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German Pages [152] Year 2011
Demokratie im 21. Jahrhundert Bilanz und Perspektive Herausgegeben von der Stadt Leipzig
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Herausgeber: Stadt Leipzig, Der Oberbürgermeister 1. Auflage V.i.S.d.P.: Dr. Georg Girardet Redaktion: Jana Milev
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Wolfgang Mattheuer, Jahrhundertschritt (1989). Linolschnitt, 85,5 x 99,5 cm. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. © VG Bild-Kunst, Bonn 2011.
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20691-8
Inhalt
Grußworte Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Ulbig, Staatsminister des Innern des Freistaats Sachsen . . . . . . . . . . . Franz Häuser, Rektor der Universität Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gröhe, Staatsminister im Bundeskanzleramt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Graf von Kielmansegg Die zweite Oktoberrevolution. Ein Glücksfall der europäischen Geschichte . 21 Karel Schwarzenberg 2009 – Zwanzig Jahre demokratische Erneuerung. Eine Erfolgsgeschichte?
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Zwanzig Jahre demokratische Erneuerung in Mittel- und Osteuropa – Bilanz und Perspektiven Impulsreferate: James W. Davis: Über Demokratisierung im Zeitalter der Globalisierung . 35 Boris Nemzow: Über Russlands schwierigen Weg zur Demokratie . . . . . . . . 45 Von der Zivilcourage zur Demokratie? Herausforderungen zivilgesellschaftlicher Erneuerung 1989–2009 – Erfahrungen aus Polen, Kroatien und Weißrussland Podiumsdiskussion mit: Wlodzimierz Borodziej, Nenad Zakošek, Anatoli Mikhailov Gesprächsleitung: Günther Heydemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Demokratie als mediale Präsenz? Öffentliche Kontrolle oder kontrollierte Öffentlichkeit – Erfahrungen mit der »vierten Gewalt« in Ungarn, Rumänien und der Ukraine Impulsreferate: Bascha Mika: Medien als Vierte Gewalt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Stefanie Bolzen: Über Einschränkung von Medienfreiheit und Medienpluralismus in Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Podiumsdiskussion mit: Máté Szabó, Bogdan Murgescu, Mykola Rjabtschuk Gesprächsleitung: Everhard Holtmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Inhalt
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Deutschlandbilder – Innen- und Außensichten. Blick auf die Friedliche Revolution und den Einigungsprozess. Blick auf die Bundesrepublik 20 Jahre später Podiumsdiskussion mit: Susan Neiman, Marek Prawda, Richard Schröder, Christoph Bergner Moderator: Vladimir Balzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Workshop I Freiheit, Partizipation, Verantwortung. Ein Web 2.0-Workshop im Rahmen der Internationalen Demokratiekonferenz Leipzig. Eine Zusammenfassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Workshop II »Look the other direction.« Ein Schablonen-Workshop im Rahmen der Internationalen Demokratiekonferenz Leipzig. Eine Zusammenfassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Verleihung des sächsischen Kunstpreises Sabine von Schorlemer, Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst .. . . . 139 Referenten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
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Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Jahr 2009 ist für die Stadt Leipzig in der Tat von herausragender Bedeutung. Wir haben es begonnen mit den Feierlichkeiten anlässlich des 200. Geburtstages von Felix Mendelssohn Bartholdy, es folgte mit 600 Jahre Universität ein weiteres außerordentlich wichtiges Jubiläum, und schlussendlich gipfelten alle Feierlichkeiten der Stadt im Jahr 2009 am 9. Oktober, dem 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Die Friedliche Revolution von 1989 und in deren Folge die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 sind heute zwei Eckpfeiler der jüngeren deutschen Geschichte. Ohne Zweifel war ein entscheidendes Ereignis auf diesem Weg die große Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989. 70 000 Menschen überwanden ihre Angst und stellten sich mit dem urdemokratischen Ruf »Wir sind das Volk« den Sicherheitskräften entgegen. Und sie eroberten mutig die Straßen und Plätze, diese urdemokratischen öffentlichen Räume, und trugen damit entscheidend zum Ende der DDR bei. Dieser 9. Oktober hat die Verhältnisse im Osten Deutschlands unwiderruflich in Bewegung gesetzt, kurz gesagt, an diesem Tag wurde Geschichte geschrieben. Danach war alles anders. Und in der Tat, wir haben die Absicht, die Erinnerung an diesen Tag als Impulsgeber für die Gegenwart zu nutzen. Aus der Erfahrung von 1989 heraus können wir die Kraft gewinnen, in die Zukunft zu denken und zu handeln. Davon bin ich überzeugt. Und dieser starke Impuls ist der Ausgangspunkt für diese Konferenz. Unsere Aufgabe besteht darin, so meine ich, kritisch Bilanz zu ziehen, eine nüchterne, aber konstruktive Perspektive aufzuzeigen, und vor allem, wir sollten dabei nicht »schönreden«, was nicht so schön ist. Wir wollen die Dinge beim Namen nennen, Probleme aufzeigen, Auswege freimütig diskutieren. Der 9. Oktober hatte eine Vorgeschichte, und es ist ganz wichtig, diese heute wieder ganz deutlich in den Mittelpunkt zu rücken. Es waren die Menschen in Danzig, in Budapest, in Prag und in Moskau, welche die Türen aufgestoßen haben, durch die die Menschen im Osten Deutschlands gehen konnten. Die entscheidenden Beiträge, die das Kapitel des sogenannten »real existierenden Sozialismus«
Grußworte
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abgeschlossen haben, wurden in der Tat vorher geschrieben. Dieser historischen Leistung müssen wir uns bewusst bleiben. Dementsprechend wirft unsere Demokratiekonferenz auch einen Blick auf die politischen Verhältnisse unserer Nachbarn in Mittel- und Osteuropa. Dieser Blick kann uns einiges erzählen, was auch unsere eigene Geschichte betrifft. Vor unseren Augen läuft ein Geschehen ab, für das der westliche Teil Europas, und hier gilt es klares historisches Bewusstsein an den Tag zu legen, Jahrhunderte benötigte. Die Notwendigkeit des parallelen Aufbaus von demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnungen hat Osteuropa in einem dramatisch beschleunigten Zeitraffer ein Programm auferlegt, das alle Bereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik, Rechtssystem, ja, sogar die Organisation des alltäglichen individuellen Lebens in ihren Grundfesten umwälzte. 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution, die der liberalen Demokratie im europäischen Maßstab zum Durchbruch verholfen hat, ist es daher an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Und ich persönlich habe eine Fülle von Fragen mitgebracht: Welche Hoffnungen und Wünsche belebten die Umbrüche in Europa? Welche Erwartungen haben sich erfüllt? Welche Träume sind gescheitert? Welche Ansprüche warten weiter auf Einlösung? Wie tief ist Demokratie wirklich in den Lebensverhältnissen der Menschen angekommen? Weckt sie überhaupt noch Enthusiasmus? Wird Demokratie vielleicht doch im Grunde heimlich abgelehnt? Gibt es neue reale Gefahren durch Extremismus und diktatorische Elemente? Ist Demokratie nur die öffentliche Bühne für Machtspiele ganz anderer Art, etwa für »gelenkte Demokratien« oder Mediendemokratien? Ich könnte die Reihe von Fragen fortsetzen. Aber auch in den Ländern mit einer längeren demokratischen Tradition kommen immer mehr Fragen auf, Fragen, die den Rückgang der Wahlbeteiligung betreffen, den dramatischen Mitgliederschwund der politischen Parteien, das sinkende Vertrauen in die demokratischen Institutionen bzw. das sinkende Vertrauen in die politische Klasse. Meine Damen und Herren, es könnte hohe Zeit sein, über den Zustand der Demokratie im globalen Maßstab nachzudenken. Im Prozess der Globalisierung entstehen neue politische, wirtschaftliche und ideologische Machtkomplexe, die mit den gewachsenen Strukturen politischer Partizipation offensichtlich nicht mehr oder nur noch schwer zu erreichen bzw. die wahrscheinlich immer schwieriger zu steuern sind. Ich brauche jetzt gar nicht die Finanzkrise anzusprechen, um diese Tatsache zu unterstreichen. Aber der ursprüngliche demokratische Anspruch besteht doch darin, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse so zu gestalten, dass der mündige Bürger, die mündige Bürgerin durch politisches Handeln die Bedingungen gesellschaftlicher Existenz selbst bestimmen bzw. verändern kann. Vielleicht müssen wir Demokratie angesichts globaler Vernetzung neu erfinden im 21. Jahrhundert – so wie ein Rousseau, ein Diderot, ein Franklin oder ein Washington die Republik im 18. Jahr-
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Grußworte
hundert neu erfunden haben. Diese Fragen haben längst die politischen Wissenschaften erreicht, neue Begriffe wie »Postpolitik«, »Good Governance« oder »Global Governance« deuten darauf hin. Der Nationalstaat scheint nicht mehr der natürliche Körper der Demokratie zu sein. Welche Entwicklung Demokratie im 21. Jahrhundert angesichts sozialer Unterschiede, religiösen Fundamentalismus und kultureller Eigenlogiken annimmt, erscheint nicht so sicher, wie viele Optimisten meinen. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass exakt diese skeptische Fragehaltung unsere Konferenz prägen möge. Denn in der Tat ist Demokratie stets eine gefährdete Angelegenheit. Wer am Samstag in Leipzig diese tausenddreihundert demonstrierenden jungen Neonazis gesehen hat, weiß, was ich meine. Der französische Philosoph Jacques Derrida spricht von »kommender Demokratie«. Das gefällt mir im doppelten Sinne. Demokratie ist also nicht nur im Kommen, sie ist auch stets eine Verheißung, dass sie kommen soll. Sie lebt geradezu von dem Versprechen, »kommende Demokratie« zu sein. Diese Konferenz soll einen Auftakt bilden. Wenn es nämlich gelingt, wenn wir das Gefühl und die Gewissheit mitnehmen, dass diese Konferenz eine sinnvolle Veranstaltung ist, um Fragen der demokratischen Zukunft sinnvoll zu diskutieren, dann möchten wir dieses Unternehmen in die Regelmäßigkeit überführen. An Themen wird es nicht mangeln, da bin ich mir ganz sicher. Wir wollen uns in Leipzig diesem Thema stellen, um die Traditionen fortzuführen, die den 9. Oktober überhaupt erst möglich gemacht haben. Und vielleicht kann unsere Stadt der Ort werden, wo in Zukunft die Zukunft der Demokratie erörtert wird.
Grußworte
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Markus Ulbig, Staatsminister des Inneren des Freistaats Sachsen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr heute unseren Ministerpräsidenten, Herrn Stanislaw Tillich, vertreten zu dürfen. Er hat mich gebeten, Ihnen seine herzlichen Grüße zu übermitteln. Und wenn ich ihm mitteile, dass zu dieser Demokratiekonferenz auch eine große Anzahl von jungen Menschen gekommen ist, dann wird er sich darüber mit Sicherheit sehr freuen. »Jetzt oder nie – Demokratie«, »Wir sind das Volk«, das waren die Rufe von hunderttausenden mutigen Menschen in den Herbsttagen vor 20 Jahren. Forderungen, die nicht nur unser Land, sondern ganz Europa, ja die Weltordnung grundlegend verändert haben. Der Ruf nach Demokratie, der spontan und ohne revolutionäres Drehbuch auf den Straßen und Plätze des Landes laut wurde, war Ausdruck einer tiefen Sehnsucht der Menschen. Dabei ging es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht primär um die Staatsform, vielmehr ging es um ein Lebensgefühl, ja ich möchte sagen, um die Luft zum Atmen: Meinungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, das Leben so gestalten zu können, wie es den eigenen Wünschen und Vorstellungen entspricht. Das Ende von Bevormundung. Es war ein Wunder in den Herbsttagen vor 20 Jahren, das Wunder der Demokratie. Und es ergriff das ganze Land, unser Land. Der Gesprächs- und Entscheidungsbedarf war riesig. Plötzlich schienen alle Ventile geöffnet. Die Gesellschaft kam mit sich selbst ins Gespräch, über alle Ebenen und Grenzen hinweg. »Runde Tische« wurden organisiert, auf die alle angehäuften Probleme gelegt wurden. Es war wie ein selbst verordneter Learning-by-doingCrashkurs – in Betrieben, an Schulen, Universitäten – plötzlich waren die Menschen mündig und offenen Herzens. Überall wurden in freien und geheimen Wahlen Vertretungen gewählt. Es war der Zauber gelebter Basisdemokratie, ein Zauber, der Menschen aufschloss, der alles in Bewegung brachte und die gesamte Lebenswelt durchdrang. Das wiedergewonnene Hochgefühl des Volkes, selbst entscheiden zu können, mitbestimmen zu können, wählen zu können, hielt aber leider nicht allzu lang. Daher sind solche Jahrestage wie der heutige wichtig, weil sie uns die Zeit und die Gefühle von damals vergegenwärtigen. Heute sind uns der Zauber zur Gewohnheit und das Wunder zum Alltag geworden. Inzwischen ist die Demokratie einfach Realität, und die Jüngeren von uns kennen gar nichts anderes mehr, als ein Leben in
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Grußworte
Demokratie und Freiheit. Aber diese Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und erst recht kein Selbstläufer. Sie lebt von Teilhabe und Beteiligung und von Wahlen. Der stetige Rückgang der Wahlbeteiligung, wie z. B. bei unserer letzten sächsischen Landtagswahl, ist eine bedauerliche Entwicklung. Und ich möchte es deutlich aussprechen: Ich denke, das ist ein Trend, der vor allem einer Gruppe nützt, nämlich den Extremisten. Bei einer deutlich höheren Wahlbeteiligung wäre vielleicht die rechtsextreme NPD nicht wieder in den Landtag eingezogen. Sicherlich gehört es zu den Stärken der Demokratie, dass sie Meinungsunterschiede aushält und auch, dass sie eine die Freiheit verachtende Partei aushalten kann. Aber wir dürfen nicht nachlassen, für Demokratie zu kämpfen und zu werben und gegen Extremismus in jeder Form vorzugehen. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es in Sachsen zum Teil bereits verfestigte rechtsextremistische Strukturen gibt. Und wir dürfen uns nicht mit rechter Gewalt und rechten Demonstrationen abfinden. Vielmehr sind hier alle Bürger gefragt, sich zu engagieren und »Ja« zu sagen zur Demokratie. Herr Oberbürgermeister Jung, Sie haben es gerade angesprochen, dass in Leipzig am vergangenen Wochenende zahlreiche Menschen deutlich gemacht haben, dass sie das Feld den Nazis nicht überlassen wollen, und zwar dadurch, dass sie eben denen die Straße nicht überlassen haben. Und dass die NPD auf ihren Wahlplakaten in Sachsen in perfider Weise die Losung der Montagsdemonstrationen »Wir sind das Volk« missbraucht haben, das hat sicher nicht nur mich persönlich geärgert. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Rechtsextremisten repräsentieren eben nicht das Volk. Vielmehr betreiben sie die Polarisierung unserer Gesellschaft und wollen die Demokratie beseitigen. Sie schüren Angst vor Neuem, vor Veränderungen, vor Fremden. Die Extremisten nutzen die Freiheit mit dem Ziel, die Freiheit abzuschaffen. Diesen Feinden unseres Gemeinwesens etwas entgegenzusetzen bedeutet, unsere Freiheit zu verteidigen, die Freiheit, für die die Demonstranten vom Herbst ’89 gekämpft haben. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution ist keine Sache von Sonntagsreden. Sie ist gewissermaßen für uns alle eine Verpflichtung zur Demokratie. Demokratie braucht Verantwortung und Engagement – und das jeden Tag von Neuem. Auf dieser Konferenz können dazu die Erfahrungen ausgetauscht und gesammelt werden, und gerade eben auch die Erfahrungen, die in anderen Ländern gesammelt worden sind. Ich denke, Sie bekommen hier hervorragende Anregungen dafür, wie die Demokratie jeden einzelnen Tag gelebt und verteidigt werden kann und muss. Und ich kann nur dazu ermutigen, die Demokratiekonferenz wie geplant in einem regelmäßigen Abstand von 2 Jahren auch fortzuführen. Ich denke, das ist wichtig, und deshalb wünsche ich Ihnen für die zwei Tage einen guten Erfahrungsaustausch, einen guten Verlauf, und ich hoffe, dass wir uns dann in 2 Jahren hier wiedersehen werden.
Grußworte
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Franz Häuser, Rektor der Universität Leipzig Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich darf Sie alle sehr herzlich auch im Namen der Universität Leipzig zu dieser Demokratiekonferenz begrüßen, und zwar im Namen einer Universität, die in diesem Jahr an ihre Gründung vor 600 Jahren erinnert. Und, Herr von Schwarzenberg, es liegt mir deshalb irgendwie auf der Zunge, auf den trennenden Teil der uns verbindenden Historie hinzuweisen, nämlich auf die Abspaltung unserer Universität aus der Karls-Universität in Prag als Folge des unseligen Kuttenberger-Dekrets von König Wenzel IV. vom 18. Januar 1409; aber das ist ja heute nicht unser Thema, außerdem haben wir diesen Sachverhalt in den zurückliegenden Monaten schon intensiv behandelt. Heute soll es um die Demokratie im 21. Jahrhundert gehen. Diese Tagung steht mit gutem Grund ganz unter dem Eindruck einer rund 200-jährigen Erfolgsgeschichte westlicher Demokratien. Und das Programm der Konferenz lässt darauf schließen, dass die Leitfrage sein soll, wie mit diesem Erfolgsmodell nach 1989 im östlichen, im neuen Europa umgegangen worden ist. Nun ist es Sache der Wissenschaft, Distanz zu wahren und Horizonte zu erweitern. Lassen Sie mich daher in diesem Sinne und in knappen Worten sowie mit einem Perspektivenwechsel einige aktuelle Aspekte des Demokratieprinzips ansprechen. Demokratie, wir haben das so gelernt, heißt Herrschaft des Volkes. Und in der apodiktischen Formulierung unseres Grundgesetzes heißt es: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«. Für uns ist diese Regierungsform inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden und ziemlich lange auch gewesen. Dass sie gegenwärtig in Turbulenzen gerät, weil, um nur einen Punkt herauszugreifen, zu viele falsch, und zu viele überhaupt nicht wählen (»Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.«), das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Schon vor Jahren hat man daher eine Krise, ja sogar ein nahes Ende der Demokratie diagnostiziert. Bisher hat sie diese vermeintlich kritische Situation indes recht komfortabel überlebt, was manch einen auf den Gedanken bringen könnte, dass nicht die Regierungsform ein Problem ist, sondern unsere Erwartung an sie. Doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Festhalten lässt sich, weder die Herrschaft noch das Volk waren jemals in der Geschichte selbstverständliche Größen. Man könnte auch sagen, das Prob-
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Grußworte
lem der Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. Im 17. Jahrhundert ist der englische König geköpft worden im Namen des Volkes, aber natürlich nicht durch das Volk. Im 18. Jahrhundert hat sich das Spiel auf den Schauplätzen der Französischen Revolution wiederholt, zur selben Zeit, als die Amerikaner sich entschlossen, dem Demos zwar eine eigene Stimme zu geben, doch Frauen und Schwarze davon auszuschließen. Aus dem 19. Jahrhundert ist uns überliefert, dass schon damals diejenigen, die vom Volk gewählt werden wollten, alle erdenkliche Mühe hatten, dieses Volk an die Wahlurnen zu locken. Derweil hat Preußen das plutokratische Dreiklassenwahlrecht eingeführt, und in Amerika haben besonders clevere Reformer die sogenannte Großvaterklausel erfunden. Weil man Schwarze nicht mehr als Untermenschen behandeln und deswegen von der Wahlurne fernhalten konnte, hatte man einen Schreib- und Lesetest eingeführt, den bestehen musste, wer wählen wollte. Zur allgemeinen Überraschung schloss man dadurch aber nicht nur Schwarze aus, sondern ärgerlicherweise auch viele weiße Männer, die sich ebenfalls als Analphabeten entpuppten. Worauf man kurzentschlossen entschied, dass es ausreichen würde, wenn deren Großväter noch lesen oder schreiben konnten. Damit war die intellektuell abgestiegene Enkelgeneration der Weißen wieder mit von der Wahlpartie. Heute haben wir eher und erneut das Problem, dass Leute, die wählen dürfen, nicht wählen wollen. »Dürfen« dürfen heute praktisch alle. Es gilt »one man – one vote«, aber auch »one woman – one vote«, ohne Rücksicht auf Rasse, Religion, Hautfarbe und Geschlecht. Doch hier setzt unmittelbar ein zweiter Problemkomplex ein. Sicher, das Volk herrscht heute, jedenfalls soweit das unsere Verfassung vorsieht und zulässt. Doch, wer ist das Volk? Das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot ist wohl nicht zuletzt so großzügig ausgefallen, weil die stillschweigende Annahme galt, dass Rasse, Religion und Hautfarbe des Volkes überwiegend homogen sein würden: deutsch, christlich, weiß. Den wenigen, die sich unter diesen Etiketten nicht wiederfanden, sollten daraus keine Nachteile, wenigstens von Rechts wegen, erwachsen. Freilich, sobald sich diese Heterogenität ausbreitet und von den Rändern ins Zentrum vordringt, wird es, etwas flapsig gesagt, mulmig. Doch genau das passiert seit geraumer Zeit. Was wir heute, anderswo stärker als hier, doch zunehmend auch bei uns erleben, ist die Ausbreitung einer multikulturellen Gesellschaft, deren Elastizität weit höher strapaziert wird als in überkommenen Verhältnissen, die schlimmstenfalls den Widerspruch zwischen bayrischer Gemütlichkeit und preußischem Schneid auszuhalten hatten. Die ominöse Leitkulturdebatte ist uns ja nicht von ungefähr in Erinnerung. Es gibt vielerorts eine Heterogenitätsangst, die an bestimmten Brennpunkten gefährlich aufflackert und dann auch schon mal militant agiert. Die hier interessierende Frage ist, kann die Volksherrschaft die Zersplitterung des sogenannten Volkskörpers verkraften oder zerfasern beide
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im Gleichklang. Denken Sie nur daran, wie heute schon Bereiche wie Recht, Religion und vor allem Schule unter dem multikulturellen Stress ächzen und stöhnen. Dass diese Belastung an Politik und Demokratie spurlos vorbei gehen würde, kann niemand ernsthaft glauben. Es ist kein Geheimnis, westliche Demokratien haben auf diese zweite Herausforderung noch keine befriedigende Antwort gefunden. Die Entfremdungsprozesse zwischen den Kulturen nehmen zu, und immer stärker frisst sich diese Fragmentierung selbst in das territoriale Feld hinein. Man denke nur an Pariser Außenbezirke, an manche Stadtteile Londons oder auch Berlins, um nur einige Beispiele herauszugreifen, die im europäischen Nahbereich liegen und die demonstrieren, dass Staatsgebiet und Staatsgewalt nicht mehr vollständig zur Deckung gebracht werden können. Andererseits, wenn es stimmt, dass die Probleme mit der Demokratie so alt sind wie die Demokratie selbst, dann gilt auch das Umgekehrte: Solange wir diese Probleme haben, haben wir auch eine Demokratie. Etwas weniger apodiktisch ausgedrückt: Demokratische Realitäten sind immer mit Fehlern behaftete Abziehbilder der demokratischen Ideale gewesen. Doch waren sie andererseits robust genug, um ihre Fehler zu überleben, selbst dann, wenn sie nicht korrigiert werden konnten. Und robust waren sie nicht darum, weil wir alle unter dem Strich und von Natur aus doch irgendwie ganz gute Demokraten sind, sondern weil demokratisch regierte Gesellschaften für die meisten Menschen Lebensverhältnisse schaffen, die besser sind als anderswo auf der Welt. Und, meine Damen und Herren, dies wird sich, dessen bin ich gewiss, auch im 21. Jahrhundert nicht ändern.
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Hermann Gröhe, Staatsminister im Bundeskanzleramt Meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst freue ich mich, Ihnen die herzlichen Grüße von Bundeskanzlerin Angela Merkel überbringen zu können, die ebenso wie Thomas de Maizière bedauert, nicht selbst hier dabei sein zu können. Dass 2009 ein besonderes Jubiläumsjahr ist, ist gesagt worden. Die Friedliche Revolution vor 20 Jahren stand dabei heute auch in den Begrüßungsansprachen in besonderer Weise im Mittelpunkt. Aber man wird hinzufügen dürfen, dass wir neben der Friedlichen Revolution vor 20 Jahren in diesem Jahr auch den 60. Geburtstag unseres Grundgesetzes feiern. Beide Ereignisse sind untrennbar miteinander verbunden. Das Grundgesetz legte 1949 das Fundament für die freiheitlich-demokratische Erneuerung Deutschlands nach Krieg und Nazibarbarei. Diese Erneuerung blieb den Menschen in der DDR noch vier Jahrzehnte verwehrt. Das Grundgesetz war aber für nicht wenige ein wichtiger Leuchtturm in ihrer Sehnsucht nach Freiheit, Einheit und Demokratie. Der Fall der Berliner Mauer 1989 machte schließlich den Weg frei für die Wiedervereinigung unseres Landes. Erst durch die Friedliche Revolution, für die in besonderer Weise diese Stadt steht, entstand in ganz Deutschland die Chance zum Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Hier in Leipzig schrieben Menschen mit ihrem Mut Geschichte. Sie versammelten sich in der Nikolaikirche zu Friedensgebeten. Hier protestierten sie auf Montagsdemonstrationen friedlich gegen die SED-Diktatur – erst zu Hunderten, dann zu Tausenden. Am 9. Oktober 1989 waren es schließlich über 70 000 Menschen. »Wir sind das Volk!« – mit diesem Ruf sind die Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen, und zwar für mehr Freiheit und Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde statt Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, für die freie Entfaltung des Einzelnen statt Unterdrückung durch einen Überwachungsapparat, für echte demokratische Teilhabe und Gewaltenteilung statt Einparteienherrschaft, für Transparenz und Öffentlichkeit statt Geheimhaltung und Zensur, für eine Soziale Marktwirtschaft statt Planwirtschaft im Fünfjahresrhythmus. Diese Ziele wurden mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« zum Ausdruck gebracht. Später kam noch ein anderer Ruf hinzu: »Wir sind ein Volk!« Damit haben die
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Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR ihren Willen zur Einheit unseres Landes zum Ausdruck gebracht. Beides hat uns die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit gebracht. Das macht Leipzig zu einem Kristallisationskern deutscher, ja, europäischer Demokratiegeschichte, denn die Entwicklung in der DDR stand in einem Zusammenhang mit den Reformbewegungen und demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa. Erinnert sei an die Samtene Revolution in der damaligen Tschechoslowakei, an die von der Gewerkschaft Solidarność angestoßene Bewegung in Polen, an die Reformer in Ungarn, an die Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum, schließlich auch an Michail Gorbatschow und seine Politik von Glasnost und Perestroika. Und es fiel eben nicht nur die Berliner Mauer, sondern überhaupt der Eiserne Vorhang, der Europa teilte. Damit einher ging das Ende von Blockkonfrontation und Kriegsgefahr in ganz Europa. 20 Jahre nach Beginn dieses neuen Zeitalters ist es an der Zeit, kritisch Bilanz zu ziehen und Perspektiven für eine lebendige Demokratie aufzuzeigen. Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche nicht? Erfüllt hat sich, das ist meine Überzeugung, die Hoffnung auf Freiheit. Freie Wahlen, Reisefreiheit, Berufsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit – das ist Normalität heute in Deutschland, in Europa. Ebenso hat sich erfüllt die Hoffnung auf Demokratie, auf gleiche Grundrechte für alle. Und schließlich die Hoffnung auf Einheit unseres Landes und in Europa. Deutschland ist eins und Europa ist eins. Zwischen Aachen und Leipzig, zwischen Lissabon und Warschau gibt es gleiche Rechte und gleiche Chancen. Heute sind wir Europäer vereint. Das ist Grund zur Freude und Dankbarkeit. Aber keineswegs sollten wir uns dazu hinreißen lassen, Probleme einfach schönzureden. Denn auch unsere politische Ordnung steht nach innen und außen vor großen Herausforderungen. Zwar zeigen uns Umfragen: Die Demokratie ist als Staatsform akzeptiert, sie genießt hohes Ansehen und Vertrauen. Doch gleichzeitig gibt es Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis – Kritik am mitunter mühsamen und als zu langsam empfundenen Entscheidungsprozess wird zum Ausdruck gebracht, Kritik an der Macht der Lobbys und organisierter Interessen, am Medienrummel und an künstlichen Aufgeregtheiten, Kritik an einer politischen Orientierung an Wahlterminen und der sich hier offenbarenden Angst vor Machtverlust bzw. Scheu vor schmerzhaften, aber notwendigen Veränderungen. All das mag zum Desinteresse an Politik und zur niedrigen Wahlbeteiligung beitragen. Allein bei der jüngsten Bundestagswahl gingen 18 Millionen Wahlberechtigte nicht wählen – das sind rund 30 Prozent. Sicher, die Demokratie ist nicht perfekt. An den Mängeln, die ich eben nur federstrichartig nennen konnte, gilt es zu arbeiten. Dennoch bleibt festzuhalten: Demokratie ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert alternativlos – weil die Demokratie als
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einzige Staatsform dem Wesen nach eine Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk ist und daher den bestmöglichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen ermöglicht; weil die Offenheit der Demokratie die freie Entfaltung, die Kreativität und die Innovationsfähigkeit jedes Einzelnen fördert – genau das sind die Schlüssel zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen –; und schließlich, weil die Demokratie die lernfähigste Staatsform ist. Sie gestattet am besten die Korrektur auch der eigenen Fehler ohne Blutvergießen und gewaltsame Umstürze. Für mich ist klar: wir müssen immer wieder in unserem eigenen Land für diesen hohen Wert der Demokratie werben. Das ist eine dauerhafte Herausforderung. Als die Mauer vor 20 Jahren fiel, meinten nicht wenige, es handle sich hierbei um einen Sieg der Demokratie für die Ewigkeit – vom Ende der Geschichte wurde gar geredet. Heute sehen wir: Demokratie ist nicht per se ein Exportschlager. Verschiedene Staaten haben zwar marktwirtschaftliche, häufig eher robust kapitalistische und weniger sozialmarktwirtschaftliche Gedanken aus der westlichen Zivilisationswelt von uns übernommen, nicht aber das Verständnis von Demokratie und Menschenrechten. Sie gehen, wie sie es ausdrücken, ihren eigenen Weg. Häufig aber ist dieser Weg verbunden mit Verletzungen der Menschenrechte, Wahlfälschungen, Korruption inklusive. Fazit: Es gibt kein Ende der Geschichte, sondern eine Rückkehr der Geschichte. Die Demokratie hat 1989 einen Sieg errungen. Aber sie muss sich nach innen gegen die stille Auszehrung, die mit einer als selbstverständlich empfundenen Ordnung einhergehen kann, wenden. Sie muss sich zugleich nach außen gegen die Feinde der Freiheit verteidigen. Lassen Sie mich vier Thesen über die Herausforderungen, denen die Demokratie in Zukunft gegenüberstehen wird, formulieren. Erstens: Demokratie braucht die Wertschätzung der Freiheit. Denn Freiheit ist das kostbarste Gut der Demokratie. Freiheit ist der Kern dessen, worum es in der Friedlichen Revolution vor 20 Jahren ging. Freiheit ist das Lebensgesetz unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft. Ohne Freiheit wird den menschlichen Gedanken verwehrt, ihre schöpferische Kraft zu entfalten. Freiheit erst schafft den Raum, das Bestehende kontinuierlich zu verbessern. Die Wende begann zunächst im geschützten Raum der Kirchen, später auf den Straßen. Volkskammerpräsident Horst Sindermann resümierte den für die SEDDiktatur so verheerenden Verlauf der Revolution mit den Worten: »Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.« Es ist kein Zufall, dass der Impuls zur Friedlichen Revolution ganz wesentlich von den Kirchen in der DDR ausging. Denn Freiheit ist die Essenz des christlichen Verständnisses vom Menschen. Dem christlichen Glauben nach sind wir als Ebenbild Gottes erschaffen. Wir sind seine Geschöpfe – gleichwertig, verschiedenartig, unvollkommen, aber zur Verantwortung befähigt. Das macht uns als Freie aus.
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Genau das ist auch Sinn und Zweck der Demokratie. Demokratie bedeutet, das eigene Leben selbst zu bestimmen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Deswegen ist auch die Europäische Union nur freiheitlich denkbar. Die EU ist in jeder Hinsicht eine Freiheitsunion – politisch, ökonomisch und kulturell. Dieser Gedanke ist gerade im 21. Jahrhundert wichtig, dem ersten wirklich globalen Jahrhundert, einem Jahrhundert, in dem die Welt durch Handelsliberalisierung und technologischen Fortschritt immer offener wird. In einer solchen Welt ohne Grenzen, in einer Welt der Freiheit kommt es mehr denn je darauf an, die Kräfte, die in jedem Einzelnen stecken, zu wecken und freizusetzen. Eine freiheitliche Politik muss Chancen eröffnen, zur Wahrnehmung von Chancen etwa im Bereich der Bildung befähigen und dabei der Individualität der Menschen gerecht werden. Es geht darum, die freie und gleiche Teilhabe aller sicherzustellen. So bleiben daher Integration und Bildung Daueraufgaben auf allen staatlichen Ebenen. Es geht darum, die Basis zur Übernahme von Verantwortung zu stärken – in den Familien, in den Betrieben, in den Kommunen. Gelungene Demokratie bedeutet, den Menschen die Freiheit zu lassen, die Probleme, die sie lösen können, auch selbst zu lösen. Demokratie erfordert mündige und aktive Bürger. Damit jeder partizipieren und seine Verantwortung wahrnehmen kann, muss er sich zunächst selbst erst einmal ein Urteil bilden. Daher meine zweite These: Demokratie benötigt Bedingungen zur Möglichkeit einer fundierten Meinungsbildung. Im Zeitalter von Pluralismus und Demokratie wollen Bürgerinnen und Bürger eine Erkenntnis nicht autoritär vorgesetzt bekommen. Sie wollen überzeugt werden. Das Prinzip der Öffentlichkeit bildet eine Art Lebenselixier der Demokratie. Heimlichkeit, das Kennzeichen von Diktaturen, hat in der Demokratie keine Chance. Das Bundesverfassungsgericht hat 1958 die Bedeutung der Medien für die Demokratie so beschrieben: »Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.« In totalitären Diktaturen sind Medien Machtinstrumente der politischen Klasse. Sie verbreiten die Ideologie der Herrschenden. Aus objektiver Information wird pseudoobjektive Propaganda. Dagegen braucht die Demokratie die Medien als Beobachter, als sachliche Vermittler, als anregende Kommentatoren und, wenn notwendig, auch als Enthüller. Sie dürfen keine gemeinsame Sache mit der Politik machen oder sich gar als Sachwalter fremder Interessen missbrauchen lassen. Das ist manchmal leichter gesagt als getan angesichts eines verschärften Kampfs um Aufmerksamkeit und Quote. Verantwortungsvolles Handeln bedeutet aber: mehr
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Zusammenhänge erklären – weg vom Wettlauf um Sprüche und Schlagzeilen, weg von billigen Inszenierungen, hin zu seriöser Information. Doch nicht allein die Medienmacher sind gefordert, auch die Mediennutzer. Wir brauchen Mediennutzer, die bewusst auswählen, was sie hören, sehen, was sie lesen wollen. Ob die Information über Zeitung, Internet, Radio oder Fernsehen erfolgt, ist dabei zunächst nicht entscheidend, wobei es natürlich nachdenklich stimmt, wenn immer weniger Jugendliche zur Zeitung greifen. Nach einer Erhebung des Instituts für Demoskopie haben sich 1980 noch gut drei Viertel aller 14bis 29-Jährigen über die Tageszeitung informiert. 2008 waren es nur noch 41 Prozent. Wir müssen immer wieder daran erinnern, dass Demokratie beides braucht: Verantwortungsvolle Medienmacher, die ihren verfassungsgemäßen Aufgaben gerecht werden, und verantwortungsvolle Mediennutzer, die partizipieren und sich informieren wollen, kurzum: die Medienkompetenz entwickeln wollen. Das führt mich zu meiner dritten These: Demokratie braucht bürgernahe Parteien. In unserer repräsentativen Demokratie kommt den Parteien eine Schlüsselrolle zu. In Artikel 21 des Grundgesetzes steht: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« Lange Zeit hat das im Großen und Ganzen gut geklappt. Die Stabilität unserer bundesdeutschen Demokratie basiert im Wesentlichen auf der Stabilität unseres Parteiensystems. Daran waren zunächst vor allem drei Parteien, die Union aus CDU und CSU, SPD und FDP beteiligt. Ab 1983 kamen die Grünen, dann 1994 die PDS bzw. Die Linke hinzu. Das macht Koalitionsbildung seitdem bunter, erfordert von allen Parteien aber auch ein Umdenken. Statt Ideologie sind Kreativität und Pragmatismus gefragt. Die Bürger erwarten von politischen Parteien immer häufiger, dass sie individuelle Wünsche möglichst punktgenau bedienen. Zudem wollen sie, dass mehr und mehr moderne Partizipationsinstrumente genutzt werden. Mein Eindruck ist, dass hier alle Parteien noch deutlich nachzuholen haben. Sie haben zwar alle ihre Internetseiten, aber die Kommunikation vor allem über digitale Kanäle, das Interaktive, das muss besser werden, wenn man gerade jüngere Menschen erreichen will. Ich erinnere nur daran, dass die Piratenpartei aus dem Stand heraus auf zwei Prozent bei der Bundestagswahl kam, aber, man höre und staune, auf dreizehn Prozent bei den männlichen Erstwählern. Daran zeigt sich: unsere traditionellen Parteien, ob sie sich nun als Volksparteien verstehen oder bestimmten Gruppen oder Themen stärker verbunden fühlen, müssen sich auch von ihren Dialogformen her mehr und mehr zu modernen, zeitgemäßen Bürgerparteien entwickeln. Nur so können sie Brücken schlagen zwischen Einzelinteressen und dem Gemeinwohl, Brücken zwischen Veränderung und Bewahrung, Brücken zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern, zwischen Ökonomie und Ökologie, Brücken im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Brücken zwischen auseinander driftenden
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Interessen jüngerer und älterer Menschen im Hinblick auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Vierte These: Demokratie braucht leidenschaftliche Demokraten. Ohne Demokraten keine Demokratie. Diese These ist nicht zuletzt im Hinblick auf das Scheitern der Weimarer Republik immer wieder diskutiert worden. Wir dürfen Demokratie nicht als eine Selbstverständlichkeit ansehen. Demokratie braucht kontinuierliche Aufmerksamkeit und Zuwendung. Demokratie lebt vom gesellschaftlichen Zusammenhalt und vom bürgerschaftlichen Engagement. Die Politik steht dabei vor der Aufgabe, die Bereitschaft der Menschen in unserer Gesellschaft zu Solidarität und Gemeinsinn, zu Engagement und Kreativität, zu Mut und Zivilcourage zu fördern. Wir wollen die aktive Bürgergesellschaft weiter stärken, damit Extremismus, Hass und Gewalt keine Chance in unserem Land haben. Gerade in Zeiten schnellen Wandels ist ein Mindestmaß an Orientierung und gesellschaftlichem Grundkonsens notwendig – ein gemeinsames Fundament aus den Werten, die unser Gemeinwesen ausmachen. Im Kern sind das die Achtung der unveräußerlichen Menschenwürde, das Bewusstsein für die Bedeutung von Demokratie und Freiheit sowie die Gewährleistung der Grundrechte in unserem Grundgesetz. Diese Werte unserer freiheitlichen Demokratie gilt es gerade jungen Menschen zu vermitteln. Demokratie kann man lernen, ja, Demokratie muss man lernen wie das Lesen und Schreiben. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von uns allen – von Politikern, von Eltern, von den Engagierten in Kirchen und Jugendeinrichtungen, den Erziehern und Lehrern, den Trägern der politischen Bildung. Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein für die Bedeutung des Wertefundaments wach zu halten, auf dem die Gesellschaftsordnung – die freiheitliche Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik Deutschland wie in Europa insgesamt – beruht. Demokratie lebt vom Mitmachen. Damit unsere Demokratie stark und lebendig bleibt, sind daher gemeinsame Anstrengungen notwendig. Demokratie braucht Wertschätzung der Freiheit, fundierte Meinungsbildung, bürgernahe Parteien – und schließlich: Demokratie braucht leidenschaftliche Demokraten. In diesem Sinne bleibt der Auftrag an uns alle auch im 21. Jahrhundert immer noch der eine: uns für unsere Demokratie einzusetzen. Nur so bleibt unsere Demokratie, was sie seit 60 Jahren bereits war: ein großartiger und alternativloser Schatz der Freiheit und ein großes Glück.
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Grußworte
Peter Graf von Kielmansegg
Die zweite Oktoberrevolution Ein Glücksfall der europäischen Geschichte
Es gibt nicht viele Jahre, die von den europäischen Völkern gemeinsam als Jahre der europäischen Geschichte erinnert werden: 1848 vielleicht oder 1914. Außer 1989 gibt es vermutlich keines, das von allen – mehr oder weniger – mit den gleichen Empfindungen erinnert wird. 1989, das Jahr der erfolgreichen europäischen Erhebung gegen den totalitären Kommunismus sowjetischer Provenienz, wird – so könnte man es auch sagen – als das europäischste Jahr des vergangenen Jahrhunderts in Erinnerung bleiben. Dass nur die kommunistischen Diktaturen außerhalb Europas – China, Nordkorea, Vietnam, Kuba – es als kommunistische Diktaturen überlebt haben, war ganz gewiss kein Zufall. Aber wenn die Geschichte dieses Jahres denn eine europäische und das heißt vielgestaltige ist, wie lässt sich das Ganze in seiner Fülle und Vielfalt und zugleich das Wesentliche in seiner Einfachheit und Eindeutigkeit in den Blick bringen? Ich will es mit einem weiten Brückenschlag versuchen, will auf der einen Seite einen einzigen Augenblick ins Visier nehmen, einen Augenblick, der exemplarisch sichtbar macht, was sich da europaweit ereignet hat. Und will auf der anderen Seite das Jahrhundert ins Auge fassen und danach befragen, was dieser historische Moment, was die Erhebung des Jahres 1989 für die europäische Revolutions- und Demokratiegeschichte insgesamt bedeutet. Der Augenblick, von dem zunächst die Rede sein soll, ist – niemanden hier wird es überraschen – der 9. Oktober. Aber er ist es nicht in erster Linie deshalb, weil wir in Leipzig sind. Er ist es, weil er einer jener Tage ist, denen exemplarischer Rang in dem, symbolische Bedeutung für das Gesamtgeschehen zukommt – ganz unabhängig davon, wie man ihn in die Kausalketten des revolutionären Geschehens einordnet. Leipzig also, 9. Oktober 1989. In welchem Sinn darf man davon sprechen, dieser Tag sei eine Schlüsselszene gewesen in dem historischen Drama der Selbstbefreiung der Völker Ostmitteleuropas von einem System, das sie nicht freiwillig angenommen hatten und das sie ruiniert hatte; in dem historischen Drama des Ausbruchs aus einem Imperium, in dem sie vier Jahrzehnte gefangen gehalten worden waren? Was hat sich ereignet an diesem Tag? Was hat sich am 9. Oktober entschieden?
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Der 9. Oktober wurde von Anfang an als Tag der Krisis im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes wahrgenommen; als Tag der Entscheidung, der den Gang der Dinge in die eine oder die andere Richtung lenken werde. Das war die Erwartung in der Woche, die ihm vorausging. Das war es, was alle in den aufs äußerste angespannten Stunden des 9. Oktobers selbst empfanden. Und so stellt es sich auch im Rückblick dar, nicht nur der Erinnerung, sondern auch der Geschichtsschreibung. Eine Antwort auf unsere Frage ist das freilich noch nicht. Die Antwort lässt sich, jedenfalls in ihrem Kern, bei Montesquieu finden. In seiner Staatsformenlehre, die das gedankliche Fundament seiner berühmten Reflektionen über den »Geist der Gesetze« bildet, ordnet Montesquieu jeder Staatsform ein Prinzip zu. Das Prinzip einer Staatsform ist, modern gesprochen, die politische Kultur, die eben diesen Modus des Regierens funktionsfähig macht. Das Prinzip der Despotie, dies der Montesquieu’sche Begriff, ist die Furcht. Es ist eine politische Kultur – wenn wir sie denn so nennen wollen – der Furcht, die die Despotie funktionsfähig macht. Wenn das zutrifft, dann ist die Überwindung der Furcht der entscheidende Schritt zur Befreiung von der Despotie. Überwinden viele Menschen die Furcht in einem Akt gemeinsamen Handelns, dann entmachten sie die Gewaltdrohungen der Despotie nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich; und mit der Entmachtung der Gewaltdrohungen lösen sich die Herrschaftsstrukturen der Despotie überhaupt auf. Denn letztlich bestehen diese Herrschaftsstrukturen in nichts anderem als in den Gewaltdrohungen. Eben dies hat sich in Leipzig am 9. Oktober ereignet: Die Überwindung der Furcht in einem gemeinsamen Akt des »Sich-Aufrichtens« – ich habe dieses eindrucksvolle Bild von dem Leipziger Historiker Hartmut Zwahr übernommen – hat die Gewaltdrohungen des Systems für einen entscheidenden Augenblick außer Kraft gesetzt. Und damit, das ist die Logik unserer Argumentation, die Herrschaftsstrukturen der SED-Diktatur faktisch aufgelöst. Das sagt sich einfach. Aber wie wird das möglich – die Überwindung der Furcht in einem bestimmten Augenblick, an einem bestimmten Ort, in einem gemeinsamen Akt von unwiderstehlicher Kraft? Diskutiert worden ist in den letzten 20 Jahren vor allem die Frage, wie es dazu kam, dass der ungeheuere Gewaltapparat, der doch aufgeboten war, der bereitstand in den Seitenstraßen, an den Brennpunkten – Polizei, Betriebskampfgruppen, Armee mit einem gewaltigen Waffenarsenal – nicht eingesetzt wurde. Die Frage ist gewiss wichtig. Aber sie stellt sich erst an zweiter Stelle. Die für das Verständnis der Ereignisse wichtigste Frage lautet: Wie wurde die massenhafte Überwindung der Furcht gerade hier und gerade in diesem Augenblick möglich? Oder auch: wie wurde Ohnmacht zur Macht, vor der die Gewalt ratlos kapitulierte?
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Zur Überwindung der Furcht bedarf es vor allem der Hoffnung; der Hoffnung, dass es sich lohnen könnte, etwas zu riskieren; der Hoffnung, dass Veränderung möglich sei. Genau diese Hoffnung gewann im Lauf des Jahres 1989 immer mehr und immer rascher Kraft. Sie gründete sich zum einen auf das, was seit 1985 in der Sowjetunion vor sich ging, auf Gorbatschow. Gorbatschow war für die Menschen in der DDR mehr, als er es irgendwo sonst in Ostmitteleuropa war, der Bürge ihrer Hoffnung. Das konnte auch nicht anders sein. Denn kein anderer Staat des sowjetischen Hegemonialraumes war so sehr, auf Gedeih und Verderb, an die Sowjetunion gebunden wie die DDR. Es genügt eine einzige Zahl, um das sichtbar zu machen: Von der halben Million in Ostmitteleuropa stationierter sowjetischer Soldaten standen 400 000 in der DDR. Hoffnung gründete sich zum anderen auch auf die Entwicklungen in Polen und Ungarn. Dort war die Abdankung der kommunistischen Diktatur im Spätsommer 1989 bereits ausgehandelt, zum Teil vollzogen. Nicht dass Polen und Ungarn der DDR – sei es der Partei, sei es den Bürgern – zum Vorbild gedient hätten. Aber was dort vor sich ging, machte sichtbar, was die Sowjetunion inzwischen zu tolerieren bereit war. Hoffnung gründete sich drittens in paradoxer Weise auf den großen Exodus aus der DDR, der im Sommer 1989 eingesetzt hatte. Das Nein zur DDR derer, die nur noch hinauswollten aus diesem Staat, hatte sich in den Wochen vor den entscheidenden Oktobertagen mit einer solchen Macht Bahn gebrochen, über die ungarische Grenze, über die Prager Botschaft der Bundesrepublik, das für jeden sichtbar war: Die alte, durch die tödliche Unüberwindbarkeit ihrer Grenzen definierte DDR gab es schon gar nicht mehr. Es ist keine Frage, dass der nicht mehr aufzuhaltende Strom der Abwanderung, um Albert Hirschmans berühmtes Begriffspaar aufzugreifen, dem Widerspruch derer, die bleiben wollten, entscheidende Impulse gab, eben, weil er die Erwartung, die Hoffnung stärkte, dass das System sich ändern müsse. Hoffnung auf Wandel also als entscheidende Voraussetzung für die Überwindung der Furcht. Aber gegen diese Hoffnung stand ja bis zum 9. Oktober immer noch die manifeste Gewaltdrohung einer, wie es schien, zu allem entschlossenen Machthaberclique mit ihrem allgegenwärtigen Gewaltinstrumentarium. Wenn Furcht überwunden werden soll, muss zur Hoffnung auf Veränderung die Erfahrung hinzutreten, nicht allein zu sein. Es ist schwer, Furcht in Einsamkeit zu überwinden. Die wirklichen Helden sind die, die allein sind mit sich und ihrer Furcht und dennoch stärker als die Furcht. Totalitäre Systeme suchen deshalb das gesellschaftliche Leben so zu kontrollieren, dass Erfahrungen der Gemeinsamkeit nur im Dienst des Regimes gemacht werden können. Diese Kontrolle war in der späten DDR längst nicht mehr möglich. Die Erfahrung, dass man im Widerspruch nicht
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allein sei, konnte man im Jahr 1989 vielfältig machen. Man brauchte kein Held zu sein, aber man musste Mut haben. Freilich: Die Wahrnehmung, dass es Gleichgesinnte gebe, organisiert aus sich selbst heraus noch kein gemeinsames Handeln. An diesem Punkt kommen Leipziger Besonderheiten ins Spiel – bis hin zur Stadtgeographie –, die die für die Überwindung der Furcht so entscheidende spontane Selbstorganisation immer größerer Gruppen von Menschen möglich machten: ein fester Versammlungsort, die Nikolaikirche, und eine regelmäßig wiederkehrende Versammlungszeit; das Zusammentreffen derer, die aus der Kirche traten, mit denen, die vor der Kirche warteten, als Initialzündung für die Formierung eines Demonstrationszuges; die im vorangegangenen Gottesdienst tief verinnerlichte Entschlossenheit zu disziplinierter Friedfertigkeit jedenfalls eines Kerns der Demonstrierenden; der durch den Ring vorgegebene Weg für den Demonstrationszug. Aus den in Leipzig gegebenen Verhältnissen heraus – so lässt sich das zusammenfassen – konnte sich über Wochen eine Ritualisierung der Abläufe entwickeln, die vermutlich eine wesentliche Bedingung des Erfolges war. Erst diese Ritualisierung hat das eindrucksvolle, von Woche zu Woche sich steigernde Crescendo möglich gemacht, das am 9. Oktober triumphierte. Aber es bleibt, wenn das gesagt ist, die Gegenfrage: Warum schlug die Unterdrückungsmaschinerie nicht zu? Bis zum 8. Oktober, bis zum Vortag also, hatte sie ja immer wieder zugeschlagen, wenn auch nicht mit Waffen, die töten; in Dresden und Berlin mit besonderer Brutalität, aber auch in Leipzig bei den Demonstrationen der vorangegangenen Wochen. Auf diese Gegenfrage kann man lang oder auch kurz antworten. Die kurze Antwort, die hier genügen muss, lautet: Nimmt man alles zusammen, was wir heute darüber wissen, dann war es ganz einfach so, dass die Mächtigen die Willenskraft nicht mehr besaßen, die man in einem solchen Augenblick braucht. Ob Honecker und Mielke Gehorsam gefunden hätten, bis zu welchem Punkt sie ihn gefunden hätten, wenn sie denn dem chinesischen Vorbild gefolgt wären, bleibt offen. Bis zum 9. Oktober hat man ihnen alles zugetraut. Immerhin hatte die SED die Chinesische Kommunistische Partei ausdrücklich zur Niederschlagung der »Konterrevolution« auf dem »Platz des himmlischen Friedens« beglückwünscht. Dann aber, im entscheidenden Moment, gaben die, die zu befehlen hatten, keine klaren Befehle mehr; es gab kein entschlossenes Ja zur Gewalt, es gab auch kein eindeutiges Nein. Die, die zu gehorchen gewohnt waren, fühlten sich allein gelassen mit der Verantwortung. Ratlosigkeit als Endzustand eines Systems, das aller gewaltigen Aufrüstung gegen das eigene Volk zum Trotz dann doch nicht wusste, wie es auf den wirklichen Ernstfall reagieren sollte. Ratlosigkeit aber in diesem Augenblick bedeutete Selbstaufgabe. Das Wissen, vielleicht auch nur die Ahnung, dass der große Protektor anders als am 17. Juni 1953 nicht mehr eingreifen würde, hat dabei fraglos eine wesentliche Rolle gespielt.
