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German Pages 295 [296] Year 2007
Junichi Murakami/Hans-Peter Marutschke/Karl Riesenhuber (Hrsg.) Globalisierung und Recht
Junichi Murakami/Hans-Peter Marutschke/ Karl Riesenhuber (Hrsg.)
Globalisierung und Recht Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert
De Gruyter Recht · Berlin
Rechtswissenschaftlicher Kongress anlässlich des „Deutschland in Japan-Jahr 2005/2006“, 29. September–1. Oktober 2005, Tokio, Japan
Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes und der Alexander von Humboldt-Stiftung.
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-89949-391-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Copyright 2007 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin
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Geleitwort Der DAAD, eine Vereinigung der deutschen Universitäten für den weltweiten akademischen Austausch, pflegt eine lange Tradition in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Japan. Unterstützt durch unser Büro in Tokio und mit Mitteln unserer öffentlichen Geldgeber und Partnerorganisationen werden jährlich Hunderte von angehenden und ausgewiesenen Wissenschaftler/innen im jeweils anderen Land gefördert. Die Jurisprudenz spielte in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit bisher eine besondere Rolle: Die daraus entstehenden Kooperationen sind eine vitale und aktuelle Grundlage deutsch-japanischer Beziehungen. Sie zu pflegen und wieder zu beleben, ist umso wichtiger, als die zunehmende Globalisierung aller Lebens- und Politikbereiche immer mehr Anforderungen an die Gestaltung des internationalen Rechts stellt und beide Länder legitime Interessen der Mitsprache haben, die sie gemeinsam noch wirkungsvoller einbringen könnten. Der DAAD hat sich daher mit Rat und Tat an Vorbereitung und Durchführung des Kongresses über „Globalisierung und Recht“ beteiligt. Wir danken allen Beteiligten und freuen uns nicht zuletzt auch darüber, dass so viele Nachwuchs-Wissenschaftler beider Länder aktiv mitgewirkt haben. Wir erhoffen uns deshalb auch neue Impulse und Ideen für den künftigen Austausch junger Juristen zwischen Japan und Deutschland. Der DAAD wird sich für diese Zusammenarbeit auch in Zukunft engagieren. Dr. Christian Bode, Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes
Geleitwort Japan ist für Deutschland einer der wichtigsten Partner in Wissenschaft und Forschung. Beide Länder können auf eine lange Tradition des gegenseitigen Austausches von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zurückblicken. Allein die AvH hat in den letzten 50 Jahren über 2.000 Wissenschaftler aus Japan gefördert, davon 180 aus dem Bereich der Rechtswissenschaften. Im Gegenzug sind knapp 400 deutsche Nachwuchswissenschaftler auf Empfehlung des Auswahlausschusses der AvH mit einem Forschungsstipendium der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) nach Japan gegangen. Im weltweiten Vergleich stellen die japanischen Humboldtianer damit nach den USA die zweitgrößte Gruppe unter den Alumni der AvH. Auch zwischen den Förderorganisationen bestehen traditionell sehr enge Beziehungen. So führen JSPS und AvH seit vielen Jahren gemeinsame Förderprogramme durch. Der im Rahmen des „Deutschland in Japan“-Jahres (2005–2006) von JSPS, AvH und DAAD gemeinsam veranstaltete Kongress „Globalisierung und Recht“ ist ein erneuter Beleg für die erfolgreiche Zusammenarbeit. Die AvH hat das „Deutschland in Japan“-Jahr genutzt, um sich mit zahlreichen Veranstaltungen und Fördermaßnahmen verstärkt im deutsch-japanischen Wissenschaftleraustausch zu engagieren. Einen der Höhepunkte stellte der hochkarätig besetzte rechtswissenschaftliche Kongress dar, dessen Ergebnisse in diesem Band veröffentlicht werden. Dieser Kongress hat zu einer erheblichen Stärkung der deutsch-japanischen Rechtsbeziehungen geführt. Gleichzeitig wurde durch die Einbeziehung vieler Nachwuchs-Wissenschaftler dafür Sorge getragen, dass die traditionellen rechtswissenschaftlichen Beziehungen auch in der jüngeren Juristengeneration fortgesetzt werden. Die AvH wird ihren Beitrag dazu leisten, die positiven Impulse des Kongresses durch einen regen Wissenschaftleraustausch in der Zukunft Früchte tragen zu lassen. Dr. Georg Schütte, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung
Vorwort der Herausgeber 2005/2006 war das „Deutschland in Japan“-Jahr. In einer Vielzahl von Einzelveranstaltungen wurden aus diesem Anlass die Beziehungen der beiden Länder hervorgehoben, neu begründet und vertieft. Im Rahmen der so genannten „Wissenschaftssäule“ haben die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und die Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) in Zusammenarbeit mit der Japanisch-Deutschen Gesellschaft für Rechtswissenschaft, dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, der Deutsch-Japanischen Juristenvereinigung und der Deutschen Botschaft in Japan unter dem Hauptthema „Globalisierung und Recht“ am 29. und 30. September 2005 einen rechtsvergleichenden Kongress veranstaltet.1 Die wissenschaftliche Koordination des Kongresses oblag Junichi Murakami und Hans-Peter Marutschke. Nachdem bereits im September 2006 eine japanische Fassung der Tagungsbeiträge publiziert werden konnte,2 legen die Herausgeber mit dem vorliegenden Band eine deutsche Fassung vor. Der Band enthält neben den Eröffnungs- und Festvorträgen die Referate und Beiträge aus den Arbeitsgruppen. Überwiegend werden die Beiträge hier in ihrer ursprünglichen Form vorgelegt, teils in aktualisierter Fassung. Nur einige wenige Beiträge standen für den Druck nicht zur Verfügung. Ungeachtet dessen vermittelt der Band ein weitgehend vollständiges Bild von dem Kongress. Ziel der Tagung und des Tagungsbandes ist es, die Vielfalt und Breite der traditionell starken und intensiven Beziehungen der Jurisprudenz 1 S. dazu das Programm des Kongresses, unten, S. XIX sowie die vom Tokioter Büro des DAAD eingerichtete Homepage: www.tokyo-jura-kongress2005.de. Über die Tagung berichten Takayama, Gurobaruka to hô; nichidoku hôgaku kenkyûshûkai ni sankashite [Globalisierung und Recht. Bericht über die Teilnahme am japanisch-deutschen Rechtswissenschaftskongress] Zeitschrift Hôgaku semina, 613 (2006), 54; Schwittek, Rechtswissenschaftlicher Kongress „Globalisierung und Recht – Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“, Zeitschrift für Japanisches Recht, 20 (2005), 259. 2 Murakami/Marutschke (Hrsg.), Gurobaruka to Ho [Globalisierung und Recht], Tokio (Shinzansha Verlag) 2006.
X
Vorwort der Herausgeber
beider Länder hervorzuheben, ihnen aber auch neue Impulse zu geben und sie neu zu beleben. Vielfältige Fragestellungen sollten die Bedeutung der deutsch-japanischen Rechtsvergleichung und die Fruchtbarkeit eines rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Dialogs hervorheben: „Welche Auswirkung hat die fortschreitende Globalisierung auf das japanische und das deutsche Recht?“ „Welchen Beitrag können Japan und Deutschland für im Aufbau befindliche Rechtsordnungen und eine internationale Rechtsordnung leisten?“ „Wie kann der Zunahme von internationalen Konflikten begegnet werden?“ „Wie kann die Zusammenarbeit zwischen den Juristen in Japan und Deutschland verbessert und vertieft werden?“ – Diese und andere Fragen sollten gerade auch das Interesse der jungen Juristengeneration in beiden Ländern an der jeweils anderen Rechtsordnung wecken bzw. fördern. Ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtveranstaltung war daher ein Nachwuchswissenschaftler-Forum, das die Veranstalter am 1. Oktober für junge Juristinnen und Juristen beider Länder ausgerichtet haben. Unter der wissenschaftlichen Koordination von Kanako Takayama und Karl Riesenhuber hatten Nachwuchswissenschaftler aus Deutschland und Japan Gelegenheit, ihre Forschungsvorhaben und -ergebnisse zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen.3 Viele haben zur Konzeption, Vorbereitung und Ausführung der Tagung beigetragen. Dazu zählen neben Einzelpersonen insbesondere der DAAD und die Alexander von Humboldt-Stiftung, die zudem die finanzielle Hauptlast trugen. Neben der JSPS hat auch das von HansPeter Marutschke geleitete EU-Research Center der Universität Doshisha zur Finanzierung beigetragen. Dass an dem ebenfalls mit Unterstützung von Humboldt-Stiftung und DAAD realisierten Nachwuchswissenschaftler-Forum auch junge Juristinnen und Juristen aus von Tokio weit entfernten Orten teilnehmen konnten, haben insbesondere Spenden von Rechtsanwalt Professor Ichiro Kawamoto (Osaka), der von Professor Yoriaki Narita geleitete Yamanaka-Stiftung und des EU-Research Center der Universität Doshisha ermöglicht. Die Beiträge zu dem Nachwuchswissenschaftler-Forum sind in deutscher und japanischer Sprache veröffentlicht bei: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte – Deutsch-Japanische Perspektiven, Berlin (de Gruyter) 2006. 3
Vorwort der Herausgeber
XI
Die vorliegende Publikation wäre ohne das großzügige Entgegenkommen des Verlags De Gruyter Recht nicht zustande gekommen. Seinem Geschäftsführer Dr. Michael Schremmer danken die Herausgeber für seine spontane Unterstützung und Ermutigung. DAAD und Alexander von Humboldt-Stiftung haben die redaktionelle Arbeit durch einen Zuschuss gefördert und so ebenfalls zur Realisierung des Projektes beigetragen. Yokohama, Osaka, Bochum im Oktober 2006
Junichi Murakami Hans-Peter Marutschke Karl Riesenhuber
Inhaltsübersicht Autorenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII
Tagungsprogramm
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX
§ 1 Wandel der Rolle des Rechts in Zeiten der Globalisierung: Fragmentierung, Konstitutionalisierung und Vernetzung globaler Rechtsregime – Gunther Teubner/Andreas Fischer-Lescano . . . . . . . . . . .
3
§ 2 Globalisierung und Recht im Kontext der geschichtlichen Semantik – Junichi Murakami . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
§ 3 Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung – Vassilios Skouris . . . .
61
§ 4 „Global Governance“ oder „Good Global Governance“? – Gesine Schwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
1. Teil: Grundlagen
2. Teil: Zivilrecht – Einfluss des deutschen Zivilrechts auf die Entstehung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts § 5 Europäisches Privatrecht – Bedürfnis, Entwicklungsstränge, nationale Beiträge – Jürgen Basedow . . . . . . . . . . . . . .
89
§ 6 Einflüsse der deutschen Zivilrechtswissenschaft auf die japanische Zivilrechtswissenschaft – Hisakazu Matsuoka . . .
99
§ 7 Bericht aus der Arbeitsgruppe – Karl Riesenhuber . . . . . . .
107
3. Teil: Öffentliches Recht – Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Vom einheitlichen Wirtschaftsraum zur politisch verfassten Union? § 8 Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Vom einheitlichen Wirtschaftsraum zur politisch verfassten Union? – Jürgen Schwarze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
XIV
Inhaltsübersicht
§ 9 Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Insbesondere die Bedeutung der Grundrechte in einer Konkurrenz zwischen Systemen der Staatsaufgaben – Hiroshi Nishihara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
§ 10 Kommentar – Atsushi Takada
135
. . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Teil: Wirtschaftsrecht – Entstehung einer lex mercatoria als staatsunabhängige Rechtsquelle der globalen Wirtschaft? § 11 Lex mercatoria als soft law – Hiroyuki Kansaku . . . . . . . .
141
§ 12 Lex mercatoria: Allheilmittel? Rätsel? Chimäre? – Karsten Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
§ 13 Kommentar – Kittisak Prokati . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
5. Teil: Völkerrecht – Sicherheit durch Völkerrecht in Zeiten der Globalisierung § 14 Das Völkerrecht auf dem Weg zu einem Recht der Weltbevölkerung? – Philip Kunig . . . . . . . . . . . . . .
187
§ 15 Globalisierung, Verrechtlichung und Völkerrecht – Kann das Völkerrecht die Globalisierung überleben? – Naoya Okuwaki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
§ 16 Kommentar – Adelheid Puttler . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
§ 17 Bericht aus der Arbeitsgruppe – Doris König
. . . . . . . . .
213
§ 18 Was bringt die so genannte Internationalisierung des Strafrechts? – Eine Problembetrachtung aus japanischer Perspektive – Makoto Ida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
§ 19 Bericht aus der Arbeitsgruppe – Kanako Takayama . . . . . .
231
6. Teil: Strafrecht – Grenzüberschreitende Kriminalität und Internationalisierung des Strafrechts
XV
Inhaltsübersicht
7. Teil: Juristenausbildung – Folgen der Globalisierung für die Juristenausbildung § 20 Folgen der Globalisierung für die Juristenausbildung – Hanns Prütting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
§ 21 Der japanische Beitrag zur Juristenausbildung in Kambodscha – Keiichi Aizawa . . . . . . . . . . . . . . . .
259
§ 22 Bericht aus der Arbeitsgruppe – Heinrich Menkhaus
271
. . . . .
Autorenverzeichnis Keiichi Aizawa Jürgen Basedow
Japanisches Justizministerium, Tokio Dr. Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Professor an der Universität Hamburg Andreas Fischer-Lescano Dr.iur., Akademischer Rat an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Makoto Ida Dr.iur., Professor an der Keiô Universität, Tokio Hiroyuki Kansaku Professor an der Universität Tokio Doris König Dr.iur., Professorin an der Bucerius Law School, Hamburg Philip Kunig Dr.iur., Professor an der Freien Universität Berlin Hans-Peter Marutschke Dr.iur., Professor an der Doshisha Universität, Kyoto, und der FernUniversität in Hagen Hisakazu Matsuoka Professor an der Universität Kyoto Heinrich Menkhaus Dr.iur., Professor an der Philipps-Universität Marburg Junichi Murakami Dr. h.c., Professor an der Tôin Universität Yokohama Hiroshi Nishihara Dr.iur., Professor an der Waseda Universität Tokio Naoya Okuwaki Dr.iur., Professor an der Universität Tokio Kittisak Prokati Dr.iur., Professor an der Thammasat Universität Bangkok Hanns Prütting Dr.iur., Professor an der Universität zu Köln Adelheid Puttler Dr.iur., LL.M. (Univ. Chicago), diplomée de l’E.N.A., Professorin an der Ruhr-Universität Bochum Karl Riesenhuber Dr.iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum Karsten Schmidt Dr.iur., Dres. h.c., Präsident der und Professor an der Bucerius Law School, Hamburg
XVIII
Gesine Schwan
Jürgen Schwarze Vassilios Skouris
Atsushi Takada Kanako Takayama Gunther Teubner
Autorenverzeichnis
Professorin Dr. phil., Dr.h. c., Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr. iur., Professor an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg i.Br. Professor Dr. Dr. h.c. mult., Präsident des Gerichtshofes der europäischen Gemeinschaften Luxemburg Dr. iur., Professor an der Universität Ôsaka Professorin an der Universität Kyoto Dr. iur., Dr. h.c., Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Centennial Professor an der London School of Economics
Tagungsprogramm Donnerstag, 29. September 2005 Eröffnung Moderation: Dr. Irene Jansen, DAAD-Aussenstelle Japan Ansprachen: Frau Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz Frau Chieko Nohno, Ministerin der Justiz, Japan Grußworte:
S. E. Herr Henrik Schmiegelow, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Dr. Christian Bode, Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Prof. Motoyuki Ono, Präsident der Japan Society for the Promotion of Science Dr. Georg Schütte, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung
Musik:
Luftfahrt, Stück für Trompeten, Komponist: Noriko Kawakami – Uraufführung Pezzo Festivo, Op. 95b, Komponist: B. Krol Satoshi Yamazaki, Azusa Yamazaki, Yôji Watanabe, Ichirô Matsubara
Eröffnungsvortrag Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Teubner Wandel der Rolle des Rechts in Zeiten der Globalisierung: Fragmentierung, Konstitutionalisierung und Vernetzung globaler Rechtsregime Prof. Dr. h.c. Junichi Murakami Globalisierung und Recht im Kontext der geschichtlichen Semantik Arbeitsgruppen Zivilrecht:
Einfluss des deutschen Zivilrechts auf die Entstehung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts Prof. Dr. Dr. h.c. Zentarô Kitagawa Vorsitz:
XX
Tagungsprogramm
Impulsreferenten:
Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Basedow Prof. Hisakazu Matsuoka Berichterstatter: Prof. Dr. Karl Riesenhuber Erster Kommentar: Prof. Jian Mi Öffentliches Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Recht: vom einheitlichen Wirtschaftsraum zur politisch verfassten Union? Vorsitz: Prof. Dr. h.c. Hiroshi Shiono Impulsreferenten: Prof. Dr. Jürgen Schwarze Prof. Dr. Hiroshi Nishihara Berichterstatter: Prof. Dr. Toshiyuki Ishikawa Erster Kommentar: Prof. Dr. Atsushi Takada Wirtschafts- Entstehung einer „lex mercatoria“ als staatsunabrecht: hängige Rechtsquelle der globalen Wirtschaft? Vorsitz: Prof. Dr. Dr. Christian Kirchner Impulsreferenten: Prof. Hiroyuki Kansaku Prof. Dr.Dres.h.c. Karsten Schmidt Berichterstatter: Priv.-Doz. Dr. Harald Baum Erster Kommentar: Prof. Dr. Kittisak Prokati Völkerrecht: Sicherheit durch Völkerrecht in Zeiten der Globalisierung Vorsitz: Prof. Dr. Masaharu Yanagihara Impulsreferenten: Prof. Dr. Philip Kunig Prof. Dr. Naoya Okuwaki Berichterstatter: Prof. Dr. Doris König Erster Kommentar: Prof. Dr. Adelheid Puttler Dinner Speech:
Prof. Dr. Gesine Schwan „Global Governance“ oder „Good Global Governance“?
Freitag, 30. September 2005 Strafrecht:
Grenzüberschreitende Kriminalität und Internationalisierung des Strafrechts Vorsitz: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer Impulsreferenten: Prof. Dr. Makoto Ida Prof. Dr. Philip Osten Berichterstatter: Prof. Kanako Takayama Erster Kommentar: Prof. Dr. Sangdon Yi
Tagungsprogramm
Juristenausbildung:
XXI
Folgen der Globalisierung für die Juristenausbildung Vorsitz: Prof. Dr. Morio Takeshita Impulsreferenten: Prof. Dr. Hanns Prütting Keiichi Aizawa Berichterstatter: Prof. Dr. Heinrich Menkhaus Erster Kommentar: Mon Monicharia
Plenarveran- Berichte aus den Arbeitsgruppen staltung: Vorsitz: Prof. Tamotsu Isomura Dr. Jan Grotheer Festvortrag:
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Vassilios Skouris Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung
Podiumsdiskussion:
Perspektiven internationaler rechtswissenschaftlicher Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Studium aus der Sicht des wissenschaftlichen Nachwuchses und Möglichkeiten ihrer Förderung durch die internationalen Förderorganisationen Vorsitz: Prof. Dr. h.c. Shirô Ishii Prof. Dr. Hans-Peter Marutschke Teilnehmer: Prof. Dr. Yûko Nishitani Prof. Kanako Takayama Prof. Dr. Kenichi Moriya Prof. Dr. Philipp Osten Prof. Motoyuki Ono Dr. Christian Bode Dr. Georg Schütte
Samstag, 1. Oktober 2005 Nachwuchswissenschaftler-Forum: „Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte“* Vorsitz: Prof. Dr. Karl Riesenhuber Prof. Kanako Takayama
* Die Beiträge zu dem Nachwuchswissenschaftler-Forum sind in deutscher und japanischer Sprache veröffentlicht bei: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte – Deutsch-japanische Perspektive, Berlin (de Gruyter) 2006.
1. Teil: Grundlagen
§ 1 Wandel der Rolle des Rechts in Zeiten der Globalisierung: Fragmentierung, Konstitutionalisierung und Vernetzung globaler Rechtsregimes Gunther Teubner und Andreas Fischer-Lescano
Übersicht I. Fragmentierung des globalen Rechts – Zwei Reduktionen
. . . .
II. Rechtskollisionen in sozialtheoretischer Sicht . . . . . . . . . 1. Rationalitätenkonflikte in der polyzentrischen Weltgesellschaft 2. Weltrechtssystem und Interlegalität . . . . . . . . . . . . . . . 3. Koevolutive Binnendifferenzierung des Weltrechts . . . . . . . 4. Autonome „private“ Rechtsregimes . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zentrum/Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auto-constitutional regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
3
. . . . . . .
9 10 13 14 15 18 21
. . . . . . . . . . . .
24 26 31
. . . . . . . .
