere wurden auch rechte3 Politiken und Politiker*innen und deren Rückgriff auf „alternative Fakten“, „gefühlte Wahrheiten“, Vereinfachungen bis hin zu Lügen und Diffamierungen kritisiert. Die Demonstrierenden sehen in dem Leugnen und der Missachtung wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Untergraben von Wissenschaftlichkeit insgesamt. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, das „postfaktische Zeitalter“ wäre auch durch die Strömung des Postmodernismus und seinem Relativismus begünstigt worden. Dies wird auch gegenüber Chantal Mouffe geäußert, die basierend auf einer poststrukturalistischen Basis eine pluralistische und agonale Demokratietheorie 1 „Die Wissenschaft“ wird im Folgenden verstanden als die Summe wissenschaftlicher Institutio‐ nen, ihrer Normen und ihrer besonderen Arbeitsweise. 2 Vgl. Wissenschaft im Dialog 2019, S. 9f. 3 Wenn im Folgenden von „rechten Politiken“ oder der „Rechten“ die Rede ist, ist damit das Spektrum der rechtspopulistischen bis hin zu rechtsextremistischen Akteur*innen und Gruppen gemeint. Wie in Bescherer et al. (2018, S. 5) aufgezeigt, sind Identitätslabel wie „rechtspopulis‐ tisch“, „rechtsextrem“ oder „rechtsradikal“ durchaus problematisch, weshalb dieser allgemeine‐ re Oberbegriff gewählt wird. „Die Rechte“ ist hierbei nicht als homogene Gruppe, sondern eher als ein Diskurs mit vielen unterschiedlichen Protagonist*innen zu begreifen. Rechte Akteur*in‐ nen können dennoch als Lager zusammengefasst werden, „weil sie sich stark aufeinander bezie‐ hen, sich selbst als Strömung aufstellen, seitens vorliegender Studien so klassifiziert werden und schließlich, weil sie ähnliche Ideen verfolgen“ (ebd.).
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entwirft. Mouffe erachtet „Wahrheiten“ als kontingente, gesellschaftliche Konstruk‐ tionen und sieht in ihrer agonalen Demokratie daher allgemein das Kritisieren und Politisieren von Institutionen als wichtige Praxis an. Zwar äußert sie sich nicht kon‐ kret zu wissenschaftlichen Institutionen. Aber aus ihrer allgemeinen Kritik an Essen‐ tialismen, Universalismen sowie Ausschlüssen von als „irrational“ gebrandmarkten Positionen aus dem politischen Diskurs folgt,4 dass auch wissenschaftliche Institu‐ tionen nicht Kritik und Streit entzogen sein dürfen. Doch wo liegen die Grenzen einer solchen Kritik? Welche Formen und Inhalte der Kritik an Institutionen sollten begrüßt werden, welche müssen agonale Demokrat*innen aushalten und welche hingegen stellen sich als antagonistisch und demokratiegefährdend heraus? Die Auseinandersetzung mit rechter Institutionenkritik ist hierbei hilfreich. Diese nutzt ein breites Spektrum der Kritik, in dem sich sowohl berechtigte Fragen und wichtige Anstöße zu Politisierung und Demokratisierung als auch die Demokratie unterminierende Angriffe finden lassen. Zumindest will die Rechte den Anschein erwecken, Kritik im Namen von Demokratisierung und Volkssouveränität zu üben, indem sie unter Parolen wie „Mut zur Wahrheit“ helfe, „dem Volk“ zu einer Stimme gegenüber den herrschenden Eliten zu verhelfen. Gleichzeitig gibt es von Seiten der Rechten scharfe Angriffe gegen Institutionen, die das Vertrauen in diese erschüt‐ tern.5 Als Beispiel für rechte Kritiken an der Institution Wissenschaft wird im Fol‐ genden der Konflikt um städtische Fahrverbote für Dieselautos in Deutschland diskutiert. Seit es 2019 in diesem Konflikt eine „gefährliche Vermischung einer wissenschaftlichen und einer politisch-ideologischen Debatte“6 gab, kann Jakob Simmanks Urteil zugestimmt werden, dass es in der Fahrverbotsdebatte zu einem Schaden für die Wissenschaft kam. Die Debatte wurde 2019 befeuert, als mehr als hundert Lungenärzt*innen eine Stellungnahme veröffentlichten, in der sie Studien zur Gefährlichkeit von Stickoxiden in Frage stellten und als Fazit zogen, dass „zunehmend die wissenschaftlichen Methoden, insbesondere bei der Bewertung der Größenordnungen, verlassen und durch Ideologien ersetzt“7 würden. Obwohl die Stellungnahme keine wissenschaftlichen Standards erfüllte, war sie eine Steilvorlage für Fahrverbotsgegner*innen, welche sie rasch als „Fakten“ und eine „Versachli‐ chung“ adelten. Gerade in rechten Veröffentlichungen8 wurde der Initiator der Stel‐ 4 Vgl. Mouffe 1993, S. 12, 14f., 141-146. 5 Vgl. hierzu auch die ausführliche Auseinandersetzung mit dem autoritären Populismus und seinen Angriffen auf die liberale Demokratie und ihrer Werte bei Gabriele Wilde in diesem Band. 6 Simmank 2019. 7 Köhler 2019b. 8 Die Quellen, die für diesen Artikel herangezogen werden, entstammen einer umfassenden Do‐ kumentensuche des Forschungsprojekts Podesta (Populismus, Demokratie, Stadt; www.podestaprojekt.de) zu Print- und Internetveröffentlichungen der Rechten mit Stadtbezug. Zu den unter‐ suchten Quellen sowie dem methodischen Vorgehen bei der Dokumentensuche und der Auswer‐
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lungnahme, der Pneumologe Dieter Köhler, als Kronzeuge für die Position rezipiert, die Grenzwerte sowie die Gefährlichkeit von Stickstoffdioxid seien Unsinn und die epidemiologischen Studien ideologisch gefärbt. Auch bei Protestierenden gegen Fahrverbote wurde die Wahrnehmung durch rechte Akteur*innen verstärkt, Köhler sei ein „Held“, der sich dem ideologischen Mainstream in der Wissenschaft mutig entgegengestellt habe und „die Wissenschaft“ habe die Gefahren durch Stickoxide übertrieben oder gar falsch dargestellt. Köhlers Thesen dominierten die Diskussion um Fahrverbote wochenlang, wohingegen wissenschaftliche Fachstudien sowie Stel‐ lungnahmen von Instituten/Gesellschaften9 eher weniger beachtet wurden. An diesem Konflikt kann exemplarisch untersucht werden, wie wissenschaftliche Institutionen (Fachdisziplinen, Institute, Vereinigungen, aber auch einzelne Wissen‐ schaftler*innen, sofern sie als Sprachrohr für die Wissenschaft dargestellt werden) in einen politischen Konflikt hineingezogen, angegriffen und auch instrumentalisiert werden können. Es wird gezeigt, welche Arten der Institutionenkritik durchaus im Sinne der agonalen Demokratie als bereichernd empfunden werden, welche im Sinne der agonistischen Gegnerschaft ausgehalten werden müssen und welchen ent‐ schieden entgegengetreten werden muss, weil sie eine gefährliche, antagonistische Kritik darstellen. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, wie Mouffe basierend auf ihren Thesen der Kontingenz und des Antiessentialismus eine agonale und plurale Demokratie‐ theorie entwirft (Kapitel 2), wie Mouffes Theorie sich zu Institutionen positioniert und welche Form einer Institution Wissenschaft Mouffe in ihrer agonalen Demokra‐ tie verteidigen würde (Kapitel 3). Es wird anschließend problematisiert, warum das „Zeitalter des Postfaktischen“ und die damit einhergehende rechte Institutionenkri‐ tik, insbesondere an der Wissenschaft, die agonale Demokratie vor Herausforderun‐ gen stellt (Kapitel 4). Der Konflikt um Fahrverbote wird in Kapitel 5 skizziert. An diesem Konflikt wird erörtert, wie sich die Rechte in ihrer Auseinandersetzung mit politischen Gegner*innen und der Institution Wissenschaft einerseits Arten von Kritik bedient, die im Sinne eines agonalen Demokratieverständnisses förderlich sind, andererseits auf Mittel zurückgreift, die als antagonistisch abzulehnen sind (Kapitel 6). Im Fazit wird diskutiert, was eine solche hybride Haltung für die agonale Demokratie bedeutet.
tung siehe Bescherer et al. 2018, S. 6-8. Die Suche nach Quellen wurde mit den Schlagworten „Fahrverbot“ und „Diesel“ für diesen Artikel fortgeführt und um „Tichys Einblick“ erweitert. 9 Zu nennen sind hier etwa die Stellungnahme der Internationalen Gesellschaft für Umweltepi‐ demiologie (ISEE) und der European Respiratory Society (ERS) (Peters et al. 2019) und das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. (Schulz et al. 2019). Am meisten Aufmerksamkeit von den wissenschaftlichen Beiträgen bekam das von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Gutachten der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2019).
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2. Mouffes antiessentialistische Demokratie Die Grundlage für Mouffes Demokratietheorie liegt in der Erkenntnis, dass niemand im Besitz einer objektiven Wahrheit ist. „Wahrheiten“ sind keine gesicherten und überzeitlichen Erkenntnisse, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion.10 Men‐ schen stellen Sinn her, indem sie zwischen den Phänomenen der wirklichen Welt Unterschiede etablieren und benennen. Sie erschließen sich die Welt dabei durch die Kontexte bestehender Begrifflichkeiten und Bedeutungsebenen.11 Bestimmte Über‐ zeugungen werden in einer Gemeinschaft deswegen als „natürlich“ und selbstver‐ ständlich angesehen, weil dazugehörige Diskurse hegemonial geworden sind. Das gesellschaftliche Wissen, das in solchen Diskursen ausgebildet wird, ist das Ergebnis von kontingenten Machtprozessen, die bewirken, dass bestimmte Welterklärungen und Sinnzuschreibungen als vernünftig und logisch, andere hingegen als undenkbar angesehen werden. Macht, Politik und Widerstreit sind damit ein unabdingbarer und produktiver Teil der Gesellschaft. Für Mouffe leiten sich aus diesem „Antiessentialismus“, der ihrer Diskursund Hegemonietheorie zugrunde liegt, weder Normen noch eine bestimmte Gesell‐ schaftsform ab. Die Menschen müssen selbst die Form ihrer Gesellschaft durch Politik und das gemeinsame Aushandeln von Werten begründen, ohne auf Legitima‐ tionen wie Gott oder die Natur zurückgreifen zu können. Die Wahl von Normen und einer Gesellschaftsform sind daher immer Entscheidungen. Mouffe selbst entschei‐ det sich für ethische Werte, die im Einklang mit ihrer antiessentialistischen Theorie stehen und die sie zugleich als demokratisch ansieht: die Akzeptanz von Kontingenz und Grundlosigkeit alles menschlichen Wissens sowie die darauf basierende Kritik an allen essentialistischen Konstruktionen von Wahrheit. Essentialistische Weltbil‐ der, z.B. Naturalisierungen von bestimmten Menschenbildern, die eine Ungleichheit zwischen den Menschen bewirken und/oder Freiheiten einschränken, sollten daher das Ziel von Kritik und Hinterfragungen sein. Basierend auf diesen grundlegenden Werten wird klar, wieso Mouffe als Staatsund Gesellschaftsform die plurale und agonale Demokratie präferiert, da nur diese im Einklang mit der Akzeptanz von Grundlosigkeit sowie von Macht und Antago‐ nismen in der Politik steht. Eine pluralistische Demokratie erkennt verschiedene Positionen zum guten Leben als legitim an und gibt diesen Raum. In ihr werden Entscheidungen durch politische Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern des Demos getroffen und nicht durch Rückgriff auf außerpolitische Wahrheiten festgelegt. Entscheidungen sind zudem immer nur provisorisch und können durch neue Mehrheiten geändert werden. Die Demokratie hat Kritik in ihren Prozessen in‐ stitutionalisiert, indem Amtsträger*innen sich regelmäßigen Wahlen stellen müssen 10 Laclau/Mouffe 1987, S. 106. 11 Vgl. Mouffe 2001, S. 14.
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und alternative Meinungen der Opposition oder in Medien ein wichtiger Teil der Auseinandersetzung sind. Diese Prozeduren stellen sicher, dass die stets vorhande‐ nen Konflikte und Feindschaften so organisiert sind, dass möglichst viele Mitglieder des Demos ihre politischen Kontrahent*innen als Gegner*innen begreifen, die in der politischen Arena einen legitimen Platz haben. Für Mouffe ist die Unterscheidung zwischen Gegnern bzw. Agonisten („adversaries – those who share allegiance to li‐ berty and equality but dispute their interpretation and/or implementation“12) und Feinden bzw. Antagonisten („enemies – those who either do not share these values or who threaten the democratic process”13) zentral. Damit die Gemeinschaft nicht aufgrund unversöhnlicher Meinungsverschiedenheiten auseinanderbricht, muss eine agonale Demokratie gemeinsame Werte vorweisen, mit der sich die Mitglieder iden‐ tifizieren können, aber zugleich größtmögliche Freiheiten haben. Mouffes agonale Demokratie bietet hierfür einen „konflikthaften Konsens“14 an: Die Mitglieder des Demos bekennen sich zu den Werten Freiheit und Gleichheit, allerdings bleibt es Teil der konflikthaften Auseinandersetzung, wie diese Werte zu interpretieren sind.15
3. Institutionen in der agonalen Demokratie Auch politische und soziale Institutionen werden in Mouffes agonaler Demokratie aus der antiessentialistischen Perspektive beurteilt. Sofern Institutionen essentialisti‐ sche Diskurse forttragen und/oder politische Konflikte einer Gesellschaft entpoliti‐ sieren, sollten sie hinterfragt werden. Institutionen als „relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulieren‐ der und orientierender Funktion“16 sind immer auch Verfestigungen von Machtstruk‐ turen und können damit Ungleichheit und Unfreiheit befördern. Es muss daher je‐ derzeit möglich sein, von ihnen ausgehende Unterdrückungsmechanismen politisch bekämpfen zu können. In Mouffes Sichtweise ist keine Institution unpolitisch.17 Jede Institution beruht auf durch Diskurse gefestigte Machtstrukturen, welche ihr die notwendige gesell‐ schaftliche Akzeptanz verschaffen und welche die Institution oftmals als außerhalb Lowndes/Paxton 2018, S. 698. Ebd. Mouffe 2014, S. 200. Vgl. Mouffe 2000, S. 102f., Mouffe 1993, S. 130. Göhler 2004, S. 212. Für eine differenzierte Betrachtung verschiedener Definitionen von Insti‐ tutionen siehe Malte Miram in diesem Band. 17 Damit ist nicht gemeint, dass alle Institutionen „politische Institutionen“ im Sinne von Malte Mirams Definition in diesem Band sind, d.h. dass diese Institutionen in einem Mouffeschen Sinne agonistisch-plural sind. Vielmehr ist gemeint, dass auch als unpolitisch angesehene Insti‐ tutionen Politik betreiben, indem sie mittels ihrer scheinbaren Objektivität „eine bestimmte Ordnung zu etablieren versuchen“ (Mouffe 2008, S. 102f.).
12 13 14 15 16
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der Politik stehend, natürlich oder objektiv darstellen. Daraus kann ein ganz eigener politischer Einfluss entstehen. Ein Beispiel hierfür wäre die Verlagerung von Ent‐ scheidungen an Expertengruppen, die eine „unpolitische“, „alternativlose“ und/oder „vernünftige“ Lösung finden sollen, welche die Politik dann umsetzt. Für Mouffe stellt ein solches Vorgehen eine negative, weil undemokratische Entpolitisierung dar. Sie macht darauf aufmerksam, dass vermeintliche Entpolitisierungen immer höchst politische Akte sind: Es zeugt von einer besonders starken Hegemonie, wenn über ein bestimmtes Thema keine Auseinandersetzungen mehr geführt werden, sondern bestimmte Sachverhalte als gesetzt gelten. In der agonalen Demokratie geht es nach Mouffes darum, die Machtstrukturen solcher starken Hegemonien zu dekonstruieren und wieder der demokratischen Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Hier muss auch die Wissenschaft in den Blick genommen werden: In der heutigen Zeit, in der die Religion keine zentrale Instanz mehr ist, werden in politischen Kon‐ flikten gerne wissenschaftliche Aussagen von scheinbar neutralen Institutionen und Expertenkomitees als Letztargument herangezogen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien, welche die eigene Meinung zu stützen vermögen, werden als unum‐ stößliche Wahrheiten und Fakten dargestellt, um die eigenen politischen Ansichten zu legitimieren. Dies selbst dann, wenn die Urheber*innen von wissenschaftlichen Arbeiten nicht den gleichen Anspruch von Wahrheit erheben und in ihren Studien viel mehr Unsicherheiten offenlegen, als von den politischen Akteur*innen vermit‐ telt wird. Mouffe kann für ihre eigene Theorie der agonalen Demokratie konsequenterwei‐ se nicht selbst bestimmte Institutionen genauer ausarbeiten und festlegen. Ein sol‐ ches Vorgehen entspräche nicht dem Grundsatz ihrer agonalen Demokratie, dass es keinen gesellschaftlichen Bereich geben darf, der nicht in der demokratischen Auseinandersetzung auf dem Prüfstein stehen kann. Mouffe muss daher offen dafür bleiben, dass sich eine Gemeinschaft im Prozess der politischen und demokratischen Praxis für bestimmte Institutionen entscheidet. Zugleich steht Mouffe Institutionen nicht per se ablehnend gegenüber. Jeder Diskurs, auch der demokratische, baut auf vorangehenden Diskursen auf, aus deren Denkmustern nicht völlig ausgebrochen werden kann. Die agonale Demokratie kann in diesem Sinne nur durch eine langsame Evolution der jetzigen liberalen Demokra‐ tien eingeführt werden. Mouffe schlägt daher vor, auf liberale Institutionen zurück‐ zugreifen, da diese durchaus in der derzeitigen Situation der westlichen Demokratien sinnvoll und notwendig sind, z.B. um Freiheitsrechte zu sichern18 oder um den Akti‐ onsradius radikaldemokratischer Bemühungen zu erhöhen19. Als Beispiele nennt sie die Trennung von Kirche und Staat, die Gewaltenteilung, die Begrenzung der Staats‐