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Dazu wirkte natürlich auch in Leipzig am 9. Oktober, was in allen Revolutionen, die auf der Straße entschieden werden, ein Schlüsselfaktor ist: die physische Wucht der gedrängten Präsenz einer unüberschaubaren Vielzahl von Menschen, eine Wucht, der auf der Gegenseite nur noch die äußerste Brutalität und die äußerste Entschlossenheit gewachsen ist. Dass die chinesische Partei darüber gebot, hatte sie der Welt wenige Monate zuvor gezeigt. Dass keine der europäischen kommunistischen Diktaturen mehr mit dieser Brutalität und Entschlossenheit zu reagieren im Stande war, mag dem Kulturkreis, dem sie doch auch angehörten, geschuldet sein. Dass Ratlosigkeit den Gewaltapparat lähmen konnte, hatte freilich eine Voraussetzung: Der Reflex des Zurückschlagens durfte unter keinen Umständen ausgelöst werden. Und das hieß vor allem: Es durfte bei aller Wut nicht einmal zur Andeutung von Aggressivität auf Seiten der Demonstrierenden kommen. Die Parole »Keine Gewalt« war, so gesehen, keine gesinnungsethische, pazifistische, sondern eine ganz und gar verantwortungsethische. Es besteht kein Zweifel daran, dass schon ein einziger Zwischenfall ein Gewaltchaos hätte entfesseln können. Dass 70 000 Demonstrierende dem Gewaltapparat auch nicht den Schatten eines Anlasses zum Eingreifen boten, ist vielleicht ihre größte Leistung. So gesehen liegt das erste Verdienst dafür, dass kein Blut floss, nicht bei den ratlosen Mächtigen, sondern bei denen, die die Mächtigen ratlos gemacht haben. Nach so vielen rühmenden Worten über die Leipziger Ereignisse könnte eine kritische Stimme anmerken: Darüber, ob und wie viel die Leipziger Demonstrationen ursächlich zum Zusammenbruch der DDR beigetragen hätten, sei mit all dem, genau genommen, nicht gesagt. In der Tat: Es gibt in der Zeitgeschichtsschreibung durchaus die These, die DDR sei einfach kollabiert, in sich zusammengestürzt, weil sie wirtschaftlich, politisch, moralisch am Ende gewesen sei. Die Demonstrationen, in Leipzig und anderswo, hätten den Einsturz nicht herbeigeführt, sie hätten ihn nur sichtbar gemacht. Richtig daran ist: Die DDR hätte den nicht mehr aufzuhaltenden Exodus, den Bankrott ihrer Wirtschaft, den dramatischen Wandel jenseits ihrer Grenzen wohl auch dann nicht lange überleben können, wenn es im Inneren ruhig geblieben wäre. Aber es ist nicht ruhig geblieben. Und die Frage, auf die es ankommt, ist nicht die, um wie viele Wochen oder Monate die Demonstrationen das Ende beschleunigt haben – sie wäre auch gar nicht zu beantworten – sondern die nach der moralischen Bedeutung des friedlichen Aufstandes für die Geschichte, die sich da abspielte. Der Entschluss von Menschen, als politisch handelnde Subjekte in den historischen Prozess einzugreifen, gab diesem Prozess eine andere Qualität, unabhängig davon, ob der Entschluss den Ausgang wesentlich veränderte. Mit ihrer Entscheidung »sich aufzurichten«, gewannen die, die ihn trafen, die Würde der Selbstbestimmung zurück. Nur dank ihres Entschlusses lässt sich der Zusammen-
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bruch der DDR als Revolution, als Vorgang der Wiedergewinnung von Selbstbestimmung verstehen. Und dass wir ihn so verstehen können, ist für den Rang des Herbstes 1989 in der deutschen Geschichte, den Rang des deutschen Beitrages zur europäischen Revolution entscheidend. Nach dem Blick auf den einen Tag der Blick auf das ganze Jahrhundert. Wie lässt sich das Jahr 1989, lässt sich die Selbstbefreiung Ostmitteleuropas in die europäische Revolutions- und Demokratiegeschichte einordnen? Jürgen Habermas schrieb 1990, unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens einen Essay, dem er den Titel gab »Die nachholende Revolution«. Die Botschaft dieses Titels: Die Revolution von 1989 hat nichts Neues in die Weltgeschichte hineingebracht. Ihn ihr haben die Völker Ostmitteleuropas die Modelle politischer und wirtschaftlicher Organisation, die sich im westeuropäisch-nordatlantischen Raum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt hatten, übernommen – repräsentative Demokratie, Verfassungsstaat, Kapitalismus. Nicht weniger, aber vor allem auch nicht mehr. In der Klassifizierung der Revolution von 1989 als »nachholend« schwingt durchaus ein Unterton des Bedauerns, der Enttäuschung mit. Und vielleicht mehr als ein Unterton. Habermas konstatiert ausdrücklich »den fast vollständigen Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen«, der für diese Revolution charakteristisch sei. Gemeint sind Ideen zur politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Gesellschaft. Ich denke, dass dieses Urteil zu kurz greift, dass es eine wesentliche historische Dimension des Geschehens nicht erfasst. Um diese Dimension auf eine kurze Formel zu bringen: Die Revolution von 1989 lässt sich als Widerruf der Oktoberrevolution von 1917 verstehen – das hat der bedeutende französische Historiker François Furet schon 1989 ausgesprochen. Und das bedeutet: Sie besiegelt eine entscheidende demokratiegeschichtliche Lektion, die das 20. Jahrhundert jedem, der bereit war zu lernen, erteilt hat. Etwas anders formuliert: Die Revolution von 1989 hat nicht nur etwas »nachgeholt«, sie hat für alle Nachlebenden die Summe aus den Erfahrungen, die das 20. Jahrhundert mit totalitärer Herrschaft gemacht hat, gezogen. Um das zu verstehen, muss man sich klar machen, dass die Oktoberrevolution von 1917 in ihrer gleichsam abstrakten Potentialität als ein epochales Demokratieexperiment begriffen werden kann – so sehr sich unser moralischer Instinkt angesichts dessen, was tatsächlich geschah, auch gegen diese Deutung verwahren mag. Gewiss, es handelt sich um ein von seiner Anlage her zum Scheitern verurteiltes und tatsächlich von Anfang an gescheitertes Demokratieexperiment. Die Oktoberrevolution hat ohne Umwege in den Totalitarismus geführt. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Von ihren tief in die Demokratiegeschichte hineinreichenden Wurzeln, ihrem Selbstverständnis und Anspruch her war sie jedenfalls als ein eman-
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zipatorisches Projekt gedacht oder hätte so gedacht sein können. Anders hätte sie auch gar nicht der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt einer das 20. Jahrhundert durchziehenden schismatischen Demokratiediskussion werden können. Demokratieschisma meint: Auch wenn die Oktoberrevolution entgegen ihrem Anspruch keine demokratische Alternative zur atlantischen Ausprägung der Demokratie hervorgebracht hat, hat sie den prinzipiellen Zweifel an dieser Form der Demokratie doch in eigentümlicher Weise auf Dauer gestellt, auf die Dauer eines 70 Jahre währenden Zeitalters. Diese Sicht auf die Oktoberrevolution erlaubt und ermöglicht uns zu fragen: Was sind die Lektionen, die das in der Revolution von 1989 besiegelte Scheitern des emanzipatorischen Projektes von 1917 uns lehrt? Ich will nur die beiden elementarsten nennen: – Demokratie ist als Demokratie nur überlebensfähig in verfassungsstaatlicher Gestalt, nur in der Verknüpfung des herrschaftsbegründenden Demokratieprinzips mit dem herrschaftsbegrenzenden Verfassungsprinzip. Die Anerkennung beider ist die Bedingung des Überlebens eines jeden einzelnen von ihnen. – Demokratie ist auf ein marktwirtschaftliches Fundament angewiesen. So komplex, so spannungsreich die Beziehungen zwischen Demokratie und Marktwirtschaft auch sein mögen, am Anfang und am Ende aller Komplexität steht der einfache Befund: Ohne eine einzige Ausnahme begegnet uns die moderne Demokratie nur im Verbund mit einer marktgesteuerten, auf privates Eigentum an Produktionsmitteln gegründeten Wirtschaftsordnung. Mit seinem Versuch, gerade umgekehrt, die Negation des Marktes und des privaten Eigentums an Produktionsmitteln zur Voraussetzung von Demokratie zu erklären, ist der real existierende Sozialismus ebenso eindeutig gescheitert wie mit seiner Negation des Verfassungsprinzips. Diese zweite Lektion wird – anders als die erste – da und dort nur ungern gelernt. Die kritischen Bürgerinitiativen der späten DDR sprachen auch im Augenblick des Zusammenbruchs der SED-Diktatur oft noch so, als gebe es ein sozialistisches Vermächtnis der Oktoberrevolution, das irgendwie festzuhalten und fortzuführen sei. An der Eindeutigkeit der Lektion ändert diese Gefühlslage nichts. Es sind im Kern diese beiden Erfahrungen, die die Epochenwende von 1989 gleichsam zu Protokoll gegeben hat. Der Fortschritt, den die Revolution von 1989 brachte, lag nicht daran, dass sie zur Erprobung neuer Demokratievarianten oder Sozialismen mobilisierte – aus gutem Grund: »Wir haben nur ein Leben« konnte man bei einer der großen Leipziger Demonstrationen auf einem Spruchband lesen. Der Fortschritt, den sie brachte, war zum einen der Schritt aus einer Verfassung der Unfreiheit in eine Verfassung der Freiheit, die ihre historische Bewährungs-
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probe bereits bestanden hatte. Wer will, mag das nachholend nennen. Der Fortschritt, den die Geschichtswende von 1989 brachte, liegt aber, zukunftsweisend, auch darin, dass sie die Voraussetzungen für einen neuen Konsens über elementare Bedingungen der Freiheit stiftete, wie ihn die, um es noch einmal so zu formulieren, schismatische Geschichte der modernen Demokratie, ganz besonders zwischen 1917 und 1989, zuvor nicht gekannt hatte. Auch das macht den historischen Rang der Revolution von 1989 aus. Dass es eine im vollen Sinn des Wortes europäische Revolution war, mehr als die von 1848/49, obschon auf die östliche Hälfte des Kontinents beschränkt, soll am Ende noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Sie war es zuerst und vor allem, weil sie Europa rekonstituiert hat, indem sie das sowjetische Imperium an seiner elementaren Illegitimität – doppelt illegitim als Fremdherrschaft und als Diktatur – scheitern ließ. Sie war es aber auch, weil sie in ihren ideellen Ressourcen wie in ihren Zielen europäisch war. Die ideellen Ressourcen der europäischen Revolution von 1989 – das ist ein weites Feld. Aber wie weit man dieses Feld auch abstecken mag, zwei Stichworte müssen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zum einen ist in diesem Aufstand gegen ein System, das den Menschen als bloßes Objekt seiner ideologischen Zwecke behandelte, ein Freiheitswille wirksam geworden, der unzweifelhaft in der neuzeitlichen europäischen Freiheitstradition verwurzelt war, die – kantisch gesprochen – jeden Menschen als Zweck und den Staat als Mittel begreift, nicht umgekehrt. Zum anderen hat sich die damals jedenfalls hierzulande längst kritisch eingeschätzte Nation mit ihrem Anspruch, ihre Geschicke selbst zu bestimmen, als Quelle eines kollektiven Freiheitswillens erwiesen, der mit dem individuellen Freiheitswillen eine mächtige Allianz einging. Gewiss ist das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ein Weltprinzip geworden. Aber dass Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Demokratie zusammengehören, ist Teil der spezifisch europäischen Freiheitstradition. Auch die Ziele, in denen sich Europa rekonstituierte, stellen sich klar als »europäisch« dar. Alle Länder Ostmitteleuropas wollten sich nach langen Verzögerungen, Umwegen endlich eingliedern in den Hauptstrom europäischer politischer Entwicklung. Sie wollten verfassungsstaatliche Demokratien werden. Und alle Länder Ostmitteleuropas wollten und wollen teilhaben an jeder neuartigen Staatengemeinschaft, die in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wird. Schließlich wird man die Revolution von 1989 auch deshalb europäisch nennen dürfen, weil die beteiligten europäischen Völker in ihr auf ein Ziel hin zusammengewirkt haben, das keines von ihnen allein hätte erreichen können. Jedes Volk musste gemäß den gegebenen Umständen seinen eigenen Weg finden und gehen, sozusagen seine eigene revolutionäre Strategie entdecken. Man kann nicht einmal
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von konzertierter Aktion sprechen. Und dennoch war es eine Art von europäischem revolutionären Konzert, in dem sich die Beiträge zu einem gemeinsamen europäischen Ertrag zusammenfügten. Kein Volk hätte die historische Umwälzung allein bewirken können. Keinem ist sie einfach nur als Frucht der Anstrengung anderer in den Schoß gefallen. »Ein Glücksfall der europäischen Geschichte« – das ist ein großes Wort. Es klingt, als sei es im Überschwang der Gefühle, die die europäischen Völker in den Monaten des Geschehens erfassten, gesprochen. Dieser Überschwang ist vergangen. Aber auch bei nüchterner Betrachtung bleibt es dabei: Die These hat gute Gründe für sich, dass das Geschehen des Jahres 1989 der vielleicht unglaublichste Glücksfall des vergangenen Jahrhunderts war. Wenn Glücksfall bedeutet: ein glückliches Ereignis, auf das man nicht hoffen durfte – wer durfte hoffen, dass ein Imperium wie das sowjetrussische sich selbst auflösen, dass Diktaturen abdanken würden, ohne dass, ich sehe vom Balkan ab, Blut fließt? So weit, so klar. Freilich: Der Glücksfall von 1989 hat Europa nicht einfach einen Glückszustand beschert. Er hat Chancen der Freiheit eröffnet. Wie Europa und seine Völker sie nutzen, diese Frage bleibt gestellt. Ein Fragezeichen kommt doch noch ins Spiel.
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2009 – Zwanzig Jahre demokratische Erneuerung Eine Erfolgsgeschichte?
Großbaustelle oder Erfolgsgeschichte? Ich sehe da kein »oder«. Was seit 1989 in all unseren Ländern passiert ist, verweist natürlich auf eine ungeheure Erfolgsgeschichte. Wenn wir durch die Städte fahren, beispielsweise durch Leipzig, durch Prag oder Brünn, wenn man durch polnische Städte oder auch durch Ungarn fährt, wo der Fortschritt etwas behindert wurde, dann sehen wir, wie sehr sich alle diese Länder entwickelt haben. Darüber hinaus sind aber in all diesen Ländern, nicht zuletzt in der ehemaligen DDR, auch große Baustellen entstanden, das wollen wir gar nicht bestreiten. Aber da kommen wir zu des Pudels Kern. Es gibt nämlich nicht eine große Baustelle, es gibt sehr viele Baustellen. Diese Baustellen sind je nach Land und Tradition natürlich verschieden. Und infolgedessen entwickelt sich auch die Demokratie in diesen Ländern etwas verschieden. Aber gestehen wir uns doch zu, auch diese Vielfalt deutet auf eine ungeheure Erfolgsgeschichte hin. Wir müssen bedenken, dass heute in allen Ländern, die früher den Warschauer Pakt gebildet hatten, mit bedauerlicher Ausnahme mancher Länder, die einstmals zur Sowjetunion gehörten, Demokratie die herrschende Staatsform geworden ist. Und sogar in Ländern, wo es am Anfang gar nicht so hoffnungsvoll ausgeschaut hatte, wo teilweise Leute vom ehemaligen Geheimdienst den Umsturz betrieben, hat sich unterdessen die Demokratie durchgesetzt. Und dass vereinzelte Ansätze, wieder ein autoritäres System zu errichten, wie es ja teilweise in der Slowakei geschehen ist, zum Teil in Rumänien, in Bulgarien, sehr schnell zum Scheitern verurteilt waren. Und zwar nicht etwa durch einen Eingriff von Außen, sondern, weil die Bürger sich ihrer Rechte bewusst waren. Kein Zweifel daher, dass die ganze Entwicklung der letzten 20 Jahre ein ungeheurer Erfolg war. Und lasst uns an diesem Ort, wo der Demokratisierungsprozess einen seiner vielen Anfänge genommen hat, auch Gott dafür danken, dass das so geschehen konnte. Natürlich kann man auch diesen Prozess nicht allein auf nationaler Ebene betrachten. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass auch die Sowjetunion unter Gorbatschow sich nicht so leicht ihres Reiches entledigt hätte, wenn nicht das unsinnige System der Sowjetunion selbst vor einem offensichtlichen Bankrott gestanden hätte. Es war schlicht der wirtschaftliche Zwang, der der Führung der Sowjetunion klar machte, dass sie die alte Vormachtstellung in dieser Form nicht mehr aufrechterhalten kann. Aber darüber hinaus,
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eine ganz entscheidende Rolle spielte selbstverständlich die Entwicklung in Polen. Polen lieferte das Beispiel dafür, dass sich die Opposition in einem friedlichen Prozess am Runden Tisch gegen die Machthaber tatsächlich durchsetzen kann. Und wer so wie ich die Freude hatte, Anfang des Jahres 1989 in Polen unterwegs gewesen zu sein, der konnte bereits damals sehen, dass in Wirklichkeit die Freiheit schon gesiegt hatte, dass das Regime auf dem Rückzug war, die äußeren Formen zwar noch gewahrt wurden, aber in Wirklichkeit etwas ganz fundamental Neues dabei war, sich Bahn zu brechen. Ebenfalls in Ungarn hatte das Regime erkannt, dass seine Zeit vorbei ist, und alle Regimeinhaber, die einstmals das Lehensrecht von der Sowjetunion erteilt bekommen hatten, erkannten, dass sie ihr Lehnsherr zukünftig nicht mehr schützen wird, dass sie also auf sich selber angewiesen sind. Und sie erkannten sehr schnell, dass sie wohl selber nicht mehr die Kraft besaßen, ihr eigenes Volk niederzuhalten. Was seither passiert ist, ist wie gesagt ein ungeheurer Erfolg, aber nichtsdestoweniger, wir sollten realistisch bleiben. Totalitäre Systeme haben, deswegen heißen sie ja so, immer versucht den Menschen total in Besitz zu nehmen. Was ja auch zeitweise gelungen ist. Jeder, der in diesem Regime gelebt hat, ist natürlich auch von diesem totalitären Regime beeinflusst worden. Nicht nur die, die Anhänger und Stützen des Regimes waren, nicht nur die, die sich nur widerwillig fügten, oder die, die irgendwie kollaborierten, nein, sogar die Leute, die im Widerstand waren, ihr Widerstand war ja geprägt durch den Kampf gegen das Regime, wurden von diesem Totalitarismus beeinflusst. In unseren Ländern sind zwei bis drei Generationen in diesem Regime aufgewachsen. Das Dritte Reich hat bei aller Schaurigkeit ja – Gott sei Dank – nur 12 Jahre gedauert, in Österreich nur 7. Und dennoch hat es fast zwei Generationen wesentlich beeinflusst. Kein Wunder also, dass das nachfolgende totalitäre System, ebenfalls die Menschen fundamental beeinflusste, zumal es noch viel mehr Zeit zur Verfügung hatte. Deswegen stoßen wir auf die vielen Baustellen. Aber dennoch ist es erstaunlich, dass wir eine solche Entwicklung der Demokratie in unseren Ländern miterleben dürfen, eine Entwicklung, die sich auch trotz mancher Vorurteile, die im Laufe der Zeit immer wieder von einigen Kräften reaktiviert werden, durchsetzt. Bei den Vorurteilen handelt es sich um Verblendungen, die gerade nicht positive Gedanken und Überlegungen über den Rechtsstaat und die Demokratie mit sich führen, sondern eher uralte Komplexe, Hass, Feindschaften befeuern. Und auch angesichts einer nationalistischen Minorität, die, nicht nur in Sachsen, nicht nur in Deutschland, wieder an der Oberfläche aufgetaucht ist, ist unsere aktuelle gesellschaftliche Entwicklung so bemerkenswert. Das ist eine winzige Minorität, die es in vielen Ländern gibt. Es gibt sie auch in der Tschechischen Republik, in Ungarn, Polen oder Russland. Diese glatzköpfigen Spinner, die die Sprache des deutschen Nationalsozialismus benützen, sind äußerst lästig, das ist richtig, aber sie besitzen auf längere Sicht keine Über-
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lebenskraft. Sicher, diese Kräfte können einiges an Unheil anrichten, aber langfristig geht von ihnen keine wirkliche Gefahr aus. Der Teufel ist durchaus erfindungsreich. Der Teufel nimmt nicht einfach ein Rezept von früher. Wir können sicher sein, dass er eine neue Versuchung unternimmt. Wie wir der widerstehen werden, ist eine andere Angelegenheit. Aber gehen wir noch einmal zurück. Wie gesagt, natürlich entwickelt sich die Demokratie dort, wo der prägende Einfluss der westdeutschen Entwicklung seit 1945 präsent war, anders. Und die Entwicklung der Demokratie verläuft anders in Ländern, in denen zumindest einige Zeit lang rechtsstaatliche und demokratische Erfahrungen gemacht werden konnten wie zum Beispiel in den Baltischen Staaten, in Polen, in der Tschechischen Republik. Und wiederum anders ist es in den Ländern, die auch vor dem Zweiten Weltkrieg nie völlig zur Demokratie und zu einem Rechtsstaat durchgedrungen sind. Wir dürfen nicht vergessen, Tradition ist etwas, das für die Demokratie und für das rechtsstaatliche Bewusstsein viel wichtiger ist als wir oft glauben. Demokratie und Rechtsstaat sind nicht etwas, was wir wie ein Rezept einfach verschreiben können, sondern das ist etwas, was man tatsächlich erfahren muss. Es gibt eine tschechische Geschichte, die durchaus lehrreich ist. Anfang der 40er Jahre war der Sohn des Staatsgründers Jan Masaryk Botschafter am Hof von St. James in London. Er fragte dort einmal einen englischen Freund: »Bitte erkläre mir etwas. Wie ist das möglich? Ihr habt in Großbritannien keine Verfassung, Ihr habt noch immer einen Monarchen, ein erbliches Oberhaus und die Krone hat theoretisch noch immer ungeheure Rechte, und dennoch, ihr besitzt eine funktionierende Demokratie.« Sein englischer Gesprächspartner blickte ihn an und sagte: »Das ist sehr einfach. Das ist wie mit dem englischen Rasen. Man säht ihn ein, mäht ihn, dann wächst er wieder, dann wird er wieder gemäht. Wenn man das 300 Jahre lang so macht, dann hat man am Ende einen funktionierenden Rasen bzw. eine funktionierende Demokratie.« Das heißt, wir sollten immer auch versuchen, selbst in Momenten größter Verzweiflung, die Kraft zur Geduld aufzubringen. Seien wir doch selbstkritisch, schauen wir uns unsere eigene Geschichte an, auch in Westeuropa hat es ein paar Jahrhunderte gedauert, bevor die demokratischen und rechtstaatlichen Gedanken sich wirklich durchsetzen konnten. Äußerungen, die wir als chauvinistisch und überlebt betrachten, die unser Gefühl für politische Korrektheit beleidigen, für unsere Großväter waren das noch selbstverständliche politische Ansichten. Auch was die aggressive Behandlung von Minoritäten betrifft, egal ob es sich dabei um nationale, sexuelle oder religiöse handelt, unsere Großväter hätten sie wohl nicht so empört zurückgewiesen, wie wir es heute durchaus verbreitet tun. Darüber hinaus, wir sollten nicht vergessen, dass unsere demokratische Entwicklung erst durch den Amerikanischen Schutzschirm über Europa möglich
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wurde. Auch sollten wir nicht vergessen, dass es die Hilfe durch den Marshall-Plan war, die eine ruhige demokratische Entwicklung überhaupt erst ermöglicht hat – und auch ermöglicht hat, dass Deutschland, das zutiefst der nationalsozialistischen Verführung anheimgefallen war, heute wahrscheinlich der gefestigtste demokratische Rechtstaat in Europa ist. Ich betone diese Zusammenhänge deshalb so stark, weil gerade diese historischen Umstände in der politischen Diskussion nicht selten vergessen werden. Manche tun so, als ob wir Europäer es auch alleine geschafft hätten. Nein, wir hätten unseren nationalen Hass, wir hätten unsere Erbschaften des Totalitarismus nicht so schnell überwunden ohne den amerikanischen Einfluss. Und deswegen glaube ich, wir sollten ein dem damaligen Denken in Amerika vergleichbares Denken bezüglich der Teile Europas, die heute noch nicht Mitglied der Europäischen Union sind, entwickeln. Ich verweise in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einige Balkanstaaten, die bis heute nicht in die Europäischen Union aufgenommen wurden. Das aber ist die große Aufgabe, die vor uns liegt, dass wir die Vereinigung Europas auch in diesem Teil Europas nachvollziehen. Aber das ist, zugegebenermaßen, noch Zukunftsmusik, denn in diesen besagten Ländern muss sich noch einiges verändern. Aber ich denke auch an so ureuropäische Länder wie die Ukraine oder wie Weißrussland zum Beispiel, auch an diese Länder müssen wir heute denken. Denn wenn die Amerikaner nach dem Jahr 1945 nicht Leute wie den General Marshall gehabt hätten, also Leute, die erkannt hatten, dass ihre Sicherheit davon abhängt, dass sich Europa in Frieden zu einer Demokratie entwickelt, dann wäre unser Schicksal wesentlich anders ausgefallen. Und deswegen, müssen wir uns ehrlich eingestehen, wenn wir unsere Sicherheit, unser demokratisches Leben, vor allem eine lebendige Demokratie erhalten wollen, dann müssen wir auch unseren Nachbarn im Osten und Südosten die gleichen Möglichkeiten einräumen, die die Vereinigten Staaten vor 60 Jahren uns eröffnet haben. Wenn wir die einzelnen politischen Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa betrachten, so stellen wir fest, dass es die Generation Konrad Adenauers und seiner Mitstreiter war, und – Gott sei Dank – hatten sie auch entsprechende Gesprächspartner in Frankreich und auch anderswo, die die Versöhnung im Westen und die Verankerung Deutschlands in Westeuropa zustande gebracht haben. Die nachfolgende Generation, vor allem auch Bundeskanzler Kohl hatten erkannt, dass die europäische Vereinigung in Richtung Osten weiterzuentwickeln sein wird. Und tatsächlich, wollen wir doch ehrlich zugestehen, Kohls großzügiges Entgegenkommen gegenüber Polen, aber auch gegenüber meinem Staate, war eine Grundbedingung dafür, dass eine europäische Annäherung und letztlich eine Vereinigung in der europäischen Union auch in Mittel- und Osteuropa gelingen konnte. Begreiflicherweise war aber die Aufgabe zunächst, die unmittelbaren Nachbarn an Europa zu binden. Wir müssen jetzt die nächste Aufgabe übernehmen, müssen mit Mut und
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Entschlossenheit weiterschreiten, und zwar über den unmittelbaren Kreis hinaus, der bereits heute zur Europäischen Union gehört. Es wird verschiedene Formen des Zutritts, der Annäherung geben, aber ich würde mir wünschen, dass wir sagen können, dass es in unseren Zeiten, im 21. Jahrhundert gelungen ist, den ganzen europäischen Kontinent zu vereinigen und auf dem ganzen europäischen Kontinent die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen – präziser gesagt, wahrscheinlich zunächst den Rechtstaat und dann die Demokratie durchzusetzen, weil Demokratie erst im Rahmen eines Rechtstaates wirklich funktionieren kann. Es gibt nicht eine Großbaustelle, es gibt viele Baustellen auf dem Balkan, es gibt viele Baustellen in Osteuropa und gestehen wir uns ein, wir, die wir das Glück haben, schon in der Europäischen Union Mitglied zu sein, wir können auch nicht behaupten, das unsere Häuschen bereits perfekt eingerichtet sind. Wir haben die Grundmauern, wir haben sogar Dach und Fenster, man kann schon dort leben, aber sie sind doch teilweise noch recht altmodisch eingerichtet. Wir müssen unsere eigenen Baustellen in Angriff nehmen und wir müssen unseren Nachbarn ermöglichen, dass sie auch erfolgreich bauen können.
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Karel Schwarzenberg
Zwanzig Jahre demokratische Erneuerung in Mittel- und Osteuropa – Bilanz und Perspektiven I m p u l s r e f e r at
James W. Davis
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Einleitung
Zunächst möchte ich mich herzlich bei der Stadt Leipzig für die ehrenvolle Einladung zu dieser wichtigen Konferenz bedanken. Es ist in der Tat eine Ehre, vor Ihnen in dieser Stadt, der Stadt der friedlichen, der nachgeholten Revolution, sprechen zu können. Die große Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 bleibt fest mit der Auflösung der DDR und der kurz darauf erfolgten Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verbunden. Ohne den Einsatz zahlreicher Bürger für Freiheit, für die Rechte und die Würde des Bürgers – die dem Staat eigentlich vorausgehen – wäre die Wiedervereinigung kaum möglich gewesen. Auf dieses Vermächtnis können die Leipziger Bürger mit Recht stolz sein. Es ist mir natürlich nicht entgangen, dass die Deutschen – aus bekannten Gründen – kein einfaches Verhältnis zum Begriff der Nation haben. Dennoch glaube ich, dass die Deutschen auch als Nation auf Leipzig stolz sein können. Aber auch als Amerikaner bin ich für diesen Teil der deutschen Geschichte dankbar, weil sich mit den Hoffnungen der Deutschen auch die Hoffnungen vieler Amerikaner erfüllt haben. Kein Präsident der USA, sei es der Demokrat Harry Truman in den 40er Jahren oder der Republikaner Ronald Reagan oder sein Nachfolger George Bush Senior in den 80er Jahren, hatte die Natürlichkeit bzw. Permanenz der Teilung Deutschlands jemals akzeptiert.
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Trotz der Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges waren die Amerikaner immer von der Reformfähigkeit, ja der Demokratiefähigkeit der gesamten deutschen Nation überzeugt. Aufgrund unserer eigenen Geschichte sind wir der festen Überzeugung, dass Demokratie nicht das Privileg einiger Auserwählter ist. Die Gründungsdokumente der amerikanischen Republik stellen unmissverständlich fest: Das Recht auf politische Selbstbestimmung ist universell, fundamental und unveräußerlich. Basierend auf dem Fundament des »Rechts zur Selbstbestimmung« traten die USA in die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts ein. Am 14. August 1941 wurde es explizit von Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill in der Atlantik Charta als das dritte von acht Kriegszielen festgehalten. So war die vierzigjährige Auseinandersetzung mit der Sowjetunion nicht nur ein internationaler Machtkampf im klassischen Sinne – obwohl klassische Machtpolitik auch eine Rolle gespielt hat –, vielmehr aber handelte es sich um einen Konflikt zweier Wertesysteme. Somit war das Bekenntnis Leipzigs »Wir sind das Volk!«, das dann in »Wir sind ein Volk!« mündete, auch ein starkes Signal für die amerikanischen Bürger, die hierdurch in ihrem Vertrauen in die eigenen Werte bestärkt wurden. Demnach ist Ihre Leistung nicht allein im Kontext der deutschen Geschichte, sondern auch im Kontext des menschlichen Strebens nach Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie zu verstehen. Ihre Leistung ist daher nicht allein für Deutschland und die Deutschen von Bedeutung, sondern wir haben es hier mit einer Errungenschaft im Namen der Freiheit zu tun. Deswegen sage ich für mich persönlich, aber auch stellvertretend für mein Land – wenn ich darf: Danke schön! Meine Aufgabe ist es heute, aus amerikanischer Sicht eine kurze Bilanz über 20 Jahre demokratische Erneuerung in Mittel- und Osteuropa zu ziehen und mögliche Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen. Es versteht sich von selbst, dass es die amerikanische Perspektive nicht geben kann, und so ist die Position, die ich heute vertreten möchte, natürlich auch eine persönliche. Ich bin aber davon überzeugt, dass sie eine genuin amerikanische Perspektive darstellt, auch wenn sie nicht unkritisch mit der amerikanischen Politik umgeht. Die Tatsache, dass ich die Hälfte der letzten 20 Jahre in Deutschland verbracht habe, verschafft mir eine etwas besondere Perspektive. Ich betrachte Europa zwar von innen, jedoch mit amerikanischen Augen. Gleichzeitig beobachte ich mein eigenes Land aus der Ferne, und diese Fernperspektive ermöglicht Einsichten, die ich wahrscheinlich nicht hätte gewinnen können, wenn ich in Amerika gelebt hätte. Ich möchte vier Thesen vortragen und verteidigen: Erstens: Die amerikanischen Reaktionen auf die unerwarteten Ereignisse in den Jahren 1989/90 wurden durch ein grundsätzliches Bekenntnis zum Prinzip der
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Selbstbestimmung der Völker sowie zur Demokratie geprägt. Diese Haltung der USA muss als notwendige Bedingung für den Prozess der deutschen Wiedervereinigung verstanden werden. Zweitens ist festzuhalten, dass die USA, abgesehen von diesen beiden grundsätzlichen Prinzipien, über keine »Gesamtkonzeption für Europa« verfügten. Somit fehlte der amerikanischen Position gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten auch eine klare Linie. Anstatt zusammen mit ihren traditionellen Verbündeten eine »Gesamtarchitektur« für ein neues Europa zu schaffen, versuchten die USA, existierende Institutionen zu modifizieren. Durch die Erweiterung der NATO und der EU wurde versucht, die demokratischen Transformationsprozesse in den ehemaligen Staaten des Warschauer-Pakts zu unterstützen und zu stabilisieren. Allerdings kann man dieser ›Ad-hoc‹-Strategie eine positive Bilanz zuweisen. Drittens muss festgestellt werden, dass es die US-Regierung versäumt hat, sich ausreichend Gedanken darüber zu machen, wie eine demokratische Transformation Russlands hätte aussehen können. Zwar möchte ich nicht behaupten, dass die Erweiterung der NATO und der EU ursächlich für die Rückkehr autoritärer Regierungsstrukturen in Russland verantwortlich sind, aber ich muss doch betonen, dass hierdurch auch rhetorisches Rüstzeug für die Gegner demokratischer Reformen geliefert wurde. Diese Gegner werden nicht müde, Russland als ein Land darzustellen, dass von Feinden umzingelt ist. Viertens und abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir nicht der Versuchung erliegen dürfen, uns nur noch nach innen zu wenden und die Augen lediglich auf die Konsolidierung der eigenen Demokratie zu richten. Vielmehr müssen wir demokratische Regierungsstrukturen weltweit fördern.
D i e a m e r i k a n i s c h e Re a k t i o n a u f d i e E r e i g n i s s e i n de n J a h r e n 1989/90
Natürlich sind die Ereignisse der Jahre 1989/90 nicht ohne die Reformprozesse vorstellbar, die von Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow bereits 1986 und 1988 eingeleitet wurden, und die unter den Namen Perestroika und Glasnost berühmt geworden sind. Auch sollte die ostdeutsche Reformbewegung nicht isoliert, sondern im Kontext anderer demokratischer Bewegungen in Osteuropa, wie der Solidarność in Polen oder der Charta 77 in der ehemaligen Tschechoslowakei betrachtet werden. Aber allein die Einbettung der ostdeutschen Reformbestrebungen in einen größeren osteuropäischen Kontext erklärt noch nicht, warum oder inwiefern die Forderungen nach Demokratie letztlich zur deutschen Wiedervereinigung führen
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konnten. Der Prozess der Reformbestrebungen war sozusagen ergebnisoffen. Die deutsche Wiedervereinigung war alles andere als »unausweichlich«. Weder für Gorbatschow noch für Mitterrand oder Thatcher stellte die deutsche Wiedervereinigung die erste Präferenz dar. In der Tat ist die deutsche Wiedervereinigung ohne das grundsätzliche Bekenntnis des damaligen US-Präsidenten Bush sen. zum Prinzip der Selbstbestimmung der Völker unvorstellbar. Es gibt eine Vielzahl von Belegen für das Vertrauen von Präsident Bush sen. gegenüber der deutschen Demokratie. Lassen sich mich nur kurz zwei davon erwähnen: Im November 1989 besuchte Premierministerin Thatcher Präsident Bush in Camp David und argumentierte, dass die deutsche Wiedervereinigung nicht in erster Linie eine Frage der Selbstbestimmung der Völker sei, sondern zuallererst einmal im Verantwortungsbereich der vier Alliierten liege. Im Laufe desselben Monats schrieb Präsident Mitterand, dass die deutsche Wiedervereinigung erst noch einiger Fortschritte im Prozess der Europäischen Integration bedürfe. Als Präsident Bush aber von einem ausländischen Journalisten Ende November gefragt wurde, was er dem britischen Volk sagen könne, das sich wegen einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands Sorgen mache, antwortete Präsident Bush: »… this is 1989. We can learn from history, but we can also look to the future: And my view is: Let this matter be determined by the people in Germany.« Die Bedeutung dieser Aussage ist vergleichbar mit der Bedeutung des Gipfeltreffens zwischen Gorbatschow und Bush sen. im Mai 1990. Hier vertrat Gorbatschow die Position, dass die deutsche Wiedervereinigung »das Aus« für die Perestroika-Reformen in der Sowjetunion bedeuten würde. Er betonte hierbei, wie stark der Schatten des Zweiten Weltkriegs noch immer auf dem Bewusstsein des sowjetischen Volkes laste. Bush entgegnete, dass er zwar die Sorgen und Ängste der sowjetischen Bevölkerung verstehen könne, aber schlicht nicht dazu in der Lage sei, die letzten 50 Jahre deutscher Demokratie zu ignorieren.
F ö r de r u n g u n d K o n s o l i d i e r u n g o s t e u r o p ä i s c h e r D e m o k r at i e b e s t r e b u n g e n
Nun komme ich zu meiner zweiten These: Die diplomatischen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung gemeistert zu haben, ist sicherlich als historische Leistung einzustufen. Im Vergleich hierzu erscheint die darauf folgende Demokratisierung der »neuen Bundesländer« als ein nahezu reibungsloser Prozess. Es scheint auch, dass der Demokratisierungsprozess in Deutschland gegenüber denjenigen in den mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten im Vorteil war. Die deutsche Wiedervereinigung spielte sich innerhalb eines etablierten konstitutionellen Rahmens
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ab, der von stabilen Institutionen getragen wurde. Diese wiederum waren ihrerseits fest in den Institutionen eines Vereinten Europas und der NATO verankert. Diese günstige Ausgangslage bestand nicht in Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien, ebenfalls nicht in den ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen oder der Tschechoslowakei, die sich bereits am 1. Januar 1993 in die Tschechische und die Slowakische Republik spaltete. Angesichts dieser Lage stellte sich in der amerikanischen Außenpolitik die grundlegende Frage, wie nach dem Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenbruch der Sowjetunion demokratische Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa am besten gefördert und konsolidiert werden können. Es ist nun durchaus vorstellbar, dass westliche Staaten im Allgemeinen und die USA im Speziellen eine elaborierte Strategie zur »Förderung und Konsolidierung demokratischer Reformen« formulieren hätten können. Aber wenn wir von dem eher breiten Ziel absehen, dass Europa »whole, free and at peace« sein sollte, zeichnen sich die letzten 20 Jahre vor allem durch die Abwesenheit einer »großen Vision« oder einer »elaborierten Strategie« für Gesamteuropa aus. In der Tat war der amerikanische Ansatz durch das, was wir als »the law of the instrument« bezeichnen, bestimmt. Frei übersetzt ist hiermit gemeint, dass man nach dem greift, was man hat. Die außenpolitischen Instrumente, die damals zur Verfügung standen, waren die Institutionen der europäischen Integration und die des transatlantischen Bündnisses, also die EU und die NATO. Zwar scheinen die Erweiterungen von EU und NATO nicht immer das Ergebnis wirklich systematischer Strategien gewesen zu sein. Auch wurden nicht immer »optimale Lösungen« gefunden, um Europa zu einen und das transatlantische Bündnis auf neue Füße zu stellen. Nichtsdestoweniger muss man rückblickend feststellen, dass es auf diesem Wege durchaus möglich war, den Herausforderungen nach dem Ende der Blockkonfrontation weitgehend mit Erfolg zu begegnen. Es gilt, den Erfolg der letzten 20 Jahre nicht nur rückblickend festzustellen, sondern deutlich zu betonen und hervorzuheben. Es gilt außerdem herauszustreichen, dass es gelang, im Herzen Europas einen Wandlungsprozess von bisher ungeahnter Tragweite zu gestalten, und zwar ohne dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es ohne die stabilisierende Wirkung der EU und der NATO den Staaten Europas nicht gelungen wäre, weder den Zusammenbruch der Sowjetunion noch die Wiedervereinigung Deutschlands so friedlich und einvernehmlich zu gestalten. Auch wäre es nicht möglich gewesen, die Folgen des Zerfalls Jugoslawiens und die damit verbundenen ethnischen Konflikte zu begrenzen. Durch die Verbindung von ökonomischen Anreizen, die in Form einer EU-Mitgliedschaft greifbar wurden, und der in Aussichtstellung nordatlantischer Sicherheitsgarantien, wurden liberale Reformbestrebungen unter-
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stützt. Dagegen bekamen nationale oder reaktionäre Kräfte deutlichen argumentativen Gegenwind zu spüren. Westliche Entscheidungsträger achteten ebenfalls darauf, nicht diejenigen Staaten zu destabilisieren, die nicht an den ersten Erweiterungsrunden beteiligt waren. Sowohl die Strategie der NATO wie auch die der EU zielte darauf ab, die Trennlinie zwischen »de facto Mitgliedern«, »potentiellen zukünftigen Mitgliedern« und »Partnern« mitunter durchlässig erscheinen zu lassen. Es galt, auch im Rahmen der von der NATO ins Leben gerufenen »Partnerschaft für den Frieden«, wie auch im Rahmen der EU Nachbarschaftspolitik, eine neue, strikte und undurchlässige Grenzziehung in Europa zu vermeiden. Zurückblickend muss betont werden, dass es gelungen ist, die wichtigsten Ziele in diesem historischen Transformationsprozess zu erreichen. Auch verliefen und verlaufen die demokratischen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa weitgehend erfolgreich. Darüber hinaus ist es gelungen, in denjenigen Staaten, die außerhalb der NATO und der EU verbleiben mussten, ein hohes Maß an Instabilität zu verhindern. Diese Erfolge sind nicht selbstverständlich und waren zu keinem Zeitpunkt unausweichlich. Jedoch darf die Bedeutung dieses Erfolges auch nicht unterbewertet werden, denn hätten die NATO und die EU nicht einvernehmlich gehandelt, wäre Europa heute weniger stabil und deutlich selbstbezogener. Dank der hier beschriebenen Prozesse sind die Staaten Mittel- und Osteuropas heute freier und sicherer als jemals zuvor.
Über das Versäumn is, Russlan d ausreich en d i n di e s t r at e g i s c h e n Ü b e r l e g u n g e n m i t e i n z u b e z i e h e n
Die US-Außenpolitik erscheint allerdings weitaus weniger erfolgreich, wenn es um die Frage der Demokratisierung Russlands geht. Ich gehe stark davon aus, dass man in den USA nach dem Ende der Blockkonfrontation mit einer neuen Ära der Kooperation zwischen den USA und einem demokratischen Russland rechnete. Diese Hoffnung hat sich allerdings nicht gänzlich erfüllt. Wir beobachten viele Entwicklungen innerhalb Russlands mit großer Besorgnis und fragen uns nach den Ursachen dieser Entwicklungen. Zum Großteil scheinen diese durch staatsinterne Dynamiken bestimmt zu sein. Folglich gehe ich nicht davon aus, dass die Erweiterung der EU und der NATO verantwortlich für die besorgniserregenden Entwicklungen innerhalb Russlands ist. Dennoch frage ich mich, ob nicht eine zusätzliche gedankliche Anstrengung gelohnt hätte, sowohl gleichzeitig die Staaten der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre stabilisieren als auch die demokratischen Reformer in Russland befördern zu können. Zunächst lässt sich feststellen, dass die schlimmsten Befürchtungen der
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EU und der NATO-Erweiterungsgegner nicht eingetreten sind. Beide Institutionen haben Sorge dafür getragen, dass Konsultations- und Kooperationsmechanismen mit Moskau geschaffen wurden. Nichtsdestotrotz, weitergehende Hoffnungen auf eine tiefergreifende Partnerschaft wurden bisher nicht erfüllt. Angesichts der schwierigen Lage, in der sich der russische Staat nach der Präsidentschaft Jelzins befand, ist es nicht verwunderlich, dass Vladimir Putin bestrebt war, die Macht der Wirtschaftsoligarchen zu brechen und die Autorität des Staates wiederherzustellen. Allerdings ging Russland aus diesem Prozess nicht demokratischer und kooperativer hervor. Im Gegenteil: Putins Russland ist heute deutlich autoritärer und konfrontativer. Während also der Westen die Orange Revolution in der Ukraine und die »Rosenrevolution« in Georgien generell als Zeichen einer voranschreitenden Demokratisierung positiv bewertet, werden diese Revolutionen in Moskau als Bedrohung wahrgenommen. Man meint in Moskau sogar, diesen Demokratisierungsprozessen entgegenwirken bzw. sie sogar rückgängig machen zu müssen. Selbst wenn die Ursachen für Russlands außenpolitisches Verhalten gegenüber ihren unmittelbaren Nachbarn vielfältig sein mögen, so muss doch festgestellt werden, dass die Wirkung dieser Außenpolitik stets auf eine Destabilisierung schwach institutionalisierter demokratischer Regierungen hinauslief. Die Erweiterungen der NATO und der EU waren gewissermaßen überdeterminiert. Wer befürchtete, dass sich die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland zu unverantwortlichem Handeln gegenüber Moskau hinreißen lassen würden, für den schien es sinnvoll, westliche Sicherheitsgarantien auf diese Staaten auszuweiten. Wer hingegen davon überzeugt war, dass Russland den Verlust seiner Einflusssphäre in Osteuropa niemals akzeptieren würde, für den schien es sinnvoll, die NATO und EU-Erweiterungen vorzunehmen, solange Russland noch schwach war. In jedem Fall haben die Erweiterungen von NATO und EU zu einer Stabilisierung der Staaten, die an Russlands Westgrenze liegen, geführt, und zwar zu einer Stabilisierung, wie wir sie seit den Napoleonischen Kriegen nicht mehr gesehen haben. Es ist unbedingt notwendig, dass wir uns direkt mit den Russen auseinandersetzen, um zu verstehen, warum sie diese Entwicklungen als Bedrohung wahrnehmen. Wir sollten uns aufrichtig darum bemühen, ernsthafte Ängste auszuräumen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die russische Zivilgesellschaft zu stärken, insbesondere jene Kräfte, die für demokratische Reformen eintreten. Mein Eindruck ist, dass wir diese Aufgabe am besten den einschlägigen Nichtregierungsorganisationen überlassen sollten. Die offizielle Politik sollte sich darauf beschränken, institutionelle Hindernisse abzubauen, die verstärkten gesellschaftlichen Austausch erschweren, sowie Russland dazu zu ermutigen, von seiner Seite aus dasselbe zu tun.
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Wir dürfen uns aber auch nicht zuviel erwarten. Letztendlich, denke ich, sind die Entwicklungen in Russland weniger ein Resultat europäischer und amerikanischer Außenpolitik als vielmehr interner Dynamiken, auf die wir, wenn überhaupt, nur sehr wenig Einfluss haben. (Oftmals scheint auch unser Verständnis dieser Dynamiken eher begrenzt.) Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich nicht hilfreich, wenn viele in meinem Land, also in Amerika, über Russland nur als Nachfolgestaat eines besiegten Feindes sprechen. Wenn wir es in Amerika dabei belassen, uns anlässlich des Endes der Sowjetunion weiterhin nur selbst zu beglückwünschen, berauben wir uns der Möglichkeit, in Russland einen wertvollen und verlässlichen Partner zu finden. Ich glaube, die Obama-Administration teilt diese Sichtweise. Die jüngsten Entwicklungen deuten an, dass die bilateralen Beziehungen auf eine neue (und vertrauensvolle) Grundlage gestellt werden.
