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German Pages 123 [124] Year 1967
UNIVERSITÄTSTAGE 1967 VERÖFFENTLICHUNG EINER VORTRAGSREIHE DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN AM 19. U N D 2 0 . J A N U A R 1 9 6 7
UNIVERSITÄT U N D
DEMOKRATIE
W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. / B E R L I N
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP.
1967
Verantwortliche Schriftleitung: D e r Beauftragte des R e k t o r s u n d Senats d e r F r e i e n U n i v e r s i t ä t Berlin f ü r das studentische G e m e i n s c h a f t s l e b e n , 1 Berlin 3 3 , T h i e l a l l e e 7 5
Archiv-Nr. 3601671
© 1967 by Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen's che Verlagshandlung Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp. Berlin 30, Genthiner Straße 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck : Paul Funk, Berlin 30
Inhaltsverzeichnis ERNST FRAENKEL (Prof. Dr. jur., Wissenschaft von der Politik, insbesondere Theorie und vergleichende Geschichte der politischen Herrschaftssysteme, Freie Universität Berlin): Universitas litterarum und pluralistische Demokratie
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GERHARD GROHS (Privatdozent Dr. jur., Dipl.-Soziologe, Soziologie, Freie Universität Berlin): Hochschule und Staat in Entwicklungsländern
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ULF KADRITZKE (cand. phil., Freie Universität Berlin) : Das Selbstverständnis der Freien Universität
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DIETER CLAESSENS (Prof. Dr. phil., Soziologie, Freie Universität Berlin) : Bemerkungen zur Soziologie der deutschen Universität
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JÜRGEN HABERMAS (Prof. Dr. phil., Soziologie, Johann-Wolfgang-GoetheUniversität, Frankfurt) : Universität in der Demokratie — Demokratisierung der Universität
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FRIEDRICH EDDING (Prof. Dr. phil., Bildungsökonomie T U Berlin, sowie Direktor am Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft): Die Hochschulen im Wachsen der Wirtschaft
80
LUDWIG VON FRIEDEBURG (Prof. Dr. phil., Soziologie, Institut für Sozialforschung, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt) : Universität und Öffentlichkeit
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OSKAR ANWEILER (Prof. Dr. phil., Pädagogik, Ruhr-Universität Bochum) : Universität und totalitäre Demokratie Voraussetzungen, Wandlungen und Perspektiven in der Sowjetunion 110
Universitas litterarum und pluralistische Demokratie Von E r n s t
Fraenkel
Das Generalthema unserer diesjährigen Universitätstage umschließt zwei zwar innerlidi eng miteinander verbundene, aber dennoch verschiedenartige Problemkreise: die Frage nämlich, ob es angezeigt und möglich, wenn nicht gar dringend erforderlich ist, Stil und Struktur unserer Universitäten stärker an die zuerst im Bereich der Politik entwickelten Prinzipien der Demokratie anzupassen, und die zusätzliche Frage, welche Rolle der Universität bei der Bewältigung der Aufgabe zufällt, im spezifisch politischen Sektor unseres gesellschaftlichen und staatlichen Lebens Demokratie besser zu verwirklichen, als sich dies in der Vergangenheit als möglich erwiesen hat und in der Gegenwart geschieht. Ich werde mich heute morgen vornehmlich mit der zuletzt angeschnittenen Problematik beschäftigen. Ich werde nicht über Universität und Staat, sondern über Universität und Demokratie sprechen. Ich werde daher nicht im einzelnen darüber handeln, was die Universität vom Staat fordert: Geld, Geld und nochmals Geld, Autonomie, Prestige und Privilegien, noch im einzelnen erörtern, was der Staat von der Universität fordert: Ausbildung seiner künftigen Beamten, Schulung der Angehörigen der freien Berufe und der Inhaber der leitenden Positionen in Wirtschaft und Technik sowie Befruchtung und Bereicherung des künstlerischen und intellektuellen Lebens der Nation auch außerhalb des eigentlichen Universitätsbereiches. Ich beschränke meine Ausführungen auf die Untersuchung eines sehr viel engeren, allerdings auch viel kontroverseren Themas. Idi werfe im folgenden die Frage auf, ob im Zeitalter der pluralistischen Demokratie die Universität sich noch an das Prinzip der Abstinenz von dem spezifisch politischen Bereich des gesellschaftlichen Lebens halten darf. Im monarchischen Obrigkeitsstaat hatten sich die Universitäten nicht zuletzt deshalb so freudig zu diesem Prinzip bekannt, weil es das quid pro quo der Autonomie darstellte, die der Staat in solch auffallend großzügiger Weise den Universitäten zu gewähren bereit war. Diese Autonomie bildet aber — trotz wiederholter Unter5
brediungen — seit dem hohen Mittelalter das Kernstück der akademischen Freiheit der Universitas litterarum. Unter politischer Abstinenz verstehe ich in diesem Zusammenhang sehr viel weniger den Verzicht auf aktive Teilnahme an der Austragung aktueller politischer Konflikte; ich verstehe hierunter vielmehr primär die Scheu, Materien zum Gegenstand akademischer Bemühungen zu machen, deren Fragestellungen den Kerngehalt der innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Politik berühren und deren Ergebnisse daher — weil sie eminent politisch sind — mittelbar oder unmittelbar tagespolitisch wirksam zu werden vermögen. Machen wir es uns doch nicht dadurch allzu leicht, daß wir als akademische Bürger án dem alten Refrain festhalten, daß politisch Lied ein garstig Lied sei, obwohl wir als Staatbürger stets und von neuem aufgerufen werden, dem Credo aller Spießbürger abzuschwören, daß Politik den Charakter verderbe. Verdirbt tatsächlich innere Anteilnahme an der Politik den Charakter einer Universität, oder hängt nicht in einer pluralistischen Demokratie die Bewahrung der Autonomie der Universität entscheidend davon ab, daß die Universität das ihre dazu beiträgt, daß der Wesensgehalt der pluralistischen Demokratie erforscht, erkannt und erklärt wird und dergestalt eine unerläßliche Voraussetzung dafür geschaffen wird, daß diese schwerst zu verstehende und schwerst zu handhabende aller Staatsformen tunlichst reibungslos zu funktionieren vermag? Und gilt dies nicht in hervorragendem Maße für eine Universität, die gegründet wurde, um die Last einer totalitären Vergangenheit innerlich zu bewältigen und um dem äußeren Druck zu entgehen, den ein höchst gegenwärtiges totalitäres Regime auf sie auszuüben versuchte? Eine großzügig gewährte Autonomie ist in einer pluralistischen Demokratie nicht eine auffällige, weil systemwidrige, sondern die einzig systemkongruente Haltung des Trägers der souveränen Hoheitsgewalt gegenüber Einrichtungen, die — gleichgültig, ob sie als Körperschaften oder Anstalten organisiert sind — letzten Endes dodi, was gelegentlich übersehen wird, staatliche Institutionen darstellen. Das Phänomen der Universitätsautonomie ist alles andere als eine ausschließlich „akademische" Frage. Es ist ein eminent politisches Problem und lediglich dann verständlich und realisierbar, wenn es im Zusammenhang mit der konkreten Struktur von Staat und Gesellschaft, innerhalb deren es verwirklicht werden soll, erfaßt wird. Wenn Universität und Demokratie solange Zeit nicht zueinander gefunden haben und heute nodi so große Schwierigkeiten haben zusammenzukommen, hat dies nicht nur an den Universitäten, sondern auch an der Demokratie gelegen, die es häufig unterlassen hat; zu einem Selbstverständnis zu gelangen, das mit dem Selbstverständnis einer autonomen Universität vereinbar ist. 6
Vergessen wir nicht, daß in dem Jahrhundert zwischen den Befreiungskriegen und dem ersten Weltkrieg die einzigartig-großartigen Leistungen der deutschen Universitäten auf geistes- und naturwissenschaftlichem Gebiet nicht rein zufällig ihr Gegenstück in der Vernachlässigung der Sozialwissenschaften gefunden haben. In einer Zeit, in der die deutsche Soziologie, die man nicht zu Unrecht eine „Oppositionswissenschaft" genannt hat, einen nie wieder erreichten Höhepunkt erklommen hatte, gab es im deutschen Sprachbereich nicht einen einzigen ordentlichen Lehrstuhl für Soziologie. Max Weber mußte bei den Nationalökonomen, Georg Simmel bei den Philosophen Unterkunft suchen — ganz zu schweigen davon, daß die Psychonanalyse Freuds verfemt und die einstmals nachdrücklichst gepflegte Politikwissenschaft aus den akademischen Tempeln verbannt war. In ihrer Glanzzeit fühlten sich — von einigen häufig als peinlich empfundenen politischen Professoren abgesehen — die deutschen Fakultäten ausschließlich für die Reinheit ihrer Wissenschaft verantwortlich. Darüber hinaus glaubte die Universität, das ihre getan zu haben, wenn sie dem Kaiser gab, was der Kaiser von ihr verlangte: die Übermittlung des Fachwissens, das unerläßlich war, damit der Betrieb „Staat" reibungslos zu funktionieren vermochte. Gewiß — ein Georg Jellinek hat deutlich die Gefahren aufgezeigt, die sich aus der radikalen Eliminierung der politischen Aspekte aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Staat und Gesellschaft zu ergeben vermögen; dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß jahrzehntelang die verfassungsrechtliche Ausbildung der deutschen Juristen durch den radikal-apolitischen Positivismus Paul Labands bestimmt wurde, und dies bedeutete unter der damals unbestrittenen Herrschaft des Juristenmonopols, daß er weitgehend das Staatsdenken der höheren Bürokratie beherrschte. Vor einem halben Jahrhundert — im Jahre 1917 — hat Max Weber voller Verzweiflung darauf hingewiesen, daß Deutschland zwar die hervorragendsten administrativen Experten, aber keinerlei politische Elite besitze. Im Schicksalsjahr der modernen Geschichte lauteten die Namen der politisch verantwortlichen Führer der großen Nationen: Woodrow Wilson, George Clemençeau, David Lloyd George, Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und Georg Michaelis. Die jüngste deutsche Geschichte dürfte bewiesen haben, daß es keinen allzu großen Unterschied ausmacht, ob ein in eine politische Führungsposition verschlagener Fachexperte Nur-Jurist oder Nur-Nationalökonom ist. Die Nationalsozialisten haben diesen offenkundigen Mangel des deutschen Bildungs- und Ausbildungswesens klar erkannt und versucht, ihn dadurch radikal abzustellen, daß sie die das vor-Bismarcksche Preußen und das nach-Bismarcksche Kaiserreich kennzeichnende totale Büro7
kratisierung der Politik durch eine totale Politisierung der Bürokratie zu ersetzen versuchten. Sie haben das ihre dazu beigetragen, das Problem Universität und Politik fast hoffnungslos zu verwirren und den auch nur leisesten Versuch, die Universität an ihre politische Verantwortung zu erinnern, in den Augen all derjenigen heillos zu diskreditieren, die sich nicht noch einmal die Finger verbrennen wollen. Der Umstand, daß unter der Herrschaft eines totalitären Regimes der Versuch unternommen wurde, die Universität zur Hure der Politik zu degradieren, bedeutet aber noch längst nicht, daß ihr in einer pluralistisch organisierten Demokratie die Rolle einer ancilla der Politik notwendigerweise zufallen muß, wenn sie es ablehnt, sich sklavisch an dem auch heute noch weitgehend als klassisch angesehenen Modell der unpolitischen Universität der Wilhelminischen Epoche zu orientieren. Von dem Verhältnis von Universitas litterarum und pluralistischer Demokratie und nicht ganz allgemein von Demokratie und Hochschule soll im folgenden die Rede sein, weil Wort und Begriff der Demokratie ihren spezifisch politischen Sinn verloren haben, seitdem — von wenigen relativ unwichtigen Ausnahmen abgesehen — deren Gegenspieler von der politischen Bühne abgetreten sind. Dies gilt sowohl für die absolute und die konstitutionelle Monarchie als auch für die Geburts- und Geldaristokratie, die insoweit übereinstimmend und im Gegensatz zu den modernen totalitären und pluralistischen Regierungssystemen stehend das Legitimitätsprinzip der Volkssouveränität verworfen haben. Die geistige Verwirrung, die durch die unkritische Verwendung des Wortes „Demokratie" entstanden ist und ständig von neuem entsteht, können wir nicht bereits dadurch überwinden, daß wir zwischen „sogenannten" und „nicht-sogenannten" Demokratien unterscheiden. D a fast alle modernen Staaten sich rühmen, Volksherrschaften darzustellen, ist es unerläßlich zu untersuchen, ob sie unter „Volk" das gleiche verstehen. Man hat in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, daß das deutsche Wort „ V o l k " ein Singular, das englische Wort „people" ein Plural ist. Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Worten: "We the People of the United States, in order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity do ordain and establish this Constitution for the United States of America." D i e P r ä a m b e l d e r W e i m a r e r V e r f a s s u n g — u n d ähnlich, w e n n auch w e n i ger feierlich, d e r V o r s p r u c h des G r u n d g e s e t z e s — l a u t e t : „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben."