18 Vgl. Mouffe 1993, S. 109. 19 Vgl. Mouffe 2005a, S. 29 und 39.
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macht20 sowie Institutionen des Wohlfahrtsstaates.21 Die positiven Seiten dieser Institutionen sollen übernommen und negative Seiten von innen heraus hinterfragt und reformiert werden. Mouffe äußert sich nicht direkt zur Beziehung zwischen der Institution Wissen‐ schaft und der agonalen Demokratie. Sie hat jedoch eine differenzierte und kritische Sichtweise auf die Machtstrukturen und Hegemonien, die auch in der Wissenschaft vorhanden sind. Eine agonale Demokratie will – basierend auf dem eigenen Kontin‐ genzbewusstsein – kein Bild einer Wissenschaft befördern, die in der Lage sei, letzte Wahrheiten zu proklamieren. Wissenschaft soll gerade nicht dazu beitragen, dass politische Diskussionen abgebrochen werden. Selbst eindeutige Erkenntnisse bedür‐ fen der politischen Gewichtung. Eine alternativlose Ableitung bestimmter politischer Entscheidungen aus wissenschaftlicher Erkenntnis, d.h. eine Hegemonie durch die Wissenschaft, lehnt die agonale Demokratie ab. Mouffes Schriften könnten daher dahingehend interpretiert werden, dass in einer radikalen Demokratie die Wissenschaft nur ein „Sprachspiel“, nur eine Stimme unter vielen im politischen Diskurs sein und keine hegemoniale Rolle einnehmen sollte. So lehnt Mouffe rein rationale Begründungen für ein politisches Gemeinwesen durch deliberative Theoretiker wie Rawls und Habermas ab.22 Für sie bedeutet Ra‐ tionalität nicht automatisch Neutralität oder Unparteilichkeit, sondern vielmehr eine Verdrängung des Politischen und einen machtvollen Ausschluss von unerwünschten Sichtweisen. „But who decides what is and what is not ‘reasonable’? In politics the very distinction between ‘reasonable’ and ‘unreasonable’ is already the drawing of a frontier; it has political character and is always the expression of a given hegemony. What is at a given moment deemed ‘rational‘ or ‘reasonable’ in a community is what corresponds to the dominant language games and the ‘common sense’ that they construe. It is the result of a process of ‘sedimentation’ of an ensemble of discourses and practices whose political character has been elided.”23
Analog dazu, so könnte argumentiert werden, ist es abzulehnen, wenn Entschei‐ dungsträger*innen die Wissenschaft als alleinige Quelle von Erkenntnis ansehen. Diese Hegemonie der Wissenschaft birgt selbst Gefahren. In der Vergangenheit wurden Erkenntnisse von Wissenschaftler*innen immer wieder dazu benutzt, um Unterdrückung und Ungleichheit zu rechtfertigen – etwa indem people of color oder Frauen als „nicht rationale“, „emotionale“ oder „hysteri‐ sche“ Akteur*innen diskriminiert wurden –, was ein Beispiel für die von Mouffe kritisierten machtvollen Ausschlüsse im Namen einer vermeintlichen Rationalität ist. 20 21 22 23
Vgl. Mouffe 1993, S. 105. Vgl. Mouffe 2005a, S. 45. Vgl. Mouffe 1993, S. 139-147; Mouffe 2008, S. 69-84. Mouffe 1993, S. 142f.
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Die Wissensbestände, welche für politisches Entscheiden notwendig sind, könnten in einer pluralen Demokratie auch von anderen Institutionen, wie etwa religiösen Institutionen, produziert werden. Daraus könnte geschlussfolgert werden, dass wis‐ senschaftliche Institutionen als Vertreter von Rationalität von Mouffe eher kritisch gesehen werden und keine besondere Position für die radikale Demokratie haben sollten. In diesem Artikel soll jedoch eine andere Interpretation von Mouffes Theorie präferiert werden: Wird Mouffes Theorie weitergedacht, so stellen wissenschaftli‐ che Institutionen eine begrüßenswerte Bereicherung sowie wichtige Säule für eine agonale Demokratie dar. Mouffe ist sich bewusst, dass politische Entscheidungen immer auf einer Basis von vorhandenem Wissen getroffen werden, auch wenn dieses Wissen auf keinem festen Grund steht. Sie vertritt das Ideal der phronesis: Auch ohne letzte Wahrheit kann innerhalb der Denktraditionen und Informationen, die zur Verfügung stehen, situationsangemessen ein gut begründetes Urteil getroffen werden.24 In der agonalen Demokratie müssen politische Akteur*innen im Sinne der phronesis, der Ablehnung von Unterdrückungsverhältnissen sowie der Werte Freiheit und Gleichheit bestrebt sein, auf verschiedene Weisen informiert zu werden und das bestmöglich geprüfte Wissen zu erlangen. Die Wissenschaft ist insofern eine Bereicherung für eine pluralistische Gesellschaft, da sie vielfältige, und zum Teil inkommensurable, Wissensbestände zur Verfügung stellt, um auf Basis der phronesis Entscheidungen fällen zu können. Sie kann eine wichtige Säule für eine agonale Demokratie darstellen, da sie das Potenzial besitzt, mit den Werten der agonalen Demokratie – Kontingenzbewusstsein, Kritik, Freiheit und Gleichheit – zu harmonieren.25 Die meisten modernen Wissenschaftstheorien erfüllen das zentra‐ le Kriterium der agonalen Demokratie, dass wissenschaftliche Institutionen eine Wissenschaftskultur vertreten sollten, bei der das eigene Kontingenzbewusstsein im Zentrum steht. Wissenschaftliche Institutionen sind sich daher bewusst, dass Wissenschaft kein überzeitlich gültiges und objektives Wissen produziert, sondern nur das jeweils aktuell am besten geprüfte Wissen und die vorläufig plausibelsten Theorien herausarbeiten kann. Sie ist hierbei bislang die einzige Institution, die kritisches Denken institutionalisiert hat, indem sie sich nicht vor der möglichen Fal‐ sifikation der eigenen Position immunisiert, und die eine kritische Hinterfragung der eigenen Erkenntnisse als notwendigen Bestandteil des wissenschaftlichen Prozesses begrüßt. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Hinterfragung von Machtstrukturen, indem sie mit ihrer kritischen Herangehensweise Ressourcen bereitstellt, um den Status quo zu kritisieren. Damit kann sie potentiell Ungleichheit und Unfreiheit verringern. Hierzu muss freilich möglichst frei und unabhängig von vorherrschenden 24 Vgl. Mouffe 1993, S. 14f. 25 Vgl. hierzu Malte Mirams Definition politischer Institutionen und ihrer wünschenswerten Eigenschaften (z.B. eine „Kontingenzaushaltekompetenz“) in diesem Band.
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Machtstrukturen geforscht werden, müssen transparent eigene Werte und Abhängig‐ keiten offengelegt und muss eine Pluralität an wissenschaftlichen Einrichtungen und Personal sowie an Methoden kultiviert und gefördert werden. All dies sind wichtige Prinzipien und Ideale der wissenschaftlichen Institutionen. Es zeigt sich, dass die Normen der agonalen Demokratie sowie die Normen moderner Wissenschaftstheori‐ en miteinander vereinbar sind. Da es derzeit keine andere Institution gibt, welche die für politische Entscheidungen notwendigen Wissensbestände im Einklang mit den Kernwerten der agonalen Demokratie produziert, lässt sich ableiten, dass grundle‐ gende wissenschaftliche Werte sowie Institutionen der Wissenschaft (wissenschaftli‐ che Institute, Forschungsverbände, Universitäten, wissenschaftliche Expertengrup‐ pen etc.) als wichtiger Teil eines radikaldemokratischen Staates angesehen werden müssen.
4. Die Problematik des Postfaktischen Der Antiessentialismus, der Mouffes agonaler Demokratie zu Grunde liegt, hat ihr viele Kritiken eingebracht. Wie auch die Strömungen des Poststrukturalismus und der Postmoderne wurde sie beschuldigt, einem gefährlichen Relativismus den Weg zu bereiten.26 Die liberale Demokratie könne nicht verteidigt werden, wenn die Grundlagen von demokratischen Werten, Menschenrechten und liberalen Institutio‐ nen dekonstruiert und in Frage gestellt würden. Mit einem postmodernen „anything goes“ könne Kritiker*innen der Demokratie nicht wirkungsvoll entgegengetreten werden. Seit dem Vormarsch rechtsextremer und -populistischer Parteien in Europa und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ist diese Kritik wieder hochak‐ tuell. Es wird der postmodernen Dekonstruktion von Wahrheitsansprüchen vorge‐ worfen, dass sie dazu beigetragen habe, dass das „Zeitalter des Postfaktischen“ angebrochen sei.27 Albrecht Koschorke beispielsweise argwöhnt, „dass der fröhli‐ che Relativismus der Postmodernen, zumal ihre Rede von der Realität als einem kulturellen Konstrukt, allererst das Feld für das Machtgebaren postfaktischer Politik bereitet habe“.28 Vor allem die Dekonstruktion von Machtstrukturen, die für Mouffe ein so zen‐ traler Wert für die Demokratie ist, wird nun auch von der Rechten angewandt. Diese nutzt die Rechte dazu, um die liberale Demokratie anzugreifen. Zum einen verwendet die Rechte die postmoderne Erkenntnis, dass auch in der Wissenschaft Macht eine Rolle dabei spielt, welche Aussagen von wem als vernünftig, logisch 26 Vgl. eine Zusammenfassung dieser Kritiken in Sievi 2017, S. 15f., 158. 27 Vgl. Pluckrose 2017. 28 Koschorke 2018.
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und wissenschaftlich gelten. Dies macht es der Rechten leichter, wissenschaftliche Studien anzuzweifeln und eigene „alternative Fakten“, „gefühlte Wahrheiten“ oder religiöse Überzeugungen als Argumente in politische Diskussionen einzubringen. Auch in Deutschland finden sich „postfaktische“ Aussagen in der Politik.29 Mit einer postmodernen Einstellung kann es schwerfallen, solchen Aussagen entgegen zu treten: „Eine Linke, die nicht daran glaubt, dass es Meinungen und Fakten, Lügen und Wahrheit, verbale und reale Gewalt, falsch und richtig gibt, hat rechten Lügnern, Leugnern und Tätern argumentativ wenig entgegenzusetzen“.30 Zum anderen kritisiert die Rechte auch liberal-demokratische Institutionen und verstärkt das postmoderne Hinterfragen hin zu einem grundlegenden Misstrauen. Yascha Mounk befürchtet, dass das demokratische Ideal des Hinterfragens dazu führte, dass die Bürger*innen zunehmend an Verschwörungstheorien glauben und sich „von Machthabern und Medienmachern belogen und betrogen“31 fühlen. „Die jüngste Unterstützung für Rechtspopulisten ist also nicht Resultat unkritischer Ak‐ zeptanz eines gesellschaftlichen Konsenses, sondern Folge mangelnden Grundver‐ trauens in freiheitliche Institutionen“.32 Im Extremfall werden die liberalen Demo‐ kratien gar als repressive Staaten, als „Demokratur“ oder „DDR/Stasi 2.0“ gebrand‐ markt. Der postmoderne Versuch, Machtstrukturen gegenüber Ausgeschlossenen und Minderheiten aufzudecken, wird von der Rechten instrumentalisiert, um sich selbst als unterdrückte Minderheit und Opfer von Gewalt zu inszenieren. Postmoder‐ ne Linke stehen, wie Koschorke aufzeigt, vor einem Dilemma: „Wie verteidigt man die Institutionen, innerhalb deren Machtkritik praktiziert werden kann? Auf welcher normativen Grundlage kann dies geschehen?“33 Eine Lösung Mouffes für dieses Dilemma ist, zur Legitimation der Demokratie nicht auf letzte Wahrheiten und universale Werte zu setzen, sondern mit Hilfe eines hegemonialen Diskurses demokratische Praktiken, Rituale und Lebensformen zu praktizieren und zu verfestigen (die unter dem Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit in sich eine große Offenheit und Diversität haben sollen). Statt einer rein rationalen Argumentation sollten Identifikationsmöglichkeiten mit demokratischen Werten und Tätigkeiten angeboten werden. „Only when individuals recognize that their identity – which is of course an identity that they must value – depends on the existence of the liberal democratic form of life will they be prepared to defend those institutions and to fight for them when needed”.34 Doch es zeigt sich, dass die Rechte derzeit sehr erfolgreich Hegemonien aufbaut, die ein rechtes Lebensgefühl und rechte Einstellungen verbreiten. Vor allem jüngere 29 30 31 32 33 34
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Vgl. Jaster/Lanius 2019, S. 17f. Stöcker 2017. Mounk 2017. Ebd. Koschorke 2018. Mouffe 2000, S. 91.
Leute sollen damit gewonnen werden, dass sie mit rechtsnationalistischen Haltungen gegen den „linksgrünen Mainstream“ opponieren können. Sie sollen das Gefühl ha‐ ben, eine Gegenkultur zum Status quo zu bilden. Viele Rechte sehen sich überdies als die wahren Kritiker*innen, die die Ungerechtigkeiten der vorherrschenden De‐ mokratien aufdecken. Die Problematik des Postfaktischen verdeutlicht, dass die Theorie der agonalen Demokratie sich der Aufgabe stellen muss, wie Institutionen kritisiert und politisiert werden können, ohne dass dies dazu führt, dass mitsamt den Institutionen zugleich demokratische Praktiken und Werte sowie die demokratische Staatsform in Frage gestellt und unterminiert werden. Diese Problematik wird im Folgenden am Beispiel des Konflikts um Fahrverbote für Dieselautos diskutiert. Dieses Beispiel bietet sich an, da es in einem überschaubaren Konflikt typische Muster von Kritik an wissenschaftlichen Institutionen aufzeigt, die sich auch in anderen Konflikten (etwa derzeitig bei der Diskussion um den Klimawandel, aber früher auch bei der Diskus‐ sion um die Schädlichkeit von Nikotin oder von saurem Regen35) finden. Zudem zeichnen sich in diesem Beispiel die Kritiken an der Wissenschaft durch einen relativ diversen Umgang mit Wissenschaft – sowohl stützend als auch angreifend – aus, so dass sowohl ein agonistisches als auch antagonistisches Verhalten bezüglich der Wissenschaft diskutiert werden kann.
5. Der Konflikt um Fahrverbote Im Frühjahr 2019 erreichte der politische Konflikt um Fahrverbote für Dieselautos seinen Höhepunkt. In vielen deutschen Städten demonstrierten Menschen gegen dro‐ hende Fahrverbote. Vor allem in Stuttgart nahmen an den von Januar bis Juni wö‐ chentlich durchgeführten Demonstrationen verschiedener Veranstalter*innen36 in ihren Hochzeiten über tausend Menschen teil, die gegen die seit 1. Januar 2019 gel‐ tenden stadtweiten Verkehrsverbote für Dieselautos der Abgasnorm Euro 4/IV und schlechter protestierten. Die Maßnahme der Dieselfahrverbote wurde in verschiede‐ nen Städten erlassen, weil Anwohner*innen und der Verein Deutsche Umwelthilfe (DUH) erfolgreich vor Gerichten eingeklagt hatten, dass die Überschreitung von Grenzwerten für Stickstoffdioxide gegen geltendes Recht verstößt.37 35 Vgl. hierzu Oreskes/Conway 2015. 36 In Stuttgart bildeten sich drei Gruppen von Fahrverbotsgegner*innen aus. Am meisten Zulauf hatte eine als „überparteilich“ bezeichnete Demonstration. Diese duldete keine Parteilogos und Reden von Politiker*innen, vor allem, um einer Vereinnahmung durch die AfD zu entgehen. Ebenfalls organisierte ein Bündnis von CDU, FDP und Freien Wählern Demonstrationen. Die Stuttgarter AfD veranstaltete ebenfalls eigene, recht spärlich besuchte Demonstrationen. 37 In Deutschland gilt für den Luftschadstoff Stickstoffdioxid NO2 ein Grenzwert von 40 µg/m3 im Jahresmittel für die Belastung im Freien, wobei nicht mehr als 18 Mal im Jahr der 1-Stun‐ den-Grenzwert von 200 µg/m3 überschritten werden darf. Diese Grenzwerte beruhen auf der
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Im Frühjahr 2019 hatte die Debatte um Dieselfahrverbote die meiste mediale Aufmerksamkeit. Eine Teilnehmergruppe im Diskurs um die Fahrverbote stellt die Rechte dar, die derzeit versucht, Konflikte um Umweltthemen zu einem großen Mo‐ bilisierungsthema zu machen. In rechten Zeitschriften (wie Compact, Junge Freiheit, Tichys Einblick), Social-Media-Kanälen (Facebook, Youtube) und Veröffentlichun‐ gen der AfD werden regelmäßig Beiträge zu den Fahrverboten gebracht, um deren Unsinnigkeit, Ungerechtigkeit und Gefährlichkeit zu betonen. Die Rechte greift in vielen Fällen Argumente auf, die auch von nicht-rechten politischen Akteur*innen vorgebracht werden. Interessant ist jedoch die Zu- und Überspitzung, die von der Rechten vorgenommen wird. Wie an Redebeiträgen und Plakaten der Demonstrie‐ renden gesehen werden kann, schafft es die Rechte durchaus, den Diskurs mitzuprä‐ gen, denn es finden sich überspitzte oder nationalistische Argumente, Emotionalisie‐ rungen und Verschwörungstheorien der Rechten bei den Demonstrierenden wieder38 oder es wird von Seiten der Demonstrierenden auch auf rechte Seiten verlinkt.39
6. Die Institution Wissenschaft im Konflikt um Dieselfahrverbote Die Rechte geht in der Auseinandersetzung um Fahrverbote mit Aussagen von Wissenschaftler*innen und wissenschaftlichen Instituten auf verschiedene Weisen um. Hierbei sind aus der Sichtweise der agonalen Demokratietheorie agonistische Strategien des politischen Kampfes von jenen der antagonistischen zu unterscheiden. Erstere sind legitime Strategien im Ringen mit dem politischen Gegner um gesell‐ schaftliche Entscheidungen. Letztere hingegen greifen nicht nur den politischen Feind an, sondern schaden auch der Demokratie an sich. Wie sich im Folgenden
europäischen Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG, die 2010 in der 39. Verordnung zum Bundes‐ emissionsschutzgesetz in deutsches Recht überführt wurde. Die europäische Luftqualitätsricht‐ linie begründet ihre Grenzwerte mit Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO so‐ wie durch das in Europa gültige Vorsorgeprinzip, „das denkbare Belastungen für Umwelt und menschliche Gesundheit im Voraus vermeiden oder weitgehend verringern will“ (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2019, S. 4). Da in Stuttgart der Grenzwert für Stick‐ stoffdioxid immer noch überschritten wird, urteilte das Verwaltungsgericht Stuttgart 2017 und 2018, dass eine schnellstmögliche Einhaltung der Grenzwerte geboten sei. Daher seien stadtweite Fahrverbote für Dieselautos der Euronorm 5 und schlechter als wirksame Maßnah‐ me im Luftreinhalteplan der Stadt vorzusehen. Diese Auffassung des Gerichts sowie die Ver‐ hältnismäßigkeit der Fahrverbote wurde 2018 vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig bestä‐ tigt. 38 Dies konnte bei teilnehmenden Beobachtungen der verschiedenen Anti-Fahrverbots-Demons‐ trationen in Stuttgart durch Mitarbeiterinnen des Projekts Podesta festgestellt werden. 39 So beispielsweise verlinkt die Seite „dieseldemo.de“ auf ihrer Startseite auch zu einer Artikel‐ sammlung zu Dieselfahrverboten des Parteimagazins AfD Kompakt sowie unter https://dieseld emo.de/presse/ auf Tichys Einblick oder auf die Achse des Guten, deren Artikel teilweise als Fachartikel markiert sind (download am 19.12.2019).