Z u k u n f t s p e r s p e k t i ve
Die Zukunft demokratischer Reformen in Russland bleibt eine offene Frage. Eine der größten Herausforderungen für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten besteht darin, sich darüber klar zu werden, ob und wie wir mit allfälligen Rückschritten umgehen sollen und wie wir positive Entwicklungen unterstützen können. Es gibt allerdings noch weit grundsätzlichere Herausforderungen, die einer weiteren Ausweitung der Zone der Demokratie im Wege stehen. Eine davon – und hier bin ich bei meiner letzten These angekommen – ist die Gleichgültigkeit bzw. die durchaus verständliche Versuchung, den Blick vornehmlich nach innen zu wenden, anstatt eine gemeinsame Agenda voranzubringen. Wenn es um Sicherheit geht, denken viele osteuropäische Staaten immer noch in Begriffen territorialer Verteidigung – eine Tendenz, die durch die Ereignisse in Georgien im August 2008 nur noch verstärkt wurde. Aber die Gefährdung unseres demokratischen Lebensstils rührt heutzutage nicht von Bedrohungen der Integrität unserer Grenzen her, sondern von der Instabilität zerfallener bzw. zerfallender Staaten, die weder über die Institutionen noch die Mittel verfügen, um innere Sicherheit und somit die Grundvoraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung bereitzustellen. Die Relevanz der NATO wird sich in erster Linie daran erweisen, ob es ihr gelingt, Strategien zu formulieren und umzusetzen, die die öffentliche Ordnung an solchen Orten aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen in der Lage sind und die helfen, die Entwicklung verantwortlicher Institutionen zu unterstützen. Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Ich schlage nicht vor, Demokratie mit militärischen Mitteln zu verbreiten. Und ich glaube, wir sollten sehr vorsichtig vor-
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gehen, damit es nicht dazu kommt, dass wir uns in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen. Das Debakel im Irak wird sicherlich noch lange daran erinnern, wozu die Hybris der Macht führen kann. In dieser Hinsicht ist es eine der schlimmsten Hinterlassenschaften der Bush-Regierung, dass sie die weltweite Förderung der Demokratie in vielerlei Hinsicht diskreditiert hat. Aber es gibt Fälle, in denen wir unsere Erfahrung und unsere Fähigkeiten nutzen können, um zur Stabilität in Gegenden beizutragen, in denen schwache – aber repräsentative – Regierungen sich übermächtigen Herausforderungen zu stellen haben. Unsere gemeinsamen Anstrengungen auf dem Balkan und in Afghanistan sind dafür aktuelle Beispiele. Hilfe bei der Sicherung eines zukünftigen palästinensischen Staates wäre ein weiteres. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise führt uns ebenfalls in Versuchung, uns nach innen zu orientieren, statt eine globale demokratische Agenda voranzubringen. Für die Staaten Mittel- und Osteuropas sind derartige Reaktion durchaus verständlich. Folgt man den Prognosen der Europäischen Zentralbank, dann werden die Volkswirtschaften des früheren Warschauer Pakts Ende 2009 im Durchschnitt um 6 Prozent geschrumpft sein. Für Lettland beträgt die Zahl sogar 18 Prozent. Vergleichen wir diese Situation nur mal mit der vor 2 Jahren, als das durchschnittliche Wachstum in Osteuropa bei jährlich gut 7 Prozent lag! Gleichwohl denke ich aber, dass die Auswirkungen der Krise noch um ein Vielfaches schlimmer ausgefallen wären, hätte man diese neuen Demokratien über die letzten 20 Jahre hinweg nicht in die EU integriert. Ist die Situation schon für EU Mitgliedsstaaten schwierig, so gilt dies umso mehr für die Ukraine, Georgien und den Kaukasus. Demokratische Transitionen in dieser Region sind heutzutage (noch weit) instabiler und gefährdeter, als sie es vor 10 Jahren in Mittel- und Osteuropa waren. Für die meisten dieser Länder werden die Erweiterungen der EU und NATO nicht die erwünschte Antwort liefern. In der Tat scheint es so, als ob dieses Instrument dabei ist, seine Grenzen zu erreichen. Umso wichtiger ist es deshalb, den Mut zu finden, auf den Erfolgen der letzten 20 Jahre aufzubauen. Diese Erfolge auch angesichts der aktuellen schwierigeren Bedingungen zu konsolidieren und zu vertiefen – und zwar sowohl zu Hause als auch andernorts –, sollte auf unserer gemeinsamen Agenda oberste Priorität zukommen. Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie die Institutionen globalen Regierens weiter demokratisiert werden können. Die jüngste Erweiterung des Clubs der acht führenden Wirtschaftsnationen um aufstrebende Mächte wie Indien, Brasilien und China im Rahmen der G-20 ist hier ein wichtiger Schritt in
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die richtige Richtung. Aber wie schaffen wir es, jenen eine Stimme zu verleihen, die die Auswirkungen der dort getroffenen Entscheidungen zwar zu spüren bekommen, selber aber nicht Mitglieder dieses Clubs sind? Und wie stellen wir sicher, dass die Entscheidungen der G-20 und anderer globaler Institutionen wie der UN auch wirklich die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung reflektieren, die sie repräsentieren sollen – insbesondere, wenn viele der Mitglieder in diesen Institutionen selbst nicht demokratisch legitimiert sind? Demokratie ist ein Prozess und kein Zustand vollendeter Gnade. Sie ist eine menschliche Erfindung und ihre Entwicklung unterliegt damit dem gesamten Spektrum menschlicher Schwächen. In den letzten Jahren ist mein eigenes Land, historisch ein Leuchtfeuer demokratischer Freiheit, in vielerlei Hinsicht an diesen Ansprüchen gescheitert. Aber vergangenen November hat der demokratische Prozess durch die Wahl von Barack Obama die Magie seiner erneuernden Kraft erneut unter Beweis gestellt. Und trotz dieser immensen transformatorischen und erneuernden Kraft wäre es naiv zu glauben, dass die Demokratie ein Allheilmittel für alle Übel dieser Welt bereithält. Doch gibt es irgendjemanden unter uns, der argumentieren würde, dass die gegenwärtigen Konflikte mit Nordkorea oder dem Iran schwieriger zu lösen wären, wenn diese Regierungen die Interessen ihrer Bevölkerungen, wie sie sich in freien und fairen Wahlen zu erkennen gäben, wahrhaft repräsentieren würden? Die Menschen im Iran stellen momentan denselben Mut unter Beweis, den die Bürger Leipzigs, einst aufbrachten, in jenen Tagen des Umbruchs, in dieser Stadt. Unter der ständigen Bedrohung durch staatliche Gewalt forderten sie das Recht ein, selbst bei den Entscheidungen mitwirken zu können, die ihr Leben betreffen. Letzte Woche wurden drei der iranischen Demonstranten von iranischen Gerichten zum Tode verurteilt. Die Menschen im Iran, ja überhaupt alle Menschen, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, verdienen unsere Solidarität. Und wenn sie erfolgreich waren in ihrem Kampf, die Rechte der Bürger gegenüber ihrem Staat zur Geltung zu bringen – und früher oder später werden sie erfolgreich sein –, dann verdienen sie alle Hilfe, die wir ihnen geben können. Welchen besseren Ort, uns auf diese Aufgabe vorzubereiten, könnte es geben als diese Konferenz hier in Leipzig?
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Boris Nemzow
Über Russlands schwierigen Weg zur Demokratie
Der Fall der Berliner Mauer war ein historisches Ereignis, nicht nur für Deutschland und Europa, sondern auch für Russland. Ich bin der Meinung, dass Herr Gorbatschow eine große Rolle für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands gespielt hat. Ich muss jedoch sagen, dass die Menschen in Russland – bzw. der ehemaligen Sowjetunion – diese Art der Entscheidung nicht befürworteten, und dass diese Entscheidung bei Millionen von Menschen in Russland Enttäuschung hervorgerufen hat. Nichtsdestoweniger oder gerade deshalb ist Gorbatschow eine bedeutende historische Persönlichkeit. Das Nobelpreiskomitee hat 1990 eindeutig die richtige Entscheidung getroffen. Ich habe Gorbatschow vor nicht allzu langer Zeit an meinem 50. Geburtstag getroffen. Millionen von Russen und Millionen von Europäern wünschen ihm Gesundheit und Glück und es gibt keinen Grund, enttäuscht zu sein über die Entwicklungen in Russland, denn seine Rolle in der Geschichte Deutschlands, in der Geschichte Europas und in der Geschichte der Sowjetunion ist immens. Keiner wird das je vergessen. Nicht nur in Deutschland gab es 1989 Ereignisse von historischem Ausmaß. Im selben Jahr fanden in der Sowjetunion zum ersten Mal seit der Oktoberrevolution relativ freie Wahlen statt. Gorbatschow hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, damit diese Wahlen von einem echten politischen Wettbewerb begleitet werden konnten. Deshalb bekamen wir 1989 zum ersten Mal seit 1917 ein demokratisch gewähltes Parlament, in dem Andrei Sacharow, Boris Jelzin, Galina Starowoitowa, Anatoly Sobchak und viele andere russische Reformkräfte vertreten waren. Und ich glaube, dass die Friedliche Revolution in Deutschland nicht nur auf Grund von Gorbatschows politischem Willen friedlich ablief, sondern auch dank dieses neuen Parlaments. Denn es bestand aus vielen demokratischen Abgeordneten, die hinter der Idee der Wiedervereinigung standen und eindeutig gegen eine militärische Lösung des Problems waren. Im darauf folgenden Jahr 1990 fanden die zweiten Wahlen statt, und zwar Wahlen, die nicht nur relativ frei, sondern diesmal wirklich frei waren. In einem
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sehr seltsamen Wettbewerb gegen elf Kommunisten wurde ich als Abgeordneter in das russische Parlament gewählt. Zu dieser Zeit glaubten die Kommunisten – im Übrigen, ich war nie ein Kommunist, ich war ein Regimekritiker –, dass ich eine Art Feind des sowjetischen Systems darstellte. Die Kommunisten in Nischni Nowgorod beschlossen also, mich unter Druck zu setzen und elf kommunistische Kandidaten gegen mich aufzustellen. Ich habe diese Wahl gewonnen und danach den Generalsekretär der kommunistischen Partei von Nischni Nowgorod gefragt, wie sie auf die dumme Idee kommen konnten, elf Kommunisten gegen mich aufzustellen. Er hatte keine Erfahrungen mit Wahlen und war so naiv zu sagen, sie hätten gedacht, wenn ein Wähler einen Kandidaten nicht mag, könne er vielleicht einfach einen anderen wählen. Damals, 1990, war eine naive, eine romantische Zeit. Ich habe ungefähr 2000 Dollar ausgegeben, um diesen Wahlkampf zu gewinnen. Das war das letzte Mal, dass ein derartiger Betrag in Russland die Chance ermöglicht hat, gewählt zu werden. Ich hatte Glück, denn ich durfte an zwei »samtenen Revolutionen« teilnehmen: Das erste Mal im August 1991 – vielleicht erinnern Sie sich an die Bilder, die zeigen, wie Jelzin auf einen Panzer steigt und den Menschen auf der ganzen Welt damit signalisierte, dass das Ende des Kommunismus gekommen war. Wie ein echter russischer Held hatte Jelzin gewonnen. Wer sich dieses berühmte Bild von Jelzin genauer ansieht, findet in seinem unmittelbaren Umfeld auch mein Gesicht. Die Zeiten waren wirklich aufregend, wirklich romantisch. Die zweite Revolution, an der ich teilnahm, war die Orange Revolution 2004 in Kiew auf dem Maidan. Einmal mehr erlebte ich einen sehr emotionalen Moment in meinem Leben, den ich nie vergessen werde. Aber jetzt möchte ich wieder darauf zu sprechen kommen, was 1991 in Russland passierte, denn dies ist wichtig, um zu verstehen, warum Wladimir Putin das Land kontrolliert und warum es in unserem Land seit 10 Jahren wieder ein autoritäres Regime gibt. Ich glaube, dass das Hauptziel der Demokraten in Russland, das Hauptziel der russischen Aktivisten, darin bestand, den Kommunismus abzuschaffen. Ich jedenfalls war mir sicher, würden wir gewinnen, dann würde sich das Leben schnell zum Besseren ändern und wir wären endlich allen Europäern gegenüber gleichgestellt – was die Gehälter, was den Lebensstandard, überhaupt in allem, was den Status der sogenannten Mittelklasse angeht. Ja, wir waren naiv. Wir mussten erfahren, dass die Abschaffung des Kommunismus gerade mal ein erster Schritt innerhalb eines langwierigen Demokratisierungsprozesses war. Was ist nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus geschehen? Wir haben eine schwere innere Krise erlebt – vor allem war es eine soziale Krise. Millionen von Russen verloren ihren Arbeitsplatz. Als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion kam es zu einer Hyperinflation, da alle Republiken um
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uns herum Rubel druckten und versuchten, sie auf dem russischen Binnenmarkt einzusetzen. Es gab Probleme mit Lebensmitteln, Probleme mit Öl. Zu dieser Zeit war ich Gouverneur – ich war bereits Ende 1991 zum Gouverneur gewählt worden – und mein Hauptproblem bestand darin, Lebensmittel in die Läden zu bekommen und den Winter zu überstehen – am Rande sei erwähnt, die Winter sind sehr kalt in Russland. Die Krise ereignete sich aus zweierlei Gründen: Zum einen wegen des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Die Sowjetunion war bankrott, und diese Tatsache ist auch der Hauptgrund dafür, dass sogar die politische Elite im Land eingesehen hatte, dass der Kalte Krieg nicht mehr zu gewinnen war, denn die Sowjetunion hatte schlicht und einfach kein Geld mehr für diesen Krieg. Zum anderen führten die niedrigen Ölpreise Anfang der 90er in die Krise. Als ich 1997 Minister für Treibstoff und Energie war, lag der Ölpreis zwischen sieben und zehn Dollar pro Barrel. Zum Ende der Sowjetunion schwankte der Ölpreis um die 15 Dollar. Auf dem heutigen Markt kostet ein Barrel um die 80 Dollar. Putin hat Glück: Als er an die Macht kam, stieg der Ölpreis ungebremst an und ein Barrel kostete bereits um die 50 und sogar 60 Dollar. In den 10 Jahren der postsowjetischen Reformen hatten die Russen mit vielen Problemen zu kämpfen und sie waren es mittlerweile leid zu kämpfen. Die Russen waren der Reformen müde und glaubten, dass an dem harten Leben die Demokratisierung, der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Zusammenbruch des Kommunismus schuld waren. Diese Tatsache ist entscheidend, um zu verstehen, was nach dem Rücktritt Jelzins im Jahr 1999 geschah und warum Putin in Russland so beliebt ist. Wie sieht es jetzt aus: In unserem Land hat eindeutig in den letzten 10 Jahren die Wiederherstellung eines autoritären Systems stattgefunden. Mit schrecklichen und schwerwiegenden Folgen wie etwa der Zensur. Diese Zensur begegnet uns zuallererst im Fernsehen: Mich darf man zum Beispiel im russischen Fernsehen unter keinen Umständen zeigen. Deshalb erkennt man mich im Ausland manchmal schneller als auf den Straßen Moskaus – und nicht nur mir geht es so; zum Beispiel auch der ehemalige Ministerpräsidenten Kasjanow, der 4 Jahre an Putins Seite gearbeitet hat, erlebt vergleichbare Situationen. Uns sieht man nie im aktuellen Fernsehen, genauso wenig wie Putins ehemaligen Wirtschaftsberater Andrej Illarionow, der jetzt der Opposition angehört, oder meinen Freund den Schachweltmeister Garri Kasparow, der auch Mitglied der Solidarność ist. Wir alle dürfen unter keinen Umständen im Fernsehen gezeigt werden. Nächster Punkt: die Nichtexistenz von transparenten, ehrlichen Wahlen. Vor nicht allzu langer Zeit bin ich bei der Wahl in meiner Heimatstadt Sotschi angetreten. Bei den sogenannten Bürgermeisterwahlen. Sotschi ist eine international
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bekannte Stadt, weil dort die Olympischen Winterspiele 2014 stattfinden werden. Das ist übrigens eine amüsante Geschichte. Wie Sie wissen, ist es in Russland sehr kalt, es gibt viel Eis und Schnee und es ist schwierig, einen Ort zu finden, an dem es keinen Schnee gibt. Putin aber hat es geschafft: nämlich Sotschi. Und er hat beschlossen, die Olympischen Winterspiele an einem Ort mit subtropischem Klima abzuhalten. Besonders lustig ist, dass man unter keinen Umständen diskutieren darf, warum er ausgerechnet diesen Ort gewählt hat. Das wäre ungefähr so, als würde man über Korruption im Kreml oder Korruption in der Luschkow-Familie sprechen. Das ist verboten. Ich hatte also beschlossen, bei den Wahlen in Sotschi anzutreten. Hier nur einige Beispiele, um zu verdeutlichen, was passiert ist: Zuerst einmal sagten sämtliche lokale Fernsehsender, sie hätten kein Interesse an den Wahlen, und sie bräuchten mein Geld nicht. Deshalb kann ich nicht einmal für Geld eine Sekunde im Fernsehen bekommen – nicht einmal für Geld. Dasselbe bei den Radiosendern. Niemand im Radio war an den Wahlen interessiert, und die Radiosender sind in einer komfortablen finanziellen Situation, deshalb lehnten auch sie mein Geld ab. Dasselbe bei allen Zeitungen von Sotschi und Krasnodar. Das war 100 Prozent Zensur. Soweit zum ersten Punkt. Der zweite Punkt: Am Tag nach der Anmeldung kam Geld aus Brooklyn auf mein Wahlkonto, und wie in jedem Land der Welt ist es eindeutig verboten, für einen Wahlkampf Geld aus dem Ausland zu erhalten. Aber am Tag nach der Anmeldung erhielt ich ohne Vorankündigung Geld aus Brooklyn. Ein jüdischer Unterstützer wollte mir angeblich helfen: 5000 Dollar. Nur eine Stunde später beschloss der Wahlausschuss, mich von den Wahlen auszuschließen, weil ich Geld von einem amerikanischen Imperialisten erhalten hatte, für den ich als Gegenleistung Wohnungen und Immobilien in der Gegend von Sotschi kaufen sollte. Für ganze 5000 Dollar. Schließlich kamen Putins Hooligans, die Naschi, und fügten mir bei einem Angriff mit Ammoniak eine Augenverletzung zu. Zeitungen auf der ganzen Welt berichteten über diese kriminellen Vorgänge, aber das ist noch nicht alles. Putin besuchte Sotschi und sagte, Nemzow sei eine Katastrophe für die Stadt. Damals war ich sehr beliebt. Und Putin beschloss, diesen Kerl aus Anapa einzusetzen, der nicht einmal russisch spricht – aber das ist jetzt bei den Wahlen auch nicht mehr wichtig. Interessant ist, wie die Wahlen in Sotschi dann abliefen. 37,5 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme vor dem eigentlichen Wahltag ab – wie gesagt, vor dem Wahltag! Zwei Wochen vor dem Wahltag! Wir haben es allerdings geschafft, dass die Statistik die Stimmverteilung vom sogenannten vorherigen Wahlkampf und vom eigentlichen Wahltag getrennt voneinander darstellen musste. Am Wahltag kam ich auf 23 Prozent und das ist großartig, ein besseres Ergebnis hatten die Demokraten 15 Jahre lang nicht erzielt. In den gefälschten Vorabwahlen kam ich auf 0 Prozent und Putins Kandidat auf 100 Prozent. Was
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noch nicht einmal der Rekord war: Bei den Wahlen in Tschetschenien kam Putin auf satte 110 Prozent. Das jüngste Beispiel für sogenannte »Wahlen« in Russland hat sich erst vor zehn Tagen bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma zugetragen. Zuerst einmal wurden alle Kandidaten der Opposition ausgeschlossen, darunter einige Kandidaten aus meiner Bewegung, der Solidarność. Der Ausschluss fand vor den Wahlen statt. Denn um sich als Kandidat einzutragen, muss man 5000 Unterschriften vorlegen und meine Unterschriften waren laut eines Experten unter anderem gefälscht. Sogar meine eigene Unterschrift soll gefälscht gewesen sein. »Boris, das ist nicht deine Handschrift. Da hat doch jemand anders unterschrieben«, unterstellte man mir. Deswegen gab es bei diesen Wahlen auch keine Gegenkandidaten. Luschkow erzielte 92 Prozent der Sitze im Parlament – stellen Sie sich das vor, 92 Prozent in Moskau. Das ist mehr als Turkmenbashi in Turkmenistan und mehr als Lukaschenko in Weißrussland. Deshalb steht Russland heute schlechter da als Weißrussland. Eine Katastrophe, aber leider die Realität. Die Wahlen sind jetzt vorbei und sogar Pro-Kreml-Parteien wie beispielsweise »Gerechtes Russland«, ja selbst Herren wie Wladimir Schirinowski, der auch antrat, haben sich entschieden, das Parlament zu verlassen, weil sie verstanden haben, dass es wirkliche Wahlen nicht mehr gibt und es also daher auch keine Chance mehr gibt, in der nächsten Duma vertreten zu sein. Warum konnte das alles geschehen? Das ist eine schwere Frage. Diese Frage aber müssen wir beantworten, um zu verstehen, was in Zukunft in Russland passieren wird. Ich glaube, dass es einige Gründe gibt, warum die Restauration bzw. das autoritäre Regime so stabil und so beliebt sind. Zum einen herrscht eine Art Nostalgie in Hinblick auf ein russisches Imperium. Und dieser Punkt ist sehr wichtig: Wie fühlt sich die Mehrheit der Russen? Ja, wir haben den Kalten Krieg verloren, und der Fall der Berliner Mauer ist ein Symbol dafür, dass die Sowjetunion versagt hat. Über lange Zeit hinweg waren wir eine Supermacht, und jetzt sind wir nur noch ein großes Land, das niemand als starkes Land betrachtet. Aus diesem Grund ist die nostalgische Sehnsucht nach einem Imperium so ausgeprägt. Darüber hinaus, die Menschen glauben, dass es eine eindeutige Verbindung zwischen Demokratie und einem harten Leben gibt. Sie glauben, dass Demokratie Armut bedeutet. Sie glauben, dass Demokratie Hyperinflation hervorruft. Sie glauben, dass Demokratie Arbeitslosigkeit erzeugt. Und die Propaganda Putins wiederholt tausend Mal am Tag, dass eben genau dies zutrifft: Du bist arm, weil Demokratie herrscht. Ein weiterer entscheidender Zusammenhang ist in den mehr als 70 Jahren Kommunismus zu finden. Es gibt einen Unterschied zwischen Russland und den mitteleuropäischen Ländern wie Polen oder Tschechische Republik oder natürlich
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Ostdeutschland. In meinem Land gab es den Kommunismus über 70 Jahre lang, über mehr als drei Generationen hinweg. Der Kommunismus hat das Denken tiefgreifend verändert. Soweit ich weiß, spürt man das in Leipzig auch, insbesondere nach der Wiedervereinigung. Ja, im Osten Deutschlands leben mehrere Millionen Deutsche, im Westen leben ebenfalls mehrere Millionen Deutsche, aber es gibt Unterschiede. Ein Unterschied ist der Paternalismus. Im Kommunismus wird einem jeden Tag eingebläut: Keine Sorge, wir lösen all deine Probleme. Du musst keine Verantwortung für dich übernehmen. Putin und der Kreml wissen genau, wie sie dein Leben noch besser gestalten können. Also, sei einfach loyal, unterstütze uns, und alles wird gut. Wenn man derartiges einige Jahre lang hört, ist das nicht weiter schlimm. Aber wenn es über drei Generationen hinweg immer wiederholt wird, nimmt es Gewicht an. Deshalb übernehmen Millionen von Russen heute keine Verantwortung für sich, weil sie glauben, dass der Kreml in jeder Lebenslage letztendlich helfen wird. Zu alldem kommt noch das Fehlen von Identifikation hinzu. Ich war von 2005 bis 2006 der Berater von Wiktor Juschtschenko und kann daher sagen, dass es sicherlich viele Gemeinsamkeiten zwischen uns und den Ukrainern gibt, aber auch sehr viele Unterschiede. Der bedeutendste Unterschied betrifft die Identifikation. Wenn man zum Beispiel im Osten der Ukraine, etwa in Charkow, fragt: Sind Sie Europäer? – dann ist die Antwort »Ja«. Wenn man dieselbe Frage in Lemberg stellt, lautet die Antwort ebenfalls »Ja«. Das ist für Ukrainer ganz eindeutig: Sie halten sich für Europäer. Wenn man Putin fragt: Sind Sie Europäer? – dann wird er erst einmal nachdenken. Wenn er gerade in Deutschland ist, lautet die Antwort sicherlich »Ja«. Wenn er sich aber gerade in Peking befindet, wäre ich mir bezüglich der Antwort nicht so sicher. Die Russen halten sich nicht unbedingt für Europäer. Natürlich halten sie sich auch nicht für Chinesen. Daher wird im Land häufig diskutiert, wer wir eigentlich sind. Zusammenfassend möchte ich auf zwei weitere Punkte zu sprechen kommen: Das jüdische Volk hat 40 Jahre in der Wüste Sinai verbracht, um die Sklaverei zu vergessen. Die Russen sind mitten in diesem Prozess. Wir rechnen nicht ab dem Fall der Berliner Mauer, sondern vom Anfang der Perestroika an. Die Perestroika setzte 1985 ein. 40 Jahre später bedeutet: 2025. Meine Prognose lautet daher, dass wir Putin, Medwedjew etc. im Jahr 2025 überwunden haben werden. Das Ziel und die Aufgabe der liberalen und demokratischen Opposition im Land besteht darin, alles dafür zu tun, dass wir nicht erst 2025, sondern schon in näherer Zukunft in Freiheit und Demokratie leben können. Deshalb suchen wir bei Solidarność nach Wegen, den Prozess etwas zu beschleunigen. Aber wir wissen, dass Mentalität, Nostalgie und Identifikation – diese drei Problemfelder – deutlich zeigen, dass es sich hier um einen Marathon handelt. Das russische Problem lässt sich auf keinen Fall schnell lösen.
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Mein letzter Punkt beschäftigt sich mit Putins Außenpolitik. Ich weiß, dass es hier in diesem Land viele Putin-Freunde gibt. Das beste Beispiel ist Ihr ehemaliger Kanzler Gerhard Schröder. Wir haben sogar ein eigenes Wort dafür: Schröderisierung. Schröderisierung heißt, bereitwillig jeden zu unterstützen, der für bestimmte Dinge bereit ist, Geld zu zahlen, wie zum Beispiel Gazprom. Ich glaube nicht, dass Schröderisierung ein deutsches Phänomen ist – Angela Merkel schlägt sich da jedoch besser. Ich gehöre keiner deutschen Institution an, aber ich kann Ihnen sagen, dass sie sich wirklich viel besser macht, nicht nur hier in Ihrem Land, sondern auch in Moskau. Ich glaube, dass Werte absolut entscheidend sind. Das Problem des Konflikts zwischen Russland, Putins Russland, und dem Westen ist ein Werteproblem. Was sind Putins Werte? Geld, Geschäft, Macht. Die Werte des Westens sind da ein bisschen anders. Als Barack Obama Anfang Juli in Moskau war, habe ich ihn getroffen. Für Obama sind die wichtigsten Werte – auch für ihn als Schwarzen – Demokratie, freier Wettbewerb, transparente Wahlen usw. Für Putin ist das alles eine Bedrohung. Für ihn sind das keine Werte, sondern Gefahren. Die NATO-Erweiterung – eine Bedrohung. Denn was bedeutet sie? Gänzlich andere Werte. Er glaubt an Geld, Macht und Geschäft, er glaubt an Gazprom. Was bedeutet die Erweiterung also? Die NATO hat ihre Grenzen nahe Moskau. Das bedroht seine Macht. Und nur deshalb ist er dagegen. Deshalb hasst er auch die Ukraine – zumindest die demokratische Ukraine. Natürlich befindet sich die Ukraine in einer unglaublich schwierigen Situation, in einer politischen und wirtschaftlichen Krise, aber die Strategie der Ukraine ist eindeutig: Es gilt der europäische Weg. Die aggressive Außenpolitik Putins gegen diesen europäischen Weg wird in Russland gerne gesehen. Denn genau dadurch, dass das Raketenabwehrsystem in Europa abgelehnt oder die »samtene Revolution« in der Ukraine oder in Georgien bekämpft wird, sieht Russland stark aus, es scheint gerade so sein, als würde Russland wieder zu einer Supermacht werden, und das kommt gemeinhin sehr gut an. »Gut anzukommen« bedeutet also, aggressiv aufzutreten. Zuletzt möchte ich noch auf die Propagandamaschinerie zu sprechen kommen. Insbesondere die Kreml-Anhänger behaupten, dass Putin nur aufgrund der öffentlichen Meinung so aggressive Politik betreibt. Das allerdings ist ein Trick. Denn die öffentliche Meinung wird im Fernsehen gemacht. Wenn es im Fernsehen konkurrierende Ansichten gibt, bildet sich die öffentliche Meinung in dieser Konkurrenzsituation. Wenn es keine konkurrierenden Ansichten gibt, bleibt nur eine Perspektive. Die öffentliche Meinung ist nicht unabhängig. Alles hängt von Konstantin Ernst, dem Direktor des Ersten Kanals, oder von Oleg Dobrodeev, dem Direktor des Zweiten Kanals, ab. Wenn dort behauptet wird, dass Deutschland
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Russland gegenüber sehr freundlich eingestellt ist, ja dann mögen alle Deutschland. Wenn behauptet wird, dass der größte Feind des Landes die zwei Supermächte Estland und Georgien sind – zwei Supermächte, die eine mit 1,5 Millionen Einwohnern, die andere mit ca. fünf Millionen Einwohnern –, dann sind eben genau diese Supermächte Russlands ärgster Feind, die Menschen glauben es. In einem autoritären Staat gibt es keine öffentliche Meinung, zumindest keine unabhängige. Aus diesem Grund spielt die Propagandamaschine eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für uns, die sich in der Opposition befinden, ist es jedenfalls sehr schwierig, unsere Strategie für Russland vorzustellen oder unverfälschte Informationen darüber, was in Russland und im Ausland passiert, für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Ich kann aber versichern, dass wir doch einiges getan haben. Ich habe zum Beispiel während des Wahlkampfes zur Bürgermeisterwahl und der Wahl der Stadtduma am 11. Oktober ein Buch mit dem Titel Luzhkov. Itogi (»Luschkow. Eine Bilanz«) veröffentlicht. Außerdem haben wir 300 000 Berichte an U-BahnStationen verteilt. Wir haben großartige Ergebnisse erzielt, wie zum Beispiel mit folgender Umfrage: »Glauben Sie, dass Luschkow in Korruption verstrickt ist?« Immerhin 66 Prozent der Moskauer antworteten mit »Ja«. Interessant ist allerdings, dass dann bei der Wahl auch 66 Prozent für Luschkow gestimmt haben, also, man beachte, dieselbe Anzahl. Natürlich ist das nur eine vordergründige Tatsache, aber es ist interessant – die Zahl 66 als russisches Mysterium. Unser oberstes Ziel besteht darin, das russische Volk mit echten Informationen zu versorgen. Das Internet reicht dafür nicht aus. In Moskau ist das Internet zwar weit verbreitet, aber in meiner Heimatstadt Sotschi haben zum Beispiel nur 9 Prozent der Einwohner eine Internetverbindung und darüber hinaus ist die Datenrate außerdem noch begrenzt. Das ist ein echtes Problem. Deshalb haben wir sehr schwierige Zeiten vor uns. Wir stehen vor einem politischen Marathon. Aber ich bin überzeugt, dass unser Ziel richtig ist. Deshalb sind wir absolut optimistisch.
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Von der Zivilcourage zur Demokratie? Herausforderungen zivilgesellschaftlicher Erneuerung 1989–2009 Erfahrungen aus Polen, Kroatien und Weißrussland
P o di u m sdisk u ssi o n
Prof. Dr. Wlodzimierz Borodziej, Vizepräsident Universität Warschau. [WB] Prof. Dr. Nenad Zakošek, Universität Zagreb. [NZ] Prof. Dr. Anatoli Mikhailov, Rektor der European Humanity University, Vilnius. [AM] Gesprächsleitung: Prof. Dr. Günther Heydemann, Universität Leipzig. [GH]
Günther Heydemann: Wir kommen zum ersten Panel dieser Konferenz, und ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass es uns ein besonderes Anliegen bei der Konzeption dieser Konferenz war, ost-, mittel- und südosteuropäische Länder näher zu betrachten, die mittlerweile unterschiedliche Stadien im Demokratisierungsprozess durchlaufen haben. Schauen wir zunächst einmal auf Polen, dann auf Kroatien und Weißrussland. Ich will Ihnen kurz die beteiligten Kollegen vorstellen, die sich dankenswerterweise bereit erklärt haben, hier mitzuwirken. Wlodzimierz Borodziej, Historiker, Jahrgang 1956, der 1992–94 Generaldirektor in der SEJM-Kanzlei, also dem Parlament Polens, war. Mehrere Gastprofessuren in Deutschland, etwa in Marburg und Jena, Vizepräsident der Universität Warschau, Co-Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und so weiter und so weiter. Aber was ich besonders hervorheben möchte, das ist ein wirklich ganz bedeutendes deutsch-polnisches Gemeinschaftswerk, nämlich die auf polnischen Archivquellen beruhende vierbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Der Titel dieses Werkes lautet »Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden«. Wlodzimierz Borodziej ist dafür zu danken, es überhaupt durchgesetzt zu haben, dass wir an diese Archivmaterialen herankommen konnten. Ich freue mich sehr, Herr Borodziej, dass Sie heute da sind.
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Ich begrüße Prof. Dr. Nenad Zakošek von der Universität Zagreb, Jahrgang 1957. Nach dem Studium der politischen Wissenschaften in Zagreb und einer Promotion am Otto-Suhr-Institut in Berlin hat Nenad Zakošek verschiedene Positionen in Kroatien und anderswo, auch in Deutschland, wahrgenommen. Seit 2002 ist er ordentlicher Professor an der Universität Zagreb, darüber hinaus hat er noch mehrere Gastprofessuren, so etwa in Bratislava, in der Slowakei und anderswo, inne. Schließlich und nicht zuletzt begrüße ich Professor Anatoli Mikhailov. Jahrgang 1939. Er hat das Studium der Philosophie und Geschichte an der weißrussischen Staatsuniversität absolviert, hat mehrere Funktionen akademischer Art in Weißrussland wahrgenommen, , war von 1987 bis 1991 Leiter des Institutes für Philosophie an der dortigen Staatsuniversität, dann Rektor der European Humanity University in Minsk. Derzeit ist er Rektor der European Humanity University in Vilnius. Meine Damen und Herren, wir werden jetzt von den drei Kollegen kurze Statements über den jeweiligen Zustand und die eventuelle Weiterentwicklung in ihren jeweiligen Ländern hören. Es ist aber sicher hilfreich, wenn wir zuvor noch einmal stichpunktartig auf einige historisch wichtige Zusammenhänge, die die besagten Länder betreffen, eingehen. Kommen wir zunächst zu Polen. Polen ist das Land, das am stärksten und am längsten im Widerstand begriffen war. Ein starker Rückhalt war auch durch die katholische Kirche gegeben, jedenfalls längere Zeit. Ich erinnere an den Aufstand 1956 in Poznań, nicht zuletzt aber auch an 1978, für mich unvergesslich, die Wahl eines polnischen Kardinals zum Papst, übrigens mit der Hilfe von deutschen Kardinälen, und dann vor allem erinnere ich an 1980, die Gründung der Gewerkschaft Solidarność. In diesen beiden Jahren kristallisiert sich bereits der Umbruch in Polen heraus. Gleichzeitig beginnt die Agonie der polnischen vereinigten Arbeiterpartei, und dann kommt es von Februar bis April 1989 zur Einführung der sogenannten »runden Tische«, einer Einrichtung, die ja dann auch in der revolutionären DDR mit Erfolg wiederholt worden ist. 1997 bekommt Polen eine neue Verfassung, 1999 erfolgt der Beitritt zur NATO und 2004 wird Polen Mitglied der EU. Soweit also kurz zu Polen. Ein wichtiges Datum für die Republik Kroatien stellt, da werden Sie mir zustimmen, der Tod Titos dar, denn mit ihm wird der Zerfall Jugoslawiens eingeleitet. 1991 kommt es zu einem positiven Referendum zur Unabhängigkeit Kroatiens, also zur Herauslösung dieses Altjugoslawiens. Im gleichen Jahr noch bricht der Unabhängigkeitskrieg gegen Serbien los, der teilweise ja auch ein Bürgerkrieg ist. Dieser Krieg wird im Dezember 1995 durch das bekannte Dayton-Abkommen beendet. Seit 2004 ist das Land offizieller EU-Beitrittskandidat und seit April 2009 NATO-Mitglied.