41 48
IV. Von der Einheit des Rechts zu normativer Kompatibilität der Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
III. Punktuelle Vernetzungen kollidierender Regimes . . . . . 1. Von internationalen Konflikten zu Inter-Regime-Konflikten . 2. Von policy-Konflikten zu Rationalitätskollisionen . . . . . . 3. Vom allgemeinen jus cogens zum regime-eigenen ordre public transnational . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von stare decisis zu default deference . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
I. Fragmentierung des globalen Rechts – Zwei Reduktionen In den Sozialwissenschaften sind theoriegeleitete Prognosen künftiger Ereignisse eher selten. Noch seltener pflegen die vorausgesagten Ereignisse einzutreffen. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Niklas Luhmanns Prognose über die Zukunft des globalen Rechts aus dem Jahre 1971. Als Luhmann damals den Begriff der Weltgesellschaft sozialtheoretisch fundierte, wagte er die „spekulative Hypothese“, das globale Recht werde eine radikale Fragmentierung durchmachen, deren Bruchlinien nicht territorial, sondern gesellschaftssektoriell verliefen. Grund sei ein „Führungswechsel“ von normativen Erwartungstypen (Politik, Moral, Recht) hin zu kognitiven Erwartungs-
4
Gunther Teubner/Andreas Fischer-Lescano
typen (Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie), der sich im Wandel von nationalstaatlich organisierten Gesellschaften zur Weltgesellschaft hin vollziehe. „Das hieße, dass auf der Ebene der Weltgesellschaft nicht mehr Normen (in Gestalt von Werten, Vorschriften, Zwecken) die Vorauswahl des zu Erkennenden steuern, sondern dass umgekehrt das Problem lernender Anpassung den strukturellen Primat gewinnt und die strukturellen Bedingungen der Lernfähigkeit aller Teilsysteme in Normierungen abgestützt werden müssen.“ 1
Daran anschließende systemtheoretische Analysen ergänzten dies um die komplementäre Voraussage: Wenn sich das Recht der Weltgesellschaft in sektorielle Abhängigkeiten verstricke, werde sich ein gänzlich neues Kollisionsrecht, ein „intersystemisches Kollisionsrecht“ herausbilden, dessen Kollisionen nicht wie im internationalen Privatrecht von Nationen, sondern von globalen Gesellschaftssektoren ausgingen.2 Ein Vierteljahrhundert später ist in der Tat eine geradezu explosionsartige Vervielfältigung voneinander unabhängiger global agierender und zugleich sektoriell begrenzter Gerichte, Quasi-Gerichte und anderer Konfliktlösungsinstanzen zu beobachten.3 Das „Project on International Courts and Tribunals“ identifiziert die beeindruckende Zahl von 125 internationalen Institutionen, in denen unabhängige Spruchkörper verfahrensabschließende Rechtsentscheidungen treffen.4
Luhmann, Die Weltgesellschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1971, 1–35, 21; wiederabgedruckt: Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Luhmann (Hrsg.), Soziologische Aufklärung, Band 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (1975), S. 51–71, 63 (Hervorhebung durch die Verf.). 2 Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 130 ff.; zum Begriff eines intersystemischen Kollisionsrechts Teubner, Die Generalklausel von „Treu und Glauben“, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2: Allgemeines Schuldrecht (1980), S. 32–91. 3 Abi-Saab, Fragmentation or Unification: Some Concluding Remarks, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1991), 919–934, 923; Typisierungen bei Buergenthal, Proliferation of International Courts and Tribunals: Is it Good or Bad?, Leiden Journal of International Law 14 (2001), 267–275; Dokumentation von Kollisionsfällen bei Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts, Max Planck UNYB 5 (2001), 67–104; Alford, Federal Courts, International Tribunals, and the Continuum of Deference, Virginia Journal of International Law 43 (2001), 675–696. 4 Siehe: www.pict-pcti.org. 1
§ 1 Wandel der Rolle des Rechts in Zeiten der Globalisierung
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Die internationale Gerichtsbarkeit besteht unter anderem aus dem internationalen Gerichtshof (IGH), dem internationalen Seegerichtshof, verschiedenen Reparations-Tribunalen, internationalen Strafgerichtshöfen, hybrid-international-nationalen Tribunalen, Handels- und Investitionsgerichtsinstanzen, regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen und speziellen Konventionsorganen sowie weiteren regionalen Gerichtshöfen, wie etwa dem Europäischen Gerichtshof, dem EFTACourt, dem Benelux-Gerichtshof.5 Spätestens mit den Installationen des WTO Appellate Body, des ICTY, des ICTR und des ICC wurde der schon länger untergründig wirkende Trend deutlich sichtbar und löste eine engagierte Debatte über die Risiken der Proliferation von Gerichten und der Fragmentierung des internationalen Rechts aus. Wie mit dieser von völkerrechtlichen Traditionalisten als pathologisch empfundenen „relativité normative“ 6, mit widersprüchlichen Einzelfallentscheidungen, Normenkollisionen, dogmatischen Inkonsistenzen, Konflikten zwischen unterschiedlichen Rechtsprinzipien, die durch das chaotische Nebeneinander von global agierenden Konfliktlösungsinstanzen ausgelöst werden, umzugehen ist, beschäftigt zunehmend Gerichtsentscheidungen 7, akademische Kontroversen,8 5 Eine gute Dokumentation hat das PICT (Fn. 4) erarbeitet. Siehe auch: Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten – Erste Bausteine einer Weltgerichtsordnung (2003), S. 19 ff.; zu den „hybrid Courts“ siehe Dickinson, The Promise of Hybrid Courts, AJIL 97 (2003), 295– 310. 6 So die frühe Kritik von Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, AJIL 77 (1983), 413–442. 7 Zur Frage der staatlichen Zurechnung sind loci classici: The Prosecutor v. Dusko Tadic, Judgment, Case No. IT-94-1-A, A.Ch. 15. 7. 1999, Ziff. 115–145; Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, IGH Rep. 1986, 14 ff., Ziff. 109– 116. 8 Siehe das Sonderheft des New York University Journal of International Law and Politics 4/31 (1999), darin u. a.: Charney, The Impact on the International Legal System of the Growth of Internaitonal Courts and Tribunals, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 697–708; Romano, The Proliferation of International Judicial Bodies: The Pieces of the Puzzle, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 709–752; Petersmann, Constitutionalism and International Adjudication: How to Constitutionalize the U.N. Dispute Settlement System?, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 753–790; Dupuy, The Danger of Fragmentation or Unification of the International Legal System and the International
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Gunther Teubner/Andreas Fischer-Lescano
Expertenkomitees 9 und IGH-Präsidenten10. Die offene Frage heißt: Reichen die herkömmlichen nationalstaatlich geprägten Denkformen, mit Rechtskollisionen umzugehen, aus oder bedarf es einer Neuausrichtung des Kollisionsrechts im weitesten Sinne? Allerdings ist hier ein eigentümlicher juridischer Reduktionismus zu beobachten, der das Verständnis der Normenkonflikte verflacht und deren Lösungsperspektiven beschränkt. Juristen registrieren im Prinzip nur die verwirrende Vielfalt von autonomen, politisch gesetzten Bereichsrechten, self-contained regimes und hochspezialisierten Tribunalen. Sie sehen die Einheit des internationalen Rechts deshalb gefährdet, weil im Weltrecht eine begrifflich-dogmatische Konsistenz, eine klare Normenhierarchie und eine durchsetzungskräftige Gerichtshierarchie, wie sie die Nationalstaaten herausgebildet haben, fehlten. Als Ursachen werden sieben Problembereiche identifiziert: Mangel zentralisierter Organe, Spezialisierung, Unterschiede in den Normstrukturen, Parallelregulierungen, konkurrierende Regulierungen, Ausweitung des Völkerrechts, unterschiedliche Regimes sekundärer Normen.11 Juristen sehen damit nur rechtsinterne FragmentieCourt of Justice, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 791–808; Treves, Conflicts between the International Tribunal for the Law of the Sea and the International Court of Justice, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 809–821; siehe ferner und statt aller: Charney, Is International Law Threatened by Multiple International Tribunals, Hague Recueil des Cours 1998, 101–373; Koskenniemi/Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, Leiden Journal of International Law 15 (2002), 553–579; Abi-Saab, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1991), 919–934; siehe auch: American Society of International Law, Proceedings of the American Society of International Law, Band 96 (2002). 9 Siehe International Law Commission, 58. Sitzung, Report der Study Group des ILC, 16.04.2006, A/CN.4/L.682; siehe ferner: Koskenniemi, Outline of the Chairman of the ILC Study Group on Fragmentation of International Law – The Function and Scope of the lex specialis rule and the question of ‘self-contained regimes’ (2003), abrufbar unter: www.un.org/law/ilc/sessions/55/fragmentationoutline.pdf. 10 Stephen M. Schwebel, Address to the Plenary Session of the UN GA (26 October 1999), abrufbar unter: http://www.icj-cij.org; Guillaume, The Future on International Judicial Institutions, International Comparative Law Quartely 44 (1995), 848–862. 11 Hafner, Risks Ensuing from Fragmentation of International Law, Official Records of the General Assembly, Fifty-fifth session, Supplement Nr. 10 (A/55/10),
§ 1 Wandel der Rolle des Rechts in Zeiten der Globalisierung
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rungsphänomene und deren rechtsinterne Ursachen. Entsprechend streben sie dann auch hierarchische Lösungen des Problems an, die das Ideal nationalstaatlicher Rechtshierarchien zwar nicht erreichen, aber sich ihm zumindest annähern. Ein Vorschlag besagt, dass sobald ein neues Tribunal eingerichtet wird, der IGH als Instanzgericht eingesetzt werden soll.12 Oder es soll wenigstens bei drohenden Jurisdiktionskonflikten der IGH angerufen werden können, dessen „advisory opinions“ die Einheit des Völkerrechts wahrten.13 Noch weiter geht der Vorschlag, neben einer internationalen Konvention im Rahmen des Art. 17 ILC-Statut-Verfahrens, auch ein Zertifizierungsverfahren zu erarbeiten:14 “The ILC could be asked to devise a general ‘check-list’ to assist States in preventing conflicts of norms, negative effects for individuals and overlapping competencies with regard to existing subsystems that could be affected by the new regime. In the course of reviewing on-going negotiations, the ILC could even issue ‘no-hazard’-certificates indicating that the creation of a specific new subsystem has no negative effects on existing regimes.” 15
Dass diese Hierarchisierungsvorschläge, abgesehen von ihren minimalen Verwirklichungschancen, das Problem der Normenkollisionen verharmlosen, wird schon in einer politikbezogenen Sicht deutlich. Diese macht nicht mangelnde Gerichtshierarchien für die Fragmentierung verantwortlich, sondern identifiziert die den Normkollisionen zugrundeliegenden Konflikte zwischen „policies“, die von unterschiedlichen unabhängigen internationalen Organisationen und regulatorischen Regimes verfolgt werden.16 In dieser politischen Perspektive widerspiegeln Rechtsnormenkollisionen die Strategien von neuen Kollektivakteuren in den internationalen Beziehungen, die machtgestützte „special interests“ verfolgen und ohne Rücksicht auf ein übergreifendes Allgemeininteresse drastische „policy-conflicts“ auslösen. Weder mit rechtsdogmatischen Formeln der Einheit des Rechts, noch Annex S. 321–339, 326 ff. Die Studie Hafners war die Initialzündung zur Gründung der Study Group der ILC. 12 Oellers-Frahm, Max Planck UNYB 5 (2001), 67–104. 13 Schwebel (Fn. 10) und Guillaume, International Comparative Law Quartely 44 (1995), 848–862; Hafner (Fn. 11), Dupuy, New York University Journal of International Law and Politics 31 (1999), 791–808. 14 Hafner (Fn. 11), S. 335 f. 15 Hafner (Fn. 11), S. 339. 16 Koskenniemmi/Leino, Leiden Journal of International Law 15 (2002), 553– 579.
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mit dem rechtstheoretischen Ideal einer Normenhierarchie, noch mit der Institutionalisierung von Gerichtshierarchien sei solchen Konflikten beizukommen. Nur eine konsequente Politisierung der Rechtsnormkollisionen über offen ausgetragene Macht- und Identitätskonflikte und Verhandlungsprozesse zwischen den relevanten Kollektivakteuren – darunter auch die diversen Konfliktlösungsinstanzen – erscheint als Umgang mit den policy-Konflikten aussichtsreich. Diese Beobachtung ist richtig und in ihrer Dramatik nicht zu unterschätzen.17 Doch auch sie setzt in der politischen Fundierung der Normkollisionen nicht tief genug an. Sie nimmt eine weitere folgenreiche, diesmal politikzentrierte Reduktion des Fragmentierungsproblems vor. Der rechtszentrierte wie der politikzentrierte Ansatz bieten so nur eindimensionale Erklärungen der Kollisionen und suchen ebenso eindimensionale Lösungen entweder auf der rechtlichen oder auf der politischen Meta-Ebene.18 Unsere These heißt: Der globale Rechtspluralismus ist nicht einfach Folge eines politischen Pluralismus, sondern Ausdruck tieferliegender gesamtgesellschaflicher Widersprüche von miteinander kollidierenden Sektoren der Weltgesellschaft. Bei der Fragmentierung des Weltrechts handelt es sich weder einfach um Rechtsnormenkollisionen noch um bloße Policy-Konflikte. Vielmehr sind hier Widersprüche gesellschaftsweit institutionalisierter Auch wenn Martti Koskenniemi recht subtil die postmodernen anxieties zu relativieren sucht (Koskenniemmi/Leino, Leiden Journal of International Law 15 (2002), 553–579) und die Study Group der ILC unter seinem Vorsitz die Selbstbeschreibung „Risks ensuing from fragmentation of international law“ mittlerweile zur beschwichtigenden Formulierung „Fragmentation of international law: difficulties arising from the diversification and expansion of international law“ geändert hat (International Law Commission, 58. Sitzung, Report der Study Group des ILC, 16. 04.2006, A/CN.4/L.682). Diese Relativierung dürfte die innerrechtliche Konsistenzproblematik, die aus der Fragmentierung für Legitimität, Glaubwürdigkeit, Effektivität des Rechts entsteht, unterschätzen. Ähnliches gilt auch für postmoderne Theorien, die ganz zu Recht die Fragmentierung im gesellschaftsweiten Kontext sehen. Dazu Santos, Law: A Map of Misreading – Toward a Postmodern Conception of Law, Journal of Law and Society 14 (1987), 279–299; Fitzpatrick, Law and Societies, Osgoode Hall Law Journal 22 (1984), 115–138. 18 Eine ähnliche Kritik an rechtlichen und politischen (und ökonomischen Reduktionen) äußert Berman, Globalization of Jurisdiction, University of Pennsylvania Law Review 2002, 311–545, 371, der dann allerdings seinerseits mit einer kulturellen Reduktion aufwartet. 17
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Rationalitäten am Werke, die das Recht mit Sicherheit nicht lösen kann, die aber dem Recht einen neuartigen Umgang mit seinen Normkollisionen abverlangen. Die These soll in drei Argumenten entfaltet werden: (1) Die Fragmentierung des globalen Rechts ist sehr viel radikaler als es eine reduktionistische Einheitssicht – juristisch, politisch, ökonomisch oder kulturell – begreifen kann. Die Rechtsfragmentierung ist nur ein Epiphänomen der tiefergehenden vieldimensionalen Fragmentierung der Weltgesellschaft selbst. (2) Hoffnungen auf eine normative Rechtseinheit im Weltmaßstab sind daher von vornherein vergeblich. Eine Meta-Ebene zur Auflösung der gesellschaftlichen Kollisionen ist weder im Weltrecht noch in der Weltgesellschaft in Sicht. Eher noch ist in Zukunft eine Steigerung der Rechtszersplitterung als Folge gesellschaftlicher Konflikte zu erwarten. (3) Die Rechtsfragmentierung selbst ist nicht überwindbar. Erreichbar ist bestenfalls eine schwache normative Kompatibilität, jedoch nur dann, wenn es gelingt, in einem neuartigen Kollisionsrecht eine eigentümliche Netzwerklogik zu verwirklichen, die zu einer losen Kopplung der kollidierenden Einheiten beiträgt. II. Rechtskollisionen in sozialtheoretischer Sicht Wie die globale Rechtszersplitterung von der Fragmentierung der Weltgesellschaft abhängt, lässt sich näher präzisieren, wenn man auf verschiedene sozialtheoretische Erklärungsansätze der Rechtsglobalisierung zurückgreift. Die institutionalistische Theorie der „global culture“ der Stanford school, postmoderne Konzepte des globalen Rechtspluralismus, diskursanalytische Interpretationen der Globalität von Recht und Politik, Versionen einer „globalen Zivilgesellschaft“ und besonders systemtheoretische Konzepte einer funktional differenzierten Weltgesellschaft haben ein Verständnis einer polyzentrischen Globalisierung profiliert, das die Rechtsfragmentierung in einem anderen Licht erscheinen lässt.19 Dies verlangt aber, von einer 19 “Global culture”: Meyer/Boli/Thomas/Ramirez, World Society and the Nation-State, American Journal of Sociology 103 (1997), 144–181; Diskursanalyse:
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ganzen Reihe – insgesamt sechs – populärer gesellschafts- und rechtstheoretischer Annahmen Abschied zu nehmen und sie durch eher ungewohnte Vorstellungen zu ersetzen. Manches davon ist schon andernorts ausführlich begründet worden, so dass hier nur die Ergebnisse festgehalten werden sollen.20 Ausführlicher dagegen ist hier darauf einzugehen, welche Konsequenzen dies Umdenken gerade für die Fragmentierung des globalen Rechts hat. 1. Rationalitätenkonflikte in der polyzentrischen Weltgesellschaft
Aufzugeben ist zuerst die verbreitete Annahme, die globale Rechtsfragmentierung sei primär auf die Internationalisierung der Wirtschaft zurückzuführen. Mit der Herausbildung unterschiedlicher Weltmärkte habe nationalstaatliche Wirtschaftssteuerung nicht mithalten können; stattdessen habe sich eine Vielfalt miteinander konkurrierender globaler Regulierungsregimes mit je eigenen Rechtsinstanzen herausgebildet.21 Die Alternative zu einer solchen wirtschaftszentrierten Schütz, The Twilight of the Global Polis: On Losing Paradigms, Environing Systems, and Observing World Society, in: Teubner (Hrsg.), Global Law Without A State (1997), S. 257–293; globaler Rechtspluralismus: Santos, Toward a New Legal Common Sense: Law, Globalization and Emancipation (2003); globale Zivilgesellschaft: Held, Democracy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan Governance (1995); Günther/Randeria, Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozess der Globalisierung (2001); Brunkhorst, Ist die Solidarität der Bürgergesellschaft globalisierbar?, in: Brunkhorst (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie: Wirtschaft, Recht, Medien (2000), S. 274–286; Weltgesellschaft: Luhmann, Der Staat des politischen Systems: Geschichte und Stellung in der Weltgesellschaft, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft (1998), S. 345– 380, 373 ff.; Stichweh, Die Weltgesellschaft: Soziologische Analysen (2000); Albert/ Hilkermeier, Observing International Relations – Niklas Luhmann and World Politics (2004); Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft: Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung (2002), S. 203 ff.; Willke, Heterotopia – Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften (2003), S. 13 ff. 20 Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255–290; Teubner, Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassung in der Weltgesellschaft, in: Simon/Weiss (Hrsg.), Zur Autonomie des Individuums. Liber Amicorum Spiros Simitis (2000), S. 437–453; Teubner, Globale Zivilverfassungen? Alternativen zum staatszentrierten Konstitutionalismus, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 1–28; Fischer-Lescano, Globalverfassung: Die Geltungsbegründung der Menschenrechte (2005). 21 In diese Richtung argumentiert Dahrendorf, Anmerkungen zur Globalisierung, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft (1998), S. 31–54.
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Globalisierung heißt: polyzentrische Globalisierung.22 Treibende Dynamik ist die sich beschleunigende Differenzierung der Gesellschaft in autonome gesellschaftliche Teilsysteme, die heute jeweils ihre territorialen Grenzen überspringen und sich weltweit konstituieren. Nicht nur die Wirtschaft folgt dieser Dynamik, sondern auch Wissenschaft, Kultur, Technik, Gesundheit, Militär, Transport, Tourismus, Sport, aber auch – wenngleich mit deutlicher Verzögerung – Politik, Recht und Sozialfürsorge sind auf je eigenen Entwicklungspfaden heute zu eigenständige Weltsysteme geworden. Worauf es im jetzigen Zusammenhang ankommt, sind die Außenbeziehungen dieser autonomen global villages, ihre Beziehungen zueinander und ihre sonstigen Umweltbeziehungen. Diese sind alles andere als harmonisch. Wenn irgendwo, dann ist hier die Formel des „clash of cultures“ angemessen. Durch ihre operative Schließung erzeugen die globalen Funktionssysteme eigene Freiheitsgrade für eine extreme Steigerung ihrer je eigenen Rationalität, die sie ohne Rücksicht auf andere Sozialsysteme, aber auch ohne Rücksicht auf ihre natürliche und humane Umwelten ausschöpfen. Sie tun dies, solange es geht, also solange ihre sozialen, humanen und natürlichen Umwelten dies noch tolerieren.23 Für das destruktive Potential einer – schon damals – globalisierten wirtschaftlichen Rationalität ist dies seit den Pionieranalysen von Karl Marx immer wieder belegt worden.24 Max Weber hat mit Hilfe des Konzepts des modernen Polytheismus dies Gefährdungspotential auch für andere Lebensbereiche nachgewiesen und daraus resultierende bedrohliche Rationalitätenkonflikte analysiert.25 Heute spricht man eher von Diskurskollisionen.26 Inzwischen sind die gesellschaftlichen, humanen und ökologischen Risiken anderer hochspezialisierter Globalsysteme, etwa der Wissenschaft und der Technologie, auch einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar geworden.27 Und es
Held (Fn. 19), S. 62. Weitere Nachweise in Fn. 19. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), S. 133. 24 Am beeindruckendsten Polanyi, The Great Transformation: Politische und Ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (2. Aufl. 1995). 25 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (3. Aufl. 1968), S. 605 ff.; dazu Schluchter, Religion und Lebensführung (Band 1 1988), S. 299 ff., 302. 26 Lyotard, Der Widerstreit (2. Aufl. 1989). 27 Einflussreich Beck, Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne 22 23
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wird, insbesondere, wenn man den Blick auf die Länder des Südens lenkt, mehr und mehr deutlich, dass das eigentliche Risikopotential weniger vom politischen System ausgeht, sondern dass vielmehr wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Handlungsbereiche den „clash of rationalities“ mit seinen destruktiven Tendenzen auslösen. Der tiefere Grund der heutigen Krisen, so die Zentralthese Niklas Luhmanns, ist die Eigenrationalitätsmaximierung verschiedener weltweit agierender Funktionssysteme, die ein enormes Gefährdungspotential für Menschen, Natur und Gesellschaft mit sich bringt.28 Die Probleme der Weltgesellschaft, Umweltverschmutzung, eklatante Unterversorgungen, Diskrepanzen in Lebens- und Entwicklungschancen haben demzufolge eine Tiefenlage, deren Analyse bei der Modernisierung selbst, also der funktionalen Ausdifferenzierung und den systemischen Eigendynamiken ansetzen muss. Entsprechend ist es unangemessen, Folgeprobleme der Weltfinanzmärkte, Hedge Fonds, Devisenspekulationen, des Patentschutzes auf Impfstoffe, des Drogenhandels, der Kinderprostitution, des reproduktiven Klonens durch den Hinweis auf nur politische Konflikte in der Problembeschreibung und den möglichen politisch-rechtlichen Konfliktlösungen zu nivellieren. Denn die Probleme werden weniger durch Interessenund Machtkonflikte im weltpolitischen System generiert, sondern es sind die fragmentierten operativ geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft, die in ihrem Expansionsdrang die eigentlichen Ursachen für die Probleme der Weltgesellschaft setzen und sich zugleich des Weltrechts zur normativen Absicherung ihrer hochgezüchteten Bereichslogiken bedienen.29 Ob die Einrichtung von Gerichtshierarchien den aus gesellschaftsstrukturellen Widersprüchen resultierenden Rechtsfragmentierungen beikommen kann, lässt sich bezweifeln. Aber auch eine Umkehr, ein Zurück zum Koordinationsvölkerrecht 30 und eine Hinwendung zu den alten Mythen ist unmöglich: „Nie kann der Sündenfall der Ausdifferenzierung selbst zurückgenommen werden. Man kehrt nicht ins Paradies zurück.“ 31 (1986); Beck, Umweltpolitik in der Risikogesellschaft, Zeitschrift für angewandte Umweltforschung 4 (1991), S. 117–122. 28 Luhmann (Fn. 23), S. 1088 ff. 29 Teubner, Altera pars audiatur: Das Recht in der Kollision unterschiedlicher Universalitätsansprüche, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1996, 199–220. 30 Das fordert bspw. Böckenförde, Staat – Nation – Europa (1999), S. 123. 31 Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft (1994), S. 344.
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2. Weltrechtssystem und Interlegalität
Um den Zusammenhang zwischen Rechtsfragmentierung und gesellschaftlicher Differenzierung genauer zu verstehen, ist sodann die Annahme aufzugeben, ein Rechtssystem im strengen Sinne bestehe nur auf der Ebene des Nationalstaats. Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich auch das Recht, der Logik funktionaler Differenzierung folgend, global als ein einheitliches Sozialsystem etabliert hat. Nur gründet sich die Einheit des Weltrechts nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normengefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungmodus der Rechtsoperationen, über den auch ganz heterogene Rechtsordnungen verbindliche Rechtsgeltung transferieren.32 Dies ist eine indirekte Folge der Globalisierung der Gesellschaftsdifferenzierung. Auch auf der globalen Ebene wird die Einheit des Rechtssystems erreicht, die aber mit zahlreichen fundamentalen Normenkonflikten zu rechnen hat. Im Weltrecht wird die Rechtseinheit von normativer Konsistenz auf operative „Interlegalität“ umgestellt.33 Mit Interlegalität ist gemeint, „dass parallele Normsysteme unterschiedlicher Herkunft sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbinden, ineinandergreifen und durchdringen, ohne zu einheitlichen Superordnungen zu verschmelzen, die ihre Teile absorbie32 Zum systemtheoretischen Konzept eines Weltrechtssystems Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 571 ff.; Teubner (Fn. 20); Fischer-Lescano, Die Emergenz der Globalverfassung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 717–760; Ziegert, Globalisierung des Rechts aus der Sicht der Rechtssoziologie, in: Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts (2000), S. 69–92; Albert (Fn. 19), S. 203 ff.; Albert/Hilkermeier (Fn. 19); Calliess, Reflexive Transnational Law: The Privatisation of Civil Law and the Civilisation of Private Law, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2002), 185–217; D’Amato, International Law as an Autopoietic System, in: Wolfrum/Röben (Hrsg.), Developments in International Law of Treaty Making (2005), S. 335–400, abrufbar unter: http://anthonydamato.law.northwestern.edu. Zu einer ähnlichen Sicht eines internationalen Rechtssystems Martinez, Towards an International Judicial System, Stanford Law Review 56 (2003), 429–529, 443 f., unter Berufung auf Auyang, Foundations of Complex-system Theories: In Economics, Evolutionary Biology, and Statistical Physics (1999). 33 Santos, State Transformation, Legal Pluralism and Community Justice, Social and Legal Studies 131 (1992); Amstutz, Vertragskollisionen: Fragmente für eine Lehre von der Vertragsverbindung, in: Amstutz (Hrsg.), Festschrift für Heinz Rey (2003), S. 161–176.