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zeigen wird, wendet die Rechte im Konflikt um Fahrverbote für Dieselautos eine Mischung aus agonistischen und antagonistischen Vorgehensweisen an.
6.1 Politisierung und Entpolitisierung Die Problematik zu vieler Schadstoffe in der Luft und Maßnahmen zu ihrer Vermin‐ derung wurden von regierenden politischen Akteur*innen viele Jahre nur unzurei‐ chend angegangen. Erst Klagen vor Gerichten bewirkten, dass Luftreinhaltepläne für betroffene Städte erstellt wurden und deren Maßnahmen immer weiter verschärft wurden. Viele der von der Politik beschlossenen Maßnahmen konnten keine unmit‐ telbaren, sondern maximal langfristige Wirkungen erzielen. Die Gerichte machten deutlich, dass die Anwohner*innen ein Recht auf eine zügige Verbesserung der Luft haben, daher machten sie selbst klare Vorgaben zu Fahrverboten für Dieselautos. Von Seiten der Politik wurde die politische Verantwortung weiterdelegiert: Es müss‐ ten die Vorgaben der Gerichte und der EU eingehalten werden, so beispielsweise Ministerpräsident Winfried Kretschmann. „Da nützt keine Demonstration was“.40 In ähnlicher Weise werden die Grenzwerte verteidigt: Diese seien geboten aufgrund der wissenschaftlichen Studien, welche die WHO durchgeführt hatte, und des wis‐ senschaftlichen Konsenses zur Schädlichkeit von Stickstoffoxiden und Feinstaub.41 Diese Vorgehensweisen der Regierungen erscheinen im Gesamtbild wie Versuche der Entpolitisierung des Konflikts, indem auf „unpolitische“ Instanzen verwiesen wird. Die Rechte beklagt zudem, dass die AfD-Position in einer Bundestagsdebatte als moralisch illegitim und populistisch gebrandmarkt worden sei.42 Insofern Mouf‐ fe in der Moralisierung von Dissensen eine weitere Form von Entpolitisierung er‐ kennt,43 ist das Argument, dass die Grenzwerte politisch und nicht wissenschaftlich festgelegte Werte sind, aus Sicht der agonalen Demokratietheorie begrüßenswert. Damit versuchen die Fahrverbotsgegner*innen, als eine Extremposition der Debatte, den Konflikt wieder mehr zu politisieren. Auch die Politisierung der Grenzwerte an sich ist nicht wissenschaftsfeindlich: Zwar werden wissenschaftliche Erkenntnisse z.B. zu Risikoabschätzungen für die Grenzwertbestimmung herangezogen, aber es ist immer eine politische Abwägung, welche Gefahren für welche Gesellschaftsgruppen in Kauf genommen werden und wie vorsichtig eine Gesellschaft leben möchte. Im Konflikt um Fahrverbote besteht ein Terrain der Unsicherheit, in dem sich nicht klar bestimmen lässt, ab welchen
40 41 42 43
Stuttgarter Nachrichten 2019. Vgl. zusammenfassend Woratschka et al. 2019. Vgl. Horn 2018. Vgl. Mouffe 2005b, S. 57f.
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Luftwerten es Gesundheitsgefährdungen gibt, die massive Einschränkungen der bis‐ herigen Lebensstile rechtfertigen: „Weder für Stickstoffdioxid noch für Feinstaub ist eine exakte Grenzziehung zwischen gefährlich und ungefährlich im Sinne eines Schwellenwerts möglich, unterhalb dessen keine Gesundheitseffekte zu erwarten sind. Das erschwert die Abwägung zwischen vor‐ sorgendem Gesundheitsschutz und gesellschaftlichen Kosten und Belastungen.“44
In Europa gilt die Politik des Vorsorgeprinzips, die besonders vorsichtig mit mögli‐ chen Gefahren umgeht und daher auch schon Schutz verlangt, wenn eine mögliche, aber noch nicht eindeutig feststellbare Gesundheitsgefährdung besteht. Es ist im Sinne der agonalen Demokratie, transparent zu kommunizieren, dass die Grenzwerte nicht von wissenschaftlichen Institutionen bestimmt werden (sollten), weil die Fest‐ legung auf einen Grenzwert eine politische Entscheidung darstellt. Während die Tatsache, dass die Grenzwerte durch die Fahrverbotsgegner*innen re-politisiert wurde, begrüßenswert ist, muss genauer betrachtet werden, wie dies geschehen ist. Denn hier zeigen sich auf Seiten der Rechten ebenfalls Versuche einer Entpolitisierung, nur zu ihren Bedingungen. Anstatt die politischen Entscheidungen zu den Grenzwerten zu diskutieren (wie deren Höhe oder das europäische Vorsorge‐ prinzip), wird als eines der Hauptargumente ins Feld geführt, die Grenzwerte seien „willkürlich“45 und „zufällig“46 beschlossen worden und „unwissenschaftlich“.47 Es wird das Bild vermittelt, eine politische Entscheidung für Grenzwerte sei unange‐ bracht und „diktatorisch“.48 Es wird damit impliziert, dass nicht politische Institu‐ tionen die (politische) Grenzwertbestimmung vornehmen sollten. Als Konsequenz folgt daraus, dass wissenschaftliche Institutionen (Expertengruppen oder andere) die Grenzwerte festlegen müssten (oder klare Empfehlungen geben sollten, an welche sich die Politik halten solle). Dies ist zunächst scheinbar eine Festigung dieser Institutionen. Allerdings kann diese Forderung dazu beitragen, die Arbeitsweise wissenschaftlicher Institutionen zu unterminieren: Indem ein essentialistisches Bild von Wissenschaft (Wissenschaft als die Verkünderin von Wahrheiten) vermittelt wird, wird der Eindruck erweckt, die Wissenschaft könne klare Antworten liefern. Solche eindeutigen Antworten werden von der Rechten auch als Grundlage für politische Entscheidungen erwartet: Es müsse direkt nachgewiesen werden, dass Stickoxide schädlich sind, andernfalls solle der Grenzwert auf einen höheren Wert gesetzt werden.49 Zusätzlich müssten die 44 45 46 47 48 49
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Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2019, S. 9. Reinhold 2019, S. 44; AfD Kompakt 2018b. Douglas 2019. AfD Fraktion Baden-Württemberg 2019b. AfD Kompakt 2018b. Vgl. Douglas 2019. Solch eine Politik in Bezug auf Gefahrenquellen ist durchaus möglich und wird in anderen Ländern auch angewandt (vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leo‐ poldina 2019, S. 34). Eine Abänderung der europäischen Politik der Gesundheitsvorsorge
geltenden Grenzwerte wissenschaftlich überprüft werden.50 Es entsteht damit das Bild, eine einzige wissenschaftliche Untersuchung könne die Frage nach der Gefähr‐ lichkeit abschließend klären, eindeutige Aussagen könnten gefunden werden und es müsse nicht mehr politisch verhandelt werden.51 Dies erzeugt ein unzutreffendes Bild der wissenschaftlichen Arbeitsweise, die darauf beruht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse unter Umständen aus Näherungen, indirekten Beobachtungen oder Ausschlussdiagnosen bestehen und die selbst anerkannte Erkenntnisse immer wieder neu auf den Prüfstand stellt. Dieses falsche Verständnis von Wissenschaft kann dazu genutzt werden, um bewusst Skepsis zu wecken, sobald (wie im Fall der Stickstoff‐ dioxide) keine eindeutigen und abschließenden Ergebnisse vorliegen. Politisches Handeln kann damit blockiert werden, wie es derzeit beim Klimaschutz der Fall ist, bei dem Klimawandelleugner*innen mit ihrer Forderung nach Eindeutigkeiten er‐ folgreich Zweifel sähen und Maßnahmen verhindern. Auch im Fall der Fahrverbote werden derzeit Moratorien und/oder die Lockerung der Grenzwerte verlangt.52
6.2 Der Kampf um Hegemonie Das Phänomen der Entpolitisierung ist ebenfalls zu beobachten, wenn sich zu einem bestimmten Thema eine starke Hegemonie bildet, so dass bestimmte Diskurse als selbstverständlich und alternativlos erscheinen. Solche Hegemonien werden heutzu‐ tage oftmals mit der Autorität wissenschaftlicher Institutionen oder einem Konsens der Wissenschaftler*innen zu bestimmten wissenschaftlichen Ergebnissen begrün‐ det. Im Fall der Luftschadstoffe wird von der Rechten eine solche Hegemonie bezüglich der wissenschaftlichen Ergebnisse beklagt: „Für die Öffentlichkeit gab es keinen Grund zu zweifeln, schließlich war die ‚Gefahr‘ amtlich festgestellt: 50.000 Lebensjahre büßten die Deutschen jährlich durch Stickstoff‐ dioxid und Feinstaub, vor allem aus Dieselabgas, ein. Das entspreche 6.000 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr, teilte das Umweltbundesamt mit und stützte sich dabei auf Studien renommierter Institute. Lange schien es, die Zahlen seien wissenschaftlich unumstrit‐ ten.“53
50 51
52 53
müsste aber (im Sinne der agonalen Demokratie) offen kommuniziert werden und nicht als selbstverständlich, weil wissenschaftlich geboten, dargestellt werden. Vgl. AfD Fraktion im Bundestag 2019b. Und dies auch recht zügig: „Wäre unser Antrag [zur „erstmaligen“ Überprüfung der Grenzwer‐ te, Anm. L.S.] vor einem Jahr angenommen worden, hätten wir heute schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Überprüfung, und in Stuttgart und anderswo könnten Fahrverbote ver‐ mieden werden“ (AfD Fraktion im Bundestag 2019a). Vgl. AfD Fraktion im Bundestag 2019d. Mark 2019a.
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Starke Hegemonien gehen immer mit Machtstrukturen einher, die alternative Posi‐ tionen marginalisieren und/oder unterdrücken. Solche Unterdrückungen durch die von der Rechten behauptete Hegemonie über die Gefährlichkeit von Stickoxiden zeigen sich für die Rechte beispielsweise in Talkshows. In diesen bemühe sich die Regie „die Reihen wieder zu schließen“, indem der fahrverbotskritische Lungen‐ arzt Dieter Köhler „eingehegt“ und seine Thesen „diskriminiert“ würden.54 Auch dass ein Kommentar zu Köhlers Artikel in der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt mit dem Verweis „Manche Leser werden durch den vorherigen Beitrag verunsichert“55 beginnt, wird kritisiert: „Da manche Leser durch Köhlers Beitrag ‚verunsichert‘ wer‐ den könnten, fügt die Ärzteblatt-Redaktion zur Festigung der herrschenden Meinung eine Stellungnahme des Münchner Umweltmediziners Joachim Heinrich an.“56 Es ist das erklärte Ziel der agonalen Demokratie, Hegemonien und Unterdrü‐ ckungsverhältnisse aufzudecken. Dies gilt auch für die Forschung, zu deren eigener wissenschaftlicher Arbeitsweise es gehört, eine strenge gegenseitige Prüfung vorzu‐ nehmen. Es ist eine basale Einsicht wissenschaftlichen Arbeitens, dass die Güte von wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht von einer Person allein sichergestellt werden kann, sondern dass Erkenntnisse immer wieder von Wissenschaftler*innen aus mul‐ tiplen Perspektiven kritisch hinterfragt und auf Fehler getestet werden müssen. Es ist daher nicht zu kritisieren, wenn Nachfragen (egal ob aus der Fachexpertise oder von Laien) an Forschungseinrichtungen gestellt, Gegenargumente ins Feld geführt oder weitere Forschungstätigkeiten angeregt werden. Wenn Wissenschaftler*innen versuchen, mit ihren Thesen und Ergebnissen Geltung innerhalb des wissenschaftli‐ chen aber auch des politischen Diskurses zu erlangen, ist dies noch kein Angriff gegen die Institution Wissenschaft. Ebenso ist es im Sinne einer agonalen Politik, wenn Machtstrukturen aufgedeckt und Minderheitenpositionen dargestellt werden können. Die Rechte gibt bei der Debatte um die Gefährlichkeit von Stickoxiden einer Minderheit eine solche Bühne: In ihren Beiträgen rezipiert sie hauptsächlich kritische Meinungen zu den Grenzwerten und zu epidemiologischen Studien. Es ist zu beobachten, dass die Rechte versucht, in dem Konflikt mit Hilfe von wissenschaftlichen Institutionen und dem Anschein von Wissenschaftlichkeit einen eigenen hegemonialen Diskurs aufzubauen. Die AfD gibt sich als wissenschaftsaf‐ fine Partei, die im starken Kontrast zu den machtgetriebenen und damit Fakten ignorierenden, anderen Parteien stehe. Die AfD trete für eine „faktenbasierte Real‐ politik“57 ein und bringe „Vernunft und Fakten“ in die „ideologisierte und hysteri‐ sche“ Debatte. Sie rühmt sich einer „langen Aufklärungsarbeit“58 und wirft ihren
54 55 56 57 58
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Vgl. Paetow 2019. Heinrich 2018. Keller 2018. AfD Fraktion Baden-Württemberg 2019b. Ebd.
politischen Gegner*innen vor, „unwissenschaftliche Grenzwerte“59 zu verteidigen und damit „wissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren“.60 Ihre Argumente werden möglichst oft mit wissenschaftlichen Autoritäten (wie den Lungenärzt*innen, dem Fraunhoferinstitut u.a.) untermauert und es wird die Expertise der eigenen Abgeord‐ neten betont, die z.B. als ehemalige Maschinenbauingenieure Fachleute seien.61 Es soll damit ein Diskurs befördert werden, in dem es inhaltlich völlig selbst‐ verständlich und logisch (weil wissenschaftlich belegt) ist, dass es keine Gesund‐ heitsgefährdungen durch Dieselautos gibt. Diese Strategie ist zum einen eine Ver‐ teidigung von wissenschaftlichen Institutionen, weil sie in starkem Maße auf der Autorität und dem Ansehen von wissenschaftlicher Praxis aufbaut. Nicht nur werden ständig wissenschaftliche Autoritäten zitiert, sondern diese werden auch gegenüber kritischen Nachfragen zu ihrer Expertise verteidigt, da die Lungenärzt*innen auf Nachfragen keine Fachartikel zum Thema vorweisen konnten:62 „Es ist zudem bedenklich, dass Medien […] die Expertise und Glaubhaftigkeit des ehemaligen Präsidenten des deutschen Pneumologenverbandes, Professor Dieter Köhler anzweifeln, indem versucht wird seine Fachkompetenz ins Lächerliche zu ziehen. Dieser Fall offenbart erneut, dass dem öffentlich-rechtlichen Sender jegliche Form eines verant‐ wortungsvollen Journalismus‘ abhanden gekommen ist und stattdessen einer propagandaähnlichen Einseitigkeit gewichen ist, die weder ihrem Auftrag gerecht wird noch einer Demokratie würdig ist.“63
Zum anderen sind aber auch Vorgehensweisen der Rechten zu konstatieren, die für die Institution Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit problematisch sind. Es werden zum einen stets Minderheitenpositionen ins Feld geführt, die sich bislang keinem Peer-Review stellen mussten. Es wird in rechten Veröffentlichungen aber nicht of‐ fengelegt, dass ohne Peer-Review die Qualität einer Veröffentlichung nicht gesichert ist. Stattdessen wird stets die Reputation der Kritiker*innen hervorgehoben, auch wenn sich diese zumeist nur auf wissenschaftliche Leitungsämter oder andere Fach‐ bereiche bezieht: Sie seien „führend“,64 „renommiert“65 oder „fachkundig“.66 Damit findet für die Öffentlichkeit eine Verschleierung statt, so dass viele Bürger*innen den Eindruck bekommen, Fachexpert*innen hätte solide und geprüfte Einwände oder gar Falsifikationen gegen die Gefährlichkeit von Stickoxiden vorgebracht. Da‐
59 60 61 62 63
Ebd. AfD Fraktion Baden-Württemberg 2019a. Vgl. AfD Kompakt 2018c. Vgl. Zimmermann 2019. AfD Fraktion im Bundestag 2019d, vgl. auch die Verteidigung eines ehemaligen Daimlermitar‐ beiters unter den Unterzeichner*innen in Tichy 2019 und die Darstellung von Forschungen der Autoindustrie als objektiv in Reinhold 2018a, S. 40. 64 Reinhold 2019, S. 43. 65 Reinhold 2018b, S. 34. 66 AfD Fraktion Baden-Württemberg, 2019b.