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Podiumsdiskussion
Die Republik Belarus hat knapp 10 Millionen Einwohner. 1991 kommt es im Zuge der Auflösung der Sowjetunion im August zur Verkündung der Republik Belarus, Weißrussland. 1994 tritt Weißrussland dem Verteidigungsbündnis der GUS-Staaten bei und im gleichen Jahr kommt es im Sommer zur Wahl von Alexander Lukaschenko zum ersten Präsidenten, der sich seither mit diktatorischen Mitteln an der Macht hält. Unmittelbar darauf kommt es zum Verbot oppositioneller Medien und zur erneuten Einführung der marxistisch-leninistischen Ideologie. Ein Volksreferendum 1996 führt zur Machterweiterung Lukaschenkos. Die Parlamentswahlen 2008 liefen so ab, dass man sie durchaus mit dem vergleichen kann, was Boris Nemzow gerade über Wahlen in Russland berichtet hat. Ich denke, man wird nicht fehlgehen, wenn man sagt, in Weißrussland ist ein neostalinistisches oder poststalinistisches System installiert worden. Aber darüber kann man natürlich streiten. Soweit zu den jeweiligen Vorgeschichten der hier genannten Länder. Wir kommen, lieber Herr Borodziej, nunmehr ausführlicher auf Polen zu sprechen. Wlodzimierz Borodziej: Haben Sie vielen Dank, auch für die Einladung, in diesem Saal sprechen zu dürfen, und zwar gewissermaßen als Vertreter eines Landes, das die letzten 20 Jahre eigentlich vorbildlich genutzt hat. Ich komme aus einem Land, das als einziges in der EU 2009 ein wirtschaftliches Wachstum aufweisen konnte. Ich bin kein Ökonom, ich kann Ihnen das nicht so richtig erklären, wie das funktioniert, aber es funktioniert. Und vieles andere funktioniert eben auch. Polen ist in diesen 20 Jahren ein normaleuropäischer Staat geworden. Warum? Erstens, 1989, Sie haben das bereits erwähnt, konnte Polen auf eine oppositionelle politische Tradition zurückblicken, was im Fall der meisten Länder des Ostblocks nicht der Fall war. Zweitens, Polen hatte in den 80er Jahren, zwischen der Legalisierung der Solidarność ’81 und 1989 eben, eine sehr harte Überlebensschule hinter sich gebracht. Ein Land, das ein europäisches Armenhaus war und aus dem Hunderttausende bereits emigriert waren. Insofern konnte dann in Polen nach 1989 nicht dieser Enttäuschungseffekt eintreten, von dem wir heute zum Beispiel bezogen auf Russland gehört haben. Polen ist sozusagen als ein Land in Dauerkrise zum politischen Umbruch von 89 gekommen. Insofern, ich übertreibe jetzt, es konnte eigentlich nicht mehr sehr viel schlimmer werden. Es kam dann in Wirklichkeit aber doch schlimmer, denn wir mussten mit einer relativ hohen Arbeitslosigkeit fertig werden. Aber trotzdem, diese Gewöhnung daran, dass die Zeiten hart sind, die halte ich für eine Schlüsselerfahrung der polnischen Gesellschaft, die sich dann auch in den 20 Jahren nach 1989 als enorm wichtig erwies. Dieses Land hat eine Kirche, die ein ganz wichtiger gesellschaftlicher Akteur war und ist. Sie hat eine Gewerkschaft gehabt, die damals, 1989, Schlüsselbedeutung hatte. Und dieses
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Land hat Eliten gehabt, die spätestens ab 1981 mit dem Staatssozialismus sozusagen innerlich gebrochen hatten und deren Vertreten von Juristen über Ökonomen bis hin zu den Humanwissenschaftlern sich durchweg auf der Seite der Opposition befanden. Und die auch das klare Bewusstsein hatten, ein umgebauter, verbesserter Staatssozialismus macht keinen Sinn – es muss ein völlig neues System her. Und diese Radikalität des Einschnitts von 1989–90, sie hat sich dann inzwischen mehr als ausgezahlt. Ich will Sie hier nicht mit Daten überschütten, aber ich glaube, ein Prozess sollte angesprochen werden, der im Kontext der drei wichtigsten Akteure von ’89, nämlich Gewerkschaften, Kirche, Eliten, abläuft. Diese Akteure sind in den letzten 20 Jahren sozusagen auch normal geworden. Die Eliten sind entweder zu professionellen Politikern mutiert oder sie sind zurückgekehrt an die Universitäten. Die Gewerkschaften sind auch auf ein normaleuropäisches Maß zurechtgeschrumpft. Und die Kirche, die versucht hat, in den 90er Jahren im politischen Leben der parlamentarischen Demokratie eine ganz wichtige Rolle zu spielen, hat inzwischen auch begriffen, dass ihr Platz, woanders ist. Auch ein Zeichen von Normalität. Um dieses Wunder der letzten 20 Jahre noch besser zu begreifen, ein kurzer historischer Rückblick: Polen hat ja drei Staatsgründungen im 20. Jahrhundert erlebt. 1918 die Wiederentstehung der Republik, 1945 das kommunistische Polen und eben 1989. Und die Staatsgründung von 1989 ist die mit Abstand erfolgreichste. Unter anderem deswegen, und hier kommen wir zum Leipziger Kontext, weil die polnische Transformation innerhalb von sicheren Grenzen und einer zum großen Teil freundlichen Umweltumgebung stattgefunden hat. Polen hat ja zwischen 1989 und 1993 lauter neue Nachbarn bekommen. Wir haben aktuell sieben Nachbarn. Keinen von denen hatten wir 1989 als Nachbarn. Trotzdem sind die Grenzen geblieben, wo sie waren. Und von diesen sieben Nachbarn sind vier Partner in der Europäischen Union und in der NATO. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen mit der Welt der Zwischenkriegszeit. Polen hat auch selbst zu dieser Stabilität seiner Umgebung beigetragen, und zwar Richtung Osten – ich hoffe, dass wir am Beispiel von Belarus auf diese Zusammenhänge noch zurückkommen werden. Polen hat seine positiven Erfahrungen mit der Transformation, vor allem Richtung Belarus, so weit es geht, aber auch Richtung Ukraine zu exportieren versucht. Nicht als ein Modell, nach dem sich die Ukrainer richten sollten, sondern als ein Angebot, gerichtet an Menschen, die uns kulturell sehr eng verwandt, und an Menschen, die möglicherweise gerade von Polen, eben von einem Land, das auch eine staatssozialistische Vergangenheit hat, etwas lernen können, wenn sie wollen. Zu den Besonderheiten Polens heute, neben dieser Erfolgsgeschichte und sozusagen im Kontrast zu ihr, gehören zwei Tatsachen, die dieses Land zusätzlich interessant machen. Polen ist wahrscheinlich, wenn man sich etwa die Meinungsumfragen über Wertevorstellungen anschaut, eines der konservativsten Länder in der Europä-
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ischen Union, mit einem der härtesten Abtreibungsgesetze zum Beispiel. Insofern wohnt diesem ganzen Transformationsprozess ein gleichzeitiger Kulturkampf bei. Die große Mehrheit ist konservativ. Wenn Sie allerdings nach Warschau kommen, werden Sie davon nichts spüren. Das ist eben eine ganz normale europäische Großstadt mit einem blühenden, vielfältigen Kulturangebot, mit Parallelwelten und allem sonst, was zu einer Metropole dazu gehört. Es besteht also ein Kontrast zwischen Stadt und Land, den es ja auch in vielen anderen Transformationsregionen gibt. Ich glaube, in Polen ist er relativ stark, weil eben sozusagen das konservative Rückgrat des Landes relativ stark ausgeprägt ist. Und die zweite Besonderheit, die allerdings mit der ersten zusammenhängt: Wir haben eine Wahlbeteiligung von 40 bis 50 Prozent im Durchschnitt, also eine relativ niedrige. Soziologen verweisen in diesem Zusammenhang sehr oft auf eben diesen gerade angesprochenen Gegensatz zwischen Großstadt und dem Rest des Landes. Mit der »abgehobenen« Warschauer Öffentlichkeit, mit der Warschauer Politik, Stichwort »die da oben«, mag man sich anderswo kaum zu identifizieren. Die Soziologen sprechen sogar von einer Entsozialisierung des Politischen und Entpolitisierung des Gesellschaftlichen. Das heißt, dass das Leben in den Kleinstädten, auf dem Land anderen Prinzipien folgt, auch in dieser Phase der Transformation. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung zwischen den urbanen Zentren und dem Rest des Landes halte ich für eine Tatsache, die uns dazu drängt, unsere Erfolgsbilanz auch kritisch und nüchtern zu betrachten. Insofern steht auch für uns, wie für alle in Europa, die Zukunft offen. GH: Herzlichen Dank! Wir kommen nunmehr zu Kroatien. Lieber Herr Prof. Zakošek, Sie haben das Wort. Nenad Zakošek: Vielen Dank, auch ich bedanke mich für diese Einladung. Es ist für mich in der Tat eine Ehre hier dabei zu sein. Wie wir hörten, auch von den Vorrednern, wir gedenken in dieser Stadt der wichtigen Ereignisse, die dazu beigetragen haben, dass die Berliner Mauer vor etwa 20 Jahren gefallen ist. Lassen Sie mich aber ganz kurz mit einer Anekdote anfangen, die ein bisschen die veränderte Perspektive, nicht nur Kroatiens, sondern vieler postjugoslawischer Staaten darstellt. Ich war nämlich schon im Juni auf einer Konferenz in Sarajewo, in Bosnien, die sich ebenfalls mit unserem Thema beschäftigt hat. Und ein bosnischer Kollege hat gesagt: »Es ist wirklich ein historisch wichtiges Ereignis, was vor 20 Jahren in Osteuropa passierte, besonders in Berlin. Die Berliner Mauer ist gefallen. Schade nur, dass sie auf unsere Köpfe gefallen ist.« Also, das ist ungefähr das Gefühl, das die postjugoslawischen Staaten, Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien entstanden sind, hatten, Gefühle, die aus den negativen Erfahrungen als Folge des Falls des Eisernen Vorhangs, des Zerfalls der Blocksysteme, resultier-
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ten. Warum ist das so gekommen? Wenn Sie sich die Länder, die aus dem ehemaligen Jugoslawien entstanden sind, anschauen, also von Slowenien bis eben Kosovo, dann werden Sie sehen, dass sich diese Staaten auf sehr unterschiedlichem Niveau der Demokratie befinden. Also, Slowenien ist wirtschaftlich, wir hörten das von Polen auch, eigentlich der entwickeltste osteuropäische Reformstaat. Es hat schon jetzt Portugal übertroffen, und ich habe kürzlich die Projektionen des Internationalen Währungsfonds gesehen: Slowenien wird in etwa 5 Jahren auf dem Niveau von Frankreich sein, wenn man das Pro-Kopf-Einkommen berechnet. Auch als Demokratie ist Slowenien sehr stabil. Anders sieht es in Staaten wie Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien aus. Zum Beispiel Kroatien, es ist ein Staat, der teilweise natürlich etwas entwickelter ist als die südlichen Nachbarn, wirtschaftlich wie auch von den liberal-demokratischen Institutionen her betrachtet, trotzdem mit vielen Problemen noch immer belastet, die eben auch Staaten wie Bosnien und Herzegowina oder Mazedonien haben. Wie kann man das erklären? Ich dachte mir, weil der Rahmen unseres Panels eigentlich die Zivilgesellschaft ist, dass man es sich mal mehr von unten anschaut, also aus der Logik der Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte heraus. Man muss sich vor Augen führen, dass Jugoslawien ein liberaleres sozialistisches Regime war. Mit dem Tod des Präsidenten Tito, 1980, der seit dem Zweiten Weltkrieg an der Macht war, eröffneten sich auch Möglichkeiten zur weiteren Liberalisierung. Das bedeutet, dass in den 80er Jahren, aus anderen Gründen als etwa in Polen, hier vor allem bedingt durch die Solidarność-Bewegung, in der Tat die Bedingungen hergestellt wurden, um zivilgesellschaftliche Organisationen aufzubauen wie etwa Berufsvereinigungen, soziale Bewegungen, Frauengruppen und so weiter. Aber auch in Kroatien, in Serbien, ja sogar im Kosovo und Mazedonien gab es diese ersten Initiativen, die wirklich von unten kamen. Und man nutzte sozusagen die Schwäche des Regimes, um sich selbst zu organisieren. Das waren noch keine Demokratiebewegungen, aber immerhin, man nutzte durchaus die Freiräume aus. Es entstanden zum Beispiel neue Medien, es entstanden neue Diskussionszusammenhänge. Das Problem war allerdings, dass der staatliche Rahmen problematisch war. Das heißt, es gab Liberalisierung, es gab Selbstorganisation gesellschaftlicher Kräfte, aber politisch gesehen war nicht klar, in welchem Rahmen sollen sich diese Initiativen artikulieren. Und seit 1987, nachdem in Serbien nämlich Slobodan Milošević an die Macht kam – er war damals eigentlich nur der Parteisekretär, Sekretär des Bundes der Kommunisten Serbiens, er hat vorher keine staatlichen Positionen gehabt, ab ’89 war er dann auch Präsident Serbiens –, gab es eine Mobilisierung, die vor allem aus Serbien kam, die aber diese Potenziale der zivilen Gesellschaft vor allem für nationalistischen Extremismus nutzte. Auch die polnische Erfahrung – auch Polen besaß weitreichende Möglichkeiten der Selbstorganisation der Gesellschaft – zeigt uns – wir sprachen bereits
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über den konservativen Charakter der polnischen Gesellschaft –, dass diese Mobilisierung und Organisation für sehr konservative, ja sogar extremistische Zwecke genutzt werden kann, oder aber auch für liberale und demokratische. Leider kam es so, dass in den meisten Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, eine nationalistische Art der Mobilisierung überwog. Und das war auch der Fall in Kroatien, würde ich sagen. Seit 1989 entwickelte sich die mobilisierte Struktur, mittlerweile eine Infrastruktur, die aus zahlreichen Gruppen, Zirkeln, Medien und so weiter bestand, in Richtung Konflikthaftigkeit und eben letztlich in Richtung Krieg, der dann 1991 auch tatsächlich ausbrach. Man könnte diese Zusammenhänge auch mit Slowenien vergleichen, wo wir eigentlich ebenfalls eine nationalistische Mobilisierung hatten. Doch Slowenien hatte kein akutes Problem der ethnischen Minderheiten und sie konnten auch sehr gut die nationalistische Mobilisierung mit der demokratischen Mobilisierung verbinden. Deswegen war zum Beispiel die Organisation der Zivilgesellschaft in Slowenien Vorbote einer liberal-demokratischen Gesellschaft – sicher, auch hier wurden nationalistische Töne angeschlagen, aber die Konsequenzen waren andere. Kroatien hat es letztlich, wenn man sich die 90er Jahre anschaut, geschafft, die Frage des politischen Rahmens zu lösen. Kroatien war erfolgreich, sicher, es gab ein Referendum, danach gab es einen Krieg, aber letztlich hat Kroatien nun einen stabilen Staat aufgebaut. Die Folgen aber dieser Art von Mobilisierung, von der ich sprach, sind noch heute spürbar. Wir hatten eigentlich in den 90er Jahren ein defektes demokratisches Regime, mit einem Präsidenten und mit einer Partei, die auch starke autoritäre Züge zeigten. Man versuchte auch hier die Wahlen zu beeinflussen, aber mehr oder weniger, würde ich sagen, hatten wir in den 90er Jahren freie Wahlen, die allerdings wiederum nicht fair waren. Zum Beispiel die Medien, besonders die Staatsmedien wurden von der dominanten Partei instrumentalisiert. Zum Glück aber kam es dann gegen Ende der 90er Jahre – es war keine Orange Revolution, und überhaupt wurde es nicht als Revolution empfunden – in der Tat zu einer breiten Mobilisierung der zivilen Gesellschaft gegen dieses Regime. Also, zum Beispiel sind in diesem Zusammenhang die Gewerkschaften zu nennen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen waren sehr unzufrieden und haben die Bürger aufgerufen, in den Wahlen abzustimmen gegen das Regime. Die Wahlen fanden am 3. Januar 2000 statt, und in der Tat, es erfolgte dann ein Regierungswechsel in Kroatien. Seitdem hat sich, würde ich sagen, die Demokratie in Kroatien stabilisiert. Nichtsdestoweniger, Kroatien ist noch immer ein Staat mit gespaltener Gesellschaft. Das heißt, die Formen der nationalistischen Mobilisierung haben noch immer Folgen hinterlassen in Form von Organisationen zum Beispiel, ein Netzwerk aus Veteranenassoziationen oder irgendwelchen Kriegsopferassoziationen, die noch immer stark nationalistisch sind, die noch immer eigentlich antiliberal – man kann sie nicht ›antidemokratisch‹ nennen, aber ›antiliberal‹ – sind,
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und die andererseits anderen eher demokratischen zivilgesellschaftlichen Organisationen gegenüberstehen. Das drückt sich dann auch im Parteiensystem aus. Damit muss Kroatien in Zukunft irgendwie zurechtkommen. Man muss sozusagen das demokratische Spiel unter der Bedingung einer gespaltenen Gesellschaft leisten und das, würde ich behaupten, ist dann auch einigermaßen erfolgreich geschehen seit dem Jahr 2000. Aber es bleibt eine bestimmte Prekarität, eine Fragilität dieses Kompromisses oder dieser Balance, dieses Gleichgewichts zwischen diesen zwei Teilen der Gesellschaft. GH: Herzlichen Dank! Herr Kollege Mikhailov spricht jetzt über die politische Situation in Belarus. Anatoli Mikhailov: Ich vertrete hier einen extrem negativen Fall. Den Fall Weißrussland, Belarus. Es mangelt in den letzten Jahren nicht an Beschreibungen dieses Falls. Man spricht in diesem Zusammenhang von autoritären Tendenzen, Diktatur oder, wie Condoleezza Rice, sogar von Tyrannei in Belarus. Ich werde beschreiben, was passiert ist, dort in diesem Land. Es geht mir eher um die Typologie der Ereignisse. Und ich möchte einfach daran erinnern, dass Anfang der 90er Jahre in Belarus noch vor all den anderen Revolutionen, etwa der Orangen Revolution oder der Rosenrevolution, hunderttausende von Leuten auf den Straßen waren, was eine Ausnahme in der ehemaligen Sowjetunion darstellte. Völlig demokratisch wurde Lukaschenko gewählt, und es ist einfach nicht korrekt, wenn man heute sagt, er wurde mit Unterstützung von Russland ins Amt gebracht. Unterstützung gab es damals für Ministerpräsident Schuschkewitsch. Schuschkewitsch war damals auch ziemlich sicher, dass er Präsident von Belarus wird. Das trat dann aber nicht ein, sondern jemand, der absolut unbekannt war, wurde auf völlig demokratische Weise zum Präsidenten gewählt. Und das bedeutet, dass es das Potenzial für eine demokratische Erneuerung in Belarus gab. In allen anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion haben sich einfach die ehemaligen ersten Sekretäre der Kommunistischen Parteien umgewandelt zum Präsidenten. In Belarus wurde jemand tatsächlich vom Volke gewählt. Selbstverständlich, und das ist meine erste und wichtigste These, wir waren völlig unvorbereitet auf diese riesige, schwierige Herausforderung. Dass es auch eine riesige intellektuelle Herausforderung war, das war einigen von uns völlig klar. Wir haben bei uns in Minsk die Europäische Humanistische Universität gegründet, in der Hoffnung, dass aus ihr nicht so eine korrumpierte Institution wird wie etwa die ehemalige Parteihochschule. Es war übrigens sehr schwierig, die Bundesrepublik Deutschland von unseren Plänen zu überzeugen, damit wir Unterstützung bekommen. Es kostete mich viel Mühe in Bonn, damals
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noch Hauptstadt der Bundesrepublik, diese Idee zu vermitteln. Deutschland war sehr engagiert in Belarus, auch in Russland übrigens. Meistens waren es aber ganz abstrakte Maßnahmen, die unterstützt wurden. Allerdings waren die Ergebnisse dieser Unterstützung oft kontraproduktiv, eben weil sie ganz unabhängig von unserer wirklichen Situation stattfand. Das ganze Bildungssystem in Belarus ist ruiniert. Wir brauchen dringend ein Potenzial, um diese Probleme wirklich zu bewältigen. Und diese abstrakten Reglementierungen helfen wenig. Und ich spreche in diesem Zusammenhang nicht einfach nur von Belarus, dasselbe gilt auch für Russland, auch für die Ukraine, auch für Georgien. Ich verstehe, dass man im Westen manchmal bestimmte positive Signale braucht. Dann entdeckt man diese Ideen von den Revolutionen, der Orangen Revolution, der Rosenrevolution und so weiter. Aber wir benötigen etwas, was mit der in der chinesischen Medizin verbreiteten Akupunktur vergleichbar ist. Wir brauchen eine ganz gezielte Strategie von Heilung für unseren ganz schwachen, kranken sozialen Organismus. Noch nie hat es so etwas gegeben. Deshalb teile ich nicht den Optimismus von Boris Nemzow, dass es vielleicht schon 2020 oder 2025 etwas Neues gibt. Es gab seltene, einmalige Chancen, aber sie wurden nicht wirklich genutzt. Und es gibt kein Zeichen der Hoffnung, dass bestimmte Lehren gezogen wurden. Niemand trägt Verantwortung für das, was dort passiert, weder in Belarus noch in Russland, und man hofft einfach. Aber, ich denke, die Probleme gehen noch tiefer. Das vorhergehende, das 20. Jahrhundert, war das Jahrhundert ganz dramatischer Bemühungen, abstrakte Normen und Prinzipien, die sich im westlichen Raum im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben, zu realisieren. Dabei wurde auch deutlich, wie schwer es ist, Ideen in einen anderen Raum zu transplantieren. Und überhaupt, es gibt kaum Vorstellungen darüber, mit welcher Sprache man mit einer Bevölkerung spricht, in der ganz tief verwurzelt so etwas kollektiv Unbewusstes noch herrscht. Hier in diese Stadt war einstmals der Philosoph Hans-Georg Gadamer Rektor der Leipziger Universität. Er hat einen schönen Artikel mit dem Titel »Die Unfähigkeit zum Dialog« verfasst. Immer wieder befinden wir uns auf der Ebene der Kommunikation auf zwei ziemlich verschiedenen Ebenen. Diese Ebenen sind parallel zueinander. Und der Fall Belarus demonstriert, dass selbst hier in einem ziemlich kleinen Land mit nur 9 Millionen Einwohnern, das zudem ganz günstig im Zentrum Europas liegt, also Potenzial durchaus vorhanden ist, der Dialog eben nicht funktioniert. Zahlreiche politische Aktivitäten fanden meist nur um der Aktivität willen statt. Der ganze Aktionismus war oft durchaus mit dem vergleichbar, was die Amerikaner gerne als Blablabla bezeichnen. Und manches erinnerte zu dem noch an Formen kommunistischer Propaganda. Ganz abstraktes, leeres Gerede über Privatisierung, über Demokratie und so weiter. Die Idee der Privatisierung und der Demokratie wurden auf diese Weise diskreditiert. Ich bin wirklich
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sehr pessimistisch, weil diese Hoffnung, dass vielleicht, vielleicht die demokratische Entwicklung sich irgendwie doch durchsetzt, mir mittlerweile als sehr naiv erscheint. Wir brauchen eine riesige Anstrengung, aber sowohl in Brüssel als auch in der Bundesrepublik herrschen bürokratische Stille. Lukaschenko ist überhaupt nicht höchstintelligent. Er ist überhaupt nicht intellektuell raffiniert. Er überspielt alles. Er formuliert seine Spielregeln. Das ist wirklich eine Katastrophe, wenn solche Leute alles determinieren und formulieren. Und der Westen ist nicht imstande, etwas dagegen zu stellen. Ich bin jetzt im Exil. Lukaschenko hat einfach unsere Universität geschlossen. Er hat die Schließung öffentlich verkündet, sie war seine persönliche Entscheidung, weil nämlich diese Universität Belarus gen Westen bringen möchte. Er sagte ganz öffentlich, eine solche Universität brauchen wir nicht. Und er hat keine Skrupel, er weiß, dass letztlich seine Spielregeln akzeptiert werden. Unsere Universität ist wieder neu etabliert worden in Litauen, als Universität im Exil. Deutschland war das erste Land, das uns sofort verlassen hat. Wir hatten in Minsk ein Institut für Deutschlandstudien. Eines der besten Programme vielleicht in Osteuropa, interdisziplinär. Etwa 60 Prozent unserer Studenten sprachen fließend deutsch, studiert wurde Recht, Soziologie, Philosophie und so weiter und so weiter. Heute, in einer viel schwierigeren Situation als früher, versucht man wieder etwas Vergleichbares in dieser belorussischen Realität aufzubauen. Mit welcher Hoffnung? Für mich unverständlich. Aber vielleicht brauchen wir noch eine Verschlechterung der Situation, um wirklich unsere Lehren zu ziehen. Das ist leider zu pessimistisch, aber ich darf nicht einfach optimistische Äußerungen heute äußern. GH: Herr Borodziej, Polen war seit seiner EU-Mitgliedschaft nicht immer ein leichter Partner für die älteren EU-Mitglieder. Jetzt scheint sich dieses Problem ja vor Kurzem sozusagen gelöst zu haben. Wie sehen Sie die Zukunft Polens in der EU und wie sehen Sie die Überwindung dieses starken Gegensatzes zwischen den urbanen Zentren und dem Land mit seinen unterschiedlichen Mentalitäten? WB: Das sind jetzt zwei Fragen. Das eine ist die EU; und ich würde dazu Folgendes antworten: Spanien hat sich in den ersten 10 Jahren seiner Mitgliedschaft in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch nicht gerade beliebt gemacht. Spanien ist ein Land von vergleichbarer Größe. Zweitens, die Schwierigkeiten, von denen Sie sprechen, beziehen sich im Grunde genommen auf eine rechtsnationale Regierung, die ein Jahr lang im Amt war. Sie wurde gewählt von zwölf Prozent der Wahlberechtigten und hatte dank der niedrigen Wahlbeteiligung die Wahlen gewonnen. Und ich glaube nicht, dass Polen besonders negativ auffallen wird, so sich solche innenpolitischen Konstellationen nicht mehr wiederholen werden. Und drittens,
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die Polen gehören heute, was übrigens nicht immer hinreichend dargestellt wird, im internationalen Vergleich zu den EU-freundlichsten Bevölkerungen, die es innerhalb dieser Gemeinschaft gibt. Für die Akzeptanz gegenüber der EU, die ja anfangs vor dem Beitritt wirklich keine entschiedene, klare Sache war, dafür musste man wirklich kämpfen, ja sicher, man musste für das Referendum 2003, eben damit hier die absolute Mehrheit errungen werden konnte, hart kämpfen. Wir sind heute wirklich eines der EU-freundlichsten Länder, und in diesem Zusammenhang eine Bitte: Lassen Sie sich von einigen Politikern, die sehr oft gerne zitiert werden, weil sie eben sozusagen Stoff für die Medien bieten, lassen Sie sich da kein falsches Bild vermitteln. Die zweite Frage war nach dem Verhältnis von Stadt und Land. Und das ist eine Frage, die am ehesten an Ökonomen, Demografen, Sozialpolitiker gerichtet werden muss. Erstens gibt es diesen Gegensatz. Ich habe ihn bewusst hier angesprochen als eines der wichtigsten Probleme des Landes. Zweitens wird dieser Gegensatz durchaus auch kleiner. Wenn man heute nach Ostpolen fährt, dann ist der Zivilisationsfortschritt der letzten 20 Jahre natürlich nicht so sichtbar wie etwa in Warschau, aber er ist nichtsdestoweniger ebenfalls vorhanden. Es ist natürlich das Strukturproblem eines Landes, das noch Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich agrarisch geprägt war. Deswegen ist ja auch bis heute die Zahl der polnischen Landbevölkerung im europäischen Vergleich mit am höchsten. Andererseits ist diese Spannung entlang der Westgrenze sehr viel geringer als im Osten, aus Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, weil das nicht zu unserem eigentlichen Thema gehört. Also, mit anderen Worten: Der Gegensatz von Stadt und Land ist ein Problem, und ich glaube nicht, dass es da einen Masterplan gibt, der genau und sicher sagen kann, wie man es in Zukunft lösen kann. Es ist ja auch ein typisches Transformationsproblem, das gibt es ja in all den Ländern um uns herum. Und ob es sich, um auf Nemzow zurückzukommen, bis 2025 lösen lässt, glaube ich nicht wirklich. GH: Danke. Kommen wir zu Kroatien. Sie haben ja am Schluss Ihres Statements gesagt, dass es immer noch ein gespaltenes Land ist, dass die Wunden des Krieges mit Sicherheit auch noch nicht verheilt sein können, gerade nach dem, was passiert ist. Sie haben auch davon gesprochen, dass es eine Art Polarisierung gibt zwischen Veteranenverbänden, nationalistischen Kräften auf der einen Seite, die ja auch gesiegt haben, wenn man so will, und dadurch eine Art Legitimation erfahren haben, und auf der anderen Seite diese zivilgesellschaftlichen Anfänge, die bereits schon lange da waren und die im Gegensatz stehen zu den ersten Kräften. Sind Sie der Auffassung, dass es möglich ist, dass diese Wunden, vielleicht in den nächsten 10 bis 20 Jahren, sprechen wir mal von einer Generation, verheilt sein könnten und das Kroatien sich auf
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einen Weg hin zu einer stabilen Demokratie bewegt, in der sicherlich unterschiedliche Positionen politischer Art weiterhin vorhanden sind, aber eben nicht mehr in dieser aggressiven, einander ausschließenden Weise? NZ: Also, alleine auf der Ebene der öffentlichen Diskussion, auf der Ebene des gegenseitigen Umgehens miteinander bin ich ja eigentlich eher optimistisch. Ich denke, Sie sprachen von einer Art Zivilisationsprozess wie im Falle von Polen, aber man könnte etwas ähnliches, was die Dynamik der Zivilgesellschaft betrifft auch in Kroatien erwarten. Also, ich denke, dass wir – gerade auch in Hinblick darauf, dass wir innerhalb der nächsten 2 Jahre EU-Mitglied werden können –, diese alten ideologischen Fronten, die da durch den Krieg besonders betont wurden, zumindest abschwächen können. Allerdings, und ich wollte da ein Phänomen noch erwähnen, weil es aus meiner Sicht wichtig ist für die Rolle der Zivilgesellschaft auch anderswo in Osteuropa, nämlich, dass wir eine tiefe ideologische Spaltung zu verzeichnen haben. Wir haben ein rechtskonservatives Lager, das teilweise diese extremistischen, nationalistischen Optionen befürwortet. Wir haben andererseits urbane, liberale, weltoffene, kosmopolitische, proeuropäische Schichten und Gruppen, die eben für ein europäisch-liberales Kroatien einstehen. Aber auf einer anderen Ebene sind das Fragen der Ökonomie, also des Verteilungskampfes. Nämlich diese Veteranenverbände oder anderen Formen von Selbstorganisation haben Formen und Muster von Klientel-Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufgebaut. Das heißt, sie haben bereits dauerhafte Quellen der Finanzierung aus dem Staatsbudget oder aus lokalen Budgets aufgebaut, die wirklich eine große Bürde in Kroatien darstellen. Eine wirtschaftliche Bürde, die noch immer unantastbar ist. Also, anders als etwa Polen hat Kroatien in diesem Jahr eine sehr ernsthafte Wirtschaftskrise. Wir haben bisher im ersten Halbjahr mehr als sechs Prozent Rückgang des Sozialprodukts zu verzeichnen. Wir hatten drastische Kürzungen des Staatsbudgets. Was nicht angetastet werden durfte, das waren eben die besagten Vorrechte dieser Klientel der Regierungspartei. Ich glaube, dass es dieses Muster auch anderswo gibt. Ich hoffe, dass der Europäisierungsprozess uns auch tatsächlich dabei helfen kann, das Anzapfen von Staatsgeldern und die Sicherung von Privilegien zu unterbinden, weil nämlich einfach bestimmte Normen der Rationalität und Transparenz durchgesetzt werden müssen, um Mitglied in der EU zu werden. Davon erhoffe ich mir natürlich Verbesserungen, aber jeder weiß auch, wenn es um Verteilungskämpfe geht, dann sind die Widerstände sehr zäh. Also, da bin ich vielleicht weniger optimistisch, wie das genau gelöst werden soll. GH: Entschuldigung, wenn ich da mal nachfrage. Werden die Verteilungskämpfe vielleicht nicht noch härter ausfallen, wenn dann EU-Mittel im Land sind?
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NZ: Nein, aber ich meine, es müsste zu einer Reform kommen, dieser ganzen Muster von Interessennetzwerken. Und heute sind paternalistische Mechanismen sehr verbreitet und stark. Mit den Mitteln, die aus Europa kommen, kommen aber auch zusätzlich Regeln ins Land, die man dann befolgen muss, um überhaupt an die Gelder zu gelangen. Ich denke, durch die Integration in Europa und auch durch die Akzeptanz der entsprechenden Regeln, könnte es vielleicht sogar gelingen, das ganze System der Umverteilung zu reformieren. GH: Herr Mikhailov, Sie machen es mir als Mediator am aller schwierigsten. AM: . . . ich trage Verantwortung . . . GH: . . . ich mache Ihnen keinen Vorwurf . . . Sie haben wenig gesagt zum Staatsaufbau unter Lukaschenko, weil es wahrscheinlich ohnehin klar ist, wie der funktioniert. Das ist eben das berühmte System mit Geheimdienst etc., Ausschaltung der Opposition, Zensur und so weiter und so weiter. Sie haben gleichzeitig aber auch gesagt, dem Westen seien Versäumnisse vorzuwerfen, weil er zu wenig Hilfe denjenigen Weißrussen hat zukommen lassen, die zu den Demokraten bzw. Oppositionellen zählen. Können Sie das noch präzisieren. Was kann denn der Westen, was kann die EU, was kann Deutschland tun? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, auch deswegen nicht, weil es außerordentlich schwierig ist, überhaupt an die Oppositionskräfte in Weißrussland heranzukommen? Viele von ihnen sind zwar im Exil, aber trotzdem ist es schwierig. Wie kann man überprüfen, ob das Geld in die richtigen Hände gelangt? Das ist ein Problem, das auch mit bedacht werden muss. AM: Lukaschenko demonstriert ein ziemlich gefährliches Muster des Benehmens. Er weiß ganz genau, dass es keine militärische Intervention wie in Jugoslawien oder Irak geben wird. Womit er wohl auch recht hat. Und ist der Westen nicht imstande, etwas zu unternehmen, dann gibt es wohl nur einen möglichen Weg, nämlich den, die Rahmenbedingungen, die Regeln, die von Lukaschenko selbst formuliert sind, zu akzeptieren. Ich wiederhole nochmals, es gab Zeiten, da waren in unserem Land Scharen von Experten, Spezialisten für Privatisierung etc. unterwegs. Es war oft merkwürdig, deren abstrakten Ausführungen und Ideen zu folgen. Diese hatten wirklich nichts zu tun mit der Realität. Aber in vielen Fällen schien es, also ob diese Leute, die die Realität weder analysiert noch begriffen hatten, die Träger der letzten Wahrheit wären. Das war ein bisschen lächerlich, und ich denke, es war notwendig, einfach abzuwarten. Aber Lukaschenko hat gelernt, diese ganzen Aktivitäten des Westens zu instrumentalisieren.
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Anfang 2011 werden die nächsten Präsidentenwahlen stattfinden. Ich kann bereits heute ziemlich genau beschreiben, was alles passieren wird. Und im Westen herrscht einfach Verwirrung in den Köpfen. Man kann doch nicht im Westen erwarten, dass ein kranker Organismus vielleicht mit etwas Schmuck oder ein wenig Aspirin genesen kann, wenn Metastasen bereits über den ganzen Körper verbreitet sind. Aspirin hilft in dieser Situation nicht. Und überhaupt, es gibt keine Bereitschaft, diese Realität als gefährlich zu akzeptieren. Man handelt einfach parallel zu dieser Realität mit einem wunderbar schönen Wunschdenken. Es kommen bestimmte Leute, sogenannte Experten daher, sie geben bestimmte Vorschläge und verschwinden wieder, und dann kommen Fragen auf wie etwa: Warum nur kann so etwas in Belarus passieren? Die Frage sollte man anders formulieren: Warum konnte man etwas anderes erwarten? Es sollte bei allen Klarheit darüber herrschen, dass wir es nach der Herrschaft totalitärer Ideologie mit zerstörten Bewusstsein zu tun haben. Die Frage, wie man mit der Bildung vorankommen kann, ist wirklich wichtig. Nur mit einer ehemaligen Parteihochschule, die jetzt Akademie für Management heißt kommt man nicht weit. Es fehlen Institutionen, die einen anderen Geist tragen und repräsentieren. Was konnte man von all diesen abstrakten Empfehlungen, die nichts zu tun hatten mit der Realität, erwarten? Ich bin noch immer sehr pessimistisch, ich sehe keine Anzeichen für eine positive Entwicklung – und zwar nicht nur bezüglich Belarus, auch bezüglich Russlands und der Ukraine. Es geht nach dem Ende der Sowjetunion um die Stabilisierung der neuen sozialen Organismen. Die alten sozialen Strukturen sind verdorben, korrupt und sie funktionieren einfach nicht. Und darüber hinaus wächst der Populismus, nicht nur in der Ukraine, in Belarus und Russland, ja selbst in Litauen und in Lettland, wo die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation eine wirkliche Bedrohung darstellt. GH: Wollen Sie dazu noch was sagen, sonst würde ich jetzt an das Publikum weitergeben? NZ: Ach, vielleicht noch einen Satz: Kollege Mikhailov hat in seinem ersten Vortrag gesagt, es gab eine Chance für Weißrussland in den 90er Jahren. Das Problem ist, dass die Perzeption aus Deutschland, aus Frankreich, aus England eben eine bestimmte ist. Wir dachten immer, wir befinden uns mitten in Europa, aber als der Krieg ausbrach, als die Diktatur sich festigte, mussten wir erfahren, dass wir nicht mitten in Europa sind, sondern am Rande stehen und wir müssen feststellen, und das ist kein Vorwurf, dass die Europäische Union und die meisten europäischen
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Staaten aufgrund ihrer politischen Mechanismen eigentlich mit unserer Situation nicht umgehen konnten. Und die Amerikaner haben das natürlich anders geregelt, im Falle von Ex-Jugoslawien letztlich haben sie sich engagiert, und ich glaube im Fall von Weißrussland haben sie einfach die Diktatur akzeptiert, die dort jetzt entstanden ist. AM: Ja, aber erstens, hat man erlaubt, die Diktatur dort zu errichten, und außerdem, wurde Belarus vernachlässigt nach der Auflösung der Sowjetunion. Konzentration auf Russland, dann auf die Ukraine und so weiter. Aber trotzdem, mit diesen Milliarden von Dollar, Euro, France und Deutsche Mark war es möglich noch etwas in Gang zu bringen. Aber jetzt, alle sind verschwunden. Und jetzt wundert man sich, warum bestimmte Dinge eben so passieren wie sie passieren. Aber warum überhaupt wundert man sich? Das ist eine Frage. Ich spreche nicht nur über Belarus, aber alle diese Prozesse sind äußerst kompliziert und schwierig. Wenn ich von einer bestimmten Leichtigkeit innerhalb der belorussischen Entwicklungen spreche, dann nur im Vergleich mit zum Beispiel China oder mit Russland oder mit Afghanistan oder Irak. Nur in diesem Vergleich. China steht vor besonderen Problemen angesichts eineinhalb Milliarden Einwohner. Auch Russland hat ganz spezifische Probleme zu lösen. Aber in Belarus, dort brauchte man tatsächlich eine gezielt, ganz konkret ausgearbeitete Politik der Überwindung des Totalitarismus. Es gab keine Spur von so einer Politik überhaupt. GH: Meine Damen und Herren, wir waren uns im Klaren, dass wir die Probleme nicht lösen können, aber wir können sie diskutieren. Und jetzt sind Sie, liebes Publikum, natürlich herzlich eingeladen, mitzudiskutieren und Fragen zu stellen. Bitteschön. Publikumsfrage: An Herrn Professor Borodziej die Frage: Wie kann in Polen auf der Basis einer 40-prozentigen Wahlbeteiligung die Demokratie noch stabil sein? Für Deutschland kann ich mir das nicht vorstellen. WB: Es sind eben nicht alle Länder wie Deutschland. Die USA sind es auch nicht. Demokratie kann funktionieren mit einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent. Auch wenn wir uns eine doppelt so hohe wünschen. Publikumsfrage: Ich habe eine Frage an Professor Mikhailov aus Weißrussland. Kann man nicht daraus eine gewisse Hoffnung schöpfen, dass sich Ihr Präsident maßlos überschätzt.
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Also, ich weiß, zum Beispiel gibt es eine Art Bundesstatus in Weißrussland, und da hat Weißrussland mit seinen neun oder zehn Millionen Einwohnern die gleiche Repräsentanz wie das weitaus größere Russland. Und wenn das Projekt nicht weiter vorangekommen ist, scheint mir, liegt es daran, dass sich Ihr Präsident, als Präsident eines vielleicht mal vereinigten, gemeinsamen Staates sieht. Also, meine Frage ist: Könnte es nicht zu einem Misserfolg für Lukaschenko kommen, weil er sich einfach maßlos überschätzt? AM: Ich denke, wir sollten darüber nachdenken, was passierte und was passiert in der ehemaligen Sowjetunion. Diese sogenannte Union Belarus und Russland war ein Projekt von Lukaschenko. Und zuerst hat niemand daran geglaubt, aber dann war es nur eine Sache von Stunden. Alle Papiere waren schon vorbereitet und Lukaschenko hatte wirklich Ambitionen einen Vertrag zu unterschreiben, nach dem er Nachfolger von Jelzin wird, als Präsident der Vereinten Union Russland und Belarus. Es war wirklich eine Sache von Stunden, Anatoli Tschubais hat einen Weg gefunden zu Jelzin, der manchmal, oder besser sehr oft, besoffen war und nicht besonders adäquat gegenüber der Realität handelte. Aber wirklich, Lukaschenko war sehr populär auch in Russland, selbst in Novosibirsk, also in einer Stadt mit einem akademischen Niveau wurde er begeistert aufgenommen, in der Universität und in der Akademie der Wissenschaften sogar mit Applaus. Wirklich, er war ganz populär in Moskau. Die Realität könnte also noch ganz anders aussehen, nämlich viel schlimmer als jetzt. Lukaschenko träumt immer noch, dass vielleicht . . . er bedauert sehr, dass Belarus keine Atomwaffen mehr hat. Sonst hätte er auch eine andere Sprache mit dem Westen gesprochen. Er hasst den Westen. Und er weiß, dass der Westen naiv ist. Der Westen ist unfähig zu handeln. Der Westen ist einfach beschäftigt mit bestimmtem Gerede. Und er hat keine Angst vor diesem Gerede. Publikumsfrage: Also, ich würde gern mal zum Rundumschlag ansetzen. Zum einen finde ich es sehr schade, dass wir bis jetzt noch keine weibliche Stimme gehört haben auf dieser Demokratiekonferenz. Und das andere betrifft die analytische Ebene: In der Kritik der Transformation haben wir bisher nur über die politische, über die staatliche Seite geredet. Wir haben hier immer nur von diesem dogmatischen Privatisierungsansatz gehört. Die Privatwirtschaft wurde bislang als alleiniger grundsätzlicher Ansatz für Zivilgesellschaft betrachtet. Also, ich würde mir insgesamt mehr Tiefe in der Kritik von Kapitalismus wünschen. WB: Das ist ja überall in Europa eine sehr berechtigte Frage, und nicht nur in Europa. In Polen hat sich die polnische Linke wegliberalisiert. Also, sie hat so grundsätzliche Schwenkungen vollzogen – zumindest was die NATO, Europäische
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Union, Marktwirtschaft, parlamentarische Demokratie betrifft. Die sozialistische Partei in Polen liegt so bei zehn Prozent in den letzten 2 Jahren, sie spielt also überhaupt keine Rolle und sie hat auch kaum so etwas wie Entwürfe, Alternativen entwickelt gegen das Dogma der liberalen Marktwirtschaft. Eine wirkliche Diskussion über die Frage, welchen Kapitalismus wir haben wollen, kann ich nicht feststellen. Und es ist vor diesem Hintergrund nicht sehr verwunderlich, dass wir in Polen derzeit wirklich nur zwei Parteien haben, die national-liberale und die national-konservative, wobei man noch hinzufügen sollte, um es noch komplizierter zu machen, dass die national-konservative durchaus in der Lage ist, im besten Sinne sozialstaatlich zu denken . . . Aber insgesamt ist die Antwort auf Ihre Frage: Aus Polen gibt es in dieser Hinsicht genauso wenig zu berichten, wie aus den meisten europäischen Ländern. Zumindest, im Augenblick. NZ: Ich habe auch, als ich mir das Programm anschaute, gemerkt, dass nicht viele Frauen bei den Rednern sind. Aber vielleicht ist das eine Auswirkung dessen, was in den letzten 20 Jahren passiert ist. Vielleicht waren vor 20 Jahren in der Spätphase des Sozialismus Frauen mehr im öffentlichen Leben dieser Diktatur präsent als dann in der Transformationszeit. Inzwischen ist das anders geworden. Das war auch in Kroatien so. In der sozialistischen Zeit hatten wir ein Viertel Frauen im Parlament, dann ging das zurück auf neun Prozent oder so. Inzwischen sind die Frauen wieder mit fast einem Viertel der Abgeordneten im Parlament dabei. Also, das ist vielleicht etwas, was man thematisieren sollte. Aber ich meine, ich kann dem Herrn einfach nur beistimmen, in der Tat ist es so, vielleicht hätten wir auch mehr Frauenstimmen hören sollen. Aber zur Kapitalismusdiskussion – ich glaube, wir brauchen eigentlich eher eine Diskussion in unseren Ländern, welche Art von Kapitalismus, welche Art von Marktwirtschaft, welche Art von staatlicher Steuerung wir brauchen. Wir sollten uns jedenfalls nicht irgendwelchen eher utopischen Projekten hingeben. Sicher, es gibt Vorstellungen zu einer alternativen Wirtschaft. Ich weiß, dass diese Frage auch in der ehemaligen DDR ziemlich populär war. Aber ich kann Ihnen sagen, zumindest aus meiner Sicht, ich habe mich damit beschäftig, sie funktioniert nicht. In diesem Sinne glaube ich, das Problem ist, dass wir sehr oft einfach die Rezepte, teilweise aufgedrängten Rezepte, von der Weltbank, vom Währungsfond einfach übernehmen. Und noch ein letzter Satz: Slowenien ist allerdings ein Beispiel, die nämlich haben keines dieser Rezepte akzeptiert. Die haben noch immer einen relativ hohen Anteil an staatlichen Firmen. Die haben viele Sachen nicht privatisiert, nicht in der Form, dass internationale Akteure, das heißt westliche Unternehmen, die Firmen übernommen haben. Und trotzdem sind sie wirtschaftlich sehr erfolgreich. Trotzdem, auch das ist eine Variante des Kapitalismus, es ist kein alternatives System.
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GH: Und wir sollten hier auch nicht eine Fundamentaldebatte über den Kapitalismus führen, wenn wir sozusagen damit immer Marktwirtschaft meinen. Das sollte man schon auseinanderhalten, denn Marktwirtschaft ist etwas anderes als reiner Kapitalismus. Da sollte man auch noch mal genau unterscheiden. Publikumsfrage: Einen schönen guten Tag, mein Name ist Elmar und ich bin eine Teilnehmerin aus Bosnien-Herzegowina. Ich würde mit meiner Frage gerne auch den Wunsch meiner Kollegen nach einer weiblichen Stimme erfüllen. Ich möchte den Gedanken des Professors aus Zagreb noch mal aufgreifen. Er sagte, dass die Berliner Mauer zwar gefallen ist – allerdings sei sie auf unsere Köpfe gefallen. Wie verstehen Sie das? Beziehungsweise, welchen Zusammenhang sehen Sie hier genau? Und eine weitere Frage noch: Haben die westlichen Demokratien in dem Balkankonflikt versagt, weil sie kein klares Konzept hatten angesichts der Spezifik unserer Probleme? Daran schließt die Frage an, ob Sie meinen, dass die EU oder die westlichen, die entwickelten Demokratien aktuell ein Konzept bzw. eine Strategie für die Zukunft des Balkan besitzen? NZ: Ich werde versuchen, telegrafisch zu antworten. Das ist natürlich eine Metapher. Sie bringt etwas zum Ausdruck, was wirklich eine tiefe Wahrheit ist. Nämlich dass Jugoslawien, wie es von 1945 bis 1991 existierte, wirklich nur in einem Europa der Blöcke existieren konnte. Und es gab einen Konsens zwischen den beiden Blöcken, dass Tito und sein Staat irgendwie unterstützt werden müsste. Nach 1990/91 wurde Jugoslawien zunächst zu einem eher marginalen Problem – so ungefähr wie offensichtlich auch Weißrussland. Ich meine, dass es damals kein Konzept gab. Ich glaube, man hätte nur das Destruktionspotenzial unter Kontrolle stellen sollen, so hätte man zum Beispiel die Waffen der Volksarmee nicht der einen oder anderen Seite zur Verfügung stellen sollen. Wir hätten einfach nicht den Krieg gehabt, so wie er dann passierte. Andererseits muss man natürlich ehrlich sagen, es ist unsere hausgemachte Krise. Bloß die Tatsache ist, dass keine entsprechenden Antworten von Außen kamen. Und ich muss da auch ein wenig pessimistisch auf Ihre letzte Frage antworten: Ich sehe auf Seiten des Westens oder der Europäischen Union eigentlich kein klares Konzept gegenüber dem Balkan. Es gibt natürlich das Versprechen seit Thessaloniki, alle sollen Mitglieder der Europäischen Union werden, aber da die EU sich inzwischen sehr mit sich selbst beschäftigt, ist die Zukunft eigentlich unklar. Kroatien wird es wahrscheinlich noch schaffen, aber wann Serbien oder Bosnien oder Kosovo EU-
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Mitglieder werden, ich fürchte, da wird man schon eher in den Dimensionen von Boris Nemzow denken müssen. Also, 2025 oder so. GH: Das hängt natürlich auch von der Entwicklung der jeweiligen Länder ab. Es geht ja nicht nur um rein finanzielle und wirtschaftliche Hilfe. Es geht auch um die Übernahme von normativen Kriterien. Publikumsfrage: An den Professor aus Zagreb. Und zwar haben Sie vorher von der zivilgesellschaftlichen Spaltung gesprochen und gesagt, dass die nationalistischen Tendenzen sich durchgesetzt haben in den postjugoslawischen Staaten. Mich würde interessieren, warum gerade diese Kräfte und weniger die demokratischen und liberalen Tendenzen sich durchsetzen konnten. NZ: Es gibt eine bestimmte Konfliktdynamik. Wenn sie Gruppen haben, die sich primär über ethnische, nationalistische Identitäten definieren, und wenn diese Gruppen ihre gegenseitigen Beziehungen – ich meine Bosnien ist vielleicht das beste Beispiel, noch stärker als Kroatien –, wenn also diese Gruppen ihre gegenseitige Beziehung als Hauptproblem definieren, dann werden alle anderen Initiativen und Probleme einfach durch die Dynamik der Beziehungen und des Konflikts letztlich marginalisiert. Das ist einfach so. Hätte man damals den Krieg verhindert und damit wahrscheinlich auch den Zerfall, hätte Jugoslawien es geschafft, sich zu einer Konföderation zu transformieren, wir würden heute eine völlig andere Geschichte haben. Und ich glaube nicht, dass eine Konföderation unmöglich gewesen wäre. Aber das ist jetzt einfach, sozusagen, counterfactual history. Es gab vielleicht eine Chance, so wie auch in Weißrussland. Die ist aber nicht genutzt worden. Ein letztes Wort über die sogenannten politischen Eliten. Ich denke, wir sollten keine Illusionen haben über die Zivilgesellschaft. Sie kann auch unschön und aggressiv und extremistisch sein, aber wir sollten vor allem keine Illusionen über politische Eliten haben. Ich meine, dass es wahrscheinlich stimmt, dass viele Eliten des sozialistischen Regimes sich hinübergerettet haben – mit Sicherheit in Russland, in Kroatien und in Slowenien. Das sind facts of live, ich meine, damit muss man leben. Die Bürger müssen Antworten darauf finden. Sie haben die Wahl, und ich bin sicher, dass jetzt nicht die Regularität der Wahlen angezweifelt werden sollte. Aber die Fakten sind, die Eliten sind da und wir müssen mit ihnen rechnen. Und vor allem würde ich sagen, die Tatsache, dass sich die Bürger sehr oft entfremdet fühlen von den Eliten, und das übrigens nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Westeuropa, eine Menge an politischem Populismus hervorruft. Wir sehen sowohl in Osteuropa als auch in Westeuropa immer mehr populistische Politiker,
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die Unterstützung finden. Und das empfinde ich als Politikwissenschaftler als ein großes Problem – aber auch als Bürger, der liberal-demokratisch orientiert ist. GH: So, noch eine Wortmeldung kann ich zulassen. Publikumsfrage: Ich habe eine Frage, die anknüpft an den Beitrag von Herrn Zakošek. Bei dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Deutschland hat man sich ja entschieden für den Weg der Aufarbeitung der SED-Diktatur. In Spanien zum Beispiel hat man sich nach der Franco-Diktatur für ein Konzept entschieden, das den Namen »Pakt des Vergessens« trägt. Man hat also einfach nicht mehr über die Vergangenheit gesprochen. Meine Frage: Gibt es Konzepte darüber, wie in Ihren Ländern mit der Vergangenheit umgegangen werden soll? WB: Die Diskussion hat es in Polen genauso gegeben wie in anderen Ländern. Angefangen hat es mit einem weitgehenden Konsens der Eliten, dass die Archive geschlossen bleiben sollen. Das war so die Anfangseinstellung. Es kamen aber sofort auch Zweifel gegenüber dieser Herangehensweise auf. Die wurden immer lauter im Verlauf der Jahre. Ende der 90er stellte sich heraus, die Mehrheit der Polen, um es mal ganz platt zu formulieren, will nicht, dass sie einen Nachbarn hat, der eventuell Spitzel war. Also, die Aktenöffnung, mehr oder minder nach deutschem Vorbild, war damit vorprogrammiert. Mit der zu erwartenden Folge, dass ein politisches Instrument, oder nein, eine öffentliche Einrichtung, sagen wir es ganz neutral, die in einen völlig anderen kulturellen Kontext hineingepflanzt wird, anders funktioniert. Es haben sich dann mehrere sehr lebhafte Auseinandersetzungen entwickelt. Je mehr die Akten zugänglicher wurden, desto umstrittener wurde die Aktenöffnung. Im Augenblick ist es so, dass sich die Lage beruhigt hat. Wir haben ein Institut des nationalen Gedenkens, das so in etwa mit der Birthler-Behörde vergleichbar ist. Die größten Diskussionen sind möglicherweise schon vorbei, aber man weiß es nicht. Auf jeden Fall, um das auf den Punkt zu bringen, dieses Modell, dass die Vergangenheit unterm Teppich bleibt, hat nicht funktioniert. NZ: Sie müssen sich vorstellen, dass wir nicht nur in Kroatien, sondern in allen postjugoslawischen Staaten, vielleicht mit Ausnahme Sloweniens, eine viel kompliziertere Lage haben. Nämlich, wir haben keinen Konsens über die letzten 60 Jahre unserer Geschichte und vor allem ist der Zweite Weltkrieg noch völlig unaufgearbeitet. Und das hat dazu geführt, dass die Konflikte über die Interpretation des Zweiten Weltkrieges völlig die Fragen der kommunistischen Diktatur überlagern. Teilweise wurden diese Konflikte aus dem Zweiten Weltkrieg jetzt durch die Fragen
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nach den Kriegsverbrechen im letzten Krieg überlagert. Die Klärung der Kriegsverbrechen im letzten Krieg ist jetzt eigentlich die größte Herausforderung. Hinzu kommt, dass das kommunistische Regime in Jugoslawien eher liberal war, natürlich gab es auch da Verbrechen, das ist aber thematisch sekundär, vor allem gegenüber der Frage der Kriegsverbrechen im letzten Krieg und im Zweiten Weltkrieg. GH: Ich danke Ihnen.
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Demokratie als mediale Präsenz? Öffentliche Kontrolle oder kontrollierte Öffentlichkeit – Erfahrungen mit der »vierten Gewalt« in Ungarn, Rumänien und der Ukraine
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Journalisten sind eine einflussreiche Berufsgruppe, vielleicht in mancher Hinsicht sogar die einflussreichste der Republik. Sie nehmen eine öffentliche Aufgabe wahr, faktisch sind sie die Vierte Gewalt im Staate – auch wenn ihnen verfassungsmäßig selbstverständlich nicht derselbe Rang zukommt wie der Exekutive, der Legislative und der Judikative. Journalisten als Vierte Gewalt – so jedenfalls beschreibt der Medienwissenschaftler Siegfried Weischenberg deren Status und Aufgabe. Das klingt nach Macht und Verantwortung, das klingt als seien wir Journalisten die Helden der Aufklärung, die Verteidiger der Demokratie, ohne die nichts richtig läuft im Staate. Ist das so? Und werden wir dieser Aufgabe tatsächlich gerecht? Ich werde mich diesen Fragen grundsätzlicher nähern. Wir erleben gegenwärtig einen tiefgreifenden »Strukturwandel der Öffentlichkeit«. Dieser Begriff stammt von Jürgen Habermas, er hat ihn bereits in den 60er Jahren geprägt. Aber ich glaube, es lässt sich auch heute noch gut mit ihm arbeiten. Strukturwandel der Öffentlichkeit heißt: Dass sich das Rezeptionsverhalten der Mediennutzer verändert, dass die ökonomische Verwertbarkeit von Medienprodukten neu verhandelt und gleichzeitig die kulturelle Wertigkeit von Medienprodukten in Frage gestellt wird. Das alles hat Auswirkungen auf die Rolle der Medien als Vierte Gewalt. Ich werde darauf noch im Einzelnen eingehen. Doch zuvor muss ja erst noch die Frage beantwortet werden, ob wir überhaupt noch so etwas wie eine Vierte Gewalt brauchen.