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„Wir das deutsche Volk, einig in unseren Stämmen, haben uns diese Verfassung gegeben", geht nicht, und zwar nicht nur aus sprachlichen, sondern audi aus sachlichen Gründen. Wie so häufig in der Politikwissenschaft kann auch in diesem Fall die Semantik wertvolle Hinweise für das Verständnis grundlegend wichtiger Unterschiede zwischen dem politischen Denken und Handeln der verschiedenen Nationen abgeben. Wenn, worüber weitgehend Einmütigkeit besteht, „Demokratie" Volksherrschaft unter maßgeblicher Berücksichtigung des Gleichheitsprinzips bedeutet, liegt es nahe zu fragen, ob die abweichenden Vorstellungen, die in den verschiedenen sich „Demokratie" nennenden Nationen über Sinn und Bedeutung des Demokratiebegriffs vorherrschen, nicht weitgehend darauf zurückzuführen sind, daß sie nicht nur mit verschiedenartigen Gleichheits-, sondern auch mit unterschiedlichen Volksbegriffen operieren. Unter „Volk" kann aber — um nur die wichtigsten Bedeutungen dieses Zentralbegriffs einer jeden Politikwissenschaft zu erwähnen, von dessen Klärung auch das Verständnis des politischen Gleichheitsbcgriffs abhängt — verstanden werden: 1. eine historisch gewachsene, organische Einheit, d. h. aber eine transpersonalistisdie „Gestalt" mit einem eigenen einheitlichen Willen, in dem sich entweder der durch seine Einmaligkeit ausgezeichnete „Volksgeist" manifestiert oder eine volonté générale zur Entstehung gelangt; 2. die Summe der zwar in einem einheitlichen Staate lebenden, im übrigen aber weitgehend isolierten Individuen, die bestrebt sind, in niemals abbrechenden, rationale Argumente verwertenden Auseinandersetzungen und Diskussionen zu einer einheitlichen Meinung über alle öffentlichen Angelegenheiten zu gelangen, d. h. aber "a government bypublic opinion" zu errichten; 3. eine amorphe Masse von Angehörigen eines politischen Verbands, in dem mittels einer manipulierten, die moderne Reklametechnik verwertenden Massenbeeinflussung ein durch den Konformismus der Lebensgewohnheiten und Denkweisen gekennzeichneter consensus omnium hergestellt wird, dessen charakteristische politische Ausdrucksform die acclamano ist; 4. die Angehörigen der in den verschiedenartigsten Körperschaften, Parteien, Gruppen, Organisationen und Verbänden zusammengefaßten Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft, von denen erwartet wird, daß sie sich jeweils mit Erfolg bemühen, auf kollektiver Ebene zu dem Abschluß entweder stillschweigender Übereinkünfte oder ausdrücklicher Vereinbarungen zu gelangen, d. h. aber mittels Kompromissen zu regieren. 9
Idi beginne mit der klassischen Demokratietheorie, die auf der dreifachen Prämisse beruht, daß 1. Volksherrschaft die Existenz eines homogenen Volks voraussetzt; 2. nur ein homogenes Volk in der Lage ist, die Partikularwillen aus dem Bereich von Recht, Staat und Politik zu verbannen und einen Gemeinwillen zu erzeugen; 3. lediglich unter der Herrschaft des Gemeinwillens das Gemeinwohl realisierbar ist. Der in den Dienst eines a priori vorgegebenen Gemeinwohls gestellte Gemeinwille eines homogenen Volkes ist das, was Rousseau die volonté générale genannt hat. Volonté générale kann sowohl mit Gemeinwille als auch mit Gemeinwohl übersetzt werden. Volonté générale bedeutet den ausschließlich auf die Verwirklichung des Gemeinwohls gerichteten Gemeinwillen. Man tut Rousseau allerdings bitter unrecht, man mißversteht diesen einflußreichsten Theoretiker der Demokratie auf das gröblichste, wenn man übersieht, daß er die Ausschaltung der Partikularwillen aus dem Bereich von Recht und Staat nur unter den völlig exzeptionellen Bedingungen für möglich erachtete, wie sie in der Frühzeit Roms und der Glanzzeit Spartas bestanden haben. In seiner eigenen Zeit hielt Rousseau die Lehre von der volonté générale bestenfalls in dem engen Bereich eines Schweizer Kantons oder unter den primitiven Verhältnissen der Insel Korsika für durchführbar, d. h. aber in Kleinstaaten, in denen alle Bürger einander kennen, die gleiche Beschäftigung ausüben und unter einer Naturalwirtschaft leben, in der jede technische Neuerung perhorresziert wird. Rousseau wäre der letzte, in Abrede zu stellen, daß für die heterogene Massengesellschaft des auf weitestgehende Arbeitsteilung basierenden Großflächenstaats der Gegenwart seine Doktrinen und Visionen schlechthin unverbindlich sind. In einer differenzierten Gesellschaft stellt die Vorstellung eines homogenen Volkes eine Fiktion, der Gedanke eines a priori vorgegebenen Gemeinwohls eine Mystifikation und das Postulat einer Koinzidenz von Gemeinwille und Gemeinwohl eine Utopie dar. Um so bemerkenswerter ist es, daß seit mehr als Jahrhunderten nicht nur die Idee, daß lediglich eine homogene Gesellschaft geeignet sei, als soziales Substrat einer staatlichen Demokratie zu dienen, sondern audi der Gedanke, das Gemeinwohl könne nur erreicht werden, wenn der Gemeinwille darauf gerichtet sei, heterogen gesetzte Ziele zu verwirklichen — das Reich der Tugend, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, die Herrschaft der nordischen Rasse — das demokratische Denken stets von neuem auf das nachdrücklichste beeindruckt und beeinflußt hat. Sie liegt nicht nur weitgehend dem vulgärdemokratischen Denken der westlichen Staaten zugrunde, sie bildet vor allem die Grundlage dessen, was in der Politikwissenschaft als totalitäre Demokratie bezeichnet wird. 10
Das Problem Universität und Demokratie muß solange unlösbar bleiben, wie bewußt oder unbewußt an dem Dogma festgehalten -wird, daß Demokratie notwendigerweise auf dem Theorem Rousseaus von der volonté générale beruhen müsse. Ein vorbehaltlos auf Verwirklichung eines a priori als allgemein gültig postulierten Prinzips ausgerichteter Staat kann einer vorbehaltlos auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Institution, wie sie jede Universitas litterarum darstellt, keinen Eigenwert zusprechen. Eine vorbehaltlos auf "Wahrheitsfindung ausgerichtete Institution kann nicht — ohne sich selber aufzugeben — in den Dienst eines Staates gestellt werden, der sich zu einem a priori als allgemein gültig anerkannten Prinzip bekennt. Sie kann auch nicht zulassen, daß von ihren Bürgern stillschweigend vorausgesetzt wird, sie seien so unlöslich mit der Gesamtheit verbunden, daß einer Meinung schon deshalb der Makel des Irrtums anhafte, weil sie von der Mehrheit nicht geteilt werde. Volonté générale und Universität sind inkommensurable Größen. Es ist nicht von ungefähr, daß der Verfasser des Contrat Social in dem ersten Discours die Frage negativ beantwortet hat, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beizutragen geeignet sei. Solange wir daran festhalten, daß Demokratie Herrschaft der volonté générale bedeute, wird die Behandlung des Themas Universität und Demokratie unfruchtbar. Nur eine Demokratietheorie, die sich nicht scheut, bei der Strukturierung des Staates Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft nicht zu übersehen und je nach Lage der Sache sie zu berücksichtigen und zum mindesten im Prinzip positiv zu bewerten, kann dem Thema Universität und Demokratie gerecht werden. Wer allen sozialen Realitäten zum Trotz an dem Dogma festhält, daß nur in einer homogenen Gesellschaft Demokratie zu verwirklichen sei, muß bereit sein dabei mitzuwirken, daß mittels einer Erziehungsdiktatur die Störungsfaktoren gewaltsam eliminiert werden, die der Bildung einer einheitlichen Volksgemeinschaft hindernd im Wege stehen, wobei es im Prinzip relativ unwichtig ist, ob als solche Störungsfaktoren die Jesuiten, die Freimaurer, die Juden, die Kapitalisten, die Marxisten, die Kolonialisten, die ernsten Bibelforscher oder die Schwerindustriellen angesehen werden. Wer hierzu nidit bereit ist, sollte entweder den Anspruch, ein Demokrat zu sein, aufgeben oder offen zugeben, daß er nur bei angemessener und ausreichender Berücksichtigung des heterogenen Charakters der Nation die Errichtung eines demokratischen Staatswesens für möglich erachtet. Dies gilt um so mehr, als die Ausübung einer wirksamen Kritik und Kontrolle einer jeden Regierung die Existenz einer wirksamen Opposition voraussetzt — die Anerkennung der Opposition als einer fundamental wichtigen Verfassungsinstitution aber an dem Modell eines heterogen strukturierten Volkes ausgerichtet ist. 11
Eine Demokratie, die nicht bereit ist, Opposition intra et extra muros als Verfassungsgrundsatz anzuerkennen, würde die Universität in eine ungünstigere Position zurückwerfen, als sie sie in der vordemokratisdien Periode besessen hat. Nicht jegliche Art Demokratie ist geeignet, das Erbe der akademischen Freiheit und Autonomie zu bewahren und auszubauen. Zur akademischen Freiheit gehört, daß die Universität ihre warnende Stimme erheben und an das Gewissen der Nation zu appellieren vermag, wenn immer die Wertordnung in Gefahr ist, auf deren unverbrüchlicher Geltung gleicherweise die autonome Universität und die pluralistische Demokratie beruhen. Die westlichen Demokratien operieren übereinstimmend mit einem weitgehend heterogenen Volksbegriff. Sie erblicken in der offenen Anerkennung des weitgehend, heterogenen Charakters des Staatsvolkes die Voraussetzung dafür, daß die Freiheitsrechte der Bürger geschützt und die Autonomie der politischen Willensbildung gewährleistet werden kann. Nur ein weitgehend heterogen strukturiertes Staatsvolk vermag im autonomen Prozeß der politischen Willensbildung bindend und rechtswirksam festzulegen, was es jeweils unter „Gemeinwohl" versteht. In der autonomheterogenen Demokratie ist das Gemeinwohl nicht vorgegeben, sondern weitgehend das Ergebnis frei und offen ausgetragener Konflikte, Diskussionen und Auseinandersetzungen. Der der autonom-heterogenen Demokratie allein adäquate a posteriori Gemeinwohlbegriff ist durch die Vorstellung gekennzeichnet, daß die endlose Kette von Vereinbarungen, Kompromissen, Verständigungen und stillschweigenden Übereinkünften nicht notwendigerweise gemeingefährliche faule Kompromisse, sondern denkbarerweise das Gemeinwohl fördernde konstruktive Akte darstellen. Die pluralistische Demokratie ist ein compromis de tous les jours. Ich habe wiederholt und nachdrücklichst von einem weitgehend heterogenen Volksbegriff gesprochen, und ich möchte mit dem gleichen Nachdruck hinzufügen, daß der a posteriori Gemeinwohlbegriff der autonomheterogenen Demokratie lediglich weitgehend die Resultante darstellt, die sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation ergibt, weitgehend, aber nicht ausschließlich. Erkennt man an, daß in einer arbeitsgeteilten, differenzierten Gesellschaft eine auf Autonomie beruhende Volksherrschaft nur unter angemessener Berücksichtigung aller divergierenden Gruppeninteressen möglich ist, dann rückt die Frage in den Brennpunkt des demokratischen Selbstverständnisses, wie es verhindert werden kann, daß die Austragung dieser Gruppenkonflikte in der Desintegration des Staates resultiert, und wie es bewerkstelligt werden kann, daß für diese Konflikte jeweils Lösungen gefunden werden, deren Zustandekommen allein schon eine eminent integrierende Bedeutung zukommt. 12
Verhehlen wir uns nicht, daß die Errichtung einer autonom legitimierten, heterogen strukturierten Demokratie ein ungemein gewagtes Experiment darstellt. Sie ist gegen keine Todesursache anfälliger als gegen den Selbstmord. Dies gilt gleicherweise für den Gesamtstaat wie für die Gebietskörperschaften und für die sonstigen autonomen Körperschaften innerhalb des Staates. Nirgendwo steht in den Sternen geschrieben, daß dieses Experiment stets gelingen muß; es steht vielmehr in der Geschichte geschrieben, daß es zumeist mißlingt. In Deutschland ist es anno 1919 bis 1933 mißlungen. Dies bedeutet gewiß nicht, daß das gebrannte Kind das Feuer scheuen und das Experiment nicht noch einmal wagen sollte; es bedeutet jedoch, daß mit dem Feuer nicht gespielt werden sollte. Das Experiment der Errichtung eines autonom-legitimierten und heterogenstrukturierten öffentlichen Verbandes wirft nicht nur ökonomische, soziologische und politologische, sondern auch moralische Probleme auf. So hängt denn das Gelingen dieses Experiments in Staat, Gemeinden und sonstigen autonomen Körperschaften einschließlich der Universität unter anderem auch davon ab, daß alle Beteiligten auf das strikteste die Verfahrensregeln respektieren, die berufen sind, den Prozeß der Willensbildung im politischen und gesellschaftlichen Raum zu regulieren. Zu diesen Verfahrensregeln gehören aber nicht nur die Normen der Verfassung und der einschlägigen Spezialgesetze, sondern vor allem auch die ungeschriebenen Gebote der Fairneß und des Takts. In einer autonom-legitimierten, heterogen-strukturierten Demokratie kommt der Beachtung von Verfahrensregeln eine Eigenbedeutung zu. Eine solche Demokratie vermag auf die Dauer nur zu existieren, wenn ihre Verfahrensregeln unverbrüchlich eingehalten werden, d. h. aber, wenn ihr Bestand rechtsstaatlich garantiert ist. Sie dieserhalb als „formale" Demokratie zu diskreditieren, heißt sowohl die Bedeutung zu übersehen, die der Einhaltung von Formen für die Aufrechterhaltung der Freiheit zukommt, als auch zu verkennen, daß in der Proklamierung und strikten Realisierung dieser Verfahrensvorschriften das Bekenntnis zu einer materialen Wertordnung enthalten ist. Nur, wenn der demokratische Prozeß politischer Willensbildung rechtsstaatlich garantiert ist, gewinnt der Satz, daß Mehrheit entscheidet, die Bedeutung, daß der jeweiligen Minderheit die Aussicht eröffnet wird, zur Mehrheit zu werden. Für eine pluralistische Demokratie reicht es nicht aus, divergierende Individualansichten zu tolerieren; zu ihrem Wesen gehört es vielmehr, das Prinzip der Toleranz zugunsten aller divergierenden Gruppenüberzeugungen zu proklamieren. Im Begriff einer rechtsstaatlich garantierten, autonom-heterogenen Demokratie ist die Toleranz einbegriffen. Nur unter ihrer Herrschaft kann, sofern zum mindesten im Prinzip allen Gruppen eine Chancengleichheit gewährleistet ist, denkbarerweise verhindert werden, daß die temporären Gruppenkonflikte zu permanenten Gruppen13
kämpfen entarten. Nur, wo das Toleranzprinzip nicht in Zweifel gezogen wird, kann denkbarerweise im kontradiktorischen Prozeß der Gruppenauseinandersetzungen das Gemeinwohl erreicht werden. Denkbarer-, aber nicht notwendigerweise. Wir sollten uns davor hüten, uns dem Wunderglauben an ein kollektives Manchestertum hinzugeben, der selbst als Utopie nodi ein Paradoxon darstellt. Es wäre frivol, das Wagnis, das stets in der Errichtung eines autonom-heterogenen-pluralistischen Rechtsstaates eingeschlossen ist, einzugehen ohne die Bereitschaft, die gesicherten Forschungsergebnisse der Nationalökonomie bei Handhabung der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik zu respektieren und ohne die Einsicht, daß eine pluralistische Demokratie nicht nur den Erfordernissen des Pluralismus, sondern auch denen der Demokratie Genüge tun muß. Dies bedeutet aber, daß — wenn sie funktionsfähig sein soll — eine pluralistische Demokratie über den Partikulargruppen die Universalgruppe Staat nicht übersehen darf, die, weil sie das Staatsvolk als Einheit repräsentiert, eine Gruppe sui generis ist. Gustav Radbruch hat in diesem Zusammenhang die gewiß nicht unproblematische Definition verwandt, ein Staatsvolk sei „der Inbegriff der im gleichen politischen Lebensraum kämpfenden Parteien — Kampf dem Bewußtsein nach, Einheit nur in seiner unbewußten Tatsächlichkeit'', und er hat unvergeßlich einprägsam hinzugefügt, „vergleichbar einem gotischen Dom, in dem die Massen einander tragen, indem sie einander widerstreben". Ohne das Minimum eines gemeinsamen Kerngehalts zum mindesten einiger der Faktoren, die ein einheitliches Volk ausmachen, wie etwa Sprache, Kulturbewußtsein, Tradition, Abstammung, Verfassungsvorstellungen etc., ohne das Minimum eines nicht kontroversen Sektors des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichs und vor allem ohne ein Minimum in Gestalt regulativer Prinzipien in Erscheinung tretender, generell anerkannter Wertvorstellungen ist keine Gewähr dafür gegeben, daß die Vereinbarungen, Kompromisse und stillschweigenden Ubereinkünfte zustande kommen und eingehalten werden, die das kennzeichnende Merkmal dieser Form der Demokratie darstellen. Die regulativen Prinzipien sind darüber hinaus dazu berufen, zu verhindern, daß die aus dem Parallelogramm der sozialen und ökonomischen Kräfte hervorgehende Resultante unter Vergewaltigung der Interessen allzu schwacher und unter Vernachlässigung der Interessen der allumfassenden Gruppe, d. h. aber der Gesamtnation, zustande kommt. Mit diesen ungemein bedeutsamen Vorbehalten möchte ich den Idealtyp der heteronom-legitimierten, homogen-strukturierten dem Idealtyp der autonom-legitimierten, heterogen-strukturierten Demokratie gegenüberstellen und die These aufstellen, daß der zuerst genannte Idealtyp der Gestalt der totalitären, der zuletzt genannte Idealtyp der Gestalt der pluralistischen Demokratie zugrunde liegt. 14