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mit können effektiv Zweifel an wissenschaftlichen Ergebnissen geschürt werden.67 Diese Verschleierung wird verstärkt, indem zusätzlich der Anschein erweckt wird, die Positionen der Kritiker*innen würden weiten Zuspruch finden. Obwohl wissen‐ schaftliche Fachgesellschaften durch die Veröffentlichung eigener Positionen68 deut‐ lich machen, dass beispielsweise der Brief von Köhler eine Minderheitenposition darstellt, inszeniert die Rechte diese Position systematisch als Erkenntnisse von vielen, als „einer ganzen Armada von Fachärzten“.69 Es wird stets die Zahl der über einhundert Unterstützer*innen von Köhler genannt – nie jedoch Zahlen zu anderen Wissenschaftler*innen mit gegenteiliger Meinung. „Aufrufe von Wissenschaftlern sind ein beliebtes Lobbyinstrument. In der Klimaschutz-Debatte gab es viele solcher Aufrufe von Klimaskeptikern, die über die Zahl ihrer Unterzeichner versuchten Eindruck zu machen“.70 Zudem wird stets verallgemeinert, dass „die Wissenschaft“, „führende Experten“ oder „wissenschaftliche Studien“ die rechten Aussagen stützen würden, was das falsche Bild von nachgewiesenen Erkenntnissen und einem wissen‐ schaftlichen Konsens erzeugt. Den Anschein zu erwecken, dass die eigenen Positionen durch die Wissenschaft legitimiert seien, ist nur ein Pfeiler der Bemühungen der Rechten um eine Hegemo‐ nie im Diskurs. Der zweite Pfeiler ist die Selbstbeschreibung der AfD als Partei mit „gesundem Menschenverstand“. Um den „gesunden Menschenverstand“ anzu‐ sprechen, arbeitet die Rechte gerne mit vereinfachenden Vergleichen, Verkürzungen, Übertreibungen und „Laienforschung“. Eine typische Übertreibung ist es, ironisch darauf hinzuweisen, dass Raucher*innen oder Menschen, die am Gasherd kochen, auch nicht gleich „tot umfallen“,71 obwohl diese Menschen wesentlich höheren Stickoxidwerten ausgesetzt seien als Menschen, die sich an vielbefahrenen Straßen aufhalten. Die Hochrechnungen zu Todesfallzahlen aus epidemiologischen Studien werden als konkrete Todesfälle interpretiert: „Denn die Todeszahlen waren schon immer ein Schmarrn. Nicht einen Totenschein gibt es in Deutschland, der als Todes‐ ursache ‚Feinstaub‘ oder ‚NOx‘ nennt“.72 Der „gesunde Menschenverstand“ wird auch gegen jene wissenschaftliche Forschung ausgespielt, die nicht auf den ersten Blick eingängig ist.73 So zitiert Compact ausführlich einen Redner einer Fahrver‐ botsdemonstration, der eigenständig für verschiedene Städte die Lebenserwartung der Menschen mit den dortigen Stickstoffdioxidwerten verglichen hatte. Das simple Ergebnis ist, dass es durchaus Städte gibt, die eine geringere Lebenserwartung trotz 67 Vgl. Oreskes/Conway 2015, S. 27, die zeigen, wie durch ein solches Vorgehen effektiv Zweifel an den Gefahren des Rauchens oder von Saurem Regen geschürt wurden und Politiken verhin‐ derten. 68 Vgl. Peters et al. 2019; Schulz et al. 2019. 69 Woratschka et al. 2019. 70 LobbyControl 2019. 71 Vgl. Douglas 2019, Junge Freiheit 2019. 72 Fest 2018. 73 Fest 2018.
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ihrer geringeren Schadstoffbelastung haben (bzw. eine höhere Lebenserwartung trotz höherer Stickstoffdioxidwerte). Mit solchen verkürzten Laienbetrachtungen könnten laut der Rechten bereits die „Gesundheitsdemagogie“ der Grünen und ihre „Horror‐ meldungen über angebliche mehrere Tausend von Feinstaub und NOx verursachten Todesfällen pro Jahr“ entlarvt werden.74 Wird die Wissenschaftsfeindlichkeit der Rechten beklagt, so wird zumeist ange‐ führt, dass sie den „gesunden Menschenverstand“ gegen wissenschaftliche Erkennt‐ nisse ausspiele und durch dieses „postfaktische“ Agieren eine rationale, politische Diskussion untergrabe. Problematisch ist in der Tat, wenn, wie in der Diskussion um Dieselschadstoffe geschehen, Einzelbeobachtungen, Zahlen von Unterzeichner*in‐ nen bestimmter Positionen oder allgemeines (nicht auf die Fachfrage bezogenes) Renommee auf die gleiche Stufe gestellt werden wie wissenschaftliche Studien. In diesen Fällen soll mit Verschleierungstaktiken und Machtwirkungen die Wissen‐ schaftlichkeit von Erkenntnissen angegriffen werden, was den Idealen der agonalen Demokratie direkt widerspricht. Zum einen trägt dies aktiv dazu bei, Machtstruktu‐ ren zu verdecken und erschwert damit, sie der Kritik zugänglich zu machen. Zum anderen werden dadurch gegnerische Positionen mit Hilfe von Irreführungen oder Verschleierungen unterdrückt. Wie oben ausgeführt (siehe Abschnitt 3) stellt die Wissenschaft der Demokratie derzeit inkommensurable Ressourcen zu Verfügung, um zu einem gut begründeten Urteil zu gelangen. Eine Diffamierung von Wissen‐ schaftlichkeit an sich hat das Potenzial, diese Ressourcen dem Diskurs zu entziehen und somit das Kritikvermögen von Akteuren bedeutend zu schwächen. Allerdings befürwortet die agonale Demokratie, dass in einer Gesellschaft ver‐ schiedene, nicht nur rationale, Diskurse bzw. Sprachspiele ihre Geltung entfalten. Daher ist es in einer agonalen Demokratie prinzipiell hinzunehmen, wenn über die politischen Folgen der wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse kontrovers diskutiert wird. Es ist daher demokratietheoretisch nicht problematisch, wenn sich im politischen Wettstreit Positionen durchsetzen, die von den wissenschaftlichen Erkenntnissen abweichen oder ihnen sogar direkt widersprechen.
6.3 Diffamierungen Neben dem Kampf um Hegemonie ist es eine weitere zentrale Strategie der Rechten, die Grundannahme zu bezweifeln, dass Stickoxide ein gesundheitliches Problem darstellen. Diese Grundannahme wird von ihnen als „Hysterie“ und „Ideologie“75 linker und grüner Parteien/Gruppen dargestellt, deren vorrangiges Ziel gar nicht der Gesundheitsschutz sei, sondern die Abschaffung des Individualverkehrs und die 74 Vgl. Elsässer 2019, S. 15f., vgl. Fest 2018 mit ähnlicher Argumentation. 75 AfD Kompakt 2018c.
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Schwächung der deutschen Automobilindustrie.76 Da es vielfältige Studien gibt, welche die Schädlichkeit von Stickoxiden nachweisen,77 kann die Hinterfragung der Gesundheitsrisiken nur durchgeführt werden, wenn erklärt wird, warum diese Studien unzureichend oder falsch sind. Dies geschieht, indem wissenschaftliche In‐ stitutionen an sich, deren Methoden, Forschungsziele und -inhalte politisiert werden – nämlich jene, deren Ergebnisse nicht den rechten Positionen entsprechen. Immer wieder tritt die AfD mit der Behauptung auf, es gebe nur unzureichende Forschung sowohl zu den Grenzwerten als auch zu der Gefährlichkeit von Stickoxi‐ den. Die Grenzwerte müssen „endlich erstmalig wissenschaftlich überprüft“78 bzw. nochmalig überprüft werden. „Wie im Mittelalter wird ideologisch am Grenzwert festgehalten und jegliche Wissenschaftliche (sic!) Überprüfung abgelehnt“.79 Es wird der Eindruck erweckt, als wäre ein Grenzwert von der EU festgeschrieben und als gäbe es keine weitere Forschung dazu. Unterschlagen wird dabei, dass sowohl weitere wissenschaftliche Studien zur Gefährlichkeit von Stickoxiden unternommen werden, als auch dass die EU selbst Überprüfungsschlaufen für ihre Grenzwerte hat.80 Zudem behauptet die Rechte, es gebe „keine einzige Studie, die eine Gesund‐ heitsgefährdung […] wissenschaftlich gesichert feststellen kann“.81 Diese Behaup‐ tung baut darauf auf, dass epidemiologische Studien von der Rechten per se nicht anerkannt, sondern toxikologische Nachweise gefordert werden.82 „Bernhard kritisiert, dass die EU und Deutschland sich an einer WHO-Empfehlung für 40 µg/m³ aus dem Jahr 1997 orientieren, die jedoch nur auf epidemiologischen Studien, also auf rein statistischen Hochrechnungen basiert. Bernhard weiter: ‚Versuche der WHO in den Jahren 2000 und 2005, diese Schätzungen mit klinischen Studien zu bestätigen, sind krachend gescheitert […]‘.“83
Die Rechte fordert, Zahlen zu Erkrankungen oder Todesfällen durch Stickstoffdioxid müssten kausal nachgewiesen werden. Langzeitexpositionen mit geringen Mengen von Stickoxiden können jedoch aus ethischen Gründen nicht durchgeführt werden, weshalb epidemiologische Untersuchungen nicht einzelne Menschen untersuchen, sondern ganze Bevölkerungsgruppen vergleichen. Weil epidemiologische Forschun‐ gen in Einzelstudien nur Korrelationen und keine Kausalitäten nachweisen können, produzieren sie in den Augen der Rechten keine gesicherten Ergebnisse. Sie gelten
76 Vgl. AfD Fraktion Baden-Württemberg 2019c; AfD Kompakt 2017. 77 Siehe Verweise auf Studien in: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2019, S. 33; Peters et al. 2019; Schulz et al. 2019. 78 AfD Fraktion Bundestag 2019a. 79 AfD Fraktion Bundestag 2019b. 80 Europäische Kommission 2019. 81 AfD Kompakt 2018c. 82 Vgl. Weidel et al. 2018. 83 AfD Kompakt 2018a.
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für die Rechte als „mathematisch konstruiert“84 und als „Zahlensalat, den man jederzeit auf Wunsch auch völlig anders mischen kann“.85 Um dieses Argument zu stützen, werden breit die Kritiken Köhlers und anderer Wissenschaftler rezipiert, die ebenfalls den epidemiologischen Studien unterstellen, aus einer zufälligen Korrelati‐ on eine Kausalität zu machen und systematische Fehler zu enthalten.86 Hinterfragun‐ gen von Studien sind nicht per se problematisch, sondern zunächst begrüßenswert. Problematisch in diesen Fällen ist allerdings, dass die Vorwürfe ohne Peer-Review und ohne ausreichende Quellen oder Nachweise vorgetragen wurden und damit deren Argumentation nicht geprüft wurde. Wie in Abschnitt 6.2 gezeigt wurde, setzt die Rechte hier Verschleierungstaktiken und Falschinformationen ein oder baut darauf, dass Adressat*innen ihrer Kommunikation selbst wenig oder keine Ahnung von den diskutierten Fragen haben. Die Abwertung der Wissenschaftsdisziplin Epidemiologie geht mit weiteren An‐ griffen gegen Wissenschaftler*innen einher, denen unterstellt wird, entweder inkom‐ petent oder verblendet zu arbeiten oder bewusst zu verzerren oder zu fälschen. „Und immer wieder zitieren sie [die Grünen, L.S.] ‚wissenschaftliche‘ Gutachten, die sich angebliche 60.000 oder auch 80.000 Tote zusammenreimen – und jetzt protestieren Wissenschaftler dagegen und die Modellrechnungen, die an Stelle medizinischer Unter‐ suchungen im PC zusammengebastelt werden, bis die Ergebnisse den Auftraggebern wie etwa dem Umweltbundesamt und dem Umweltbundesministerium ins Geschäft pas‐ sen.“87
Diese Angriffe werden oft eher implizit formuliert, indem ausführlich die Kritik von Köhler reproduziert wird, der als Kronzeuge für eine politische Steuerung der Forschung zu Luftschadstoffen gilt: „Das Dilemma sei allerdings, ‚dass die Wissenschafts- und die Forschungsförderung eng zusammenhängen und […] tatsächlich nur Studien veröffentlicht (werden), die ein Risiko darstellen‘. Die angebliche Gefahr sei so minimal, dass sie sich gar nicht erfassen ließe, weil sie im Vergleich zu anderen Einflüssen viel zu gering sei. Köhler verrät: ‚Es gibt Kollegen, die sagen: Du hast ja Recht, aber wenn ich das sage, dann kann ich mein Institut zumachen.‘“88
Die Sichtweise, dass Wissenschaftler*innen aufgrund einer politischen Forschungs‐ förderung und passender Karriereaussichten nurmehr „passende“ Studien oder Ge‐ fälligkeitsgutachten erstellen, wird weitergetragen, indem Köhler oder andere Kriti‐ ker*innen als „unerschrocken“89 oder gar „Helden“ tituliert werden. Sie müssten
84 85 86 87 88 89
Junge Freiheit 2019. Paetow 2019. Vgl. Köhler 2019a. Tichy 2019. Reinhold 2018b, S. 34f., der Köhler zitiert. Mark 2019a.
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sich den „Luxus und Mut einer wissenschaftlich fundierten Meinung“90 erst leisten können. Köhler beispielsweise kann „als Emeritus seine Karriere nicht mehr gefähr‐ den“.91 Implizit entsteht dadurch der Eindruck, dass man sich in Gefahr begebe, wenn man die eigene Meinung äußere. Auch die Charakterisierung Köhlers als „unabhängig“92 suggeriert, dass dies andere Wissenschaftler*innen nicht seien. Die Kritiken Köhlers werden von der Rechten als Beleg gewertet, dass die bisherigen Studien ideologisch geprägt seien. Es werden „neue unabhängige wissen‐ schaftliche Studien gefordert, da wichtige Faktoren bislang ignoriert würden. Zuneh‐ mend werden offensichtlich die wissenschaftlichen Methoden verlassen und durch Ideologien ersetzt.“93 Nicht nur das Bundesumweltamt gilt der Rechten als von den Grünen durchsetzt,94 sondern auch jene Lungenfachärzt*innen, die sich für eine Senkung des Grenzwerts hin zu 30µg/m³ aussprechen, seien ein „medizinischer Arm der Grünen“.95 Es wird das Bild gezeichnet, dass viele Forscher*innen selbst Teil der „Autohasserlobby“ und durch die vorherrschende Meinungshegemonie weder objektiv noch offen für andere Sichtweisen wären. „In Europa hingegen war eine Grenzwertverschärfung laut dem Biochemiker Kekulé po‐ litisch erwünscht, so daß man auch auf Studien mit wenig Aussagekraft zurückgriff. […] Einige Wissenschaftler hinderte dies aber nicht daran, auf grob geschätzter Grundlage exakte Berechnungen anzustellen.“96
Problematisch sind nicht Angriffe von politischen Akteuren, welche die Aussage‐ kraft einer wissenschaftlichen Disziplin höher bewerten als die einer anderen, und auch nicht Bewertungen einer Quellenlage als unzureichend. Im Sinne einer agona‐ len Demokratie sind solche Bestrebungen zu begrüßen, solange das Ziel verfolgt wird, Machtstrukturen aufzudecken, die auch im Wissenschaftsbetrieb vorhanden sind. Abzulehnen ist, wenn einzelnen Disziplinen die Wissenschaftlichkeit an sich abgesprochen wird, da die Ergebnisse im Gegensatz zu den eigenen politischen Zielen stehen. Diese Strategie ist nicht neu, doch die Rechte hebt sie derzeit auf eine neue Stufe, die bis zur Forderung nach Abschaffung ganzer Wissenschaftsdiszi‐ plinen (z.B. Gender Studies) reicht. Unter dem Deckmantel einer Entpolitisierung, welche die ideologische Voreingenommenheit von Wissenschaftler*innen aufdecken und zurückdrängen soll, betreibt sie eine Hyperpolitisierung von Wissenschaft. Sie führt einen Kampf um die Deutungshoheit darüber, welche Wissenschaft als neutral und unpolitisch wahrgenommen wird und welche politisiert ist. Dies ermöglicht 90 91 92 93 94 95 96
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Reinhold 2018b, S. 35. Mark 2019a. Reinhold 2018b, S. 34. AfD Fraktion Bundestag 2019c. Spaniel 2019a. Spaniel 2019b. Mark 2019b.
ihr, eine Ebene politischer Auseinandersetzung einzuziehen, auf der Personen und Institutionen angegriffen werden, die nicht auf diese Form der Auseinandersetzung vorbereitet sind, da sie sich bislang nicht als politische Akteure verstanden haben bzw. verstehen mussten. Diese Strategie, die auf der Diffamierung einzelner Personen oder Institutionen als käuflich, ideologisch etc. aufbaut, stuft den politischen Kontrahenten nicht als Gegner, sondern als Antagonist ein. In dieser Hyperpolitisierung von Wissenschaft werden Fakten und Meinungen gleichgestellt und wird jedem wissenschaftlichen Akteur sofort ein politisches Etikett angehangen. Unliebsame wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht auf der politischen (oder wissenschaftlichen) Ebene bekämpft, sondern es soll bereits deren Zustandekommen oder Veröffentlichung verhindert werden. Die Gegenseite wird mit diesen Strategien nicht als prinzipiell gleichwertig angesehen, sondern als eine Position verunglimpft, die im politischen Diskurs nicht teilnehmen sollte. Diese Strategie, die bestimmte Stimmen im Dis‐ kurs unglaubwürdig macht und/oder ihre Berechtigung in der politischen Arena abspricht, verringert den Pluralismus in einer Gesellschaft und ist mit der agonalen Demokratie nicht vereinbar.