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Also, erste Frage: Ist diese Idee ein Auslaufmodell, weil eine Kontrollfunktion gar nicht mehr nötig ist? Es gibt keine Demokratie ohne kritische Öffentlichkeit und keine kritische Öffentlichkeit ohne freie Medien. Also gibt es auch keine Demokratie ohne Medien, die ihre Kritik- und Kontrollfunktion wahrnehmen und so Öffentlichkeit herstellen. Kritische Öffentlichkeit ist eine Voraussetzung der Demokratie, ist ihr Bestandteil und ihr Vehikel. Denn wenn alle Macht vom Volk ausgehen soll, muss dem Volk Information und Meinung zugänglich sein, muss es die Möglichkeit haben, sich im öffentlichen Raum zu verständigen. Eine kritische Öffentlichkeit ist deshalb ein unverzichtbares Lebensmittel für eine demokratische Gesellschaft, der Leitstern für die gesellschaftliche Verständigung, der Garant für politische und kulturelle Teilhabe. Für die Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil aus dem Jahre 1972 festgestellt, dass die freie geistige Auseinandersetzung ein Lebenselement der freiheitlichen, demokratischen Ordnung ist und für diese Ordnung schlechthin konstituierend. Denn jeder Mediennutzer ist ja zugleich Bürger, also mit dem Recht auf gesellschaftliche Teilhabe ausgestattet, auf Beobachtung des politischen Geschehens und auf Beteiligung an der Meinungsbildung. Nur im Rahmen einer kritischen Öffentlichkeit können diese Rechte von ihm wahrgenommen werden. Die öffentliche Kommunikation, stellt Jürgen Habermas fest, ist für die Meinungs- und Stimmungsbildung der Bürger eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft, und sie nötigt das politische System zu Transparenz und Anpassung. Die freie Berichterstattung hat für den Staatsbürger die Funktion eines Kompasses. Und durch Kritik und Kontrolle, also den vornehmsten und wichtigsten Aufgaben einer freien Presse, stellen Journalisten die öffentliche Kommunikation her und übernehmen als Vierte Gewalt, stellvertretend für die Bevölkerung, die Wächterfunktion gegenüber den Mächtigen. Deshalb ist es für autoritäre Regime geradezu zwingend, diese Wächterfunktion nicht zuzulassen, freie Berichterstattung zu unterdrücken und so zu versuchen, die wahren Verhältnisse zu verschleiern, zu verleugnen. Leider muss man feststellen, dass auch manch demokratischer Staat versucht, eine rigide Kommunikationskontrolle durchzusetzen. Zweite Frage: Lässt sich öffentliche Kommunikation nicht einfach im Internet herstellen? Bert Brecht hatte den demokratischen Traum, dass jeder Mediennutzer zugleich Sender und Empfänger sein kann. Man könnte doch eigentlich denken, dass sich dieser Traum mit dem Internet erfüllt hat. Mit dem Internet wurde nicht nur ein neues Medium eingeführt, das World Wide Web hat die Ordnung der Medien grundlegend verändert. Denn es hat die Produktionshoheit der klassischen Medien ausgehebelt und damit die öffentliche Kommunikation entscheidend demokratisiert. So braucht man im Netz zum Beispiel weder Druckerpres-
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sen noch Zustellsysteme. Niko Pfund, Leiter bei Oxford University Press, liefert eine hübsche Beschreibung für diesen Veränderungsprozess: »Früher begnügten sich die publizistischen Lieferanten mit der Methode ›Gartenschlauch‹«, sagt er. »Die Informationen flossen wie Wasser, das man durch eine direkte, in regelmäßigen Abständen auf- und zugedrehte Leitung in die jeweils gewünschte Richtung lenken konnte. Die neuen Medien aber«, so Pfund, »arbeiten nach einer Methode, die eher an die Ausbreitung von Pusteblumensamen bei starkem Wind erinnert.« Die Informationen, einmal in die Welt hinaus gesandt, verteilen sich auf vollkommen freie und chaotische Weise. Wunderbar, kann man da im Blick auf Öffentlichkeit nur sagen, denn Pusteblumensamen, vom Winde verweht, lassen sich nur sehr schwer einfangen und kontrollieren. Da müssen sich Kommunikationswächter und Unterdrücker schon richtig anstrengen. Doch der Vorteil des Internet ist gleichzeitig sein Nachteil, wenn es um die Frage der Vierten Gewalt, der Kontrolle der Mächtigen durch die Medien, um eine kritische Öffentlichkeit geht. Denn Pusteblumensamen muss man erst mal finden, wenn sie losgeflogen sind. »Im Internet«, sagt der Schweizer Verleger Michael Ringier, »wird zwar wahrscheinlich mehr kritisiert als in allen Zeitungen zusammen, nur, es interessiert niemanden. Da gibt es Blogs und persönliche Homepages und weiß der Teufel was nicht alles«, schimpft er, »nur, das findet niemand.« Die Entgrenzung des Journalismus im Netz, also Blogs, Bürgerjournalismus etc. wird als alternatives Konzept zum etablierten Journalismus gefeiert, als Forum der Gegenöffentlichkeit und zusätzliche Informationsquelle, als demokratisches Instrument, das jedem Schreibwilligen und auch jedem Schreibwütigen offensteht. Und wenn man weiß, dass viele repressive Regime, wie China zum Beispiel, ihren Unterdrückungsapparat zunehmend auf die Kontrolle der Internetszene konzentrieren, wenn man weiß, dass in manchen Ländern bereits mehr Netzaktivisten als Journalisten in Gefängnissen hocken – wenn man sich diese Entwicklung ansieht, dann ahnt man, wie sehr diese Regime das Web fürchten. Blogger und Bürgerreporter haben schon erstaunliche politische Diskussionen entfacht und einiges erreicht. Zum Beispiel die renommierte New York Times dazu gezwungen, ihre Kommentarregeln zu ändern. Aber kein Blogger und kein Internetaktivist ist irgendeinem handwerklichen Standard oder beruflichem Ethos verpflichtet. Er nimmt auch keine öffentliche Aufgabe wahr, die seine Pflichten regelt. Und es gibt auch keine wirkliche Selbstkontrolle im Netz. Deshalb kann zwar dieser entgrenzte Journalismus eine wichtige demokratische Funktion erfüllen und Öffentlichkeit herstellen, aber zur Rolle der Vierten Gewalt gehört mehr. Die kann das Web alleine nicht übernehmen, nur unterstützen. In einer hübschen Verschwörungstheorie haben zwei taz-Autoren einmal die Medienwelt 2015 beschrieben. Die Menschen, so fantasierten die beiden, haben Zugang zu einem früher nicht für möglich gehaltenen
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Umfang an Informationen. Jeder trägt irgendwie dazu bei, eine lebendige Medienlandschaft zu kreieren. Die herkömmliche Presse jedoch existiert nicht mehr. Nachrichtenmedien sind nur noch einsame Überbleibsel und die Vierte Gewalt ist verblasst. Dritte Frage: Können Medien ihre Rolle als Vierte Gewalt heute überhaupt noch wahrnehmen? Die Rolle als Vierte Gewalt bleibt fast ausschließlich den Qualitätsmedien überlassen. Bei anderen Medien – und das ist die Mehrzahl – stehen etwa Unterhaltung und Service im Vordergrund, nicht die Aufgabe zu informieren, zu orientieren und aufzuklären. Doch die Qualitätsmedien haben einen ganzen Sack voll Probleme, vor allem die Zeitungen, die nach wie vor der angestammte Ort für Kritik und Kontrolle sind. Denn Radio, Fernsehen oder Internet greifen noch immer hauptsächlich auf Zeitungen zurück, wenn es um recherchierte Information, hintergründige Analyse und fundierte Meinung geht. Zeitungen liefern noch immer den Großteil des Contents, den die anderen häufig nur weiter »verwursten«. Doch Zeitungen haben, wie gesagt, jede Menge Probleme: mit der Auflage, mit den Anzeigen, mit den Eigentümern, mit ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihrem Selbstverständnis. Zu Auflage und Anzeigen nur ganz kurz: Die Auflage deutscher Tageszeitungen sinkt pro Jahr um etwa zwei Prozent. Und das schon seit längerem. Noch immer lesen zwar an die fünfundsiebzig Prozent der Bundesbürger eine Zeitung, aber die Jüngeren ersetzen sie zunehmend durchs Internet oder finden erst sehr spät oder gar nicht mehr zum Zeitungslesen. Und was die Anzeigen angeht: Sowohl die Zeitungskrise 2001/2002 als auch die jetzige desolate Situation in der Wirtschafts- und Finanzkrise machen deutlich, wie sehr sich die Print-Medien auf die Finanzierung durch Werbeeinnahmen verlassen haben – und wie schnell sie am Ende sein können, wenn diese wegbrechen. Doch mit schrumpfender Leserzahl und versiegendem Anzeigengeschäft ließe sich leichter umgehen, wenn das Drama nicht noch ganz andere Bereiche erfasst hätte. Zeitungen werden weltweit gehandelt wie Wurst und Käse. Oder noch schlimmer: als Industrieware statt als Produkt mit ideellem Wert. Die Überzeugung, dass die Zeitung ein schützenswertes Kulturgut ist, ist den meisten der heutigen Besitzer ganz fremd. Sie sprechen zwar noch vom Kulturgut Zeitung, aber nur in Form von zumeist verlogenen öffentlichen Statements. Den klassischen Verleger alten Schlages, der seine Zeitung als öffentliche Institution begreift, gibt es kaum noch. Unter dem Einfluss von Finanzinvestoren und dem atemlosen Profitinteresse der Börse werden Zeitungen verschachert wie Rinderhälften und die Renditeerwartungen werden in absurde Höhen getrieben. Sieht man sich den deutschen Markt an, dann findet man vielleicht noch den einen oder anderen Verleger, der diesen Namen verdient. Aber die Konzentrationstendenzen im Regional- und Lokalbereich, die Zunahme von sogenannten Einzeitungskreisen, also von Gemeinden und Kreisen, wo es wirklich nur noch eine Zeitung gibt,
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die den Leuten zur Verfügung steht, die Höhe der Gewinne, die die Eigentümer aus dem Geschäft ziehen, ohne sie auch nur ansatzweise in die Qualität des Produkts und in Journalisten zu reinvestieren – alle diese Prozesse sind seit vielen Jahren zu beobachten und sie verheißen nichts Gutes. Schauen Sie sich nur mal das Schicksal der Berliner Zeitung an. Sie wurde 2005 von Gruner + Jahr an die Heuschrecke Montgomery verkauft. Die Zeitung war profitabel, aber das reichte Montgomery nicht. Er wollte fünfundzwanzig Prozent Rendite herausholen. Also wirtschaftete er die Zeitung per Sparmaßnahme herunter und demotivierte so die Mitarbeiter. Als die erhofften Gewinne ausblieben – und gleichzeitig sein Medienimperium zu wackeln begann – brauchte er die »Kohle«. Da hat er also die Berliner Zeitung im vergangenen Jahr an den Kölner Verleger Neven DuMont verdealt. DuMont freut sich, weil er jetzt viele sogenannte Synergieeffekte erzeugen kann, zusammen mit der Frankfurter Rundschau, denn die gehört ihm auch. Und das heißt, dass das Leiden für die Berliner Zeitung noch längst nicht vorbei ist, dass sie immer mehr an Eigenständigkeit, Manpower und wahrscheinlich auch an Qualität einbüßen wird. Denn Qualität kostet Geld, Personal und Zeit. Und nur wenn ein Verleger bereit ist, dies zu investieren, können Journalisten ihre Kritik- und Kontrollfunktion ausüben. Wie denn sollen sie noch halbwegs vernünftig ihren Job im Sinne der Vierten Gewalt erfüllen können, wenn sie von den Arbeitsbedingungen geknechtet und dem Primat der Ökonomie unterworfen werden? Vierte Frage: Wollen denn die Medien ihre Aufgabe als Vierte Gewalt überhaupt noch wahrnehmen? Für den Kommunikationswissenschaftler Heinz Führer ist die Informationsfunktion der Medien untrennbar mit Kritik und Kontrolle verbunden; vermittelt über diese Aufgaben wirken die Massenmedien bei der Normenfindung und Normenkontrolle der Gesellschaft mit. Das klingt prima. Die Frage ist nur, ob die Medienmacher das auch wissen bzw. was sie in der Praxis daraus machen. Und da zeigt sich eine interessante und nicht sehr erfreuliche Diskrepanz: Während in der Medientheorie die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien ganz oben auf der Prioritätenliste steht, möchte sich der real existierende Journalist allzu häufig von dieser Bürde befreien. Eine Studie der Universität Hamburg, die in regelmäßigen Abständen wiederholt wird, zeigt, dass sich die deutliche Mehrheit der deutschen Journalisten zwar den Standards der Informationsvermittlung verpflichtet fühlt. Kritik und Kontrolle aber – also die Aufgabe der Vierten Gewalt – hat für sie nur nachrangige Bedeutung. Rund sechzig Prozent der Journalisten wollen zwar Kritik üben, aber nur dreißig Prozent wollen die Kontrollfunktion wahrnehmen, also nur jeder dritte Journalist. Nun verstehe ich zwar nicht, wie man kritisieren will, ohne gleichzeitig zu kontrollieren, für mich gehört das einfach zusammen. Aber mal abgesehen von diesem zweifelhaften Kunststück, das manche Kollegen meinen vollbringen zu können, sagt das nichts Erfreuliches über unser journalistisches
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Selbstverständnis aus. Mehr noch, unter demokratietheoretischen Überlegungen finde ich diese Haltung von Journalisten geradezu skandalös. Darüber hinaus entzieht sie dem Journalismus auf Dauer seine wahre Existenzberechtigung. Allein der Informationsauftrag rechtfertigt nicht im mindesten die vielen gesellschaftlichen Privilegien, die Journalisten genießen – bis hin zum verfassungsrechtlichen Schutz ihrer Arbeit. Denn diese Privilegien wurden Journalisten übertragen, damit sie ihre Aufgabe als Vierte Gewalt wahrnehmen können, also Kritik und Kontrolle zu üben und eben nicht nur Informationsvermittlung zu betreiben. Fünfte Frage: Gibt es neben der öffentlichen Kontrolle durch Medien etwa auch die Kontrolle der Öffentlichkeit durch die Medien? Können Medien also zum Zensor werden? Dazu Siegfried Weischenberg: »Die Leistung von Journalisten ist gemeint, wenn von den Medien die Rede ist. Und das gilt nicht immer als Kompliment. Da schimmert ein Manipulationsverdacht durch, Angst vor einem nicht legitimierten Einfluss und Ärger über Aussetzer einzelner Berufsvertreter.« Der Manipulationsverdacht, den Weischenberg hier äußert, ist durchaus berechtigt, denn zweifellos kontrollieren Medien ein ganzes Stück auch die Öffentlichkeit. Es dürfte mittlerweile niemandem verborgen geblieben sein, wie Politik und Wirtschaft, Oligarchen und Mogule versuchen, die Öffentlichkeit über Medien zu kontrollieren. Indem sie Medien kaufen, Monopole bilden, durch Zensur, durch Druck, Bedrohung, Bestechung und Manipulation. Nicht umsonst gibt es in Russland das Sprichwort, »ein unabhängiger Journalist ist entweder ein arbeitsloser oder ein toter Journalist«. Nun sieht es in Deutschland sicher insgesamt besser aus. Im aktuellen Ranking von »Reporter ohne Grenzen« sind wir immerhin von Platz 20 auf Platz 18 vorgerückt –, was immer noch eine äußerst peinliche Platzierung ist, wie ich meine. Doch sie hat ihren Grund. Denn auch bei uns stellen sich Medien und Journalisten nicht nur in den Dienst der Öffentlichkeit, indem sie auswählen und Orientierung geben, nein, sie versuchen weit darüber hinaus auch, die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang heißt: Agenda-Setting. Wer es schafft, ein Thema in die Öffentlichkeit zu bringen – also die Agenda zu bestimmen – und den Inhalt auch noch in seinem Sinne auszudeuten, der hat schon gewonnen. Denn kaum ist eine interessante, brisante, wichtige Sache in der Welt ziehen meist alle anderen Medien in der Berichterstattung nach. Und dann kann es passieren, dass die ganze Republik nur noch über ein Thema redet. Tritt das ein, hat das Agenda-Setting prima geklappt. Dabei kann es sich bei dem Thema um etwas so Albernes handeln wie Schröders Haarfarbe oder um Wichtiges wie den Schuldenhaushalt. Den Betroffenen, häufig Politikern, bleibt gar nichts anderes übrig als irgendwie zu reagieren und der öffentliche Diskussion hinterherzuhecheln. Oder sich manchmal eben auch wie eine Sau durchs Dorf treiben zu lassen. Deshalb versuchen eben nicht nur Medien ihr Agenda-Setting zu betrei-
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ben, sondern eigentlich alle gesellschaftlichen Akteure: Politiker und ihre Spindoktoren, Wirtschaftsvertreter und Lobbyisten, Verbände und Vereine etc. Denn wer es schafft, ein Thema öffentlich zu besetzen und mediale Berichterstattung zu erzwingen, verdrängt damit zugleich vieles andere aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Mit Aufklärung, mit Verantwortung als Vierte Gewalt hat das häufig gar nichts zu tun. Eher mit interessengeleiteter, regulierter Kommunikation und Öffentlichkeit. Da geht es um Deutungsmacht und das Durchsetzen von Macht. Da geht es um Aufmerksamkeitsökonomie, Auflagenzahlen, Einschaltquoten und Klicks. Medien als Vierte Gewalt, das ist ein großes Wort. Ein Idealbild, sicher, aber eben auch ein erstrebenswertes Ziel. Ein Ziel, das manche Machthaber versuchen, brutal zu verhindern und das viele Journalisten weltweit ihr Leben gekostet hat. Als westliche Medienmacher sind wir in der Regel in einer Luxusposition. Deswegen muss uns eines klar sein: Es nützt wenig, wenn wir unsere Vorstellungen von Pressefreiheit, Öffentlichkeit und Vierter Gewalt umstandslos auf andere Länder übertragen. Diese paternalistische Haltung legen wir ja zuweilen gerne gegenüber den osteuropäischen Ländern an den Tag. Wenn Vierte Gewalt wirklich funktionieren soll, muss sie in jedem einzelnen Land selbst erstritten und erkämpft werden. Nur dann hat sie eine Zukunft und kann ihre Aufgabe, die Mächtigen zu kontrollieren, wirklich erfüllen.
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Über Einschränkung von Medienfreiheit und Medienpluralismus in Westeuropa Die gefährdete Freiheit der Presse und der gefährdete Pluralismus der Medien, genau diese Themen standen vor zwei Tagen im Europäischen Parlament auf der Tagesordnung. Es gab einen fraktionsübergreifenden Antrag der Grünen, der Liberalen und der Sozialisten, der die Gefährdung der Pressefreiheit in einem bestimmten Land thematisierte. Aber um welches Land ging es in dem Antrag? Um Usbekistan? Kasachstan? Weißrussland? Nein. Der fraktionsübergreifende Antrag galt einem Gründerstaat der Europäischen Union, nämlich Italien. Die Parlamentarier forderten eine Resolution, in der die Lage der Pressefreiheit in Italien als besonders alarmierend bezeichnet wird. Die Politiker warfen und werfen Premierminister Silvio Berlusconi einen anhaltenden Interessenkonflikt zwischen seinem Medienbesitz und politischer Kontrolle qua Amt vor. Nach ihren Angaben stammen mehr als neunzig Prozent aller Fernsehprogramme, die die sehr fernsehaffinen Italiener sehen, aus entweder den Sendern Berlusconis oder vom Staatsrundfunk RAI. Wenn sich die Parlamentarier durchgesetzt hätten, wäre in der Folge die EU-Kommission aufgefordert worden, Vorschläge für den Schutz des Medienpluralismus in der EU zu erarbeiten. Der Antrag ist gescheitert am Veto der Konservativen. Und auch die Kommission hätte sich vermutlich schwergetan, eine solche Vorschrift zu verfassen, die parallel in zwei Rechtsfragen eingreift, nämlich in die Medienfreiheit und dann auch in Fragen des Wettbewerbs. Das sind grundsätzlich Angelegenheiten der Nationalstaaten, die unter die Kontrolle der nationalen Regulierer oder im Zweifelsfalle unter die der Wettbewerbskommissionen fallen. Bereits vor 2 Jahren legte die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf vor, der festsetzte, dass die nationalen Regulierer zwar unabhängig sein müssen, aber keine Kontrolle über den Medienpluralismus haben dürfen. Den sollen und müssen, wie hier in Deutschland, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gewährleisten. Ich halte es auch für eine wichtige Stütze unseres System, unserer Demokratie, dass es in Deutschland Einrichtungen wie die KEK, die Kommission zur Ermittlung der Konzentration
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im Medienbereich, gibt, die gerade erst letzte Woche davor gewarnt hat, das Medienkonzentrationsrecht zu lockern, nur weil es einige Landesregierungen gerne so hätten. Meiner Meinung nach muss generell der Grundsatz gelten, dass die Nationalstaaten gerade auf dem Mediensektor Selbstregulierungskräfte walten lassen, sowohl was den Wettbewerb als auch was die Vielfalt der Medien angeht. Das muss in Europas Staaten grundsätzlich möglich sein, zumal sie auf Demokratie und sozialer Marktwirtschaft beruhen und dort meiner Meinung nach genug Nachfrage besteht nach vielfältigen, qualitativ anspruchsvollen Medien. Sehen wir uns mal etwas genauer den jüngsten Bericht der Organisation »Reporter ohne Grenzen« an. Es ist wirklich aufschreckend: Dort heißt es nämlich, dass Europa nicht länger als ein Vorreiter in Sachen Medienfreiheit und Medienpluralismus gelten kann. Explizit weist die Untersuchung auf Verstöße gegen die Pressefreiheit und Medienvielfalt ausgerechnet im alten Europa hin. In Ländern mit einer langen demokratischen Tradition, wie zum Beispiel in unserem Nachbarland Frankreich. Frankreich rangiert nur auf Platz 43 des Press Freedom Index. Also, Frankreich rangiert ungefähr auf der selben Höhe oder Tiefe mit Ländern wie Mali oder Südafrika. Der Grund: Polizeieinsätze, Durchsuchungen in Redaktionen, Verhaftungen von investigativen Journalisten. Und nicht zu vergessen, die ungerührt zur Schau getragene Nähe zwischen Präsident Nicolas Sarkozy und einflussreichen Zeitungs- und Magazinherausgebern, die ihren Journalisten auch gern mal Maulkörbe verpassen. Ein anderes Beispiel für Einschränkung von Medienfreiheit und Medienpluralismus stellt Italien dar. Berlusconi kontrolliert durch sein Imperium Mediaset den italienischen Fernsehmarkt weitestgehend, ob nun zu 70, 80 oder 90 Prozent, fest steht auf jeden Fall, dass er keine Konkurrenten mehr hat. Damit verstößt er übrigens selbst gegen seine eigenen Gesetze, denn der Regulierungsbehörde zufolge darf ein Anbieter nicht mehr als 20 Prozent aller übertragenen Programme kontrollieren. Ein anderes Beispiel ist Spanien, wo dem sozialistischen Regierungschef José Luis Zapatero ein gezielter Schachzug vorgeworfen wird, und zwar im Zusammenhang mit der gesetzlichen Neuordnung des Pay-TV-Marktes. Nach Meinung von Kritikern wurde ein Gesetz so angelegt, dass es einem bestimmten Medienunternehmen eine übermäßige Machtfülle ermöglicht. Dieses Medienunternehmen steht seit geraumer Zeit jedoch seltsamerweise Zapatero sehr nahe. Der Vollständigkeit halber möchte ich aber kurz auf einige Länder im Osten hinweisen, die auch explizit im Index vorkommen, etwa Kroatien, wo Reporter, die beispielsweise im Bereich der organisierten Kriminalität recherchieren, ihre eigenen Todesanzeigen in der Zeitung zu lesen bekommen und kurz darauf mit Baseballschlägern fast zu Tode geprügelt werden.
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Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Journalisten Ivo Pukanić, er war der Verleger des Magazins National, der vor einem Jahr bei einem Autobombenanschlag in Zagreb zu Tode kam. Ein weiteres Beispiel ist Bulgarien, wo auch Journalisten physisch bedroht werden, wo Zeitungen wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden, wo die organisierte Kriminalität direkt in Berichterstattungen eingreift und wo der Geheimdienst nachweislich Telefongespräche von Reportern abgehört hat. Rumänien, wo vor dem EU-Beitritt am 1. Januar 2007 mühsam, sehr mühsam, viele, viele Gesetze durchgeprügelt wurden, unter anderem auch das Thema Medienfreiheit betreffend, die jetzt sukzessive wieder zurückgedrängt werden. Diese Beispiele machen deutlich, dass wir nicht nur auf sogenannte Transformationsländer an den Rändern Europas schauen dürfen, wenn wir die Frage nach den Medien als Vierter Gewalt stellen. Zum Abschluss möchte ich in diesem Kontext noch kurz auf zwei weitere Themen eingehen, nämlich das Internet und die Wirtschaftskrise. Die Wirtschaftskrise erfasst alle Bereiche und ganz besonders auch die Medien. Wir können nicht von der Hand weisen, dass das, was manche Verlage als Synergieeffekte bezeichnen, im Alltag schlicht und einfach Arbeitsverdichtung bedeutet. Was vor kurzer Zeit noch drei Redakteure geleistet haben, leistet heute einer allein. Und darunter leidet auch die Qualität, denn die Zeit zur Recherche wird immer kürzer. Ich glaube aber trotzdem, dass man weiter guten und qualitativ hohen Journalismus machen kann, denn die Branche stellt sich um, Journalisten konzentrieren sich mehr auf Einzelthemen, weil sie die Vielzahl von Themen sowieso nicht abdecken können. Und ich glaube auch, dass die Konsumenten, sich immer stärker gezielt die Informationen suchen, die sie wirklich interessieren. Und damit wäre ich beim Thema Internet angelangt. Das Internet eröffnet auch der Demokratie unendliches Potential. Es ermöglicht dem Bürger viel stärker als je zuvor den Zugriff auf Informationen und auch auf interaktive Kommunikation. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an ein sehr erfolgreiches Modell: den millionenfach genutzten Wahl-o-mat. Aber auch das Internet prägt die Wirtschaftskrise. Das berühmte Copy-Paste ist dafür verantwortlich, dass falsche Informationen, weil sie aus Personalmangel nicht überprüft werden, in Sekundenschnelle durch die virtuelle Welt gejagt werden. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist das Copyright, der Urheberschutz. Das ist allerdings ein riesiges Problem, bei dessen Lösung wir erst ganz am Anfang stehen.
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Prof. Dr. Máté Szabó, Eötvös Loránd University of Budapest [MS] Prof. Dr. Bogdan Murgescu, Universität Bukarest [BM] Mykola Rjabtschuk, Essayist, Ukraine [MR] Gesprächsleitung: Prof. Dr. Everhard Holtmann, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg [EH]
Everhard Holtmann: Meine Damen und Herren, ich darf die nachmittägliche Runde eröffnen. Es geht im Rahmen unseres Generalthemas um die Frage: Demokratie als mediale Präsenz – öffentliche Kontrolle oder kontrollierte Öffentlichkeit? Und wir werden sicherlich etwas konkreter, etwas empirischer, als wir das bisher haben tun können, Erfahrungen mit der jeweiligen vierten Gewalt in Ungarn, Rumänien und der Ukraine diskutieren können. Ich darf Ihnen die Teilnehmer des Podiums vorstellen: Es ist mir eine Freude zunächst Kollegen Herrn Máté Szabó begrüßen zu dürfen. Herr Szabó ist an der Loránd Universität Budapest Professor für Politikwissenschaften. Er ist geboren 1956, hat 1980 an der Budapester Universität promoviert, danach etliche Lehr- und Forschungstätigkeiten erfüllt, 1995 hat er sich habilitiert und ist seither als Professor an der Eötvös Loránd tätig. Seit 1996 auch Doktor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Was ihn für unsere Diskussion und unser Thema heute ganz besonders interessant macht: Herr Máté Szabó ist seit 2007 Bürgerbeauftragter des ungarischen Parlamentes, Bürgerbeauftragter für Menschenrechte. In dieser Funktion hat er auch Publikationen vorgelegt. So gibt es einen »Report on the Activities of the Parlamantary Commissioner for Civil Rights in the Year 2008« und auch die Publikation »Human Rights and Civil Society in Hungary 1999– 2008« beschäftigt sich mit besagtem Thema. Ich begrüße Herrn Bogdan Murgescu, Direktor des Zentrums für administrative, kulturelle und wirtschaftliche Studien an der Universität Bukarest. Dort selbst wurde er 1963 geboren. Studium der Geschichte und Philosophie, Promotion in Geschichte. Mit unserem Lande ist er insofern näher vertraut, als er ein mehrjähriges Roman-Herzog-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung verliehen bekommen hat. Er war am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin tätig. Seit 2000 ist er auch Gastprofessor an der Pittsburgh-University und an der Central
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European University in Budapest und erfüllt dort zahlreiche ehrenamtliche und wissenschaftliche Funktionen. Und last but not least begrüße ich aus der Ukraine Herrn Mykola Rjabtschuk. Von der Profession her Essayist. Er ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ungarischen Zentrum für Kulturstudien in Kiew, Mitbegründer und Redakteur des Monatsmagazins Krytika. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel über die Zivilgesellschaft, über Themen wie Staats- und Nationbuilding, Nationalismus, nationale Identität und über postkommunistische Transition in den postsowjetischen Staaten. Einige seiner Bücher wurden auch in andere Sprachen übersetzt. Meine Herren, liebe Kollegen, ich darf Sie noch mal ausdrücklich und sehr herzlich hier in dieser Runde begrüßen. Und ich denke, dass wir aus den beiden Impulsreferaten eine ganze Reihe von Stichworten schon mitbekommen haben. Wir haben feststellen können, und das war auch eine Botschaft aus den beiden vorangegangenen Referaten, dass die Wächterfunktion der Medien und auch die Bedrohung dieser Wächterfunktion weder ein Alleinstellungsmerkmal des neuen noch des alten Europa ist, sondern dass solche Bedrohungsszenarien, solche Bedrohungstendenzen europaweit anzutreffen sind, wenn auch in unterschiedlicher Gestalt und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Wir haben uns darauf verständigt, dass Sie jeweils zunächst ein Statement halten und wir dann in den Dialog treten. Bitte Herr Szabó, wenn Sie so nett sind anzufangen. Máté Szabó: Recht schönen Dank für die Einladung zu dieser erstmaligen Demokratiekonferenz in Leipzig. In Leipzig war ich noch nie, jedenfalls nicht aus beruflichen oder universitären Gründen. Allerdings habe ich über 4 Jahre in Deutschland als Humboldt-Stipendiat oder Gastprofessor in unterschiedlichen Städten, auch der östlichen Bundesländer, verbracht, aber hier in Leipzig war ich bisher nur als Tourist. Also, es ist für mich sehr erfreulich, gerade bei dieser Festkonferenz dabei sein zu dürfen, in der auch an die gemeinsame, an die ungarische und die ostdeutsche Vergangenheit und an die gemeinsame Befreiung, oder besser gesagt, solidarische Befreiung von dieser Vergangenheit und dem alten System, erinnert werden soll. Zum Thema: Die kontrollierte Öffentlichkeit ist eine Erfahrung, die ich den Bürgern der ehemaligen DDR nicht zu erklären bzw. zu interpretieren brauche. Dasselbe haben wir in Ungarn und den anderen Ostblockländern erlebt. Die kontrollierte Öffentlichkeit war quasi eine Pseudoöffentlichkeit. Das war eine manipulierte, kontrollierte und zentral verwaltete Öffentlichkeit. Dieser »Öffentlichkeit« standen die Konterinstitutionen, die Parallelinstitutionen gegenüber. Ich nenne nur die zwei russischen Worte, die sicher für die jüngere Generation nicht mehr so einfach zugänglich sind wie für die ältere, also: Samisdat, сам и издательство, übersetzt, Selbstverlag. Das mit den Selbstverlagen hat begonnen in den 60er Jah-
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ren, und es bedeutete vor allem, kopieren, allerdings nicht mit Kopiergerät, sondern mit Hand, kopieren der Manuskripte von Dissidenten wie etwa die von Solschenizyn. Nachher kamen die Kopiergeräte. In Ungarn wurde jedes einzelne Kopiergerät von der ungarischen Stasi kontrolliert, es wurde genau registriert wie viel Kopien gemacht wurden und für welchen Zweck. Nichtsdestotrotz, es war Mitte der 80er Jahre, ich hatte zu diesem Zeitpunkt begonnen, mich mit der Opposition in der ungarischen Szene zu beschäftigen, und war sehr verblüfft darüber, dass in Ungarn fast jede Bürgerinitiative oder Oppositionsgruppe irgendwoher regelmäßig kopierte Samisdat-Ausgaben zur Verfügung gestellt bekam. Also, trotz dieser öffentlichen Kontrolle ging einiges. Wie, das ist ganz interessant: Teilweise standen zum Beispiel Künstler dahinter, also die Öffentlichkeit der Künstler bzw. die der Künstlernetzwerke. Andererseits gab es in Ungarn auch materielle Interessen bei den staatlichen Druckereien, die eigentlich streng kontrolliert wurden, allerdings haben sie für private Gewinne auch schon mal Pornografiekalender und Pornografieliteratur schwarz gedruckt, aber eben auch Samisdat-Literatur – für gute Bezahlung selbstverständlich. Der andere russische Name ist Tamisdat, там и издательство, heißt soviel wie »außerhalb des Landes herausgegeben bzw. veröffentlicht« zum Beispiel bei Radio Free Europe, Voice of America oder bei den verschiedenen Emigrantenverlagen. Die Bundesrepublik und die DDR waren einander nah genug. Und ich erinnere mich an eine statistische Zahl, in den 60er Jahren hat die Aufkommensdichte von Fernsehapparaten in der DDR die von Frankreich übertroffen. Und an diesen Fernsehapparaten hat man die bundesrepublikanischen Medien verfolgt. Also, Tamisdat-Ausgaben waren kein größeres Problem für die Deutschen, denn bei ihnen gab es genügend elektronische Mediennetzwerke, um entsprechende Dokumente und Publikationen relativ schnell zu veröffentlichen. Dem stand die Realität der staatlich gelenkten Massenmedien gegenüber. Erstaunlicherweise hat in Ungarn in den 80er Jahren ein Erosionsprozess begonnen, also ich kann natürlich nicht die ganze ungarische Transition erzählen. Sie wissen, dass die ungarischen Reformkommunisten relativ früh Öffnungen und Konzessionen gemacht haben. Und es ist ganz interessant, wie das jeweils in die Medien gekommen ist. Meist haben die Spätnachtprogramme die nichtkonventionellen Inhalte zuerst veröffentlicht. Die Nachrichten in den Zeitungen, immer mit kleinen Buchstaben, nie mit großen und natürlich nie auf der Hauptseite. Der Rundfunk war relativ früh für kritische Inhalte geöffnet. Nach 1989 hat man sich in einer völlig neuen Situation befunden, es kamen die unterschiedlichen westlichen Vorbilder auf uns zu, so die der Bundesrepublik Deutschland, Großbritanniens. Jedenfalls, das Modell der öffentlichrechtlich geregelten Medien wurde zur Leitidee schlechthin. Nun, aber was war die Realität? Gegenüber der ehemaligen Dichotomie von Staat und Zivilgesellschaft
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haben halt alle oppositionellen Strömungen dem Machtapparat relativ vereinigt Widerstand geleistet. Also, wir haben keine so großen Regenschirm-Organisationen wie Solidarność oder Neues Forum oder Bürger gegen Gewalt gehabt, sondern von vornherein eine relativ differenzierte politische Landschaft. Schon seit den 70er Jahren gab in der Opposition relativ große politische Unterschiede, so gab es die nach Westeuropa orientierten liberal-demokratische Strömungen und dann noch die nach, nicht nach Russland, sonder an ungarischen Traditionen orientierten Populisten bzw. Volkstümler, also die national gesinnten oppositionellen Richtungen, die national und konservativ Gesinnten. Und die zwei Lager haben sich im Laufe der Wende recht schnell in unterschiedlichen Parteien organisiert. Aber kaum jemand wusste, wie schafft man nach so einer Transformation eine ausgeglichene, gerechte Öffentlichkeit. Man hat eine Übergangsregelung versucht: Für ein Jahr zwei unabhängige Sozialwissenschaftler, einen als Präsident für den Rundfunk, einen als Präsident für das Fernsehen einzusetzen. Die Übergangsregulierung hat ungefähr 3, oder, je nachdem, wie man es interpretiert, 6 Jahre gedauert. Das Mediengesetz ist 6 Jahre nach der Wende zustande gebracht worden. Es gab allerdings einen erbitterten Konflikt um die Massenmedien, um die Kontrolle der Massenmedien. Sowohl die rechts-mitte-orientierte Antall-Regierung als auch die sozialliberale Opposition haben versucht, aus dieser Übergangsregulierung das Beste rauszuholen. Natürlich, die Regulierung war in der Machtposition und durch eben ein Machtwort hat man die Übergangspräsidenten abgesetzt – und damit eine Büchse der Pandora geöffnet. »Medienkrieg« hat man das in der ungarischen Öffentlichen genannt, Medienkrieg zwischen linken und rechten Kräften. Das 1996 gemeisterte Mediengesetz, das Strukturen aus den entsprechenden Gesetzen in Deutschland und Großbritannien enthält, wurde aber von vornherein aus den unterschiedlichsten Gründen kritisiert. Ich nenne hier nur einen einzigen Kritikpunkt, der die Schwäche und Probleme der Zivilgesellschaft deutlich aufzeigt. Um parteipolitische Kontrolle zu vermeiden oder wenigstens zu dämpfen, hat das Mediengesetz vorgeschlagen, dass man bei der Wahl der Präsidenten der einzelnen Kanäle auch zivilen Organisationen eine Stimme geben sollte, also nicht nur den politischen Parteien, sondern auch zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Präsidenten sollten ähnlich wie in der klassischen athenischen Demokratie ausgelost werden – in Athen hat man ja die Beamtenpositionen und auch die Richterpositionen per Losverfahren vergeben. Das klassische Argument von Platon und Aristoteles gegen diese athenische Demokratie, lautet, das dieses Verfahren die Herrschaft des Zufalls begünstigt, aber nicht die Herrschaft des Volkes. Aber weiter zu Ungarn, die zivilgesellschaftlichen Organisationen sollten sich melden und in eine Liste eintragen lassen, dann sollte von dieser Liste eine der Organisationen ausgelost werden, die dann zum Medientisch delegiert wird. Es hat
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sich in den letzten, fast 15 Jahren herausgestellt, dass diese Organisationen, die per Zufall in diese Machtposition gekommen sind, völlig von den politischen Parteien vereinnahmt, manipuliert wurden. Dieses zivilgesellschaftliche Gremium sollte eigentlich zwischen zwei großen Parteien vermitteln, aber es ist nur pseudounabhängig. Es gibt noch sehr viele Kritikpunkte an dieser Medienregelung, aber selbst nach 13 Jahren hat man es nicht geschafft, eine neue Regelung zustande zu bringen – obwohl mehrere Ausschüsse ins Leben gerufen wurden. Also, die Realität, die Besitzverhältnisse und Marktmechanismen, na ja, da kann man sagen, Arturo Ui ist auch nicht weit weg von Ungarn. Im Fernsehen, in den elektronischen Medien gibt es einen Prozentsatz, der für ungarische Eigentümer vorgesehen ist. Aber bei den Zeitungen ist fremdes Kapital hundertprozentig zugelassen. Nichtsdestotrotz gibt es von ungarischen Investoren beherrschte und kontrollierte Medien. Ein Eigentümer wurde auf offener Straße getötet, während der Autofahrt von einem professionellen Killer. Also, das ist eine sehr gefährliche Branche. Das ist noch nicht vergleichbar mit der Realität in der Ukraine oder in der Sowjetunion, wo Journalisten verprügelt werden, aber es besteht bei uns eine verschärfte Marktsituation, in der sich die wirtschaftlichen und politischen Interessen immer mehr in den sogenannten »freien Medien« durchsetzen. Also, das Fazit lautet, die ungarische Medienlandschaft ist enttäuschend, wenn man sie an Ideen von einer kritischen Öffentlichkeit und vierten Gewalt misst. Aber wenn man an die Realität der kontrollierten Medien aus der Vorwendezeit denkt, dann haben wir geradezu eine freie Welt, eine Welt des Pluralismus. Jemand hat mich gefragt, ob ich ein optimistisches oder pessimistisches Bild von den ungarischen Medien malen werde. Ich würde sagen, das Glas ist halbleer bzw. halbvoll. Da gibt es viel in dem Glas, verglichen mit der Situation vor der Wende. Aber es gibt auch teilweise politische Machtinteressen und teilweise wirtschaftliche Interessen, die versuchen den Medienpluralismus in ihrem Sinne zu missbrauchen. Aber das Recht, die Verfassungsgerichte sind nicht machtlos – aber auf dieses Thema kommen wir vielleicht noch zurück. EH: Danke Herr Szabó für diese Tour de Raison. Wir werden sicher den einen oder anderen Aspekt noch einmal aufnehmen. Herr Murgescu, war der Samisdat-Druck, Herr Szabó nannte ihn eine Form untergründiger Gegenöffentlichkeit, für die Situation in Ihrem Lande auch bedeutsam? Hat das eine Rolle gespielt bei der Herausbildung freier Medien? Bogdan Murgescu: Ja, also in vielerlei Hinsicht, ja. Ich will aber zunächst sagen: Vielen Dank für die Einladung und für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen, umso mehr da ich kein Medienexperte bin, sondern
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eher ein engagierter Bürger mit einem historischen Fachwissen. Und ich will mit dieser historischen Perspektive auch beginnen. Wenn man die Situation vergleicht, die jetzt existiert, mit derjenigen vor 1989, zum Beispiel mit den 80er Jahren unter Ceauşescu, da fällt der Unterschied sehr groß aus. Ich würde schon sagen, die Pluralität in der Medienlandschaft ist mittlerweile hervorragend ausgebildet. Denken Sie nur daran, dass in Rumänien die ganze gedruckte Presse direkt oder indirekt der Partei unterstellt war. Wir hatten zwei Stunden Fernsehprogramm in den 80er Jahren, und das war alles. Und nur mit illegalen Mitteln konnten wir es schaffen, ein wenig die westlichen Sender zu hören oder ein wenig bulgarische oder ungarische Fernsehsender anzugucken. Jetzt gibt es eine große Vielfalt. Vielleicht für den rumänischen Markt eigentlich schon eine zu starke Zersplitterung, würde ich behaupten. Wir haben sieben generalistische, nationale Fernsehsender, über dreißig nationale Nischenfernsehsender, etwa einhundert regionale Sender. Auch die Radiolandschaft ist groß. Die Presse ist auch frei, eigentlich, würde ich sagen. Hier muss man aber auch Historisches einbringen. Also, prinzipiell ist die Presse seit der Revolution von 1989 frei. Diese Freiheit kam aber nicht von einem Tag zum anderen. Sie hat sich allmählich durchgesetzt. Eine Gefahr für die Medienfreiheit bestand aber in den 90er Jahren durchaus, auch weil im Fernsehen nur staatliche Sender existierten. Aber allmählich kamen neue private Sender, haben sich etabliert in der Mitte der 90er Jahre. Und dann ist auf dem Fernsehmarkt der staatliche Sender weit auf Platz drei hinter den zwei größten privaten Sendern gerutscht, und zwar mit großem Abstand. Also, er ist viel weniger bedeutend, seine Leistung hat sich allerdings allmählich gebessert. Die politische Neutralität ist auf dem nationalen Sender ziemlich gut bewahrt, aber das hat, muss man sagen, gesamtgesellschaftlich viel weniger Bedeutung. Es gab auch Formen der staatlichen Intervention gegenüber den Medien, zum Beispiel der wirtschaftliche Druck der Exekutive durch gelenkte Werbung. Das war ziemlich verbreitet, sagen wir, 2001 bis 2004. Ist aber derzeit kein wirkliches Thema mehr. Die Situation hat sich in dieser Hinsicht sehr gebessert. Aber es kamen auch andere, neue Gefahren auf. Und eine dieser neuen Gefahren ist die Konzentration innerhalb der Medienlandschaft. Die Konzentration ist ein Problem. Denn damit verflochten ist die Verzahnung von Wirtschaftsmacht, Politik und privaten Medien. Dies geschieht sehr stark auf regionaler Ebene, aber ist auch bedeutend auf nationaler Ebene. Die Verstrickung erlaubt wenigen Medienherrschern, die manchmal auch politisch engagiert sind und wirtschaftliche Macht ausüben, die öffentliche Agenda zu bestimmen und einige Themen in den Vordergrund zu bringen, andere völlig zu verdrängen. Und damit ist noch eine andere Gefahr bzw. ein Trend verbunden, den man in den letzten Jahren ziemlich gut beobachten konnte, nämlich das Aussterben der Qualitätsmedien und die exorbitante Entfaltung der Oberflächlichkeit im Journalismus und in den Medien
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allgemein. Diese Oberflächlichkeit der Journalisten wird von den Medieneigentümern regelrecht gefördert, würde ich jedenfalls behaupten. Und ich würde auch sagen, dass die Journalisten, die eigene Meinungen oder Überzeugungen vertreten, irgendwie in Gefahr sind. Also, diese Journalisten stehen öfter im Konflikt mit den Medieneigentümern – und das ist dann nicht so leicht, besonders dann nicht, wenn es sich um Medien handelt, die große Einschaltquoten oder große Auflagen in den gedruckten Medien haben. Daneben erleben wir auch die Tableauisierung und die Entwicklung von Nischenmedien. Und das hat auch beigetragen zu einer, sagen wir, Entsorgung des öffentlichen Feldes von inhaltlichen, gründlichen Debatten. Und das trägt auch bei zu einer gewissen Aushöhlung der Demokratie. Also, natürlich sind diese Trends nicht unbedingt allein auf Rumänien beschränkt. Man kann dergleichen auch in anderen Ländern beobachten. Aber ich würde sagen, wenn man die Situation vergleicht zum Beispiel mit Deutschland – ich war länger in Deutschland – dann muss man sagen, obwohl man auch kritisch über die deutschen Medien sprechen kann, dass die Medienlandschaft wesentlich besser entwickelt ist als in Rumänien. Oder auch die englischen Tableaus, die berühmt sind für ihre Situation, sind etwas besser als die rumänischen Tableaus. EH: Vielen Dank, Herr Murgescu. Das bislang Gesagte lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Die Situation nach dem Systemwechsel im Mediensektor ist besser als vorher, aber sie ist nicht gut genug, denn neue Risiken und Gefahren sind aufgetaucht. Die Tatsache, die Sie vor allem, Herr Murgescu, angesprochen haben, scheint mir für unsere weitere Diskussion sehr wichtig zu sein, nämlich, dass mehr und mehr um sich greift, was man vielleicht als Mangel an Professionalität bei manchen Journalisten bezeichnen kann, sei es aus Gründen der vorauseilenden Anpassung an Mächtige, sei es möglicherweise aber auch aus Gründen mangelnder oder noch nicht genügend eingeübter Vertrautheit mit der journalistischen Profession. Nun könnte man fragen, Herr Rjabtschuk, ist das in der Ukraine ähnlich? Mykola Rjabtschuk: Danke Herr Dr. Holtmann und vielen Dank auch an die Organisatoren, dafür, dass Sie mich hierher eingeladen haben und dass Sie die Ukraine in dieses intellektuell-diskursive Forum mit einbezogen haben. Das ist sehr wichtig, denn die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa ist für einige Leute, besonders in Brüssel, nicht offenkundig. Ich möchte mich gleich dafür entschuldigen, dass ich nicht deutsch spreche. Ich habe dafür eine Entschuldigung, denn ich wuchs in einer sehr geschlossenen Gesellschaft auf und wurde wegen Beteiligung an Samisdat-Aktivitäten zweimal von der Universität verwiesen, sodass ich erst während der Perestroika meinen Abschluss machen konnte. Ich habe noch eine
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weitere Entschuldigung: Ein Problem zu Sowjetzeiten war für uns die Erhaltung unserer Nationalsprache, es ging darum, diese vor dem Druck einer rücksichtslosen Usurpation zu schützen. Schließlich habe ich eine dritte Entschuldigung: Ich habe eine Tochter, die zwölf europäische Sprachen spricht. Ich glaube daher, dass sie die Ukraine der Zukunft repräsentiert und ich eher die postsowjetische Ukraine. Ja, die ukrainischen Medien sind frei, besonders seit der Orangen Revolution, d. h. seit 2004, und wir befinden uns heute in der ziemlich paradoxen Situation, dass alljährlich politische Flüchtlinge aus Russland zu uns kommen, Menschen aus der Zivilgesellschaft und auch Journalisten, die in Moskau nicht professionell arbeiten können. Mindestens zwei bekannte Moderatoren im ukrainischen Fernsehen sind ehemalige Moderatoren vom russischen Fernsehen. Speziell meine ich Yevgeni Kisselov, der in den 1990er Jahren für MTV arbeitete, und Sawik Schuster, der sein Programm »Redefreiheit« von Moskau nach Kiew verlegte. In diesem Zusammenhang möchte ich einen beliebten Witz von Adam Michnik einflechten. Dabei geht es um einen Hund aus Polen und einen Hund aus der DDR, die sich an der Grenze treffen. Der polnische Hund rannte in die DDR, um sich satt zu fressen, während der DDR-Hund nach Polen lief, um zu bellen. Heute können wir mehr oder weniger selbiges über die ukrainischen und russischen Hunde an der ukrainisch-russischen Grenze erzählen. Mit etwas mehr Ernst möchte ich aber, wie versprochen, einige der in der Ukraine fortbestehenden Probleme ansprechen. Die Medienlandschaft ist sehr pluralistisch und niemand bleibt von Kritik verschont, sei es der Präsident, der Premierminister, der Generalstaatsanwalt oder sonst wer. Das ist wohl wahr. Doch es handelt sich um eine funktionsgestörte oder eine theoretische Demokratie, die nicht umgesetzt wird. Sie wird nicht ausreichend institutionalisiert und auf Grund dessen gibt es viel Chaos und Versuche, die Regeln zu umgehen. Ich würde also sagen, es gibt drei Hauptprobleme, vor denen die ukrainische Medienlandschaft steht. Zunächst ist da natürlich die Korruption. Viele Journalisten erhalten ihr Honorar teilweise in bar. Sie deklarieren nur einen bestimmten Betrag auf dem Papier, erhalten aber eine viel höhere Honorarzahlung in einem Umschlag. Das macht sie natürlich sehr anfällig für Manipulationen durch die Medienbesitzer. Darüber hinaus besteht eine ziemlich starke Versuchung, Journalisten zu bestechen, um sie etwa für Schleichwerbung zu benutzen usw. Dies ist leider eine weit verbreitete Praxis. Das zweite Problem ist freilich die mangelnde Professionalität, da stimme ich meinem Vorredner voll und ganz zu. In der Ukraine hat es zu Sowjetzeiten nie eine seriöse Schule für Journalistik gegeben, aber es ist sehr schwierig, eine derartige Schule zu etablieren. Zudem werden westliche Fremdsprachen kaum beherrscht und in vielen Fällen hängen die ukrainischen Journalisten von russischen Informationsquellen ab, die heutzutage nicht objektiv sind. In den 1990er Jahren, als die russischen Medien mehr oder weniger pluralistisch waren,
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gab es damit kein Problem. Heute jedoch sind sie höchst propagandistisch, was ein weiteres Problem hervorruft. Schließlich glaube ich, dass das ernsthafteste Problem, die größte Herausforderung von heute darin besteht, dass man Nachrichten nicht weiter nachgeht. Die Massenmedien in der Ukraine können den größten Korruptionsfall aufdecken, können sonst jemanden beschuldigen oder unterschiedlichste Skandale aufgreifen – doch es geschieht nichts. Das ist das Problem. Die Behörden haben es gelernt, nicht zu reagieren. Sie geben vor, Journalisten wegen Verleumdung oder Diffamierung nicht zu verklagen. Sie leiten aber auch keine Untersuchungen ein, um Korruptionsfälle aufzuklären. Sie tun nur so, doch nichts geschieht. Diese Situation erzeugt Frustration in der Gesellschaft, denn wenn die Menschen zwar sprechen dürfen, jedoch daraufhin nichts geschieht, dann werden sie ungehalten. Mir macht diese Frustration wirklich Angst. Das ist wahrscheinlich die größte Herausforderung. Das ist alles, was ich zunächst dazu sagen möchte. EH: Erlauben Sie mir vielleicht, Ihnen noch zwei Fragen zu unterbreiten, bevor wir die Diskussion ins Publikum hinein öffnen. Sie haben ja darauf hingewiesen und das ist ja auch evident, dass die Freiheit oder die Freizügigkeit auch des neu gewonnenen öffentlichen Raumes nicht nur eine Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist, sondern auch zwischen Medien und Staat. Also, der öffentliche Raum muss ja offenbar, um Demokratie zu generieren und sie zu schützen, immer wieder neu vermessen werden in diesem spannungsvollen Dreieck aus Gesellschaft, die ihrerseits nicht homogen ist, Medien und staatlicher Gewalt. Und deshalb die erste Frage: Wie ist es inzwischen in Ihren Ländern, können Sie mit einer gewissen Verlässlichkeit darauf bauen, dass Ihnen der Staat, Staat hier als Sammelbegriff für öffentliche Gewalt, von den Kommunen bis zur nationalen Ebene, von der Exekutive über die Legislative bis zur Jurisdiktion, als ein seriöser Informationsgeber zur Verfügung steht? Die andere Variante wäre ja, dass Information nach wie vor abgeschottet wird, dass also der Staat selbst als so eine Art Gatekeeper für Informationen funktioniert. Und die zweite Frage: In Deutschland ist es ja so, dass die Akteure, die Medien, die Medienschaffenden, wie es so schön heißt, ja institutionell eingerahmt sind. In zweierlei Weise mindestens: Wir haben auf der einen Seite so etwas wie den Presserat, also eine Institution, die über die Einhaltung des journalistischen Kodex wacht, und wir haben auf der anderen Seite – wenn wir noch einmal auf die von Ihnen hier angesprochenen Strukturfragen der Medien zu sprechen kommen, die ja immer auch in einer privatwirtschaftlich organisierten Presse wirtschaftliche Fragen mit beinhalten –, so etwas wie eine wirksame Fusionskontrolle bzw. Wettbewerbskontrolle?
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MS: In die Struktur Staat–Medien–Zivilgesellschaft sollte man den Medienmarkt noch aufnehmen. Also, den Marktmechanismus, der nicht mehr national, sondern europäisch oder global ist. Ich habe ganz bewusst die ausländischen Eigentümer angesprochen, darunter sind auch mehrere deutsche wie der Axel-Springer-Konzern. Und dieser Medienwettbewerb, der besonders in den elektronischen Medien stattfindet, der hat in unserem Falle sicherlich nicht zu einer höheren Qualität geführt. Etwa die Kosten-Nutzen-Analysen haben dazu geführt, dass mittlerweile viel weniger ungarische Berichterstatter in der Welt und in Europa vor Ort sind als früher, als zu sozialistischen Zeiten, wo Berichterstattung keine reine Geldangelegenheit war. Andererseits hat der politische Wettbewerb in Ungarn zu einem Journalismus geführt, wo die Qualität gar nicht mehr existiert. Das Internet hat wiederum in gewissem Maße eine parallele Öffentlichkeit erschaffen. Und diese parallele Öffentlichkeit ist im Falle von Ungarn ganz wichtig, weil man eigentlich nichts mehr verheimlichen kann in Ungarn. Es wird aber versucht, den öffentlichen Diskurs in einen Rahmen hinein zu bringen, wo er bestimmten politischen Lagern oder wirtschaftlichen Interessenlagen dient. Und das ist leider in den ungarischen Medien überall weitgehend durchgesetzt. Und das ist dann eine Situation, von der man sagen kann, der Kapitalismus hat Wolfsgesetze und wir haben Wölfe ohne Gesetze. BM: Der Staat ist kein seriöser Informationsgeber. Die Tendenz der Abschottung existiert noch auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei ist es ziemlich kompliziert geworden, sich gegenüber den Medien völlig abzuschotten, obwohl die Medien, wie man leider auch sagen muss, nicht immer unbedingt ihre gesellschaftliche Kontrollfunktion wahrnehmen, sondern eher pragmatisch manche Angelegenheiten untersuchen. Ein wichtiges Problem ist die institutionelle Rahmung der Medienlandschaft. Hier haben wir unterschiedliche Situationen. Es gibt für den audiovisuellen Bereich einen nationalen Rat des Audiovisuellen, welcher teilweise reguliert und manchmal auch Sinnvolles unternimmt. Wobei andererseits die gedruckten Medien praktisch unkontrolliert sind. Die Selbstregulierung der Presseleute zum Beispiel durch den Club der rumänischen Presse ist nicht anspruchsvoll genug. Die ist wirklich eher ein schöner Gedanke als reale Praxis. Und Sie haben auch gefragt nach der Rolle der Fusionen. Wir erleben derzeit gerade eine bedeutende Konzentration. Wir haben einige große Medienkonglomerate, die eigentlich von rumänischen Eigentümern noch besetzt sind, aber es gibt auch einige internationale Konzerne, die in die rumänischen Medien investiert haben. Wir haben kein Monopol. In diesem Moment besteht keine Gefahr eines Monopols, wir haben es vielmehr mit einem oligopolistischen Markt zu tun.