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ren, sondern in ihrem Nebeneinander als heterarchische Gebilde dauerhaft bestehen, kurzum dass Rechtspluralismus eine Realität ist“.34
Doch was sind die Einheiten dieser Interlegalität? 3. Koevolutive Binnendifferenzierung des Weltrechts
Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer Korrektur der Vorstellungen über die Binnendifferenzierung des Rechts. Hier begegnet man der ersten direkten und massiven Auswirkung der Gesellschaftsfragmentierung auf das Recht. Für Jahrhunderte war dessen Binnendifferenzierung den Vorgaben der Politik der Nationalstaaten gefolgt und hatte sich als Vielzahl nationaler Rechtsordnungen mit territorialem Geltungsanspruch verwirklicht. Auch das sich als Vertragsrecht der Nationalstaaten verstehende Völkerrecht brach letztlich nicht mit dieser Form der Differenzierung. Erst die sich im letzten Jahrhundert rasant beschleunigende Ausbreitung von internationalen Organisationen und regulatorischen Regimes, die sich gegenüber ihrem Ursprung in völkerrechtlichen Verträgen als eigenständige Rechtsordnungen verselbständigten, signalisiert den Bruch: die nationale Differenzierung des Rechts wird jetzt von einer sektoriellen Fragmentierung überlagert.35 Das Auftauchen globaler Regimes bedeutet dann gerade nicht, wie immer wieder gerade von Juristen behauptet, dass sich die Rechtsordnungen vereinheitlichen, harmonisieren oder dass sie wenigstens konvergieren, sondern dass das Recht seine Binnendifferenzierung ändert und dabei nicht Rechtseinheit, sondern eine neue Fragmentierung erzeugt. Die Gesellschaftsfragmentierung schlägt in der Weise auf das Recht durch, dass eine erfolgsorientierte politische Regulierung unterschiedlich strukturierter Gesellschaftsbereiche eine
Amstutz, Zwischenwelten. Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Joerges/Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht (2003), S. 213–239. 35 Aus der neueren Regime-Literatur siehe u. a.: Hasenclever/Mayer/Ritterberger, Integrating theories of international regimes, Review of International Studies 26 (2000), 3–33; Hasenclever/Mayer/Ritterberger, Theories of International Regimes (1997); Young, International Regimes: Toward a New Theory of Institutions, World Politics 39 (1986), 104–122; Mitchell, Sources of Transparency: Information Systems in International Regimes, International Studies Quarterly 42 (1998), 109–130. 34
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Parzellierung von issue-spezifischen policy-Arenen erfordert, die sich ihrerseits stark juridifizieren 36. Damit wird die traditionelle Binnendifferenzierung nach dem Prinzip der Territorialität in relativ autonome nationale Rechtsordnungen überlagert von einem sektoriellen Differenzierungsprinzip: der Differenzierung des Weltrechts nach transnational einheitlichen Rechtsregimes, die ihre Außengrenzen nicht territorial, sondern issue-spezifisch definieren und einen globalen Geltungsanspruch erheben.37 Als die gesuchten Einheiten der Interlegalität lassen sich mithin sektorielle regulatorische Rechtsregimes identifizieren, die – auch davon wäre Abstand zu nehmen – allerdings nicht eine parallele Widerspiegelung außerrechtlicher Differenzierungsprozesse sind, sondern in einem koevolutiven Prozess entstehen. 4. Autonome „private“ Rechtsregimes
Das genügt aber immer noch nicht, um die Rechtsfragmentierung voll zu verstehen. Denn mit den globalen regulatorischen Regimes erfasst man zwar den fundamentalen Wandel des Weltrechts von territorialer zu sektorieller Differenzierung des Weltrechts, aber doch nur insoweit, als er von solchen Rechtsregimes induziert ist, die auf völkerrechtlicher Vereinbarung zwischen Nationalstaaten beruhen. Völlig unterbelichtet bleibt das gleichzeitige rapide Wachstum von nichtstaatlichen „privaten“ Rechtsregimes. Diese erzeugen ein „global law without the state“, das überhaupt erst die Multidimensionalität des globalen Rechtspluralismus begründet.38 Um dem gerecht zu werden, 36 Zur Juridifizierung internationaler Organisationen Abbott u. a., The Concept of Legalization, Michigan Law Review 54 (2000), 403–417. 37 Speziell im Bezug auf ICANN als „Global Regulatory Regime“ siehe Lehmkuhl, The Resolution of Domain Names vs. Trademark Conflicts: A Case Study on Regulation Beyond the Nation State, and Related Problems, Zeitschrift für Rechtssoziologie 23 (2002), 61–78, 71 ff.; Mueller, Ruling the Root: Internet Governance and the Taming of Cyberspace (2002), S. 211–226; Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance: Possibilities for and Limits to the Development of an International Constitutional Law, German Yearbook of International Law 44 (2001), 170–201, 186 f.; zu anderen Aspekten des Internet-Regimes Post, Anarchy, State, and the Internet: An Essay on Law-Making in Cyberspace (1995), Journal of Online Law, abrufbar unter: http://warthog.cc.wm.edu/law/ publications/jol/post.html. 38 Zur neueren Diskussion des Rechtspluralismus Berman, University of Penn-
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muss man sich von der gängigen Annahme verabschieden, dass das globale Recht seine Geltungsbedingung ausschließlich von staatlicher Setzung und Sanktionierung bezieht, sei es durch innerstaatliche Rechtsquellen, sei es von den offiziell anerkannten Rechtsquellen des Völkerrechts.39 Hier stößt man auf eine weitere dramatische Auswirkung der Gesellschaftsfragmentierung auf das Recht. Sie erzwingt eine Ausweitung des Rechtsbegriffs über die Rechtsquellen des nationalstaatlichen wie des internationalen Rechts hinaus und zugleich eine Reformulierung des Regime-Begriffs. Wie Berman formuliert, ist es eine der noch ungelösten zentralen Zukunftsaufgaben des internationalen Rechts: “recognizing and evaluating non-state jurisdictional assertions that bind sub-, supra-, or transnational communities. Such non-state jurisdictional assertions include a wide range of entities, from official transnational and international regulatory and adjudicative bodies, to non-governmental quasi-legal tribunals, to private standard-setting or regulatory organizations.” 40
Die „transnational communities“, also die autonomen Gesellschaftsfragmente Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie, Massenmedien, Medizin, Erziehung, Transport, entwickeln einen enormen Normenbedarf, der aber nicht von nationalstaatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen gedeckt wird. Stattdessen befriedigen sie im unmittelbaren Durchgriff auf das Recht diesen Bedarf selbst. Zunehmend setzen globale Privatregimes selbst materielles Recht.41 Sie verfügen über eigene Rechtsquellen außerhalb staatszentrierter Rechtssylvania Law Review (2002), 311, 325 ff.; Engel Merry, Legal Pluralism, Law and Society Review 22 (1988), 869–896; Weisbrod, Emblems of Pluralism: Cultural Differences and the State (2002); Petersen/Zahle, Legal Polycentricity: Consequences of Pluralism in Law (1995). 39 Dieser etatistischen Sicht verhaftet Reuter, Das selbstgeschaffene Recht des internationalen Sports im Konflikt mit dem Geltungsanspruch des nationalen Rechts, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1996, 1–9. 40 Berman, University of Pennsylvania Law Review (2002), 311, 235; siehe auch Aleinikoff, Sovereignty Studies in Constitutional Law: A Comment, Constitutional Commentary 17 (2000), 197–204, 201–202. 41 Princen/Finger, Environmental NGOs in World Politics: Linking the Local and the Global (1994), S. 10; Shaw, Global Society and International Relations: Sociological Concepts and Political Perspectives (1995), S. 5–9; Wapner, Politics Beyond the State: Environmental Activism and World Civic Politics, World Politics 47 (1995), 311–340, 312–13.
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setzung, außerhalb von nationaler Gesetzgebung und internationalen Staatenverträgen.42 Prominenteste autonome Rechtsregimes sind heute die lex mercatoria der internationalen Wirtschaft und die lex digitalis des Internet.43 Aber hier wären noch unzählige andere private oder privat-öffentliche Regulierungsinstanzen und Schiedsgerichte zu nennen, die autonomes Recht mit globalem Geltungsanspruch setzen.44 Als „private“ – oder besser als „gesellschaftliche“ – Regimes unterscheiden sie sich in markanter Weise von dem in der Theorie internationaler Beziehungen gängigen Regime-Begriff, in dem Regimes als „principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors expectations converge in a given cause-area“ definiert sind 45 und der rechtliche und politische Elemente eigentümlich verschränkt. Für die autonomen privaten Rechtsregimes ist aber die darin enthaltene Politik42 Young, International Governance – Protecting the Environment in a Stateless Society (1994), S. 184 ff.; Teubner, Rechtshistorisches Journal, 1996, 255–290. 43 Zur lex mercatoria statt aller: Friedman, Erewhon: The Coming Global Legal Order, Stanford Journal of International Law 37 (2001), 347–364, 356; zur lex digitalis u. a.: Perritt, Dispute Resolution in Cyberspace: Demand for New Forms of ADR, Ohio State Journal on Dispute Resolution 15 (2000), 675–704, 691 f. 44 Berman, University of Pennsylvania Law Review (2002), 311, 369 f.: “Elsewhere, we see the widespread use of international non-governmental regulatory frameworks. For example, the Apparel Industry Partnership, a joint undertaking of non-governmental organizations, international clothing manufacturers, and American universities, has established its own quasi-governmental (but non-state) regulatory regime to help safeguard public values concerning international labor standards. The partnership has adopted a code of conduct on issues such as child labor, hours of work, and health and safety conditions, along with a detailed structure for monitoring compliance (including a third-party complaint procedure). In the Internet context, the „TRUSTe“ coalition of service providers, software companies, privacy advocates, and other actors has developed (and monitors) widely adopted privacy standards for websites. Similarly, the Global Business Dialogue on Electronic Commerce has formed a series of working groups to develop uniform policies and standards regarding a variety of e-commerce issues. And, of course, the Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, discussed previously, is a non-state governmental body administering the domain name system.“ 45 Krasner, Structural causes and regime consequences: regimes as intervening variables, in: Krasner (Hrsg.), International Regimes (1983), S. 1–23, 1 ff.; zu aktuellen Regime-Theorien und Kritik an Krasner: Hasenclever/Mayer/Rittenberger (Fn. 35), S. 13 ff.; Hasenclever/Mayer/Rittenberger, Review of International Studies 26 (2000), 3–33; Young, World Politics 39 (1986), 104–122.
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zentrierung nicht adäquat. Sie kann auch nicht durch eine Ökonomiezentrierung ersetzt werden, wie es in der Theorie des „private ordering“ mit Hilfe der Gleichsetzung von Privatrecht und Ökonomie häufig geschieht.46 Die Alternative heißt „postnationale Formationen“, die sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen herausbilden: „These formations are now organized around principles of finance, recruitment, coordination, communication, and reproduction that are fundamentally postnational and not just multinational or international.“ 47 Die differentia specifica gegenüber dem klassischen Regime besteht darin, dass solche „Privatregimes“ Ergebnisse der Selbst-Juridifizierung höchst unterschiedlicher Gesellschaftsfragmente sind. Mit dem Begriff der postnationalen Formationen wird der zu eng an Politikprozesse anknüpfende Regime-Begriff so weit generalisiert, dass er erfassen kann, wie autonome Gesellschaftsbereiche der unterschiedlichsten Art konfligierende Rechtsnormen produzieren. 5. Zentrum/Peripherie
Damit ist zugleich der Zusammenbruch der klassischen Rechtsnormhierarchien programmiert. Ließen sich die politischen regulatory regimes noch, wenn auch mit Mühe, in einer Normenhierarchie staatlich induzierten Rechtes unterbringen, die nach dem Vorgang Kelsens und Merkels als Stufenbau des Rechts von nationalen Rechtsakten, nationalem Gesetzesrecht, nationalem Verfassungsrecht und internationalen Recht, als dessen nächsthöhere Stufe ein internationales Verfassungsrecht durchaus zu denken wäre, konstruiert war, so bricht diese Hierarchie mit dem Auftreten autonomer nicht-staatlicher Regimes zusammen.48 Eine weitere Umstellung des Rechtsdenkens wird Ellickson, Bringing Culture and Human Frailty to Rational Actors: A Critique of Classical Law and Economics, Chicago-Kent Law Review 65 (1989), 23–55; Posner, The Decline of Law as an Autonomous Discipline: 1982–1987, Harvard Law Review 100 (1987), 761–780; Hadfield, Biases in the Evolution of Legal Rules, Georgia Law Journal 80 (1992), 583–616; Bernstein, Law and Economics and the Structure of Value Adding Contracts: A Contract Lawyer’s View of the Law of Economics Literature, Oregon Law Review 74 (1995), 189–237. 47 Appadurai, Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, in: Appadurai (Hrsg.), Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization (1996), 167. 48 Teubner, Des Königs viele Leiber: Die Selbstdekonstruktion des Rechts, in: 46
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dadurch erforderlich. Was aber tritt an die Stelle einer Rechtsnormenhierarchie? – Die Differenz Zentrum/Peripherie.49 Während im Zentrum des Rechts die Gerichte stehen, setzt sich die Peripherie der autonomen Rechtsregimes aus politischen, ökonomischen, organisationalen, religiösen kollektiven und individuellen Rechtssubjekten zusammen, die an der Grenze des Rechts zu autonomen Gesellschaftssektoren stehen. Wieder ist es die Fragmentierung der Weltgesellschaft, die neue Bruchlinien – zwischen Rechtszentrum, Rechtsperipherie, gesellschaftlichen Umwelten des Rechts – erzeugt. An den Kontaktstellen der Rechtsperipherie zu den autonomen Gesellschaftssektoren, formieren sich plurale Rechtsbildungsmechanismen – standardisierte Verträge, Vereinbarungen professioneller Verbände, Routinen formaler Organisation, technische und wissenschaftliche Standardisierungen, habituelle Normalisierungen, informelle Konsense von NGOs, Medien und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten. Wegen ihrer eigenständigen sekundären Normen, die sich von denen Normen des nationalen Rechts wie des Völkerrechts grundlegend unterscheiden, bilden diese Regimes genuine self-contained regimes, nach der technischen Definition: “A regime is a union of rules laying down particular rights, duties and powers and rules having to do with the administration of such rules, including in particular rules for reacting to breaches. When such a regime seeks precedence in regard to the general law, we have a ‘self-contained regime’, a special case of lex specialis.” 50
Da sie strukturell an die Eigenlogik des jeweiligen Gesellschaftssektors gekoppelt sind, reproduzieren sie innerhalb des Rechts, wenn auch in anderer Form, zwangsläufig die Strukturkonflikte zwischen den Funktionssystemen. Die Standardverträge der lex mercatoria widerspiegeln die wirtschaftliche Rationalität der Weltmärkte und kollidieren unter anderen mit den Normierungen der WHO, die der Rationalität der Gesundheitssystems verpflichtet sind.51 Die lex conBrunkhorst/Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie: Wirtschaft, Recht, Medien (2000), S. 240–273. 49 Luhmann (Fn. 32), S. 321 ff.; Teubner (Fn. 2), S. 36 ff.; Fischer-Lescano (Fn. 20), 3. Kapitel; Calliess, Systemtheorie, in: Buckel u.a. (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts (2006), 57–75. 50 Koskenniemi (Fn. 9), S. 9. 51 Dazu unter III.2.
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structionis der weltweit organisierten Ingenieursverbände kollidiert mit dem Umweltvölkerrecht.52 In den dem Appellate Body der WTO vorgelegten Fällen kollidieren häufig Menschenrechtsregime, Umweltregime, Wirtschaftsregime.53 Friedensvölkerrecht und das dort normierte Gewaltverbot treffen nicht immer spannungsfrei auf das Menschenrechtsregime,54 gleiches gilt für humanitäres Völkerrecht und Umweltregime,55 allgemeine Menschenrechte und Umweltrechte 56 etc. Ja, die gesellschaftlichen Rationalitätenkonflikte haben eine solche Wucht, dass sie sogar in dass von den Gerichten gebildete Zentrum des globalen Rechts durchschlagen. Dort verhindern sie von vornherein die hierarchische Vereinheitlichung der Regime-Tribunale ebenso wie die begrifflich-dogmatische Rechtseinheit der globalen Regimes. Während noch die Gerichte der entwickelten Nationalstaaten durch die Schaffung von Instanzenzügen und insbesondere von Verfassungsgerichten ihre Rechtseinheit garantieren konnten, sind die global proliferierten Gerichte, Tribunale, panels und Schiedsgerichte in ihrer Organisation und in ihrem Selbstverständnis ihrem spezialisierten Regime in der Rechtsperipherie so eng verbunden, dass sie mit Notwendigkeit die allseits kritisierte Fragmentierung des globalen Rechts erzeugen. Diese neuen Konflikte sind Folge einer ‚PolykontexDazu unter III.3. Eine Fülle von Literatur widmet sich diesen Kollisionslagen. Besonders pointiert: Pauwelyn, The Role of Public International Law in the WTO: How Far Can We Go?, AJIL 95 (2001), 535–578; Böckenförde, Zwischen Sein und Wollen – Über den Einfluss umweltvölkerrechtlicher Verträge im Rahmen eines WTOStreitbeilegungsverfahrens, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 971–1005. 54 Zur humanitären Intervention siehe statt aller: Koskenniemi, The Police in the Temple: Order, Justice and the UN: A Dialectical View, EJIL 6 (1995), 325–348; Simma, NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, EJIL 10 (1999), 1–22; Cassese, Ex iniuria ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, EJIL 10 (1999), 23–31. 55 Vöneky, Die Fortgeltung des Umweltvölkerrechts in internationalen bewaffneten Konflikten (2001); zu weiteren Regime-Pluralismen im Bereich des Menschenrechtsschutzes: Bothe, The Historical Evolution of International Humanitarian Law, International Human Rights Law, Refugee Law and International Criminal Law, in: Fischer u. a. (Hrsg.) Festschrift für Dieter Fleck (2004), S. 37–47. 56 Hanschel, Environment and Human Rights – Cooperative Means of Regime Implementation. Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Nr. 29. 52 53
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turalisierung‘ der Rechtsfunktion. Sie werden von unterschiedlichen internen Umwelten des Rechtssystems erzeugt, die ihrerseits von unterschiedlichen Paradigmen der Ordnungsbildung der Gesellschaft abhängig sind.57 6. Auto-constitutional regimes
Eine letzte Steigerung erhalten die Rechtskollisionen durch ihre konstitutionelle Verfestigung. Wieder ist es die Fragmentierung der Weltgesellschaft, die ein Umdenken, diesmal von verfassungstheoretischen Annahmen veranlaßt. Die Positivierung von konstitutionellen Normen verlagert sich auf der globalen Ebene vom politischen System auf unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren, die parallel zu politischen Verfassungsnormen zivilgesellschaftliche Verfassungsnormen erzeugen.58 Nach dem Konzept eines konstitutionellen Pluralismus kann man von einer Verfassung eines Gemeinwesens außerhalb der Nationalstaaten sprechen, wenn folgende Bedingungen gegeben sind: “(i) the development of an explicit constitutional discourse and constitutional self-consciousness; (ii) a claim to foundational legal authority, or sovereignty, whereas sovereignty is not viewed as absolute; (iii) the delineation of a sphere of competences; (iv) the existence of an organ internal to the polity with interpretative autonomy as regards the meaning and the scope of the competences; (v) the existence of an institutional structure to govern the polity; (vi) rights and obligations of citizenship, understood in a broad sense; (vii) specification of the terms of representation of the citizens in the polity.” 59 57 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung (1992), S. 159 f. 58 Zum Konzept des societal constitutionalism in soialtheoretischer Sicht: Sciulli, Theory of Societal Constitutionalism (1992); Sciulli, Corporate Power in Civil Society: An Application of Societal Constitutionalism (2001); zum pluralistischen Konstitutionalismus Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65 (2002), 317–359; Walter, German Yearbook of International Law 44 (2001), 170–201; Teubner, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 1–28; Brunkhorst (Fn. 19); Calliess, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2002), 185–217; Cottier/Hertig, The Prospects of 21st Century Constitutionalism, Max Planck UNYB 7 (2003), 261–328. Nur in Bezug auf eine globale Wirtschaftsverfassung: Petersen/Zahle (Fn. 38). 59 Walker, The EU and the WTO: Constitutionalism in a New Key, in: de Burca/ Scott (Hrsg.), The EU and the WTO – Legal and Constitutional Issues (2001), S. 31–57, 33.
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„Polity“ darf freilich nicht im engen Sinne der institutionalisierten Politik verstanden werden, sondern meint gerade auch „unpolitische“ zivilgesellschaftliche Formationen, etwa in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Kunst oder Sport, in denen sich globale Konstitutionalisierungsprozesse abspielen.60 In diesen Prozessen verfestigen sich self-contained regimes zu auto-constitutional regimes. Wie schon gesagt sind self-contained regimes dadurch definiert, dass sie nicht nur hochspezialisierte primäre Normen – materielle Sonderbereichsrechte – positivieren, sondern dass sie im Unterschied zu den generellen sekundären Normen des Völkerrechts eigenständige sekundäre Normierungen – prozedurale Normen über Rechtsbildung, Rechtserkenntnis und Rechtssanktionierung – herausbilden.61 Solche reflexiven Normierungen sind jedoch ihrerseits noch keine konstitutionellen Normierungen im strengen Sinne. Dazu werden sie erst dann, wenn sie die genaue Parallele zu politischen Verfassungen, die nicht einfach als Positivierung höherer Rechtsnormen, sondern als strukturelle Kopplungen reflexiver Mechanismen des Rechts mit denen der Politik zu verstehen sind, herstellen.62 Auto-constitutional regimes sind dadurch definiert, dass sie reflexive Prozesse des Rechts mit reflexiven Prozessen anderer Sozialbereiche, also gerade nicht nur der Politik, verknüpfen, mit anderen Worten: dass sie als intersystemische Kopplungsinstitutionen über sekundäre Rechtsnormierungen das Recht mit fundamentalen Rationalitätsprinzipien autonomer Sozialbereiche relationieren. Um den Unterschied solcher auto-constitutional regimes zu einfachen Regimes zu verdeutlichen: Regimes verfügen über die Einheit primärer und sekundärer Rechtsnormen; ihre primäre Rechtsnormierungen sind mit der Bildung sozialer Normen in gesellschaftlichen Sektoren strukturell gekoppelt.63 In autoDies wird besonders betont von Sciulli (Fn. 58); Teubner, Zeitschrift für ausländisches S. 203 ff.; Fischer-Lescano (Fn. 20). 61 Simma/Pulkowski, Of Planets and the Universe. Self – Contained Regimes in International Law, EJIL 17 (2006), 483–529; Simma, Self-Contained Regimes, Netherlands Yearbook of International Law 16 (1985), 111–136; Koskenniemi (Fn. 9). 62 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176–220. 63 Zu einem systemtheoretischen Regime-Begriff: Teubner, Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 (1999), 7–25, 9 ff.; Teubner, Rechtsirritationen: Zur 60
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constitutional regimes dagegen wird auch eine strukturelle Kopplung von sekundären Rechtsnormierungen mit reflexiven Mechanismen in den Gesellschaftssektoren hergestellt. Eine nicht-staatliche, nicht-politische, sondern zivilgesellschaftliche Konstitutionalisierung von autonomen Regimes findet also dann statt, wenn reflexive Sozialprozesse, die durch ihre Selbstanwendung gesellschaftliche Rationalitäten autonom stellen dadurch juridifiziert werden, dass sie mit ihrerseits reflexiven Rechtsprozessen, also Normierungen der Normierungen verknüpft werden. Unter dieser Bedingung macht es Sinn, im strengen Sinn von Elementen einer Weltwirtschaftsverfassung, einer globalen Verfassung des Bildungs- und Wissenschaftssystems, oder von einer Digitalverfassung des Internet zu reden. Aus ihrer Funktion der autonomen Verrechtlichung von gesellschaftlichen Sektoren ergeben sich die typischen Bestandteile einer Verfassung: Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Entscheidungsprozesse (Organisations- und Verfahrensregeln) und Normierung der Systemgrenzen über individueller Freiheiten und über gesellschaftliche Autonomien (Grundrechte).64 Offensichtlich steigert die Positivierung zivilverfassungsrechtlicher Normen die ohnehin bestehenden Konflikte zwischen Rechtsregimes, weil sie die Abhängigkeit der Rechtsregimes von miteinander konfligierenden Gesellschaftsbereichen über reflexive Mechanismen noch forciert. Erst wenn man diese verschiedenen Annahmen – polyzentrische Globalisierung, sektorielle Binnendifferenzierung des Weltrechtssystems, Emergenz politischer und zivilgesellschaftlicher Regimes, Trennung von Zentrum und Peripherie des Weltrechts, Regime-Konstitutionalisierung – nachvollzieht, gewinnt man ein ausreichendes Verständnis der Rechtsfragmentierung. Durch seinen Bezug auf gesellschaftliche Widersprüche unterscheidet es sich von der Alltagssicht der Juristen, die nur durch das Fehlen einer Gerichtshierarchie bedingte Jurisdiktionskonflikte wahrnimmt, beträchtlich. Um es auf eine Formel zu bringen: In der Fragmentierung des globalen Rechts wirken genuine
Koevolution von Rechtsnormen und Produktregimes, in: Dux/Welz (Hrsg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne: Zur Legitimation gesellschaftlicher Ordnung (2001), S. 351–381; Albert (Fn. 19), S. 292 f. 64 Fischer-Lescano, Globalverfassung: Verfassung der Weltgesellschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), 349–378.
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Verfassungskonflikte, die letztlich – über autonome Rechtsregimes vermittelt – auf in der Weltgesellschaft institutionalisierte Rationalitätenkollisionen zurückzuführen sind. III. Punktuelle Vernetzungen kollidierender Regimes Also: Lasciate ogni speranza. Jede Hoffnung auf eine hierarchischorganisatorische oder eine begrifflich-dogmatische Einheit des internationalen Rechts dürfte damit vergeblich sein. Der Grund dafür liegt in der gesellschaftstheoretischen Einsicht, dass die Weltgesellschaft eine fragmentierte „Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum ist“.65 Nach der Dezentrierung der Politik ist keine gesellschaftliche Instanz in Sicht, welche die Koordination der Gesellschaftsfragmente zu übernehmen in der Lage ist. Schon gar nicht kann das Recht diese Aufgabe übernehmen und sei es auch nur indirekt über eine Integration des fragmentierten Weltrechts. Realistisch gibt es nach dem Zusammenbruch der Rechtshierarchien nur noch Chancen für ein konsequent heterarchisches Recht – ein Recht, das sich darauf beschränkt, zwischen fragmentierten Teilrechtsordnungen einen losen Zusammenhang herzustellen. Dieser Zusammenhang ist – dies ist unsere These – nur durch punktuelle Vernetzungen der Regimes herstellbar, welche die schon bestehenden faktischen Vernetzungen normativ verfestigen: rechtsextern die Vernetzung der Rechtsregimes mit einem gesellschaftlichen Autonomiebereich und rechtsintern die Vernetzung der gesellschaftlich vernetzten Rechtsregimes untereinander. Hier kann das internationale Recht den Anschluss an neuere Entwicklungen der Netzwerktheorie suchen. Denn dort wurde die eigentümlich paradoxe Handlungslogik, die unitas multiplex, von heterarchisch verknüpften Konfigurationen eingehend herausgearbeitet.66 Vernetzungen sind punkLuhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat (1981), S. 22. Zur Netzwerkgesellschaft: Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl in: Mayntz (Hrsg.), Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl (1992), S. 11–35; Messner, Die Netzwerkgesellschaft: Wirtschaftliche Entwicklung und internationale Wettbewerbsfähigkeit als Probleme gesellschaftlicher Steuerung (1995); Powell, Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Kennis/Schneider (Hrsg.), Organisation und Netzwerk (1996), S. 213–271; Castells, The Rise of the Network Society: The Information Age: 65 66
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tuell wirkende Gegeninstitutionen zur Ausdifferenzierung von autonomen Systemen. Netzwerke bilden „hochunwahrscheinliche Reproduktionszusammenhänge heterogener Elemente.“ 67 Sie erfüllen die Funktion der Abstimmung zwischen autonomen Funktionssystemen 68, zwischen formalen Organisationen 69 oder, wie in unserem Falle, zwischen autonomen Regimes. Sie dienen der grenzüberschreitenden Verknüpfung von autonomen Handlungslogiken.70 Abstrakt lassen sich in dieser Perspektive drei Leitlinien einer heterarchischen Vernetzung der Rechtsregimes vorgeben: 1. Bloße normative Kompatibilität von autonomen Rechtsordnungen statt voller hierarchischer Einheit des Rechts 2. Rechtsbildung durch wechselseitige Irritation, Beobachtung und Reflexion autonomer Teilrechtsordnungen 3. Dezentrale Kollisionsbewältigung als Methode des Rechts.71 Wenn Hierarchiedenken systematisch durch Netzwerklogik ersetzt wird, dann heißt dies nicht einfach, faktische Entwicklungen zu Vernetzungen zu registrieren und zu akzeptieren. Vielmehr ist ein normatives Konzept der Vernetzung gefragt, das als Kompensation von Kollisionen in die Selbstbeschreibungen des Rechts einzubauen ist. Eine solche normative Netzwerktheorie des globalen Rechts kann zugleich an erste tastende Versuche in Rechtspraxis und Dogmatik anknüpfen, die in ähnliche Richtungen gehen, von denen einige im folgenden diskutiert werden sollen. Economy, Society and Culture, Vol. 1 (2000), S. 77 ff.; Ladeur, Die Regulierung von Selbstregulierung und die Herausbildung einer ,Logik der Netzwerke‘, Die Verwaltung, Beiheft 4/2001, 59–77, 62 ff. 67 Baecker, Organisation und Gesellschaft (2002), S. 14. 68 Willke, Ironie des Staates: Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft (1992), S. 183 f.; Luhmann (Fn. 23), S. 788; Brodocz, Strukturelle Kopplung durch Verbände, Soziale Systeme 2 (1996), 361–387, 366 ff. 69 Kämper/Schmidt, Netzwerke als strukturelle Kopplung: Systemtheoretische Überlegungen zum Netzwerkbegriff, in: Weyer (Hrsg.), Soziale Netzwerke (1999), S. 211–235, 227 ff. 70 Vgl. den Begriff der „fraktalen Integration“ durch „Kontrolle von Differenzen“ im „Empire“ bei Hardt/Negri, Empire (2000), S. 325 ff. 71 Ein paralleles Programm verfolgen für die Normkollisionen im europäischen Mehrebenenkontext Joerges, The Impact of European Integration on Private Law: Reductionist Perceptions, True Conflicts and a New Constitutional Perspective, ELJ 3 (1997), 378–406 und Amstutz (Fn. 34), S. 213, 216 f.