7. Fazit Eine Stärke der agonalen Demokratie ist es, dass sie versucht, möglichst viele politische Perspektiven in den demokratischen Prozess einzubeziehen. Damit soll der demokratische Diskurs robuster und resilienter gegen anti-demokratische Strö‐ mungen gemacht werden. Es ist das Ziel der agonalen Demokratie, möglichst viele Lebensbereiche zu politisieren und für politische Entscheidungen des Demos zu öffnen. Institutionen genießen in der agonalen Demokratie daher keinen besonderen Schutz, sondern sollen für Kritiken zugänglich sein. Sie sollen gerade nicht dazu dienen, dass Diskussionen mit Verweis auf eine Autorität abgebrochen werden. In der agonalen Demokratie muss daher mehr an Hinterfragungen ausgehalten werden als in anderen Demokratiemodellen. Bei der Kritik an Institutionen zeigt sich die Rechte als ein Hybrid: Einerseits sind einige rechte Kritiken als Politisierungen zu begrüßen, denn sie tragen dazu bei, dass Menschen sich politisch interessieren und engagieren, die sich bislang mit ihrem Denken nicht inkludiert sahen. Mit ihren Kritiken an einem hegemonialen Mainstream (auch in der Wissenschaft) stellt die Rechte Positionen im politischen Diskurs dar, die eine agonale Demokratie als Extrempunkt braucht, um jene Span‐ nung zu erzeugen, die politische Debatten leidenschaftlich und motivierend machen. Indem die Rechte etwa bei Umweltthemen eigene Positionen anbietet, vermag sie
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über die AfD viele Nichtwähler*innen zu mobilisieren. All dies kann die die Demo‐ kratie stärken. Andererseits zeigt sich die Rechte zugleich als antagonistischer Akteur. Teile der Angriffe auf die politischen Gegner dienen nicht der Profilierung des eigenen Stand‐ punktes und sollten nicht als Teil akzeptabler politischer Bestrebungen zur Etablie‐ rung einer hegemonialen Position im demokratischen Diskurs normalisiert werden. Es handelt sich um gezielte Entpolitisierungen, Diffamierungen, Unterstellungen bis hin zu Lügen, die sich einerseits gegen Individuen und andererseits gegen bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse wenden. Gleichzeitig betreibt die Rechte eine Hyper‐ politisierung von Wissenschaft, wie sie derzeit auch in den USA zu beobachten ist, in der jede wissenschaftliche Aussage bereits einem politischen Lager zugewiesen wird. Die Güte eines Arguments oder einer Erkenntnis basiert dann nicht mehr auf wissenschaftlichen Standards, sondern allein darauf, ob die betreffende Aussage zur eigenen Ideologie beziehungsweise zum eigenen Lebensgefühl passt. Damit sollen unliebsame wissenschaftliche Erkenntnisse nicht länger als Grundlage für politische Entscheidungen fungieren können. Dies ist mit der kritischen Grundhaltung agonaler Demokratie nicht vereinbar. Die Haltung der Rechten zur Institution Wissenschaft changiert genau in dem Grenzbereich zwischen agonalem und antagonistischem Akteur. Um zu einer Be‐ wertung zu gelangen, ob einzelne Positionen der Rechten aus der Perspektive der agonalen Demokratie akzeptabel (agonal) oder schädlich (antagonistisch) sind, bräuchte es eine genauere (und damit langfristige) Untersuchung und eine feinere Unterscheidung von Aussagen und Positionen, als es in diesem Rahmen zu leisten war. Eine solche hybride Strömung kann nicht mit einem einfachen politischen Urteil erfasst werden. Hier zeigt sich ein schwer zu lösendes Dilemma, denn die Debatte findet in einer historischen Situation statt, in der mediale und politische Aufmerksamkeit durch Radikalität und Aktualität erzeugt wird und differenzierte Langzeitbetrachtungen und abwägende Urteile schnell untergehen. Mouffe favorisiert (auch) aus diesem Grund einen linken Populismus. Es ist jedoch fraglich, ob dieser Entwicklungen wie die Hyperpolitisierung von Wissen‐ schaft nicht eher befördern würde. Zielführender erscheint eine politische Praxis, die sowohl Entpolitisierungen als auch Hyperpolitisierungen entgegentritt. Dazu bedarf es jedoch einer Weiterentwicklung der agonalen Demokratietheorie, die Werkzeuge bereitstellt, wie dies erreicht werden kann und wie mit solch hybriden Strömungen umgegangen werden kann, die sich der klaren Einteilung in agonal und antagonis‐ tisch entziehen.
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Gabriele Wilde Die Macht der Gesellschaft. Das Autoritäre im Kontext von (Geschlechter-) Differenz und Konfliktualität
Gegenwärtige autoritär-populistische Ereignisse lehren uns, Demokratie und demo‐ kratische Verhältnisse keineswegs als selbstverständlich zu betrachten; gar als be‐ ständig errichtete politische Ordnungen, welche die Errungenschaften der Gleichheit und Freiheit gegen autoritäre Versuchungen standhaft und für alle Zeiten zu verteidi‐ gen vermögen. Und dennoch scheinen wir aktuell weit davon entfernt, die tatsächli‐ chen Gefährdungen der Demokratie wahrzunehmen, die angesichts der zahlreichen und auch unübersehbaren Konfrontationen zwischen demokratischen Institutionen und gesellschaftlichen Bewegungen derzeit sichtbar werden und eine starke Polari‐ sierung gegen ‚etablierte‘ Politik und repräsentative Demokratien forcieren. Die Macht der Gesellschaft, wenngleich noch nie in, nun aber auch nicht länger mit, ereignet sich sichtbar jenseits und immer häufiger auch gegen demokratische Institutionen. Dabei fällt die Frage nach der Legitimation demokratischer Politik unter autoritär-populistischen Bedingungen nicht nur in scheinbar althergebrachte Denkmuster nationaler Überschaubarkeit und Stärke zurück. Auch führt das Erstar‐ ken des autoritären Populismus nicht nur zu einer Modifikation der Vorstellungen legitimer demokratischer Ordnungen, wie sie etwa mit den Begriffen der „gelenkten Demokratie“ in Russland, der Orientierung auf autoritäre, präsidentielle Ordnungen in der Türkei und in Ungarn oder mit dem Antiparlamentarismus der Neuen Rechten zum Ausdruck kommt. Vielmehr zeigen sich die Konsequenzen der erfolgreichen Mobilisierung an den Rändern der und gegen die Demokratie zunehmend in Politi‐ ken der Ausgrenzung und Menschenverachtung, die nicht zuletzt die Vision der Europäischen Union als einem demokratischen Projekt mit dem BREXIT-Votum in Misskredit gebracht und in zähen Verhandlungskämpfen gegen nationalistische protektionistische Bestrebungen und Desintegration zu zerreiben droht. Für den Erhalt und Bestand der demokratischen Gesellschaften weltweit stellen nicht zuletzt die US-Präsidentschaft von Donald Trump sowie die Politik einiger Mitgliedstaaten der EU – allen voran Polen und Ungarn – weitere bedrohliche Entwicklungen dar: dazu gehört eine regressive Migrationspolitik, die Einschränkung der Presse- und
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Meinungsfreiheit, die Desavouierung des Justizapparates sowie der Abbau rechts‐ staatlicher Institutionen und die Ignoranz gegenüber Verfassungsgrundsätzen.1 Die Theorie der agonalen Demokratie geht davon aus, „dass Gesellschaften stets gespalten sind (…) und durch hegemoniale Praktiken diskursiv erzeugt werden“.2 Zum Ausdruck kommt mit dieser grundlegenden Annahme poststrukturalistischer Ansätze ein produktives, konstitutives Verständnis von Macht, das in Anlehnung an Michel Foucault weder „im Rahmen rechtlicher (…) oder im Rahmen institutio‐ neller Modelle“zu denken ist.3 Stattdessen gilt es, den Blick auf antagonistische Machtverhältnisse als nicht auflösbare Grundlage von Demokratien zu richten, die Gesellschaften in diesen Ansätzen zum eigentlichen Ort des Politischen machen. Insofern ist es denn auch konsequent, wenn in diesen Ansätzen sowohl der Linkswie auch der Rechtspopulismus als gesellschaftliche Bewegungen eingeordnet wer‐ den, die grundsätzliche Vorbehalte gegen die Postdemokratie jenseits politisch-de‐ mokratischer Institutionen zum Ausdruck bringen.4 Doch während aus Sicht von Chantal Mouffe5 der linke Populismus dafür den Neoliberalismus verantwortlich macht und für eine Ermächtigung des Volkes eintritt, sieht der Rechtspopulismus vor allem die Identität des Volkes durch Fremde und Migrant*innen bedroht. In dieser Auffassung verhindert das Autoritäre nicht nur die Konstitution des Volkes im Sinne eines „Undoing the Demos“ und vertreibt die demokratischen Ideale der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit, wie es etwa Wendy Brown in ihrer Analy‐ se zum Neoliberalismus aufgezeigt hat;6 und es geht auch nicht nur darum, eine „ökonomisch einflussreiche und kulturell arrogante Minderheit von der Macht zu vertreiben“, wie es Wolfgang Streeck7 angesichts eines Volkes vermutet, das sich in politischen Konflikten als handelnde Einheit der agonalen Demokratie neu konstitu‐ iert, um die Wiederherstellung der Ideale der Gleichheit und Volkssouveränität zu erreichen.8 1 Wilde/Meyer 2018. 2 Mouffe 2018, S. 20. 3 Foucault 2005a, S. 270. In diesem gouvernementalen konstitutiven Verständnis von Macht etwa besteht der Unterschied zu dem von Miram in diesem Band ins Spiel gebrachte Institutionenbe‐ griff als verstetigte Praktiken einer hegemonie- und diskurstheoretisch begründeten Theorie des Sozialen, anhand derer sich strukturelle Ähnlichkeiten von sozialen Institutionen und hegemo‐ nialen Formationen identifizieren lassen. 4 Andermann 2019, S. 122. 5 Mouffe 2018, S. 35. 6 Brown 2018, S. 16. Brown geht in diesem Zusammenhang von einer Regression der Demokratie in Form eines „Undoing the Demos“, einer Verhinderung der Konstitution des Volkes, aus, in‐ dem zentrale Signaturen der Demokratie wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Volkssou‐ veränität durch den Neoliberalismus als eine bestimmte Form der Vernunft, die alle gesellschaft‐ lichen, auch nicht-ökonomischen Bereiche ökonomisiert, vertrieben werden. In dieser Vorstel‐ lung wird die Demokratie zu einer Regierungsrationalität, die Gesellschaft als eine ökonomische Bedeutungsordnung durch das Medium der Ungleichheit begründet und neue Subjektformatio‐ nen und Handlungslogiken produziert. 7 Streeck 2017, S. 261. 8 Mouffe 2018, S. 19.
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Stattdessen führt die Wiederentdeckung der Demokratie als politisches Korrektiv durch neuartige rechtspopulistische Parteien und rechtsautoritäre Bewegungen zu einer Umdeutung demokratischer Ideale. Dazu gehören demokratische Prinzipien ebenso wie Rechte als integrale Bestandteile und kontingente Eigenschaften von Machtverhältnissen sowie diskursive Praktiken und Handlungsformen, die von so‐ zialen Institutionen und kollektiven Lebensformen begründet und begrenzt werden. Aus dieser poststrukturalistischen Perspektive gelingt rechtsautoritären Bewegungen und Parteien die Transformation gesellschaftlicher Machtbeziehungen und -verhält‐ nisse anhand spezifischer Diskurse und Praxen, die bewirken, dass universalistische Werte und politische Kulturen der Repräsentation und Partizipation, des politischen Streits und Diskurses unter autoritären Bedingungen nicht länger als Quelle für Freiheit und Gleichheit gelten, sondern als Instrumente für Diskriminierung, Aus‐ grenzung, Missachtung und Verachtung umgedeutet werden.9 Die Macht der Gesellschaft, die sich mit der Renaissance autoritärer Diskurse und Praxen zum Ausdruck bringt, hat – so meine These – nicht nur erhebliche Effekte für liberal-repräsentative Demokratiemodelle, sondern auch für die Konstitution gesellschaftlicher Geschlechterordnungen, indem scheinbar egalitäre Geschlechter‐ verhältnisse in den als etabliert geltenden Demokratien angegriffen werden. Ich werde mich im Folgenden aus einer feministisch-kritischen Perspektive mit den po‐ litiktheoretischen Implikationen dieser Produktion neuer und anderer Bedeutungen befassen, ihre Effekte für die Konstitution von Geschlechterordnungen reflektieren und darstellen, wie autoritäre Politik demokratische Geschlechterverhältnisse atta‐ ckiert und verändert und damit einen fundamentalen Angriff auf die Demokratie insgesamt darstellt. Mein Ziel dabei ist, die Frage nach der Kategorie Geschlecht – sowohl in ihrer konstitutiven Legitimations- und Stabilisierungsfunktion für das Autoritäre als auch bezogen auf die intersektionale Verbindung mit anderen Differenzkategorien ‚Ras‐ se‘10 – Nation – Ethnie – so zu verstehen, dass sie ein zentrales Problem spezifischer Transformationen des Politischen darstellt, wie wir sie gegenwärtig mit dem Angriff auf demokratische Geschlechterverhältnisse und die Neueinschreibung geschlechtli‐ cher Machtverhältnisse in den Gesellschaften erleben. Meine Argumentation erfolgt in drei Schritten: Zunächst werde ich in Abgren‐ zung zur gängigen Rechtspopulismusforschung das Autoritäre als eine diskursive Praxis entfalten, die in den politischen Gesellschaften nicht nur demokratische 9 Rancière 2015, S. 42. 10 Ich verwende den Begriff, den auch Stuart Hall explizit nennt, um eine für ihn zentrale Differenzkategorie zu bezeichnen, hier in distanzierender Rede. Ich ersetze den Begriff be‐ wusst nicht durch das von der Partei Die Grünen vorgeschlagene Wort der Herkunft, um ihn als diskursive Konstruktion zu entlarven, die Kritik an seiner biologischen Imagination zum Ausdruck zu bringen, sowie Rassismus in der Überschneidung mit anderen Formen der Diskriminierung zu erfassen.
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Begriffe und Ideen mit neuen Bedeutungen auflädt, sondern – und in diesem Ver‐ ständnis ist der Begriff des Diskurses zu verstehen – vor allem dem menschlichen Verhalten und Handeln eine besondere Bedeutung zuschreibt und darauf zielt, diese institutionell zu verfestigen. In diesem Zusammenhang greife ich auf die Annahme von Stuart Hall11 zurück, wonach der autoritäre Populismus immer einen Bezug zur gesellschaftlichen Differenz herstellt, und werde eine feministisch-poststrukturalisti‐ sche Definition des Autoritären vorstellen, in der die Geschlechterdifferenz als eine Form kultureller Differenz die treibende Kraft für die Verletzung und Einschränkung grundlegender demokratischer Prinzipien ist. In einem zweiten Schritt beschreibe ich das Autoritäre als geschlechtliches Machtdispositiv, das auf die Zerstörung von Pluralität, Differenz und Vielfalt aus‐ gerichtet ist und damit die Grundlagen für demokratische Geschlechterverhältnisse auflöst. Vor diesem Hintergrund erschöpft sich das Argument nicht nur mit der Annahme, dass der autoritäre Populismus die Geschlechterordnungen re-traditiona‐ lisiert. Vielmehr ist mit Foucault12 davon auszugehen, dass sich die Macht des Autoritären durch Wahrheitsdiskurse zum Ausdruck bringt, die in ihrer sexistisch und rassistisch unterlegten exkludierenden Form in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen wirken, die Gesellschaft entpolitisieren und ihre wesentlichen demokrati‐ schen Grundlagen umwandeln: die Prinzipien für demokratisches Handeln, deren Ziel die Absicherung und Verteidigung der Demokratie ist, die politischen Kultu‐ ren, die für ihre Erhaltung erforderlich sind, die Energien, die zu ihrer Belebung notwendig sind und die Bürger*innen, die sie praktizieren. Dies gelingt mittels verschiedener Strategien und Techniken, anhand derer autoritär-populistische Kräfte verstärkt und vielerorts mit Erfolg verhindern, dass Frauen ihre Rechte auf Gleich‐ heit, Selbstbestimmung, Partizipation und Beteiligung auch in Anspruch nehmen können. Im Fazit fasse ich die Merkmale des Autoritären als geschlechtliches Machtdis‐ positiv zusammen und ziehe aus einer radikaldemokratischen Perspektive einige Schlussfolgerungen für mögliche und notwendige demokratische Projekte. Gezeigt werden soll mit Rekurs auf Judith Butler13, inwieweit die agonale Demokratie die richtige Art von Politik gegen das Autoritäre darstellt, mit der es gelingen kann, demokratische Prinzipien etwa der Volkssouveränität in Form diskursiver Praxen zu realisieren, um Gleichheit und Gerechtigkeit zu verteidigen und den demokratischen Streit zu ermöglichen.
11 Hall 2018, 2014, 2004. 12 Foucault 2005b, S. 109f. 13 Butler 2016.
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1. Autoritärer Populismus als diskursive Praxis Im Gegensatz zu den Auffassungen einer institutionen- und staatszentrierten Rechts‐ populismus-Forschung wirkt aus einer poststrukturalistischen Perspektive das Auto‐ ritäre vor allem in den vielfältigen Machtbeziehungen und in Form veränderter Macht- und Kräfteverhältnisse, die der Gesellschaft ihre demokratischen Grundlagen rauben. Mit anderen Worten: Der autoritäre Populismus hat sein Prinzip in der Gesell‐ schaft und nicht in den Parteien, ihren Programmatiken und ihren Wahlerfolgen, also dort wo es in Erscheinung tritt und von einer institutionen- und staatszentrierten Rechtspopulismus-Forschung derzeit untersucht und systematisiert wird.14 Es ist auch nicht in den Mechanismen und Strategien zu finden, die rechtspopulistische Parteien zur Macht verholfen haben und anhand derer sie Macht ausüben, wie es bislang vor allem für EU-Mitgliedstaaten in den Blick genommen und vor dem Hintergrund ökonomischer Krisen und zunehmender Migrationsbewegungen erklärt wurde. Vielmehr verhindert das offene und umstrittene Akzeptieren des Rechtspopu‐ lismus als ein besonderes und von der Demokratie abgegrenztes Politikmodell15, das Prinzip des Autoritären theoretisch zu erfassen, indem es den Blick in die Gesellschaft und damit auf die vielfältigen Macht- und Kräfteverhältnisse versperrt, in welchen das Autoritäre als eine diskursive Praxis tatsächlich wütet und seine Macht bis in die Kommunikationen und das Handeln der Subjekte spielen lässt. Ganz anders hingegen wird das in poststrukturalistischen Ansätzen diskutiert.16 Denn in Anlehnung an Foucault hat die Gesellschaft als eine Formation kontingenter Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in diesen Ansätzen schon immer eine vorran‐ gige Bedeutung als eigentlicher Ort des Politischen.17 Politik als Form – so wäre mit Mouffe zu sagen – findet ihren Ursprung und ihre Erklärung in der grundsätzlich differenten, antagonistischen Beschaffenheit der Gesellschaft und manifestiert sich als eine Formation kontingenter Macht- und Ungleichheitsverhältnisse erst in einem zweiten Schritt als institutionelle Politik. Und auch in Stuart Halls Konzept des „autoritären Populismus“18 formiert das Autoritäre infolge gesellschaftlich ungleicher Partizipationschancen, sozialer und ökonomischer Ungleichheitslagen ein Politikmodell, das Machtkonstellationen in die Gesellschaften neu einschreibt und für eine Aushöhlung demokratischer Verhält‐ nisse sorgt.19 Diese genuin gesellschaftstheoretische Umdeutung des Prinzips des Autoritären ist schließlich auch für eine feministisch-kritische Autokratieforschung 14 15 16 17 18 19
Vgl. u.a. Hartleb 2012; Müller 2016; Priester 2016. So etwa Decker 2018a. Mouffe 2000, 2014; 2018; Rancière 2002, 2015; Butler/Laclau/Žižek 2013. Foucault 2001. Hall 2014. Lams/Crauwels/Şerban 2014.