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EH: Nun sind oligopolistische Tendenzen ja nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal von osteuropäischen Transformationsstaaten. Die Presselandschaft hierzulande, also in Ostdeutschland ist ja ebenfalls, auch durch bewusste Strukturmaßnahmen der Treuhand, oligopolistisch geprägt. Also, da gibt es offenbar gewisse strukturelle Ähnlichkeiten. Frau Mika hat das Problem mit den Einzeitungskreisen, was uns ja schon in der alten Bundesrepublik seit den 70er Jahren beschäftigt hat, aufgeworfen. Also, das Problem, dass in einem Landkreis oder in einem Stadtkreis keine Konkurrenz der publizistischen Anbieter herrscht, sondern teilweise gestützt durch dieselbe wirtschaftliche Eigentümerschaft nur ein publizistisches Produkt die regionale und lokale Informationsweitergabe übernimmt. Das ist strukturtypisch für Ostdeutschland von Anfang an. Dieselbe Tendenz haben wir in Westdeutschland seit den 70er Jahren. Ist es ähnlich in Rumänien? Damit sind ja insofern auch Fragen der Demokratieentwicklung verbunden, weil mit besagter Tendenz ein gewisses Defizit an pluralistischer Meinungsvermittlung erzeugt wird. BM: Es gibt einige Regionen, wo ein solcher Trend sich auch durchgesetzt hat. Aber es gibt auch andere Regionen, wo mehrere lokale oder regionale Zeitungen oder auch Radiosender oder andere Medien existieren. Aber das behebt nicht unbedingt die Gefahr. Es ist möglich, dass zwei oder drei Medienkonglomerate auf dem Regionalmarkt tätig sind und dass die Eigentümer sich öfter so gut verständigen, dass eigentlich der Pluralismus keinen Raum mehr hat. Auf nationaler Ebene ist das viel komplizierter, aber auch dort ist die Kontrolle der Medieneigentümer ziemlich groß, besonders bei den größeren Sendern, also den Sendern, die größere Einschaltquoten haben und daher eigentlich die Öffentlichkeit wesentlich bestimmen. EH: Herr Rjabtschuk, wir neigen ja, oder sagen wir besser, wir laufen ja meistens Gefahr, dass wir uns zu sehr auf die nationale Ebene oder auf das Geschehen in der Hauptstadt konzentrieren, wenn wir uns über bestimmte Entwicklungen in solchen Ländern, die uns selbst nicht so vertraut sind, informieren wollen. Wie ist es in der Ukraine auf der mittleren und auf der unteren Ebene um den Pluralismus der Informationen bestellt? MR: Nun, um die Wahrheit zu sagen, hat sich die Regierung unter dem früheren Regime so stark in den Medienbereich eingemischt, dass die Lage heute vergleichsweise entspannt ist. Man kann tun, was man will. Selbst wenn es notwendig wäre, wird nicht gehandelt, selbst dann nicht, wenn gehandelt werden sollte. Natürlich hat sich etwas verändert. Nach der Orangen Revolution ist es zu einigen rechtlichen Veränderungen gekommen. So wurde zum Beispiel das wichtige Gesetz zur Ein-
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richtung des ständigen Komitees für Redefreiheit im Parlament erlassen. Es wurde fixiert und der Opposition übergeben. Es ist ein geschriebenes Gesetz. Es gibt weitere Gesetze, die regeln, dass im Fernsehen mindestens 50 Prozent ukrainische Inhalte gesendet werden müssen und ausländische Investoren nicht mehr als die Hälfte der Anteile erringen dürfen. Doch das Hauptproblem besteht darin, dass ukrainische Gesetze nicht eingehalten werden, sie sind nicht bindend, sie werden oft ignoriert. Hierin besteht das Hauptproblem des Landes. Es ist eine Demokratie, die nicht formell auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit basiert. Und das ist das größte ukrainische Problem, sowohl für das Land als natürlich auch für die Medien. Die Institutionen funktionieren nicht. Hierbei gibt es speziell noch einen Unterschied zur Provinz. Im Hinblick auf die Hauptstadt oder die großen Zentren, können wir ehrlicherweise von freien Medien usw. sprechen. In der Provinz aber haben die Medien ihre Eigenarten. Sie sind sehr parteiisch. Sie werden meistens von einer entsprechenden lokalen politischen und finanziellen Gruppe kontrolliert. EH: Damit haben Sie auch auf den wesentlichen Sachverhalt noch mal hingewiesen, dass es sicher nicht nur darum gehen kann, die Demokratie auf der Ebene der formalen Institutionen aufzubauen und abzusichern, sondern dass die Demokratie in einem hohen Maße auch von informellen Prozessen und informellen Kanälen abhängt, obwohl man dann offensichtlich damit konfrontiert ist, dass sich hier Klientelstrukturen festsetzen. Meine Damen und Herren, ich denke wir sollten jetzt das Frage-und-Antwort-Spiel in Ihren Bereich, in das Plenum hinein erweitern und ich würde Sie gerne ermuntern Ihre Fragen zu stellen. Das Mikrofon im Saal haben Sie inzwischen auch identifiziert. Bitte sehr. Publikumsfrage: Ich möchte dem ukrainischen Gast zwei Fragen stellen: Wie weit ist die Untersuchung der Ermordung des Journalisten Gongadse vorangeschritten? Und wie sieht es aus mit dem Nationalismus in der Ukraine? MR: Die zweite Frage ist zu kompliziert. Hierzu könnte ich einen ganzen Vortrag halten. Das werde ich heute aber nicht tun. Die erste Frage ist einfacher, obwohl sie dramatischer ist. Die Mörder wurden also gefunden und vor Gericht gestellt. Auch der am Mord selbst beteiligte Anführer des Todeskommandos wurde vor Kurzem gefasst, ist aber bis jetzt nicht verurteilt worden, da die Untersuchungen weitergehen. Das Hauptproblem aber ist, dass diejenigen, die diesen Mord in Auftrag gaben, wahrscheinlich der Bestrafung entgehen, da der Innenminister nach der Orangen Revolution unter sehr sonderbaren Umständen starb. Er beging Selbstmord durch
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zwei Schüsse in den Kopf, ein sehr ungewöhnlicher Selbstmord. Somit ist es sehr schwierig, die ganze Kette der Ereignisse zu untersuchen. Wer gab diesen Mord an Gongadse in Auftrag? Heute haben wir die Vollstrecker, wir haben die Leute, die es getan haben. Wir kennen aber nicht die Hauptauftraggeber und haben keinerlei Anhaltspunkte. Das ist das Problem. Zum ukrainischen Nationalismus. Mir widerstrebt es ziemlich, das Thema Nationalismus auf so abstrakte Weise zu diskutieren, denn Nationalismus ist ein sehr vager Begriff. Es gibt ein sehr großes Spektrum von Nationalisten. Es reicht von Adolf Hitler bis zu Mahatma Ghandi. Ich weiß also nicht, was Sie meinen. Die Ukraine hat im Grunde eine sehr schwache Tradition des Nationalismus. Nur Belarus ist vielleicht noch schwächer in dieser Hinsicht. Das wäre alles dazu. Publikumsfrage: Ich würde gerne von Ihnen wissen, welche Rolle die Medien in der Ukraine bezüglich der Frage des Verhältnisses zwischen ukrainischer und russischer Bevölkerung spielen. Also, ich habe zum Beispiel gehört, dass auf der Krim immer stärker nur noch russische Sender zu empfangen sind und die ukrainische Bevölkerung sich immer weiter isoliert fühlt. MR: Danke. Nun, das Krim-Gebiet in der Ukraine ist ein sehr spezieller Fall und es ist natürlich schwierig, hierzu eine Diskussion im größeren Kontext zu führen, weil es die einzige Gegend der Ukraine ist, die eine russische Mehrheit hat, die noch dazu erst nach dem zweiten Weltkrieg dorthin gebracht wurde, d. h. nach den ethnischen Säuberungen, die an den ukrainischen Tataren verübt worden waren. Dies ist also ein wirklich außergewöhnlicher, ein sehr spezieller und dramatischer Fall. Was die ukrainisch-russischen Beziehungen innerhalb der Ukraine und die Frage der Sprachen betrifft, so ist auch dies sehr kompliziert und ich möchte zunächst dafür plädieren, dass das Hauptproblem nicht der ukrainische Russe in der Ukraine ist, sondern der ukrainische Ukrainer. Die Hauptspannungen bestehen zwischen zwei unterschiedlichen Projekten, zwischen zwei unterschiedlichen Identitäten und nicht in Bezug auf die ukrainischen Russen, sondern in Bezug auf zwei unterschiedliche Varianten, Ukrainer zu sein. Die Bedeutung dieses Ukrainisch-Seins berührt folgende Frage: Geht es um eine ukrainisch-europäische Identität oder ist ukrainisch eher eine eurasische und slawische Identität. Mag sein, dass diese beiden Projekte kompatibel sind, ich weiß es nicht. Soweit ich sehen kann, sind sie nicht kompatibel. Und natürlich gibt es viele Missverständnisse, weil, wie schon erwähnt, Rechtsstaatlichkeit nicht die formale Grundlage des Landes ist. Deshalb fühlt sich jede Seite ein bisschen diskriminiert oder unterminiert usw. Es gibt keine ordentlichen Gesetze, die alles regeln. Seit Erringung der Unabhängigkeit wollen die ukra-
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inische Regierung und die ukrainische Bevölkerungsmehrheit die seit Jahrzehnten marginalisierte Sprache und Kultur neu beleben. Und natürlich verlangen, fordern sie dafür einen gewissen Schutz des Staates, einen staatlichen Schutz vor dem großen Nachbarn. Es geht um eine Art nationale, kulturelle Wiederbelebung. Doch wie Sie von vielen Ländern der Welt wissen, kann jede positive Diskriminierung von der anderen Seite als eine negative Diskriminierung wahrgenommen werden. Es ist sehr kompliziert. Es ist wie mit dem Glas, das halb voll bzw. halb leer sein kann. Das hängt von der Sichtweise ab. Ich möchte Ihnen aber versichern, dass sich die Ukraine nicht spalten wird, auch wenn Sie derartige Prophezeiungen in den Zeitungen lesen. Aus Meinungsumfragen können Sie erfahren, dass vielleicht ein bis zwei Prozent der allgemeinen Bevölkerung diese Idee der Teilung befürwortet. Ich würde also sagen, dass die Ukraine uneinig, aber nicht gespalten ist. Die meisten Menschen, sogar die absolut größte Mehrheit ist sich einig, dass wir zusammenleben müssen, dass wir unsere Probleme lösen müssen, und alle sind gegenüber dem Staat loyal. Das ist so, auch wenn die Menschen unterschiedliche Meinungen über die Vergangenheit, die Zukunft, über die politischen Regimes usw. vertreten. Dies ist also einer der vielen ukrainischen Widersprüche. EH: OK. Ich habe jetzt noch zwei, drei Wortmeldungen. Vier. Und zwar zunächst dort hinten. Darf ich Sie in aller Bescheidenheit bitten, kurz und prägnant zu fragen. Publikumsfrage: Jens Hüttmann von der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin. Ich habe, wenn ich recht zugehört habe, bisher viel über die traditionellen Medien gehört, über die Presse, über das Fernsehen. Wie sieht es mit dem Bereich der neuen Medien aus? Ich denke, das sollten wir unbedingt in dieser Diskussion auch mit einbeziehen. Inwiefern sehen die Diskutanten Potenziale, auch Herausforderungen für kritische Berichterstattung, womöglich für die politische Aufklärung, politische Mobilisierung bei Facebook, Twitter und so weiter. Ich denke, wenn wir heutzutage über die vierte Gewalt reden, dann können wir dies nicht tun, ohne den gesamten Bereich des Internets miteinzubeziehen. Können Sie dazu etwas aus Ihrer Sicht erzählen. EH: Da schließt sich unmittelbar die Frage von Herrn Oberbürgermeister Jung an? Publikumsfrage: Ja, das passt zu dem, was ich auch fragen wollte. Ich habe neulich einen sehr interessanten Vortrag von dem Verleger Burda gehört, der davon ausgeht, dass zumindest
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in unseren Breiten in 10 bis 15 Jahren das Leitmedium Tageszeitung nicht mehr die Leitfunktion hat, sondern sich die Tageszeitung zu einem für eine gewisse Elite bestimmten Medium ausgestalten wird. Parallel dazu wird das Internet ohne Zweifel die größten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten bieten. Und da geht es ja heute schon mit kleinem Geld, dass ich Gegenöffentlichkeit ausbilden kann. Führen wir da nicht eigentlich eine rückwärtsgewandte Diskussion, denn in 10, 15, 20 Jahren ist das Thema sowieso ein ganz anderes. Nämlich dann wird es in der Ukraine oder Ungarn oder, wo auch immer, möglich sein, dass sich eine Gegenöffentlichkeit im Netz entwickelt, durch eine kritische Community, die dann aber auch so ausgefasert sein wird, dass es kaum noch möglich sein dürfte, von öffentlicher Meinung im eigentlichen Sinne zu reden, weil es die einfach nicht mehr gibt. Also, das würde mich sehr interessieren, wie weit Sie diese Tendenz beobachten bei Ihnen in Ihren Heimatländern. EH: Ja, ich denke diese Frage, oder beide Fragen, richten sich nun zweifelsfrei an alle drei Kollegen auf dem Podium. Also, noch mal salopp gefragt, müssen wir, müssen Sie zuhause die alten, großen Tanker der Medienflotte verschrotten? Müssen wir uns stattdessen also auf die Pusteblume im Internet verlassen. MS: Ich habe als Sozialbewegung- und Protestforscher in den 90er Jahren diesen Prozess ein wenig verfolgt. Es gibt weltweit dieselben Resultate wie in Deutschland, Rumänien und sonst wo: Die gedruckte Presse verliert in Ungarn mit Ausnahme der lokalen Presse an Bedeutung. Springer und andere ausländische Unternehmen haben die lokale Presse, dort, wo halt traditionell immer die Komiteezeitung gelesen wurde, so gelassen wie sie war. Die ganzen Auslagen und alles. Aber das gehört zu einer Generation, die irgendwann einmal ausläuft. Zur Qualität sage ich nichts. Aber das wird nicht für ewig sein. Zum Internet? Ich habe in den 90er Jahren eine Studie über Ungarn gelesen, nach der Umweltgruppen, aber eben auch Rechtsradikale sehr früh das Internet zu nutzen wussten Ökologie und Rechtsradikalität? Ich wollte das nicht glauben. Vor allem Bewegungen und Gruppierungen, die sich nicht in der formalen Öffentlichkeit der Demokratie wiedergefunden haben, die in der Öffentlichkeit nicht so präsent waren, haben das Internet bereits früh aktiv genutzt. Also, über Internet kann man sagen, das ist ein weites Feld. Aber diese Piratenzeit im Internet, wo die Sozialbewegungen ihre kritische Öffentlichkeit hauptsächlich über das Internet organisierten, ist teilweise schon wieder vorbei. Auch im Internet setzen sich mittlerweile dieselben Interessenlagen wie in der gedruckten Presse oder den anderen Medien durch. Sie haben die Frage von der Informationsfreiheit aufgeworfen. Also, die traditionellen Methoden, das Internet zu kontrollieren oder in einen Rahmen
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zu setzen, sind vergleichbar mit dem Versuch, die Schatten von einem Flugzeug mit einem Fahrrad einzuholen. Die klassischen Konzepte von Meinungsfreiheit, Souveränität und Menschenrechten sind durch diese Technologien herausgefordert. Es gibt ein geradezu klassisches Dilemma, zum einen muss man Inhalte regeln, zum anderen darf die Meinungsfreiheit nicht verletzt werden. Die Medienwelt befindet sich global in einer experimentellen Phase, in der wir halt, wie gesagt, den Schatten vom Flugzeug mit dem Fahrrad irgendwie mit den klassischen rechtsstaatlichen Methoden einholen wollen. EH: Herr Murgescu, gibt es eine Tendenz aus Ihrer Perspektive, die demokratische Öffentlichkeit online zu stellen? BM: Ja, es gibt diese Tendenz, aber die Wirksamkeit ist nicht so groß. Auch wir haben diese Tendenz der Entwicklung von Öffentlichkeit durch die neuen Medien, besonders durch das Internet. Diese beschränkt sich aber in Rumänien, wie auch in anderen Ländern, aber vielleicht mehr in Rumänien, auf einen kleinen Teil der Bevölkerung. Also, Internetzugang und alles andere, was noch dazugehört, sind nicht genug verbreitet bei uns und auch die meisten Leute haben noch nicht die Gewohnheit, sich an diesen Medien zu beteiligen. Dabei ist es auch so, es gab gezielte Kampagnen und Aktivierungen von kleinen Gruppen, die gewisse Interessen gemeinsam verfolgten. Für die öffentliche Debatte hat dieser Pluralismus wenig getan. Zum Beispiel Gruppen, die für die Bewahrung von Monumenten oder den Erhalt von Patrimonium-Gebäuden in Bukarest oder in anderen Städten sich eingesetzt haben – also, das hat funktioniert, dagegen aber bei größeren Themen hat es eher nicht funktioniert. Und es gibt auch schlechte Erfahrungen mit diesen Internetzugängen. Es gibt einen Trend, dass man immer mehr die Zeitungen online liest als in der gedruckten Form, das ist nicht spezifisch für Rumänien, diese Tendenz gibt es weltweit, und viele der Zeitungen haben auch Foren für Meinungen, also wo man Meinungen formulieren kann. Und die schlimme Erfahrung: Es ist belegt, dass Parteien zum Beispiel kleine Gruppen bestellen, die jedwede Diskussion killen, abtöten. Es ist deren Auftrag, wenn etwas Interessantes passiert, dann gibt man der Diskussion einen ganz dummen Trend, damit sie getötet wird. EH: Herr Rjabtschuk, Sie sind Redakteur, Editor, der, ich nehme an, im PrintFormat erscheinenden Zeitschrift Krytika. Treibt Sie das besonders um, diese technologische Verlagerung, diese Verlagerung der Medienstrukturen aufgrund des technologischen Wandels – gerade im Hinblick auf die Öffentlichkeitssituation in Ihrem Lande?
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MR: Wir haben ein Sprichwort: »Wenn du einen Prozess nicht aufhalten kannst, musst du dich an dessen Spitze stellen.« Wir können ihn also nicht aufhalten, wir können ihn nicht verhindern, also versuchen wir, ihn anzuführen. Wir haben eine Online-Version unserer Zeitschrift. Es ist aber hauptsächlich eine intellektuelle Zeitschrift, also nicht so etwas wie Vogue. Wir verfolgen eine Art Kulturträger-Aktivität und sind bestrebt, eine möglichst breite Öffentlichkeit anzusprechen. Bislang ist dies von untergeordneter Bedeutung in der Ukraine, wie auch in anderen postsowjetischen Ländern, denn, wie uns auch Herr Murgescu berichtete, ist das Internet auch in Rumänien noch nicht sehr verbreitet. Ungefähr fünfzehn Prozent der Bevölkerung hat Zugang zum Internet, und die meisten Menschen sind nicht sehr an Politik interessiert. Ihnen steht der Sinn nach Unterhaltung oder vielleicht nach gewisser akademischer Arbeit, jedoch nicht nach Politik. Und natürlich sind diese Menschen hauptsächlich in der Hauptstadt und einigen anderen großen Städten konzentriert. Nicht einmal die russische Regierung macht sich allzu große Gedanken über das Internet, genauso wenig wie die belorussische, auch wenn man zu einigen selektiven Repressionen greift. Beunruhigend ist in diesem Zusammenhang wirklich, dass das Internet von den Behörden nicht gefördert wird. Diese Gewohnheit entstand unter dem früheren Regime, wird jedoch weiterhin aufrecht erhalten. Die öffentliche Meinung wird dahin gehend beeinflusst, dass Internet-Nachrichten als unwichtig, nicht zuverlässig, als etwas Unseriöses angesehen werden. Es ist etwas, was an Wänden geschrieben steht. Man kann der Nachricht trauen oder nicht. Im Grunde aber gilt sie als nicht seriös. Das zweite Problem ist, dass Internet-Foren, Diskussionsforen üblicherweise nicht moderiert werden. Dies öffnet eine Tür für hasserfüllte Äußerungen, Dummheit und Beleidigungen, und sehr häufig ist das ganze ziemlich schmutzig. Es ist sehr unangenehm, all diese Diskussionen zu lesen. Schließlich besteht die Hauptschwierigkeit im Zusammenhang mit dem Internet wahrscheinlich darin, dass manche Probleme vorrangig in Russland ihren Ursprung haben, dann aber auf die Ukraine überschwappen, weil die Informationsräume miteinander verbunden sind. Jeder kann auch russisch lesen. Das Problem ist – und das ist eine Information, die sowohl von Außenstehenden als auch Insider-Analytikern bestätigt wird – dass immer mehr Leute als Blogger für Propagandaarbeit bezahlt werden. Sie werden von gewissen kremltreuen oder kremlnahen Kräften angeheuert. Und sie benutzen Internet-Foren, um Leute schlechtzumachen, Gerüchte in Umlauf zu bringen, um verschiedene Konflikte zu provozieren und vieles mehr. Normalerweise operieren sie im russischen Internet, doch findet man diese sogenannten Blogger auch im ukrainischen Internet. Und das ist etwas Neues, eine neue Erscheinung, die sich unter Putin in den Jahren nach 2000 entwickelt hat.
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EH: Ja, meine Damen und Herren, da wir nicht eigenmächtig jetzt schon die Zeit auf die Winterzeit zurückdrehen können, haben wir nicht eine Stunde und fünf Minuten noch zur Verfügung, sondern nur noch fünf Minuten. Gerade noch die Zeit für eine prägnante Frage und drei möglichst prägnante Antworten. Publikumsfrage: Es wurde zweimal erwähnt, das es an Professionalität bei den Journalisten mangelt. Wessen Schuld ist das, frage ich? Und wie können wir eigentlich behaupten, dass Medien die Vierte Gewalt sind, wenn wir keine professionellen Journalisten haben, wenn die Journalisten so schlecht bezahlt werden? Das alles verstehe ich nicht. BM: Warum es so ist wie es ist, ist nicht einfach zu sagen bzw. die Schuldfrage ist nicht leicht zu beantworten. Man kann sagen, ein Teil der Schuld liegt bei den Universitäten, obwohl eigentlich die Standards an der Journalistenfakultät hoch sind, jedoch müssen die jungen Absolventen, wenn sie in den Zeitungen, Radiosendern oder Fernsehsendern ankommen, wieder vieles von dem, was sie gelernt haben, vergessen. Hinzu kommt die Tatsache, dass für den Journalismus nicht unbedingt ein Journalismusstudien nötig ist. Man kann auch etwas anderes oder gar nichts studiert haben und trotzdem eine Position in einem privaten Sender oder der Zeitung bekommen. Es muss auch gesagt werden, dass wir als Kunden schuld sind, weil wir einfach nicht gleich abschalten oder uns irgendwo anders hinwenden, wo das Niveau, die Professionalität etwas besser ist. Dabei ist es auch als Kunde nicht leicht zu reagieren. Wir haben zum Beispiel in Rumänien drei nationale Nachrichtensender, ich kann sagen, welcher der schlimmste ist, aber welcher der beste ist, da habe ich große Probleme, denn keiner ist gut genug. Und dort treffen wir eine begrenzte Anzahl von Analysten, die meinen, sich über jedwedes Thema äußern zu können und alles zu wissen, aber eigentlich wissen sie nichts richtig. Und da haben wir keine große Chance, denn diese Journalisten sind ja gerade wegen ihrer Anpassungsfähigkeit an die Interessen des Medieneigentümers regelrecht zu Stars erkoren worden und nicht etwa ihres Fachwissens wegen. Und dann muss man sagen, dass eigentlich wahrscheinlich das Hauptproblem der Habitus in der Presse, in der Medienlandschaft selbst ist. Dort bestimmt man die Regeln. Teilweise durch die Journalisten, die in Führungspositionen sich befinden, teilweise direkt durch die Eigentümer der Medien. Und wer eine zu starke Meinung hat, der muss sich irgendwie eine Nische suchen. EH: Bei uns ist das eine weit verbreitete Einstellung: »Ich mach mal was mit Medien.« Das dürfte als Qualifikation auch bei Ihnen nicht ausreichend sein. Oder?
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MR: Natürlich können wir die totalitäre Vergangenheit oder die koloniale Vergangenheit nicht allein dafür die Schuld geben, obwohl dies entscheidende Gründe sind. Doch dieses Erbe wirkt noch nach in der Ukraine. Es lag nicht nur an der totalitären Indoktrination und der schlechten Ausbildung der Journalisten. Es gab zudem auch das Abwerben von Fachleuten aus der Provinz in die ehemalige Hauptstadt. Ich glaube aber, dass die ukrainischen Journalisten ihre Prüfung als mündige Bürger während der Revolution bestanden haben, besonders am zweiten Tag, als es in der Innenstadt zu Massenprotesten kam. Die Fernsehjournalisten von allen wichtigen Kanälen traten in den Streik und weigerten sich, Lügen zu verbreiten. Es gab eine absolut fantastische Episode. Eine Frau, die immer die Nachrichten in Gebärdensprache für Gehörlose übersetzte, sabotierte diese Nachrichten und gab den Zuschauern mehr oder weniger zu verstehen: »Bitte glauben Sie den Behörden nicht, denn sie haben aus den Wahlen eine Farce gemacht, und sie verbreiten Lügen. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich gefeuert werde, aber ich musste Ihnen die Wahrheit sagen.« Ich glaube, dass es für ukrainische Journalisten kein Zurück geben wird, egal, was im Lande geschieht. Wir leben in einer offenen Gesellschaft und wir haben die unterschiedlichsten Ideen. Wir haben die Gelegenheit, ins Ausland zu reisen, zu lernen, zu studieren, andere Ideen und Praktiken zu übernehmen. Langfristig gesehen bin ich also optimistisch, aber weniger in kurzfristiger Perspektive. EH: Ja, vielen Dank. Das war der letzte Beitrag in einer keineswegs abgeschlossenen, aber für heute jedenfalls zu beendenden Debatte. Ich danke Ihnen allen auf dem Podium für die Fülle an Informationen, die sie uns bereitwillig und sachkundig gegeben haben. Und ich danke Ihnen allen im Publikum, meine Damen und Herren, für Ihre interessierte Aufmerksamkeit oder, umgekehrt, für Ihr aufmerksames Interesse.
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Deutschlandbilder – Innen- und Außensichten Blick auf die Friedliche Revolution und den Einigungsprozess Blick auf die Bundesrepublik 20 Jahre später
P o di u m sdisk u ssi o n
Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren und Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt a. D. [CB] Prof. Dr. Richard Schröder, Humboldt Universität zu Berlin [RS] Prof. Dr. Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums Potsdam [SN] Dr. Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen [MP] Moderator: Vladimir Balzer, MDR Figaro [VB]
VB: Wir wollen darüber diskutieren, wie sich dieses Land von einer bedrohlichen Militärmacht hin zu einem gebrochenen Land nach dem Zweiten Weltkrieg, einem geteilten Land, einem politisch marginalisierten Land hin zu einem Land entwickelt hat, das 1990 wieder zusammenkam mit einem neuen Selbstbewusstsein, was allerdings durchaus auch Ängste bei den Nachbarn hervorgerufen hat. Es gab Ängste, ob es einen neuen Nationalismus geben könnte. Heute , zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, wollen wir darüber reden, wie die Deutschen als solche im Ausland wahrgenommen werden – es gibt da ja so ein paar Klischees, die guten deutschen Ingenieure, die effektiven Deutschen, aber auch die humorlosen Deutschen. Ich habe mir für diesen Abend eingeladen: Susan Neiman, Philosophin, gebürtige Amerikanerin und seit vielen Jahren Leiterin des Einstein Forum Potsdam. Marek Prawda, Botschafter Polens in Deutschland. Richard Schröder, Theologe, Mitglied der SPD, ehemaliger Verfassungsrichter in Brandenburg und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung. Und last but not least, Christoph Bergner, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren, Mitglied des Bundestages, Mitglied der CDU und von 1993 bis 1994, knappe 7 Monate lang, Ministerpräsident des Landes SachsenAnhalt.
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Fangen wir doch gleich mal mit dem Blick von Außen an, Susan Neiman, sehen Sie den Deutschen gern beim Feiern zu, 20 Jahre Friedliche Revolution, 20 Jahre Mauerfall? SN: Ich würde Ihnen gern mehr beim Feiern zu sehen, eigentlich. Also, nicht unbedingt bei der Feier der Friedlichen Revolution, sondern im Allgemeinen glaube ich, zeigt sich, dass es hier immer noch an Selbstbewusstsein fehlt. Es gibt eine Angst vor sich selbst. Und ich glaube, sicher, das ist ein weiteres Thema darüber können wir lange diskutieren, dass in Deutschland nicht nur seit 20 Jahren, sondern seit 60 Jahren eine Art von nationaler Psychoanalyse stattgefunden hat. Ich habe überhaupt nichts gegen Psychoanalyse, bin sogar mit einem Psychoanalytiker verheiratet, aber manchmal fehlt ein Blick auf die Weltperspektive. Beispiel: Irakkrieg. Die Diskussion ging vor allem in Westdeutschland hauptsächlich darum, ob man dem großen Bruder mal Undankbarkeit gegenüber zeigen dürfe. Anstatt sachlich zu schauen, was macht die Regierung dieses großen Bruders aktuell. Ich habe mit sehr vielen Leuten damals gesprochen, die nicht wussten, wie sehr das Nein zum Irakkrieg in Amerika, aber auch auf der Weltbühne begrüßt worden ist. Es war für viele Menschen, neben Willi Brandts Kniefall in Warschau, ein sehr wichtiger Punkt, dass Deutschland einen moralischen Standpunkt eingenommen hatte. Und diese Position war immer mit mehr Selbstreflexion als mit Außenreflexion verbunden. Also, ich würde sie gerne mehr feiern sehen, ich würde auch gern mehr Selbstbewusstsein sehen. VB: Marek Prawda wie sehen Sie die Feierlichkeiten zu 20 Jahre Friedliche Revolution und zu 20 Jahre Mauerfall? Ist es so wie Susan Neiman gesagt hat, dass die Deutschen nicht selbstbewusst feiern können? MP: Den Eindruck habe ich nicht. Ich glaube aber, dass es richtig ist, wenn man sagt, dass diese Selbstbezogenheit überwunden werden sollte. Und die Feier am 9. November ist doch eine wunderbare Gelegenheit, um gemeinsam zu feiern und das Gemeinsame aus der Zeit von ’89 auch gut zu nutzen für unsere Politik, als eine Grundlage für unsere gemeinsame Politik in Europa, für das gemeinsame Bewusstsein in der Region, für das Wir-Gefühl. Wir haben doch damals ein WirGefühl neuer Art zumindest zu zeigen versucht. Und mein Eindruck ist, dass man in Deutschland diese Chance vielleicht nicht immer gesehen hat. Deshalb sehe ich die Vorbereitungen auf den 9. November sehr unter dem Gesichtspunkt, ob man den Menschen, der damals die Welt verändert hat, also das Volk betrachtet als den neuen Akteur. Timothy Garton Ash, der britische Historiker, war vor kurzem in Berlin, er sagte, dass für ihn die wichtigste Erkenntnis aus dem Jahr 1989 ist, dass
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die Menschen selber Geschichte machen können. Ich bin nicht sicher, ob diese Erkenntnis in Deutschland auch heute noch sehr populär ist, aber ich würde mich freuen, wenn wir nicht nur den Amerikanern, den Sowjets, Gorbatschow dankbar sind, sondern, dass wir auch wirklich diesen neuen Akteur wahrnehmen, der damals auf die Bühne kam. Betrachten wir, was diese Revolution ausgemacht hat, nämlich das die Guillotine durch Runde Tische ersetzt wurde, und das ist etwas Wichtiges, etwas Sinnstiftendes. VB: Richard Schröder, das klang jetzt alles danach, als ob wir viel selbstbewusster umgehen sollten mit diesem Datum. Sehen Sie das auch so? RS: Also, ich sehe das so, dass es besser geworden ist. Denn nach 1990 bin ich öfter zu Veranstaltungen nach Westdeutschland eingeladen worden, die mit dem berühmten Heine-Zitat, »Denke ich an Deutschland in der Nacht« Pünktchen, Pünktchen überschrieben waren. Und die Fortsetzung lautet, »... bin ich um den Schlaf gebracht«. Der Gedanke, der diesen Veranstaltungen zu Grunde lag, war eben das Beschwören eines gefährlichen Mysteriums mit Namen Deutschland. Das hat sich mittlerweile stark geändert. Ich will jetzt hier noch erzählen, warum Heine um den Schlaf gebracht wurde. Da steht nämlich, ». . . an Deutschland dächt’ ich . . .«, er war ja in Frankreich im Exil, »... an Deutschland dächt’ ich nicht so sehr, wenn nicht die Mutter dorten wär. Das Vaterland wird nicht verderben, doch die alte Frau könnt sterben«. Wissen Sie, da liegt eine richtige Mystifizierung des Heine-Zitats vor, durch die allerdings viele Deutsche ihre Ängste vor einem nationalistischen Deutschland zur Sprache bringen wollten. Dieses Problem ist bei den Ostdeutschen nicht so stark ausgeprägt. Ich finde es ja in Ordnung, dass man sich den dunklen Seiten der deutschen Geschichte gestellt hat, in Westdeutschland gründlicher als in der DDR, das muss man einfach zubilligen, aber man kann eben auch hier des Guten zu viel machen, und da stimme ich Ihnen völlig zu. Die Fußballweltmeisterschaft war ein Beleg dafür, dass auch der Umgang mit deutschen Fahnen sozusagen ohne Selbstzweifel und ohne Mystifizierung möglich ist. Die Teilnehmer aus den anderen Ländern waren erstaunt darüber, wie fröhlich und locker Deutschland als Gastgeber sich gezeigt hat. Das hätten sie 1990 noch nicht erleben können. VB: Christoph Bergner, die Fußballweltmeisterschaft ist ein gutes Stichwort. Sie sind ja im Bundesinnenministerium auch für den Sport zuständig. Wie ging es Ihnen 2006 bei diesem Sommermärchen, in dem sich Deutschland plötzlich als ein liberales, weltoffenes, selbstbewusstes und trotzdem so extrem gastfreundliches
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Land gezeigt hat, mit einer neuen Selbstverständlichkeit, mit einer neuen Normalität. War das so der schönste Sommer nach 1989 für Sie? CB: Also, ich glaube, dass die Fußballweltmeisterschaft ein gutes Beispiel ist, und zwar auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Da wir das federführende Ministerium in der Betreuung dieses Großereignisses waren, habe ich natürlich auch die Vorgeschichte erlebt. Da waren die Verbraucherschützer, die gegen die personalisierten Tickets Sturm liefen, da war die Stiftung Warentest, die uns plötzlich belegte, dass unsere Fußballstadien alle den Sicherheitsanforderungen nicht genügen, der Bundesinnenminister, weil er sich um bestimmte Sicherheitsaspekte Gedanken machte, wollte mit Panzern vor den Stadien auffahren. Das heißt, wir hatten im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft eine Atmosphäre, bei der im Grunde genommen nur über Probleme diskutiert wurde, jedenfalls bei denen, die sie vorbereitet haben. Und dann kam das Ereignis und ich habe es so wahrgenommen, dass es gar nicht die Einheimischen waren, die zu dem Stimmungsumschwung beigetragen haben, sondern die Gäste, die kamen, waren erstaunt, was sie für ein Land antrafen und haben sich darüber gefreut. Und sie haben im Grunde genommen die Deutschen selber überrascht mit der Erkenntnis, was für ein gastfreundliches Land wir sind. Und das hat dann allmählich angesteckt und es kam zu einer unverkrampften Feier, auch zu dem unverkrampften Gebrauch der Nationalfarben und anderes mehr. Aber ich habe es so erlebt, als ob uns die Gäste erst einmal beibringen mussten, was wir für ein schönes Land sind. VB: Susan Neiman, war das fast so ein Hauch von amerikanischem Nationalstolz, der da plötzlich durch Deutschland wehte? So eine Selbstverständlichkeit des Umgangs mit dem eigenen Land? SN: Nee! Auf keinen Fall! Also, das sind zwei wirklich grundverschiedene Geschichten und grundverschiedene Beziehungen zum Land, und das muss auch so sein. Aber ich habe mich auch – ich war in Berlin in diesem Sommer –, über diese Annäherung an eine Selbstverständlichkeit gefreut. Aber ich stimme Ihnen gerne zu, dass der Blick von Außen oft viel rosiger und unverkrampfter ausfallen kann als der Blick von innen. Allerdings hat Herr Schröder vollkommen Recht, dass wäre 1990 gar nicht möglich gewesen. Wir im Ausland schauten alle auf Deutschland, schon auch beängstigt, das ist gar keine Frage. VB: Betrachten Sie Deutschland noch heute so skeptisch wie damals?
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SN: Nein, heute nicht mehr. Nein. Auf gar keinen Fall. Ich würde sagen, die Angst verfloss so gegen Ende der 90er Jahre, denke ich. Vielleicht dauerte es zehn Jahre. Vielleicht war es der Umzug nach Berlin oder der friedliche Wechsel zwischen CDU und Rot-Grün? Also, es ist schwer zu sagen, was alles dazu beigetragen hat. Aber ich war persönlich erst bereit wieder nach Deutschland zu kommen im Jahr 2000. 1995 hätte ich das nicht gemacht. VB: Susan Neiman, Sie kennen Deutschland ja aus verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Perspektiven. Sie waren in den 80er Jahren, um mal zurückzugreifen, in Westberlin. SN: Richtig. Sieben Jahre fast. VB: Sieben Jahre, und haben dann, wie man lesen konnte, geradezu fluchtartig das Land wieder verlassen. Zur damaligen Zeit befanden Sie sich ja noch in einer geteilten Stadt, in einem geteilten Land. SN: Eine Flucht war es nicht. Aber . . . VB: Und Sie haben gesagt: Schön, es wird hier in jeder Eckkneipe mehr philosophiert als in einem Harvard-Seminar. Harvard kennen Sie, muss man dazu sagen, weil Sie da studiert haben. Auf der anderen Seite, Sie als Jüdin haben sich einfach fremd gefühlt und haben gesagt, das ist so eine Seltenheit hier, eine Jüdin zu sein, dass immer Auschwitz mit am Tisch sitzt. War das für Sie der Moment zu sagen, ich muss hier raus aus diesem Land? SN: In der Tat. Also, da waren gemischte Motive. Ich will nicht sagen, das war der einzige Grund. Ich hatte auch eine Vorstellung von Normalität, die ich hier nicht verwirklichen konnte. Auch muss man sagen, 1988 war man, jedenfalls im Westen, fest der Überzeugung: Hier ist nix mehr los. Man sollte eher nach Madrid ziehen. Also, niemand in meinem Bekanntenkreis hat jemals gedacht, dass Berlin eine Weltstadt wird oder überhaupt, dass die Mauer fallen wird. Ich kenne niemand, der das vorausgesehen hätte. Aber es ist auch der Fall, dass ich mich als Jüdin im Westberlin der 80er Jahre auf irgendeine Art und Weise fremd fühlte. Ich kann Ihnen gerne eine Anekdote dazu erzählen. Ich hatte 1995 eine Ruf an der Uni Potsdam abgelehnt und bin dann als Professor nach Tel Aviv gegangen, dann kam das Einstein Forum auf mich zu, was einfach ein sehr renommiertes Institut ist, und das hat mich schon gereizt. Der in diesem Zusammenhang notwendig zu führenden Gespräche wegen kam ich also mehrmals nach Berlin und ich ging dort dann oft
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über die Friedrichstraße, einmal traf ich dort einen Afrikaner. Der Afrikaner sprach gut deutsch, aber mit einem starken Akzent. Und dann kam ein Taxifahrer auf uns zu – also das war überhaupt nicht mit Absicht, der ist einfach nur schlecht gefahren – und hat uns fast angefahren. Der Afrikaner rief irgendwas wie: »Wo hast du den Führerschein her, du Arschloch?« Und in dem Moment dachte ich, ich kann doch in Deutschland leben. VB: Und Sie sind geblieben, erfreulicherweise. Und Sie sind jetzt Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam. Das kann man, glaube ich, beschreiben als eine Art Think-Tank, vielleicht nicht ganz so einflussreich, wie ein Think-Tank, oder? SN: Also, es kommt auf den Think-Tank an, natürlich. Manche sind einflussreicher als wir, manche nicht. VB: Jedenfalls ein Haus, ein Forum, wo Philosophen, Wissenschaftler, Publizisten und auch Journalisten zusammenkommen, um über philosophische, historische Themen zu diskutieren. Sie haben eine beeindruckende akademische Karriere hinter sich. Ich habe es schon gesagt: Harvard, Yale, Tel Aviv und dann der Ruf ans Einstein Forum. Was hat Sie da interessiert? War es der Namensgeber des Forums, Albert Einstein, der ja Deutscher, Amerikaner und Jude zugleich war? SN: Ich glaube, das hat die Findungskommission interessiert, dass ich irgendwie diesem Anspruch – also nicht von der Leistung her, sondern von der Kultur her – entsprach. Also, ich muss dazu sagen, ich hatte selber absolut keinen Bezug zu Einstein und ich halte auch nichts von einem Einstein-Kult, es gibt dazu auch einen Artikel von mir auf der Einstein-Forum-Website. Ich musste selber einen Weg zu Einstein finden, nicht unbedingt zu Einstein als Physiker, sondern zu Einstein als absolut moralisch integrer, engagierter Public Intellectual, der fast immer recht hatte. Interessanterweise, der einzige Punkt, wo ich glaube, dass er nicht recht hatte, war, dass er nie wieder einen Fuß nach Deutschland setzen wollte und einfach nicht daran glaubte, dass Deutschland wieder ein Land werden könnte, wo Juden, Fremde, Ausländer gut leben können. Und noch etwas eher Persönliches: Ich habe drei Kinder in Berlin großgezogen. Heute habe ich mit einer meiner Töchter u. a. über die Kompliziertheit gesprochen, halb deutsch, halb jüdisch zu sein. Die kommen damit zurecht. Ich sage nicht, dass es keine Probleme damit gibt, aber ich sehe darin schon eine große Hoffnung, auf die man bauen kann.
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VB: Außer Albert Einstein gab es noch viele andere Persönlichkeiten, die während der Nazizeit Deutschland verlassen haben, und viele von ihnen haben nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westdeutschland fast eine feindselige Haltung erleben müssen: Thomas Mann zum Beispiel, auch Marlene Dietrich, auch Willi Brandt wurde Zeit seines Lebens darauf angesprochen, dass er Emigrant war . . . SN: . . . von Adenauer, muss man sich in Erinnerung halten, und nicht etwa nur von Franz-Josef Strauß. VB: Richard Schröder, ist das auch so ein Nachkriegsreflex gewesen, den es ebenfalls im Osten gab? RS: Also, ich könnte jetzt aus meiner Erinnerung nichts dazu beitragen. Das hat aber vielleicht auch seine Gründe darin, dass vieles von dem, was dieser und jener gedacht hat, nicht in den Zeitungen stand. Also, natürlich haben sich gar nicht so wenige Emigranten bei ihrer Rückkehr für die DDR entschieden: Bertolt Brecht zum Beispiel kam aus den USA in die DDR. Auch übrigens die Gruppe Ulbricht, die dann auch die Macht in Ostdeutschland übernommen hat, kam aus dem sowjetischen Exil. Ich meine, Walter Ulbricht war im deutlichen Unterschied zu Honecker, ein richtig gehend gehasster Mann. Aber nicht, weil er im Exil war, sondern wegen der Politik, die er machte. VB: Christoph Bergner, Susan Neiman hat im Zusammenhang mit der feindseligen Haltung gegen ehemalige Emigranten in Deutschland auf Konrad Adenauer, eine Ikone Ihrer Partei, Bezug genommen. Ist Ihnen dieser Teil der Parteigeschichte manchmal auch ein bisschen unangenehm? CB: Also, dieser Umstand ist mir jedenfalls so nicht bekannt gewesen. Es hat übrigens auch Instrumentalisierungen dieses Themas vonseiten der DDR gegeben. Aber wenn ich noch mal auf Susan Neiman zurückkommen darf, in der Frage, wie die Ängste nach der deutschen Einheit abgebaut werden konnten bei denen, die Grund hatten Angst zu haben: Ich glaube, dass ein wichtiger Prozess dabei nicht gering geschätzt werden darf, nämlich das klare Bemühen Deutschlands, sich für die Vereinigung Europas einzusetzen. Also, Helmut Kohl hat ja auch gegen Widerstände, die bis in die eigene Partei hinein reichten, die gemeinsame europäische Währung, gewissermaßen als ein Faustpfand dafür, dass es keinen deutschen Sonderwege geben wird, etabliert. Ich bin überzeugt, es war von entscheidender Bedeutung, dass die deutsche Einheit immer gewissermaßen als Teil eines Prozesses gesehen wurde, der Europa, und zwar
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nun auch das östlichere Europa, Polen und unsere östlichen Nachbarn, zusammenfügt. Und ich denke, dass dies ein Grund war, der wieder zur Vertrauensbildung beitrug, und außerdem, wenn ich das noch sagen darf, wir hatten mit dem Transformationsprozess nach der Phase der unmittelbaren Euphorie so viel zu kämpfen, und so viel zu tun, dass jeder, der die Situation in Deutschland beobachtete, gar nicht auf die Idee kommen konnte, dass wir in nationale Überheblichkeit verfallen könnten. Also, wer diese ganzen Geschichten, mit denen wir uns damals herumgeschlagen haben, sich vor Augen führte, der musste auch begreifen, das ist jetzt nicht der Ort, an dem Chauvinismus aufblüht, oder so etwas, sondern das ist der Ort, wo eine Menge an ganz realen Problemen zu bewältigen war. VB: Marek Prawda, Christoph Bergner erwähnte gerade den Transformationsprozess, den Deutschland Ost und West durchmachen musste nach der Vereinigung. Polen hatte ja keinen großen Bruder, keinen wohlhabenden Bruder, der eventuell zur Seite stehen konnte. War das von Vorteil oder von Nachteil? MP: Ja, wenn es uns nicht gut geht, dann sagen wir, es war ein Nachteil. Und wenn wir Erfolge haben, dann sagen wir, es war von Vorteil. Und damals war es zumindest von Vorteil, dass wir nicht zu viel nachdenken konnten, sondern uns schnell an die Arbeit machen mussten. Unser damaliger Finanzminister Balcerowicz hat uns gesagt, jetzt müssen wir unseren Staat verändern, die Wirtschaft vom Kopf auf die Füße stellen, und wir haben dabei zwei Wege vor uns, der eine ist riskant und der andere hoffnungslos. So fiel uns die Wahl natürlich nicht schwer. Ich kann mich erinnern, dass damals sehr viele deutsche Berater die Nase rümpften. Ihnen hat das Balcerowicz-Konzept nicht so gut gefallen. Ganz anders die Reaktion der Amerikaner. Die haben gesagt: Ihr schafft es, ihr seid fantastisch. Und wir fanden dieses Urteil irgendwie zutreffend. Das erklärt auch eine gewisse Aufmerksamkeit, die Polen den Amerikanern gegenüber aufbringt, spätestens seit dieser Zeit. Aber wir sind nunmehr 20 Jahre danach im Großen und Ganzen vor allem mit der Wirtschaftsreform eher zufrieden und glauben, dass die Alternativen keine wirklichen Alternativen waren. VB: Weil Sie gerade Amerika erwähnt haben: Das Vertrauen gegenüber Amerika war zeitweise stärker als gegenüber Deutschland. MP: Ja, das hat etwas mit der Ungleichzeitigkeit der Debatten in Polen und in Deutschland, auch mit der Ungleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Prozessen zu tun. Polen hat sozusagen Deutschland in der Rolle eines loyalen Partners abgelöst – so haben wir es uns zu einer bestimmten Zeit zumindest eingebildet . . .
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VB: Für Amerika? MP: Für Amerika, ja. Und das war zum Beispiel bei dem Irakkrieg zu sehen. Deutschland hat die erste Gelegenheit genutzt, wie die Frau Neiman sagte, eine moralische Politik zu führen, sich zu emanzipieren. Für Polen war das die erste Gelegenheit damals sich loyal gegenüber dem großen Partner in der NATO zu präsentieren. Heute sind wir in der Phase, wo wir zu einem sehr kritischen Partner Amerikas geworden sind, denke ich. VB: Warum hat sich das jetzt verändert? Warum gerade jetzt, wo doch Barack Obama als neuer Präsident der USA sich noch mehr nach Europa wendet als damals George W. Bush. MP: Nein, ich meine, dass wir jetzt in Polen in einer Phase sind, wo wir vielmehr mit Europa zusammenarbeiten bzw. gemeinsame Projekte schmieden. Diese Entwicklungen folgen einer einfachen Gesetzmäßigkeit. Wie in Deutschland in der Zeit von Adenauer. Damals hatte man viel mehr vertrauen zur NATO als zur europäischen Integration. Diese Phase musste auch Polen durchlaufen. Jetzt sind wir in eine neue Phase gekommen mit Barack Obama, und ich glaube, dass wir uns nur als Europäer als potente Partner qualifizieren können. VB: Sie haben jetzt viel über Europa gesprochen und ganz wenig über Deutschland. Also, Deutschland hat keine besondere Rolle mehr für Polen? Wir sind alle vielmehr in einen großen europäischen Zusammenhang eingebettet? MP: Also, wir haben natürlich eine bilaterale Agenda mit Deutschland. Nicht immer ist das die Agenda, die wir wollen. Aber natürlich sind wir jetzt auf dem Weg, mit Deutschland an einem gemeinsamen europäischen Konzept zu arbeiten. Ich glaube, dass wir in der Zukunft die bilateralen Themen immer etwas niedriger hängen werden, aber nicht so, dass wir im deutsch-polnischen Verhältnis das Bilaterale verlieren. Die bilaterale Botschaft in Deutschland ist sehr groß und wird nicht kleiner, schon deshalb nicht, weil die Themen uns nicht fehlen. Dennoch glaube ich schon, dass wir in den nächsten Jahren viel mehr, ja, mit einer Stimme in Europa sprechen werden. VB: Richard Schröder, ist Ihnen eigentlich Polen in der Zeit der Kaczyński-Brüder fremd geworden?