Der fundamentale Unterschied zwischen diesen Idealtypen der Demokratie tritt am klarsten in Erscheinung, wenn man ihre Einstellung zu dem Problem der innerstaatlichen Parteien- und Gruppenbildung untersucht. Weder die déclaration des droits de l'homme et du citoyen nodi die Grundrechtskataloge der amerikanischen Bundesverfassung und der Verfassungen von Virginia und Massachusetts garantierten die Vereinigungsfreiheit. Die Staatsmänner und Staatsdenker der französischen Revolution haben in ihrer Aversion gegen jegliche Art von „Faktionen" selbst den Propheten der volonté générale weit in den Schatten gestellt. St. Just hat jede „Faktion" für verbrecherisch erklärt, weil sie geeignet sei, die Bürgerschaft zu spalten und die Macht der öffentlichen Tugend zu neutralisieren. Der Dichter André Chenier, der selber ein Opfer der Terreur werden sollte, hat der Gegnerschaft gegen jegliche Art Verbandswesen in den nachfolgenden Worten klassischen Ausdruck verliehen: „Schlecht und unglücklich ist ein Staat, in dem es verschiedenartige Verbände und Gruppen gibt, deren Mitglieder eine Haltung einnehmen und Interessen vertreten, die von der allgemeinen Haltung und dem allgemeinen Interesse verschieden sind. Glücklich das Land, in dem es keine anderen Vereinigungen gibt als den Staat, keine andere Gruppe als das Vaterland, kein anderes Interesse als das Gemeinwohl." In diesem Geist hat die Nationalversammlung am 18. August 1792 beschlossen, ein wahrhaft freier Staat dürfe in seinem Herrschaftsbereich keinerlei Korporationen irgendwelcher Art dulden, selbst nicht solche, die sich der Pflege der öffentlichen Erziehung widmen und sich hierdurch um das Vaterland wohlverdient gemacht haben. Autonomie der Universität und heteronom-legitimierter, homogenstrukturierter Staat stellen unvereinbare Gegensätze, Autonomie der Universität und autonom-legitimierter, heterogen-strukturierter Staat bilden korrespondierende Begriffe. Ein heteronom-legitimierter, homogen-strukturierter Staat sucht das Gemeinwohl dadurch zu verwirklichen, daß er die innerstaatlichen Verbände aus dem öffentlichen Leben ausschaltet oder daß er sie gewaltsam gleichschaltet. Ein autonom-legitimierter, heterogen-strukturierter Staat sucht das Gemeinwohl dadurch zu verwirklichen, daß er die innerstaatlichen Verbände in den Prozeß der politischen Willensbildung einschaltet. N u r wenn dies mit Erfolg geschieht, sprechen wir von einer pluralistischen Demokratie. Die autonom-legitimierte, heterogen-strukturierte Demokratie ist bestrebt, aus der heterogenen Not eine pluralistische Tugend zu machen. Hieraus folgt, daß die beiden Idealtypen der Demokratie nicht nur mit verschiedenen Volks-, sondern auch mit verschiedenen Gemeinwohlbegriffen operieren. 15
Die theoretische Klarstellung des Begriffs der pluralistischen Demokratie ist unerläßlich, um zu verstehen, welche Demokratievorstellungen dem Berliner Modell unserer Universität zugrunde liegen. Auch und gerade für das Universitätswesen ist es nidit angängig, sich eines verschwommenen Demokratiebegriffs zu bedienen und sich damit zu begnügen, als „demokratisch" zu bezeichnen, was einem jeweils ins Konzept paßt, und sich im übrigen damit zu begnügen, alles andere je nach Bedarf und Geschmack entweder als faschistisch oder als kommunistisch zu diffamieren. Ich erblicke im Berliner Modell den Versuch, mutatis mutandis die Grundprinzipien der pluralistischen Demokratie auf die Universität zur Anwendung zu bringen. Die Angehörigen einer Universität bilden keine homogene Einheit. Die akademische Bürgerschaft setzt sich zusammen aus Professoren und Räten verschiedener Art, Assistenten, Lektoren, Wissenschaftlichen Hilfsassistenten und last not least den Studenten, die alle in mehr oder weniger fest gefügten Gruppen zusammengefaßt sind. Pluralistische Universitätsdemokratie bedeutet, daß 1. von der Existenz der verschiedenartigen Gruppeninteressen Kenntnis genommen wird; 2. die Verfolgung dieser Gruppeninteressen als legitim anerkannt wird; 3. den frei gewählten Repräsentanten dieser Gruppeninteressen ein Mitbestimmungsrecht bei der Entscheidung von Angelegenheiten der Gesamtuniversität eingeräumt wird; 4. das Ziel verfolgt wird, das bonum commune der Universität durch einen Ausgleich dieser Gruppeninteressen herbeizuführen; 5. von der selbstverständlichen Voraussetzung ausgegangen werden kann, daß — um das reibungslose Funktionieren dieses Systems sicherzustellen — die Grundprinzipien akademischen Lebens in den nicht-kontroversen Sektor des Universitätswesens eingeschlossen sind und die Geltung eines allgemein gültigen Wertkodex akademischen Verhaltens unverbrüchlich verbürgt ist, der nicht nur die schriftlich fixierten Verfahrensregeln, sondern auch die Gebote der Fairneß und des Taktes einschließt. Die gesamtpolitische Bedeutung des Berliner Modells ist nicht zuletzt darin zu erblicken, daß die Handhabung der pluralistischen Universitätsdemokratie als Einübung zur Beherrschung der pluralistischen Staatsdemokratie zu dienen vermag. Es fehlt mir an der Zeit darzutun, wie es zu erklären ist, daß im viktorianischen England die Vorstellung vorherrschend war, Demokratie sei Herrschaft der öffentlichen Meinung. Sie geht auf Gedankengänge 16
zurück, die die Utilitaristen und insbesondere Jeremy Bentham vertreten haben. Es muß genügen, daran zu erinnern, daß die Unhaltbarkeit dieser These sidi nicht nur auf Grund sozialpsychologischer, sondern vor allem auch auf Grund soziologischer Einsichten nachweisen läßt. Ist man sich doch gerade in den angelsächsischen Ländern seit langem darüber im klaren, daß im Zeitalter der Massenkommunikationsmittel das Volk sehr viel weniger als Subjekt an der Bildung und Ausgestaltung einer autonom entstehenden öffentlichen Meinung mitwirkt, vielmehr zumeist lediglich als das Objekt einer heteronom manipulierten Propaganda und Reklametechnik fungiert, d. h. aber als amorphe Masse angesprochen wird. Ein Gespenst geht um in den westlichen Demokratien: das Gespenst des Massenstaats. Im Anklang an Gedankengänge, die Alexis de Tocqueville bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, hat eine namentlich von deutschen Emigranten — genannt seien Emil Lederer, Hannah Arendt und Karl Mannheim — inspirierte Sdiule der anglo-amerikanischen Gesellschafts- und Politikwissenschaft sich einem intensiven Studium der Politik des Massenstaats gewidmet. Unter Massenstaat wurde bis zum Aufkommen des Totalitarismus ein Regime verstanden, in dem die regierende Elite hilf- und schutzlos dem physischen Druck der Straße ausgesetzt ist. Das Erlebnis des Totalitarismus hat zu der Erkenntnis geführt, daß zur Entstehung und zum Fortbestand eines Terrorregimes auch entscheidend beitragen kann, daß die Massen hilf- und schutzlos dem psychischen Druck einer regierenden Elite ausgesetzt sind — das Wort Elite stets in seinem wertfreien soziologischen Sinne verstanden. Tocqueville hatte in seinem Amerikabuch auf die Gefahren hingewiesen, die durch die übermäßige Zentralisierung der öffentlichen Gewalt, durch den Durchbruch des radikalen Egalitätsprinzips und durch den Wegfall der pouvoirs intermédiaires — jener von Montesquieu so hoch bewerteten Zwischengewalten des ancien régime — der Sache der Freiheit drohen. Nach seiner Auffassung kann dieser Trend nur aufgehalten werden, wenn durch Stärkung des Föderalismus und der lokalen Selbstverwaltung die öffentliche Gewalt dezentralisiert wird und wenn einer tunlichst großen Zahl autonomer Organisationen die Möglichkeit gewährt wird, sich im gesellschaftlichen Raum als pouvoirs intermédiaires mit demokratischem Vorzeichen zu betätigen. An diese Gedankengänge Tocquevilles haben die antitotalitären Kritiker des vortotalitären und totalitären Massenstaats angeknüpft. Sie haben die überragende Bedeutung aufgezeigt, die den viel geschmähten und viel verkannten Organisationen von Partikularinteressen jedweder Art im Zustand drohender Totalitarismusgefahr gerade deshalb zukommt, weil sie ihrem Wesen nach zwischen dem Staat und dem Individuum stehen, d. h. aber, weil sie pouvoirs intermédiaires dârstellen. 17 2 Universitätstage 1967
Die Interessenorganisationen stehen aber in dieser Beziehung nicht allein. Zu den pouvoirs intermédiaires, die berufen sind, den Kampf gegen die Vermassung aufzunehmen, gehören auch die mit Autonomie ausgestatteten öffentlichen Körperschaften, d. h. in erster Linie die Universitäten. Ihnen liegt es ob, Bannerträger im Kampf gegen den Konformismus zu sein. Konformismus bedeutet, Verhaltensnormen als verbindlich anzuerkennen, weil sie von „jedermann" kritiklos befolgt werden. Akademische Freiheit bedeutet nicht nur Autonomie gegenüber der Macht des Staates, sondern auch gegenüber der Macht der öffentlichen Meinung und dem Terror, der von einem Massenkonformismus auszugehen vermag. Das Privileg ihrer institutionell geschützten Autonomie legt den Universitäten die moralische Verpflichtung auf, ihre Studenten im Geist des Non-Konformismus zu bilden. Ich sage zu bilden und nicht auszubilden. Denn die Erlangung einer non-konformistischen Haltung kann nicht allein im Zuge einer Fachausbildung gewonnen werden, in der man die beste Chance hat, mit einer „Eins" abzuschneiden, wenn man sich in der Klausur der H . M., d. h. aber der herrschenden Meinung, anschließt. Und ebensowenig kann im Zuge einer reinen Fachausbildung die allgemeine Bildung erworben werden, die erforderlich ist, um auch nur im Ansatz die Fragestellungen zu begreifen, die der politischen Anthropologie und politischen Philosophie der pluralistischen Demokratie zugrunde liegen. Diese Chance muß allen Studenten gewährt und darf ihnen nicht dadurch verbaut oder beeinträchtigt werden, daß in den ersten Semestern, in denen sie am aufnahmefähigsten und aufnahmebereitesten sind, ihr Studium allzu stark reglementiert wird. Die Universität muß sich mit dem Problem der pluralistischen Demokratie vertieft auseinandersetzen, weil die pluralistische Demokratie, wie ich eingangs sagte und hoffe dargetan zu haben, so problematisch ist. Zusammenfassend sei ihr dynamisch dialektischer Charakter wie folgt gekennzeichnet: 1. Die pluralistische Demokratie erlaubt uns, unsere Interessen kollektiv wahrzunehmen, und verpflichtet uns gleichzeitig, den Erfordernissen des Gemeinwohls Rechnung zu tragen. 2. Die pluralistische Demokratie fordert von uns, daß wir nicht der Utopie eines vorgegebenen, absolut gültigen Sozialideals nachjagen, aber sie verlangt von uns, daß wir ein Minimum von regulativen Prinzipien als uneingeschränkt verbindlich respektieren. 3. Die pluralistische Demokratie gestattet die Austragung aller möglichen wirtschafts- und sozialpolitischen Kontroversen und geht gleichzeitig davon aus, daß die Existenz eines nicht-kontroversen Sektors in diesen Bereichen unentbehrlich ist. 18
4. Die pluralistische Demokratie ermuntert uns, uns in Partikularverbänden zusammenzuschließen, und erwartet von uns, daß wir ohne Zögern die Suprematie des Gesamtverbands anerkennen. Gerade weil unsere Demokratie als pluralistische Demokratie ständig der Gefahr der Desintegration ausgesetzt ist, kommt sie mit einer Universität nicht aus, die sich damit begnügt, tüchtige Funktionäre zu schulen. Die pluralistische Demokratie erwartet und verlangt von der Universität, daß sie eine Universitas litterarum ist.
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Hochschule und Staat in Entwicklungsländern I
Von Gerhard G r o h s Das Thema dieses Referates enthält drei Begriffe: Hochschule, Staat und Entwicklungsländer, von denen jeder eine Vielfalt von Erscheinungen verbirgt, deren Beschreibung allein mehrere Bände füllen könnte. Deshalb muß ich midi auf einige wenige der Verallgemeinerung zugängliche Probleme beschränken und sie von Fall zu Fall durch Hinweise auf konkrete Beispiele anschaulich zu machen versuchen. Betrachten wir die großen Entwicklungsregionen der Welt — Lateinamerika, Afrika, Asien und den Nahen Osten —, so wird sofort deutlich, daß alle diese Gebiete verschiedene Universitäts-Traditionen besitzen. Wenige nur können auf eigene Traditionen zurückschauen, wie die islamischen Regionen und die nichtislamischen Länder asiatischer Hochkulturen. Die meisten Entwicklungsländer aber erhielten erst im 19. und 20. Jahrhundert ihre ersten Universitäten, die nach europäischem Vorbild ausgebaut wurden und nun, nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit versuchen, eigene nationale Wege zu gehen, die ihnen durch das unaufhaltsame Vordringen einer wissenschaftlichen Weltzivilisation immer mehr erschwert werden. Die Universitäten befinden sich in Gesellschaften, die alle eine schnelle Steigerung ihres Lebensstandards erstreben, unter starkem Bevölkerungwachstum leiden, einen großen Prozentsatz an Analphabeten besitzen und oft erst dabei sind, den an Kämpfen reichen Weg zu nationaler Einheit zu beschreiten. Die Erwartungen, die an diese Universitäten gestellt werden, sind angesichts der starken Wissenschaftsgläubigkeit, die gerade in diesen von drängenden politischen und sozialen Problemen heimgesuchten Ländern verbreitet ist, außerordentlich hoch, in vielen Fällen fast irrational übersteigert. Geht man den Erwartungen, die an diese Universitäten gestellt werden, nach, so findet man schnell, daß, wie nicht weiter verwunderlich ist, verschiedene soziale Gruppen verschiedene Erwartungen an die Universitäten herantragen: 1. Sind alte Herrschaftseliten vorhanden, erwarten sie von den Universitäten, daß sie vorwiegend ihre eigenen Kinder ausbilden und ihnen somit den Zugang zu den Machtpositionen verschaffen. Sie wünschen also eine restriktive Zulassungspolitik. Diese Tatsache wird durch ver20
schiedene empirische Untersuchungen belegt, die festgestellt haben, daß in den meisten Entwicklungsländern Kinder aus Städten im Gegensatz zu Kindern aus ländlichen Verhältnissen überrepräsentiert sind, daß Kinder aus begüterten Familien sehr viel größere Chancen zum Studium haben als Kinder aus ärmeren Volksschichten. Wenn die explizite Regierungspolitik nicht gegen diese Tendenz gerichtet ist, besteht die Gefahr, daß alte und neue Oberschichten in ihrem Sozialstatus stark zementiert werden1. 2. Neu aufstrebende Schichten dagegen erhoffen von den Hochschulen, daß sie möglichst vielen von ihnen den Weg zu höherer Bildung und damit zu besser dotierten Posten und machtvolleren Positionen öffnen. 3. An Modernisierung interessierte Eliten erhoffen von der Universität dynamische Anregungen, die den Modernisierungprozeß ihres Landes vorantreiben. 4. An kulturellem Nationalismus interessierte Gruppen wünschen sich dagegen die Wiederentdeckung und Verbreitung des nationalen Erbes, das es gegen die heranbrausenden Wogen technischer Neuerungen zu bewahren gilt. 5. Die Professoren erhoffen sich Freiheit der Lehre und Forschung und möglichst wenige Umwälzungen im herkömmlichen Lehrbetrieb, was sie oft zu Verbündeten der alten Herrschaftselite macht. 6. Die Studenten schließen sich teils den Vorstellungen der alten Herrschaftselite an, zu der sie vielfach selbst gehören, oder in die sie aufsteigen wollen. Teils revoltieren sie gegen die Professoren, die so zögernd allen Neuerungen gegenüberstehen, gegen die alten Eliten, die die Universitäten gegen den Ansturm anderer Schichten abschließen wollen und mitunter gegen die Nationalisten, die an Bewahrung der Traditionen interessiert sind, oder sie revoltieren einfach deshalb, weil sie ihren Platz nicht finden können zwischen den noch bestehenden Anforderungen ihrer traditionell eingestellten Familien und den Zwängen einer liberalen zweckrational orientierten Universitätsausbildung, die ihnen oft nach dem Abschluß ihrer Studien eine ungewisse Zukunft verheißt. A l k diese Konflikte veranlassen die staatlichen Organe immer wieder einzugreifen, indem sie entweder die Universitätsverfassungen ändern oder die Universitäten vorübergehend schließen, Studenten verhaften, Professoren entlassen und so zeitweise „Frieden" schaffen. Natürlich sind die meisten dieser Maßnahmen lediglich ein Kurieren am Symptom, das überdies meistens zu Lasten der schwächsten dieser sozialen Gruppen ausgeht, nämlich der Studenten, da die Frage nach der Gesamtsituation, die diese sozialen Konflikte auslöst, nur sehr selten gestellt wird. (Das dürfte aber keine Besonderheit von Regierungen in Entwicklungsländern sein.) 21
Drei Aspekte, die sich nun in den stets wechselnden Beziehungen zwischen den Universitäten und den staatlichen Autoritäten der Entwicklungsländer als entscheidend herausgestellt haben, möchte ich nun im folgenden untersuchen: 1. Die Frage nach der Verteidigung und Beeinträchtigung der akademischen Freiheit. 2. Die Frage des Verhältnisses der Studentenschaften zur Politik. 3. Die Frage nach dem Ort der Universitäten in der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und Entwicklungsplanung der Länder der „Dritten Welt". Die letzte Frage überschreitet in gewisser Weise bereits die Kompetenz des Soziologen, doch ist gerade an ihr deutlich zu machen, daß nur ein interdisziplinärer Ansatz es ermöglicht, derartig komplexe soziale Probleme angemessen zu behandeln.