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anschlussfähig.20 Denn die „Verschiebung im Gleichgewicht gesellschaftlicher und politischer Kräfte“21 durch den autoritären Populismus erfolgt maßgeblich anhand von Differenzkategorien, die scharfe Grenzen zwischen Individuen und Gruppen re‐ präsentieren, Unterdrückungsgeschichten aufweisen und ein gefährliches Gruppen‐ denken aufrechthalten, während sie zugleich hierarchische Vorstellungen von kultu‐ reller Differenz bestätigen – oder mit anderen Worten: Es sind die Differenzkategori‐ en wie ‚Rasse‘, Ethnie, Nation und Geschlecht, anhand derer Machtverhältnisse in die Gesellschaften eingeschrieben werden.22 Trotz aller Entmystifizierungen, die sie heute als soziale Konstrukte ausweisen, sind und bleiben sie machtvolle Kategorien für das politische Denken. Vor allem feministische Politikwissenschaftler*innen und Theoretiker*innen ma‐ chen mit einem Blick in die politische Ideen- und Theoriegeschichte deutlich, über welch beträchtliches Maß an Einfallsreichtum liberale wie auch republikanische Ansätze verfügen, wenn es darum geht, Frauen aus dem Bereich des Politischen zu verdrängen und die zentrale Ordnungsfunktion der Familie zu behaupten und zu legitimieren. Dass die binäre Codierung von Frau* und Mann* eine vermeintli‐ che Ordnung in die komplexen und mitunter verwirrenden Umstände politischer Gesellschaften bringt, zeigt nachweislich die Trennung öffentlicher und privater Bereiche und die Begrenzung des Politischen auf den Bereich der Öffentlichkeit. Diese binäre Struktur, die bis heute die Gesellschaft durchzieht, bedeutet nach wie vor die Möglichkeit, dass Frauen* generell und nicht nur in ihrer Subjektposition als Ehefrauen und Mütter lange von der Geltung staatsbürgerlicher Gleichheitsrechte, von Partizipation und Repräsentation ausgeschlossen waren und sind. Allerdings kommt mit der Renaissance des Autoritären etwas Wichtiges und Neues zum Vorschein. Den Vorstellungen, Institutionen, Maßnahmen und Diskurse, die sich für die Umsetzung demokratischer Geschlechterverhältnisse in den Gesell‐ schaftskörpern eingeschrieben haben, tritt nun eine neue Gesellschaftsauffassung entgegen, die sich als ein geschlechtliches Machtdispositiv artikuliert.23 Dreh- und Angelpunkt bildet die Konstruktion einer geschlossenen Gesellschaft, in welcher Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit, pluralen Geschlechteridentitäten und gleichwertigen Lebenschancen als Leitbilder nicht mehr vorkommen. Gleichzeitig lassen sich die Konsequenzen dieser gesellschaftlichen Transformation kaum ange‐ messen mit den Begriffen der Re-Traditionalisierung24 oder des Anti-Genderismus25 beschreiben. Denn die unterschiedlichen Diskurse, die Differenzen wie race, class, gender, ethnicity intelligibel und bedeutungsvoll machen, verbinden sich zu einem 20 21 22 23 24 25
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Wilde 2018. Lams/Crauwels/Şerban 2014, S. 122. Hall 2014. Vgl. Graf/Schneider/Wilde 2017, S. 70-88; Wilde/Zimmer/Obuch/Panreck 2018. Köttig/Bitzan/Petö 2017. Hark/Villa 2015.
„Wahrheitsregime“26, das nicht nur tiefgreifend zwischen legitimen und illegitimen Formen geschlechtlicher Identitäten, Lebensentwürfen und Handlungspraxen spaltet. Als wesentlich entscheidender erweisen sich die autoritären Verengungen des Politi‐ schen, aus dem alternative, die vermeintliche ‚Stabilität‘ bedrohenden Rollenbilder und Praxen ausgegrenzt und umgedeutet werden. Im Zuge dieser Umdeutungen wird der Raum für Handeln und Urteilskraft, Solidaritäten und Verantwortlichkeiten nicht nur eingeschränkt, sondern zunehmend durch systematische Diskriminierungen und Bedrohungen mittels demagogischer und aggressiver Rhetorik verschlossen. Gleich‐ zeitig löst sich die geschlossene Gesellschaft als Machtordnung keineswegs auf, sondern ist und bleibt eine machtvolle Ordnung. In dieser übernimmt das Geschlecht als Differenzkategorie eine entscheidende und bedeutende Funktion für die Legiti‐ mation autoritärer Politiken, für die Aushöhlung der Demokratie, für die Neuord‐ nung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und für die Rehabilitierung der Ideen von Ethnizität und Nation.
2. Das Autoritäre als geschlechtliches Machtpositiv Aus feministisch-poststrukturalistischer Perspektive handelt es sich beim Autoritä‐ ren also keineswegs nur um eine „dünne Ideologie“27 oder einen „politischen Stil“28. Vielmehr ist das Autoritäre als etwas Erzeugendes, Hervorbringendes zu begreifen, das in der Gesellschaft in verschiedenen Bereichen agiert. Das wahrlich gefährliche Potenzial des Autoritären zeigt sich in Form einer politischen Konstellation, die „genuin vergeschlechtlicht“29 ist und tief in die gesellschaftlichen Verhältnisse hin‐ einreicht. Seine zerstörerische Kraft entfaltet sich hinter und jenseits staatlicher In‐ stitutionen und demokratischer Prozesse als eine Art des Denkens, Fühlens und des Handelns, als Ensemble kultureller Gewohnheiten und Traditionen, als Ausdruck von Leidenschaften und Ressentiments und mit einer ureigenen Sprache und Rheto‐ rik. Aus einer feministisch-poststrukturalistischen Analyseperspektive lassen sich vier gesellschaftliche Bereiche oder „Felder der Herstellung bedeutungsvoller Unter‐ scheidungen“30 identifizieren, in welchen sich die Mechanismen, Wirkungen und Beziehungen des autoritären Populismus als ein gesellschaftliches Handlungspro‐ gramm bestimmen lassen.31 So erfolgen die Konstruktion autoritärer Geschlechter‐ diskurse, die Generierung von Gender-Wissen sowie Normalisierungsprozesse, ers‐ 26 27 28 29 30 31
Hall 2018, S. 79. Moffitt 2016, S. 43ff. Mudde 2007, S. 23. Sauer 2017, S. 4. Hall 2018, S. 102. Foucault 1999, S. 23.
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tens, in der organisierten Zivilgesellschaft, deren Bedeutung Alexis de Tocqueville32 im Rahmen seines republikanischen Demokratiemodells hervorhob; zweitens, in der politischen Öffentlichkeit, die Hannah Arendt33 als wesentlichen Bereich für das Po‐ litische sah, drittens, in der familialen Privatheit als einen Bereich, den Carole Pa‐ teman34 für die Geltung gleicher Rechte von Frauen‘ erachtete, sowie, viertens, in hegemonialen Diskursen, die Mouffe35 in ihrem Ansatz zur agonalen Demokratie als wesentlich für die Herausbildung demokratischer Institutionen betonte.
2.1. Instrumentalisierung und Fragmentierung der organisierten Zivilgesellschaft In seiner berühmten Schrift Über die Demokratie in Amerika hat Tocqueville dar‐ gelegt, wie wichtig zivilgesellschaftliche Organisationen für die Ausbildung einer spezifischen bürgergesellschaftlichen Konstitution und Kultur und damit für die Umsetzung der Demokratie als Lebensform sind.36 In seiner Auffassung ist es der Zivilgesellschaft als einer Schule der Demokratie zu verdanken, dass die Aus‐ übung politischer Handlungsfreiheit wirksame Schranken sowohl gegen die autoritä‐ ren Versuchungen des Staates wie auch gegen die tyrannischen Zumutungen von Mehrheiten setzt.37 Unter autoritären Bedingungen hingegen – darauf hat Antonio Gramsci38 hingewiesen – wird die Zivilgesellschaft politisch zunehmend umgedeu‐ tet und spielt weniger für Demokratie, sondern für die Persistenz von Machtverhält‐ nissen eine zentrale Rolle. Mit anderen Worten: Dient sie in einem republikanischdemokratischen Verständnis vor allem der aktiven Partizipation von Bürger*innen, wirken zivilgesellschaftliche Organisationen, Parteien und Bewegungen unter auto‐ kratischen und autoritären Bedingungen vor allem Status quo stabilisierend. Dass Frauen*organisationen nicht per se zu einer Verschiebung der Machtver‐ hältnisse im Sinne einer Demokratisierung beitragen, sondern im Gegenteil vor allem dazu dienen, autoritäre Regime zu stabilisieren und zu legitimieren, belegen Forschungen vor allem zu lateinamerikanischen Transitionsgesellschaften, wie etwa Nicaragua39 und Chile40, sowie nordafrikanischen Staaten, wie etwa Tunesien41. Neben staatlicher Kooptation und Instrumentalisierung von Frauen*organisationen vor allem im Bereich der Dienstleitungserstellung zeigt sich die Fragmentierung zi‐ 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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Tocqueville 1985. Arendt 1994. Pateman 1988. Mouffe 2000, 2014. Tocqueville 1985. Zimmer 2018. Gramsci 1991. Obuch 2018. Graf 2018. Wilde/Sandhaus 2018.
vilgesellschaftlicher Organisationen als eine wichtige Strategie unter autoritären und hybriden42 Bedingungen. Im Gegensatz zu denjenigen zahlreichen Frauen*organisa‐ tionen, die auch noch in der Transitionsphase im Sinne der ambivalenten staatlichen Politiken agieren, u.a. auch um Konflikte mit der Regierung zu vermeiden, wird der unabhängige und kritische Teil der Frauen*bewegung, der wie etwa in Chile gegen Menschenrechtsverletzungen protestierte und für die Suche nach Verschwundenen eintrat, immer kleiner und ist zunehmenden Restriktionen und Repressionen unter‐ worfen.43 Ähnliches gilt auch für Tunesien, wo Frauen*organisationen allenfalls ru‐ dimentär am Verfassungsprozess beteiligt waren und insofern ihre Anliegen nur be‐ grenzt einbringen konnten. Auch in den Mitgliedstaaten der EU zeigt sich die Instrumentalisierung und Fragmentierung der Zivilgesellschaft für nahezu alle neuen identitären Protestbewe‐ gungen wie PEGIDA, Gelbwesten oder Die Identitären. Wie ein Transmissionsrie‐ men mobilisieren autoritär-populistische Parteien nicht die Bürger*innen, sondern das ‚Volk‘ und die ‚Nation‘; auch artikulieren sie nur noch eingeschränkt gruppen‐ spezifische Interessenslagen, sondern repräsentieren nationalistische Einheitsideen auf der Grundlage traditioneller Werte und tragen so zu ungleichen Geschlechter‐ verhältnisse bei. Die „Flucht ins Autoritäre“44 geht einher mit einer dezidiert antide‐ mokratischen Natur dieser Bewegungen, die weniger partizipieren, indem sie aktiv politisch handeln, sondern gegen demokratisch legitimierende Politik protestieren. Die Macht der Gesellschaft – sie äußert sich hier vor allem mit „Wut, Verachtung und Abwertung“45 insbesondere gegenüber Gleichstellungs-, Antidiskriminierungs-, politischen Teilhabe- und sozialen Rechten. Dabei kommt mit der Abwehr besonders gegen Geschlechtergerechtigkeit, Genderprofessuren und Gender Mainstreaming oftmals auch der Frust über die eigene prekäre soziale Situation und Ungleichheits‐ verhältnisse zum Ausdruck.46
42 Hybride Bedingungen werden von Verfassungsordnungen geschaffen, die in erster Linie Staatsorganisationsprinzipien beschreiben und weniger auf die normativen, demokratischen Grundlagen eingehen. 43 Graf/Schneider/Wilde 2017. 44 Decker 2018b. 45 Zick/Küpper 2015. 46 Vgl. Eco, 2020, S. 30ff. Umberto Eco hat insgesamt 14 Merkmale des ewigen bzw. Ur-Faschis‐ mus beschrieben. In den „frustrierten Mittelklassen, die unter einer ökonomischen Krise und/ oder einer politischen Demütigung litten und sich vor dem Druck subalterner gesellschaftlicher Gruppen fürchteten“ (ebd., 33f.) werde der neue Faschismus seine Mehrheit finden, prognosti‐ zierte er bereits 1995 in einem Vortrag Der ewige Faschismus auf einem von der Columbia University in New York veranstalteten Symposium zum 50. Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus.
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2.2. Schließung und Entpolitisierung der Öffentlichkeit als Handlungsraum Auch mit dem zweiten zentralen Bereich der politischen Öffentlichkeit, die für die Formierung machtvoller Verhältnisse eine zwingende Rolle spielt, lässt sich aufzeigen, worin der Angriff auf demokratische Geschlechterverhältnisse tatsächlich besteht. Mit ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft47 konzipierte Arendt die plurale Öffentlichkeit als Wesensmerkmal des Politischen und als Gegen‐ modell zur totalen, autokratischen Herrschaft. Mit Blick auf die faschistischen und stalinistischen Regimen beschrieb sie die Begrenzung eines politisch-öffentlichen agonalen Raums, in der es nicht mehr um die Repräsentanz und plurale Handlungs‐ freiheit verschiedener, gleichwertiger Bürger*innen geht, auch nicht mehr um die Thematisierung gleicher Rechte für Minderheiten und Zugewanderte und schon gar nicht um Integration.48 Stattdessen verändert sich die Öffentlichkeit, gleitet unter der Ägide autoritärer Politik mehr und mehr ab in die Restauration eines geschlos‐ senen und entpolitisierten Raumes, in der die Pluralität geschlechtlicher Identitäten zerstört und die Beteiligung, Sichtbarkeit und Handlungsfähigkeit geschlechtlicher Subjekte und Bürger*innen anhand entsprechender Gesetze und staatlicher Maßnah‐ men zunehmend und repressiv zurückgedrängt werden.49 Gemessen an den drei Machtverständnissen in der politischen Theorie ist es weniger die ermächtigende Handlungsmacht im Sinne Arendts, auch nicht die produktive oder auch disziplinie‐ rende Macht in der Deutung von Foucault, sondern eine primär im Max Weberschen Sinne diskriminierende Macht, welche die formale Verbesserung der Stellung von Frauen*, etwa durch die Einführung von Quoten, durch mangelhafte Implementation der Gesetze und autokratische Tendenzen der Regierung konterkariert.50 Zugleich wird vielen Frauen* der Zugang zu politischen Ämtern und Partizipation verwehrt, während Frauen*, die offizielle Ämter besetzen, oftmals nur als ‚Marionetten‘ des Regimes dienen, ohne tatsächliche Macht zu besitzen. In der Praxis tragen die Politiken der Regierung so zu einer Verdrängung von Frauen* aus einem deutlich maskulin dominierten, begrenzt pluralen öffentlichen Raum, zur Einschränkung ihrer politischen Handlungsfreiheit und damit zu einer Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse bei, anstatt diese zu verändern.51 Darüber hinaus treiben homophobe, identitäre und protektionistische Denkmus‐ ter und Programmatiken verstärkt die Zerstörung dessen voran, was Arendt als 47 Arendt 1991. 48 Wilde 2012. 49 Die Umkehrung von Sichtbarkeitsregimen und ihre Bedeutung für die Herausbildung von Machtdispositiven hat Mareike Gebhardt (2019, S. 313) eindrucksvoll am Beispiel von Fou‐ cault aufgezeigt, der im Rahmen seiner Gouvernementalitätsstudien (2000) dargelegt hat, wie ehemals unter Bedingungen des modernen Rechts und moderner Politik die medizinischen Be‐ kämpfungsstrategien der Pest zu einer soziopolitischen Disziplinarmacht transformiert wurden. 50 Vgl. Graf 2018; Obuch 2018. 51 Vgl. Wilde/Sandhaus 2018.
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„Recht, Rechte zu haben“52 einforderte: das Recht auf Mitgliedschaft in einer Ge‐ meinschaft, in welcher das öffentliche Erscheinen und Zueinander-in-BeziehungTreten von unterschiedlichen Identitäten den Gebrauch von Rechten garantiert, um den politischen Handlungsraum für vielfältige kulturelle, öffentliche und zivilgesell‐ schaftliche Praxen zu erweitern. Dass diesem demokratischen Prinzip der Offenheit und des „Gemeinsamen“53 zunehmend das autoritäre Prinzip der Geschlossenheit gegenübersteht, zeigen die Leitlinien des Parteiprogramms der AfD54, mit welchem Gleichstellungspolitik dezidiert abgelehnt und als Angriff auf die „naturgegebenen“ Unterschiede zwischen Frauen* und Männern* gewertet wird.55 Die Schließung des öffentlichen Raums – das belegen die Vorkommnisse u.a. in Chemnitz – erfolgt mit deutlichem Bezug auf Einheitsmetaphern wie ‚Volk‘ und ‚Natur‘ und mittels Verun‐ sicherungsdiskursen und Bedrohungsszenarien, die öffentliche Angst schüren, die Urteilsfähigkeit von Bürger*innen einschränken, Anti-Genderismus befördern und damit die Bereitschaft und Zustimmung für eine geschlossene, von Fremden und ,Anderen‘ nicht bevölkerten Gesellschaft sichern.