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RS: Ich habe mir immer gesagt, dass die Kaczyński-Brüder nicht für alle Polen sprechen. Aber geärgert hat es mich schon, dass da eine Tonart wieder auftauchte, die nicht zu dem passte, was ich mir für die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses erwartet hatte. Nämlich, dass es mal so gut und so unproblematisch an unserer gemeinsamen Grenze zugeht wie etwa an der zu Frankreich. Da war das ein gewisser Rückschlag. Die Kaczyński-Brüder haben dann aber den letzten Ministerpräsidenten nicht mehr stellen können. Ja, auf der anderen Seite ist es mir bewusst, in der Ostdeutschen Bürgerbewegung gibt es ja auch Leute, die sozusagen dem umgekehrten Schwarz-Weiß-Denken anheimgefallen sind, die Kommunisten waren die größten Meister im Schwarz-Weiß-Denken, aber das konnte ja auch abfärben auf die Oppositionellen und dann konnte es passieren, dass man anfängt Gespenster zu sehen, nämlich überall die finsteren Mächte der Vergangenheit noch am Werke. Solche Stimmen gibt es gelegentlich auch bei uns in Ostdeutschland. Damit muss man rechnen, muss aufpassen, dass sie nicht dominant werden, und sie sind ja dann offenbar in Polen auch nicht dominant geblieben. VB: Herr Prawda, Sie sind ja immerhin Botschafter geworden in der KaczyńskiÄra, im Herbst 2006 sind Sie Botschafter geworden. Haben Sie sich da manchmal unwohl gefühlt in Ihrer Rolle? RS: Das sind vielleicht Fragen . . . Also, ich bin Botschafter geworden, wegen des Namens, den ich habe. VB: Das muss man allen nicht russisch Sprechenden vielleicht erklären: »Prawda« heißt »Wahrheit«. MP: Ich gebe zu, es ist eine Anmaßung in diesem Namen, aber manchmal hilft es, wenn die Dinge richtiggestellt werden müssen. Ich glaube, dass wir mit der Vergangenheitsaufarbeitung auch einen Fall von Ungleichzeitigkeit haben. Ganz kurz, eine Geschichte würde ich bei dieser Gelegenheit gerne erzählen: Ich war Anfang 1990, also kurz nach dem Umbruch, in der Phase, wo alles tobte und in der DDR eine intensive Debatte zur Vergangenheit stattfand. Ich und Adam Michnik, Chefredakteur von Gazeta Wyborcza, haben uns damals mit einer Gruppe der Oppositionellen in der DDR getroffen. Die haben uns Dokumente gezeigt über die Aktivitäten der Stasi gegen Solidarność. Also, man hat Leute nach Polen geschickt, damit sie sich einschleichen und dann zurückkommen und dann in der DDR erzählen, dass wir alle amerikanische Agenten sind. Und Adam Michnik wollte sich das gar nicht angucken, weil wir in einer ganz anderen Phase damals waren. Wir waren von uns so begeistert. Wir hatten in Polen eine starke Opposition. Wir brauchten keine
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Abrechnungsrituale, keine Aufarbeitung. Und dann diese deutsche, diese teutonische Gründlichkeit mit der alles gemacht werden muss. Und wir haben keine Zeit dafür. Wir haben eine schwierige, liberale Reform einzuführen, dafür haben wir fünf Minuten Zeit, deshalb, weil, wenn die Leute das verstehen, was das bedeutet, dann werden sie uns das nicht mehr erlauben. Deshalb lasst Eure Gründlichkeit, Eure Suche nach den Agenten. Die Kollegen aus der DDR waren wütend, weil sie Adam Michnik als einen wichtigen Gesprächspartner und Bezugspunkt angesehen hatten. Sie hatten genug von dieser polnischen Arroganz, sich das nicht mal angucken zu wollen. Aber das war auch eine gesetzmäßige Debatte. Damals hatten sie uns gesagt, ihr braucht gerade Legitimität, ihr müsst den Menschen sagen, warum sie dies und jenes erdulden müssen für diese schwierige Reform, deshalb muss man ihnen auch sagen, wer sie so zugerichtet hat. Man muss diese Leute finden, die dran schuld sind, und so weiter. Und Adam hat doziert über die Französische Revolution, ihr seid, hat er gesagt, so wie die Jakobiner, die Jakobiner waren radikal, dann kamen die anderen, die sie geköpft haben und so weiter. Ihr setzt in Deutschland eine Spirale in Gang, die kein Ende hat. Und wir dachten, die Deutschen sind auf den Kopf gefallen. Fünfzehn Jahre danach hat uns diese Debatte in Polen eingeholt. Und alle Deutschen, die nach Polen kamen, hatten das Gefühl, dass die Polen natürlich auf den Kopf gefallen sind, weil sie sich jetzt eine radikale, eine gründliche, eigentlich zu spät geführte Debatte leisten. Ich weiß keine richtige Antwort auf diese Frage. Ich möchte nur sagen, dass es ein Beispiel, ein klinisches Beispiel ist, für die Ungleichzeitigkeit bestimmter Debatten. Mal seid ihr früher, mal sind wir früher bei der Aufarbeitung bestimmter Unwägbarkeiten. Und deshalb verstehen wir uns nicht und belehren uns gegenseitig: »Ach, die sind noch nicht so weit.« Wir führen identische Debatten zu unterschiedlicher Zeit. Wenn wir das etwas häufiger berücksichtigten, hätten wir uns manches Kopfschütteln ersparen können. SN: Ich finde es nur erstaunlich, dass Sie gerade die 15 Jahre ansprachen, die es brauchte, um die Aufarbeitung der Vergangenheit in Polen intensiv in die Wege zu leiten. Erstaunlich deswegen, weil, das auch ungefähr die Zeit war, die Deutschland benötigte, um anzufangen, die Nazivergangenheit aufzuarbeiten. Also, wenn Sie von Ungleichzeitigkeit sprechen, wir stoßen auch in anderen Zeiten auf eben diese. VB: Christoph Bergner, Sie waren ja im Herbst ’89 aktiv beim Neuen Forum. Es war doch auch ein Erfolg der Straße, der Demonstranten, der Bürgerbewegten damals, dass ein Stasiunterlagengesetz erlassen wurde, dass letztlich ermöglichte, dass die Stasiarchive geöffnet wurden. Es gibt heute sogar ein großes Amt, das sich um die Aufarbeitung der Akten bemüht. Im Vergleich zu Osteuropa ist das ja schon eine Einmaligkeit. Wenn man die Aufarbeitung vergleicht mit anderen Ländern
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– wir haben es ja gerade gehört, die Aufarbeitung der Inlandsgeheimdienste verlief da sehr viel schleppender, sehr viel weniger geregelt –, also dann könnte man meinen, dass Deutschland eventuell gar ein Vorbild für die Aufarbeitung jüngster Geschichte sein könnte? CB: Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich ein Vorbild sein können. Man muss die Ausgangsbedingungen fair betrachten, und manches, was in der Gründlichkeit, auch in der Umsetzung des Stasiunterlagengesetzes in Deutschland möglich war, war möglich durch den Status des Zusammenführens von zwei Teilen, wobei ein Teil quasi, in Anführungsstrichen, »unbelastet« war, und der andere Teil die Aufarbeitung nötig hatte. Ich sage das mit großer Vorsicht so klischeehaft, denn die Frage, wo sind die IM in der alten Bundesrepublik, ist ja auch noch eine weitgehend unbeantwortete Frage. Worauf es mir hier ankommt, das ist, dass der Prozess, den wir Aufarbeitung nennen, immer eine Balance zwischen Versöhnung und, gewissermaßen, Bestrafung, oder anders ausgedrückt, zumindest die Ermöglichung eines Wechsels in den gesellschaftlichen Hierarchien darstellt. Und wenn wir heute auf Anfang der 90er Jahre zurückblicken, dann muss man sagen, hat sich die Balance zum Jakobinertum, um den Begriff von Herrn Prawda aufzugreifen, auch durch äußere Umstände verschoben. Also, die ersten Botschaften, ich erinnere mich an die Neujahrsansprache von Václav Havel 1989/90, waren Ansprachen von Bürgerrechtlern, die sehr stark den Gedanken der Aussöhnung und Versöhnung in den Vordergrund stellten, auch die Regierungserklärung von Lothar de Maizière in der ersten frei gewählten Volkskammer hat diesen Punkt sehr, sehr stark betont. Wir kamen dann allerdings in eine Lage, dass wir in einer Gesellschaft, die darauf völlig unvorbereitet war, mit einem hohen Maß an Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden. Und dann kamen Leute in meine Abgeordnetensprechstunde und berichteten: »Mein früherer Kaderleiter, der jetzt Personalchef im Treuhandbetrieb ist, hat mich entlassen, obwohl ich nie in der Partei war.« Das heißt, die Frage war also, wer entlässt wen? Wer ist derjenige, der über die Neugestaltung unserer Gesellschaft bestimmt. Und da diese Neugestaltung mit so problematischen Folgen wie der der Arbeitslosigkeit verbunden war, hat sich die Frage der Aufarbeitung sehr, sehr stark weg von der Versöhnung und Aussöhnung radikalisiert. Das ist der Punkt, den ich beobachtet habe, und der zeigt aus meiner Sicht auch, dass wir Anfang der 90er Jahre diesen starken Impetus hatten, von dem Herr Prawda gesprochen hat. Jedenfalls, die Balance zwischen Aufarbeitung und Bestrafung, zwischen Versöhnung und Bestrafung im Rahmen des Aufarbeitungsprozesses, war sehr, sehr stark durch äußere Probleme gesteuert wie zum Beispiel durch die um sich greifende Arbeitslosigkeit Anfang der 90er Jahre. Das jedenfalls ist meine Wahrnehmung.
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VB: Marek Prawda. MP: Also, wir haben damals kurz nach dem Umbruch immer wieder gesagt, es gibt einen soziologischen Ansatz und einen politischen. Der soziologische: Man muss die Mechanismen aufdecken, um besser zu verstehen, wie es war. Was kann und soll man tun, damit sich dies und jenes nicht wiederholt und so weiter. Hier geht es weniger um das einzelne Individuum. Und der politische Ansatz ist: Man muss wirklich alle Schuldigen finden und auch richtig bestrafen. So wie die deutschen Kollegen sagten, wir konnten nicht mal unsere Agenten richtig bestrafen. Und wir waren natürlich für den soziologischen Ansatz. Aber der Nachteil von diesem konzilianten Weg bei uns war, dass sich doch zu viel aufgestaut hatte und dass wir dann eine bedenkliche, problematische Phase einer wilden Durchleuchtung bekamen. Und im Nachhinein hat man in der polnischen Öffentlichkeit auch sehr häufig den Deutschen recht gegeben. Das hätten wir vielleicht doch damals etwas gründlicher machen sollen, weil es zu politischen Veränderungen kommen musste, und es kommen dann irgendwann Menschen, die daraus politisches Kapital schlagen wollen. Und da hätte man etwas mehr machen müssen, um diese politischen Spiele zu verhindern bzw. unmöglich zu machen. Wir haben noch kein Patentrezept, aber in den letzten Jahren hat man das deutsche Beispiel gründlicher studiert. VB: Susan Neiman, wie haben Sie eigentlich diese Geschichtsaufarbeitung der Deutschen nach dem Mauerfall empfunden? Die Aufarbeitung der Stasiverstrickungen im Osten zum Beispiel und dann natürlich in den letzten Jahren. Christoph Bergner hat es erwähnt, die Verstrickungen einiger Westdeutscher mit der Stasi, wir hatten da ja einen prominenten Fall in Westberlin, den Polizisten, der Benno Ohnesorg erschoss, der sich plötzlich als Stasiagent erwiesen hat. Wie haben Sie diese Diskussion empfunden? SN: Zwei Sätze in zwei Stunden? Ein Buch muss man darüber schreiben . . . Was mir als erstes aufgefallen ist, muss ich sagen, dass eine große Erleichterung durch das Land ging, vor allem durch Westdeutschland: Es gibt endlich etwas anderes aufzuarbeiten als die Nazizeit. Es gibt auch, fürchte ich, immer noch eine Gleichsetzung, dass man wirklich lieber gerne sagt: »Okay, die Stasi war nicht so schlecht wie die Nazis, aber doch fast . . .«. Und . . . Ich freue mich, dass ich nicht nur Buh-Rufe bekomme. Denn ich finde, das ist schon eine sehr gefährliche Tendenz. Ich glaube, im Westen freut man sich immer noch darüber, sagen zu können, nun Papa, oder mittlerweile, Opa hat zwar mitgemacht bei der Wehrmacht, aber im Grunde genommen, und das stimmt auch für viele, war er kein Antisemit, der war
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kein überzeugter Nazi, der wollte das Vaterland gegenüber den bösen Kommunisten verteidigen. Und je böser die Kommunisten gemacht werden, desto unschuldiger ist Papa oder Opa. Ich weiß, dass ist keine allzu verbreitete Meinung. Damit will ich nicht sagen, dass kein Unrecht in der DDR passiert ist, um Gotteswillen. Also vom jüngsten Fall, vom Fall des Polizisten der Ohnesorg erschoss, war ich selber sehr schockiert . . . VB: Warum waren Sie da besonders schockiert? Hatten Sie es nicht erwartet. Es gab ja auch schon in der Zeit davor immer mal wieder Berichte von westdeutschen Verstrickungen mit der Stasi. SN: Also, da muss ich sagen, ich bin 1982 zum ersten Mal nach Berlin gekommen . . . VB: Nach Westberlin? SN: Ja, nach Westberlin. Ich habe die Zeit ja nur durch Hörensagen erlebt, aber es gehörte zum Selbstverständnis der politisch links orientierten Menschen, dass gerade das Attentat auf Benno Ohnesorg der Punkt war, wo man radikalisiert wurde, weil die Bundesrepublik hier faschistische Tendenzen zeigte. Also, das ist schon ein wichtiger Punkt, finde ich, aber man muss es auch nicht dabei lassen. Ich will da nichts leugnen, aber ich bestehe auf einen Unterschied bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, der, wie ich finde, zu wenig Beachtung inzwischen findet. VB: Richard Schröder, ist da, wie Susan Neiman gesagt hat, zu viel gleichgesetzt worden? RS: Also, ich erlebe immer wieder, wenn ich mich zu diesem Thema äußere, von Westdeutschen den Imperativ, »das kann man überhaupt nicht vergleichen«. Zuletzt hatten wir das bei dem Ausdruck »Unrechtsstaat«. Die DDR kann man nicht Unrechtsstaat nennen, aber die Nazizeit war ein Unrechtsstaat. Da das eine Aussage ist über die Institution des Staates, ist es natürlich Blödsinn zu behaupten, das Rechtsstaatlichkeit in der DDR eine größere Rolle gespielt hätte als in der Nazizeit. Beide Mal hat man die Sprüche hören können, »was Recht ist, bestimmen wir«. Dass mit dieser Erlaubnis zur Willkür die Nazis viel schlimmeren Gebrauch gemacht haben, nämlich durch Völkermord, das ist richtig. Aber ich sage immer, wenn man das Jahr 1937 und das Jahr 1974 miteinander vergleicht, da hat noch kein Weltkrieg angefangen, da hat auch die physische Vernichtung der Juden noch
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nicht angefangen. Und wenn man sagt, na ja gut, 1937 war die Nazizeit noch nicht so schlimm, du meine Güte, das Grundrecht war suspendiert, das Führerprinzip war eingeführt und man hatte keine Chance, sich auf seine Rechte zu berufen, und das war für die Betroffenen in beiden Ländern zu diesen Zeiten genau so. Ich halte es für eine Verharmlosung der Nazizeit, wenn man sagt, das was wir da als das Unvergleichliche vor allem kritisieren, ist die Judenvernichtung. SN: Aber 1936 ... RS: Die Judendiskriminierung, hatte schon längst begonnen ... SN: Genau, 1936 gab es bereits die Nürnberger Gesetze . . . RS: Ja! SN: . . . ich wüsste nicht, dass es irgendwas Vergleichbares in der DDR gegeben hätte. RS: Na ja, wenn Sie sich mal 1950/51 ... wie man dort mit den so genannten Kapitalisten umgegangen ist, denen die Lebensmittelkarten und massenhaft das Eigentum entzogen worden sind, dann will ich das wirklich nicht gleichsetzen. Aber zu sagen, das hat gar keine Ähnlichkeit, finde ich nun auch ziemlich rücksichtslos gegenüber denjenigen, die das erleben mussten. Die haben allerdings, und das ist ein wesentlicher Unterschied, zu einem erheblichen Teil ihr Leben retten können, indem sie nach dem Westen geflohen sind. Das ist wohl richtig. Aber schauen Sie sich doch mal an, was da gelaufen ist . . . VB: Sie schauen noch sehr zweifelnd, Susan Neiman. SN: Ähnlichkeiten . . . Ähnlichkeiten gibt’s, natürlich . . . RS: Das waren Diktaturen, keine Rechtsstaaten – keine Demokratien. Ich meine, das ist das Gemeinsame, und da kann man nicht dran vorbei. Sie können natürlich sagen, es gibt besonders schlimme und weniger schlimme Diktaturen. Wer in die Räder kommt und keinen Rechtsanwalt an seiner Seite hat, für den ist es dann schon schlimm genug. Man könnte vielleicht noch folgendes sagen: Ja, die DDR war am Anfang schlimmer als am Ende. Das ist allerdings ein ganz wesentlicher Unterschied. Am Ende bedeutete ja die Höchststrafe Freikauf durch den Westen. Das ist schon rich-
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tig. Das war ein sehr großer Unterschied. Das war der Entspannungspolitik zu verdanken, im Jahre 1950 bis 1961 gab es keinen Freikauf von Häftlingen. Da gab es nur die Gnade, dass man nicht alle 25 Jahre absitzen musste. Ich bin da etwas erregt, weil ich in meiner eigenen Verwandtschaft auch die Todesfälle im Gefängnis habe. Und finde das nicht witzig, wenn man sagt, »na ja, so wenige«. Tot ist tot. SN: Ich will keinen Tod verharmlosen, auf keinen Fall. Ich finde Vergleiche extrem problematisch und ich gebe ein Beispiel aus meinem Land, was hier relativ unbekannt ist, weil, so darf man in Deutschland nicht sprechen, aber das große Blatt New York Times, das ungefähr so linksliberal ist wie die FAZ, hat zunehmend während der Bush-Jahre den Vergleich Regierung George Bush mit der frühen Nazizeit gemacht. Und ich kann Ihnen alle Beispiele von Unrecht geben, von Überwachung, von Kriegen, die mit ganz bewussten Lügen angefangen wurden bis zum Einsperren von Menschen, Verschwinden lassen von Menschen, also – wie gesagt, ich finde den Vergleich auch problematisch, aber es waren eine große Zahl von Amerikanern wirklich beängstigt, dass wir auch in die Richtung gehen könnten. Nun kann man mit Hilfe dieses Beispiels vielleicht zu dem Schluss kommen, den Vergleich mit den Nazis gänzlich zu lassen. Ich jedenfalls wäre eigentlich fast dafür. Nazi ist oft inzwischen einfach zum Symbol geworden für das Böse überhaupt. Vielleicht sollen wir es einfach dabei belassen. VB: Marek Prawda, gibt es da vielleicht irgendeine Tradition des preußischen Militarismus, der sich durch das 20. Jahrhundert zieht, irgendetwas, wo Sie auch sagen würden, ja, da gibt es Strukturen, die vielleicht auch historisch begründet sind, die auch vielleicht tatsächlich fortgeführt wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR? MP: Also, es gab ja viele klischeehafte Bezeichnungen oder auch Analysen über die DDR, wo man tatsächlich diese Parallele zog. Man hat über eine Mischung aus dem preußischen Stil und der Ideologisierung des politischen Lebens gesprochen und so weiter. Ja, wir sprechen auch gerne über zwei Totalitarismen, wo wir manchmal Totalitarismus und autoritäres Regime versuchen zu differenzieren, denn nach der Stalinismuszeit ist das, was wir in Polen hatten, doch keine Tragödie gewesen, das muss man auch sagen. Wir haben immer die Zustände in der DDR für etwas schwieriger gehalten. Wir haben uns, schon in den 70er und 80er Jahren, eigentlich nicht vergleichen können mit der DDR. Aber dieses Klischee, die DDR-Bürger, das sind brave Bürger, die sich gegenseitig abhören und ausspähen und darin ein überdurchschnittliches Talent haben, kommt vielleicht einer recht freien Definition des Preußischen nahe bzw. dem, was man so unter Preußentum in dieser Hinsicht in
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Polen versteht. Also, in dem Sinne hat man sicherlich darüber so gesprochen. Oder denken sie nur an die linientreuen Fanatiker –, natürlich war das etwas, was diese harten Urteile begünstigte. VB: Sie waren ja 1975 bis 1979 hier schräg gegenüber an der Karl-Marx-Universität, wie sie früher noch hieß, Student, junger Student, und haben Arbeitsökonomie studiert, aber, wie Sie mir vorher schon gesagt haben, nicht wirklich aus Liebe zum Fach, sondern weil Sie das Ausland kennenlernen wollten. Wie haben Sie diese DDR Mitte der 70er bis Ende der 70er Jahre empfunden? Was war das für ein Land? MP: Ja, ich bin in die DDR gekommen, weil das das einzige erreichbare Ausland war für uns, und ich habe auf Sprachen gesetzt und ich war neugierig einfach auf die andere Gesellschaft, ich dachte, ich kann eben diese mit dem Studium, mit dem Aufenthalt in diesem Lande besser verstehen. Auch wollte ich Journalist werden, und ich dachte, dass ich mich darauf durch diese praktische Erfahrung am besten vorbereiten konnte. Ich hatte natürlich keine Illusionen, was die Ausbildung an der Uni betrifft, dennoch dachte ich, dass man im Ausland die Außenperspektive geboten bekommt, dass man sich selbst mit den Augen der anderen betrachten kann. Das ist eine Erfahrung, die durch nichts zu ersetzen ist. Deshalb habe ich das gemacht. Ich habe viele Freunde in der DDR gewonnen und habe mich immer bemüht, auch die andere Seite zu sehen. Dieses Klischee, von dem ich gerade gesprochen habe, versuche ich immer zu revidieren. Ich fand mich als Experte von der DDR berechtigt, etwas anderes zu sagen. Voriges Jahr hat Andrzej Wajda, der polnische Regisseur, einen Film in Berlin auf der Berlinale gezeigt und Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist gekommen, weil sie mit Wajda sprechen wollte. Und sie hat ihm erzählt, dass sie als DDR-Studentin – übrigens war sie auch an der KMU, sie sehen also, man wird was, wenn man hier studiert –, also, sie hat ihm erzählt, dass sie damals, das muss Ende der siebziger Jahre gewesen sein, die ganze Nacht über nach Danzig mit dem Zug gefahren ist, um einen seiner systemkritischen Filme zu sehen. Das war sehr ergreifend für Wajda. Und das finde ich sehr symbolisch für die andere Seite der DDR. Das war ein Land von vielen Freunden, die sich wirklich für mein Land interessierten, die auch Polnisch gelernt haben, die nach Warschau zu mir kamen, u. a. auch um an die westdeutsche Literatur zu gelangen. Die DDR lag nicht nur aus unserer Sicht »östlicher« als Polen – sie verstehen, wie ich das meine. Aber das ist wirklich die Erfahrung, die mir sehr wichtig ist und, ja, die Aktion Sühnezeichen verbinden wir viel stärker mit der DDR. Da gab es katholische und evangelische Laien, die Aktionen organisiert haben für die Jugend, die nach Polen kamen, um sich dort mit den Gedenkstätten, mit den Konzentrationslagern, den Museen zu beschäftigen. Und diese Menschen sind es, von denen der damalige
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Ministerpräsident Mazowiecki spricht, wenn er über deutsch-polnische Beziehungen spricht, er meint dann immer ausschließlich seine Freunde von der Aktion Sühnezeichen. VB: Eine Frage an Christoph Bergner und Richard Schröder: War Polen in den 80er Jahren ein Vorbild des Wandels? RS: Also, in Polen zweifellos. Das in Polen Solidarność möglich war, das hat uns mit Neid erfüllt. Hing natürlich auch damit zusammen, dass die katholische Kirche für Polen eine viel größere Rolle gespielt hat als in Deutschland, als in der DDR die evangelischen Kirchen, die es da schon mal im Plural gibt. Hängt wohl auch damit zusammen, dass die katholische Kirche in der Zeit der polnischen Teilungen eine nationale Institution geblieben ist. Solche Zusammenhänge, der oppositionelle Geist, der sich in Solidarność formulierte, konnte eine Legitimation über Jahrhunderte für sich in Anspruch nehmen. Das war natürlich alles in der DDR so nicht. Und insofern sind wir nicht gleich verzweifelt, weil in der DDR keine Solidarność entstanden ist. Wir wussten, dass das nicht zu erwarten war. Aber es war natürlich ein Hoffnungszeichen. Als dann die Einreise, die Urlaubsreise nach Polen, wir konnten ja eine bestimmte Zeit lang mit dem Personalausweis Urlaub in Polen machen, als die dann gestoppt wurden und man nur noch mit einem komplizierten Genehmigungsverfahren nach Polen kommen konnte . . . VB: . . . nach dem Kriegsrecht, muss man sagen. Nach 1980 begann dann diese Form der Restriktion . . . RS: Ja, in der Zeit des Kriegsrechts war die einfache Reise nach Polen nicht mehr möglich. Jedenfalls, da haben wir sie bewundert und beneidet, obwohl wir eben wussten, dass wir nicht in Sack und Asche gehen mussten, weil wir nicht auch so etwas zustande gebracht hatten. VB: Christoph Bergner, haben Sie manchmal gehofft, dass es so was wie eine Solidarność in der DDR geben könnte, oder war das gar nicht denkbar. Die Oppositionsbewegung kam ja eher aus kirchlichen Kreisen und weniger aus Arbeiterkreisen. RS: So ist das. War nicht viel mit Arbeitern . . . CB: Also, ich würde zunächst erst mal noch gern etwas bestätigen, was Marek Prawda gesagt hat bezüglich dieser Subkulturen, die es in den sozialistischen Staaten
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gab und in denen ein Austausch möglich war, der in großer Distanz zur sozialistischen Obrigkeit stattgefunden hat. Ich habe das auch erlebt bei den Kollegen aus den Akademien der Wissenschaften, wenn wir uns zu den Konferenzen des RGW trafen und dann abends zusammensaßen, da haben wir politische Witze ausgetauscht, die in Polen, in der Tschechoslowakei und in der DDR reichlich gab. Wir haben uns auch manchmal als Angehörige von Brudervölkern in Anführungsstrichen bezeichnet, also nicht als Brüder im sozialistischen Sinne. Aber in dieser Situation war klar, Polen war in den Freiheitsmöglichkeiten immer schon einen Schritt voraus, auch bereits vor den 80er Jahren. Also, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die mit brutalster Gewalt in der DDR durchgeführt wurde, hat in Polen nicht durchgeführt werden können. Sie ist gescheitert an dem Freiheitswillen breiter Bevölkerungskreise. Die Platten der Beatles, die wir in Warschau kaufen konnten, mussten wir verstecken, wenn wir den Grenzübergang in Frankfurt an der Oder erreicht hatten. Und manches ist uns dabei auch weggenommen worden. VB: Ihnen auch? CB: Also, mir sind Bücher weggenommen worden. Bücher westlicher Verlage, die ich in Warschau gekauft hatte. Ich habe sie dann zum Teil wiedergekriegt, weil ich mich beim Zoll beschwert hatte. Es gab diese Passage, man darf nur klassische Literatur und Musik mitbringen sowie Literatur und Musik, die das fortschrittliche Kulturgut des besuchten Volkes zum Ausdruck bringen. Diese Passage ist mir noch gut in Erinnerung, weil ich darüber auch die Auseinandersetzung geführt habe. Aber ich glaube, dass das, was sich mit Solidarność abspielte, eigentlich etwas war, was man sich in der DDR nicht hätte vorstellen können. Also, von den Voraussetzungen eher nicht. VB: Warum nicht? CB: Ja, zunächst einmal, wir hatten 500 000 sowjetische Militärangehörige, die hier in diesem kleinen Territorium stationiert waren. Und wir hatten bereits einschlägige Erfahrungen gemacht – es gab vergleichbare Erfahrungen auch in Polen, 1956. Und nun kommt noch etwas hinzu, nämlich die allabendliche televisuelle Auswanderung über das Westfernsehen in den Westen. Und so verrückt das sein mag, auch dieser Umstand hatte eine gewisse befriedende Wirkung, jedenfalls dann, wenn es um eine gewisse Konsequenz in der Auseinandersetzung mit dem System ging. Auch dies hat Nischen ermöglicht, die es so in Polen nicht gab. Was mir noch wichtig ist, weil es um die Außenansichten auf Deutschland ging: Nicht vergessen werden sollte, schon Anfang der 80er Jahre hat Solidarność in seinen poli-
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tischen Konzepten die Einheit Deutschlands gefordert. Und zwar aus zwei klaren Einsichten heraus: Man kann, wenn wir Freiheit wollen, dem deutschen Volk nicht das Selbstbestimmungsrecht nehmen, und wenn wir die Einheit Europas wollen, können wir Deutschland nicht geteilt lassen. Ich finde das sind zwei großartige Beiträge. Zu diesem Zeitpunkt hat man im Westen Europas noch nicht einmal gewagt, an so etwas zu denken. Eine Freiheitsbewegung bei unserem östlichen Nachbarn hat also etwas, über das wir uns nun gemeinsam freuen können, im Grunde genommen schon damals positiv befürwortet. Und das bei einem Nachbarn, der in der Vergangenheit so schreckliche Erfahrungen mit dem deutschen Nachbarn machen musste. Ich finde, das ist ein ganz bemerkenswerter Fakt. VB: Richard Schröder RS: Wir haben die Beobachtung gemacht, die Ungarn, die tschechischen und auch die polnischen Kommunisten, die waren eben zunächst mal Ungarn und dann erst Kommunisten. In der DDR musste das Wort »sozialistisch« das Wort »deutsch« aber übertönen. Und deswegen gab es bei unseren Genossen diesen Hang zum Hundertfünfzigprozentigen. Das ist ja im Grunde, wie soll ich sagen, der Schatten der Teilung, dass die DDR nicht in dem selben Maße eine Nation war bzw. sein konnte, Deutschland war eben eine geteilte Nation. VB: Marek Prawda, Sie waren aktiv in der Solidarność. Wollten Sie schon in den 80er Jahren ein einheitliches Deutschland? MP: Also, das stimmt, dass in den Solidarność-Kreisen darüber gesprochen wurde, zumal wir keine Perspektive für ein freies, souveränes Polen ohne die Vereinigung Deutschlands sehen konnten. Das war zunächst vergleichbar einer Häresie, die man erzählte, aber die sicherlich damals nicht mehrheitsfähig gewesen wäre in den 80er Jahren. Nach den Wahlen, am 4. Juni 1989 gab’s ja die ersten freien Wahlen bei uns, gab es eine Tagung in Warschau. Und ich erinnere mich daran, dass zwei polnische Politiker über das Recht Deutschlands auf Wiedervereinigung gesprochen haben. Und sie wurden von polnischen Kommunisten natürlich daraufhin sehr hart kritisiert, das sei unverantwortlich, so etwas zu erzählen usw. Und die Deutschen und auch die Franzosen, die an der Tagung teilgenommen hatten, haben diese besagten Positionen mit einem Defizit an politischer Vernunft erklärt. Aber als Helmut Kohl im Oktober in Warschau war, zu diesem Zeitpunkt, wir hatten damals auch die erste nichtkommunistische Regierung, hat man die Wiedervereinigung natürlich als Selbstverständlichkeit angesehen. Deshalb würde ich hier ergänzen, was wir bereits ganz am Anfang der Debatte im Zusammenhang mit der Frage, ob man sich
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vor einem vereinigten Deutschland fürchtete, angesprochen haben. Es gab natürlich diese Fragen, diese Unsicherheit, aber das war bei uns überschattet durch die Hoffnung und durch die Erkenntnis, dass es anders nicht geht. Und ein vereinigtes Deutschland in Europa ist ja im Grunde keine Gefahr für uns. Es kam dann im Zuge des Vereinigungsprozesses zu Zweifeln in Polen als die Frage der Grenze wieder auftauchte und nicht so eindeutig gelöst wurde – zunächst jedenfalls nicht eindeutig. Dann kam es zu Kommentaren auch in Deutschland: »Aha, die Polen mit einem für sie typischen Misstrauen freuen sich ungenügend über die Vereinigung Deutschlands.« Das waren dieselben Journalisten, die vor einem halben Jahr über die defizitäre Vernunft der Polen gesprochen haben. VB: Susan Neiman, wie ging es Ihnen in dieser Periode vom Herbst ’89 bis zum Frühjahr ’90, wo es sich ja entschied, dass Deutschland sehr schnell vereinigt werden würde. Gab es da Momente, wo Sie gesagt haben, das geht mir zu schnell, da habe ich Ängste? Oder konnten Sie sich unvoreingenommen einfach freuen mit den Deutschen? SN: Es gab auch Ängste, das gebe ich gerne zu. Da war ich gar nicht alleine. Dann aber kam ein Moment, wo ich dachte, die Wiedervereinigung geht zu schnell. Ich hatte damals mit vielen gesprochen, die wirklich auf einen Dritten Weg hofften. Ich komme zurück auf das, was Herr Prawda gesagt hat: Man darf nicht vergessen, das war ein historischer Moment, den man überall auf der Welt verfolgt hat; einfache Menschen hatten die Gestaltung der Geschichte selbst in ihre Hände genommen und sie darüber hinaus auch noch zu einem doch guten Ende gebracht. Und mit dieser Erfahrung, dass man die Geschichte selbst gestalten, neu gestalten kann, war bei vielen Linken im Westen auch die Hoffnung verbunden, man könne einen eigenständigen, einen Dritten Weg einschlagen. Das war eine Hoffnung von sehr vielen, und ich denke heute eine langsamere Wiedervereinigung hätte uns vielleicht allen gut getan, zumal wir mit der Weltwirtschaftskrise sehen, was der unbegrenzt agierende Kapitalismus so mit sich bringen kann. Also, dass diese naiven oder idealistischen Vorstellungen von der Neugestaltung einer ganzen Gesellschaft relativ schnell verflossen waren, darüber kann man sich im Nachhinein freuen, aber dass es wirklich nur zwei Möglichkeiten geben soll . . . ich jedenfalls finde zwei Wege einfach zu wenig. VB: Marek Prawda, Sie haben gerade ein wenig gelächelt als Sie das hörten. Diese Erfahrung haben ja viele gemacht in Osteuropa und in der DDR, dass es da westeuropäische Erwartungen gab in Hinblick auf einen Dritten Weg. Vielleicht sogar manchmal mehr als die Osteuropäer es eigentlich wollten. Oder?
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MP: Also, wir hatten damals folgende Vorstellung: Bloß keine Dritten Wege! Bloß keine historischen Experimente! Wir hatten so viele historische Experimente hinter uns, dass wir . . . VB: Christoph Bergner nickt. MP: Wir hatten so viele historische Experimente, so dass das einzige Programm, das wir hatten war: Der Osten will Westen werden. Und das haben wir nicht als eine Bevormundung oder De-facto-Bevormundung aufgefasst, sondern gerade als Ausdruck der geistigen inneren Souveränität, weil wir uns so stark fühlten, dass wir einfach sehr schnell das Nötige tun wollten. Aber, jetzt der zweite Punkt, wir haben sehr wohl verstanden, wie anders die Situation in der DDR war. Deshalb hat man bei uns schon damals sehr viel Verständnis für die etwas kleinere Opposition in der DDR gehabt, für die es wichtig war, dass man etwas Eigenes hineinbringt in diese neue Phase. Und dass da eine Konstellation vorlag, die wir so nicht hatten: Es gab den großen Bruder. Und da lauerte für nicht wenige die Gefahr der neuen Bevormundung. Sicher, das war ein Luxusproblem, das nur die Leute in der DDR hatten, aber es war sehr wohl nachvollziehbar. Genau wie mit dem antifaschistischen Konzept. Dem antifaschistischen Konzept als Grundlage, als Gründungsmythos der DDR, konnte man beim besten Willen nicht folgen. Aber man konnte schon folgen den Büchern in der DDR, wo dieses Thema sehr gründlich, sehr authentisch bearbeitet wurde. Das habe ich in Erinnerung, Bertolt Brecht und dann zum Schluss Christa Wolf. Man hat bei uns versucht, sich in die Lage der DDR hineinzuversetzen, um zu verstehen, wo das Problem ist. Viele Leute gerieten durch diesen Gründungsmythos der DDR in die Falle. Sie waren in einer Falle, insofern sie das Eigene nicht legitimieren konnten, ohne das System irgendwie zu legitimieren. Aber ich will nicht noch komplizierter werden als ich es eh schon in meinen Ausführungen geworden bin. Aber wir waren immer sehr darum bemüht, die Andersartigkeit der DDR zu verstehen. VB: Susan Neiman, Sie wollten noch was sagen. SN: Ja. Herr Prawda betonte, dass man in Polen genug von Experimenten hatte. Ich hatte bereits gesagt, ich wollte nichts zu Polen sagen, da kenne ich mich viel zu wenig aus. Aber doch eine Anekdote möchte ich erzählen. Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen, vor allem deshalb, weil man weiß, welches Unheil die Sowjetunion über Polen gebracht hatte. Also, das steht außer Frage. Und ich kann ja sehr gut nachvollziehen, dass man gerne so eine automatische Haltung einnimmt wie etwa: Der Feind meines Feindes ist mein Freund, egal was er tut. Also, dass man absolut
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überzeugt war, dass eine amerikanische Form von Kapitalismus der einzige vernünftige Weg sei, nach allem was aus der Sowjetunion gekommen ist. Das verstehe ich. Andererseits habe ich sehr naive Ansichten über Amerika in Polen kennengelernt. Ich will nur von einer Reise erzählen. Mitte der 80er Jahre bin ich als amerikanische Doktorandin, die damals in Westberlin lebte, mal nach Polen gefahren, das erste Mal übrigens. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Gastfreundlichkeit erlebt. Vor allem aus Westberlin kommend, wo man als Amerikanerin immer noch ein bisschen suspekt war, war diese Erfahrung ganz wunderbar. Man fragt nach einer Adresse und schon hat man eine Einladung zum Übernachten. Das war wirklich herrlich. Und in den Diskussionen, die wir oft führten, ging es immer wieder um den angeblich perfekt funktionierenden Kapitalismus. Zur Problematik des angeblich so perfekt funktionierenden Kapitalismus folgende Anekdote: Ich fuhr von Warschau nach Krakau, wo ich mit der größten Gastfreundschaft der Welt empfangen wurde. Und da hat uns ein Herr, ich glaube, er war Professor für Anglistik, mich und meine Freundin durch die Stadt geführt, und dann gelangten wir, es war Mittag, in ein Restaurant auf dem schönen Hauptplatz von Krakau, und wir kamen da rein und er schaute mich an und von ganzem Herzen sagte er: »Es tut mir so leid, aber hier ist es eben so. Ich weiß, in New York muss man in einem Restaurant nie auf einen Tisch warten.« Ich weiß nicht, ob irgendjemand im Publikum mal in einem Restaurant in New York war. Aber diese Vorstellung, dass man nicht mal auf einen Tisch im Restaurant warten müsse in dem perfekten amerikanischen Kapitalismus, die war doch sehr naiv. Wenn man solche Geschichten erlebt, dann kann man zumindest nachvollziehen, wo Positionen herkommen, die da lauten: »Bloß keine Experimente, das funktioniert alles wunderbar im Westen.« Es ist nachvollziehbar, aber dennoch, es entspricht nicht der Realität. VB: Christoph Bergner, Sie wollen noch etwas anmerken. CB: Also, ich bin, ich fühle mich doch so ein bisschen zum Widerspruch herausgefordert . . . RS: Ja, ich auch . . . VB: Bitte. CB: . . . weil ich mir selbst die Entscheidungsfrage damals nicht leicht gemacht habe. Die hat ja auch so ein bisschen mit der politischen Heimatsuche in den Jahren 1989/90 zu tun: Wo geht man hin, wo will man sich engagieren. Und da stand für mich gar nicht die Frage, Experimente oder nicht Experimente. Also, wir wussten,
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dass das, was an Transformation vor uns steht, schwierig genug wird. Die Frage ist vielmehr, auf welches Fundament stellen wir uns. Und, ist das, was uns durch den Beitritt zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Fundament angeboten wird, ein Fundament, das erstens in seiner Erreichbarkeit realistisch ist und zweitens, gemessen an den unzähligen Irrtümern, die auch die deutsche Geschichte prägen, nun wirklich auch ein gelungenes Fundament ist? Aufgrund dieser Fragestellung wurden ja nicht gleich alle zivilgesellschaftlichen Herausforderungen, die zukünftig außerdem auf uns warten, negiert – Klimawandel und anderes mehr. Nur die Frage, von welchem Fundament aus wollen wir es denn tun – und da bin ich jedenfalls zu der klaren Überzeugung gekommen, dass die Art Systemkritik, die letztlich auf der marxistischen Analyse beruht, eine Systemkritik ist, die völlig in die Irre führt. Im Grunde genommen ist das doch alles andere gescheitert von seinen Grundlagen her. Das haben wir ja festgestellt. Ich war ein richtiger Überzeugungstäter, ich jedenfalls war überzeugt: Wir brauchen den Beitritt zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dort finden wir das Fundament, mit dem wir zukünftige Herausforderungen bewältigen können. Dass das für große Teile der Bevölkerung mit Erlösungshoffnungen verbunden war so nach dem Motto: »Dann, wenn wir die Westmark haben, dann haben wir überall alles schlagartig, dann müssen wir auch nicht auf Tische im Restaurant warten und anderes mehr. Dass sich das so nicht bewahrheitet hat, das ist eine ganz andere Frage. Die Systementscheidung, die ja andere osteuropäische Staaten genauso getroffen haben wie wir, war, glaube ich, eine Systementscheidung, die alternativlos war. Man braucht sich doch bloß mal umgucken, was damals in der Diskussion war. Mir jedenfalls hat das kein Vertrauen eingeflößt. Und ich muss einfach sagen, die Geschichte des Grundgesetzes ist eine großartige Geschichte. Ich sage das, weil wir in diesem Jahr nunmehr den 60. Jahrestag des Grundgesetzes feiern. Das ist eine großartige Geschichte und ich habe nicht eingesehen, warum wir nicht auf diesem Fundament aufbauen sollten. VB: Also, Sie haben nie schwache Momente gehabt, wo Sie an ein anderes, ganz anderes Gesellschaftsmodell geglaubt haben? CB: Das Grundgesetz bietet eine hinreichende Voraussetzung dafür, in Freiheit neue Modelle zu entwickeln. Aber das Risiko, dass, wenn ich von einer falschen Gesellschaftsanalyse ausgehe, wieder in einem Garten der Irrtümer lande, das war mir eigentlich viel zu groß. VB: Susan Neiman, Sie wollten noch etwas anmerken.