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1. Von internationalen Konflikten zu Inter-Regime-Konflikten
Typischerweise stellen sich hier zwei Fragen. Erstens, wie ist zu reagieren, wenn Hierarchiebedingungen – kollektiv verbindliche Entscheidungen, zentralisierte Zuständigkeiten und hierarchisch übergeordneter Sachgesichtspunkte – fehlen? Die Reaktion heißt abstrakt: wechselseitige Beobachtung der Knoten im Netzwerk.72 Die verbindliche Letztentscheidung wird ersetzt durch die Vielheit von Beobachtungspositionen in der Gesellschaft, die sich wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren, aber eben nicht gemeinsam kollektive Entscheidungen über substantielle Normen fällen. Die Selbstlegitimation eines solchen Beobachtungsnetzwerkes geschieht „durch eine Praxis der Erprobung, die weder den Individuen, noch dem Staat zugänglich“ ist.73 Dann wird Transparenz und wechselseitige Zugänglichkeit oberstes Gebot; Partizipation und Deliberation erhalten einen neuen Stellenwert. Die zweite Frage ist, wie über transnationale Regelungsgegenstände – etwa für Copyright, Cyberlaw, Menschenrechte, Umweltrecht – zu entscheiden ist. Die Reaktion darauf heißt abstrakt, sich von der möglichst authentischen Rekonstruktion nationalrechtlich gesetzter Normen zu lösen. Das territoriale Ordnungsmuster ist durch die Differenzierung nach sektoriellen Regimes zu ersetzen. Beide Reaktionen seien am Beispiel des Copyright-Rechts skizziert. Erstes Beispiel: Transnational Copyright Die Kollisionsentscheidungen im internationalen Copyright-Recht folgen traditionell dem Prinzip der Territorialität. Seinen maßgeblichen Ausdruck findet dieses Prinzip in der Berner Konvention von 1886.74 Den Folgen der Cyber-Revolution, medientechnischer Innovation und Transnationalisierung von Wissenschaft und Kunst ist aber das Berner Regelsystem nicht gewachsen. Die Berner Konven-
Ladeur (Fn. 57). Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation (2000), S. 82. 74 Berner Übereinkommen zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst vom 9. September 1886, abgedruckt in: Bundesgesetzblatt 1973 II 1071, 1985 II 81. 72 73
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tion von 1886 hat – auch wenn es seinerzeit durchaus Versuche gab – kein einheitliches Copyright-Recht geschaffen, sondern sich auf die wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Territorialsysteme konzentriert. Die zentrale Norm ist Art. 5 der Berner Konvention: “Authors shall enjoy, in respect of works for which they are protected under this Convention, in countries of the Union other than the country of origin, the rights which their respective laws do now or may hereafter grant to their nationals, as well as the rights specially granted by this Convention.” 75
Zwar haben die Staaten durch die Gründung der World Intellectual Property Organization (WIPO), die lange nahezu alle multinationalen Vereinbarungen über intellektuelles Eigentum administriert hat, durch den Abschluss des Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) im Zuge der Uruguay Runde des GATT im April 1994,76 durch Kooperationsversuche von WTO und WIPO77, durch die European Convention relating to questions on copyright law,78 durch die „WIPO Internet Treaties“,79 durch EUMaßnahmen 80 und damit in Verbindung stehende Rechtsetzungsakte 81 versucht, den internationalen Rechtssetzungsprozess der dynaBerner Übereinkommen, Art. 5 (1). Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights vom 15. 4.1994, seit 1. Januar 1995 in Kraft; siehe: Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization, Annex 1C, Legal Instruments-Results of the Uruguay Round, I.L.M. 33 (1994), 81 ff. 77 Agreement Between World Intellectual Property Organization and World Trade Organization, 22.12. 1995, abgedruckt in: I.L.M. 35 (1996), 754 ff. 78 Vom 11. 5. 1994, E.T.S. Nr. 153. 79 WIPO Copyright Treaty, WCT, 20.12. 1996, CRNR/DC/94; WIPO Performances and Phonograms Treaty, WPPT, 20. 12.1996, CRNR/DC/95. http://www. wipo.int/portal/index.html.en. 80 U. a. Verordnung 40/94/EG vom 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1; Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster, KOM(93) 342, ABl. 1994 C 29/20; Richtlinie 93/83/EWG des Rates vom 27. 09.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 L 248/15; Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. 05.1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen, ABl. 1991 L 122/42. 81 Details bei: Dinwoodie, The Development and Incorporation of International Norms in the Formation of Copyright Law, Ohio State Law Journal 63 (2001), 733–782, 748 ff.; siehe auch Michaels, The Statement of Non-State Law, Wayne Law Review 51 (2005), 1209–1259. 75 76
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mischen Entwicklung des sozialen Feldes anzupassen. Dennoch gibt es auch heute trotz dieser Koordinierungsbemühungen immer noch kein einheitliches internationales Copyright-Recht. Maßgeblich sind weiterhin territorial gebundene und national divergierende Copyright-Garantien. Die völkerrechtlichen Vereinbarungen mediatisieren lediglich unterschiedliche Schutzstandards und schaffen reziproke nationalstaatliche Ansprüche auf die Implementierung minimaler Schutzniveaus. Eine Vernetzung kollidierender Regime würde nun – wie von Dingwoodie und Berman vorgezeichnet – verlangen: “The facade of copyright rules based upon territoriality needs to be stripped away, and a new approach constructed. Some uncertainty is an inevitable, but worthwhile, short-term cost.” 82
Wie könnte dieser „new approach“ aussehen? Im Kern geht es darum, den zu berücksichtigenden Normenbestand nicht in den nationalen Teilrechtsordnungen erschöpft zu sehen, sondern mögliche spill-over Effekte auf andere Territorialrechtsordnungen zu reflektieren und die Gefahr des „race to the bottom“ dadurch abzuwenden, dass über die nationalen Rechtsnormen hinaus auch transnationale Rechtsbildungsmechanismen Berücksichtigung finden. In der Sache bedeutete dies, traditionelles internationales Verfahrensrecht und internationales Kollisionsrecht von Konflikten zwischen nationalen Rechtsordnungen auf Konflikte zwischen sektoriellen Regimes umzudenken, wie er in den Kollisionslagen zwischen WIPO, WTO, EG und nationalstaatlichen Rechten vorliegt. Eine solche Umstellung von Territorialität auf „funktionale Regimezugehörigkeit“ bedeutet dann, dass, wie Dingwoodie und Berman vorschlagen, die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung und die normativen Sachentscheidungsvorgaben nicht den jeweiligen lokalen Rechtsordnungen zu entnehmen wären.83 Die Frage der Jurisdiktion wäre nicht anhand einer mechanischen Subsumtion unter die Normen des jeweils zufällig adressierten Forumstaates zu beantworten, sondern abhängig von den Eigenheiten des jeweiligen Funktionalregimes. Die Rechtswegeröffnung beruhte dann nicht darauf, ob ein rechtlicher Link zu einem
Dinwoodie, A New Copyright Order: Why National Courts Should Create Global Norms, University of Pennsylvania Law Review 149 (2000), 469–581, 573. 83 Dinwoodie, University of Pennsylvania Law Review 149 (2000); Berman, University of Pennsylvania Law Review (2002), 311–545. 82
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nationalen Recht eines beliebigen Forumstaates hergestellt werden kann, sondern darauf, ob das jeweilig zu adressierende Forum als Teil einer sektorialen Rechtsordnung zu verstehen ist. Das „mechanical counting of contacts with a geographically based sovereign entity“ 84 wäre aufzugeben und durch Anknüpfungsnormen für Regime-Jurisdiktionen zu ersetzen. Ebenso wichtig ist, diese Logik der funktionalen Anknüpfung auch auf die jeweils anzuwendenden Kollisionsnormen anzuwenden. Die Probleme, die aus der reziproken Rekonstruktion nationaler Rechtskreise durch Gerichte bei transnationalen Rechtsfragen resultieren, sind durch ein Kollisionsrecht zu überwinden, das nicht auf ein anzuwendendes territoriales Recht abstellt, sondern fragt, zu welchem Regime die vorgelegte Rechtsfrage gehört, indem es die Kollisionskonstellationen dieses Regimes mit anderen Regimes untersuchte und sich sodann der Pluralität substantiell nationaler, internationaler und transnationaler Rechtsbildungsmechanismen stellte. Damit wären neuartige Kollisionsnormen geschaffen, die ihre Entscheidung über das anzuwendende Recht nicht mehr zwischen Nationen, sondern zwischen Regimes treffen. Als Kollisionsnormen bleiben sie aber weiterhin der klassischen Methode des Kollisionsrechts verpflichtet, zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen zu entscheiden und die Rechtsfragen einer der beteiligten Rechtsordnungen zuzuweisen. Dramatischer aber noch ist der weitere Schritt, von Kollisionsnormen auf Sachnormen umzustellen. Das Internationale Privatrecht kennt einen solchen „substantive law approach“ nur in den seltenen Ausnahmefällen, in denen es wegen der Transnationalität des streitigen Sachverhaltes unmöglich ist, die Rechtsfrage der einen oder der anderen Rechtsordnung exklusiv zuzuweisen.85 Im Falle der InterRegime-Kollisionen nun dreht sich dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis um. Konflikte, die sich im Schwerpunkt einem Regime exklusiv zuordnen lassen, sind die eher seltene Ausnahme. Die Regel sind regime-übergreifenden Konflikte, die sich in beiden Regimes relevant auswirken. Dann bleibt nur der Ausweg, dass das Recht der Inter-
Berman, University of Pennsylvania Law Review (2002), 311, 496. Dazu Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 65; Steindorff, Sachnormen im internationalen Privatrecht (1958).
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Regime-Kollisionen selbst Sachnormen entwickelt. Dies aber funktioniert ohne übergeordnete Instanz. Das führt zu der paradoxen Situation, dass die Rechtsinstanz des jeweiligen Regimes, die selbst „Partei“ der Rechtskollision ist, für beide Regimes gemeinsame Sachnormen entwickeln muss. In der Art eines asymmetrischen Mischrechtes werden mit Blick auf die eigene und die fremdem Regime-Rechtsordnung, aber auch mit Blick auf dritte Rechtsordnungen transnationale Sachnormen gebildet.86 Ähnlich der Methodik im Völkergewohnheitsrecht sind unterschiedliche Rechtsbildungsmechanismen einzubeziehen.87 Aber die völkerrechtliche Limitierung auf politisch gesetztes Recht und die damit verbundene Hierarchisierung zwischen nationaler und internationaler Ordnung wäre zu überwinden.88 Das Ziel wäre, sich in einem „Rechtsesperanto der Regimes“ zu orientieren, in dem territoriale, organisationale und transnationale Rechtsakte um Aufmerksamkeit ringen. Die Herausforderung, im Einzelfall aus diesem kommunikativen Chaos transnationale Sachnormen zu entwickeln, wäre also von den beteiligten Gerichten – nationalen Gerichten und transnationalen Konfliktlösungsinstanzen – derart anzunehmen, dass sie die einschlägigen Rechtsnormen über ihren territorialen, organisationalen oder institutionellen Rechtskreis hinaus ermitteln und aus ihrer Kombination transnationale Rechtsnormen in Eigenverantwortung entwerfen.
86 Ganz ähnlich der Ansatz von Joerges im Europarecht. Hier kollidieren nicht einfach autonome nationale Rechtsordnungen, auch nicht Hierarchie-Ebenen wie in föderalen Ordnungen, sondern semi-autonome Ebenen der multi-level-governance. Der Ausweg liegt in der Entwicklung von Sachnormen auf einer Ebene mit jeweiliger Rücksichtnahme auf die andere (Joerges, Zur Legitimität der Europäisierung des Privatrechts – Überlegungen zu einem Recht-Fertigungs-Recht für das Mehrebenensystem der EU, in: Joerges/Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht (2003), S. 183–213). 87 Siehe schon Rousseau, De la compatibilité des norms juridiques contradictoires dans l’ordre international, Revue Général de Droit International Public 39 (1932), 133–192, 151, der von unterschiedlichen Rechtsnormen „d’égale valeur juridique“ spricht, damit aber natürlich nur das traditionell nicht-hierarchische Völkerrecht vor Abschluss der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (WVK) charakterisierte. 88 Das unterscheidet diesen Entwurf somit auch vom „transnational law“ Philip Jessups, der einen völkerrechtlichen Primat konzipierte, siehe Jessup, Modernes Völkerrecht (1950), S. 21 ff.
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2. Von policy-Konflikten zu Rationalitätskollisionen
Wie gesagt, liegen die dabei auftretenden Kollisionslagen quer zu den herkömmlichen Mustern kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Sie folgen nicht den Linien der politischen Segmentierung der Weltgesellschaft. Deshalb ist es unzureichend, hier dem im Kollisionsrecht entwickelten „govermental interest approach“ zu folgen, der die Formalismen bloßer Normenkonflikte dadurch erfolgreich überwunden hat, dass er die policy-Konflikte der beteiligten Staaten und einer rechtlichen Interessenabwägung unterzieht.89 Die kollidierenden Regimes sind, wie oben gesagt, nur zum Teil in völkerrechtlichen Verträgen konstituierte politisch-regulatorische Regimes, die explizite policies verfolgen, zum andern Teil aber autonome private governance regimes – global law without the state –, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sektoren entstammen. Es handelt sich um eigenartige gesellschaftliche, nicht bloß politische Konfliktlagen, auf welche einerseits die internationale Politik mit issue-spezifischen Regimes reagiert und andererseits globale Teilsysteme autonome Organisationsregimes aufbauen. Die rechtliche Konfliktsituationen zwischen ICANN und Nationalgerichten, zwischen ICTY und IGH, zwischen WTO und WHO, WTO und EAS 90, IGH und Seegerichtshof, vor denen IGH-Präsidenten und Völkerrechtsexperten warnen, sind durchaus anders geartet als die Konflikte zwischen nationalstaatlichen Rechtsordnungen. Dann aber kann sich das zu entwickelnde Kollisionsrecht nicht darauf reduzieren, dass in Kollisionslagen unterschiedliche policies rekonstruiert und aufeinander abgestimmt werden.91 Stattdessen muss sich das Recht auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte einstellen. Das bedeutet zunächst, dass kollidierende Einheiten nicht einfach Normen der beteiligten Regimes, also der politisch-regulatorischen oder zivilgesellschaftlichen internationalen Organisationen oder der beteiligten Staaten, sind, sondern fundamentale Organisationsprinzi-
89 Dazu Brilmayer, The Role of Substantive and Choice of Law Policies in the Formation and Application of Choice of Law Rules, Recueil des Cours 252 (1995), 9–112; Joerges, Zum Funktionswandel des Kollisionsrechts: Die „Governmental Interest Analysis“ und die „Krise des Internationalen Privatrechts“ (1971). 90 International Court of Environmental Conciliation and Arbitration (Fn. 53). 91 So aber Martinez, Stanford Law Review 56 (2003), 429, 472 ff.
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pien sozialer Systeme. Das funktionale Kollisionsrecht hat es mit der Kompatibilisierung weltgesellschaftlicher Systemkollisionen zu tun, deren spezifisch rechtliche Dimension daher rührt, dass die Funktionssysteme ihrerseits jeweils strukturell ans Recht gekoppelt sind. Das bedeutet, dass normative Erwartungen im Bereich der Wissenschaft, Kunst, Technik, Wirtschaft, Erziehung, Religion der Weltgesellschaft generiert werden und in spezifischen Rechtsordnungen juridifiziert werden. Die Herausbildung des transnationalen Rechts als Recht eines spezifischen Funktionalregimes ist demnach gerade keine nationalstaatliche Unternehmung, wenn auch die transnationale Rechtsbildung massiven politischen Einflüssen ausgesetzt ist. Regime-Erwartungen sind nur für Teilsegmente der Weltgesellschaft verbindlich und die Substituierung territorialer Differenzierung durch funktionale Regimezugehörigkeit hängt davon ab, dass die jeweils entscheidenden Foren ein ausreichendes Verständnis für die Logik des Funktionalregimes entwickeln. Im Beispiel des „transnationalen Copyright-Rechts“ müsste die rechtliche Reformulierung der potentiellen Kollisionslagen zwischen WIPO, WTO, EU und nationalstaatlichen Rechten insofern umdirigiert werden. Man sollte nicht mehr versuchen, diese per se heterarchischen Politikmuster zu re-hierarchisieren, sondern stattdessen auf die zugrundeliegenden Rationalitätenkollisionen einzugehen. Im Ergebnis geht es darum, im Konfliktfalle die Rationalitäten von Wissenschaft, Technologie, Kunst und Wirtschaft zu kompatibilisieren, und sich nicht lediglich auf policies von Organisationen und Staaten einzulassen. Um diese Kompatibilisierungstechnik kurz am Beispiel der Frage des Patentschutzes auf Medikamente zu explizieren: Zweites Beispiel: Patentschutz auf Medikamente 2001 beantragten die USA, ein WTO-Panel einzurichten, um die Patentrechtslage in Brasilien zu überprüfen. Brasilien hatte zwar auf Druck der USA 1997 sein Patentrecht insbesondere im Hinblick auf pharmazeutische Produkte und Prozesse angepasst,92 dabei jedoch mögliche Zwangslizenzen unter anderem für den Fall vorgesehen,
Bass, Implications of the TRIPS Agreement for Developing Countries: Pharmaceutical Patent Laws in Brazil and South Africa in the 21st Century, George Washington International Law Review 34 (2002), 191–223, 206 ff. 92
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dass der Rechtsinhaber keine lokale Produktion in Brasilien betreibt. So erlauben Artikel 68 ff. des brasilianischen Patentgesetzes 93 die eigene Produktion von Nachahmemedikamenten,94 beschränkt dies aber u. a. auf den Fall, dass die Gesundheit der Bevölkerung von einer Epidemie bedroht und der Preis der Medikamente auf dem Weltmarkt zu hoch ist. Das Gesetz spricht von „ökonomischem Missbrauch“ (“praticar abuso de poder econômico”) der Pharmakonzerne. Artikel 68ff. des brasilianischen Patentgesetzes gestatten ferner die Eigenproduktion von patentierten Medikamenten, wenn das Mittel länger als drei Jahre in Brasilien verkauft wird, ohne dass die ausländische Firma lokale Produktionsstätten errichtet. Seit 1981 sind in Brasilien 150.000 Menschen an AIDS gestorben, die Zahl der Neuinfektionen lag bis 1997 bei über 20.000, konnte indes durch Präventionsmaßnahmen auf unter 5.000 jährlich gesenkt werden. Zur Versorgung der etwa 100.000 Aids-Kranken musste die brasilianische Regierung jährlich etwa 300 Millionen US-Dollar aufwenden, obwohl acht der zwölf Bestandteile des sog. „AIDS-Cocktails“ in Brasilien selbst hergestellt wurden.95 Die von dem US-Konzern Merck bzw. dem Schweizer Pharmakonzern Roche patentierten Bestandteile Efavirenz und Nelfinavir verschlangen über ein Drittel dieser Summe. Da beide Unternehmen über keine brasilianischen Produktionsstätten verfügten, kündigte der brasilianische Gesundheitsminister die Eigenproduktion generischer Kopien an. Die US-Regierung sieht in Art. 68 ff. bras. Patentrecht eine Diskriminierung US-amerikanischer Patentinhaber. Sie beantragte im Mai 2000 bilaterale Konsultationen.96 Nachdem diese nach Auffassung der USA gescheitert waren, beantragten die USA am 9. Januar 2001 die Einrichtung eines Panels.97 93 Regula direitos e obrigações relativos à propriedade industrial, Gesetz Nr. 9.279 vom 14. 5.1996, in Kraft seit Mai 1997, Diário Oficial da União (DOU) 15. 5. 1996. 94 Zur brasilianischen Regelung der Herstellung von Generica nach Ablauf des Patentschutzes: Lei 9.787/99, Diário Oficial da União (DOU) 11. 2.1999. 95 Siehe zur jüngsten Entwicklung: Após negociações ‘duras’ com laboratórios. Ministério vai economizar R$ 229 milhões, O Estado de São Paulo (16. 01. 2004). 96 I.S.v. Art. 4 DSU und Art. 64 TRIPS (Art. XXII des General Agreements on Tariffs and Trade 1994 inkorporierend) WT/DS199/1. 97 WT/DS199/3. Diesem Antrag kam der DSB auf seinem Treffen am 1. Februar nach Anhörung Brasiliens und der USA nach und beschloss die Einrichtung eines Panels nach Art. 6 DSU, vgl. DSB, Minutes of the Meeting, WT/DSB/M/97.
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Es gibt drei mögliche Lesarten dieses Konflikts. Eine erste wäre, ihn als Konflikt der brasilianischen Regierung mit den Patentrechtsinhabern (die hier insofern klassisch völkerrechtlich durch die USA mediatisiert werden) zu deuten. Als Inhaber subjektiver Rechte versuchten sie, ähnlich den 39 Pharmaunternehmen, die mediatisiert durch die Pharmaceutical Manufacturers’ Association of South Africa (PMASA) wegen einer vergleichbaren Situation in Südafrika die nationalen Gerichte angerufen haben,98 ihre eigentumsrechtliche Position gegen Angriffe Brasiliens zu verteidigen. In dieser Lesart ginge es nun darum, Inhalt und Grenzen des internationalen Patentschutzes zu bestimmen. Dabei stößt man rasch auf Art. 30 TRIPS Agreement: „Members may provide limited exceptions to the exclusive rights conferred by a patent, provided that such exceptions do not unreasonably conflict with a normal exploitation of the patent and do not unreasonably prejudice the legitimate interests of the patent owner, taking account of the legitimate interests of third parties.“ Und Art. 31 TRIPS Agreement erlaubt den Mitgliedern die Nutzung des Patents ohne die nötige Autorisation durch den Rechtsinhaber wenn “prior to such use, the proposed user has made efforts to obtain authorization from the right holder on reasonable commercial terms and conditions and that such efforts have not been successful within a reasonable period of time. This requirement may be waived by a Member in the case of a national emergency or other circumstances of extreme urgency or in cases of public non-commercial use. In situations of national emergency or other circumstances of extreme urgency, the right holder shall, nevertheless, be notified as soon as reasonably practicable. In the case of public non-commercial use, where the government or contractor, without making a patent search, knows or has demonstrable grounds to know that a valid patent is or will be used by or for the government, the right holder shall be informed promptly”.
Die Frage wäre also, ob Art. 68ff. des brasilianischen Patentrechts gegen das TRIPS Agreement verstoßen, obwohl in diesen Regelungen ausdrücklich von „ökonomischem Missbrauch“ die Rede ist und der Konflikt aufbrach, als die brasilianische Regierung das nationale AIDS-Programm forcierte. Doch sind sich die Beteiligten in ihrer Kritik an der Porösität der Normen des TRIPS Agreements einig,
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Bass, George Washington International Law Review 34 (2002), 191–223, 192.
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zum einen da das TRIPS keine ausreichenden Schutzstandards für geistiges Eigentum implementiere und die wirtschaftlichen Interessen der Rechtsinhaber nur ungenügend reflektiere,99 zum andern da es die wirtschaftlichen Interessen der Länder des Südens nicht hinreichend berücksichtige.100 Die Patentrechte teilen insofern jedenfalls das Schicksal der Copyright-Rechte: Der internationale Rechtsetzungsprozess für beide Rechtsfiguren ist „out of touch with modern times and the changing norms of an innovative community“.101 Für welche Position sich das Panel im konkreten Fall entschieden hätte, ist hypothetisch, da die USA und Brasilien mit Notifikation vom 5. 7. 2001 den Chairman des DSB gem. Art. 3.6 DSU davon unterrichtet haben, dass sie eine wechselseitig befriedigende Lösung des Problems gefunden haben.102 Was war passiert? Das hängt mit der zweiten möglichen Lesart des Konflikts zusammen: Der Streit zwischen Brasilien ist ein Streit zwischen WTO und WHO, ein institutioneller Konflikt zwischen den policies zweier internationaler Organisationen,103 der Welthandelsorganisation auf der einen und der zur UN-Familie gehörenden Weltgesundheitsorganisation 104 auf der anderen Seite. Das wäre keine ungewöhnliche Konstellation 105 und in der Alston-Petersmann-Kontroverse kann man sich 99 Lewis, Patent Protection for the Pharmaceutical Industry: A Survey of Patent Laws of Various Countries, The International Lawyer 30 (1996), 835–865, 841–842. 100 Bass, George Washington International Law Review 34 (2002), 191 ff. 101 Romano, International Conventions and Treaties, Global Trademark and Copyright 1998: Protecting intellectual property rights in the International Marketplace, in: Practising Law Institute (PLI), Steiner/Kane (Hrsg.), Actes du Colloque (1998), 545–624, 559. 102 WTO Doc. WT/DS199/4. 103 Instruktiv zur nationalstaatlichen Instrumentalisierung von Regimes: Helfer, Regime Shifting: The TRIPs Agreement and New Dynamics of International Intelectual Property Lawmaking, Yale Journal of International Law 29 (2004), 1–84. 104 Zu deren Kampf gegen AIDS: World Health Organization, Treat 3 Million by 2005 Initiative, WC 503.2, Genf 2003. 105 Zu aktuellen, WHO und WTO gleichermaßen betreffenden Fällen: Fidler, Global Outbreak of Avian Influenza A (H5N1) and International Law (2004), abrufbar unter: www.asil.org/insights; Fidler, Developments Involving SARS, International Law, and Infectious Disease Control at the Fifty-Sixth Meeting of the World Health Assembly (2003), abrufbar unter: www.asil.org/insights.