2.3. Familiale Privatheit als natürliche Ordnung Die Einschränkung der politischen Handlungsfreiheit und Teilhabe von Frauen steht dabei in einem engen Zusammenhang mit einer aktuellen Wiederaufwertung von Familie und Mutterschaft – ein dritter Bereich, der vor allem aus feministischer Per‐ spektive eine zentrale Bedeutung für die politische Organisation gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse und deren Festschreibung als Macht- und Herrschaftsver‐ hältnisse hat. Ausschlaggebend hierfür sind nicht zuletzt die Erkenntnisse zu der strukturellen Abgrenzung zwischen der politischen Öffentlichkeit und der familialen Privatheit, die Pateman als ein zentrales Moment des Politischen für die Geltung staatsbürgerlicher Rechte von Frauen* herausgearbeitet hat.56 Ableitend davon besteht das Autoritäre vor allem in einer Re-Traditionalisie‐ rung der Geschlechterverhältnisse, die in Form von Ehe- und Familienleitbildern, dichotomen Geschlechterrollen in rechtlichen Regelungen, Parteiprogrammen und anhand öffentlicher Diskurse die Geltung staatsbürgerlicher Rechte sowie die politi‐ 52 Arendt 1991, S. 462. „Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben - und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird -, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen“. 53 Arendt 1994, S. 56. 54 Programm für Deutschland 2016; Europawahlprogramm 2019. 55 Graf/Schneider/Wilde 2017; Bloemen/Wilde 2019. 56 Pateman 1988.
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sche Handlungsfreiheit von Frauen* einschränken. Die Anrufung der traditionellen Familie mit Vater, Mutter und (mindestens drei) Kindern ist nicht nur harmlos ‚vor‐ modern‘, sondern Ausdruck einer autoritär verfügten und sexistisch unterlegten Vor‐ stellung von Geschlechterungleichheit, die durch Annahmen des Völkischen und Nationalistischen mit rassistischen Ressentiments verdichtet wird. Entscheidend da‐ bei sind die Legitimierungen, die Rechts- und Partizipationsansprüche mit hetero‐ normativen und ethnischen Vorstellungen zu Familie, Ehe und Chancengleichheit koppeln und heterogene soziale Forderungen mit fremdenfeindlichen und sexisti‐ schen Ansprüchen zurückweisen.57 Die Umdeutung rechtlicher Regelungen, das Be‐ tonen wertkonservativer Familienbilder und die diskursive Konstruktion dichotomer, homophober Geschlechterrollen und -identitäten sind zentrale Merkmale des autori‐ tären Populismus, der anhand von Identitätsangeboten und Leitbildern zu Familie und Geschlechterverhältnissen in den Parteiprogrammatiken einen geschlechterpoli‐ tischen „Roll-Back“ formuliert, der sowohl für die Familienformen als auch für die Geschlechterrollen eine Orientierung an einer traditionellen, vermeintlich natürli‐ chen Ordnung vorsieht. Verknüpft wird diese Programmatik mit Bedrohungsszenari‐ en und Auflösungsmetaphern wie „Masseneinwanderung“, „Aufhebung von Identi‐ täten“ und „Stigmatisierung“.58 Damit wird der Positionierung der AfD eine Allein‐ stellung und Widerständigkeit attestiert, die sich von herkömmlichen konservativen Positionen unterscheidet. Geradezu beispielhaft ist die Ablehnung gesellschaftlicher Pluralität in Bezug auf die Familienformen und die gesellschaftlichen Handlungs‐ räume von verschiedenen geschlechtlichen Identitäten jenseits von Heteronormativi‐ tät als ein Kernelement des Autoritären. Mit der Forderung nach einer Verschärfung des Abtreibungsrechts wird z.B. die Handlungsfreiheit und die körperliche Selbstbe‐ stimmung von Frauen* zur Disposition gestellt – eine „Willkommenskultur für Un‐ geborene“ wird gegen die Abtreibung aufgrund sozialer Indikation als nur vorgebli‐ ches „Menschenrecht“ in Stellung gebracht.59
2.4. Sprachliche Konstruktion von Wissen in Normalisierungsdiskursen Ein Kult der Überlieferung und der Bezug auf Traditionen ist nach Umberto Eco ty‐ pisch für den „Ur-Faschismus“60, wie er das von Theodor W. Adorno61 beschriebene gesellschaftliche Fortbestehen faschistischer Bestrebungen benennt. Infolgedessen „kann es keinen Fortschritt des Wissens geben“, sondern allein die Interpretation der „dunkle(n) Botschaft“ eines autoritären Politikstils, der sich einem Kampf gegen 57 58 59 60 61
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Graf/Schneider/Wilde 2017. Programm für Deutschland 2016, S. 44. Ebd. Eco 2020, S. 30. Adorno 2019, S. 10.
Feind*innen, Fremde und als different diffamierten Identitäten und Subjektpositio‐ nen verschrieben hat.62 In dieser Hinsicht adressieren autoritäre Diskurse die Gesell‐ schaft mit einheitlichen, anti-pluralistischen, restriktiven und heteronormativen Prin‐ zipien, ohne bestehende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse auch nur im Ansatz zu berücksichtigen, geschweige denn, die daraus entstehenden Konflikte öffentlich zu thematisieren und diskursiv zu verarbeiten. Dass sich eine radikaldemokratische Politik63 aber gerade an einem grundlegenden, die Gesellschaft konstituierenden Antagonismus abarbeiten muss, statt – wie Carl Schmitt dies vertrat – ihn über das Ausmerzen alles Differenten und Verschiedenen zu bewältigen, macht das agonale Politikmodell mehr als deutlich.64 So lehnt es Mouffe ab, das ‚Andere‘ zu eliminie‐ ren (Antagonismus), sondern führt die politische Differenz in einen dissensuellen Agonismus, in dem verschiedene Subjektpositionen miteinander streiten, statt gegen‐ einander zu kämpfen. Stattdessen lässt sich jedoch in den autoritär geführten hegemonialen Diskursen eine Reduktion der ohnehin geringen Zahl institutionalisierter diskursiven Praxen feststellen. Unter zunehmend autoritären Bedingungen werden öffentliche Ausein‐ andersetzungen und Konflikte nicht nur über Konsenspolitiken eingeschränkt. Viel‐ mehr wird die Anerkennung politischer Akteur*innen als Gegner*innen, die sich vor dem Hintergrund ihrer ungleichen Machtpositionen bewegen und um politische Lö‐ sungen streiten, anhand von Identitäts- und Einheits-, Normalisierungs- und Diszi‐ plinierungsdiskursen geradezu verhindert. Diese sprachliche Konstruktion von Wis‐ sen spielt eine zentrale Rolle für die Wirksamkeit der Strategien in den bereits ge‐ nannten Bereichen der organisierten Zivilgesellschaft, der politischen Öffentlichkeit und der familialen Privatheit. Die Inszenierung von Differenz erfolgt vor allem in Form von Diskursen, in welchen Identitäten und Leitbilder sowie grundlegende Vor‐ stellungen und Gemeinschaften verhandelt werden. So zeigt der Mediendiskurs zur Kölner Silvesternacht 2015 beispielhaft die Kulturalisierung von Sexismus durch die Diskursverschränkung mit Rassismus.65 Sexismus und Rassismus erweisen sich dabei als „Diskriminierungsoperatoren“66, anhand derer die Differenz zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ markiert und legitimiert wird.67
62 Eco 2020, S. 31. 63 Mit ihrem Begriff der radikaldemokratischen Politik grenzen sich Mouffe und Laclau theore‐ tisch und konzeptionell von einem liberalen Demokratieverständnis ab, indem sie Demokra‐ tie als umkämpfte Selbstinstituierung von Gesellschaft begreifen. Radikale Demokratie zielt darauf, die Kontingenz getroffener, politischer Entscheidungen, die Konstruktion sozialer, geschlechtlicher Identitäten sowie die Geltung von Freiheits- und Gleichheitsrechten in Abhän‐ gigkeit gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen. 64 Wilde 2014. 65 Dziuba-Kaiser/Rott 2016, S. 121. 66 Dietze 2016, 94. 67 Hall 2004.
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Mit dem Bezug auf die Differenz zeigt sich der Diskurs als eine produzierende Macht der Gesellschaft, indem mittels Alltagsrassismus und Alltagssexismus Trenn‐ linien aufgebaut und Subjektidentitäten verschoben werden. Den Medien kommt bei der Artikulation von Differenz als einem zentralen Anker für die Stabilisierung von Bedeutung und Konstruktion von Identität eine entscheidende Bedeutung zu68: Einerseits wird ein archaisches Frauenbild von eingewanderten Männern* vermeint‐ lich nordafrikanischer Herkunft als Bedrohung inszeniert und im gesellschaftlichen Kontext eingeordnet; andererseits werden Sagbarkeitsfelder zu sexueller Gewalt auf den ethnosexistisch aufgeladenen ‚Anderen“ (den ‚Nafri‘) verschoben, damit ein kolonialer Stereotyp des hypersexualisierten ‚schwarzen Mannes‘ reproduziert und zum Diskurs um Kriminalität und Einwanderung hinzuaddiert – mit der Folge, dass sexuelle Gewalt „relativiert, normalisiert und als Importprodukt des Anderen diskursiv abgespalten wird.“69 ‚Köln‘ wird so zur Inszenierung eines Bruchs mit gesellschaftlichen Normen und gleichsam zum Selbstbild einer Gesellschaft umge‐ deutet, in der Emanzipation, Gleichstellung und körperliche Selbstbestimmung von (‚weißen‘) Frauen* bereits erfolgreich realisiert zu sein scheinen. Gleichzeitig nutzen rechtspopulistische Akteur*innen und autoritäre Bewegungen das Thema Gender verstärkt zur Emotionalisierung von Debatten, wobei die argu‐ mentativen Strategien in zwei sich nur scheinbar widersprechende Richtungen füh‐ ren: Einerseits werden Anstrengungen zur Gleichstellung diskreditiert, andererseits wird der Verweis auf westliche, liberale und emanzipative Errungenschaften dazu genutzt, um Emotionen gegen Andere und Fremde, insbesondere gegen Muslime als aktuelles Feindbild, zu schüren. Die Auffassungen von heteronormativen, natür‐ lichen Geschlechterordnungen tritt dabei nicht selten in den Dienst der Abwehr rationaler Argumente und kritischen Denkens. Die Verknüpfung der Differenzkate‐ gorie Geschlecht mit anderen Erscheinungsformen von Ungleichwertigkeit einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antisemitismus und der Abwertung von Muslimen erweist sich dabei als eine zentrale, freilich antiintellektu‐ elle Diskursstrategie, anhand derer Geschlecht und Geschlechterverhältnissen eine neue Ordnungsfunktion seitens des autoritären Populismus zugewiesen wird. So erfolgt im autoritären Geschlechterdiskurs die Konstruktion geschlechtlicher Diffe‐ renz anhand von ethno-sexistischen Feindbild- und Identitätskonstruktionen, wobei nicht die Imagination einer antagonistischen Zweiteilung des öffentlich-diskursiven Raums in das ‚Eigene‘ und ‚Fremde‘ bzw. ‚Selbst“ und ‚Andere‘ das eigentliche Problem darstellt, sondern die Verschleierung geschlechtlicher Differenz und Plura‐ lität, die Fixierung von Heteronormativität sowie die Entpolitisierung des öffentli‐ chen Raums durch die Schließung geschlechtlicher Aushandlungsprozesse.
68 Laclau/Mouffe 2006. 69 Dziuba-Kaiser/Rott 2016, S. 126.
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3. Die Herausforderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse durch agonale Institutionen – ein Fazit Welche Aussagen lassen sich aus den Erkenntnissen zum Autoritären und seinen unterschiedlichen diskursiven Praxen für eine Beschreibung des Autoritären als geschlechtliches Machtdispositiv machen und welche Schlussfolgerungen können daraus für mögliche politische und demokratische Lösungen gezogen werden? Mit den feministisch-poststrukturalistischen Betrachtungen zum Autoritären und dessen zentralen Strategien der Re-Traditionalisierung, des Anti-Genderismus, der Instrumentalisierung, Ausgrenzung, Diskriminierung und der Identitätskonstruktion als soziale „prozesshafte Institution“70 ging es um die Theoretisierung von zwei zentralen Merkmalen des Autoritären: Zum einen haben autoritäre Entwicklungen ihren Ausgangspunkt in der Gesellschaft und nicht erst mit dem Aufkommen rechts‐ populistischer Parteien. Wenn der Rechtspopulismus ein Handlungsprogramm mit eigenen Standards ist, etwa in den Parteiprogrammatiken und bezogen auf das Auftreten und die Rhetorik von Parteien, dann verfügt das Autoritäre über ein Handlungsprogramm, das über bestimmte Diskurse und Praxen autoritäres Denken und Handeln in die Gesellschaften einschreibt. Diese Macht der Gesellschaft, die sich mit dem Autoritären als ein Dispositiv zum Ausdruck bringt, wurde bislang sträflich unterschätzt. Das Autoritäre als ein Machtdispositiv und damit als „ein entschieden heteroge‐ nes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglemen‐ tierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesag‐ tes eben sowohl wie Ungesagtes umfaßt (sic)“71, ist in den politischen Gesellschaf‐ ten bereits breit verankert und wirkt nachhaltig in den unterschiedlichen Bereichen. Und weil auch Foucault72 gleichzeitig darauf verweist, dass ein Dispositiv stets eine strategische Funktion hat, um zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt in Kräfte‐ verhältnisse eingreifen zu können, haben die diskursiven Praktiken des Autoritären die demokratischen Gesellschaften schon viel stärker und nachhaltiger verändert, als die (wissenschaftliche) Einschätzung des autoritären Rechtspopulismus als einer Volksbewegung gegen die politische Elite vermuten lässt. Das betrifft auch die demokratischen Institutionen, die durch den reklamierten Alleinvertretungsanspruch auf das nationale Volk zur Disposition gestellt werden. Ein zweites wesentliches und grundlegendes Merkmal des Autoritären besteht in Bezug auf die Differenzkategorie Geschlecht. In diesem Verständnis wird diese vom autoritären Populismus dazu missbraucht, über die Neuformierung geschlechtlicher 70 Rosa 2007, S. 47ff. 71 Foucault 1978, S. 119f. 72 Ebd., 120ff.
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Machtverhältnisse demokratische Gesellschaften autoritär auf den Kopf und mit einem reklamierten Alleinvertretungsanspruch auf das nationale, homogene Volk auch die demokratischen Institutionen zur Disposition zu stellen. Doch geht es – anders als im liberaldemokratischen Ansatz – aus einer radikaldemokratischen Per‐ spektive weniger um die Erosion kultureller Gemeinschaftssemantiken, von denen die Legitimität konsensorientierter Entscheidungsverfahren und der Minderheiten‐ schutz zehrt, sondern um die Ausblendung von Pluralität und Differenz. Der dezidierte Bezug auf Gender ist dabei keineswegs zufällig und in seinen un‐ terschiedlichen Dimensionen auch nicht paradox. Vielmehr folgt er einer grundsätz‐ lichen Logik, insofern die natürliche Geschlechterdifferenz und die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse zentrale Ordnungs-, Legitimations- und Sicherungsfunktio‐ nen übernehmen. Die diskursive Konstruktion wie auch Praxen der Normalisierung bilden dabei die zwei Seiten des Autoritären: Ethnozentrismus, Ethnosexismus und rassistischer Sexismus lassen die Verknüpfungen der Differenzkategorie Geschlecht mit anderen Differenzkategorien der ‚Rasse‘, Nation und Ethnie erkennen und die‐ nen autoritären Ordnungs- und Sicherheitsdiskursen letztendlich dazu, über den vermeintlichen Schutz von Frauen* Fremdenfeindlichkeit zu legitimieren. In der Verschränkung liberaler Argumente mit anti-feministischen, rassistischen, anti-mus‐ limischen und migrations- und sicherheitspolitischen Diskursen wird so letztendlich die differente, plurale Dimension als Wesensmerkmal politischer Gesellschaften geleugnet, der demokratische Streit um Deutungsmacht mit vorzeitigen Ideologemen abgeschafft, Subjekte in ihre natürliche und von heteronormativen Vorstellungen geprägte Schranken verwiesen und Machtverhältnisse entlang eines scheinbaren konservativen Wertekonsens auf Dauer gestellt. Mit Blick auf diese Erkenntnisse gibt das Modell der agonalen Demokratie eine geeignete Antwort, indem es auf ein Versagen der liberalen Demokratie hinweist, die Politik nur in Institutionen vermutet und nicht in gesellschaftlichen Machtver‐ hältnissen, die sich in ihnen manifestieren. Ausgehend von der Annahme, dass die Demokratie ebenso wenig wie das Autoritäre nur eine Staatsform ist, werden beide Formen des Politischen von und durch eine aktive Gesellschaft begründet, die an‐ hand von diskursiven Praktiken und im Sinne von Beteiligungs- und Partizipations‐ formen die Demokratie als Lebensweise umsetzt und realisiert. Radikale Demokratie stellt die Demokratisierung zentraler Bereiche und Institutionen in der politischen Gesellschaft in das Zentrum. Doch sind diese demokratischen gesellschaftlichen In‐ stitutionen nicht das Vehikel für Dialog und Konsens, oder um rationale Antworten auf die verschiedenen Probleme einer Gesellschaft zu finden; vielmehr gelten sie ausgehend von der Annahme, dass Machtverhältnisse generell kontingent und nichts
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anderes als das Resultat diskursiver Praktiken sind, als Orte für unentscheidbare Auseinandersetzung, Streit und Kämpfe.73 Auch wenn Mouffe zumindest explizit keine Theoretisierung der „Agonalität der Institutionen“74 vorgenommen hat, legt Judith Butler ergänzend zu den Ansätzen von Mouffe, Laclau oder Rancière ein Verständnis von Versammlungen vor, das aus einer agonalen Perspektive von der Volkssouveränität als einer gesellschaftlichen Praxis erzählt und zeigt, wie demokratische Institutionen das menschliche Zusam‐ menleben im Rahmen der Konfiktualität organisieren können.75 Wenn Butler auf den Begriff der Performativität zu sprechen kommt, dann geht es nicht primär um sprachliche Äußerungen, sondern um die Inszenierung politischer Bedeutungen, die – unabhängig von diskursiven und sprachlichen Forderungen – allein durch verkörperte Handlungen die Begrenzungen des formalen Prinzips der Volkssouverä‐ nität durch die politische Form aufzeigen.76 Als Gegenmaßnahme zu einer Politik, die Frauen*organisationen als Legitimationsquelle benutzt, ohne ihnen eine reale Einflussmöglichkeit in den politischen und europäischen Institutionen zu gewähren, sieht Butler die Instituierung der Volkssouveränität als eine Handlungspraxis in Form von Protesten, Versammlungen und zivilgesellschaftlichen Aktionen verwirk‐ licht, die mittels wiederholter, verbaler und non-verbaler, leiblicher und virtueller In‐ szenierungen auf bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten vor allem in den Geschlechterverhältnissen hinweisen, prekäre Lebenssituationen von und Angriffe auf weibliche und non-binäre Geschlechteridentitäten thematisieren und Ansprüche auf Schutz und bessere Lebensbedingungen formulieren. Um die Funktion der Radikalisierung des Volkssouveränitätsprinzips für die Konstituierung verletzbarer, vulnerabler Subjekte zu verstehen, muss man sich aller‐ dings bewusst machen, dass die Prekarität keineswegs als ein empirisches Resultat bestimmter Produktionsweisen im ökonomischen Sinne zu verstehen ist. Als Schlüs‐ selbegriff für die agonale Konzeptionalisierung der Volkssouveränität wird Prekari‐
73 Zum demokratischen Umgang mit Konflikten und den Problemen in der Ausgestaltung politi‐ scher Institutionen, vgl. Westphal 2018. 74 Mit Verweis auf den Beitrag von Wallaschek in diesem Band und Wallaschek 2017, S. 3. Es steht jedoch in Frage, ob das Fehlen einer Theoretisierung der Agonalität von Institutionen gleichbedeutend damit ist, dass Mouffe „keinen spezifischen Institutionenbegriff hat“ (ebd., S. 4). So negiert Mouffe die Vorstellung notwendiger, natürlich bedingter oder legitimer Insti‐ tutionen (vgl. Hildebrand 2017, S. 106). Statt politische Institutionen „als unmittelbare[n] Aus‐ druck objektiver Positionen in der gesellschaftlichen Ordnung“ (Mouffe 2018, S. 53) zu sehen, dekonstruiert sie Institutionen als Effekte politischer Fixierung von Sinn (vgl. Marchart 2007, S. 11ff., 155). 75 Butler 2016. 76 Butler 2016, S. 16f. Versammlungen sind körperliche Inszenierungen und stellen als solche für Butler eine plurale Form der Performativität dar (ebd., S. 16), allein dadurch, dass Körper „in‐ mitten der Handlungen eines anderen plaziert werden“ (ebd., S. 17), wodurch Beziehungen entstehen, die non-verbal ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ich und dem Wir konstituie‐ ren.