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Podiumsdikussion
SB: Ja. Ich meine, was man hier bei der Debatte vergisst, ist, dass Europa sozialdemokratisch ist. Barack Obama wird zur Zeit auf eine Weise angegriffen, die man nur verrückt nennen kann. Weil er versucht eine Reform durchzuführen, . . . VB: Sie meinen damit, man muss es kurz erklären, die Reform des Gesundheitssystems. Also, Krankenversicherung für alle. SN: Ja, unter anderem. Aber bleiben wir erst mal beim Gesundheitssystem. Das heißt, man setzt hier voraus, und das im ganzen Europa, schon zum Teil einen Dritten Weg. Und das sollen sie gar nicht unterschätzen. Also, wenn Sie sagen, das existiert nicht mehr – dann stimmt das nicht ganz, also einiges existiert schon von diesen sozialdemokratischen Gedanken. Das ist der erste Punkt, dass man hier viel sozialistischer ist als man wahrnimmt. RS: Sie meinen sozialer? Sie sagen sozialistisch und meinen sozial, wissen Sie. Wir sind da sehr hellhörig. SN: Ich weiß nicht, sozial ist ein komisches Wort, es kann alles oder nichts bedeuten. RS: Sozialistisch auch. SN: Okay. Gut. Aber der zweite Punkt: Herr Bergner, Sie haben von einem »Garten der Irrtümer« gesprochen. Ich kenne keine größeren Irrtümer als etwa diejenigen, die mit der Tatsache verbunden sind, dass zur Zeit in Amerika alle dreizehn Minuten aus Mangel an Gesundheitsversorgung ein Mensch stirbt – vergessen wir das, sagen wir, das ist ein amerikanisches Problem. Und was die Umwelt anbelangt, sie wird unter diesem absolut unbegrenzten Kapitalismus in 10 Jahren nicht mehr zu retten sein. Wenn das kein »Garten der Irrtümer« ist. RS: Ja, aber in der DDR war sie auch nicht mehr zu retten. Planwirtschaft war keineswegs umweltfreundlicher. SN: Also, gut, vielleicht können wir uns doch einigen. Ich bin ja Optimistin von Natur aus, und glaube daher, dass wir doch noch auf einen Dritten Weg langsam kommen. RS: Ich weiß nur nicht, was Sie unter Drittem Weg verstehen. Ich habe genau hingehört. Sie haben zwischendurch gesagt, dass der Kapitalismus der westdeut-
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schen oder europäischen Tradition schon ein Dritter Weg sei. Das könnte ich ja sogar unterschreiben und sagen, die soziale Marktwirtschaft ist ein Konzept, das in den USA offenkundig erstens nicht durchsetzungsfähig ist und zweitens als sozialistisch diskreditiert werden kann. Da sehen Sie die große Breite. Wenn jemand DDR-Erfahrung hat, dann weiß er, dass es Punkte gibt, an denen kann man nichts verbessern, das betrifft nämlich: die Grundrechte, unabhängige Gerichte und die Marktwirtschaft. In welcher Form genauer, darüber kann man reden. Planwirtschaft ist kein Konzept eines sinnvollen Dritten Weges. Das kann nämlich nur mit Diktatur zusammen gemacht werden. Und da wünschte ich mir bei Ihnen schärfere Unterscheidungen. SN: Es ist möglicherweise eine Frage sowohl der Hintergründe als auch der Terminologie. Die Unterscheidungen verstehe ich schon, Herr Schröder. VB: Ich komme noch mal zu Marek Prawda . . . RS: Da beruhige ich mich etwas. VB: Marek Prawda, die »soziale Marktwirtschaft« wird in Deutschland fast schon als eine historische Ikone angesehen. Ist dieser soziale, oder wie auch immer, Kapitalismus in Deutschland ein Vorbild gewesen für Polen? MP: Der Begriff »soziale Marktwirtschaft« findet sich von Anfang an in den Papieren von Solidarność und man hat diesbezüglich, wie ich glaube, in Polen ganz besonders auf das Beispiel Deutschland geschaut. Und das amerikanische Gesundheitssystem ist kein Vorbild für Polen – Frau Neiman, Sie überschätzen unsere Liebe zu Amerika. SN: Hat sich geändert in den letzten Jahren, das haben Sie selber gesagt. MP: Hat sich geändert. Ich muss Sie aber enttäuschen. Zum Beispiel die populärste ausländische Politikerin in Polen ist Angela Merkel, seit Jahren schon, mit großem Vorsprung. Kein amerikanischer Politiker reicht da ran. Barack Obama ist in Polen ziemlich populär, aber ich glaube, das Niveau von Angela Merkel in den Umfragen wird er nicht erreichen. Aber die Frage des Dritten Weges hat sich schon erledigt. Ich habe bereits über die Lage von damals, 1989/90, gesprochen. Und es ging eigentlich darum, dass man den real existierenden Kapitalismus mit einem idealisierten Sozialismus nicht
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Podiumsdikussion
vergleichen sollte. Und das war aber häufig der Fall. Deshalb haben wir uns davor gehütet. VB: Wir haben bereits über die Krise gesprochen und auch über das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft. Die Frage vielleicht an die gesamte Runde: Braucht Demokratie wirtschaftliche Prosperität oder ist Demokratie gefährdet in Krisenzeiten wie diesen? Richard Schröder. RS: Also, es gibt die klassischen Demokratien, die haben auch in schlimmen Zeiten, in Kriegszeiten, materiellen Mangel durchzustehen vermocht und sind nicht auf die Idee gekommen, Demokratie abzuschaffen. Es wird oft behauptet, in Deutschland sei diese Probe noch nicht geleistet. Das kann man so sehen, zumal in der Weimarer Republik ja tatsächlich die Akzeptanz der Demokratie unter den schlimmen wirtschaftlichen Verhältnissen ganz massiv zurückgegangen ist. Aber ich halte es für eine ungerechtfertigte Prognose, wenn behauptet wird, dass wir Deutschen heute, falls nicht ständig Zuwachsraten zu verteilen sind, mehrheitlich der Demokratie überdrüssig würden. Das glaube ich schon deshalb nicht, weil ich sehe, dass zum Beispiel die Prognosen, die Linke werde riesige Wahlergebnisse wegen der Finanzkrise einfahren, eben nicht zutrafen, gut, sie hat sich zwar etwas verbessert, aber riesig war es nicht. Das heißt, die Menschen in Deutschland sind zu einem großen Teil nicht mehr so schnell davon zu überzeugen, dass der Abschied von der Demokratie eine Verbesserung bringen könne. VB: Christoph Bergner, machen Ihnen manchmal Umfragen Angst, gerade auch in Ostdeutschland, was die Akzeptanz der Demokratie angeht? Da schwanken ja so die Zahlen, aber sie bewegen sich dann doch in Bereichen zwischen 35 und fast 50 Prozent der Befragten, die zumindest die Demokratie nicht als idealste Staatsform ansehen. CB: Also ich habe mir jetzt mal den letzten Sachsen-Anhalt-Report oder SachsenAnhalt-Monitor angeschaut, da liegen wir bei über 80 Prozent derjenigen, die die . . . VB: . . . kommt immer darauf an, wie man die Frage stellt . . . CB: ... die die Demokratie von vorn herein als positiv bejahen. Es gibt so etwas wie ein Urmisstrauen gegen Politiker oder das, was man als politische Kaste wahrnimmt, das ist wahr. Und das macht einem auch zu schaffen, wenn man selber sich der Wahl stellt und immer wieder versucht, um Vertrauen zu werben. Man stellt sich
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auch immer wieder die Frage, woher kommt das. Eine Erkenntnis, die den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Demokratie betrifft, ist, glaube ich, wichtig. Ich bin spätesten Ende der 80er Jahre zu der Erkenntnis gekommen, dass Demokratie tatsächlich Marktwirtschaft braucht. Wer offene Grenzen haben will, muss freien Warenverkehr ermöglichen. Und wer den Menschen freie Entwicklungsentscheidungen lassen will, der muss Unternehmensgründung zulassen und Wettbewerb. Also, dieser Zusammenhang ist von den Vätern der sozialen Marktwirtschaft schon gesehen worden – ich verweise auf Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und andere, die diesen Zusammenhang, übrigens in Analysen auch des Dritten Reiches und seiner Diktaturgeschichte, klar dargestellt haben. Und deshalb bin ich also auch immer sehr dafür, dass wir gar nicht ängstlich darauf schielen, wenn die Wirtschaft mal nicht solche Wachstumsraten erzielt, dass dann die Demokratie flöten geht. Aber in dem Maße, wie wir Wettbewerb und Autonomie der Unternehmen und freie Marktwirtschaft durch irgend etwas anderes ersetzen, müssen wir wissen, dass wir ein riskantes Spiel auch mit den demokratischen Institutionen beginnen. VB: Braucht die Marktwirtschaft auch Demokratie? Das Beispiel China ist ja das klassische Gegenbeispiel – Zwanzig Jahre nach dem Massaker von Tian’anmen immer noch eine Diktatur, aber auch eine große Wirtschaftsmacht. CB: Also, ich wage es nicht, über China zu urteilen, weil da sehr viel kulturell Besonderes hinzu kommt. Vielleicht ist es ein Irrtum zu glauben, dass die Marktwirtschaft automatisch Demokratie schafft. RS: Macht die nicht. CB: Denn das tut sie nicht. Zum Beispiel die Zeiten der Franco-Diktatur waren durch marktwirtschaftliche Verhältnisse gekennzeichnet. Also, diese Erwartung ist wahrscheinlich zu optimistisch. Und wer nun glaubt, dass die Reform in China durch die Öffnung der Märkte ausgelöst werden könnte, dürfte enttäuscht werden. Aber umgekehrt glaube ich, dass demokratische Institutionen immer einer Gefährdung ausgesetzt wären, wenn die Autonomie der Person, auch in Gestalt der Unternehmensautonomie, nicht gewahrt bliebe. VB: Marek Prawda, wir sind seit einem guten Jahr in einer schweren Wirtschaftskrise, einer historischen Weltwirtschaftskrise, so muss man fast sagen. Haben die Osteuropäer vielleicht andere, bessere Erfahrungen mit Wandel, mit Umbrüchen, mit solchen Krisensituationen gemacht, weswegen sie vielleicht sogar besser mit
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Podiumsdikussion
so einer Art Krise umgehen können und vielleicht sogar stabiler sind im Kern als westeuropäische Gesellschaften? MP: Na, ich glaube, man kann das nicht mit Sicherheit sagen, weil in sehr vielen osteuropäischen Staaten die Krise sehr akut wurde. Es gibt ja auch die entsprechenden Zahlen, die sehr dramatisch ausfallen, vor allem in den baltischen Staaten, auch in Ungarn. Aber ich glaube, Sie haben recht, wir sollten zumindest eine gewisse Umbruchkompetenz gewonnen haben, weil wir sehr lange in einer Situation gelebt haben, in der es nichts anderes als Unsicherheit gab und Umbruch und Transformation und so weiter. Wir sind jedenfalls etwas erleichtert, weil wie es scheint, Polen durch die Krise mit einem Plus-Wachstum von über 1 Prozent geht, übrigens als einziges Land in Europa. Und daran sehen wir vielleicht, dass die Fundamente dieser Balcerowicz-Reform etwas solider waren als die der Reformen in manch anderen Ländern. Sicherlich ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig, dass sich viele Menschen bei uns eben nicht auf den Staat, sondern sehr viel mehr auf Eigeninitiative verlassen haben. Das war, sagt man, die Stärke der polnischen Reformen. Aber jetzt ist es so, dass wir auch sehr viele Gelder von der EU bekommen. Wir sind gerade in einer Phase, wo wir enorm viel EU-Gelder bekommen, die wir als Defacto-Konjunkturpakete verwenden können. Jeder, der bei Sinnen ist, muss gesehen haben, wie wichtig es ist, in der EU Mitglied zu sein, gerade in einer solchen Krisensituation. Aber wir haben auch versucht, auf die Krise sehr unamerikanisch zu reagieren, das heißt, wir haben keine schuldenfinanzierten Ausgaben riskiert, um die Konjunktur zu beleben. In diesem Sinne ist die deutsche Politik uns näher als die amerikanische. Aber ansonsten ist auch, glaube ich, ein bisschen Glück dabei. Zum Beispiel hatten wir gerade für dieses Jahr eine Steuersenkung geplant. Die Regierung stand unter enormem Druck, eben diese Steuersenkung wieder zurückzunehmen. Sie hat aber die Nerven behalten. Und durch diese Steuersenkung haben wir ein Konsumtionsschub in Polen erhalten, der sehr dazu beigetragen hat, die Exporte, die etwas zurückgegangen waren, zu kompensieren mit den Nachfragen des Binnenmarkt. Und das ist natürlich das Privileg eines etwas größeren Landes, wo die Binnennachfrage ein bisschen hilft über die Runden zu kommen. VB: Aber gleichzeitig gibt es auch starke antieuropäische Kräfte in Polen. Oder sind die schon schwächer geworden, jetzt wo man merkt, dass in Krisenzeiten Hilfe kommt aus Brüssel? MP: Also, die pro-europäische Stimmung ist in Polen sehr deutlich. Selbst die politischen Eliten haben das begriffen. Bis jetzt war es so, dass in den Umfragen zwischen 75 bis 80 Prozent der befragten Bevölkerung für die Mitgliedschaft in der
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Europäischen Union waren. Also, ich denke, wir können davon ausgehen, dass wir keine nennenswerte antieuropäische Stimmung im Volke haben. VB: Susan Neiman, wie sehen Sie das Europa von heute? Fast so wie eine Art Vereinigte Staaten von Europa? Und Deutschland ist nur ein ganz normaler Player wie andere auch? SN: Ich könnte sagen »leider nicht« oder »zum Glück nicht«. Das sind zwei verschiedene Kontinente, aber da sind wir an dem Punkt zurück, wo wir angefangen haben: Ich wünschte mir auch mehr europäisches Selbstbewusstsein. Das mit dem Selbstbewusstsein ist nicht nur ein deutsches Problem. Ich glaube, dass Europa eine viel größere Rolle in der Weltgeschichte spielen könnte, ja, eine viel größere als die Europäer sich das selber vorstellen können. Ich meine, die europäische Einigung, auch wenn sie nicht so dramatisch verlaufen ist, wie die Wiedervereinigung Deutschlands, ist, wenn man so will, auch eines der großen Happy Ends der Weltgeschichte. Da könnten wir, Herr Schröder, zurück zur Debatte über die Bedeutung von »sozial« und »sozialistisch« kommen – am Rande nur, in dem kapitalistischen Land, wo ich herkomme, heißt das, was Sie »sozial« nennen »sozialistisch«. Ich glaube, dass Europa eine absolute Vorbildrolle spielen kann in vielerlei Hinsicht. Ich hoffe, dass die Europäer das zunehmend wahrnehmen. VB: Richard Schröder, wollen wir vielleicht mal in die Zukunft schauen, zehn, zwanzig Jahre in die Zukunft schauen? Und, wo könnte Deutschland dann innerhalb von Europa stehen? Wäre es anstrebenswert, dass wir mehr oder weniger aufgehen in einem großen europäischen Staat? Was sollte übrigbleiben an nationalen Besonderheiten? RS: Europa ist der Kontinent der Nationen. Die Franzosen werden in 10 oder 20 Jahren nicht aufhören Franzosen zu sein. Die Idee, ich fühle mich nicht als Deutscher, sondern als Europäer, gibt es nur in Deutschland. Das wird von den Nachbarn als spezifisch deutsch verstanden. Europa ist auf dem Weg von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat. Nach meiner Auffassung haben wir nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt. Und wir brauchen viel Zeit. Es gibt noch keine echte europäische Öffentlichkeit. Es gibt noch keine europäische Zeitung. Es gibt auch noch keine europäische Amtssprache. Man kann sagen, wir werden uns darauf einrichten müssen, dass noch viele kleine Schritte notwendig sein werden. Und überhaupt, wir können zufrieden sein, wenn die Richtung stimmt. Auch das ist nicht garantiert, dass die Richtung stimmt.
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VB: Susan Neiman. SN: Es gibt natürlich keine europäische Zeitung in diesem Sinne, es gibt aber Ansätze diesbezüglich. Ich gehöre dem Beirat eines Unternehmens an, der eine Internetzeitung zu machen versucht. Eurozine soll sie heißen. Die Zeitungen aus ganz Europa, es sind inzwischen 80, sollen übersetzt und miteinander verbrüdert werden. Sicher, das ist ein kleiner Ansatz, aber immerhin die Versuche gibt es. Ich will damit aber nicht sagen, dass Europa die Vereinigten Staaten widerspiegeln sollte. VB: Christoph Bergner, Sie wollten was sagen. CB: Also, ich glaube, es gibt einen wesentlichen Unterschied zu diesen überseeischen Einwanderungsstaaten, zu denen ja die Vereinigten Staaten gehören. Dort herrscht, mehr oder weniger ausgeprägt, das Leitbild eines Schmelztiegels, während dessen das europäische Kulturmodell das Modell der Vielfalt ist. Und das bringt natürlich ganz eigene Schwierigkeiten mit sich, beispielsweise eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Der Zugang zur gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit geht nicht über eine gemeinsame europäische Amtssprache, sondern geht nur über eine Verbreitung der Mehrsprachigkeit. So hat das jedenfalls eine Expertenkommission, die die Europäische Kommission beauftragt hatte, jetzt festgestellt. Traditionelle Mehrsprachigkeitsinseln, die wir ja in Europa haben, könnten also durchaus Vorbildfunktion für die Zukunft haben. Es gibt in diesem Zusammenhang eine einzige Sorge, mit der ich den europäischen Prozess betrachte, den ich insgesamt natürlich sehr begrüße, und diese Sorge ist, dass die Bürokratie sich auf in viele Sprachen übersetzte Texte berufen muss, um eine Entscheidung zu administrieren. Diese bereits von vielen als bürokratisch wahrgenommene Lenkung Europas gewinnt an Bedeutung. Und da sehe ich im Moment das größte Risiko. VB: Christoph Bergner, wir könnten jetzt noch stundenlang weiter diskutieren. Wir sind jetzt auch schon bei Zukunftsvisionen angekommen. Das freut mich sehr, dass wir einen großen Bogen schlagen konnten, vom preußischen Militarismus hin zur großen Einheit Europas. Unsere Sendezeit aber ist leider vorbei. Ich hoffe, wir werden danach hier noch in kleinerer Runde weiter diskutieren können. Das war also Figaro aus Leipzig, aus dem Gewandhaus, von der Demokratiekonferenz. Wir haben diskutiert mit Susan Neiman, Philosophin, Leiterin des Einstein Forum Potsdam – Danke schön, dass Sie da waren.
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Mit Marek Prawda, dem Botschafter Polens in Deutschland. Danke Herr Prawda. Mit Richard Schröder, Theologe. Danke, Herr Schröder, dass Sie bei uns waren. Und Christoph Bergner, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium.
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Podiumsdikussion
W o r ksh o p i
Freiheit, Partizipation, Verantwortung Ein Web 2.0-Workshop im Rahmen der Internationalen Demokratiekonferenz Leipzig
E i n e Z u s a m m e n fa s s u n g
Facebook, StudiVZ oder Vkontakte – egal, ob in Leipzig, Minsk oder Nowosibirsk: Es gibt kaum jemanden im Alter von 18 bis 25, der keine sozialen Netzwerke benutzt. Längst gehört es zum Alltag, Fotos und Videos ins Netz zu stellen, Artikel auf Wikipedia zu bearbeiten oder der eigenen Meinung in einem Blog Ausdruck zu verleihen. Welche Chancen bietet also die Welt des Web 2.0? Hält sie neue Möglichkeiten der politischen Partizipation bereit? Und welche Risiken sind mit ihr verbunden? Unter der Leitung von Heike Fahrun setzten sich die Teilnehmer eines Workshops im Rahmen der Internationalen Demokratiekonferenz Leipzig mit diesen Fragen theoretisch und praktisch auseinander. In einer Diskussionsrunde zeigte sich schnell die Komplexität und Ambivalenz des Themas. Eine Studentin aus Russland meinte, dass in ihrer Heimat die Bedeutung von Blogs als Informationsquellen gegenüber Zeitungen enorm gewachsen sei. Das Internet stelle einen großen Freiraum dar, während man konventionellen Medien kaum noch trauen könne. Sie fürchtete aber auch, dass Parteien zunehmend versuchen könnten, Inhalte im Netz zu kontrollieren. Diese Sorge scheint nicht unberechtigt. Eine andere Teilnehmerin erzählte, in Serbien würden kritische Facebook-Einträge immer wieder gelöscht. Dass die Freiheit des Internets auch eine Kehrseite hat, zeigte sich in der weiteren Diskussion. Viele Inhalte würden nicht ausreichend redigiert und seien deshalb unzuverlässig. Ein Teilnehmer aus Mazedonien sagte, dass Wikipedia widersprüchliche Informationen über sein Land liefere – je nachdem, in welcher Sprache man die Inhalte der Enzyklopädie aufrufe. Im Zweifelsfall vertrauen viele deshalb eher den Websites etablierter Medien, zum Beispiel den Seiten großer Zeitungen. Neben den Chancen und Risiken, die die Freiheit im Netz mit sich bringt, wurde ein Spannungsfeld zwischen virtuellem und realem Leben gesehen. Einige beklagten den
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Verlust der »face-to-face-Kommunikation«, während andere die Möglichkeit schätzten, sich ohne großen Aufwand mit Gleichgesinnten zu vernetzen, um etwa politische Aktionen zu planen. Auch die Angst, im Netz digitale Spuren zu hinterlassen, die später höchst reale Auswirkungen haben können, kam zur Sprache. Im zweiten Teil des Workshops ging es darum, das Thema zu vertiefen und sich mit dem Diskussionsgegenstand auf praktische Weise zu beschäftigen, indem Bilder und Texte in einem eigenen Blog publiziert wurden. Dort dachte man beispielsweise über die ungleiche Verteilung der Zugangsmöglichkeiten zu modernen Kommunikationsmitteln in der Europäischen Union nach: Zwei Drittel aller Deutschen nutzen das Internet. Dagegen sind es in der Ukraine nur 15 Prozent. Wenn das Internet als »demokratisches Leitmedium« in Europa betrachtet werde, müsse über diese infrastrukturellen Ungleichheiten debattiert werden. Während es einige Workshop-Teilnehmer ins Freie zog, wo sie die Leipziger zu ihrem Internet-Nutzungsverhalten befragten, blieben andere an ihren Computern sitzen – und »reisten dort um die halbe Welt«: Im Chat interviewten sie den moldawischen Journalisten Ion Marandici über dessen Erfahrungen im Netz. Marandici hatte 2007 ein Blog ins Leben gerufen, um den »parteiischen traditionellen Medien« etwas entgegenzusetzen. Viele Journalisten hätten dem neuen Medium zunächst kritisch gegenübergestanden. Heute würden in Moldawien jedoch zahlreiche Blogs zur Information beitragen. Die konventionellen Medien seien dennoch vom Verschwinden bedroht: Nach wie vor werde die Zeitung Timpul gekauft – weil sie die besten Kolumnisten habe. So bleibt als Fazit eines spannenden Workshop-Tages, dass die weiteren Entwicklungen im Internet kaum absehbar sind. Trotz aller Skepsis überwiegen jedoch die Hoffnungen, die die Studierenden aus Ost und West in das neue Medium setzen. Wichtig ist für sie dabei ein verantwortlicher Umgang mit Daten und Information.
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Workshop I
W o r ksh o p I I
»Look the other direction« Ein Schablonen-Workshop im Rahmen der Internationalen Demokratiekonferenz Leipzig
E i n e Z u s a m m e n fa s s u n g
Quer über den grauen Flur im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Leipziger Universität spannt sich eine grüne Wäscheleine. Ein gutes Dutzend Stofftaschen hängt daran, bedruckt mit Motiven, die man so eher nicht erwarten würde: Ein Auge, das zögernd, aber auch neugierig durch das Loch in einer bröckelnden Mauer blickt. Ein Mann in Anzug, der spöttisch ausruft: »Ha Ha Liberty«. Oder der Satz »Die Zukunft kommt näher«, aus dem – je nach Perspektive – Hoffnung oder Angst spricht. Es sind starke Bilder und Worte, die die rund zwanzig Teilnehmer des Workshops »West-Ost-oder? Europa und Mobilität« unter der Leitung von Katja Sieg und Piotr Sankowski gefunden haben. Kritisch sollten sie über Demokratie in Ost und West nachdenken, dem eigenen Blick auf Europa eine künstlerische Form geben. Reichlich Diskussionsstoff lieferten zunächst die provokativen Fragen des ukrainischen Essayisten Mykola Rjabtschuk: Hätte der Westen größere Unterstützung beim Übergang der sozialistischen Staaten zur Demokratie leisten müssen? Ist das gesellschaftliche Modell der westlichen Demokratien wirklich das Beste? Steht die westliche Forderung nach einer liberalen Marktwirtschaft nicht im Widerspruch zum Sozialstaat? Die kritische Haltung Rjabtschuks stieß bei den Studierenden aus Leipzig und Osteuropa auf große Begeisterung. Nachdem sie in den ersten Tagen der Konferenz hauptsächlich die Rolle der Zuhörer eingenommen hatten, fanden sie nun den Raum für ein intensives und spannendes Gespräch. Rjabtschuk habe, so eine Leipziger Studentin, die aktuell brennenden Fragen gestellt. Ein anderer Teilnehmer bemerkte, dass es nach wie vor ein schablonenhaftes Denken in Ost und West gebe. Der Austausch im Rahmen von Veranstaltungen wie der Internationalen Demokratiekonferenz könne aber dabei helfen, Vorurteile abzubauen.
»Look the other direction.«
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Um Schablonen in einem ganz anderen Sinne ging es im zweiten Teil des Workshops. Katja Sieg und Piotr Sankowski brachten den Teilnehmern ein künstlerisches Mittel nahe, das häufig in sozialistischen Staaten angewandt worden sei, um subversive Botschaften zu verbreiten. Systemkritiker hätten schnell erkennbare Schablonen mit kritischen Motiven etwa an Häuserwänden angebracht. Nun lag es an den Teilnehmern, aktuelle Bilder für die drängenden europäischen Themen der Zeit zu finden. Zwei Studentinnen, die eigens aus Sibirien angereist waren, interessierten sich dabei besonders für die deutsche Wiedervereinigung, deren Symbole sie in Leipzig auf Schritt und Tritt begegneten. Ihre Schablone zeigt die beiden Teile Deutschlands, mit großen Nadelstichen zusammengenäht. Ohne die Wiedervereinigung, sagten sie, würden sie wohl kaum Gäste einer Demokratiekonferenz in Leipzig sein. Eine andere Teilnehmerin plädierte dafür, politische Entwicklungen immer auch kritisch zu betrachten. Ihre Schablone zeigt eine ausdrucksstarke Figur, die sich gegen eine gesichtslose Menge stellt. Darüber der Satz: »Look the other direction.« Am Ende eines langen Workshop-Tages, nach der Motivsuche in Illustrierten und Werbeprospekten, dem Abzeichnen, Ausschneiden und Aufdrucken, zeigten sich die Teilnehmer und Kursleiter erschöpft, aber auch zufrieden. Piotr Sankowski stellte fest, dass sich die Diskussion mit Rjabtschuk »als Motor für die künstlerische Produktion« erwiesen habe. Trotz der komplizierten Schablonen-Technik sei es zu ansprechenden, mal mehr, mal weniger provokativen Ergebnissen gekommen. Die Taschen mit ihren Motiven tragen die Teilnehmer nun durch das herbstliche Leipzig. Den einen oder anderen Passanten, der einen zufälligen Blick auf sie wirft, werden sie bestimmt zum Nachdenken anregen.
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Workshop II
V e r l e ih u ng d e s s ä c hsis c h e n K u ns t p r e is e s
Staatsministerin Prof. Sabine von Schorlemer Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung, sehr geehrte Referentinnen und Referenten, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist mir eine Freude, heute zum ersten Mal den Sächsischen Kunstpreis für Toleranz und Demokratie hier in Leipzig auf der internationalen Konferenz »Demokratie im 21. Jahrhundert« verleihen zu dürfen. Diese Konferenz findet statt aus Anlass des Gedenkens an die Friedliche Revolution in der DDR und der Erlangung freiheitlich demokratischer Verhältnisse im östlichen Teil Deutschlands vor 20 Jahren. Die Veranstalter haben sich zum Ziel gesetzt, kritisch Bilanz zu ziehen, aber auch vor allem Zukunftsperspektiven für die Demokratie zu diskutieren. Diese Veranstaltung, die durch einen wissenschaftlichen Diskurs der Demokratie, der Gewaltlosigkeit und der Kritik Stimme verschaffen will, ist zweifelsohne ein würdiger Rahmen für die Verleihung eines den demokratischen »Werten« gewidmeten Kunstpreises des Freistaates Sachsen. Die sächsische Staatsregierung unterstützt diese Konferenz »Demokratie im 21. Jahrhundert«, da sie der Erinnerung an die Freiheitsbewegung des Herbstes 1989 und auch den nachfolgenden Transformationsprozessen in Mittel- und Osteuropa einen zentralen Stellenwert einräumt. Wir dürfen dabei aber nicht übersehen, Demokratie als eine tragende Säule unseres Gesellschaftssystems wird zunehmend infrage gestellt, durch rechtsextremistische Propaganda, durch menschenfeindliche Übergriffe, aber auch durch verklärende und in diesem Sinne auch antidemokratische Sichtweisen auf menschenrechtswidrige Regime wie etwa die sozialistischen Regime vor 1989. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in einer Welt, die zunehmend von Ungleichgewichten und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist, droht mehr und mehr Intoleranz um sich zu greifen. Diese Intoleranz manifestiert sich vielfach in Marginalisierungen einzelner Personen oder Gruppen bzw. in deren Ausgrenzung von politischer und sozialer Teilhabe bis hin zu Diskriminierung und Gewalt. Toleranz bedeutet demgegenüber Respekt und Anerkennung für die kulturellen Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all seinem Reichtum. Toleranz ist eine aktive Grundeinstellung. Sie muss gelernt und auch praktiziert werden. Gefördert wird sie durch Wissen, durch Kommunikation, durch Offenheit über Grenzen hinweg. Toleranz ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sie
Verleihung des sächsischen Kunstpreises
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ist auch eine rechtliche, eine politische Notwendigkeit. Die 28. UNESCO-Generalkonferenz, die 1995 in Paris stattfand, hat ein sehr treffendes Wort für diesen Zusammenhang gefunden: »Toleranz ist der Schlussstein, der die Menschenrechte, den kulturellen Pluralismus, die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält.« Meine Damen und Herren, der Sächsische Kunstpreis für Toleranz und Demokratie, den mein Haus zusammen mit dem Landesverband Soziokultur Sachsen e. V. ausgelobt hat, wendet sich an Akteure, die sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen den brennenden Fragen unserer Gesellschaft widmen. Im Zentrum der Prämierung steht ein künstlerisches Werk. Gefragt wird jedoch vor allem nach dem Kontext seiner Entstehung, nach der gesellschaftlichen Botschaft, die es vermittelt, und auch nach den Formen seiner Vermittlung. Dabei kommt der Einbindung von Menschen, die nach klassischem Verständnis nicht unbedingt als Künstler gelten, eine ganz besondere Bedeutung zu – so wird Kunst zu einem Bindemittel der Gesellschaft. Sie stiftet förmlich an zu Kreativität und Engagement. Die innovativen künstlerischen Ausdrucksformen der Gegenwart, insbesondere in der Konzeptkunst, haben ihre Vorläufer in der künstlerischen Avantgarde der Nachkriegszeit. Der Künstler Josef Beuys, von dem das Bonmot stammt, dass Demokratie Spaß mache, hat Ende der 1960er Jahre die Theorie der sozialen Plastik entwickelt. Jeder Mensch kann danach durch kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und schöpferisch gestaltend auf die Gesellschaft einwirken, und genau deswegen kann Beuys behaupten: »Jeder Mensch ist ein Künstler«. Ich danke den Organisatoren dieser Konferenz, ich danke der Stadt Leipzig ganz herzlich für die Möglichkeit, die Preisverleihung im Rahmen dieser Konferenz vornehmen zu können. Ich danke zugleich dem Landesverband Soziokultur Sachsen e. V. und seinem Geschäftsführer Herrn Knoblich für die inhaltliche und organisatorische Unterstützung. Der Kunstpreis soll vor allem die Auseinandersetzung mit Themen wie einerseits Gewalt und Fremdenhass und andererseits Toleranz und Vielfalt der Kulturen anregen. Er unterstützt insofern die kommunikative Kraft der Kunst und ihr Potential, Menschen einzubinden, aufzurütteln und in der Gesellschaft etwas zu bewegen. Für diesen Preis können Künstler und Künstlerinnen, aber auch gemeinnützige öffentliche Organisationen nominiert werden, deren Wirken, und das ist die Voraussetzung, herausragend und beispielhaft ist. Zentrum ihres Schaffens muss der Freistaat Sachsen sein. Die Akteure selbst können aber in allen möglichen Kunstsparten zu Hause sein. Sie können auch Träger entsprechender Projekte sein. Vorschlagsberechtigt sind natürliche, also Einzelpersonen, und juristische Personen. Eine Selbstbewerbung ist ausgeschlossen. Der Sächsische Kunstpreis für Toleranz und Demokratie ist mit 3000 Euro dotiert. Über die Auswahl der Preisträger entscheidet eine Jury. Ich danke an dieser Stelle herzlich den Mitgliedern der Jury, der Kunstwissenschaftlerin Susanne Altmann, dem Referatsleiter
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Verleihung des sächsischen Kunstpreises
für allgemeine Kunst- und Kulturförderung in meinem Hause, Dr. Fritz Arendt, der Kuratorin Frau Christine Hölzig, dem Geschäftsführer des Sächsischen Musikrates, Herrn Torsten Tannenberg, und natürlich Herrn Knoblich, dem Geschäftsführer des Landesverbandes Soziokultur Sachsen e. V. Diese Jury hat sich intensiv mit den insgesamt vierunddreißig Nominierungen befasst. Aus den eingereichten Arbeiten haben sich relativ zügig sieben wettstreitende Beiträge herauskristallisiert. Und es waren schließlich zwei, die dann doch recht knapp miteinander konkurrierten, zum einen die »Idee 01239 e. V. « aus Dresden-Prohlis und zum anderen das Künstlergut Prösitz e. V. in Mutzschen. Ich möchte sie beide ausdrücklich nennen, denn sowohl die Initiative aus dem urbanen Kulturraum wie die aus dem ländlichen Raum waren außerordentlich wettbewerbsfähig, und die Entscheidung fiel dementsprechend denkbar knapp aus. Letztendlich wurde die Initiative »Idee 01239 e. V.« für den Kunstpreis nominiert. Die »Idee 01239 e. V. « verweist auf die Postleitzahl des Dresdener Stadtteils Prohlis, der wegen seiner Siedlungsdichte, seiner Plattenbauweise, aber auch der problematischen Sozialstruktur zu einem sozialen Brennpunkt im Südosten der sächsischen Landeshauptstadt geworden ist. Die Künstlergruppe hat es in eindrucksvoller Weise vermocht, Kunst und Leben im Stadtteil Prohlis miteinander in Beziehung zu setzen. Ich möchte im Folgenden aus der Begründung der Jury zitieren: »Die Jury hat sich für das Projekt ›Idee 01239 e. V.‹ entschieden, weil sie der Auffassung ist, dass damit ein Kunstprojekt ausgezeichnet wird, das sowohl in künstlerischer wie auch in sozialer Hinsicht große Strahlkraft mit Nachhaltigkeit vereint. Als Integrationsmodell in dem nicht unproblematischen Dresdener Stadtteil Prohlis gelingt es ›Idee 01239 e. V.‹ zu zeigen, dass sich Kunst und Alltagspraxis als Verbündete bewähren. Ursprünglich von drei Künstlern, Eva Hertzsch und Adam Page sowie Thilo Fröbel ins Leben gerufen und organisiert, sind mittlerweile Einwohner von Prohlis über alle Altersgrenzen hinweg zu Akteuren geworden. Mit Künstlerstipendien, Kunst zum Anfassen, Workshops oder auch nur geselligen Abenden ist hier eine soziale Plastik entstanden, die einlöst, was Josef Beuys einst vorschwebte. Schwellenängste gegenüber den jeweils anderen sind längst überwunden. Eigeninitiative und gegenseitiges Interesse führen zu einer hohen Identifikation mit dem Ort Prohlis als lebens- und gestaltenswertem Biotop. ›Idee 01239 e. V.‹ sollte überregionale Nachahmer finden. Der Preis wird dazu beitragen, dieses positive Vorbild bekannt zu machen.«
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Referenten
Vladimir Balzer, Moderator, Redakteur, Autor.
Geboren 1973 in Schwedt/Oder, aufgewachsen in Leipzig. Studium der Germanistik, der Neuesten Geschichte, der Anglistik an der Universität Leipzig und dem University College Dublin. Stipendien und Auslandsaufenthalte in Italien und den USA. Seit 1999 bei Deutschlandradio und seit 2000 bei MDR Figaro.
Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium
des Inneren und Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt a. D. Geboren 1948 in Zwickau. 1967 Abitur mit Berufsausbildung zum Rinderzüchter. 1967–71 Landwirtschaftsstudium in Jena und Halle. 1974 Promotion an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. 1974–90 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Institut für Biochemie der Pflanzen« der Akademie der Wissenschaften in Halle. Seit 1971 Mitglied der CDU. 1989–90 Mitglied des Neuen Forums. 1990–2002 Mitglied des Landtages Sachsen-Anhalt, 1993–94 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. 1991–94 stellvertretender Landesvorsitzender der CDU. 1995–98 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Seit 2002 Mitglied des Bundestages. Seit 2005 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Stefanie Bolzen, Europa-Korrespondentin der Welt-Gruppe.
Geboren 1973 in Mönchengladbach. 1993–99 Studium Neuere Geschichte in Köln und Sevilla. 2000–01 Volontariat an der Axel Springer Journalistenschule in Hamburg und Berlin. 2002 Redakteurin Außenpolitik Die Welt. 2003 Milena Jesenská Fellowship am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien. 2007 Arthur F. Burns Fellowship bei Chicago Tribune. Seit 2009 Korrespondentin der Welt-Gruppe in Brüssel. Seit 2005 ehrenamtliches Vorstandsmitglied von journalist network e. V. (Netzwerk junger Journalisten).
Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej, Universität Warschau.
Geboren 1956. 1992–94 Generaldirektor in der Sejmkanzlei (Parlamentsverwaltung). 1994–95 Gastprofessur an der Philipps-Universität in Marburg sowie 2004–05 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1999–2002 Vizepräsident der Universität Warschau. 1997–2007 Polnischer Co-Vorsitzender der
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Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften Prof. James W. Davis, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Univer-
sität St. Gallen. Geboren 1963 in Marquette, Michigan (USA). 1985–90 Studium der Politikwissenschaften an der Michigan State University und der Columbia University in New York. 1993–95 Lehrtätigkeit an der Columbia University, 1995 dort Promotion. 1995–2002 Assistent am Lehrstuhl für Internationale Politik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. 2002 Habilitation an der LMU. 2002–05 Privatdozent und Oberassistent am Lehrstuhl für Internationale Politik der LMU. Seit 2005 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft und Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen, Universität St. Gallen. Seit 2003 Kolumnist der Münchener Zeitung tz. Mitherausgeber der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft und des European Journal of International Relations.
Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU
Geboren 1961 in Uedem, Kreis Kleve. 1980 bis 1987 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln, seit 1994 Rechtsanwalt. 1983 bis 1989 Kreisvorsitzender der Jungen Union Neuss, 1984 bis 1989 und 1993 bis 1994 Mitglied des Kreistages des Kreises Neuss. 1989 bis 1994 Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands, 1990 bis 1994 Mitglied des Bundesvorstandes der CDU, seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1998 bis 2005 Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2001 bis 2009 Vorsitzender der CDU im Rhein-Kreis Neuss. 2005 bis 2008 Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Okt. 2008 bis Okt. 2009 Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, seit Oktober 2009 Generalsekretär der CDU. Weiteres Engagement: Seit 1997 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), von 1997 bis 2009 Mitglied im Rat der EKD; seit 2001 Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Prof. Dr. Franz Häuser, Rektor der Universität Leipzig.
Geboren 1945 in Limburg a. d. Lahn. 1965–69 Studium der Rechtswissenschaft in Marburg und Bonn. 1970 Erstes Juristisches Staatsexamen, 1974 Zweites Juristisches Staatsexamen. 1974–89 wissenschaftlicher und Hochschulassistent an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens
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an der Universität Mainz. Dort Promotion und Habilitation auf den Gebieten Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Arbeitsrecht. 1992 Berufung auf die Professur für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig. 1994 Umberufung auf die Stiftungsprofessur für Bürgerliches Recht, Bank- und Börsenrecht, Arbeitsrecht. Seit 1998 Co-Direktor des Instituts für deutsches und internationales Bank- und Kapitalmarktrecht der Juristenfakultät der Universität Leipzig. 1997–2000 Prodekan und 2001–02 Dekan der Juristenfakultät. 2002–03 Prorektor für strukturelle Entwicklung. Seit 2003 Rektor der Universität Leipzig. Prof. Dr. Günther Heydemann, Universität Leipzig.
Geboren 1950. 1970–76 Studium der Geschichte, Germanistik, Sozialkunde und des Italienischen an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Bonn, Pisa und Florenz. 1979 Promotion. 1980–92 Wissenschaftlicher Assistent und Mitarbeiter an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Bayreuth und dem Deutschen Historischen Institut in London. 1991 Habilitation. Seit 1993 Professor am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Aktuelle Mitgliedschaften und Funktionen: Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Hannah-Arendt-Instituts, Dresden, Mitglied des Wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V., Berlin, Verantwortlicher Koordinator der Universität Leipzig für die Ohio–Leipzig Cooperation (OLEC); Vertrauensdozent der Friedrich-Naumann-Stiftung an der Universität Leipzig. Seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts.
Prof. Dr. Everhard Holtmann, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Geboren 1946. Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und Publizistik in Münster, Bochum und Wien. 1975 Promotion zum Dr. phil. 1986 Habilitation in Politischer Wissenschaft. Seit 1992 Inhaber der Professur für Systemanalyse und Vergleichende Politik an der Universität Halle-Wittenberg. Mitglied des EUROLOC-Netzwerks und der Joint Research Group on Minor Parties and Independents. Sprecher des SFB 580 Jena/Halle (Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch). Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für Politische Bildung.
Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig.
1977–84 Studium der Germanistik und Evangelischen Theologie Lehramt Sekundarstufe II in Münster. 1983 Erste Staatsprüfung. 1984–86 Referendariat.
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1986 Zweite Staatsprüfung. 1986 Anstellung als Lehrer für Deutsch und Evangelische Religion am Evangelischen Gymnasium Siegen-Weidenau. 1989 Berufung zum Studienrat z. A. im Kirchendienst. 1991 Abordnung als Schulleiter an das Evangelische Schulzentrum Leipzig zum Aufbau einer Grund- und Mittelschule sowie eines Gymnasiums in kirchlicher Trägerschaft. 1997 Ernennung zum Oberstudiendirektor im Kirchendienst. 1999 Beigeordneter für Jugend, Schule und Sport der Stadt Leipzig. 2001–06 Beigeordneter für Jugend, Soziales, Gesundheit und Sport der Stadt Leipzig. 2001–03 Olympiabeauftragter der Stadt Leipzig. Seit 2006 Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Prof. Dr. Peter Graf von Kielmansegg, Präsident der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften a. D., Vizepräsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Studienstiftung des deutschen Volkes a. D. Geboren 1937 in Hannover. 1957–62 Studium der Rechtswissenschaft und der Geschichte an den Universitäten Bonn, Kiel, Tübingen und Oxford. 1971 Habilitation im Fach Politikwissenschaft. 1971–2003 Professor für Politikwissenschaft an den Universitäten Darmstadt, Köln und Mannheim sowie Gastprofessuren an der Georgetown University Washington D. C. und am Bologna Center der Johns Hopkins University. 2003 Emeritierung. 2003–09 Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien und Beiräten, u. a. Wissenschaftsrat und Studienstiftung des deutschen Volkes. Prof. Bascha Mika, Universität der Künste Berlin.
Geboren 1954. Studium der Germanistik, Philosophie und Ethnologie, danach freie Journalistin. 1988–98 erst Redakteurin, dann Reporterin bei der taz (die tageszeitung), Berlin. 1998–2009 Chefredakteurin der taz. Neben Beiträgen in verschiedenen Publikationen veröffentlichte sie 1998 Alice Schwarzer – eine kritische Biographie (Rowohlt). 2003–09 Medienrätin für Berlin-Brandenburg. 2004–09 Aufsichtsrätin der electronic media school (ems) Potsdam-Babelsberg. Seit 2005 Mitglied der Jury für den Theodor-Wolff-Preis. Seit 2007 Honorarprofessorin für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin, seit 2008 Leitung des entsprechenden Studiengangs. Seit 2008 Mitglied des Kuratoriums Reporter Ohne Grenzen und Mitglied des Kuratoriums Internationale Journalistenprogramme IJP e. V.
Prof. Dr. Anatoli Mikhailov, Rektor der European Humanity University Vilnius.
Geboren 1939. 1956–61 Studium der Philosophie und Geschichte an der weißrussischen Staatsuniversität. 1961–66 Aufbaustudium in Weißrussland
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und an der Universität Jena. 1966–74 Dozent am Institut für Philosophie an der weißrussischen Staatsuniversität. 1974–80 Referent für soziale Angelegenheiten am Zentrum für Soziale Entwicklung und Humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen. 1987–91 Leiter des Instituts für Philosophie an der weißrussischen Staatsuniversität. 1992–2004 Rektor der European Humanity University Minsk. 2005–06 Präsident von »E. H. U International« in Vilnius. Seit 2006 Rektor der European Humanity University Vilnius und Professor am Institut für Philosophie. Beteiligung an der Gründung und Organisation zahlreicher internationaler Bildungs- und Forschungsprojekte. Mitglied verschiedener Akademien der Wissenschaften. Prof. Dr. Bogdan Murgescu, Direktor Zentrum für Administrative, Kulturelle und
Wirtschaftliche Studien an der Universität Bukarest. Geboren 1963 in Bukarest. 1986 Magister in Geschichte und Philosophie, Universität Bukarest, 1995 Promotion in Geschichte. 1998–2000 Roman Herzog Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung, Osteuropa-Institut der FU Berlin, Wiederaufnahme 2006. 1986–90 Geschichtslehrer am Liceul industrial. 1990–2000 verschiedene Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Bukarest. Seit 2000 Professor für Geschichtswissenschaft, Gastprofessuren an der Pittsburgh University und der Central European University Budapest. 2007 Gründungsdirektor des Zentrums für Administrative, Kulturelle und Wirtschaftliche Studien der Universität Bukarest. Seit 1993 Mitglied der Rumänischen Kommission für Wirtschaftsgeschichte und für die Geschichte des wirtschaftlichen Denkens. Seit 1999 Präsident der Rumänischen Gesellschaft für Historische Wissenschaften in Bukarest sowie Vizepräsident der Rumänischen Gesellschaft für Historische Wissenschaften. Zahlreiche weitere ehrenamtliche und wissenschaftliche Funktionen.
Prof. Dr. Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums Potsdam.
Geboren in Atlanta, Georgia (USA). Studium der Philosophie an der Harvard University und der Freien Universität Berlin. 1989–96 Professorin für Philosophie an der Yale University. 1996–2000 Professorin für Philosophie an der Tel Aviv University. Seit 2000 Direktorin des Einstein Forums Potsdam.
Boris Nemzow, Vizepremierminister Russlands a. D.
Geboren 1959. 1991–97 Gouverneur der Provinz Nizhegorodsky. 1997–98 Erster Vizepremierminister und Premierminister der Regierung der Russischen Föderation. 1999 Wahl zum stellvertretenden Sprecher der Staatsduma der Russischen Föderation und Fraktionsvorsitz der liberalen Partei »Union der Rech-
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ten Kräfte« (SPS), Vorsitz der Partei SPS. 2004–05 Aufsichtsratsvorsitzender des (Öl-)Konzerns Neftyanoy. 2005–06 Berater des Präsidenten der Ukraine. 2004–08 Mitglied des Föderalen Politischen Rats der Partei SPS. Seit 2008 CoVorsitzender der Demokratischen Oppositionsbewegung »Solidarnost». Dr. Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen.
Geboren 1956 in Kielce, Polen. 1975–79 Studium an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. 1979–90 Forschungsstudium und wissenschaftliche Tätigkeit im Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. 1984 Promotion in Soziologie. 1990–92 Mitglied der Arbeitsgruppe Deutschlandstudien im Institut für Politische Studien, Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau. 1992–98 I. Botschaftssekretär, Botschaftsrat, Gesandter, chargé d’affaires a. i. in der Botschaft der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland. 1998–2001 zunächst stellv., dann Direktor der Abteilung für Westeuropa im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen in Warschau. 2001 und 2005–06 Direktor des Ministerbüros im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen in Warschau. 2001–2005 Botschafter der Republik Polen im Königreich Schweden. Seit 2005 Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland.
Mykola Rjabtschuk, Essayist, Ukraine.
Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ukrainischen Zentrum für Kulturstudien in Kiew, Mitbegründer und Redakteur des Monatsmagazins Krytyka. Autor von fünf Büchern und zahlreichen Artikeln über die Zivilgesellschaft, Staats-/Nationsbildungsprozesse, Nationalismus, nationale Identität und postkommunistische Transition in den postsowjetischen Staaten, insbesondere der Ukraine. Einige der Bücher wurden ins Polnische, Serbische, Französische und Deutsche übersetzt.
Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer. pol. habil. Sabine von Schorlemer, Staatsministerin für
Wissenschaft und Kunst im Freistaat Sachsen Sabine Freifrau von Schorlemer wurde am 30. September 2009 zur Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst berufen. Prof. von Schorlemer lehrte u. a. an den Universitäten Genf, Lausanne und Basel und war vom Jahr 2000 bis September 2009 Lehrstuhlinhaberin für Völkerrecht, Recht der EU und Internationale Beziehungen sowie Auslandsbeauftragte an der TU Dresden.
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Geboren 1959. Sie wuchs in München auf. Studierte Rechts- und Politikwissenschaften sowie Kunstgeschichte in Berlin, Lausanne (Schweiz), München, Hamburg, promovierte 1992 und wurde 1997 habilitiert. Als ausgewiesene Expertin für internationale Angelegenheiten war sie in den Jahren 2004/2005 Mitglied der deutschen Regierungsdelegation in internationalen Vertragsverhandlungen für kulturelle Vielfalt und ist seit Jahren in deutschen und internationalen Expertengruppen sowie Stiftungen tätig. Prof. von Schorlemer ist u. a. Mitglied des Kuratoriums und Patin der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom. Sie ist gewähltes Mitglied der Deutschen UNESCOKommission und war langjährige Beraterin des Auswärtigen Amtes für Politik der Vereinten Nationen. Ihr gelang es im Frühjahr 2009, den weltweit ersten UNESCO-Lehrstuhl in internationalen Beziehungen an die TU Dresden einzuwerben.
Prof. Dr. Richard Schröder, Humboldt Universität zu Berlin.
Geboren 1943 in Frohburg, Sachsen. 1962–68 Studium der Theologie und Philosophie an den kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Berlin, danach Assistent. 1973–77 Pfarrer in Wiederstedt, Harz. 1977 Promotion. 1977–90 Dozent für Philosophie an den kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Berlin. 1990–93 Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät der HU Berlin. 1991 Habilitation an der kirchlichen Hochschule Leipzig. 1992 Ehrenpromotion durch die Theologische Fakultät Göttingen. Seit 1993 Professor für Philosophie in Verbindung mit Systematischer Theologie an der HU Berlin. Seit 1993 Verfassungsrichter im Land Brandenburg. 1995–2000 Vorsitzender des Kuratoriums der EXPO 2000. 1998–2000 1. Vizepräsident der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2001 Mitglied des Nationalen Ethikrates. Seit 2003 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Karel Schwarzenberg, Außenminister der Tschechischen Republik a. D.
Geboren 1937 in Prag. 1943 Übersiedlung nach Strobl/Wolfgangsee. 1957 Matura in Wien, anschließend Studium in Wien, Graz und München. 1965 Übernahme und Management der Schwarzenbergischen Besitzungen. 1984– 91 Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte, in dieser Funktion hat er 1989 mit Lech Wałęsa den Preis des Council of Europe entgegengenommen. 1988–92 Präsident des Kuratoriums des JOANNEUM. Ab 1990 Vorsitzender des Advisory Board von Präsident Havel. Juli 1990 – Januar 1992 Kanzler der Kanzlei des Präsidenten der ČSFR. Seit 2005 Senator im Tschechischen Senat. Januar 2007 – Mai 2009 Außenminister der Tschechischen Republik.
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Prof. Dr. Máté Szabó, Eötvös Loránd Universität Budapest.
Geboren 1956. Studium der Staats-, Rechts- und Politikwissenschaft an der Eötvös Loránd Universität Budapest. 1980 Promotion. 1986–95 verschiedene Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Eötvös Loránd Universität. 1995 Habilitation. Seit 1995 Professor für Politikwissenschaft an der Eötvös Loránd Universität. 1996 Ernennung zum Doktor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. 1998–2002 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des ungarischen Innenministeriums. Seit 2007 Bürgerbeauftragter für Menschenrechte des ungarischen Parlaments. Forschungsstipendien und Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten in Ungarn, Italien, Deutschland und Finnland. Mitglied der Hungarian Political Science Organisation und der Hungarian Sociological Association. Markus Ulbig, Staatsminister des Innern des Freistaats Sachsen.
Geboren 1964 in Zinnwald. Ausbildung zum Funkmechaniker/Elektroniker. Studium an der Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie in Dresden mit dem Abschluss als Verwaltungs- und Betriebswirt (Diplom-VWA). Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Zittau/Görlitz mit dem Abschluss Bachelor of Arts »Unternehmensführung«. Seit 1990 Mitglied der CDU. 1990–92 Büroleiter des Bürgermeisters von Pirna. 1992–99 Leiter des Bauordnungs-/Bauverwaltungsamtes in Pirna. 1998 Ernennung zum Verwaltungsrat. Ab 1999 Referent im Sächsischen Staatsministerium des Innern. 2001–09 Oberbürgermeister der Stadt Pirna. Seit 2009 Sächsischer Staatsminister des Innern. 2009 Theodor-Heuss-Preis »Demokratie lokal gestalten«.
Prof. Dr. Nenad Zakošek, Universität Zagreb.
Geboren 1957 in Slavonski Brod/Kroatien. 1976–81 Studium Politische Wissenschaften in Zagreb. 1981–84 Promotionsstudium am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. 1986–97 verschiedene Positionen in Forschung und Lehre an der Universität Zagreb. 1997–2002 außerordentlicher Professor, seit 2002 ordentlicher Professor an der Universität Zagreb. 2001 und 2005–06 Gastprofessuren in Bratislava/Slowakei und Zadar/Kroatien. Mitarbeit an zahlreichen Forschungsprojekten in Kroatien, Ungarn und Deutschland.
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Danksagung
Die Stadt Leipzig dankt Ihren Partnern für die Unterstützung, Vorbereitung und Durchführung der Konferenz.
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DIETER SEGERT
DAS 41. JAHR EINE ANDERE GESCHICHTE DER DDR
„Behalten wollte er die DDR, aber anders. Seine Version vom Ende des zweiten deutschen Staates [...] hat man so noch nicht gelesen [...] erzählt glänzend und authentisch [...] der Autor kommt locker, manchmal melancholisch, oft ironisch, immer erhellend einher.“ (DIE ZEIT) „Dieter Segert beschreibt von innen heraus sehr selbstkritisch und offen die einzelnen Phasen dieses Prozesses, insbesondere auch die Niederlagen, die er erleiden musste. Aufgrund dieser reflektierten Haltung hat das Buch auch nichts von einer späten Abrechnung an sich, sondern ist zu einer spannenden Geschichte dieses „41. Jahres der DDR“ geworden.“ (SWR 2) „Die Bemühung um die Aufrechterhaltung persönlicher Integrität unter nicht leicht vorstellbaren Bedingungen wird in sehr persönlichen, aber auch kritisch reflektierten Erinnerungen überzeugend dargestellt.“ (Die Presse) 2008, 284 S. GB. 24 S/W-ABB. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78154-7
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DIE DEMOKR ATISCHE REVOLUTION 1989 IN DER DDR
1989, das Jahr des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs in der DDR, begründet eine Zäsur in der neuen deutschen Geschichte. Die „demokratische“, „friedliche“ oder „nachholende“ Revolution beendete nicht nur die „moderne Diktatur“ der SED in Ostdeutschland, sondern auch die mit der „doppelten Staatsgründung“ 1945 bis 1949 entstandene deutsche Teilung – und damit in weiterer Perspektive einen langen „Sonderweg“ Deutschlands in Europa. Das Buch basiert auf einer Ringvorlesung an der Philipps-Universität Marburg, bei der sich Wissenschaftler und Zeitzeugen mit dem demokratischen Umbruch 1989 beschäftigt und nach Ursachen und Verlauf, nach Akteuren und ihren Zielen und nach Wirkungen der friedlichen Revolution gefragt haben, die sich in der Wiedervereinigung nicht erschöpfen. Der Sammelband mit Beiträgen renommierter Autoren, unter ihnen Konrad Jarausch, Martin Sabrow, Joachim Gauck und Werner Schulz zieht Bilanz und liefert dem Leser zugleich eine historische und politische Einordnung der nunmehr schon 20 Jahre zurückliegenden Ereignisse. 2009. 251 S. MIT 4 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20462-4
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