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über die jeweiligen Standpunkte informieren, die es entweder nur der UN (Alston) oder vornehmlich der WTO (Petersmann) zutrauen, eine adäquate Balance kollidierender Freiheitsrechte zu finden.106 Ungewöhnlich war insofern nicht die Institutionenkollision als solche, sondern die Tatsache, dass die USA ihr mögliches Eintreten nicht antizipiert hatten: Einen ungünstigeren Zeitpunkt für ein Verfahren vor der WTO wegen AIDS-Medikamentenpatentschutz konnte es nicht geben. Denn wenige Monate später war die UN General Assembly Special Session on HIV/AIDS 107 angesetzt. Special Sessions der GA sind nicht alltäglich, widmen sich drängenden Fragen, werden über Jahre hinweg vorbereitet und beziehen zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure gleichermaßen ein. Die zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeitsmaschinerie lief sofort an und skandalisierte die den AIDS-Kranken durch die protektionistische, US-amerikanische Wirtschaftspolitik verweigerte Behandlung.108 Brasilien wusste diese Grundstimmung zu nutzen und erreichte auf der nächsten Sitzung der UN Commission on Human Rights die Annahme einer Resolution.109 Die mit 53 gegen 52 Stimmen (gegen den Willen der USA also) angenommene Erklärung fordert u. a. “(i) to facilitate access in other countries to essential preventive, curative or palliative pharmaceuticals or medical technologies used to treat pandemics such as HIV/AIDS or the most common opportunistic infections that accompany them wherever possible as well as to extend the necessary cooperation wherever possible, especially in times of emergency; (ii) to ensure that their actions as members of international organizations take due account of the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health”.
Petersmann, Time for a United Nations ‘Global Compact’ for Integrating Human Rights into the Law of Worldwide Organizations: Lessons from European Integration, EJIL 13 (2002), 621–650; Alston, Resisting the Merger and Acquisition of Human Rights by Trade Law: A Reply to Petersmann, EJIL 13 (2002), 815–844; Petersmann, Taking Human Rights, Poverty and Empowerment of Individuals More Seriously: Rejoinder to Alston, EJIL 13 (2002), 845–852. 107 UNGASS on HIV/AIDS, 25. bis 27. 6. 2001, abrufbar unter: http://www.un. org/ga/aids/coverage; die Abschlusserklärung der UNGASS – Declaration of Commitment on HIV/AIDS (A/RES/S-26/2) – ist abrufbar über die Internetseite des UN-Programms UNAIDS: www.unaids.org. 108 Statt aller: http://www.globaltreatmentaccess.org; www.e-alliance.ch. 109 Res. 2001/33, E/CN.4/2001/80, 169 ff. 106
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Die Resolution zielte ersichtlich auf den schwelenden Konflikt und war ein diplomatischer Stimmungsmesser dafür, dass der Druck auf die US-Regierung immer stärker wurde. Es verwundert nicht, dass die US-Regierung pünktlich zum ersten Tag der UN General Assembly Special Session on HIV/AIDS das schriftliche Einverständnis mit Brasilien herbeiführte, den Streit um den Patentschutz des AIDSCocktails beizulegen.110 Die dritte Lesart des Konflikts schließlich ist weder subjektiv-rechtlich noch institutionell, sondern sie versteht den zugrundeliegenden Konflikt als Rationalitätenkonflikt. Die politische Verhandlungslösung zwischen Brasilien und den USA, in der die Patentrechtsinhaber dazu gebracht wurden, den betroffenen Staaten bezahlbare Lizenzen anzubieten 111, wurde komplementiert durch die sog. Doha-Erklärung: “We stress the importance we attach to implementation and interpretation of the Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS Agreement) in a manner supportive of public health, by promoting both access to existing medicines and research and development into new medicines and, in this connection, are adopting a separate declaration.“ 112
Diese „separate declaration“, die „Declaration on the TRIPS Agreement and Public Health“,113 konturiert das Problem in aller Schärfe und verweist auf einen Konflikt, der sehr viel tiefer liegt als ein bloßer Policy-Konflikt zwischen zwei internationalen Organisationen. Bei der Frage des Patentschutzes auf HIV-Medikamente kollidieren Fundamentalprinzipien zweier weltgesellschaftlicher Handlungsbereiche – Wirtschaft und Gesundheit. Alle Konfliktkonstellationen (Brasilien ./. USA; WTO ./. WHO; USA ./. UN; Pharmaceutical Manufacturers’ Association of South Africa ./. Südafrika) können darauf zurückgeführt werden. Vor den jeweiligen Foren des Rechts geht es darum, die widersprüchlichen Anforderungen beider Systeme
110 WT/DS199/4, hier auch die Dokumentation des Schreibens von Peter Allgeier, Executive Office of the President, Deputy United States Trade Representative (25. 6. 2001). 111 Zur Konnexität der brasilianischen und südafrikanischen Fälle: Bass, George Washington International Law Review 34 (2002), 191, 206 ff. 112 Ministerialkonferenz der WTO vom 14.11. 2001, Ziff. 17. Vg. WT/MIN(01)/ DEC/1. 113 WT/MIN(01)/DEC/2; zur Umsetzung der Erklärung siehe: WT/GC/M/82.
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(Patentschutz versus effektive Gesundheitsversorgung) aufeinander abzustimmen. In einer möglichen Panel-Entscheidung im Rahmen des DSB der WTO zur Frage des Patentschutzes auf Medikamente käme es demnach auf drei Dinge an: • Es geht nicht darum, nur eine Entscheidung zwischen unterschiedlichen territorialstaatlichen oder institutionellen Patentrechtslösungen zu treffen. Vielmehr ist das im ersten Fall skizzierte Argument nachzuvollziehen, dass Sachnormen eines globalen Patentrechtes quasi-richterrechtlich entwickelt werden. • Es genügt nicht, sich nur an den aktuellen policies von internationalen Organisationen, etwa WTO und WHO zu orientieren, sondern die Konfliktlösungsinstanz muss letztlich auf die ihnen zugrundeliegenden Rationalitätenkonflikte rekurrieren und deren Kompatibilisierung versuchen. • Da es keine übergeordnete Instanz für den Konflikt gibt, kann er immer nur aus der Sicht einer der konfligierenden Regimes, hier der WTO, gelöst werden. Doch muss die konkurrierende Handlungslogik, hier die Prinzipien des Gesundheitssystems, als Limitierung in den wirtschaftsrechtlichen Kontext eingeführt werden. Im Gegensatz zum vagen Wortlaut des Art. 31 TRIPS Agreement führte die Verhandlungslösung zu wesentlich präziseren Formulierungen. Die Doha Declaration on the TRIPS Agreement and Public Health hat neben der Gewährung nationaler Einschätzungsprärogativen für die Feststellung von Notlagen 114 den least developed countries eine Frist bis zum Jahr 2016 gesetzt. Erst bis dahin haben sie die einschlägigen Regelungen umzusetzen. Und der General Council hat jetzt ein detailliertes Regelwerk über die Vergabe von Zwangslizenzen errichtet.115 Das wirtschaftlich geprägte WTO-Regime hat damit über ein gesundheitspolitisches Prinzip eine Limitierung der eigenen Logik intern reformuliert. Dies stellt eine Kompatibilisierungstechnik dar, die es dem Entscheidungssystem erlaubt, innerhalb der eigenen wirtschaftsrationalen Perspektive eine responsive Außenbeziehung auf-
Ziff. 5c). Erklärung vom 30. August 2003 über die Implementation § 6 der Doha Declaration on the TRIPS Agreement and Public Health WT/L/540. 114 115
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zubauen und externe Rationalitäten als Rahmenbedingungen der eigenen Logik zu rekonstruieren. Über einen solchen „re-entry“ kollidierenden Rechts ins eigene Recht können Systemkollisionen in die quaestio iuris übersetzt werden, ohne dass diese umweltoffenen Prozesse erst im Fall eines Scheiterns des Regimes anlaufen müssen.116 Für das Recht der WTO bedeutet das, dass ein adäquater re-entry umweltlicher Rationalitäten in den Selbstorganisationsprozessen dieses Regimes und zwar über den engen Wortlaut der Art. 7, 11 und 3.2 DSU hinaus 117 geboten ist. Die Rekonstruktion von Nicht-WTORecht im WTO-Recht ist dann eine Leistung des WTO-Systems und reflektiert deren gegenseitigen Konstituierung.118 In der Literatur wird die Frage über Rang und Rolle des allgemeinen Völkerrechts innerhalb des WTO-Regimes, die sich vor allem an den im Kontext des Verhältnisses Völkerrecht/nationales Recht und EU-Recht/nationales Recht erarbeiteten Begriffen mittelbare/unmittelbare Geltung 119, vorrangige/nachrangige Anwendung 120 und völkerrechtskonforme Auslegung 121 orientiert, kontrovers diskutiert. Doch ist diese Kontroverse in ihrer Fixierung auf das allgemeine Völkerrecht noch zu eng und wählt mit kollidierenden etatistisch-gesetzten Normbefehlen den falschen Ausgangspunkt.122 Re-entry von Nicht-WTO-Recht in WTO-Recht heißt vielmehr: Identifikation der konfligierenden gesellschaftlichen Rationalitäten, re-entry der fremden sektorialen Re-
116 Grätz, Kollision oder Kompliment? Zur Kompatibilität von WTO-Recht mit umweltvölkerrechtlichen Regimen, KJ 39 (2006), 39–59; Marschik, Subsysteme im Völkerrecht – Ist die Europäische Union ein ,Self-Contained Regime‘? (1997), S. 162 f.; für den Sonderfall des ius non dispositivum siehe unten III.3. 117 Hierzu: Böckenförde, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 971, 979 ff. 118 Siehe Lauterpacht, Restrictive Interpretation and the Principle of Effectiveness in the Interpretation of Treaties, The British Yearbook of International Law 1949, 48–85. 119 Böckenförde, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 971–1005. 120 Pauwelyn, AJIL 95 (2001), 535, 566: „prevails“, „overrides“ etc. 121 Betlem/Nollkaemper, Giving Effect to Public International Law before Domestic Courts. A Comparative Analysis of the Practice of Consistent Interpretation, EJIL 14 (2003), 569–589. 122 Ähnlich eng und konfliktscheu das Panel in: Korea – Measures Affecting Government Procurement, WTO Doc. WT/DS163/R, Ziff. 7.96 (19. 6. 2000).
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gimeordnungen in ein Rechtsregime, Reformulierung des Konflikts in der questio iuris und Kompatibilisierung der rechtlich reformulierten Systemrationalitäten. Hier heißt das: Gesundheitsmaßnahmen sind in bestimmten Situationen von ökonomischem Druck freizuhalten. Die Respektierung dieser Handlungslogik gebietet eine extensive Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 31 TRIPS Agreement in Situationen, in denen solche gesundheitliche Maßnahmen erforderlich sind, „which promote broad access to safe, efficient and affordable preventive, curative or palliative pharmaceuticals and medical technologies“.123 Der Grund ist, dass patentschützende Regelungen, auch wenn sie Anforderungen an ökonomische Rationalität entsprechen, gesellschaftlichen Normbildungen widersprechen,124 die innerhalb des Kontexts des Gesundheitssystems produziert werden. In der Resolution 2001/33 der UN-Menschenrechtskommission ist eine solche Konfliktlösung vorgezeichnet. Maßnahmen wie die des brasilianischen AIDS-Programms sind daher vor der wirtschaftlichen Logik insofern auszunehmen, dass der patentrechtliche Protektionsstandard in solchen Fällen nicht anwendbar ist. Der kritische Kollisionsbereich wäre somit durch den Widerspruch von Normen wirtschaftlicher Rationalität zu im Gesundheitskontext gebildeten Normen zu identifizieren.125 In der Sache geht es folglich darum, abstrakt-generelle Inkompatibilitätsnormen im Verhältnis von Wirtschaftssektor und Gesundheitssektor zu entwickeln und das WTO- wie das UN-Recht als Teil eines transnationalen Patenrechts darauf vorzubereiten, auf destruktive Konflikte zwischen unverträglichen Handlungslogiken zu reagieren.
Res. 2001/33, E/CN.4/2001/80. Zum hier verwendeten Begriff weltgesellschaftlichen Rechts: Teubner, Rechtshistorisches Journal, 1996, 255–290; Fischer-Lescano, Die Emergenz der Globalverfassung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 717–760, 750 ff. 125 Teubner, Ein Fall von struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaften 2000, 388–404; siehe auch Fischer-Lescano, Odious Debts und das Weltrecht, Kritische Justiz 36 (2003), 223–237. 123 124
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3. Vom allgemeinen jus cogens zum regime-eigenen ordre public transnational
Geht man realistisch davon aus, dass es im Regime-Kollisionsrecht keine übergeordnete hierarchische Instanz gibt, stellt sich die Frage nach der Geltung abstrakter Rechtsprinzipien in einer prinzpiell heterarchischen Ordnung autonomer Regimes. Die Geltung eines ius cogens im transnationalen Recht ist nicht nur ein Problem für die auf völkerrechtlicher Grundlage etablierten politisch-regulatorischen Regimes, sondern ganz besonders für autonome private governance regimes. Hier gilt es, zwei Extrempositionen abzuwehren. Einerseits gibt es keine Apriori-Geltung zwingender Normen und der Aufbau von Unverfügbarem kann nicht einfach der Höherrangigkeit des Völkerrechts, nicht einem hierarchisch übergeordneten ius cogens,126 nicht der UN-Verfassung als Weltverfassung, die über Art. 103 UNCharta in alle gesellschaftlichen Regimebereiche eindringt,127 folgen. Andererseits ist aber auch ein „Hijacking“ und „Hayeking“ 128 von Menschen- und Umweltrechten, wie es in der Debatte um die Konstitutionalisierung der WTO befürchtet wurde, durch ein Regime mit Partikularorientierung nicht adäquat. Beide Interpretationen loten nicht die Tiefe des Problems einer heterarchischen Ordnung aus. Für das polyzentrische Weltrecht ist eine hierarchische Über-/Unterordnung von Rechtsordnungen ebensowenig akzeptabel wie die Annahme, man habe es bei den emergierenden Funktionalregimes mit autarken Systemen zu tun, die in einem weltgesellschaftlichen Vakuum operieren. Statt Koordination durch eine Zentralinstanz und statt Autarkie geschlossener Regimes kommt es daher auf Netzwerklogik an, die zwei gegensätzlicher Anforderungen miteinander kombiniert. Auf der einen Seite ist auf die autonome und dezentrale Reflexion der Netzknoten, auf Kompatibilisierung mit ihren menschlichen und natürlichen Umwelten abzustellen. Auf der anderen Seite sind diese 126 I.d.S. wohl Tomuschat, International Law as the Constitution of Mankind, in: United Nations (Hrsg.), International Law on the Eve of the Twenty-first Century (1997), S. 37–51. 127 So wohl Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), 529– 619. 128 Beides Formulierungen von Philip Alston, in der Alston/Petersmann-Kontroverse: Alston (Fn. 106).
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dezentralen Reflexionen so miteinander zu vernetzen, dass alle Regimes gemeinsame Referenzpunkte und einen notwendig abstrakten, gemeinsamen Sinnhorizont unterstellen können, auf den sie sich bei ihrer Normproduktion beziehen können. Diesem unterstellten Sinnhorizont des Nicht-Dispositiven liegt keine gemeinsame Textgrundlage zugrunde, eine gemeinsame Sprachregelung ist nicht gefunden. Sicher scheint nur, dass das ius cogens im Sinne von Art. 53 WVK die unitas multiplex autonomer Regimes schon deshalb nicht ausdrücken kann, weil seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen bereits im Völkerrechtsregime umstritten sind.129 Wichtiger noch ist, dass Art. 53 WVK in struktureller Kopplung des Rechts zur Politik entstanden ist und daher mit dieser Semantik die Spezifika des Schutzes der Ausdifferenzierung des weltpolitischen Systems in Staaten verbunden sind, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten, in denen Angebote wie „internationaler ordre public“ 130, „mandatory rules“ 131, „ordre public transnational“ 132 kursieren, funktionslos wären. All diese Begriffe verweisen auf je unterschiedliche Zusammenhänge eines rechtlich normierten Gemeinwohls. Offenbar liegt die Einheit dieser Formeln gerade darin, dass das globale ius non dispositivum zwar keinen gemeinsam vertexteten Sinnhorizont hat, die linguistische Vielfalt aber ein globales Esperanto des nicht-dispositiven Rechts hervorbringt, das in einem Prozess, den die französischen Philosophen Deleuze und Gattari als rhizomorphisch bezeichnen würden,133 die Unterstellung eines gemeinsamen Geltungskerns möglich macht. Wenn also in unterschiedlichen Regimekontexten eine Referenz auf je unterschiedliche Gemeinwohlformeln gepflegt wird, so wäre das entscheidende Problem nicht, dass die Referenzpunkte zu
Zum Streit um enge und weite, sinnvolle und nicht-sinnvolle Auslegung: Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht (2001), S. 352 ff. 130 Kälin, Menschenrechtsverträge als Gewährleistung einer objektiven Ordnung, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 33 (1994), 9–48. 131 Voser, Mandatory Rules of Law as a Limitation on the Law Applicable in International Commercial Arbitration, The American Review of International Arbitration 7 (1996), 319–358. 132 Vgl. Grigera Naon, Choice-of-Law Problems in International Commercial Arbitration (1992), S. 65. 133 Deleuze/Guattari, Rhizom (1977), S. 36 ff.; Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus (1992). 129
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harmonisieren wären, sondern dass die Selbstorganisationsprozesse der Regimes dazu angeregt werden, je eigene Sprachregelungen für das globale ius non dispositivum herauszubilden. Die Rolle der Anregung wird dabei von ganz verschiedenen Prozessen übernommen: Skandalisierung durch Teilöffentlichkeiten,134 Anstöße aus der internationalen Politik 135 und Kooperationen zwischen autonomen Rechtsregimes.136 Drittes Beispiel: Lex Constructionis Die lex constructionis und ihre Standardverträge über transnationale Bauprojekte ist dominiert von einer kleinen Zahl gut organisierter Verbände: Die International Federation of Consulting Engineers (FIDIC), die International European Construction Federation (FIEC), die British Institution of Civil Engineers (ICE), die Engineering Advancement Association of Japan (ENAA), das American Institute of Architects (AIA) und die Weltbank. Ferner tragen UNCITRAL und UNIDROIT und einige internationale legal firms zur Entwicklung der Rechtsnormen der lex constructionis bei. Eine typische Form, in der sich diese Vertragswerke, wenn überhaupt,137 umweltrechtlicher Fragen annehmen, findet sich in Art. 4.18 der FIDIC-Vertragsmuster, der den Konstruktions-, Anlagen- und EPCVertragsmustern 138 grundsätzlich gemeinsam ist: “The Contractor shall take all reasonable steps to protect the environment (both on and off the Site) and to limit damage and nuisance to people and property resulting from pollution, noise and other results of his operations. The Contractor shall ensure that emissions, surface discharges and effluent from the Contractor’s activities shall not exceed the values indicated in the Employer’s Requirements, and shall not exceed the values prescribed by applicable Laws.” Brunkhorst (Fn. 19); Fischer-Lescano (Fn. 20), 2. Kapitel. Siehe bspw. die auf der 22. Sitzung der 55. Tagung der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte am 13.8.2003 angenommene Resolution „UN Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations and Other Business Enterprises with Regard to Human Rights“, E/CN.4/Sub.2/ 2003/12/Rev.2. 136 Zum von UN Generalsekretär Kofi Annan initiierten Global Compact: www. unglobalcompact.org. 137 Die ENAA-Modelform und der Civil Engineers New Engineering Contract (‘NEC’) beinhalten nicht einmal die u. g. Klausel. 138 EPC steht für „engineering, procurement and construction“. 134 135
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Bereits ein oberflächlicher Blick zeigt, dass die vertragliche Vereinbarung darauf zielt, die Umweltkosten des Gesamtprojekts zu externalisieren und die vertragliche Verpflichtung sich lediglich auf die konkreten Maßnahmen der Vertragsparteien bezieht, deren eigene Emissionen „limitiert“ werden sollen. Menschenrechtliche bzw. weitergehende umweltrechtliche Verpflichtungen statuieren die Vertragswerke in aller Regel nicht. Oren Perez: “The response of the lex constructionis to the construction-environmental dilemma is, then, based primarily on a strategy of deference, which seeks to externalize the responsibility for regulating the environmental aspects of the construction activity to the ‘extra-contractual’ realm of the law of the hoststate. This is achieved through the employment of ‘compliance’ provisions, which appear in most of the standard forms. […] The notion of ‘efficient risk-allocation’ further illustrates how this logic of externalization operates. In order to maximize its economic value the contract is expected to provide the parties with an efficient risk-allocation scheme. This should be achieved by allocating particular risks to the party best able to manage them.” 139
Aus den zahlreichen Rechtsfragen, die dieses Beispiel eines autonomen Regimes aufwirft, soll hier die Frage nach einem globalem ius non dispositivum herausgegriffen werden. Auch wenn das ICTY in einer bemerkenswerten Entscheidung im Furundzija-Fall die Rechtswirkung des ius cogens-Prinzips dahingehend ausgeweitet hat, dass Art. 53 WVK widersprechendes nationales Recht ungültig sei 140 und es naheliegt, dies auch im Verhältnis zur UN 141 und zur WTO 142 anzunehmen, wird die Leistungsfähigkeit des Prinzips überfordert, wenn man ihm unmittelbare Rechtswirkungen auch außerhalb des Friedenssicherheitsregimes und gar innerhalb privatrechtlicher Regimes wie der lex constructionis, der lex mercatoria, der lex digitalis Perez, Ecological Sensitivity and Global Legal Pluralism Rethinking the Trade and Environment Conflict, (2006), S. 166 ff.; hier auch zu den Details der Vertragstechnik in der lex constructionis. 140 ICTY, Furundzija, I.L.M. 38 (1999), 349 f., Ziff. 153 ff. 141 U. a.: Herdegen, The ‘Constitutionalization’ of the UN Security System, Vanderbilt Journal of Transnational Law 27 (1994), 135–159, 156; Scott/Qureshi/ Michell u. a., A memorial for Bosnia: Framework of Legal Arguments Concerning the Lawfulness of the Maintenance of the United Nations Security Council's Arms Embargo on Bosnia and Herzegovina, Michigan Journal of International Law 16 (1994), 1–140, 59. 142 Siehe Pauwelyn, AJIL 95 (2001), 535, 565. 139
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oder der lex sportiva zugestehen möchte. Auch sind die substantiellen Erweiterungsmöglichkeiten der durch Art. 53 WVK geschützten Rechtsgüter im Rahmen des völkerrechtlichen Rechtsetzungsprozesse begrenzt. Nur Teile der International Bill of Rights haben die völkerrechtliche Qualität des ius cogens erhalten und von Art. 30 WVK ist in Inter-Regime-Verhältnissen kaum Klärung zu erwarten.143 Hierarchisierungsprozesse im globalen Recht sind vielmehr ganz offenbar regimegebunden144 und, wie das ICTY für sich selbst und damit auch für andere, reklamiert hat: “In International Law, every tribunal is a self-contained system (unless otherwise provided)”.145
Statt einer nicht realistischen Globalhierarchisierung des fragmentierten globalen Rechts ist daher generell der Aufbau einer Intra-RegimeResponsivität zu seinen menschlichen und natürlichen Umwelten zu forcieren, d. h. die Funktionalregimes werden jeweils eigenes ius non dispositivum erarbeiten müssen. Mit Art. 53 WVK ist eine bloße Vernetzung zu erwarten, besonders dann, wenn das Regime kein eigenes funktionales Äquivalent geschaffen hat. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass sich auch das Organisationsregime der UN bislang mit der Herausbildung eines eigenen ius cogens schwer getan hat.146 Die Rechtskontrolle von Sicherheitsratsresolutionen durch den IGH als „principal judicial organ“ des UN-Systems erfolgt nur sehr einge-
143 Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties (2. Aufl. 1994), S. 94– 96; zur WTO: Böckenförde, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), 971–1005; zur Problematik im Rahmen der Haager Konvention: Schulz, The Relationship Between The Judgments Project And Other International Instruments – Hague Conference on Private International Law, Preliminary Document No. 24 (2003), abrufbar unter: http://www.hcch.net/upload/ wop/jdgm_pd24e.pdf. 144 Ruffert, Zuständigkeitsgrenzen internationaler Organisationen im institutionellen Rahmen der internationalen Gemeinschaft, Archiv des Völkerrechts 38 (2002), 129–168, 164: „innerhalb ein und derselben internationalen Organisation“; instruktiv hierzu: Helfer, Constitutional Anologies in the International Legal System, Loyola Los Angeles Law Review 37 (2004), 193–236. 145 ICTY, Prosecutor vs. Tadic 35 (1996), 32, Ziff. 11. 146 Zuletzt: Interpretation and Application of the 1971 Montreal Convention Arising from the Aerial Incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya vs. United States), Provisional Measures, ICJ Rep. 1992, 114 ff. und ICJ Rep. 1993, 3 ff.