II Wenden wir uns zuerst der „akademischen Freiheit" zu, so ist es nützlich, darunter zunächst neben der traditionellen Freiheit von Forschung und Lehre als operationale Begriffsbestimmung jene Institutionen zu verstehen, die dafür sorgen, daß Lehre und Forschung auf höchstem Niveau ermöglicht und erleichtert wird. Diese von Joseph Ben-David und Randall Collins benutzte Definition2 hat den Vorteil, Beeinträchtigungen dieser Freiheit sowohl von außen als auch durch Mißbrauch von innen zu erfassen. Im einzelnen besteht diese akademische Freiheit aus drei Privilegien: 1. Monopolrechte für die Ausübung bestimmter Funktionen, nämlich der Lehre, der Forschung und Verleihung von akademischen Graden. 2. Aufrechterhaltung eines gewissen Standards durch die Kontrolle über den Zugang zur akademischen Lehre. 3. Disziplinargewalt innerhalb der Universität. Es ist offensichtlich, daß dieser Begriff der akademischen Freiheit nicht identisch ist mit dem Begriff der „Universitätsautonomie", sondern weniger umfaßt als diese. Unter Autonomie ist im Idealfalle sowohl die juristische als auch politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Staate zu verstehen. Die Universitätsautonomie ist aber selbst in Europa selten in vollem Umfang gegeben, wie ein Blick auf die englische, französische und deutsche Universitätsverfassung zeigt, von denen z. B. nur die englische Universitätsverfassung eine gewisse wirtschaftliche Autonomie vom Staate besitzt. Noch weniger ist die Universitätsautonomie in Entwicklungsländern anzutreffen, wie eine Untersuchung der lateinamerikani22
sehen Hochschulen gezeigt hat®, die zu dem Ergebnis kam, daß nur wenige dieser Universitäten selbst in einem eingeschränkten Sinne als autonom bezeichnet werden können. Kehren wir also zu den vorhin erwähnten drei Funktionen der akademischen Freiheit zurück, so zeigen sich in allen drei Punkten Konfliktsmöglichkeiten mit dem Staate. Der erste und wichtigste Angriffspunkt sind die Lehrpläne, die oftmals unverändert aus den Zeiten kolonialer Abhängigkeit weitergeführt wurden und zunehmend von den Führungseliten kritisiert werden. Die Gründe für diese Kritik sind vielfältig. Ein Grund findet sich in der Tatsache, daß praktisch alle Regierungen von Entwicklungsländern Entwicklungspläne aufstellen, die sie aus ihrer sozialistischen Orientierung heraus oder deshalb, weil sie von internationalen Organisationen oder einzelnen industrialisierten Ländern, die Entwicklungshilfe geben — und darin sind sich sozialistische und kapitalistische Länder auffallend einig — gedrängt werden, solche Pläne vorzulegen. Ein zunehmend wichtiger werdender Bestandteil solcher Pläne sind Vorausberechnungen des zu erwartenden Bedarfs an Akademikern. Hier zeigt sich nun oftmals ein auffallender Überhang an Juristen und Philologen und ein ebenso großer Mangel an Naturwissenschaftlern und Technikern. Teilweise ist das daraus zu erklären, daß die Fakultäten nach europäischem Vorbild eingerichtet und ausgestattet wurden und als in sich selbst funktionierende soziale Systeme keinen Anlaß sahen, sich auf gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse einzurichten. Das hat oft staatliche Eingriffe zur Folge, für die Kuba ein besonders krasses Beipiel gegeben hat, indem die Regierung versuchte, mit Hilfe eines strengen numerus clausus bei den geisteswissenschaftlichen Fächern möglichst viele Studenten in technische und naturwissenschaftliche Fächer abzudrängen 4 . Hinzu kommt aber die Kritik, daß die Absolventen vieler Fakultäten zwar den hochspezialisierten Standard von Akademikern entwickelter Länder besitzen, aber nicht über jene Kenntnisse verfügen, die ihnen die unmittelbare Anwendung auf die primitiven Verhältnisse des Entwicklungslandes ermöglichen. Von einer anderen Seite wieder kommt die Kritik, daß es sich bei diesen Hochschulen um „europäische Importe" handele, die mit europäischen Methoden europäische Probleme untersuchen, sich aber nicht um die Erforschung der einheimischen Geschichte, Kultur, Sozialstruktur und anderer Probleme bemühe. Schon 1919 schrieb ein indischer Gelehrter, Principal eines Colleges: „Die Gründer des neuen Erziehungssystems hatten nicht die Zeit, die einheimischen Ideale und Methoden zu studieren: das neue System wurde in gänzlichem Unwissen und beinahe vollständiger Mißachtung der bestehenden sozialen Ordnung eingeführt, die das tägliche Leben eines alten Volkes regeln 5 ." Nodi heute werden in manchen Entwicklungsländern die Universitäten, die von vielen als Zentren rationalen Geistes begrüßt werden, als fremde Institutionen betrachtet. Die ihnen zugedachten vielfältigen Funktionen lassen sie immer wieder in 23
Schwierigkeiten geraten. Viele Regierungen erwarten von ihnen, daß sie den Nationalismus verbreiten helfen, der die oft heterogenen Völker auch in ihrem Bewußtsein integrieren soll. Dem steht oft das Credo der Internationalität der Wissenschaft und des Pluralismus der Werte entgegen, das ausländische und einheimische Universitäts-Dozenten vertreten. Andererseits geraten oft die Studenten selbst untereinander in Konflikt, da sie verschiedenen Völkern, verschiedenen Religionen oder verschiedenen Kasten entstammen. Selbst die Regierungen, soweit sie Provinzial-Regierungen sind, werden der nationalen Idee mitunter untreu und versuchen, wie 1965 in Lagos geschehen, gegen den Widerstand von Professoren und Studenten in die Universitätsstruktur einzugreifen zugunsten bestimmter Volksgruppen. In manchem erinnern solche Situationen an die landsmannschaftlichen Kämpfe an mittelalterlichen europäischen Universitäten, die, wie in Prag, zur Lähmung des gesamten Universitätsbetriebes führen konnten. Ein langfristigeres Problem stellt der verständliche Wunsch nationaler Regierungen dar, den Lehrkörper möglichst bald aus Einheimischen zu bilden, der aber mit unterschiedlicher Intensität durchgesetzt wird. In Afrika, wo ζ. B. an der nigerianischen Universität in Nsukka noch 1963 der Lehrkörper aus Vertretern von fast 25 Nationen bestand®, geht man im allgemeinen recht behutsam vor, da man sich in erster Linie am internationalen Standard orientiert7. In Indien dagegen führte die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit ungewöhnlicher Schnelligkeit durchgeführte Indisierung des Lehrkörpers zunächst zu einem schnellen Verfall des Universitäts-Standards. Es ist als ein gewisses Paradox anzusehen, daß sich in den westlichen Ländern langsam eine Tendenz zur Internationalisierung des Lehrkörpers anbahnt, die in den USA so reiche Früchte getragen hat, während in vielen Entwicklungsländern zunächst die Nationalisierung der Universitäten angestrebt wird, um von einer durch den Zwang der Verhältnisse schon erreichten Internationalisierung wegzukommen. Ähnliche Konflikte zwischen nationalem Interesse und internationalem Lehrkörper können sich jedoch auch auf dem Gebiete der Forschung ergeben, die zunehmend von den Regierungen als notwendiges Mittel zur Entwicklung des Landes betrachtet wird und deshalb mehr und mehr in den Dienst der entsprechenden Regierungsprogramme genommen werden soll. Wenn man auch allgemein sagen kann, daß die Forschung in den Entwicklungsländern noch sehr viel weniger ausgebaut werden konnte als die Lehre, da ihr meistens die notwendige Kontinuität fehlt und da sie über zu wenig Personal verfügt und solches auch sehr viel schwieriger aus Industrieländern beziehen kann, so besteht doch die Gefahr, daß diese Forschung von den Hochschulen nicht entwicklungsrelevant, sondern mehr 24
zufällig orientiert an den Interessen der einzelnen Forscher betrieben wird. Das wiederum führt zu der möglichen Konsequenz, daß der Staat audi die Forschung gänzlich in seine Planung einbeziehen will, was gegen die Freiheit der Forschung und damit gegen ein Grundprinzip der akademischen Freiheit verstoßen würde.
III Diese wenigen Bemerkungen zu den mannigfachen Konflikten, die zwischen Staat und Hochschulen in Entwicklungsländern möglich sind, müssen genügen, da ich jetzt zu den in der Öffentlichkeit sehr viel mehr beachteten Problemen des Verhältnisses zwischen den Studentenschaften und der Politik übergehen möchte. Es vergeht kein Jahr, in dem die Zeitungen nicht von Studenten-Demonstrationen in Entwicklungsländern berichten, die oftmals nur das Vorspiel zum Sturz von Regierungen bilden, wie etwa 1960 in Korea, 1964 in Bolivien, Südvietnam und im Sudan, 1965 in Nigeria, 1966 in Ecuador, Indonesien und anderen Staaten. Diese auffallenden Ereignisse vermitteln den Eindruck, daß es sich hier immer um linksgerichtete Bewegungen handelt, doch läßt sich auch eine Anzahl von konservativ gerichteten Studentenbewegungen feststellen. So etwa jener Protest ostafrikanischer Studenten im vergangenen Jahre, die gegen den Plan der Regierung, einen Arbeitsdienst für die Studenten einzurichten, mit dem Hinweis protestierten, daß selbst in der Kolonialzeit solche Ansinnen an die Studenten nicht gerichtet worden seien. Der amerikanische Soziologe Seymour M. Lipset hat in einem vielzitierten Aufsatz 8 aufgrund der zahlreichen und verstreuten Untersuchungen, die in den verschiedenen Ländern über die Haltung der Studenten zur Politik durchgeführt wurden, versucht, einige Hypothesen darüber aufzustellen, wann die Möglichkeiten politischer Demonstrationen besonders groß sind. Die wichtigsten dieser Hypothesen sind folgende: 1. Wenn in einer Situation politischer Spannungen die bestehenden Eliten und Gegen-Eliten schlecht organisiert und wirkungslos sind, haben Studentenorganisationen die Möglidikeit, größere politische Bedeutung und Macht zu erhalten als in normalen Situationen. Dafür könnte man vielfältige Belege nicht nur in Ländern wie Vietnam vor dem Sturz des Diem-Regimes, sondern auch in manchen historischen Beispielen finden, wie im vorrevolutionären Rußland oder Frankreich. Studenten haben aber in Entwicklungsländern auch deshalb besondere Bedeutung, weil sie nicht nur eine Gruppe sind, die das geistige Leben eines Landes charakterisieren, sondern die Gruppe überhaupt, die das gesamte kulturelle Leben, soweit es am Modernisierungsprozeß teilnimmt, repräsentiert. Sie machen sich immer wieder zu Wortführern 25
von unterprivilegierten sozialen Gruppen, die selbst ihre Interessen nodi nicht zu formulieren und zu vertreten wissen. Diese Funktion allerdings läßt in dem Maße nach, indem sich diese Gruppen eigene Vertreter wählen 9 . 2. D i e Tatsache, daß eine Universität in einer Hauptstadt liegt, ermuntert die politische Aktivität v o n Studentengruppen, weil das allgemeine politische Kommunikationsnetz und das universitäre K o m m u nikationsnetz leicht in Verbindung zu bringen sind. 3. D a m i t in Zusammenhang steht die Beobachtung, daß je größer eine Universität und je größer die Zahl ihrer Studenten ist, desto ungünstiger auch das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Professoren und Studenten zu werden droht. Diese Situation vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß es zu besonderer politischer Aktivität der Studenten kommt. 4. D a r a u s erklärt sich z. T . audi die Feststellung, daß auch in Entwicklungsländern die Studenten der geistes- und sozialwissensdiaftlichen Fächer sehr viel mehr an politischen Aktionen beteiligt sind als diejenigen der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer. Eine genaue Analyse dieser Erscheinung steht noch aus. Einige bisher gebotene Erklärungen zielen darauf, daß die Studiendisziplin in naturwissenschaftlichen Fächern größer ist und die Berufsaussichten f ü r diese Fächer besser sind, so daß der Druck der Existenz-Angst auf diesen Studenten weniger lastet. H i n z u k o m m t natürlich, daß das Interesse an politischen Problemen in bestimmten sozialwissenschaftlichen Fächern von selbst gegeben ist. 5. In manchen Entwicklungsländern, besonders in Südost-Asien trägt die Tatsache, daß die Studenten nach einer traditionell streng praktizierten Geschlechtertrennung plötzlich in der Universität mit Kommilitoninnen zusammenarbeiten müssen, die ihrerseits trotz der arbeitsmäßig durchgeführten Gleichberechtigung streng überwacht werden, zu starken Aggressionen bei, worauf J o s e p h Fischer a u f g r u n d empirischer Untersuchungen hingewiesen hat 1 0 . D a s führt in die gesamte sozialpsychologische Problematik der Studenten hinein, die, noch vielfach einer traditionellen Erziehung verhaftet, plötzlich zweckrational studieren sollen, um hinterher in eine noch weitgehend traditional geprägte Gesellschaft entlassen zu werden. 6. Schließlich sind noch alle jene sozialen Faktoren zu berücksichtigen, die zu politischer Unzufriedenheit von Studenten führen, die von der Unangepaßtheit an die Lebensformen einer modernen Universität bis zur A r m u t der Studenten reichen, die immer wieder zu Rebellionen gegen die zu hohen Universitätsgebühren, die schlechten Unterkünfte, 26
schlechtes Essen oder ungünstige Arbeitsverhältnisse führen. Alle diese Gründe sind audi in industrialisierten Gesellschaften immer wieder Anlaß zu Protesten, wie etwa im vorigen Jahr der Kölner Studentenstreik gegen die Erhöhung der Straßenbahntarife und in diesen Wochen der Protest der Berliner Studenten gegen die Erhöhung der Studiengebühren zeigt. Diese Aktionen können aber von Fall zu Fall über ihren speziellen interessengebundenen Zweck hinaus sich ausweiten auf allgemeinpolitische Ziele, insbesondere dann, wenn der Grund des Protestes die studentische Existenz bedroht und die Universitätsbehörden oder die staatlichen Organe mit unüberlegten und unangemessenen Maßnahmen gegen den Protest — und nicht gegen seine Ursachen — anzugehen versuchen. Die praktische Konsequenz, die Lipset aus allen diesen Feststellungen zieht, ist ambivalent. Einerseits betont er, daß die starken politischen Aktivitäten der Studenten am wenigsten wahrscheinlich sind, wenn die akademischen Anforderungen einer Universität sehr hoch sind, ausreichende Studien und Forsdiungsmöglichkeiten vorhanden sind und der Lehrkörper in genügend großer Zahl zur Verfügung steht und sich voll einsetzt (was z.B. in vielen südamerikanischen Universitäten nicht der Fall ist, an denen viele Professoren lediglich im Nebenberuf dozieren). Andererseits weist er darauf hin, daß es normal für Studenten ist, eine kritische Haltung gegenüber dem status quo einzunehmen, was nur ein Aspekt des Generationen-Konflikts in der modernen und mit noch mehr Intensität in der sich modernisierenden Gesellschaft ist. Die Sätze, die Anatole Leroy-Beaulieu 1897 über die russische Studentenschaft schrieb, die damals ebenfalls in einer sich entwickelnden Gesellschaft lebte, haben nodi heute Geltung: „Die Schulen waren immer die Brutstätten des Radikalismus und je höher die Schule, desto mehr sind die jungen Leute, die an ihr graduieren, von revolutionärem Geiste erfaßt. Wie streng audi Wissenschaft und Erziehung überwacht sein mögen, sie führen durch die Wünsche, die sie erzeugen, das Vertrauen in Recht und Vernunft, das sie schaffen, die Neugierde, die sie hervorrufen, und die Vergleiche, die sie anregen, unaufhaltsam zu Kritik, freier Forschung und dem Geist der Erneuerung 11 ." Je weniger die gesellschaftliche Wirklichkeit den damit gesetzten Maßstäben entspricht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Insofern sollte man auch zögern, alle Konflikte zwischen Studenten und staatlicher Autorität stets als „Störungen der Ordnung" zu betrachten — und dem Aufsatz von Lipset wohnt dieser Gedanke ein wenig inne. Diese Konflikte treiben oft Probleme einer Lösung zu, die bisher jedem Reformversuch widerstanden. Sie stellen oft als erste unüberhörbar die Frage nach der Verwirklichung von Idealen, die von so vielen proklamiert und von so wenigen geglaubt werden. 27
Angesichts dieser Überlegung erscheint auch die Frage, ob die Übertragung von Beteiligungsrechten auf die Studenten zur Störung akademischer Freiheit führt, in anderem Lichte. Das Beispiel der südamerikanischen Universitäten, die seit der Reformbewegung, die 1918 in Cordoba ihren Ausgang nahm und nach dem Vorbild der alten Universität von Bologna größere Beteiligungsrechte der Studenten forderte und durchsetzte, wird immer wieder von konservativen Universitätspolitikern als Menetekel an die Wand gemalt. Solche Einzelheiten können nur in ihrem politisch-sozialen Kontext angemessen analysiert werden. Das hieße hier also zu fragen, ob auch bei völliger Abschaffung solcher Beteiligungsrechte keine politischen Demonstrationen der Studenten zu erwarten gewesen wären. Die Antwort, die sich anhand vieler Beispiele belegen ließe, müßte eindeutig negativ ausfallen. Solche Beteiligungsrechte können im Gegenteil irridentistische Bewegungen vermeiden, da es offizielle Möglichkeiten der Beteiligung gibt. Wichtiger sind, wie der internationale Vergleich ergibt, solche Faktoren, wie die Größe der Studentenzahl, das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Dozenten und Studenten und die Frage, ob die Universitäten die Studienmöglichkeiten bieten, die die Studenten verlangen können. Aus diesen Erfahrungen der Studentenschaften in Entwicklungsländern kann man auch etwa für die Berliner Situation die Konsequenz ziehen, daß nicht irgendwelche Manipulationen an der Universitätsverfassung politische Demonstrationen verhindern, sondern einzig und allein die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse und eine allgemeine Atmosphäre offener Diskussion. Selbst wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, und sie sind z. 2. an der Universiät Berlin ebenso wenig erfüllt wie an anderen in Großstädten wie Calcutta oder Buenos Aires gelegenen Mammut-Universitäten, ist mit einer sich hin und wieder an besonderen Anlässen entzündenden Bewegtheit der Studenten zu rechnen, solange es Fragen politischer Relevanz gibt.