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tät vielmehr allgemein als eine Norm und im Spezifischen als eine Erfahrung77 ge‐ sellschaftlicher Realität verstanden, in der Gefährdetheit (precariousness)78 ungleich verteilt ist: „Prekarität bezeichnet den politisch bedingten Zustand, in dem bestimm‐ te Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer Unterstüt‐ zungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere.“79 Die öffentliche Performanz von Körpern schließlich stellt eine radikal‐ demokratische Ausübung von Versammlungsfreiheit und Volkssouveränität insofern dar, als sie den Kampf gegen diskursiv produzierte Formen der Prekarität sichtbar macht und die Infragestellung von Ungleichheits- und Machtverhältnissen in das Zentrum einer demokratischen diskursiven Praxis rückt. Diese neue demokratietheoretische Perspektive ermöglicht es schließlich, diejeni‐ gen Versammlungen, die für eine Demokratisierung der Demokratie stehen, von denjenigen öffentlichen Auftritten und Protesten zu unterscheiden, die zum Ziel haben, demokratische Verhältnisse zu beschränken, zu transformieren oder gar neue Machtverhältnisse in die Gesellschaften einzuschreiben. Zu einem besseren Verständnis ihrer Auffassung trägt zweifellos bei, das Phänomen des Handelns meta‐ phorisch im Bild des öffentlichen Erscheinens einer Vielzahl von Körpern zu verste‐ hen. Nicht nur die Institutionen der Zivilgesellschaft, sondern auch parlamentarische Institutionen sind in Form diskursiver Praxen entscheidend für die Konstitution einer Öffentlichkeit als politischer Handlungsraum, in welchem Politik ermöglicht wird gegen Bestrebungen, die etwa darauf zielen, weibliche und subalterne/nicht-binäre Identitäten in der Öffentlichkeit unsichtbar zu machen, ihre politische Handlungs‐ freiheit zu begrenzen und soziale und geschlechtliche Pluralität zu zerstören. Gerade vor dem Hintergrund eines sinkenden Anteils von Frauen* – oder von Personen mit Migrationserfahrung – nicht nur im Bundestag, sondern in allen wesentlichen gesell‐ schaftlichen Führungs- und Entscheidungsebenen betrifft das eine paritätische Be‐ 77 Vgl. Neilson/Rossiter 2008, S. 63 zum Begriff der Prekarität als Erfahrung: „Prekarität ist kein empirisches Objekt, das als stabil und enthalten vorausgesetzt werden kann. Es könnte besser als eine Erfahrung verstanden werden, da das Aufdecken der Tonalitäten der Erfahrung einen Ansatz erfordert, der keine Entweder-Oder-Beziehung zwischen konzeptuellen und empiri‐ schen Ansätzen für die Welt schafft.“ 78 Ich danke Mareike Gebhardt für Ihre Anregung, zum besseren Verständnis von Butler an dieser Stelle nochmals auf die verschiedenen Bedeutungsdimensionen von precariousness (Gefähr‐ detheit), Prekarität und gouvernementaler Prekarisierung hinzuweisen: Demnach handelt es sich bei dem Begriff der Gefährdetheit oder in der Verwendung von Prekär-Sein bei Isabell Lorey (2011, S. 1; 2010) um eine Art sozialanthropologisches „Mit-Sein“, um „eine Bedin‐ gung, die menschlichen wie nicht-menschlichen Lebewesen zu eigen ist.“ Hingegen bezeichnet Prekarität eine soziale, diskursiv hergestellte Realität, die hierarchisch strukturiert ist; und bei dem von Lorey eingeführten Begriff der gouvernementalen Prekarisierung handelt es sich um eine politische Konstituierung, anhand derer sich „die komplexen Wechselwirkungen eines Re‐ gierungsinstruments mit ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen sowie Subjektivierungswei‐ sen in ihrer Ambivalenz zwischen Unterwerfung und Ermächtigung“ (ebd.) problematisieren lassen. 79 Butler 2016, S. 48.
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setzung von Wähler*innenlisten und Parlamenten ebenso wie Wirtschaftskonzerne und zentrale Institutionen in kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Bereichen. Erst dann nämlich wird eine Politik möglich sein, welche die Interessensvielfalt der Bürger*innen nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern sich den aus Ungleichheitsund Machtverhältnissen entstehenden Konflikten in den entsprechenden Institutio‐ nen an- und diese auch ernst nimmt. Darüber hinaus entlarvt Butlers Konzept die Abschaffung oder zumindest Schwä‐ chung von Genderprofessuren, Frauenministerien und Gleichstellungsmaßnahmen als ein autoritäres und politisches Handeln, das auf die Zerstörung und Ablehnung von Differenz zielt. Sichtbarkeit als ein elementares Merkmal ihres Verständnisses von Volkssouveränität fordert hingegen eine Politik, die sich für die Abschaffung des Paragraphen 219 einsetzt und für rechtliche Regelungen kämpft, welche die Benachteiligungen kompensieren, die Frauen* aus ihrer traditionellen Zuständigkeit für Familienarbeit, Kinderbetreuung und Pflege in allen gesellschaftlichen Bereichen haben, aber auch die gleiche Geltung von Grund- und Menschenrechten garantieren. Demokratische Öffentlichkeit bei Butler rückt das Erscheinen einer Vielzahl von Körpern in das Zentrum und ermöglicht damit, den strukturellen Rassismus und Se‐ xismus derjenigen Menschen sichtbar werden zu lassen, die mit einer grundlegenden Voreingenommenheit gegen Differenz, Pluralität und Vielfalt sich in Bewegungen und öffentlichen Auftritten zusammenschließen und für ein homogenes ‚Volk‘, für Heimat und eine ‚natürliche‘ Geschlechterdifferenz eintreten. Das ausgrenzende und diskriminierende Handeln gegen alles Fremde und Andersartige als einen Angriff auf die Demokratie zu entlarven – darin besteht der eigentliche Sinn und auch Gewinn von Butlers Konzepts der Volkssouveränität als einer politischen Praxis, die im Gegensatz zu einem formalen, institutionalisierten Volkssouveränitätsprinzips steht, das das Problem menschlicher Differenz als ein soziales Konstrukt für die Ein‐ schreibung von Machtverhältnissen in die Gesellschaft schon immer verdeckt hat. In dieser Hinsicht ist die Radikalisierung demokratischer Institutionen im Modell der agonalen Demokratie nicht nur die richtige Antwort auf den autoritären Populismus, sondern vor allem die logische Konsequenz einer begrenzten Politikform, deren Geschlechter- und Farbenblindheit er bedient.
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Die Autorinnen und Autoren
Christoph Held ist Doktorand des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Universität Gießen und forscht zum Themenfeld Demokratie und Kultur. Jüngste Veröffentlichung: Soziale Hoffnung, liberale Ironie. Zur Aktuali‐ tät von Richard Rortys politischen Denken. Nomos 2021 (mit Veith Selk und Torben Schwuchow). Dr. Steffen Herrmann, ist akademischer Rat auf Zeit am Institut für Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Forschungsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Politi‐ sche Philosophie, Kritische Phänomenologie. Neuere Veröffentlichungen: „Populis‐ mus als Politik der Herabsetzung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 69:3, 2021, 438-449; „Demokratische Urteilskraft nach Arendt“, in: Zeitschrift für Prakti‐ sche Philosophie 6:1, 2019, S. 179-210; Institutionen des Politischen. Perspektiven der radikalen Demokratietheorie, Baden-Baden: Nomos 2020 (hg. mit Matthias Flatscher). Prof. Dr. Dirk Jörke ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Darmstadt. Jüngste Buchveröffentlichung: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Suhrkamp 2019. Dr. Oliver W. Lembcke ist Visiting Professor und Research Fellow an der VU Am‐ sterdam und lehrt Politikwissenschaft an der Ruhr Universität; er ist Mitglied im Sprecherteam des DVPW-Arbeitskreises Politik und Recht. Forschungsschwerpunk‐ te: Demokratietheorie, Judicial Governance, Ideengeschichte des 17. und 18. Jh. Neuere Veröffentlichungen: Repräsentation und Demokratie. Eine Kartographie der theoriegeschichtlichen Entwicklung und der politikwissenschaftlichen Forschung, in: Marvin Neubauer et al. (Hrsg.): Im Namen des Volkes – Zur Kritik politischer Repräsentation, Tübingen 2021, 3-48; Recht politikwissenschaftlich erforschen, Recht und Politik, Beiheft Nr. 5, 2020 (Co-Hrsg.); Zeitgenössische Demokratietheo‐ rie. Bd. 2: Empirische Demokratietheorien, Wiesbaden 2016 (Co-Hrsg.). PD Dr. Franziska Martinsen, Privatdozentin an der Leibniz Universität Hanno‐ ver, Institut für Politikwissenschaft, derzeit Vertretungsprofessorin für Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte u.a.: Interna‐ tionale Politische Theorie und Ideengeschichte, Feministische Politische Theorie, Menschenrechtstheorien, Demokratietheorien (insb. Radikale Demokratietheorie).
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Aktuelle Buchpublikationen (Auswahl): Grenzen der Menschenrechte. Staatsbürger‐ schaft, Zugehörigkeit, Partizipation, Bielefeld: Transcript 2019; Radikale Demokra‐ tietheorie. Ein Handbuch, Berlin: Suhrkamp 22020 (hrsg. mit Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Martin Nonhoff); Das Politische (in) der Politischen Theo‐ rie, Baden-Baden: Nomos 2021 (hrsg. mit Oliver Flügel-Martinsen, Martin Saar); Fragil – Stabil? Dynamiken der Demokratie. Die 23. Hannah Arendt Tage 2020. Mit Beiträgen zur aktuellen Rassismus-Debatte bei Arendt, Weilerswist: Velbrück 2021 (als Herausgeberin). Dr. Danny Michelsen, Jg. 1988, Geschäftsführer des Zentrums für Rechtsextremis‐ musforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der FriedrichSchiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideenge‐ schichte, Rechtspopulismus, Parteiensystem Großbritanniens. Letzte Buchveröffent‐ lichung: Kritischer Republikanismus und die Paradoxa konstitutioneller Demokratie. Politische Freiheit nach Hannah Arendt und Sheldon Wolin, Wiesbaden 2019. Malte Miram, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für politische Wissen‐ schaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. For‐ schungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Demokratietheorie (insb. radikaldemokratische Ansätze), Repräsentationstheorien. Veröffentlichun‐ gen: Institutionen und die radikale Demokratietheorie. Tocquevilles Beitrag zu einer schwierigen Debatte. 2020. In: Steffen Herrmann und Matthias Flatscher (Hg.): In‐ stitutionen des Politischen. Perspektiven der radikalen Demokratietheorie, S. 139-166. Milos Rodatos, Jg. 1992, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Käthe-Kluth-Nach‐ wuchsgruppe „Politische Integration durch Konflikt“ an der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Populismus- und Repräsentationstheorien sowie Ansätze radikaler Demokratietheorie. Dr. Luzia Sievi ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, wo sie zu Populismus und Desinfor‐ mationskampagnen forscht. Sie studierte Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Wirtschaftspolitik, promovierte an der Universität Freiburg in Po‐ litischer Theorie zu Demokratietheorien und Poststrukturalismus und lehrte in Göt‐ tingen und Tübingen. Neuere Veröffentlichungen: Demokratie ohne Grund – kein Grund für Demokratie? Zum Verhältnis von Demokratie und Poststrukturalismus. Bielefeld 2017.
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Dr. Rieke Trimçev, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Käthe-KluthNachwuchsgruppe „Politische Integration durch Konflikt“ an der Universität Greifs‐ wald. Forschungsschwerpunkte: agonale Politiktheorien, Theorien politischer Ver‐ pflichtung, Metaphern- und Begriffsgeschichte sowie Erinnerungsforschung. Neuere Veröffentlichungen: Judith N. Shklar on Disobedience and Obligation in a ‚Society of Strangers‘, in: Constellations (im Erscheinen); Regelveränderung durch Regelbe‐ folgung. Das Spiel als politische Metapher für dynamische Stabilisierung, in: EvaMarlene Hausteiner, Grit Straßenberger und Felix Wassermann (Hg.): Politische Sta‐ bilität, Leviathan Sonderband 36 (2020), S. 294-309; Die politische Theorie von Ju‐ dith N. Shklar, Themenheft der Zeitschrift für Politische Theorie, 9/2 (2020) (Hrsg. mit Hannes Bajohr). Dr. Stefan Wallaschek, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Va‐ lue Conflicts in a Differentiated Europe: The Impact of Digital Media on Value Polarisation in Europe (ValCon)“ am Interdisciplinary Centre for European Studies (ICES) an der Europa-Universität Flensburg. Seine Dissertation „Mapping Solida‐ rity in Europe: Discourse Networks in the Euro Crisis and Europe’s Migration Crisis“ hat er 2019 an der Universität Bremen abgeschlossen. Seine Forschungs‐ schwerpunkte liegen in der Solidaritätsforschung, politischen Kommunikation sowie der politischen Soziologie Europas. Ausgewählte Veröffentlichungen: Empirische Solidaritätsforschung. Ein Überblick. Wiesbaden, 2020; Contested solidarity in the Euro crisis and Europe’s migration crisis: A discourse network analysis. In: Journal of European Public Policy, 27 (7), 2020, 1034-1053; Über was spricht die Politische Theorie? Eine Netzwerkanalyse der Zeitschrift für Politische Theorie (2010-2019). In: Zeitschrift für Politische Theorie, 11 (1), 2020, 7-30. Dr. Manon Westphal, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissen‐ schaft der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: agonale Demokratietheo‐ rie, realistische politische Theorie, Konfliktregulierung, politische Institutionen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Normativität agonaler Politik. Konfliktregu‐ lierung und Institutionengestaltung in der pluralistischen Demokratie. Baden-Baden, 2018; Overcoming the Institutional Deficit of Agonistic Democracy, in: Res Publica 25 (2), 2019, S. 187-210; Politische Institutionen als Gegenstand agonaler Demokra‐ tietheorie: Kritik und Design, in: Steffen Herrmann und Matthias Flatscher (Hg.): Institutionen des Politischen. Perspektiven der radikalen Demokratietheorie, BadenBaden, 2020, S. 203-224.
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Prof. Dr. Gabriele Wilde, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt der Theorie und Politik der Geschlechterverhältnisse am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster, Gründerin und Sprecherin des interdisziplinären Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS) an der Universität Münster, Gründe‐ rin und Herausgeberin der Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politik-Wis‐ senschaft. Arbeitsschwerpunkte: Diskurs und Praxis des Autoritären, Wandel von Öffentlichkeiten aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive, Verfassungstheo‐ rie und politische Theorie der EU, (Rechts-)Staats- und Demokratietheorien, Theori‐ en zu Zivil- und Bürgergesellschaften, Politisches System der EU und Theorie und Politik der Staats- und Unionsbürgerschaft.
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