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schränkt.147 Diese die Selbstorganisation des UN-Rechts beeinträchtigende dysfunktionale Gewaltenteilung innerhalb des UN-Regimes steht der Herausbildung eines autonomen ius non dispositivum im Wege und führt zum Teil sogar zu dem doppelten Sein-Sollens-Fehlschluss, dass der Gestaltungsspielraum des Sicherheitsrates unter Art. 39 UN-Charta so weit sei, dass er „wohl der Kontrolle durch die öffentliche Meinung, nicht aber der des Rechts“ unterliege.148 Das verkennt nicht nur die rechtliche Dimension in den globalen Skandalisierungsprozessen, sondern isoliert das UN-Regime aus dem allgemeinen friedensvölkerrechtlichen Regime und lässt die wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse des Regimes und seiner Umwelt unreflektiert, deren nicht dispositive normative Erwartungen insbesondere dann zum Tragen kommen, „if the spezial regime fails to function properly.“ 149 Wenn ein eigenes ius non dispositivum und eine wirksame regimeinterne strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik fehlt, ist daher von der unmittelbaren Wirkung des ius cogens aus Art. 53 WVK im UN-Regime auszugehen,150 in den Worten von Richter Lauterpacht: “The concept of jus cogens operates as a concept superior to both customary international law and treaty. The relief which Article 103 of the Charter may give the Security Council in case of conflict between one of its decisions and an operative treaty obligation cannot – as a matter of simple hierarchy of norms – extend to a conflict between a Secuity Council resolution and jus cogens. Indeed, one only has to state the opposite proposition thus – that a Security Council resolution may even require participation in genocide – for its unacceptability to be apparent.” 151 Zum fehlenden „Marbury-Moment“ im Rahmen des UN-Regimes: Watson, Constitutionalism, Judicial Review, and the World Court, Harvard International Law Journal 34 (1993), 1–45, 45; Franck, „Power of Appreciation“: Who is the Ultimate Guardian of UN Legality, AJIL 86 (1992), 519 ff., 638 ff; siehe aber die Trial Chamber des ICTY, die in ihrer Decision „Prosecuter v. Dusko Tadic“ am 2. Oktober 1995 die Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Einsetzung überprüft hat (abgedruckt in: I.L.M. 32 (1996), 35 ff. (41 ff.)). 148 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats. Die Überprüfung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen durch den Internationalen Gerichtshof (1996), S. 275. 149 Koskenniemi (Fn. 9), S. 10; Marschik (Fn. 116), S. 162 f. 150 Im Ergebnis ebenso u. a.: Herdegen, Vanderbilt Journal of Transnational Law 27 (1994), 135, 156; Scott/Qureshi/Michell u. a., Michigan Journal of International Law 16 (1994), 1, 59; Watson, Harvard International Law Journal 34 (1993), 1. 151 Richter Lauterpacht in der separate opinion im Fall Application of the Con147
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Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen, gesundheitsbezogenen, kulturellen, religiösen Regimes werden hingegen je eigene Referenzpunkte für Unverfügbares herausbilden müssen. Dieser Prozess ist auch im Rahmen der lex mercatoria, gegenüber der sich die lex constructionis verselbständigt hat, zu beobachten. Unabhängig davon, welches Recht die jeweiligen Verträge der lex constructionis daher für anwendbar erklären mögen und unabhängig von speziellen nationalen Interessen, deren Berücksichtigung von Vertretern der sog. Sonderanknüpfungstheorie auch außerhalb des Vertragsstatutes gefordert wird,152 ist die Emergenz eines lex mercatoria-spezifischen erga omnes-Rechts zu beobachten, das nicht mehr auf territorial gebundene Politikentwürfe abstellt. Das bedeutet, dass man zwar auch unter Bezugnahme auf die Furundzija-Rechtsprechung des ICTY, unter Anwendung der Sonderanknüpfungstheorie und einer Art. 53 WVK folgenden völkerrechtsmäßigen Rekonstruktion staatlicher ius cogens-Rechte zu dem Ergebnis kommen könnte, dass die Schiedsgerichte Umweltfolgen und Menschenrechtsimplikationen über die konkrete Vertragsgestaltung hinaus als spezifisches ius non dispositivum beachten müssen. Die lex mercatoria hat indes eigene Unverfügbarkeiten hervorgebracht 153 und die Schiedsgerichte werden einen eigenen ordre public anzuwenden haben: “It is generally recognized that the arbitrator can, in the name of ‘truly international public policy,’ refuse to give effect to certain agreements of the parties. Likewise, if the object of a law is to guarantee the respect of principles the arbitral tribunal considers as forming a part of transnational or ‘truly’ international public policy, it must find that such law prevails over the will of the parties. Because of the transnational character of these norms, a connection between the state that enacted the mandatory rules and the dispute is not necessary.” 154
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass aus einer mangelnden Beachtung zwingenden Rechts eine Nichtvollstreckbarkeit der Entscheivention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Provisional Measures II (IGH Reports (1993), 4 ff. (440). 152 Voser, The American Review of International Arbitration 7 (1996), 319, 323 ff. 153 Statt aller: Mayer, Mandatory Rules of Law in International Arbitration, Arbitration International 2 (1986), 274–293, 287; Bucher/Tschanz, International Arbitration in Switzerland (1989), S. 102–105, 105. 154 Voser, The American Review of International Arbitration 7 (1996), 319, 323 ff.
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dung resultieren kann.155 Entscheidender als diese externen Anstöße ist aber die regime-immanente Juridifizierung der Pflicht der Schiedsgerichte, zwingende Regeln zu beachten.156 Die Möglichkeiten dieser schiedsrichterlichen Rechtsbindung für die Generierung des ius non dispositivum sind innerhalb der lex mercatoria bei weitem nicht ausgeschöpft und es ist insbesondere daran zu denken, dass aus der schiedsrichterlichen Missachtung von Normen des ius non dispositivum – also des umweltrechtlichen Grundsatzes nachhaltiger Entwicklung oder des menschenrechtlichen Mindeststandards – ein den nationalen Amtshaftungsansprüchen nachzubildender Anspruch der Drittbetroffenen gegen das Schiedsgericht resultieren kann. 4. Von stare decisis zu default deference Anstelle der Bindungswirkung von höchstrichterlichen Entscheidungen erfordert die Netzwerklogik im transnationalen Recht, dass die autonomen Regimes in gegenseitige Beobachtungsbeziehungen eintreten.157 Rechtssicherheit wird in einem solchen polyzentrischen Rechtssystem nicht von einer hierarchischen Gerichtsinstanz im Zentrum des Rechts erzielt werden, sondern eine Unsicherheitsabsorption ist einigermaßen realistisch nur durch den iterativen Anschluss von Rechtsentscheidungen an Rechtsentscheidungen zu erwarten, die an die Tradition der Präjudizienbindung anschließen, sich aber in wichtigen Punkten davon unterscheiden. Viertes Beispiel: Desaparición Während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) sind etwa 30.000 Menschen dem Verschwindenlassen (der desaparición) zum Siehe United Nations Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, 10. 6.1958, U.N.T.S. 38, Art. V(1)(c); siehe auch Posner, Arbitration and Harmonization of International Commercial Law: A Defense of Mitsubishi, Virginia Journal of International Law 39 (1999), 647–670, 651. 156 Siehe: Guzman, Arbitrator Liability: Reconciling Arbitration and Mandatory Rules, Duke Law Journal 49 (2000), 1279–1334, 1316 ff. 157 Slaughter, A Global Community of Courts, Harvard International Law Journal 44 (2003), 191–219; Burke-White, A Community of Courts: Toward a System of International Criminal Law Enforcement, Michigan Journal of International Law 24 (2002), 1–101. 155
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Opfer gefallen. Argentinien hat im Laufe des Transitionsprozesses zunächst Amnestiegesetze verabschiedet und die Täter straffrei gestellt. Im August 2003 hat der Nationalkongress Argentiniens jedoch die beiden Amnestiegesetze der Regierung Alfonsín aus der Transitionsphase für nichtig erklärt.158 Was hier interessiert, ist, wie das Weltrechtssystem mit den Fällen der desaparición in Argentinien umgegangen ist. Der Fall wirft schwierige Rechtsfragen auf und eine ganze Reihe von nicht-territorialen Gerichten ist am Knüpfen gordischer Knoten beteiligt, die manch einer gern durch das Schwert der Politik zerteilt wüsste.159 Simplifiziert kann man die juristischen Herausforderungen in die Frage fassen, über welche Jurisdiktionsregeln welche Delikte in welchen Regimes unter welcher Behandlung der Immunitätsfrage gerichtlich beurteilt werden konnten. Die Diskussion wurde an anderer Stelle behandelt.160 Der Fall des „Verschwindenlassens“ ist so unter den Gesichtspunkten der Iteration und der Unsicherheitsabsorption ein lehrreiches Beispiel für die Transformation von Kontingenzen im Völkerstrafrecht. Als eine der ersten Entscheidungen, die sich ausdrücklich dem Delikt des Verschwindenlassens widmen,161 ist die Entscheidung des United
158 Ley de punto final, Gesetz Nr. 23.492 und ley de obediencia debida, Gesetz Nr. 23.521. Zum Nichtigkeitsbeschluss siehe Boletín Oficial vom 3. September 2003. 159 Gegen universal jurisdiction bspw.: Kissinger, The Pitfalls of Universal Jurisdiction, Foreign Affairs 80 (2001), 86–96; gegen Immunitätsausnahmen und die völkerstrafrechtliche Entwicklung insgesamt: Kahn, On Pinochet, Boston Review 24 (1999), abrufbar unter: http://bostonreview.net/BR24.1/contents.html. 160 Fischer-Lescano (Fn. 20); instruktive Zusammenfassung der dogmatischen Fragen und der Desiderata in lex ferenda-Hinsicht bei: Manfred Nowak im Bericht für die UN Menschenrechtskommission: E/CN.4/2002/71, vom 8. Januar 2002, 8 ff.; 25 ff. 161 Das Nürnberger Tribunal stellte nicht exklusiv auf das Verschwindenlassen ab, wertete aber u. a. Hitlers „Nacht- und Nebel-Erlass“ (Dokumentation des Erlasses: IMT, Bd. XXXVII, 570 ff. (575)) als Nachweis für eine systematische Herrschaft von Gewalttätigkeit, Roheit und Schrecken und damit als Verstoß gegen Art. 6b des Nürnberger Statuts i.V. m. Art. 46 Haager Landkriegsordnung. (Urteil des IMT, 01.10.1946, IMT, Band I, 260). Siehe auch das Menschenrechtskomitee nach dem CCPR: Maria del Carmen Almeida de Quinteros, on behalf of her daughter, Elena Quinteros Almeida, and on her own behalf v. Uruguay, Commu-
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States District Court, Nothern District California, 1988, 694 F. in der Sache Forti v. Suárez Masón zu nennen. Das Gericht kam zunächst, da ihm keine Präzedenzfälle genannt werden konnten, zu dem Ergebnis: “However, plaintiffs do not cite the Court to any case finding that causing the disappearance of an individual constitutes a violation of the law of nations. […] Unfortunately, the Court cannot say, on the basis of the evidence submitted, that there yet exists the requisite degree of international consensus which demonstrates a customary international norm.” 162
Doch die Kläger wollten sich mit dieser Entscheidung nicht zufrieden geben und im selben Fall wagte dasselbe Gericht einige Monate später ein nur auf Literaturmeinungen und die politische Deklarationslage abstellendes fresh judgment: “The legal scholars whose declarations have been submitted in connection with this Motion are in agreement that there is universal consensus as to the two essential elements of a claim for ‘disappearance’. […] Plaintiffs cite numerous international legal authorities which support the assertion that ‘disappearance’ is a universal wrong under the law of nations.” 163
In der Folgezeit gab es eine Fülle von Urteilen zum Delikt des Verschwindenlassens. Aus unterschiedlichem Anlass wurde diese Frage in den unterschiedlichsten Regimes 164 – Nationale Gerichte, Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Europäischer Gerichtshof für nication No. 107/ 1981 (17 September 1981), U.N. Doc. Supp. No. 40 (A/38/40) at 216 (1983); Maria del Carmen Almeida de Quinteros v. Uruguay, Communication No. 107/ 1981 (15 October 1982), U.N. Doc. CCPR/C/OP/2 at 11 (1990). 162 United States District Court, Nothern District California, 1987, 673 F. Supp. 707. 163 United States District Court, Nothern District California, 1988, 694, F. Supp. 1531. 164 Statt aller: Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Caso Velásquez Rodríguez, 29. Juli 1988, Serie C, No. 4, insbes. Ziff. 153, I.L.M. 28 (1989), 294 ff.; später: Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof: Durán y Ugarte/Perú, 10009 und 10078/1987, 16. 8. 2000; Trujillo Oroza/Bolivia, 26.1. 2000; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Cicek/Türkei, 25704/94, 27. 2. 2001; Zypern/ Türkei, 25781/94, 10. 5. 2001; Ausschuss nach dem CCPR: Bautista de Arellana v. Colombia, Communication No. 563/1993, U.N. Doc. CCPR/C/55/D/563/1993 (1995); Menschenrechtsausschuss für Bosnien-Herzegowina: Palic/Republik Srpska, CH/99/3196, 11.1. 2001; Unkovic/Bosnien-Herzegovina, CH/99/2150, 9.11. 2001.
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Menschenrechte, Menschenrechtsausschuss für Bosnien-Herzegowina – behandelt. Neben der Emergenz einer transnationalen Verbotsnorm, ja gar einer ius cogens-Norm i. S. v. Art. 53 WVK, in Bezug auf das „Verschwindenlassen“ und der Rezeption dieser Entscheidungen durch die argentinischen Gerichte165 sind die zu beobachtenden gegenseitigen Beobachtungen der Gerichte mit den unterschiedlichsten Regimezugehörigkeiten besonders bemerkenswert. Nicht immer werden dabei die Vernetzungen explizit gemacht,166 häufiger ist ein eher informaler Anschluss an die gegebene Transformationslage, der die in vorangegangen Entscheidungen erarbeiteten Aspekte aufnimmt. So ist bspw. auch die Entscheidung des IGH im arrest warrant-Fall, in der das Gericht auf unterschiedliche Immunitätsausnahmeregelungen für staatliche Funktionsträger vor nationalen Gerichten abstellt, je nach dem ob die Delikte in privater oder öffentlicher Funktion verübt wurden,167 nur zu verstehen, wenn man die Entscheidungen, in den argentinischen Fällen und im Pinochet-Fall kennt und weiß, dass diese Differenzierung ein normatives Konzept verbirgt, das der Verübung schwerer Menschenrechtsverbrechen den Charakter einer offiziellen Staatstätigkeit abspricht und daher als privat einstuft. Die Frage, „wann gibt es ratione materiae keine Immu165 Siehe die Entscheidung des argentinischen Bundesrichters Cavallo in der Sache „Simón, Julio, Del Cerro, Juan Antonio s/sustracción de menores de 10 años“, Fall Nr. 8686/2000, Juzgado Nacional en lo Criminal y Correccional Federal n° 4 de la Capital Federal, Secretaría n° 7, veröffentlicht in Revista Argentina de Derecho Constitucional, Ediar, Buenos Aires, Año II, 2001, N° 3, 129 ff. (252); ferner die Bestätigung dieser Entscheidung durch die Cámara Federal de Apelaciones de la Capital Federal, 9. 11. 2001, „Incidente de apelación de Simón, Julio“ (reg. 19.193). 166 Die ersten der in Anm. 164 genannten Entscheidungen verwiesen noch vornehmlich auf politische Erklärungen (siehe bspw. AGMR, Velazquez Rodriguez, Ziff. 151; AGMR, Godínez Cruz, Ziff. 159 ff.). Spätere Entscheidung pflegen aber eine gegenseitige Verweisungstechnik. Im Bámaca Velásquez-Fall (Anm. 164) zitiert der AGMR in den Ziff. 162 ff. bspw. den EGMR (Entscheidungen in den Fällen: Aksoy v. Turkey, 18.12. 1996; Brogan and Others, 29.11. 1988; Kurt v. Turkey, 25. 5.1998; Timurtas v. Turkey, 13. 6. 2000; Çakici v. Turkey, 8. 7.1999) und das Menschenrechtskommitte nach dem CCPR (in der Sache Quinteros v. Uruguay, 21. 7. 1983). Der durch den AGMR hier mit seiner Entscheidung in der Sache Kurt v. Turkey zitierte EGMR (Anm. 164) verwies in dieser Entscheidung seinerseits auch auf die Rechtsprechung des AGMR. 167 IGH, 14. Februar 2002, Arrest warrant-Fall (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Ziff. 61.
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nität für Personen, die ratione personae als immun zu betrachten sind“, wurde insbesondere vom House of Lords in den Pinochet-Entscheidungen in die Differenz privat/öffentlich transformiert und an diese Differenz knüpfte der IGH an, auch wenn er im konkreten Fall – eines amtierenden Funktionsträgers – den Erlass eines Haftbefehls für völkerrechtswidrig betrachtete.168 Die Fragmentierungsdiskussion im Völkerrecht geht darum an der Sache vorbei, wenn sie sich auf eine hierarchische Lösungsmöglichkeit des Problems konzentriert. Die Netzwerktheorie trägt hier die Einsicht bei, dass die wechselseitige Beobachtung der Knoten nicht als kollektive Willensbildung im Gesamtnetz passiert, sondern nur als Sequenz von Knotenentscheidungen, die jeweils als Entscheidungsprämissen in die Entscheidungen anderer Knoten eingehen. Entscheidend ist dann die Frage: Wie wird ein Bindungseffekt erreicht, der aus einer bloßen Fremdbeobachtung eine netzinterne Beobachtung macht? In der Jurisprudenz ist dies die Frage nach der Bindungswirkung von Präjudizien. Gibt es hier einen Weg zwischen der Scylla einer globalen Rechtsbindung durch Präjudizien und der Charybdis eines Präzedenzkonzepts, das auf bloße Persuasion und gar auf zu harmonisierende Methodenkonzepte setzt? 169 In der Tat bietet sich die „default deference“ an, also eine Vermutung, dass Entscheidungen internationaler Regime-Gerichte füreinander Präjudiz-Charakter haben.170 Default deference ist gegenüber dem formalen stare decisis Insgesamt gab es, wenn man die Entscheidung des Divisional Court einbezieht, vier Entscheidungen von global remedies in Sachen Pinochet: (1) Divisional Court-Entscheidung: Augusto Pinochet Ugarte, [1999], I.L.M. 68 ff. (Q.B. Div’l Ct. 1998); (2) Pinochet 1: R v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte, 3 W. L.R. 1456 (H.L. 1998); für nichtig erklärt durch: (3) Pinochet 2: R v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte (No.2), 2 W.L. R. 272 (H. L. 1999) und (4) Pinochet 3: R v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte, 2 W.L.R. 827 (H. L. 1999); Plädoyer für eine Transformation der Differenzierung private/official acts bei: Cassese, When May Senior State Officials be Tried for International Crimes? Some Comments on the Congo v. Belgium Case, EJIL13 (2002), 853–877, 869 ff. 169 So Neumann, Die materielle und prozessuale Koordination völkerrechtlicher Ordnungen – Die Problematik paralleler Streitbeilegungsverfahren am Beispiel des Schwertfisch-Falls, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 61 (2001), 529–576, 547. 170 Martinez, Stanford Law Review 56 (2003), 429–487 ff. 168
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der Präjudizienbindung schwächer, da sie nur eine Bindungsvermutung anordnet. Sie ist aber stärker als ein bloßes persuasive precedent, da sie Abweichungen nur unter starkem Begründungszwang erlaubt. Damit schließt man an das vieldiskutierte Phänomen der Unsicherheitsabsorption in Netzwerken und formalen Organisationen an, d.h. an die regelmäßige Abnahme von Vorentscheidungen mit der Ausnahmemöglichkeit zur Abweichung, wenn überzeugende Gründe es fordern.171 Die Vermutung kann aber widerlegt werden, woraus jedoch jedes distinguishing oder overruling unter Begründungs- und Legitimationszwang steht. Da, wie das ICTY in der Celebici-Entscheidung festhielt, “the operation of the desiderata of consistency, stability, and predictability does not stop at the frontiers of the Tribunal the Appeals Chamber cannot behave as if the general state of the law in the international community whose interests it serves is none of its concern.” 172
Unter diesem Gesichtspunkt hätte selbst das ICTY im Tadic-Fall 173 alles richtig gemacht, als es den effective control-Test des IGH 174 durch eine neue Differenzierung ergänzte und die IGH-Kriterien im konkreten Fall für unanwendbar erklärte, da man es nicht wie im Nicaragua-Urteil mit unorganisierten Individuen zu tun habe, sondern mit organisierten militärischen Gruppen. Und tatsächlich scheint die eigentliche Provokation auch gar nicht in der rechtlichen Frage zu liegen, zumal das ICTY guten Grund hatte,175 die lediglich im Kontext der Gewaltausnahme des Art. 51 UN-Charta sinnvolle restriktive Auslegung der Zurechnungskriterien durch eine im Kontext individueller Verantwortlichkeit im Rahmen des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts gebotene extensive Auslegung zu ergän-
Dazu Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (2000), S. 189 ff. The Prosecuter v. Zejnil Delalic, Zdravko Mucic, Hazim Delic, Esad Landzo (Celebici Case), Decision, Case No. IT-96-21-A, A.Ch., 20. 2. 2001, Ziff. 26; die Entscheidung zitiert dabei die sep. opinion von Richter Shahabuddeen im Fall Laurent Semanza v. The Prosecutor, Decision, Case No. ICTR-97-23-A, 31. 5. 2000, Ziff. 25 173 The Prosecutor v. Dusko Tadic (Fn. 7), Ziff. 115–145. 174 Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, ICJ Rep. 1986, 14 ff., Ziff. 115. 175 Wie auch nationale Rechtssysteme in Zivilrecht und Strafrecht je unterschiedliche Kausalitätskonzepte bspw. realisieren. 171 172
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zen.176 Die Prominenz der Differenz von ICTY und IGH im Kontext der Fragmentierungsdiskussion ist unter sachlichen Gesichtspunkten daher nicht berechtigt 177 und tatsächlich scheint sie sich auch eher an der Ausführung des ICTY festzumachen, das in der Tadic-Entscheidung zwar „with respect“ aber in der Sache divergierend feststellte, dass das Tribunal „does not hold the Nicaragua test to be persuasive“ 178 und das in der Celebici-Entscheidung insistierte, ein „autonomous judicial body“ zu sein, der in keinem „hierarchical relationship“ zum IGH stehe.179 Das ist aber keine Provokation und schon gar keine richterliche Revolution sondern eine komplexitätsadäquate Form gerichtlicher Vernetzung auf weltgesellschaftlicher Ebene. IV. Von der Einheit des Rechts zu normativer Kompatibilität der Regimes Was bedeuten dies alles für ein neues Selbstverständnis des Rechts angesichts der Fragmentierung des transnationalen Rechts in autonome Regimes? Die Konsequenz heißt, hochgetriebene Ansprüche an den Umgang mit der Rechtsfragmentierung deutlich herunterzuschrauben, weil jene ihren Ursprung gar nicht im Recht, sondern in den gesellschaftlichen Umwelten hat. Statt die Einheit des internationalen Rechts herzustellen zu wollen, wird man sich darauf beschränken müssen, eine bloße Kompatibilität der Rechtsfragmente anzustreben. Anstelle einer illusorischen Integration der differenzierten Weltgesellschaft kann das Recht allenfalls Schadensbegrenzung leisten. Denn mit Rechtsmitteln lassen sich die Widersprüche unterschiedlicher gesellschaftlicher Rationalitäten nicht versöhnen, bestenfalls kann das Recht – um eine treffende Kennzeichnung des internationalen Rechts zu variieren – als „gentle civilizer of social systems“ wirSo auch die Begründung für die Abweichung vom effective controll-Test des IGH in der Entscheidung im Fall The Prosecuter v. Kvocak, Kos, Radfic, Zigic, Psac, Decision on the Defence „Motion regarding Concurent Procedures before International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia and International Court of Justice on the Same Questions“, Case No. IT-98-30/1, T.Ch., 5.12. 2000. 177 Koskenniemi/Leino, Leiden Journal of International Law 15 (2002), 553, 566. 178 Koskenniemi/Leino (Fn. 8) Ziff. 115. 179 The Prosecuter v. Zejnil Delalic, Zdravko Mucic, Hazim Delic, Esad Landzo (Celebici Case), Decision, Case No. IT-96-21-A, A.Ch., 20. 2. 2001, Ziff. 24, 26. 176
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ken.180 Die Widersprüche „sind nicht zu vermeiden, aber es ist in der Tat Aufgabe einer neuen Form der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems, unterschiedliche ‚Rechtsarenen‘ kompatibel zu halten und füreinander durchlässig zu machen.“ 181 Realistisch besteht nur die Chance, selbstzerstörerische Tendenzen der Rationalitätskollisionen durch ihre rechtliche „Formalisierung“ einzudämmen. Denn wie kann das Recht mit den Rationalitätenkonflikten der Gesellschaft sinnvoll umgehen? Wenn es gut geht, wird es, wie in den Beispielen gezeigt, einen – begrenzten – Teil dieser Rationalitätskonflikte in die quaestio juris übersetzen und dadurch ein Forum für die friedliche Austragung zur Verfügung stellen. Aber auch in diesem Zusammenhang ist das Recht nicht als übergeordnete Koordinationsinstanz tätig; es wäre schon viel, wenn es rechtsförmige Garantien wechselseitiger Autonomie gegen totalisierende Tendenzen, gegen einseitige Überwältigungen liefern könnte. Und gegenüber dem Gefährdungspotential gesellschaftlicher Fragmentierung wird sich das Recht auf die begrenzte Aufgabe zurückziehen müssen, Kompensationen für wechselseitige Schädigungen und Eindämmung von Schäden für die menschlichen und natürlichen Umwelten zu leisten.