IV Diese bewegende Funktion der Studentenschaften in Entwicklungsländern und anderswo ist aber nicht nur für sich selbst zu sehen, sondern muß als ein Aspekt der Stellung der Akademiker in sich wandelnden Gesellschaften verstanden werden. Diese Frage erfreut sich mehr und mehr des Interesses von Soziologen und Politologen, was z. T. sachliche Gründe hat, da die Rolle der Führungseliten von großer Bedeutung ist, z. T. aber auch einer gewissen Neigung zur Selbstbespiegelung entspringt. Es ist deshalb nützlich, zu versuchen, dieser Gefahr in gewissem Sinne dadurch zu entgehen, daß man sich die wirtschaftlichen Aspekte klarmacht, die von 28
den sich kräftig entwickelnden Zweigen der Bildungsökonomie in den Vordergrund gestellt werden. Auf diesem Gebiete ist man in den letzten Jahren mehr und mehr von der simplen Gleichung: Erziehungsinvestitionen = wirtschaftliches Wachstum abgekommen, von der noch heute manche Planer in Entwicklungsländern ausgehen. Frederick Harbison hat mit Redit darauf hingewiesen, daß nicht jede Erziehungsinvestition wirtschaftlich produktiv zu sein braucht. Das Verhältnis zwischen Erziehungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum ist überaus komplexer Natur, da einerseits Erziehung zum Wirtschaftswachstum beizutragen vermag, andererseits aber erst das Wirtschaftswachstum es möglich macht, das Erziehungswesen zu entwickeln und auszudehnen 12 . Untersucht man die wirtschaftliche Rolle der Universitäten in Entwicklungsländern, so fällt zunächst das Paradoxon auf, daß einerseits ein sehr großer langfristiger Bedarf an Akademikern besteht, andererseits aber immer wieder die Situation entstehen kann, daß sich ein gewisses „akademisches Proletariat", wie ζ. B. in Indien, entwickelt. Das hat natürlich seine Auswirkungen auf das Verhältnis der Hochschulen zum Staat, da je nach Situation auch die führenden Eliten die Studenten als drohendes Proletariat oder als willkommene Unterstützung zur Beteiligung an den für die Modernisierung notwendigen Führungsaufgaben betrachten. Der Grund für diesen schmalen Grad zwischen Mangel und Überproduktion von Akademikern liegt, wie W. Arthur Lewis feststellte1®, an der bemerkenswert geringen Aufnahmekapazität für Akademiker in sich entwickelnden Gesellschaften. Lewis berechnete, daß für Jamaika nur etwa für 5 °/o der erwachsenen Bevölkerung akademische Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und für Nigeria nach einer Berechnung von Harbison etwa 1 %>. Der Bedarf an handwerklichen und technischen Berufen der mittleren Ebene, also etwa mit den Absolventen unserer Fach- und Gewerbeschulen vergleichbar, ist erheblich höher. Harbison geht davon aus, daß für jeden Universitätsstudenten 2 bis 4 Absolventen Höherer Schulen auf Fachschulniveau ausgebildet werden müßten, und daß vermutlich die Hälfte beider Studentengruppen auf technische, naturwissenschaftliche und medizinische Fächer konzentriert sein müßte, wenn eine Regierung an schneller Industrialisierung interessiert ist14. Leider aber bestehen in vielen Entwicklungsländern fast umgekehrte Verhältnisse: Die Ausbildungsmöglichkeiten der Absolventen höherer Schulen sind außerhalb der Universität gering und die Mehrzahl der Studenten studiert Jura, Geistes- und Sozialwissenschaften und Medizin. Dieser fehlt aber wiederum die notwendige Anzahl von Hilfsberufen, wie ζ. B. den Medizinern die Krankenschwestern, Laboranten und Apotheker, die sie erst wirksam werden lassen, so daß vielfach hochqualifizierte Mediziner routinemäßige Impfungen und Hygienemaßnahmen durchführen müssen, die ein dafür ausgebildetes Sanitätskorps besser und wirkungsvoller übernehmen 29
könnte. Für kleine Länder, wie sie in Afrika nicht selten sind, ist vom ökonomischen Standpunkt aus überdies festzustellen, daß es billiger sein kann, alle Studenten nach Europa zum Studium zu schicken, als eine eigene Universität einzurichten. Dies widerspricht also einer allgemeinen Annahme, daß man lieber die Studenten zu Hause ausbilden solle als im Ausland. Somit ist die Tatsache, daß ζ. Z. in Deutschland etwa 1200 Afrikaner an Hoch- und Fachschulen studieren15, durchaus zu begrüßen. Daß es eine Reihe von nicht-ökonomischen Gründen gibt, trotzdem Universitäten einzurichten, etwa deshalb, weil sie als notwendige regionale Kulturzentren wirken können, ist selbstverständlich. Der Grund für die eben gegebene ökonomische Rechnung liegt, wie Lewis nachgewiesen hat 16 , in den außerordentlich niedrigen Verhältniszahlen zwischen Dozenten und Studenten in solchen Ländern, die mitunter 1 : 3 betragen, gegenüber der, an Deutschland gemessen sehr günstigen englischen Relation von 1 : 8. Da die überwiegend ausländischen Dozenten diesen Ländern sehr viel mehr kosten als entsprechende Dozenten in den Industrieländern, kann man sich schon von daher die Kostspieligkeit von Universitäten in solchen Gebieten vorstellen. Hinzu kommt, daß außer den relativ geringen Gebühren alle sonstigen Ausstattungskosten in Industrieländern vom Steuerzahler bezahlt werden, so daß man für £ 600 im Jahr einen afrikanischen Studenten nach London schicken kann, der in Afrika selbst dem Staat fast £ 1000 kosten würde 17 . Alle diese wirtschaftlichen Überlegungen werden allmählich die staatlichen Behörden zwingen, ihr Verhältnis zur Universitätsausbildung, die weithin als selbstverständlich am stärksten zur Entwicklung beitragend betrachtet wird, zu überprüfen. Die Tatsache, daß die außerordentlich kleine westlich gebildete Elite, die die meisten Entwicklungsländer zur Unabhängigkeit führte, meistens Universitätsbildung, zumindest höhere Ausbildung besaß, machte Universitätsbildung, wie James Coleman es ausdrückte18, sehr „visible", sehr sichtbar. Es wird oder wurde vielfach angenommen, daß eine Universitätsausbildung von selbst einen hohen Regierungsposten garantiert, eine Annahme, die mit steigender Zahl von Universitätsabsolventen und langsamer steigender wirtschaftlicher Produktion an Wahrheit verliert. Solche Erkenntnisse setzen sich aber, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, wenn wir uns an die stets sich ändernden Prognosen über den Bedarf von Medizinern, Juristen, Lehrern erinnern, die in der Bundesrepublik seit 1949 gemacht wurden, sehr langsam durch. Dieser Prozeß verläuft in Entwicklungsländern mit ihrem erheblich langsamer arbeitenden Kommunikationsnetz in noch längeren Intervallen, so daß oft heute noch Berufsziele angestrebt werden, die, wie etwa der des Rechtsanwaltes oder Richters, ihr Prestige aus der auslaufenden Kolonialzeit beziehen, die nur ganz wenige Möglichkeiten dem einheimischen Universtätsabsolventen anbot. Die ständige Diversifizierung der Berufe und sozialen Rollen, die ein 30
Charakteristikum jeder sozialen und technischen Entwicklung ist, wird nur sehr langsam in das allgemeine Bewußtsein aufgenommen. Soziologisch gesehen ist das Problem der Arbeitslosigkeit von Akademikern aber nicht nur die Folge einer eventuell falschen Studienwahl, sondern audi der Weigerung, sich einer anderen Laufbahn nach dem Studium zuzuwenden, die vielfach wegen ihrer Neuartigkeit oder ihrer Nähe zur Praxis als minderwertig angesehen wird. Es käme also darauf an, neben einer Erhöhung der Zahl von Studenten, die Naturwissenschaften und Technik studieren, die nicht-technische Ausbildung flexibler zu gestalten. In früheren Zeiten waren der Jurist in Deutschland und derjenige, der „classics" studierte in England, vielseitig verwendbare Akademiker, die in Justiz, Wirtschaft und Verwaltung an den verschiedensten Stellen eingesetzt werden konnten. Sie sind in der spezialisierten Industriegesellschaft selbst Spezialisten geworden. In Entwicklungsländern aber müßte vielleicht für die gegenwärtige Periode wieder ein solcher vielseitig verwendbarer Typ, der audi das entsprechende Selbstverständnis eines „Innovators" haben müßte, ausgebildet werden, der heute möglicherweise Sozialwissensdiaftler mit wirtschaftlichen, organisatorischen und juristischen Kenntnissen sein müßte. Dieses Problem wird bisher deshalb kaum gesehen, da auch die aus Industrieländern kommenden Dozenten an Universitäten in Entwicklungsländern sich selbst als Spezialisten verstehen und nur Spezialisten ausbilden können oder wollen. Eine solche Umfunktionalisierung der nidit-naturwissensdiaftlich-technisdien Ausbildung würde natürlich auf erheblichen institutionellen Widerstand stoßen, zumal das Expertentum ζ. T . als Rechtfertigung für die außerordentlichen Einkommensunterschiede, die in vielen Entwicklungsländern zwischen Akademikern und der übrigen Bevölkerung zu beobachten sind, herangezogen wird. R. L. Pratt wies kürzlich in einem Aufsatz19 darauf hin, daß in Kanada ein Akademiker etwa viermal soviel verdient wie das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen, in Ost- und Zentralafrika aber ein Akademiker 25- bis 40mal soviel verdient auf das Pro-Kopf-Einkommen bezogen. Eine Verbreiterung der sozialwissenschaftlichen Ausbildung mit dem Ziel „Mehrzwedc-Akademiker" auszubilden, würde also unter Umständen eine Verringerung des Einkommensabstandes bedeuten, der zwar die Alternative der offenen oder latenten Arbeitslosigkeit mildern könnte, aber mit dem Widerstand der in Herrschaftspositionen befindlichen Akademiker zu rechnen hätte. Die Beziehungen zwischen der Beschäftigungsstruktur eines Landes und der Art und Weise der Ausbildung an den Universitäten sind äußerst komplexer Natur. Peter Heintz hat aufgrund einer systematischen siebenjährigen vergleichenden Untersuchung der südamerikanischen Staaten 20 folgende Hypothese aufgestellt: Eine sich schnell entwickelnde und expandierende Beschäftigungsstruktur, die der Entwicklung des Erziehungs31
systems vorauseilt, zwingt die Erziehungsinstitutionen, zu denen die Universitäten gehören, dazu, sich den Bedürfnissen der praktischen Anforderungen anzupassen. Das heißt also, daß die Universitäten selbst und die zuständigen Regierungs-Ressorts von vornherein von diesen Bedürfnissen ausgehen und damit eine progressive Tendenz im Sinne des technischen Fortschritts verfolgen. Entwickeln sich aber die Erziehungsinstitutionen schneller als die Beschäftigungsstruktur, besteht die Gefahr, daß die Universitäten keinen Anlaß sehen, das tradierte Lehrprogramm zu ändern. Im Gegenteil werden sie durch die Drohung, daß sie ihre Absolventen nicht in angemessenen Stellungen unterbringen können, dazu veranlaßt, eine restriktive Zulassungspolitik zu betreiben, die erfahrungsgemäß zugunsten der Oberklasse wirkt, und eine entwicklungsfeindliche Ideologie zu vertreten. Letztere entsteht aus zwei Gründen: Einmal deshalb, weil Studenten und Dozenten der traditionellen Elite angehören, die an Macht und Prestige zu verlieren fürchten, zum anderen deshalb, weil sie den Wert eines Studiums außerhalb der Werte einer sdmellen Industrialisierung definieren müssen, d. h. etwa mit der Behauptung, daß literarische und philosophische Bildung ihren Wert in sich tragen, ob damit nun bestimmte Positionen verbunden sind oder nicht. Es ist natürlich audi in einer solchen Überlegung manches, das sich verteidigen läßt, bezogen auf die wirtschaftliche und technische Entwicklung jedoch wirkt sie zumindest nicht förderlich, wenn nicht sogar dysfunktional. Daß eine solche Haltung zu einer Isolierung der Universitäten von der politisch-sozialen Gesamtentwicklung führen kann und schließlich die Kritik der Öffentlichkeit und damit der Politiker auf die Universitäten zieht, ist offensichtlich.
V. Blicken wir nun auf die mannigfaltigen Probleme zurück, die die Universitäten in Entwicklungsländern zu bewältigen haben, so kann es nicht verwundern, daß sie in einem ständigen Prozeß der Umstrukturierung begriffen sind. Trotz aller Vorbehalte kann gesagt werden, daß alle Universitäten, ob in Europa oder in Südamerika, Afrika und Asien im Sinne Max Webers zur Rationalisierung und damit zur Einführung rationalen Geistes in die Entwicklungsländer beitragen. Soweit der Wille zur Nation sich in diese Tendenz einpassen läßt, sind sie auch das, was viele ihrer früheren Vorkämpfer von ihnen erwarteten: Zentren nationaler Integration und kultureller Emanzipation, aber sie haben heute auch stets die Tendenz in sich, Stätten internationaler Wissenschaft, pluralistischen Weltverständnisses und ständiger Weltveränderung und Weltbildveränderung zu sein. 32
Welche dieser Tendenzen sich durchsetzen wird, ist angesichts der vielen Konflikte, die diese Spannung zwischen Universität und Staat hervorruft, an denen die Studentenschaften lebhaft beteiligt sind, nicht abzusehen, Sicher ist, daß die Studenten, ob in Ecuador oder Ghana, trotz aller Verirrungen in kleinliche Eigeninteressen, trotz aller Verführbarkeit durch partikulare Ideologien, sich immer wieder für ein Humanum eingesetzt haben, das sonst keine Fürsprecher im Kampfe der Meinungen gefunden hat. Ob sie das in humaner Weise tun, d. h., wenn man die Formulierung von Hermann Heimpel übernimmt21, in einer Weise, die Gründe geltend macht und anerkennt und nicht Brutalitäten, die Gefühlen Ausdruck gibt und nicht Ressentiments, das hängt von der Fortgeschrittenheit des Bewußtseins der Universität selbst und von der Gesellschaft ab, die diese Universität trägt. In diesem Sinne sind Angriffe auf die akademische Freiheit, ob sie von innen oder außen kommen, ebenso wie die Proteste bedrängter Studenten Teile einer gesellschaftlichen Gesamtsituation, die zu reflektieren die Universität — ob in Entwicklungsländern oder hier — sich nicht nehmen lassen sollte. Wieviel in dieser Hinsicht die Situation der Universitäten in Entwicklungsländern mit der unseren gemeinsam hat, wird in den Worten deutlich, die Max Horkheimer im Wintersemester 1952/53 an die Frankfurter Studenten riditele: „Die geistige Urteilsfähigkeit der Bevölkerung, die in so schreiendem Mißverhältnis zum hohen Stand der Wissenschaften und der Technologie sich befindet, die Versuchung zum Betrug, den dieser intellektuelle Zustand der Massen ständig für skrupellos Mächtige bedeutet, sind gerade den industriell fortgeschrittenen Völkern gemeinsam, und die jüngste Geschichte kennt die Folgen, die in der zugleich totalen und oberflächlichen Vergesellschaftung des modernen Lebens angelegt sind. Lassen Sie uns hoffen, daß Ihre Generation nicht noch weitere und neue zu tragen hat, daß sie die Kraft — vor allem die Zeit — findet, Einsicht zu gewinnen in das Wesen des anscheinenden Verhängnisses, und schließlich die Macht, es abzuwenden, ehe sie in es hineingezogen wird." 22
Anmerkungen : 1
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Vgl. Prodosh Aich, Farbige unter Weißen, Köln 1962, der den hohen P r o zentsatz von Studenten, die aus der Oberklasse stammen, bei einer Untersuchung von afrikanischen und asiatischen Studenten in Deutschland feststellte, und Gerd Burkhardt, University of Ghana, in Atomzeitalter, Heft 10 (1964), der darauf hinwies, daß nur 2 %> der Studenten der University of Ghana aus dem Norden des Landes stammt, in dem 30 °/o der Bevölkerung Ghanas leben.
Universitätstage 1967
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Freedom and Student Politics, in: Comparative Education Review, Vol. 10, Joseph Ben-David und Randall Collins, A comparative study of Academic No. 2 (1966) S. 220 ff. I. Roberto Moreira, O Problema da Autonomia das Universidades LatinoAmericanas, Boletín, Centro Latino-americano am Ciencias Socialis, Rio de Janeiro, I V (Feb. 1961) S. 83, zit. von Hartmann, in: Η. Α. Steger (Hrsg.) Grundzüge des lateinamerikanischen Hochschulwesens, Baden-Baden 1965, S. 261/62. H. Hartmann: Hochschulen und Entwicklungsländer, in: Η. A. Steger (Hrsg.) a. a. O., S. 253 ff. Ramendra Sunder Trivedi, in einem Memorandum, das der Calcutta University Commission vorgelegt wurde, in: Calcutta University Commission, 1917—1919, Report V I I (Calcutta 1919) S. 303, zitiert in: E. Ashby, Universities: British, Indian, African. London 1966 S. 47.
• In mancher Hinsicht kann man sagen, daß solche internationalen Lehrkörper uns Europäern ein Experiment vorführen, von dem die bisher ergebnislosen sich seit Jahren hinziehenden Diskussionen um eine europäische Universität offensichtlich keine Notiz genommen haben. 7 Eric Ashby, African Universities and Western Tradition, London 1964. 8 Seymour M. Lipset, University Students and Politics in Underdeveloped Countries, in: Minerva, Vol. I l l , No. 1 (Aug. 1964) S. 15—56. 9 Robert Alexander, Evolution of Students' Politics in Latin America, in: Readings on Latin American Student Movement and the rise of the Latin American left. Hrsg. von USNSA 1965, S. 34 ff. (vervielfältigt). 10 Joseph Fischer, Universities in Southeast Asia: An Essay on Comparison and Development, Ohio 1964. 11 Anatole Leroy-Beaulieu, The Empire of the Tsars and Russians, Part I I : The Institutions, New York 1894, S. 486—487. 12 F. Harbison, The African University and Human Resource Development, in: Journal of Modern African Studies, 3 (1) 1965, S. 53—62. 13 Arthur W. Lewis, Priorities for Educational Expansion, in: O E C D (Hrsg.) Policy Conference on Economic Growth and Investment in Education, Paris 1961, S. 44 ff. 14 F. H. Harbison, The strategy of Human Resource Developmentt in Modernizing Economies, in: O E C D , opus cit. S. 9—33. 15 Auslandsstelle des Deutschen Bundesstudentenringes: Das Studium der Ausländer in der BRD. 15.—17. Aufl. Bonn 1966. Ie 17
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Arthur W. Lewis, a. a. O., S. 45. Von daher kann man den Versudi der britisdien Regierung, die Gebühren für Ausländer heraufzusetzen, zwar verstehen, aber nicht billigen. James Coleman (Hrsg.), Education and Political Development, Princeton 1965, S. 5. R . C. Pratt, University and State in Independent Tropical Africa, in: Universities Quarterly, Dec. 1966, S. 92. Diesen Hinweis verdanke ich einem Vortrag von Prof. Peter Heintz (Zürich), den er im WS 1966/67 an der F U Berlin hielt. Hermann Heimpel: Kapitulation vor der Gesdiidite, Göttingen 1956, S. 65. Max Horkheimer, Gegenwärtige Probleme der Universität, Frankfurter Universitätsreden, Heft 8, Frankfurt 1953, S. 18.
Das Selbstverständnis der Freien Universität Von U 1 f Κ a d r i t ζ k e
Es erscheint klar, daß eine Analyse des Selbstverständnisses der Freien Universität, wird sie heute vorgenommen, nicht in dem Sinne an der Oberfläche bleiben darf, daß sie sich darauf beschränkt, aus Satzungsvorschriften, offiziellen Stellungnahmen und feierlichen Reden ein Bild unserer Hochschule zu ermitteln. Ein solches Verfahren bliebe schon deshalb unfruchtbar, weil die jüngste widerspruchsvolle und konfliktreiche Phase der FU-Geschichte gerade das Ende eines unproblematischen Selbstverständnisses dieser Hochschule signalisiert. Bei allen ihren Mitgliedern, erst recht in der Öffentlichkeit, herrscht heute eine Unsicherheit in der Interpretation der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Lehrenden und Lernenden, und nur eines scheint sicher zu sein : daß die Freie Universität in ihrem heutigen Zustand dem Bild einer nach innen harmonischen, nach außen geschlossen auftretenden Gemeinschaft nicht mehr entspricht. Die Krise im Selbstverständnis der Freien Universität zeigt sich also am deutlichsten in der Differenz zwischen den einstmals praktizierten Prinzipien ihrer .Gründergeneration und den heutigen Spannungen in der universitären Selbstverwaltung. Aber diese Differenz ist erst dann zu verstehen, wenn sie als Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen analysiert wird, die an die Rolle der Hochschule neue Forderungen gerichtet und damit die internen Interessenkonflikte des Berliner Modells verschärft haben. Wollen wir diese beiden Momente, gesellschaftliche Veränderungen und interne Spannungen, in ihrer Wirkung auf die Freie Universität untersuchen, so verbietet sich von vornherein eine Art der Rückschau, wie sie bislang selbst Studentenvertreter noch pflegten. Es geht meines Erachtens nicht mehr an, die legendäre Harmonie der Pionierzeit der FU, den sogenannten Gründergeist, als Richtmaß für das Berliner Modell zu verabsolutieren. Wenn die eine oder andere Seite diesen Gründergeist gleichsam inwendig zu kennen beansprucht, so kann sie mit Hilfe ihrer als einzig authentisch ausgegebenen Interpretation nicht das Monopol begründen, auch heute noch die dem Geist dieser Hochschule allein angemessenen Verhaltensweisen zu bestimmen. Der Versuch, mit Hilfe des FUGeistes aktuelle hochschulpolitische Positionen anzugreifen oder zu behaupten, ist problematisch und bleibt folgenlos. Dies muß gerade ange35 3*
sidits der Tatsache hervorgehoben werden, daß schon zweimal an Konfliktpunkten der Universitätsgeschichte — 19581 und jetzt im Januar 19672 — eine Gruppe von Gründerstudenten die Universität in öffentlichen Erklärungen zu befrieden versuchte. Schon weil die Mitglieder dieser Gruppe die alten Prinzipien der Gründerzeit aus mittlerweile gesicherten beruflichen und politischen Positionen nur noch verzerrt wahrnehmen, müssen sie zu falschen Empfehlungen kommen. Indem sie der Studentenvertretung das politische Mandat streitig machen3 und der Universität lediglich zur Wahrung der alten Hochschulgestalt raten 4 , zeigt sich an ihrem Beispiel, daß eine vom historischen Hintergrund abgelöste Interpretation des Gründergeistes die heutigen Probleme weder erhellen nodi zu ihrer Lösung beitragen kann. Umgekehrt gilt, daß die heute betroffenen Studenten, die sich an der Freien Universität in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung wie in ihren gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten behindert sehen, sich nicht vorschnell auf das historisch bedingte Pathos einlassen sollten, von dem die Universitätsgemeinschaft in ihren ersten Jahren getragen wurde. Und doch bleibt die Entwicklung der FU bis heute unverständlich, wenn wir nicht die politischen Umstände ihrer Gründung und ihre institutionellen Besonderheiten berücksichtigen. Für die Berliner Situation nach dem Kriege war charakteristisch, daß die sozialistische politische Führung der Stadt unter Aufsicht der Alliierten aus den Erfahrungen der Vergangenheit vor allem gesellschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen versuchte5. Nodi angesichts einer sich abzeichnenden Spaltung der Stadt und gegen den Widerstand weiter Kreise von CDU und Liberalen leitete der SPD-regierte Magistrat in den Bereichen von Wirtschaft, Schule, öffentlicher Verwaltung und Sozialversicherung Reformen ein, wie sie dann in ähnlicher Weise in der damaligen SBZ durchgeführt wurden®. Solche strukturverändernden Maßnahmen mußten eine auch vom Reuter-Flügel der Berliner SPD schon frühzeitig angestrebte Integration des westlichen Teils von Berlin in die gesellschaftspolitische Struktur der Bundesrepublik erschweren7. Als sich 1948 nach währungspolitischen Auseinandersetzuhgen die Teilung der Stadt unter dem Druck der Blockade endgültig vollzogen hatte, war auch über die Gründung einer zweiten Berliner Universität in den Westsektoren schon entschieden8. Mit weitgehender Hilfe der amerikanischen Besatzungsmacht entstand die Freie Universität 9 . Einer ihrer entschiedensten deutschen Förderer war Ernst Reuter. Damit fügte sich die Freie Universität bei aller Spontaneität, mit der ihre studentischen Gründer nach der Entfernung der Herausgeber des „Colloquium" von der Ostberliner Linden-Hochschule gehandelt hatten, in die politische Gesamtkonzeption Ernst Reuters und des von ihm gelei36
teten Berliner Magistrats 1 0 . Und wenn auch angesichts der Blockade die Sinnfälligkeit der Gründungsaktion und die Bedeutung der F U für den Westen der Stadt kaum mehr bezweifelt werden konnten, so blieb doch für kritische Betrachter das Odium einer durch die Umstände ihres Entstehens fremdbestimmten Universität 1 1 . Das an westdeutschen Universitäten teilweise vorherrschende Unverständnis für die FU-Gründung hat man in Berlin oft mit dem Hinweis zu erklären versucht, aus der räumlichen Distanz Westdeutschlands ließen sich die Ereignisse im Brennpunkt des politischen Nachkriegsgeschehens nicht angemessen beurteilen. Das mag zutreffen, aber die eigentlichen Differenzen gingen tiefer. Wenn Horst Ehmke 1949 in der Göttinger Universitätszeitung schrieb: „Wir wollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß der antikommunistische Kreuzzug des Westens, in dem die Freie Universität die Funktion des akademischen Feldzeichens übernommen hat, zu einem großen Teil der Unsicherheit und Ratlosigkeit des Westens entspringt" 12 , so können wir die Schärfe seines Urteils nur vor dem Hintergrund damals nodi vorhandener gesamtdeutscher Erwartungen verstehen, vor dem die FU-Gründung in der Tat als bemerkenswert früh geschaffenes Faktum erscheinen muß. Dazuhin standen diese heute wenig realistisch anmutenden Hoffnungen auf eine Integration aller deutschen Zonen Ende der 40er Jahre für ein konsistentes politisches Konzept, weil sie mit der Auffassung einhergingen, daß, wiederum in den Worten Ehmkes, „der antiquierte Liberalismus, den der Westen heute gegen den Kommunismus stellt, . . . eine Scheinlösung ist und unsere Entwicklung nicht auf die Dauer bestimmen kann" 1 3 . Nicht nur sozialistische Studenten, die die F U aktiv mitbegründeten, waren damals bemüht, ihre Option für den politischen Westen nicht als Einverständnis mit der sich anbahnenden gesellschaftspolitischen Restauration erscheinen zu lassen 14 . Aus der kritischen Distanz zum Osten wie zum Westen bezogen dann auch die Gründer der Freien Universität, ungeachtet ihrer verschiedenen weltanschaulichen Standpunkte, den Willen zu einer Hochschulreform, die sie als konzeptionelle Alternative sowohl zu den als unfrei empfundenen, zunehmend technokratisierten und scholarisierten Universitäten der damaligen S B Z als auch gegenüber der Hochschulrestauration in den Westzonen verstanden 15 . Diese Hochschulreform konnte in der Eile der Gründungsvorbereitungén nodi nicht gelingen. Immerhin zog man beim Entwurf der Universitätssatzung und der Satzung der Studentenschaft die ersten institutionellen Konsequenzen, über die sich Professoren und Studenten ange37
sichts der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und angesichts der hochschulpolitischen Verhältnisse im politischen Osten einig fühlten. Mit diesen Satzungen glaubte man die organisatorische Voraussetzung für Hochschulreform geschaffen zu haben, was gleichzeitig bedeutet — und dies muß immer wieder betont werden —, daß die eigentliche Reformarbeit auf der gewonnenen institutionellen Grundlage erst beginnen sollte 16 . Zwei dieser institutionell-organisatorischen Momente erschienen in der damaligen Situation revolutionär genug. Zum einen sollte durch die Mitgliedschaft außeruniversitärer Vertreter im Kuratorium der FU das Interesse der Öffentlichkeit und der politischen Instanzen an der Arbeit der Hochschule zum Tragen kommen; gleichzeitig gewährleistete die vom Berliner Magistrat verliehene Autonomie der Freien Universität als Körperschaft des öffentlichen Rechts Schutz vor direktem gesellschaftlichen und politischen Einfluß auf den Lehrbetrieb. Zum zweiten zog man aus dem Versagen der deutschen akademischen Intelligenz während der Nazizeit eine inneruniversitäre Konsequenz: In allen damals wichtigen Organen und Gremien der Universität erhielt die Studentenschaft Sitz und Stimme. Darüber hinaus schufen die Gründungsstudenten sich selbst einen Raum politischer und hochschulpolitischer Entscheidung, den auszufüllen sie für notwendig hielten, um die Mehrheit der Studenten vor dem drohenden Rückfall in politische Lethargie zu bewahren 17 . Beide Funktionsbereiche sind im Studentenparlament, dem Konvent, vermittelt. Beschlüsse auch für den Mitverwaltungsbereich mußten dort nach öffentlich-parlamentarischer Diskussion gefaßt werden. Die Bedeutung des demokratischen Verfahrens für den Bereich der akademischen Selbstverwaltung wird nodi zu schildern sein. Diese institutionellen Neuerungen boten einen Ansatz für praktische Hochschulreform, sie boten der Freien Universität als einer von Politikern und Wissenschaftlern gegründeten Institution vor allem Gelegenheit, innerhalb des Berliner politischen Spektrums konzeptionell zu wirken — ein entscheidender Kontrast zur heutigen Situation, in der sie teilweise die alten Privilegien einer wissenschaftlichen Hodischule gegen progressive Tendenzen der Berliner Bildungspolitik verteidigt 18 . So solidarisierte sich die neugegründetc Hochschule 1950 mit der Berliner Lehrergewerkschaft und unterstützte deren Plan, das egalitäre Modell der 8-klassigen Berliner Einheitsschule 19 durch eine Universitätsausbildung aller Pädagogen zu vervollständigen 20 . Sie stellte sich damit hinter die schließlich gescheiterten Bestrebungen, das bürgerliche Bildungsmonopol der Vergangenheit auf lange Sicht zu brechen und den Zugang zur Universität zu demokratisieren 21 . Die Gesamtuniversität machte Politik. 38
In dem Maße jedoch, in dem nach dem faktischen Anschluß WestBerlins an die politische Ordnung der Bundesrepublik und mit dem steigenden Einfluß der in den Wahlen von 1950 erfolgreichen bürgerlichen Parteien die Reform der Wirtschaftsverfassung, der öffentlichen Verwaltung, der Sozialversicherung und des Schulwesens den neuen politischen Kräfteverhältnissen zum Opfer fiel22, verringerte sich auch der Spielraum für die Freie Universität, verringerte sich damit ihre Bereitschaft, die einmal angestrebte Hochschulreform in Angriff zu nehmen. Es gelang ihr zwar noch, den in Westdeutschland wiederauflebenden Formen einer elitären studentischen Freizeitgestaltung in Korporationsklüngeln ein Modell universitätsnaher studentischer Gemeinschaft entgegenzusetzen 23 und damit ihre von Gründung an strikt antikorporierte Tradition aus der bloßen Negation herauszuführen. Jedoch war dies Gegenbild eines vermeintlich neuen Gemeinschaftslebens zu deutlich von dem, wie Hirsch positiv hervorhebt, „Kriegserlebnis der genossenschaftlichen Kameradie" 2 4 mitgeprägt, als daß es nicht in Gefahr geraten wäre, selbst gewisse irrationale Züge anzunehmen 25 . Konnte die Freie Universität sich in dem relativ peripheren Bereich studentischen Gemeinschaftslebens noch lange Zeit erfolgreich gegen restaurative Tendenzen zur Wehr setzen 28 , so vermochte sie ihre ursprünglichen hochschulreformerischen Ambitionen schon deshalb nicht aufrechtzuerhalten, weil sie sich die Anerkennung im Kreise der westdeutschen Universitäten durch eigenwillige Konzeptionen verscherzt hätte 27 . Daß sich hinter der progressiven Fassade auch an der F U die alten inneruniversitären Machtverhältnisse konsolidierten, zeigte sich in aller Schärfe in den Bereichen des Berliner Modells, in denen die Studentenvertretung den Rahmen einer statisch verstandenen organisatorischen Mitbestimmung tendenziell sprengte und an Entscheidungen teilzunehmen versuchte, die in der herkömmlichen deutschen Universität dem Kreis der Ordinarien vorbehalten sind 28 . Die juristische Fakultät restaurierte als erste das überkommene Verfahren einer allein von Ordinariengesichtspunkten bestimmten Selbstergänzung des Lehrkörpers durch ein Berufungsverfahren, von dem der Scudentenvertreter ausgeschlossen blieb. Schon 1950 entstand ihre Fakultätsordnung, deren § 3 bestimmt: „ . . . handelt es sich um einen . . . Beschluß, dem eine wissenschaftliche Beurteilung zugrunde l i e g t . . . so ist der Vertreter der Studenten nicht stimmberechtigt." 29 Damit setzte sich die Juristische Fakultät schon früh in klaren Widerspruch zu dem verbrieften Recht der Studentenschaft, durch die Stimme ihrer Vertreter auf die Berufungspolitik der Fakultäten Einfluß zu nehmen. Der Akademische Senat hat diese Praxis nicht verhindert, obwohl ihm § 10 der Universitätssatzung aufgibt, die einzelnen Fakultätsordnungen zu kon39