180 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960 (2002). 181 Ladeur (Fn. 57), S.159–160.
§ 2 Globalisierung und Recht im Kontext der geschichtlichen Semantik Junichi Murakami
Versteht man das Recht im objektiven Sinne als durch Macht geschützte Normenordnung, so findet sich ein enger Zusammenhang zwischen den jeweiligen Konfigurationen von Recht und Macht. Im europäischen Mittelalter, wo sich die Machtkonzentration noch nicht sehr weit vollzogen hatte, wurde das objektive Recht als Verbund der verschiedenen, individuellen subjektiven Rechte verstanden, die jeweils durch Eigenmacht gestützt waren. Erst in der frühen Neuzeit setzte sich allmählich die Ansicht durch, das objektive Recht habe nichts mit dem Vertragsverbund der Rechtsinhaber zu tun, sondern sei Gebot des Herrschers bzw. des Staates. In diesem Sinne behauptete Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts, dass das objektive Recht streng vom mittelalterlichen Verbund der subjektiven Rechte zu unterscheiden sei.1 Knapp zweihundert Jahre später vertrat Friedrich Carl von Savigny,2 Gründer des modernen Rechtssystems in Deutschland, die Auffassung, dass der Vertrag nicht als Rechtsquelle gelten könne. Für ihn war trotz seiner Hervorhebung des Volks- und Juristenrechts das „heutige“ objektive Recht letztendlich staatliches Recht. Erst im beginnenden 20. Jahrhundert hat man angefangen, diese etatistische Sicht des Rechts zu erschüttern. Eugen Ehrlich, der in Czernowitz lehrte, schrieb im Hinblick auf das Landleben in Bukowina, dem kleinen Herzogtum am Ostrande der Habsburgermonarchie: „Es ist dem Rechte weder begriffswesentlich, dass es vom Staate ausgehe, noch auch, dass es die Grundlage für die Entscheidungen der Gerichte oder anderer Behörden, oder einen darauffolgenden Rechtszwang abgebe. Es bleibt aber ein viertes Merkmal des Begriffes, und von dem wir wohl ausgehen müssen: das Recht ist eine Ordnung“.3 Diese „Ordnung“, die Ehrlich auch als „lebendes Recht“ bezeichnete,
1 2 3
Hobbes, Leviathan (1651). Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (1840), Bd. 1. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913).
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gründet sich nach seiner Vorstellung auf vier „Tatsachen des Rechts“, nämlich „die Übung, die Herrschaft, den Besitz und die Willenserklärung“. Abgesehen von der bloßen Übung finden wir hier die Elemente wieder, die Hobbes aus seinem Begriff der lex civilis zu eliminieren suchte. Herrschaft und Besitz, die im außerstaatlichen Raum behauptet werden, lassen sich zusammenfassen als subjektives Recht im mittelalterlichen Sinne, während der Willenserklärung in der Form des Vertrags die Aufgabe zugemutet wird, die Ordnung, d. h. lebendes objektives Recht wie im Mittelalter, zu gestalten. Die Rechtsquellenlehre Ehrlichs konnte sich jedoch in Deutschland nicht durchsetzen, obwohl er als Mitträger der ebenfalls auf der Kritik der staatlichen Rechtsauffassung basierenden Freirechtsbewegung einen gewissen Einfluss auf die juristische Methodenlehre ausübte. In Japan aber hat seine Rechtsquellenlehre schon bald in dem großen dreibändigen Werk „Sekaihô-no-Riron“ (Theorie des Weltrechts, 1932–34) von Kôtarô Tanaka, damals Professor des Handelsrechts an der Universität Tokyo, von 1950 bis 1960 Präsident des Obersten Gerichts in Japan, große Anerkennung gefunden. „Ehrlich hat sich mit seinem Hauptwerk ‚Grundlegung der Soziologie des Rechts‘ große Verdienste um die Rechtswissenschaft erworben, so dass ich dieses Werk als eine der wichtigsten Arbeiten über das Weltrecht bezeichnen möchte. (…) Ehrlich hat wohl eingesehen, dass in der Geschichte des juristischen Denkens nur die analytical jurisprudence von Austin sowie die deutsche Rechtslehre von Jellinek und Laband eine Zeitlang herrschend waren, mit der Behauptung, als Recht gälten ausschließlich staatliche Gesetze“. In Deutschland wurde erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Rechtsquellenlehre Ehrlichs im Zeichen der Globalisierung neu belebt. Nach Gunther Teubner bilden sich heute unterschiedliche Sektoren der Weltgesellschaft wie Weltmärkte, Menschenrechts- und Umweltdiskurse usw. in „relativer Abgeschlossenheit von staatlichen Institutionen“ heraus, um globale Rechtsordnungen eigener Art „aus sich herauszutreiben“.4 Dabei kritisiert Teubner die etatistische Rechtsauffassung anders als Ehrlich unter dem Blickwinkel der nach Sektoren „fragmentierten Globalisierung“. Erwartet man dennoch Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255 ff. 4
§ 2 Globalisierung – Recht – geschichtliche Semantik
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eine, wenn auch lose, fluktuierende Ordnung des Weltrechts, so ist sie nur als Vernetzung verschiedener Rationalitäten denkbar. Allerdings wird dann von der Vernetzung erst nach dem Vollzug der funktionalen Systemdifferenzierung im Sinne Niklas Luhmanns die Rede sein. Wie verhält sich das Konzept der Vernetzung mit einer staatlichen Ordnung, die noch keine weitgehende Differenzierung der Systeme und Regime kennt? Eine Gegenposition zur Systemtheorie nimmt Klaus Günther ein, der versucht, den binären Code Recht/Unrecht durch den „universalen Code der Legalität“ zu ersetzen. Es handele sich dabei um Konzepte, Prinzipien, Regeln und Rechtsinstitute wie „das Konzept individuell zugeordneter und autonom auszuübender Rechte, diesen Rechten komplementäre Pflichten, sekundäre Normen als Ermächtigungen zur Entscheidung über primäre Normen, die Konzepte der verschuldensabhängigen und der strikten Haftung, damit verknüpfte elementare Regeln der Zurechnung von Handlungen und deren Folgen zu natürlichen und/oder kollektiven (Rechts-)Personen, das Prinzip der Vorhersehbarkeit von Haftungen und Sanktionen, Regeln der Beweislastverteilung zwischen Kläger und Beklagtem, Unschuldsvermutung, die Institutionalisierung der Rolle eines unparteiischen Dritten einschließlich des Rechts auf Einlegung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen, das Prinzip des audiatur et altera pars, usw.“ 5 Der Grund, warum Günther diese Prinzipien usw., die nach der systemtheoretischen Unterscheidung von Code und Programm ohne Zweifel zu dem letzteren gehören, als Bestandteile des „universalen Codes der Legalität“ begreifen will, liegt wohl darin, dass Günther wie sein Lehrer Habermas „die ständige Aktivierung des performativen Sinns eines Zusammenschlusses von Personen zu einer Rechtsgemeinschaft“ 6 veranlassen möchte, um die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Koselleck) zu überwinden. Teubner würde sich dazu kritisch äußern, „da es eine globale Einheitlichkeit oder gar kollektive Handlungsfähigkeit suggeriert, die dem heutigen Zustand einer fragmentierten Globalisierung nicht entspricht“.7 Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, in: Wingert (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Habermas (2001), 539 ff. 6 Günther (Fn. 5). 7 Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfas5
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Freilich stand auch Luhmann der Frage nicht gleichgültig gegenüber, wie sich unter dem schlichten binären Code einzelne Programme gestalten lassen. Deshalb hat er in seinen letzten Arbeiten immer stärker versucht, die Unterscheidung von Codierung und Programmierung mit der Unterscheidung von „Medium“ und „Form“ zu ergänzen. Dabei hält er zwar an der binären Codierung als Erfordernis der Systemdifferenzierung fest, überlässt aber die Gestaltung der Programme der Reflexion des jeweiligen Systems. Im Gegensatz dazu scheint Günther durch Festsetzung eines „universalen Codes der Legalität“ die Entwicklung der globalen Rechtskultur vom Standpunkt einer allgemeingültigen Vernunft aus – im Namen der Demokratie – hierarchisch dirigieren zu wollen. Dem würde Luhmann mit folgenden Worten widersprechen: „Offenbar steht auch der Staat unter der Anforderung, sich als spezifische Organisation universalistisch zu gerieren. (…) Wenn ein Staat der Logik funktionaler Differenzierung und spezifischer Universalität nicht folgt, (…) schränkt er seine Eignung als Adresse für weltpolitische Anforderungen ein. Er wird Probleme haben mit den „Menschenrechten“ und angesichts weltweiter massenmedialer Kommunikation möglicherweise auch mit seiner Eignung als Adresse für Ansprüche an seine Innenpolitik. Mit spezifischem Universalismus ist also nichts anderes gesagt, als dass das System nur auf der Basis operativer Geschlossenheit offen sein kann; aber zugleich auch: dass operative Geschlossenheit das System dazu zwingt, die Differenz von System und Umwelt intern zu reflektieren und sich selbst einen ‚Willen‘, also ein aktives Verhältnis zur operativ unerreichbaren Umwelt zuzumuten“.8 Die „operativ unerreichbare Umwelt“ kann man also mit einem im modernen Staat geltenden „universalen Code der Legalität“ nicht ohne weiteres beeinflussen, sondern höchstens nur irritieren. Irritierende Elemente können freilich auch in der „operativ unerreichbaren Umwelt“ selbst auftauchen und die Reflexion des schlagwortartigen „universalen Codes der Legalität“ veranlassen. Wahrscheinlich haben wir Juristen künftig immer stärker mit den globalen, nichtstaatlichen und fragmentierten Rechtsordnungen zu tun. sungstheorie, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 66 (2003), 1 ff. 8 Luhmann, Metamorphosen des Staates, in: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik (1995), Bd. 4.
§ 3 Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung –* Vassilios Skouris
Übersicht I. Die Europäische Union im Kontext internationaler Staatenverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Eigene oder „fremde“ Richter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. „Wertende Rechtsvergleichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Art. 234 EG – Kooperation durch Verfahren
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V. Gemeinschaftsrichter und nationales Recht
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VI. Sprache und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Die Lust an der intellektuellen Herausforderung . . . . . . . . . .
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Vom Dialog der Rechtskulturen zu sprechen mag auf einem Kongress, der von der Globalisierung des Rechts handelt, fast ein wenig wie ein Kontrapunkt wirken. Die Diskussionen der vergangenen Tage haben indes eindrucksvoll gezeigt, dass die Tendenzen zu einer Globalisierung des Rechts die in den verschiedenen Rechtskreisen vorfindlichen Rechtskulturen nicht in Frage stellen, ebenso wie die Internationalität einer Rechtsordnung auf den Beiträgen einzelner Rechtsordnungen beruht und auf ihnen aufbaut. Wenn bisher von den Beiträgen Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert die Rede war, so möchte ich nun den Blick auf die Europäische Union lenken, deren Gesetzgebung und Rechtsprechung ein sehr gutes Beispiel für einen institutionalisierten Dialog von Rechtskulturen darstellt. Denn das Gemeinschafts- und Unionsrecht ist in einer Weise konzipiert, dass es zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinzutritt und die Verschiedenheit der mitgliedstaatlichen Rechtskulturen nicht als eine Schwäche ansieht, *
Für den Druck wurde der Vortrag durchgesehen.
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sondern vielmehr als eine Stärke versteht, die es zu bewahren gilt. Die politischen und juristischen Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union spiegeln die Risiken und Chancen eines solchen Dialoges wider und die Qualität dieses Dialoges ist immer auch ein Gradmesser für das Gelingen des großen Projektes der europäischen Integration. Im Folgenden möchte ich nach einigen einleitenden Worten zur Stellung der Europäischen Union im Kontext internationaler Staatenverbindungen eine Reihe von Aspekten ansprechen, die mir aus meiner richterlichen Erfahrung am Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften (EuGH) für unser Thema besonders bedeutsam erscheinen.
I. Die Europäische Union im Kontext internationaler Staatenverbindungen In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Internationalisierung des Rechts erheblich zugenommen. Eine große Zahl völkerrechtlicher Vereinbarungen hat zur Schaffung von internationalen Einrichtungen geführt, die sich je nach Zielsetzung und Integrationsgrad zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. In Europa hat, beginnend mit den Römischen Verträgen der fünfziger Jahre, die Idee der europäischen Einigung in den Europäischen Gemeinschaften eine sehr erfolgreiche Verwirklichung gefunden. Den Erfolg des europäischen Integrationsprojektes zeigen auch die Schaffung der Europäischen Union in den neunziger Jahren durch den Vertrag von Maastricht sowie die wiederholten Erweiterungen, zuletzt im vergangenen Jahr durch den Beitritt von zehn Staaten Mittel- und Osteuropas. Im Unterschied zu vielen anderen internationalen Organisationen wurden die europäischen Institutionen von Anfang an mit weitreichenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten ausgestattet. Die Europäische Gemeinschaft/Union nimmt damit unter den Formen internationaler Zusammenarbeit eine Sonderstellung ein, die sich insbesondere aus ihrem supranationalen Charakter ergibt. Das Gemeinschaftsrecht beansprucht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und setzt sich im Kollisionsfalle gegenüber dem nationalen Recht
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durch; es lässt nationales Recht dabei zwar nicht ungültig werden, verhindert aber dessen Anwendung, soweit die Kollision reicht. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts kann sich der Einzelne vor Behörden und Gerichten auf Gemeinschaftsrecht berufen, und die Behörden und die Gerichte sind berechtigt – aber auch verpflichtet – Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit gehören zu den wichtigsten Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts. Sie haben starke Wurzeln, indem sie auf die berühmten Urteile Costa/E.N.E.L.1 und Van Gend & Loos 2 des EuGH aus den sechziger Jahren zurückgehen. Diese Grundsätze, oder auch „Verfassungs“-Prinzipien, sind seither fester Bestandteil des Gemeinschaftsrechts und gehören zum acquis communautaire, den alle seither beigetretenen Mitgliedstaaten übernommen haben, ohne dass dies einer besonderen Erwähnung in den Beitrittsverträgen bedurft hätte. Die Europäische Union ist auf mittlerweile sehr zahlreichen und für die Lebensverhältnisse der Bürger überaus bedeutsamen Tätigkeitsfeldern aktiv. Im Mittelpunkt steht dabei das Programm zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes. Es ist durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Im Binnenmarktkonzept kommen wesentliche Strukturelemente des Gemeinschaftsrechts zusammen: die Grundfreiheiten, die den Binnenmarkt konstituieren, die Wettbewerbsregeln, die sein Funktionieren sichern, sowie die Grundrechte, die wesentliche Rechtspositionen der Wirtschaftsteilnehmer und anderer Personen gewährleisten. Dieses Programm und die zu seiner Umsetzung ergriffenen Maßnahmen gehören in den weiteren Kontext des europäischen Integrationszieles, das die Schaffung eines politischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts anstrebt. Dies bringt eine große Verantwortung mit sich: Die Organe der Europäischen Union müssen nicht nur alle Bemühungen unternehmen, um den Binnenmarkt und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Wirklichkeit werden zu lassen. Sie sollen ihre VerantEuGH v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251. EuGH v. 5. 2. 1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1. 1 2
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wortung darüber hinaus in einer Weise ausüben, dass das Zusammenleben der Völker Europas und ihrer politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kulturen gelingt.
II. Eigene oder „fremde“ Richter? Der EG-Vertrag weist dem EuGH bei dem Bemühen um das Gelingen der europäischen Integration eine wichtige Rolle zu, indem er ihn mit der Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags“ betraut.3 Zur Akzeptanz und Anerkennung der Rechtsprechungstätigkeit trägt in hohem Maße bei, dass im EuGH alle mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vertreten sind, da jeder Mitgliedstaat einen Richter zur Ernennung vorschlagen kann. Schon von Anfang an galt, dass die Zahl der Richter derjenigen der Mitgliedstaaten entsprechen sollte. Allerdings war nirgends festgeschrieben, dass es ein Richter pro Mitgliedstaat sein sollte. Erst der Vertrag von Nizza von 2001 verankerte diese langjährige Praxis im Vertragstext.4 Auf dieser Praxis beruhte auch die klassische Konzeption des EuGH als grundsätzlich in Plenarbesetzung arbeitendes, umfassend zuständiges Gemeinschaftsgericht mit Mitgliedern aus allen Mitgliedstaaten, das bei jeder Entscheidung seine eigene Rechtsprechung auf europäischer Ebene im Blick behalten und auch die nationalen Rechtsordnungen angemessen berücksichtigen kann. Damit findet auf europäischer Ebene ein ebenbürtiger Dialog der Rechtskulturen statt, der die Dominanz einer einzelnen Rechtsordnung bzw. Rechtskultur ausschließt. Die Tatsache, dass auf diese Weise über Jahrzehnte hinweg Lösungen für Rechtsfragen gemeinsam erarbeitet wurden, hat ein beträchtliches gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander geschaffen. Dieses gegenseitige Vertrauen macht es möglich und lässt es vielfach sogar als ganz selbstverständlich erscheinen, dass der EuGH Fälle entscheidet, ohne dass der Richter, der aus dem Mitgliedstaat stammt, dessen Interessen in dem Verfahren besonders berührt sind, an der Entscheidungsfindung Art. 220 Abs. 1 EG. Art. 221 Abs. 1 EG (vor Nizza): „Der Gerichtshof besteht aus fünfzehn Richtern.“ – Art. 221 Abs. 1 EG (seit Nizza): „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat.“ 3 4
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beteiligt ist. Vorabentscheidungsersuchen oder Vertragsverletzungsverfahren können und werden häufig also auch ohne Beteiligung des Richters aus dem betreffenden Mitgliedstaat entschieden. Seit der EU-Erweiterung im Jahre 2004 ist dies sogar ganz überwiegend der Fall. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, entscheidet der EuGH heute in Kammerbesetzung, sei es als Grosse Kammer mit 13 Richtern, sei es als Kammer mit fünf oder nur mit drei Richtern. Etwa 10 % der Rechtssachen werden von der Grossen Kammer, 70 % von den drei Fünfer-Kammern und der Rest von den Dreier-Kammern entschieden. Die Präsidenten der Fünfer-Kammern gehören stets der Großen Kammer an, während im Übrigen ein Richter nur an etwa einem Drittel der Verfahren vor der Grossen Kammer beteiligt ist, in der die Fälle entschieden werden, die Grundsatzfragen aufwerfen. Demgegenüber gilt in anderen internationalen Gerichtshöfen ein Prinzip, dass stets der Richter des betreffenden Landes an der Entscheidung mitwirkt. Andererseits werden auch heute noch sämtliche Verfahren, mit denen der EuGH befasst wird, der Generalversammlung der Richter und Generalanwälte vorgelegt, die dann den Spruchkörper und dessen konkrete Zusammensetzung bestimmt. Ob ein Fall einer der kleineren Kammern mit drei oder fünf Richtern oder aber der Großen Kammer mit 13 Richtern zugeteilt wird, richtet sich nach der juristischen Bedeutung des Falles. Bei der Beurteilung der Bedeutung eines Falles spielt die Frage eine Rolle, welche Auswirkungen die Entscheidung des EuGH für das Ausgangsverfahren und auch für die anderen Mitgliedstaaten haben kann. An dieser Stelle des Verfahrens hat jeder Richter die Möglichkeit, auf Aspekte hinzuweisen, die aus der Verfahrensakte vielleicht nicht so deutlich hervorgehen, die ihm aber aus seiner Kenntnis der betreffenden mitgliedstaatlichen Rechtsordnung her vertraut sind. Er kann auch auf Umstände aufmerksam machen, die die Folgewirkungen eines Urteils für seinen Mitgliedstaat betreffen. Allerdings kann die Antwort auf die Frage, wie stark sich ein Richter in Fällen, die seinen Herkunftsstaat betreffen, engagieren sollte, heikel sein und eine durchaus schwierige Gratwanderung darstellen, da der EG-Vertrag die Richter des EuGH nicht als Repräsentanten ihrer Mitgliedstaaten versteht. Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten durch das ihnen zustehende Vorschlagsrecht zwar an der Auswahl der Richter beteiligt.
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Gleichwohl ernennen sie die von ihnen vorgeschlagene Person nicht. Dafür ist vielmehr der Rat zuständig, genauer der Rat als Zusammenkunft der im Rat versammelten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten. Diese Ernennungsweise der Richter verhindert auch, dass die Richter des EuGH als „fremde Richter“ angesehen werden können, deren Urteilsspruch für diejenigen Mitgliedstaaten möglicherweise unverbindlich ist, „deren“ Richter nicht an der Entscheidung beteiligt waren. Es ist deshalb juristisch zumindest missverständlich, von „dem italienischen Richter“ oder von „der deutschen Richterin“ zu sprechen und den Richter „des“ betreffenden Mitgliedstaates zu meinen. Es ist auch keiner Partei möglich, eine Änderung der Zusammensetzung des mit einer Rechtssache befassten Spruchkörpers des EuGH oder einer seiner Kammern unter Hinweis auf die Staatsangehörigkeit eines Richters zu verlangen oder, umgekehrt, eine solche Forderung damit zu begründen, dass dem Spruchkörper kein Richter ihrer Staatsangehörigkeit angehört.5 Das Verständnis der Richter der Gemeinschaftsgerichte nicht als Repräsentanten ihrer Mitgliedstaaten, sondern als Gemeinschaftsrichter ist durch das kürzlich geschaffene Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union verfassungsrechtlich noch einen Schritt weiter getragen worden. Der Vertrag von Nizza sieht ebenso wie der Verfassungsvertrag vor, dass dem Gericht erster Instanz so genannte „gerichtliche Kammern“ – oder in der Sprache des Verfassungsvertrages: „Fachgerichte“ – für bestimmte besondere Bereiche beigeordnet werden können.6 Das Beamtengericht besteht aus sieben Richtern, die nicht von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen worden sind, sondern auf der Grundlage eines Auswahlverfahrens vom Rat ernannt wurden.7 In diesem Falle handelte der Rat in seiner Eigenschaft als Gemeinschaftsorgan und stützte sich dabei auf die Empfehlung eines eigens zu diesem Zwecke einberufenen Komitees. Das Art. 18 Abs. 4 der Satzung des EuGH: „Eine Partei kann den Antrag auf Änderung der Zusammensetzung des Gerichtshofs oder einer seiner Kammern weder mit der Staatsangehörigkeit eines Richters noch damit begründen, dass dem Gerichtshof oder einer seiner Kammern kein Richter ihrer Staatsangehörigkeit angehört.“ 6 Art. 220 Abs. 2 EG, Art. III-359 Verfassungsvertrag. 7 Vgl. Beschluss 2004/752/EG, Euratom des Rates vom 2.11. 2004 zur Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (ABl. 2004 L 333/7). 5
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Komitee, das aus hochrangigen europäischen Persönlichkeiten bestand, führte das Auswahlverfahren durch und legte dem Rat zwei Listen mit Namensvorschlägen für die zu ernennenden Richter vor. III. „Wertende Rechtsvergleichung“ Das Ausmaß und die Qualität eines Dialoges der Rechtskulturen zeigt sich etwa daran, wie vorgegangen wird, wenn auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene eine Rechtsfrage zur Lösung ansteht, für die es in den Mitgliedstaaten Modelle gibt. Wird dann schlicht und einfach das Modell eines Mitgliedstaates mehr oder weniger eins zu eins auf die Gemeinschaftsebene und damit zugleich auf alle anderen Mitgliedstaaten erstreckt? Oder wird versucht, aus der Fülle der vorhandenen Modelle die besten Elemente herauszunehmen und auf dieser Grundlage eine im Wortsinn gemeinsame Lösung zu entwickeln? Der erste Weg, die Übernahme und Erstreckung einer Partikularlösung, findet oftmals in Staatenverbindungen statt, die von einem oder einer kleinen Gruppe von Staaten dominiert werden. Demgegenüber ist es ein Zeichen eines funktionierenden Dialoges der Rechtskulturen, wenn sich alle beteiligten Rechtsordnungen einbringen können. Idealtypischerweise wird nach einer Lösung gesucht, die verschiedene Traditionen und Regelungsansätze aufnimmt und aus ihnen oder auf ihrer Grundlage eine gemeinsame, europäische Lösung schafft. Diese gemeinsame Lösung muss nicht notwendigerweise eine völlig neue Lösung sein. Wenn sich erweist, dass eine bestimmte, schon in einem oder mehreren Mitgliedstaaten praktizierte Lösung auch für die Gemeinschaftsebene die beste ist, spricht nichts dagegen, diese Lösung auf Gemeinschaftsebene zu übernehmen. Zentral aber ist, dass der Entscheidungsfindungsprozess offen und transparent ist, so dass ein echter Dialog stattfinden kann. Diese Maximen gelten nicht nur für die Rechtssetzung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber, d. h. Parlament und Rat, sondern auch für die Rechtsprechung. Wenn eine Partei in einem Verfahren vor dem EuGH darauf hinweist, dass eine bestimmte Frage im eigenen nationalen Recht in der und der Weise behandelt werde und dass deswegen auf Gemeinschaftsebene genauso vorgegangen werden müsse, dann ist das kein sonderlich starkes Argument. Der EuGH nimmt derartige Argumentationen gewiss zur Kenntnis, gleichwohl besteht sein
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Ansatz eher darin, dass er dort, wo er wissen möchte, wie eine bestimmte Frage auf nationaler Ebene geregelt ist, die Rechtsordnungen möglichst vieler Mitgliedstaaten heranzieht. Gewiss stößt diese Vorgehensweise bei mittlerweile 25 Mitgliedstaaten an ihre Grenzen. Es ist aber beispielsweise möglich, den wissenschaftlichen Dienst des EuGH, in dem Juristen aus allen Mitgliedstaaten tätig sind, mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen, um in Erfahrung zu bringen, wie eine bestimmte Rechtsfrage in den einzelnen Mitgliedstaaten behandelt wird. Dabei geht es nicht darum, sozusagen einen schematischen Mittelwert oder einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu berechnen. Vielmehr bilden derartige Untersuchungen die Grundlage für das, was „wertende Rechtsvergleichung“ genannt wird und mit der der EuGH die aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht am besten geeignete Regelung herausarbeitet, ohne sich an Maximal- oder Minimalstandards der Mitgliedstaaten gebunden zu sehen. Der vielleicht bedeutendste Anwendungsfall der Methode der wertenden Rechtsvergleichung findet sich in der Grundrechtsjudikatur des EuGH.8 Wie wir wissen, gehören zu den Erkenntnisquellen für die Gemeinschaftsgrundrechte zum einen die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und zum anderen die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, d. h. insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention.9 Ein gutes Beispiel für die Funktionsweise der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als Grundrechtserkenntnisquelle ist das Urteil Hauer aus dem Jahre 1979.10 In diesem Urteil, das auch die Leitentscheidung zum Eigentumsgrundrecht ist, weist der EuGH darauf hin, dass das Eigentumsrecht „in der Gemeinschaftsrechtsordnung gemäß den gemeinsamen Verfassungskonzep-
8 Dazu Bleckmann, Die wertende Rechtsvergleichung bei der Entwicklung europäischer Grundrechte, in: J. F. Baur/Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Bodo Börner (1992), S. 29. Vgl. auch Mahlmann, Die Grundrechtscharta der Europäischen Union, ZEuP 2000, 419. 9 Siehe EuGH v. 17.12. 1970 – Rs. 11/70 Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4; EuGH v. 14. 5. 1974 – Rs. 4/73 Nold ./. Kommission, Slg. 1974, 491 Rn. 13. 10 EuGH v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727.