trollieren 30 . Hatten die Studenten der Gründergeneration nodi im Zeichen der antifaschistischen Universitätstradition entscheidenden Einfluß auf die Berufung neuer Universitätslehrer genommen und nazibelastete Professoren in Einzelfällen von der Hochschule fernhalten können 31 , so wurden mit dem Beginn der Restaurationsphase Studentenvertreter auf formelle oder informelle Weise daran gehindert, zu berufende Professoren aus studentischer Perspektive mitzubeurteilen 32 . Ein weiteres wesentliches Moment studentischer Mitbestimmung ging verloren, als der Rechts- und Verfassungsausschuß 1952 ausschließlich mit professoralen Mitgliedern besetzt wurde. Diesem Ausschuß hatte man noch 1950 eine entscheidende Funktion für die ins Auge gefaßte permanente Hochschulreform zugedacht 33 . Seine Mitglieder, damals 2 Professoren und 1 Student, sollten alle notwendigen Veränderungen in der Hochschulstruktur juristisch kodifizieren und systematisieren. Der Verlust dieser studentischen Position wog um so schwerer, als, wie Preuß zeigt, „angesichts der noch heute zu einem großen Teil am Obrigkeitsstaat ausgerichteten verwaltungsrechtlichen Institute und Erkenntnisinstrumente . . . die kodifizierten Normen, die . . . die rechtlichen Verhältnisse der Hochschule regeln, eine nicht unscharfe Waffe gegen strukturelle Veränderungen" 3 4 sind. Die Arbeit des modellwidrigen Rechts- und Verfassungsaussdiusses trug in einem kritischen Abschnitt des Hochschulausbaues entscheidend dazu bei, den Anschluß der Freien Universität an das herkömmliche deutsche Hochschulrecht wiederherzustellen, das noch heute die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Wissenschaft im wesentlichen als inneruniversitäre Entscheidungsgewalt der Ordinarien versteht 35 . Mit dieser hochschulrechtlichen Ausstattung ging nun die Freie Universität, wie alle westdeutschen Hochschulen, in die Phase eines konzeptionslosen Ausbaus, der sich notgedrungen vollzog als ständiger Kompromiß zwischen dem fiskalischen Belieben einer an langfristigen Bildungsinvestitionen desinteressierten staatlichen Verwaltung und den Ausbildungsbedürfnissen einer wachsenden Anzahl von Abiturienten. Einer der negativen Konsequenzen dieser expansiven Entwicklung war das Wuchern einer Universitätsbürokratie, die traditionell studentische Angelegenheiten in eigene Regie übernahm und damit der Kontrolle von außen entzog 38 . D a sich die Mitentscheidungsrechte der Studenten an der F U als Folge der steckengebliebenen Hochschulreform von Anfang an auf die obersten Ebenen der akademischen Verwaltung beschränkt hatten, mußten sich die Chancen studentischen Einflusses entscheidend vermindern. Die eigentlichen Probleme, von deren Lösung oder Verschleppung die Studenten in ihrer Ausbildung einschneidend betroffen wurden, standen nun nicht mehr im Akademischen Senat, sondern in den Fakultäten und 40
besonders in den einzelnen Fachbereichen und Instituten zur Debatte. Hier entzogen sie sich jeglicher universitätsöffentlichen Kontrolle. „Alle Fragen, in denen sich unter den Lehrstuhlinhabern keine allgemeine Ubereinstimmung herstellen läßt, bleiben unentschieden, oder werden unter Umgehung der Selbstverwaltung gelöst." 37 Es zeigte sich damit, daß unter der von Becker und Kluge als Folge einer versäumten Hochschulreform beschriebenen „Vakanz der Selbstkontrolle der Wissenschaften" 38 die Studenten als erste in ihren Ausbildungsinteressen beeinträchtigt wurden. Denn sie (die Studenten) gerieten nun in immer größere Abhängigkeit von Entscheidungen, die für den jeweiligen Fachbereich die Ordinarien in alter Weise alleine fällten, ohne die Bedürfnisse der unterprivilegierten Universitätsmitglieder noch wahrzunehmen, weil die Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden im expandierenden Universitätsbetrieb die Kommunikation zunehmend erschwerte. Zudem verschlechterte sich die objektive Ausbildungssituation: Der Universität gelang es nicht mehr, die beiden Funktionsbereiche von Forschung und Lehre in der vor ihrem eigenen Anspruch geforderten Weise so zu verbinden, „daß die Lehrenden die Erkenntnisse und Methoden eines Forschungsgebietes, auf dem sie selbst . . . arbeiteten, in die wissenschaftliche Ausbildung eingehen ließen" 39 . Das unverbundene Nebeneinander von Lehrstühlen, deren bürokratischer Betrieb auch die Arbeitskraft ihrer professoralen Inhaber weit über Gebühr absorbieren mußte, verhinderte damit sowohl eine Mitbestimmung der Studenten an ihrer Interessenbasis als auch die Realisierung ihres Anspruches auf wissenschaftliche Formen des Studiums. Statt dessen sah sich der einzelne Student einer als naturwüchsig und vernünftig zugleich ausgegebenen Ordnung seines Fachbereiches unterworfen, die sich in Wahrheit nach willkürlichen, kaum diskutierten Prinzipien hergestellt hatte, nämlich durch die personellen Monopole 4 0 einerseits und thematisch breitgestreute, staatliche oder universitäre Prüfungsbestimmungen andererseits. Ihrer wahren Lage, die sich bis heute noch weiter verschärft hat, konnte sich die Studentenschaft an der Freien Universität schon deshalb nicht ohne weiteres bewußt werden, weil ihre Vertreter die Wirklichkeit aus gleichsam privilegierter Perspektive beurteilten: In oft engem privatem Kontakt zu Professoren stehend, neigten sie dazu, in der Ausübung ihrer Funktion die relative Irrelevanz der mitgetragenen Entscheidungen im Bereich übergeordneter akademischer Verwaltung zu übersehen und damit die kritische Distanz zu verlieren, die zum eigentlichen Geschäft der Studentenvertretung gehört. Es liegt auf der Hand, daß auch an der Freien Universität in einer Situation, in der die Fachwissenschaften sich in eben beschriebenem Zu41
stand befanden, eine sogenannte akademische Bildung als den Studenten ersatzweise nachgereichte Bescheinigung wissenschaftlicher Weihen an ideologischem Gewicht gewann 41 . Der an unserer Hochschule gängige Begriff akademischer Bildung hatte allerdings seinen entscheidenden Widerspruch schon aus der Gründungssituation bezogen. Die damals gestiftete Akademikerideologie betonte nicht so sehr die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit als Konsequenz ständiger Reflexion über fachwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse, vielmehr verpflichtete sie den Hochschulabsolventen auf vermeintlich unumstößliche, die Persönlichkeit prägende Werte der Wissenschaft, die dieser angeblich innewohnen. Tatsächlich war dieser Wertkodex ein typisches Produkt seiner Zeit. In ihn ging ein der im Blockadeerlebnis gehärtete Freiheitsbegriff Reuterscher Prägung in seiner dezidiert antikommunistischen Gestalt 42 . Mit dem Rückzug der universitären Freiheitsidee auf eine starre Formel, deren prägende Elemente ein problematischer TotalitarismusBegriff und die Wertschätzung eines seiner lediglich formalen Freiheiten bewußten Individuunis waren, hatte sich aber schon in der Gründungssituation die Trennung von Wissenschaft und Politik vollzogen: FU-Geist wurde abverlangte Haltung 4 3 und damit so unpolitisch wie unwissenschaftlich. Damit teilte sich auch die Freie Universität tendenziell in die Ohnmacht, in der die deutschen Universitäten von jeher den gerade politisch Herrschenden gedient hatten. Die Stifterrolle, die gerade politischen Instanzen bei der FU-Gründung zugefallen war, würdigte schon ihr erster Rektor, Edwin Redslob, mit dem Cicero-Wort: „Wie könnten wir dem Staat ein größeres und wertvolleres Gut darbringen, als wenn wir ihm durch Lehre und Erziehung die Jugend gewinnen." 44 Am Ende ihrer Konsolidierungsphase unterschied sich die Freie Universität weder in ihrer Wissenschaftsorganisation noch im Verständnis ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihres Bildungsauftrages von den übrigen westdeutschen Hochschulen. Ihre für deutsche Verhältnisse einmalige Autonomie 45 , die ihr der Gesetzgeber unter dem Eindruck wesentlicher studentischer Mitverwaltungsrechte verliehen hatte, konnte nicht verhindern, daß hinter der Fassade einer relativ demokratischen Hochschulselbstverwaltung sich die alten Züge einer im Innern hierarchischen, nach außen politikneutralen aima mater erhielten. Im „Colloquium" zog Walter Hahn 1958 das nüchterne Fazit: „Am 10. Jahrestag ihrer Gründung hat die Freie Universität ihren Schwestern noch immer jenen strukturellen Vorsprung voraus, der in der besonderen Situation des Jahres 1948 begründet liegt. Aber sie ist in ihrem Sozialgefüge, in der Betrachtung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, in der Denkweise von Professoren und Studenten anderen Universitäten sehr ähnlich geworden." 40 42
Erst vor dem Hintergrund dieser restaurierten Verhältnisse kann die Bedeutung der Konflikte an der Freien Universität um politische Aktivitäten der Studentenschaft, die im wesentlichen 1958 begannen, richtig eingeschätzt werden. Von der Mehrzahl der lehrenden Universitätsmitglieder als lästige Störung eines ruhigen akademischen Ausbildungsbetriebs empfunden, traten mit der politisch engagierten Tätigkeit der Studenten und ihrer Vertreter Konflikte auf, welche die hierarchische Stabilität der FU gleichsam von außen bedrohten, dadurch aber die schon geschilderten Strukturprinzipien der alten deutschen Universität bloßlegten und aufs neue zur öffentlichen Diskussion stellten. Im Austrag scheinbar peripherer hochschulinterner Konflikte wurde schließlich die etablierte Ordnung mit den Ansprüchen einer grundlegenden Hochschulreform konfrontiert. Daß es zu dieser Konfrontation kam, verdankt die Freie Universität einem Merkmal ihrer ursprünglichen Struktur, der Tatsache, daß in der akademischen Selbstverwaltung zwei Prinzipien der Willensbildung konkurrieren, nämlich einerseits das körperschaftliche im Akademischen Senat und den Fakultäten, andererseits das parlamentarisch-demokratische in der Studentenschaft. Sofern sich die studentischen Sprecher in den akademischen Gremien als eine Delegation begreifen, die aus AStA- und Konventsdiskussionen gewonnene Vorschläge auf der Ebene der Gesamtuniversität zur Entscheidung stellen — und dies ist die Konsequenz des parlamentarischen Modells —, treffen sie auf Professorenvertreter, denen die Vorstellung von divergierenden hochschulpolitischen Interessen zumeist fremd geblieben ist. Diese verstehen sich als Repräsentanten, die zwar stellvertretend für, aber nicht auf Weisung ihrer Ordinarienkollegen über das fiktive Gemeinwohl der Universität zu entscheiden und im übrigen den Fakultäten die alten Rechte zu sichern haben. Der Charakter solcher ungebundenen Honoratiorenverwaltung zeigt sich am schärfsten in der absoluten Vertraulichkeit, in der die kollegialen Beratungen stattfinden. Diese Diskretion zu stören muß als Universitätsfrevel erscheinen; Konflikte drohen demnach dann, wenn die Studentenvertreter, rein numerisch stets in der Minderheit, sich nicht diesen an Ordinarieninteressen orientierten Regeln unterwerfen und in ihrer Konventsarbeit jene Universitätsöffentlichkeit herzustellen versuchen, die Akademischer Senat und Fakultäten meiden. Wohl in Anbetracht solcher Gefahren interpretierten maßgebliche Vertreter der Freien Universität sehr bald das Öffentlichkeitsprinzip der parlamentarischen Studentenvertretung aus dem Gesamtzusammenhang des Berliner Modells hinaus. So entwickelte sich die Vorstellung von der Universitätsgemeinschaft als einem Kollektiv, das nach außen geschlossen aufzutreten habe. Die Widersprüchlichkeit dieser Ideologie wurde not43
dürftig kaschiert mit einem über allen Interessen schwebenden gemeinsamen Universitätsziel. Dies Ziel zu verfolgen erfordere, daß die in der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden „zu einem gemeinsamen Zweck verbundenen Individuen audi durch ihr Denken und Fühlen, ihre Gesinnung und ihr Verhalten eine Einheit bilden, die sich in einem gemeinschaftlichen Bewußtsein äußert" 47 . Immer dann, wenn sich das gemeinschaftliche Bewußtsein in den von Hirsch angegebenen außerwissenschaftlichen Bereichen von Fühlen und Gesinnung nicht herstellte, war nicht nur das so definierte Selbstverständnis der FU, sondern in den Augen seiner Hüter auch das gesamte Berliner Modell bedroht. Eine Studentenvertretung, die in ihrem hochschulpolitischen Handeln auch nur alle satzungsmäßigen Möglichkeiten ihrer prinzipiell öffentlichen Arbeitsweise bis hin zum plebiszitären Akt der Urabstimmung ausschöpfte, mußte damit die Gesamtuniversität aus ihrer etablierten Ordnung aufstören. So stießen seit 1958 öffentliche Aktionen der Hochschulgruppen oder der Studentenvertretung, die im Vollzug ihrer hochschulpolitischen Aufgaben zwangsläufig audi politisch zu handeln begann, auf das Mißfallen und den Widerstand der akademischen Verwaltung und der Professorenmehrheit, die die gesellschaftlichen Implikationen des universitären Ausbildungsauftrages aus den Augen verloren hatten, weil sie die Autonomie der Hochschule auch als Verpflichtung zu politischer Abstinenz auffaßten. Mit dem Versuch, politische Initiativen der studentischen Partner zu unterbinden, sah sich die Hochschulleitung jedoch gezwungen, selbst politisch zu werten. Diese Wertung entsprach dem traditionellen Selbstverständnis der deutschen Universität, das, wie wir gesehen haben, auch die FU zu besonderer Staatstreue verpflichtete. Ein als politikneutral ausgegebenes Urteil der Universitätsspitze mußte sich in der Regel an der politischen Opportunität orientieren. Der Horizont des gerade noch Geduldeten endete dort, wo die audi die Universität tragenden politischen Mächte in das Spannungsfeld studentischer Kritik gerieten. Das wurde deutlich, als der Studentenschaft eine Geldsammlung für algerische Flüchtlinge verboten wurde 48 , die natürlich scharfe Kritik an der Politik einer Berliner Schutzmacht und an der Haltung der Bundesregierung implizieren mußte; das zeigte sich audi, als der Rektor eine Unterschriftensammlung gegen Richter und Ärzte mit Nazi-Vergangenheit, die an den deutschen Bundestag appellieren sollte, in Universitätsräumen untersagte49. Das Ergebnis dieser ersten konfliktreichen Versuche der Freien Universität, die öffentliche politische wie hochschulpolitische Tätigkeit der Studentenvertretung zu kanalisieren, bestand in ihrer 1960 entwickelten Konzeption einer politischen Bildung, die somit neutralisierende Funktion erhielt 50 . War die politische Bildung noch in den ersten Reformdiskus44
sionen nach dem 2. Weltkrieg „nicht als isolierte Erziehungsaufgabe, sondern als sozialwissenschaftliche Orientierung und Bestandteil einer umfassenden Demokratisierung des Hochschul- und Bildungswesens" 51 angesehen, so gelangte sie nun nicht mehr über ein Angebot an politischen Informations Veranstaltungen hinaus; eine Aufgabe, die zudem einige der an der Konzeption Beteiligten am liebsten dem Otto-Suhr-Institut delegiert hätten 52 . Zwar koordiniert der Beauftragte des Rektors heute eine bunte Fülle von Seminaren, Diskussionen und Vorträgen, aber dieses dem Wissenschaftsbetrieb äußerlich gebliebene Programm teilt seine Ambivalenz mit der alten Selbstverwaltungspraxis und hält sich im akademischen Rahmen der schon beschriebenen Persönlichkeitsbildung, die politisch folgenlos bleibt. Zwar ist politische Bildung der Universität zugeordnet und damit als spezifisch akademisch ausgewiesen, aber sie schließt sich nicht von den Fachwissenschaften her oder in Kooperation mit ihnen auf ; zwar hat sie zum Ziel, die künftigen Akademiker für spätere berufliche und gesellschaftliche Positionen mit politischer Gesinnung auszustatten, aber eben damit läuft sie Gefahr, die Studenten in der Vermittlung bloßer Ordnungsvorstellungen an die etablierten Herrschaftsinstitutionen anzupassen. Denn schon an der Hochschule als einer dieser Institutionen ist studentisches Verhalten nur gelitten, solange es die unbefragt gebliebenen inneruniversitären Verhältnisse nicht stört. Insofern kann politische Bildung, wird sie in dieser Weise von der Gesamtuniversität als Konzeption getragen, in ihrer aufklärerischen Tendenz nur so weit gehen, als die eigene, universitäre Machtstruktur noch im Dunkeln bleibt. Ein Element dieser Machtstruktur ist das Hausrecht des Rektors, dem alle politischen Veranstaltungen an der Freien Universität unterworfen sind53. Die eminent repressive Funktion dieses Hausrechts bleibt selbst dann bestehen, wenn es — was nicht immer geschehen ist — hinter einer liberalen Praxis zurücktritt, wie sie Sontheimer fordert, indem er der Universität abrät, „aus Sorge um die politische Ausgewogenheit die Veranstaltungen autoritär zu steuern 54 ". Das sehr ausgeprägte Interesse der akademischen Verwaltung an einer letzten Kontrolle über politische Veranstaltungen von ASTA und Hochschulverbänden kann jedoch auch Sontheimer nicht verbergen, wenn er feststellt: „Studentische Politik ist in einem sehr begrenzten Sinne nützlich als tätige politische Anteilnahme des einzelnen. Sie ist in aller Regel harmlos, und die politische Fähigkeit der Professoren und der Verwaltung muß sich darin erweisen, die Kommilitonen gerade bis zu dem Punkte gewähren zu lassen, an dem problematische Folgen für das Ganze der Gemeinschaft entstehen könnten." 55 Wie die Ereignisse gerade der vergangenen Semester deutlich machen, erschien für die Universität der Punkt, an dem das von Sontheimer ge45
nannte „Ganze" der Universität in Gefahr gerät, immer dann erreicht, wenn vorhandene und begründete Differenzen zwischen Lehrenden und Lernenden in der vorhandenen Schärfe auch für die Öffentlichkeit sichtbar wurden. Die Ungeduld, mit der gerade die Berliner Öffentlichkeit in einer scheinbar harmonischen gesellschaftlichen Umwelt auf offene Konflikte reagiert, und die Schärfe, mit der sie deshalb die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung fordert, empfindet die Freie Universität als latente Bedrohung ihrer Autonomie. Sie befürchtet, daß die staatlichen Instanzen des Landes unter dem Druck der Öffentlichkeit die Störungsursachen beseitigen und damit die Selbständigkeit wie die hergebrachte Ordnung der Hochschule von außen angreifen. Bislang konnte angesichts einiger Vorzüge des Berliner Modells die Universitätsverwaltung audi ihre Studentenvertretung auf den vermeintlich letzten und höchsten Wert, die Universitätsautonomie, zurückverpflichten. Aber inzwischen hat sich die Situation angesichts neuer Ereignisse verändert. Konkret: Vor allem die Masse der in ihrem Studium vom Scheitern und schließlich von Zwangsexmatrikulation bedrohten Studenten hat wahrgenommen, wie einseitig eine zum Fetisch gewordene universitäre Autonomie mit ihren Spielregeln die Interessen nur der lehrenden Seite schützt. Durch drohende Exmatrikulation und Studiendisziplinierungen übt die Freie Universität heute deshalb zusätzlichen Druck auf die Studenten aus, weil sie als für die Berufsausbildung von Führungskräften verantwortliche Institution seit geraumer Zeit massiv in das Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen geraten ist. Denn solange die Bildungsinvestitionen der staatlichen Haushalte trotz sich abzeichnender Finanzierungsschwierigkeiten den Hochschulen weiter zufließen, weil die wirtschaftliche Prosperität des Landes langfristig mehr denn je vom technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt abhängt, haben diese ihre Leistungsfähigkeit in den zahlenmäßigen Kategorien eines gesteigerten Akademikerausstoßes unter Beweis zu stellen6®. Es steht damit zu befürchten, daß sich die Universitäten, vollends unkritisch gegenüber ihrem eigenen, schon längst verminderten Anspruch, den von staatlicher Verwaltung und Industrie geforderten Leistungskriterien unterwerfen — oder wenigstens ihre Bereitschaft dazu in ersten Maßnahmen andeuten —, um sich der Notwendigkeit zu entziehen, in der Wissenschaft selbst vermittelte Ausbildungsanforderungen zu definieren, die zu erfüllen der Universität nur dann gelingen könnte, wenn sie die Sinnfälligkeit ihrer derzeitigen Struktur radikal zur Diskussion stellte. Statt dessen bahnt sich ein Kompromiß an, den Staat und Universität auf dem Rücken der Studenten und auf Kosten der Wissenschaftlichkeit 46
des Studiums austragen, ein Kompromiß, der eine gesteigerte und rationellere Produktion der Universitäten vorsieht, ohne im wesentlichen ihre alten institutionellen Formen anzugreifen. Ihn zu formulieren und mit theoretischen Gedanken zu unterlegen hat der Wissenschaftsrat übernommen57, und die Universität sieht sich, noch bevor sein Gutachten ganz diskutiert -worden ist, gezwungen, ihr latentes Potential an repressiven Mitteln anzuwenden, um mit einer Verkürzung der Studienzeiten auf administrativem Wege und einer Disziplinierung des Studienganges durch erste Vorleistungen das Diskussionsklima zu ihren Gunsten zu verbessern. Die staatlichen Bürokratien ihrerseits scheinen sich mit diesen an der Oberfläche jeder Reform bleibenden Maßnahmen vorerst zufrieden zu geben, sind sie doch mit den Interessen der professoralen Hochschulvertreter in vielfältiger Weise institutionell verflochten58. An diesem Punkte einer sich modern gebenden Hochschulrestauration stoßen die deutschen Universitäten, stößt wegen ihrer besonderen Bedingungen zuallererst die Freie Universität auf den massiven Widerstand der Studenten, die von den irrationalen Verwaltungsakten der Fakultäten in ihrer beruflichen Zukunft existenziell betroffen sind und sich zur Wehr setzen. Für alle, auch für die Universitätsleitung, ist diese ständig wachsende Gruppe deshalb so ernst zu nehmen, weil sie die Notwendigkeit bislang versäumter Hochschulreform am unmittelbarsten wahrnimmt. Aus ihrem Protest kann und muß zumindest die Studentenvertretung konkrete Forderungen formulieren und zu einem Bild von Hochschulreform zusammensetzen. Darüber hinaus müssen die Studenten in dieser Situation notwendigerweise auch jenseits der alten Formen akademischer Beratung und Entscheidung politisch agieren, weil die Erfahrung gezeigt hat, daß sie sich weder auf die Fähigkeit der Freien Universität zur Selbstreform noch auf die durchgreifende Reformhilfe außeruniversitärer staatlicher oder politischer Instanzen verlassen können. Bevor die Freie Universität selbst in dieser Lage die Konflikte mit ihren Studenten jenseits aller autoritären und disziplinarischen Reaktionen auch nur begreifen könnte, hätte sie zu versuchen, in der Konfrontation mit ihrer derzeitigen Situation — und deren Ursachen — die ideologisierten Züge ihres alten und heute erschütterten Selbstverständnisses kritisch und nüditern zugleich wahrzunehmen. Diejenigen, die eine solche Analyse zu fürchten haben, mögen einer gegen Minderheiten ohnehin allergischen Umwelt die Gefahr eines inneruniversitären Klassenkampfes zwischen Studenten und Professoren an die Wand malen. Das kann kritische Universitätsmitglieder nicht davon abhalten, zur p r a k t i s c h e n Selbstaufklärung der deutsdien Hochschule beizutragen; umsomehr, als sie stellvertretend auch für jene handeln müssen, die sich als akademische Lehrer zwar fachwissenschaftlich 47
ausgewiesen, aber nicht dazu bereitgefunden haben, aus der Unverbindlichkeit bisheriger Diskussionen um das isoliert und gesellschaftsfern vorgestellte Problem der Hochschulreform herauszutreten. Es wird in Zukunft an der Freien Universität nicht ohne Konflikte mit akademischen Lehrern und Universitätsorganen abgehen, die zwar die Würde der reinen Wissenschaft hervorkehren, jedoch auf universitäre Öffentlichkeit, auf demokratische Kooperation, auf politische Reflexion und auf H a n d lungsbereitschaft nur deshalb freiweg verzichten, weil die Macht, die sie besitzen, diesen Verzicht erst hervorbrachte.
Anmerkungen : ι Vgl. Colloquium Heft 7, 1958, S. 12; Heft 9/10, 1958, S. 20/21; Heft 12, 1958, S. 16. 2 Vgl. die Berichte in DIE WELT und TAGESSPIEGEL vom 7. 1. 1967 und die Erwiderung gegen diese Erklärung, die von 10 ehemaligen und dem derzeitigen AStA-Vorsitzenden unterzeichnet wurde, in DIE WELT und TAGESSPIEGEL vom 10. 1. 1967. 3 „In den satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Studentenschaft und damit in das Mandat der Studentenvertretung fallen somit weder Verpflichtungen noch Rechte, zu Fragen oder Ereignissen Stellung zu nehmen, die die Universität politisch oder sozial nicht unmittelbar berühren." 4 Die Gruppe der Gründungsstudenten wendet sich gegen „Versuche, das Mitwirkungsrecht der Studenten in allen Zweigen der akademischen und wirtschaftlichen Verwaltung der Universität einzuschränken oder sogar weitgehend abzubauen." 5
Eine erste genauere Analyse dieser Versuche bietet eine am Berliner Institut für Politische Wissenschaft erarbeitete Studie von Fijalkowski, Hauck, Holst, Kemper, Minzel, „Berlin, Hauptstadtanspruch und Westintegration", Köln und Opladen 1967, vor allem A. Holst im Kapitel „Schwierigkeiten der Eingliederung Westberlins in die wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen Westdeutschlands", S. 170—322.
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Ebenda, S. 170 ff.
7
Zur Politik Ernst Reuters vgl. Fijalkowski et. al., a.a.O., S. 85 f.; a.a.O. schreibt Holst auf S. 322 in einer abschließenden Einschätzung dieser Politik: „So allgemein und unbestritten das Streben nach völliger Eingliederung Berlins in die Bundesrepublik war, es kann dodi nicht verkannt werden, daß die Angewiesenheit auf westdeutsche Hilfe auch die besonderen Interessen der C D U und FDP Berlins begünstigte und den von ihnen ausgeübten Revisionsdruck intensivieren half." Zum Verständnis E. Reuters vgl.: Aus Reden und Schriften, hrsg. von Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reichhardt, Berlin 1963, und W. Brandt, R. Löwenthal, , Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957.
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Am 23. 4. 1948 fand die Protestversammlung Berliner Studenten im Hotel „Esplanade" statt, auf ihr wurde die schon vom „Colloquium" geforderte Gründung einer freien Universität im Westen der Stadt verlangt (vgl. Colloquium Heft 10, 1948, S. 4—6); am 11. 5. 1948 beschloß die Stadtverordneten-
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Versammlung von Berlin, den Berliner Magistrat mit der Vorbereitung der Gründung einer freien Universität zu beauftragen; die totale Blockade der Stadt begann am 23. 6. 1948 (vgl. Berlin — Das britische Weißbuch zur Krise, Hamburg 1948, S. 10 ff.). Die Spontaneität, mit der nach den studentischen Protesten die Freie Universität gegründet erschien, muß angesichts frühzeitiger und weitgehender Pläne der Berliner SPD und anderer Politiker, im Westen der Stadt eine neue Universität zu gründen, entscheidend relativiert werden. Diese Pläne — das sei betont — waren nicht identisch mit den Bemühungen um eine Forschungsuniversität im amerikanischen Sektor, die Wissenschaftler aller Richtungen als Ergänzung zur am 3. 10. 1945 von den Sowjets eröffneten Ost-Berliner Lindenuniversität vorschlugen. Vielmehr berichtete schon auf der Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses der Berliner SPD am 7. 11. 1947, also über 5 Monate vor dem spontanen Gründungsverlangen Berliner Studenten, der Genösse Wasserthal „zusammenfassend über die Vorgänge und Umstände, die den Plan einer von der SMA (Sowjetischen Militäradministration) unabhängigen Universität haben aufkommen lassen." (Wortlaut des Protokolls.) Zunächst planten die SPD-Politiker den Ausbau der Technischen Universität. In einem Bericht des Kulturreferates der SPD, ebenfalls vom 7. 11. 1947, über eine Besprechung zwischen einer vom SPD-Vorstand benannten Verhandlungskommission — ihr gehörte auch der später gemaßregelte „Colloquium"Mitherausgeber Stolz an — mit einem Vertreter der britischen Besatzungsmacht kommt das politische Motiv der Gründungsvorbereitungen klar zum Ausdruck: „Stadtrat May wies darauf hin, daß der Ausbau der T U zugleich eine grundsätzliche politische Entscheidung herbeiführe, die den Gegensatz zwischen Ost und West verstärkt. Trotzdem waren sich die Versammelten einig, daß eine westlich orientierte Universität für Berlin geschaffen werden muß, denn Angebote der Humboldt-Universität zur Zusammenarbeit mit der Stadt Berlin würden sicherlich nur geringfügige Änderungen in dem inneren Aufbau der Universität und in ihrer einseitigen Einstellung zur Folge haben." (Wortlaut des Berichts.) Als im April 1948 die Studenten nach der Entfernung der drei „Colloquium"-Herausgeber von der Lindenhochschule eine freie Universität im Westen der Stadt forderten, wurde im Kulturpolitischen Ausschuß der Berliner SPD am 23. 4. 1948 „von allen Anwesenden einmütig betont, daß die augenblickliche Lage, wie sie sich aus der Relegation der drei Studenten ergeben habe, auf jede erdenkliche Weise ausgenutzt werden müsse, um die Forderung nach einer unabhängigen Universität für Berlin zu erheben." (Wortlaut des Protokolls, Hervorhebung v. V.) Schließlich erfuhren die Mitglieder des SPD-Ausschusses in der Sitzung vom 21. 5. 1948 von Kontakten, die noch weiter zurücklagen. Stadtrat May berichtete „über ein noch vertraulich zu behandelndes amerikanisches Projekt, das bereits vor zwei Jahren (also 1946 — d. V.) in Erwägung gezogen wurde." (Wortlaut des Protokolls, Hervorhebung v. V.) Als dann 1948 die politische Vertretung Berlins nach der „Esplanade"Demonstration der Studenten die Gründung der neuen Universität in die Wege leitete, führte ein Gremium aus Parlamentariern aller drei Parteien „die Verhandlungen mit den Amerikanern, die bereits bei der ersten Zusammenkunft einen fertigen Vorschlag bereit hatten." (Protokoll vom 21. 5. 1948.) Bislang am ausführlichsten beschrieben von G. Kotowski, „Der Kampf um Berlins Universität", in: Veritas, Justitia, Libertas — Festschrift zur 200-Jahrfeier der Columbia University New York, Berlin 1954.
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Zu den Auseinandersetzungen in der Berliner SPD über den politischen Kurs gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht in Berlin vgl. Herta Zernas Bericht über den 5. Landesparteitag der SPD von Groß-Berlin am 8./9. 5. 1948 : „Stürmer und Bremser", in: Das Sozialistische Jahrhundert, 2. Jahrgang, Heft 15/16, Juni 1948, S. 243: „Mit der Wahl der .Stürmer' ist die weitere Kampfbereitschaft der Berliner Sozialdemokratie klar ausgedrückt." 1 1 Widerstände gegen die Gründung der F U kamen durchaus nicht nur vom linken Flügel der Berliner SPD, sondern auch von einzelnen Politikern der C D U und FDP. Vgl. Prof. Dr. Hans Peters in der „Kölnischen Rundschau" vom September 1948, auszugsweise nachgedruckt in „Forum", Nr. 9, 1948, S. 300 f. Prof. Peters war Stadtverordneter der Berliner C D U und Professor an der Ostberliner Humboldt-Universität. 1 2 Göttinger Universitätszeitung vom 28. 1. 1949, S. 1—2. 1 3 Ebenda; vgl. auch Joseph Stallmach, „Kampf-Universitäten", in: Göttinger Universitätszeitung vom 10. 6. 1949, S. 1—4. 1 4 Vgl. E. Tillich, in: Das Sozialistische Jahrhundert, 2. Jahrgang, Heft 18, August 1948, S. 280. Uber die Schwierigkeiten, auf die eine so organisierte Universität bei der Anerkennung im politischen Westen stieß, vgl. den Bericht von Prof. Kunisch auf der AStA-Sitzung vom 5. 5. 1949. 1 6 Eine entscheidende Rolle in den ersten Reformdiskussionen spielte das „Gutachten zur Hochschulreform" (sog. „Blaues Gutachten") vom Studienausschuß für Hochschulreform, Hamburg 1948.