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tionen der Mitgliedstaaten gewährleistet“ wird 11 und untersucht zur Bestimmung des Maßes der Einschränkbarkeit dieses Grundrechts rechtsvergleichend die verfassungsrechtliche Situation in einigen Mitgliedstaaten.12
IV. Art. 234 EG – Kooperation durch Verfahren Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 234 EG ermöglichen den Gerichten der Mitgliedstaaten, eine verbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu erhalten und in einen Dialog mit dem EuGH einzutreten. Die ganz überwiegende Zahl der Leitentscheidungen des EuGH ist in dieser Verfahrensart ergangen. Ich nenne nur ganz wenige Beispiele: die schon erwähnten Urteile Costa/E.N.E.L.13 und Van Gend & Loos 14 für die Grundprinzipien des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, Stauder 15 für die Geltung der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, Gebhard 16 für die Dogmatik der Grundfreiheiten, Francovich 17 und Köbler 18 für die Staatshaftung, Grzelczyk 19 für die Unionsbürgerschaft. Zahlenmäßig gesehen sind etwas weniger als die Hälfte aller Verfahren Vorabentscheidungsersuchen. Im Jahr 2004 wurden 249 Vorabentscheidungsersuchen anhängig gemacht, im Jahr 2005 waren es 221.
EuGH v. 13.12. 1979 – Rs. 44/79 Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727 Rn. 17. 12 EuGH v. 13.12. 1979 – Rs. 44/79 Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727 Rn. 20. 13 EuGH v. 15. 7.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251. 14 EuGH v. 5. 2. 1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 3. 15 EuGH v. 12. 11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Ulm, Slg. 1969, 419. 16 EuGH v. 30. 11.1995 – Rs. C-55/94 R. Gebhard ./. Consiglio dell’Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano, Slg. 1995, I-4165. 17 EuGH v. 19.11. 1991 – Rs. C-6/90 und C-9/90 Andrea Francovich u. a. ./. Italienische Republik, Slg. 1991, I-5357. 18 EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-224/01 Gerhard Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003, I-10239. 19 EuGH v. 20. 9. 2001 – Rs. C-184/99 Rudy Grzelczyk ./. Centre public d'aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, Slg. 2001, I-6193. 11
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Das Vorabentscheidungsverfahren verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen geht es um Individualrechtsschutz, zum anderen um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten. Es stellt die „eigentliche Grundlage für das Funktionieren des Binnenmarktes“ dar,20 dadurch dass jede Beeinträchtigung der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu Wettbewerbsverzerrungen und zu Diskriminierungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern führen kann.21 Der EuGH hat deshalb stets darauf Wert gelegt, dass das Vorlagerecht umfassend bleibt, d. h. dass alle nationalen Gerichte die Möglichkeit haben, ihn anzurufen, um Zweifelsfragen bei der Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts klären zu können.22 In der Tat ist dieses umfassende Vorlagerecht ausschlaggebend für den Erfolg des Vorabentscheidungsverfahrens. Dazu trägt bei, dass nur verhältnismäßig geringe formale Anforderungen gestellt werden: Jedes Gericht, das zu der Meinung gelangt, dass es in einem bei ihm anhängigen Verfahren einer verbindlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts bedarf, ist zur Vorlage berechtigt. Es gibt kaum zwingende Vorschriften über die Abfassung und Strukturierung von Vorabentscheidungsersuchen, wenn man von der Notwendigkeit absieht, dass der Vorlagebeschluss den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Falles hinreichend deutlich erläutern muss. Angesichts dessen kann man bei der Lektüre von Vorabentscheidungsersuchen viel über die verschiedenen europäischen Rechtskulturen lernen, zumal die Präsentation des Sachverhalts und der Vorlagefragen sowie die zur Erläuterung des Rechtsproblems gemachten Ausführungen manchmal landesspezifische Züge tragen. Der kooperative Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens kommt darüber hinaus darin zum Ausdruck, dass jeder Mitgliedstaat das Recht hat, sich durch eine Stellungnahme an dem Verfahren zu beteiligen. Der Vorlagebeschluss wird neben den Beteiligten des Ausgangs-
EuGH, Bericht über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, Luxemburg, Mai 1995. 21 EuGH, Bericht über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, Luxemburg, Mai 1995. 22 EuGH, Die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Union. Reflexionspapier, Luxemburg (2000), S. 26, 27. 20
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rechtsstreits sowie den anhörungsberechtigten Organen der EU allen Mitgliedstaaten zugestellt. Diese können sich zu dem Streitgegenstand schriftlich äußern und in einer etwaigen mündlichen Verhandlung Stellung nehmen, ohne ein besonderes Interesse am Verfahrensgegenstand darlegen zu müssen. Hierdurch wird gewährleistet, dass die entscheidende Kammer einen umfassenden Überblick über die Bedeutung des Streitgegenstandes und die Konsequenzen einer zu treffenden Entscheidung erhält.
V. Gemeinschaftsrichter und nationales Recht Die Beratungen und Diskussionen innerhalb des EuGH werden ganz erheblich durch die Persönlichkeiten der Richter, ihren beruflichen Hintergrund und ihre bisherigen Karrierestationen beeinflusst. Es ist wichtig und richtig, dass sich die Richter auch in solchen Fällen engagieren, die ihr Land besonders betreffen. Dies gilt in besonderer Weise für das Vorabentscheidungsverfahren, das ja nur ein Zwischenverfahren im Rahmen des vor dem nationalen Gericht anhängigen Hauptverfahrens ist. Um die spezifische juristische Problematik oder auch die politische Sensibilität bestimmter zur Vorabentscheidung gestellter Fragen richtig zu verstehen, kann es sinnvoll und notwendig sein, dass sich der Richter, aus dessen Heimatstaat die betreffende Vorlage kommt und der an dem Verfahren beteiligt ist, mit seinen besonderen Kenntnissen des Rechts sowie der politischen und gesellschaftlichen Kultur dieses Staates in das Verfahren einbringt. Indes ist in dieser Hinsicht Zurückhaltung geboten, um nicht den Eindruck zu erwecken, Partikularinteressen des eigenen Mitgliedstaates aus der Richterrobe heraus privilegieren oder gar durchsetzen zu wollen. Lassen Sie mich die Bedeutung der Kenntnis des nationalen Rechts für Verfahren vor dem EuGH an zwei Beispielen erläutern. Mein erstes Beispiel betrifft den Parallelhandel mit Medikamenten.23 Ein britischer Arzneimittelhersteller hatte sich geweigert, die aus Griechenland eingehenden Bestellungen bestimmter Medikamente in
23 Vgl. EuGH v. 31. 5. 2005 – Rs. C-53/03 Synetairismos Farmakopoion Aitolias & Akarnanias (Syfait) u. a. ./. GlaxoSmithKline plc und GlaxoSmithKline AEVE, Slg. 2005, I-4609.
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vollem Umfang auszuführen. Er argumentierte, dass ein großer Teil dieser Bestellungen nicht in Griechenland verbleibt, sondern anschließend in andere EU-Mitgliedstaaten ausgeführt wird, in denen die Preise viel höher liegen als in Griechenland, wo sie staatlich reglementiert sind. Um diesen Parallelhandel zu begrenzen und um die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu wahren, wollte der britische Hersteller nur so viele dieser Medikamente nach Griechenland liefern, wie zur Versorgung des griechischen Marktes nötig ist. Hiergegen wendeten sich einige griechische Arzneimittelimporteure und beschwerten sich bei der Epitropi Antagonismou. Die Epitropi Antagonismou ist die griechische Wettbewerbskommission und besitzt unter anderem auch quasi-rechtsprechende Kompetenzen. Die Wettbewerbskommission machte nun eine Vorlage an den EuGH, um in Erfahrung zu bringen, ob das Verhalten der Arzneimittelhersteller als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und damit als wettbewerbswidrig anzusehen ist. Für den EuGH stellte sich zunächst die Frage, ob die Epitropi Antagonismou überhaupt ein Gericht im Sinne von Art. 234 EG ist. Zur Frage der Gerichtseigenschaft gibt es eine ausgedehnte Rechtsprechung, in der eine Reihe von Kriterien entwickelt worden ist, die teils organisationsrechtlicher und teils funktionaler Art sind. Es sind Kriterien wie die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, ihre Unabhängigkeit, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren sowie die Frage, ob ihre Tätigkeit auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt.24 Die Anwendung dieser Kriterien ist jedoch oftmals schwierig. Angesichts der Vielfältigkeit der Justizorganisation in den Mitgliedstaaten kann sie nicht schematisch erfolgen, sondern erfordert eine Gesamtbetrachtung. Um eine solche Gesamtbetrachtung vornehmen zu können, bedarf es eines guten Verständnisses der Organisation und des Charakters der mitgliedstaatlichen Einrichtung, die die Vorlage gemacht hat. Hier ist es sicher wünschenswert und zu begrüßen, wenn der Richter, der aus dem betreffenden Mitgliedstaat stammt und dessen Rechtsordnung besonders gut kennt, seinen Kollegen nötigenfalls Vgl. EuGH v. 31. 5. 2005 – Rs. C-53/03 Synetairismos Farmakopoion Aitolias & Akarnanias (Syfait) u. a. ./. GlaxoSmithKline plc und GlaxoSmithKline AEVE, Slg. 2005, I-4609 Rn. 29. 24
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mit Erläuterungen zur Seite steht, um ihnen bei ihrer Meinungsbildung zu helfen. Im vorliegenden Fall wurde der Gerichtscharakter der Epitropi Antagonismou im Sinne von Art. 234 EG schließlich verneint.25 Mein zweites Beispiel bezieht sich auf die juristische Problematik der so genannten „Schrottimmobilien“, die in Deutschland Gegenstand einer intensiven juristischen und publizistischen Auseinandersetzung ist. Einige Instanzgerichte, die mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht übereinstimmten, brachten diese Thematik schließlich im Wege von zwei Vorabentscheidungsersuchen vor den EuGH.26 Um die Problematik zu verstehen, muss man wissen, dass der EuGH vor einigen Jahren entschieden hat, dass die Haustürwiderrufsrichtlinie auch auf so genannte „Realkreditverträge“ anwendbar ist, d. h. auf Kreditverträge, die zur Finanzierung eines Immobilienkaufs geschlossen wurden.27 Verbraucher, die einen derartigen Vertrag in einer Haustürsituation geschlossen haben, verfügen daher über ein Widerrufsrecht. Nunmehr stellte sich die Frage, wie sich die Richtlinie zu einem Finanzgeschäft verhält, das neben einem solchen Realkreditvertrag einen Immobilienkaufvertrag umfasst und in dem beide Verträge wirtschaftlich eng miteinander verknüpft sind. Genauer gesagt ging es darum, ob und wenn ja inwieweit sich bei einem derartigen Finanzgeschäft der Widerruf des Realkreditvertrags auf den Immobilienkaufvertrag auswirkt. Da die Verbraucher bei Abschluss des Kreditvertrages nicht über ihr Widerrufsrecht informiert wurden, konnten sie es faktisch erst zu einer Zeit ausüben, als längst klar war, dass die erworbene Immobilie wenig bis nichts wert ist. Wenn der Widerruf des Kreditvertrages zur Folge hat, dass sie den Kreditbetrag sofort und mit Zinsen zurückzahlen müssen, sie sich aber nicht zugleich von dem Immobilienkaufvertrag lösen können, sondern sie
25 EuGH v. 31. 5. 2005 – Rs. C-53/03 Synetairismos Farmakopoion Aitolias & Akarnanias (Syfait) u. a. ./. GlaxoSmithKline plc und GlaxoSmithKline AEVE, Slg. 2005, I-4609 Rn. 37. 26 EuGH v. 25.10. 2005 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte und Wolfgang Schulte ./. Deutsche Bausparkasse Badenia AG, Slg. 2005, I-9215; EuGH 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank eG ./. Klaus Conrads u.a., Slg. 2005, I-9273. 27 EuGH v. 13. 11.2001 – Rs. C-481/99 Georg Heininger und Helga Heininger ./. Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, Slg. 2001, I-9945.
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auf ihrer „Schrottimmobilie“ sitzen bleiben, kann sie das in ganz erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. Diese Vorabentscheidungsersuchen brachten nicht nur schwierige europarechtliche Fragen mit sich, sondern bauten darüber hinaus auf einer komplexen nationalen Rechtslage auf. Um die nationale Rechtslage zu verstehen, die sich im Umfeld von so diffizilen und teilweise spezifisch deutschen Rechtsinstituten wie Grundschuld und Hypothek, Abstraktionsprinzip und dem Recht der Kreditsicherheiten bewegt, kann es nützlich sein, wenn der Richter des EuGH, der das anwendbare nationale Recht am besten kennt, dazu beiträgt, dass das Urteil auf einem korrekten Verständnis des nationalen Rechts beruht. Auch ist es sicher wichtig, die besondere Brisanz und Bedeutung, die ein solcher Fall für einen Mitgliedstaat haben kann, im Blick zu behalten. Der EuGH hat in den genannten Vorabentscheidungsverfahren eine Verpflichtung zur Rückabwicklung des Immobilienkaufes unter dem Aspekt des verbundenen Vertrages abgelehnt, jedoch die Mitgliedstaaten gleichzeitig dazu verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass die Verbraucher die finanziellen Folgen bestimmter Risiken zu tragen haben. Ein Kreditinstitut, das seiner Belehrungspflicht nicht nachgekommen sei, habe die Folgen der Verwirklichung der damit zusammenhängenden Risiken zu tragen. Der EuGH betonte, dass es Sache der nationalen Gerichte sei, die nationalen Regelungen so weit wie möglich so auszulegen, dass das genannte Ergebnis erreicht wird. Der EuGH hat damit „den Ball wieder den deutschen Gerichten“ zugespielt,28 die die Vorgaben der genannten Urteile umsetzen müssen.29 VI. Sprache und Kommunikation Da in einer internationalen Umgebung das gegenseitige Verstehen vor allem über die Sprache vermittelt wird, hängt das Gelingen einer internationalen Rechtsordnung sehr stark von dem Umgang mit der 28 So Rott, Risikohaftung der Banken für „Schrottimmobilien“, GPR 2006 S. 25 ff. 29 So z. B. BGH v. 16. 5. 2006, NJW 2006, S. 2099 ff.; OLG Celle v. 3. 4. 2006, NJW 2006, S. 1817 ff.; OLG Frankfurt v. 22. 2. 2006, DB 2006, S. 1371.
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Sprachenfrage ab. In dieser Beziehung beinhaltete die EU-Erweiterung im Jahr 2004 für den EuGH eine große Herausforderung. Denn sie bedeutete die Einführung von neun neuen Amtssprachen, so dass der EuGH jetzt in der Lage sein muss, in 20 potenziellen Verfahrenssprachen zu arbeiten, aus denen sich etwa 380 mögliche Sprachkombinationen ergeben. Es mag sein, dass dieses System früher oder später an seine Grenzen stößt und neu überdacht werden muss. Die Vorteile der Anerkennung aller offiziellen Sprachen als Amtssprachen liegen zwar auf der Hand: Die Rechtsuchenden haben einen leichteren Zugang zu ihrem Verfahren, und die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte steht den nationalen Richtern in der eigenen Sprache zur Verfügung. Jede zusätzliche Amts- und Verfahrenssprache führt allerdings zu einer überproportionalen Zunahme der möglichen Sprachkombinationen, deren Gesamtzahl sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr sinnvoll handhaben lässt. Dort, wo die direkte Übersetzung von der Ursprungs- in die Zielsprache mangels qualifizierten Personals nicht möglich ist, muss schon heute über eine Relaissprache übersetzt werden. Die Verwendung einer Relaissprache bedeutet beispielsweise, dass die Übersetzung vom Lettischen in das Griechische nicht direkt erfolgt, sondern vom Lettischen erst in eine Relaissprache übersetzt wird, aus der dann die Übersetzung ins Griechische geschieht. Diese Vorgehensweise entschärft zwar das Problem, erfordert aber auch, dass statt einem nun zwei Übersetzungsvorgänge erforderlich sind, mit allen sich daraus ergebenden Fehlerquellen und Kostenfolgen. Eine weitere wichtige Frage ist, ob an der Praxis, dass Französisch alleinige Arbeitssprache für die interne Abfassung und richterliche Beratung der Urteile ist, auf Dauer festgehalten werden kann. Im Ansatz begrüße ich es, dass es eine einzige Beratungssprache gibt und denke, dass dieses Prinzip nicht aufgegeben werden sollte. Aus meiner sechsjährigen Erfahrung kann ich sagen, dass die Verwendung des Französischen gut funktioniert hat und auch nach der Erweiterung gut funktioniert. Man sollte auch bedenken, dass es in Luxemburg die Richter sind, die den Text der Urteile entwerfen und beraten, und zwar gegebenenfalls Satz für Satz und manchmal Wort für Wort. Beratungen in mehr als einer Sprache können nicht gleich ergiebig sein, wenn und weil der zu beratende Text eben in einer Sprache abgefasst ist. Allerdings muss man auch sehen, dass sich gegenüber der
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Anfangszeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs Mitgliedstaaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits und der heutigen Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten und umfassender globaler Vernetzung andererseits die Sprachgewichte erheblich verschoben haben. Die Verbreitung des Französischen in der Berufsgruppe der das Gemeinschaftsrecht praktizierenden Juristen ist seither gesunken und sinkt mit jeder Erweiterung. Trotzdem würde ich dafür plädieren, das aktuelle System solange wie nur möglich aufrechtzuerhalten, weil eine Änderung der Arbeitssprache – die nicht allein auf die Richter und ihre Mitarbeiter, sondern auf die größte Zahl der inzwischen 1800 Mitarbeiter des EuGH unmittelbare Auswirkungen haben wird – nur sehr langfristig erfolgen kann. VII. Die Lust an der intellektuellen Herausforderung Von Anbeginn an zeichnete sich die Idee der europäischen Integration durch den Willen aus, eine Ordnung ins Leben zu rufen, die durch Frieden und durch Recht gekennzeichnet ist, und dass beides aufeinander bezogen ist. Bei ihrer Tätigkeit bringen die Richter und Generalanwälte des EuGH die Rechtskultur bzw. Rechtskulturen ein, durch die sie in ihrer juristischen Ausbildung und beruflichen Tätigkeit geprägt worden sind. Unterschiede im Vorverständnis von Recht und Methodik, wie sie angesichts der vielfältigen juristischen Traditionen Europas unvermeidlich sind, können dabei zu Spannungen führen. Konflikte treten je häufiger und heftiger auf, desto weniger sich die Beteiligten zuvor dieser Unterschiede bewusst sind oder sie sich bewusst gemacht haben. Zu den lohnenden und faszinierenden Aspekten des Arbeitens in einer internationalen Rechtsordnung mit Akteuren aus verschiedenen Rechtskulturen gehört es daher, diese Vorverständnisse zu entdecken und auf diese Weise zu einem vertieften Verständnis der eigenen Rechtskultur zu gelangen, von dem wiederum der Dialog mit anderen Rechtskulturen nur gewinnen kann. Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen Punkt zurückkommen, den ich bereits kurz angerissen habe, nämlich die Frage, wodurch sich ein Argument im europarechtlichen Diskurs auszeichnet. Ich hatte erwähnt, dass der bloße Hinweis darauf, dass eine bestimmte juristische Frage im eigenen Mitgliedstaat in der einen oder anderen Weise behandelt wird, für sich genommen nicht hinreichend
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überzeugend ist, um auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene genauso zu verfahren. Ich möchte hinzufügen, dass weitaus stärkere Kraft ein Argument besitzt, das an die bestehende Rechtsprechung des EuGH anknüpft und sie in diese oder jene Richtung weiterentwickelt. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass es für den EuGH schmeichelhaft ist, wenn sich jemand auf seine Rechtsprechung bezieht, da diese Bezugnahme durchaus auch in einem kritischen Sinne geschehen kann. Vielmehr ist es so, dass ein Argument, das an die bisherige Rechtsprechung anknüpft, zugleich an einen Dialog der europäischen Rechtsordnungen und Rechtskulturen anknüpft, auf dem diese Rechtsprechung beruht, und diesen Dialog weiterführt.
§ 4 „Global Governance“ oder „Good Global Governance“? Gesine Schwan
Übersicht I. „Good Governance“ und die Würde des Menschen . . . . . . . .
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II. Globale ökonomische Entgrenzung als Gefahr für die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Markt statt Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. „Good Governance“ und die Würde des Menschen Eine gängige Forderung an die Wissenschaft verlangt von ihr, sie solle wertfrei forschen, lehren und ihre Ergebnisse formulieren. Meist beruft sich diese Forderung auf Max Weber. Zu Unrecht. Denn Max Weber hat zwar unterstrichen, dass Wertentscheidungen sich nicht wissenschaftlich legitimieren lassen. Aber zugleich beharrte er darauf, dass wissenschaftliche Untersuchungen immer und notwendig Wertentscheidungen einschließen, und sei es nur in der Festlegung der Fragestellung und der Definition der relevanten Untersuchungsbereiche, aber auch in den damit zusammenhängenden Zielen von Forschung und Lehre. Worauf es ihm angesichts dieser Unausweichlichkeit normativer Implikationen von Wissenschaft ankam war, die eigenen Wertentscheidungen offen zu legen und, im möglichen Maße, zu begründen. Solche Transparenz der Implikationen bietet die beste Chance für eine rationale Kontrolle und Verständigung über wissenschaftliche Ergebnisse. Wir sind am Abend eines langen Tages wissenschaftlicher Diskussionen angelangt und wollen uns vermutlich nun eher am Essen und Trinken vergnügen. Aber der Ritus wissenschaftlicher Konferenzen verlangt bekanntlich eine Dinner-speech, und sie muss sich – jedenfalls auch – an die Kriterien wissenschaftlicher Arbeit halten. So will ich gleich am Anfang meiner Überlegungen über „global governance“ und „good global governance“ die Wertentscheidungen offen bekennen, die meine Überlegungen leiten. Ihre oberste Orientierung
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beziehen sie aus einem Verständnis der Würde des Menschen, wie es dem deutschen Grundgesetz und allgemeiner den sogenannten westlichen Demokratien zugrunde liegt. Es geht mir darum, wenn wir die gegenwärtige Konstellation von governance-Strukturen und -Akteuren anschauen, Wege für eine „good“, also eine demokratische „governance“ ausfindig zu machen, die es den Menschen weltweit im größtmöglichen Maße und in prinzipieller Gleichberechtigung aller ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt, mit politischer Teilhabe, in Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu führen. Das steckt hinter meinem Begriff von „good governance“. Vielen mag dies als ein naiver Wunsch erscheinen. Aber abgesehen davon, dass ich Naivität für eine Voraussetzung von Kreativität halte und daher – in begrenztem Maße natürlich – schätze, glaube ich auch, dass sich der Wunsch nach dem von mir definierten „guten“ Leben nicht zufällig durch Jahrhunderte der Ideengeschichte zieht und auch heute bei aller Unterschiedlichkeit der Kulturen die Menschen global verbindet. Ich gehöre also zu den sog. Universalisten, die an normative Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Kulturen glauben. In ihrer langen Geschichte seit der Antike war die Demokratie als politische Form und als Lebensweise unter dem Zeichen der menschlichen Würde immer an einen geographischen Ort gebunden, der überdies übersichtlich sein sollte, damit alle Bürger an ihr teilhaben könnten. Der große Globalisierungsschub nach 1989 hat uns vor die Herausforderung gestellt, diese für ihre Legitimation territorial gebundene Demokratie neu und anders zu denken und zu praktizieren. Denn nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist aufgrund politischer Machtverschiebungen, technologischer Entwicklungen mit Folgen insbesondere für eine rasante globale Kommunikationsvernetzung und allem voran grenzüberschreitender globaler ökonomischer Akteure und Transaktionen eine Diskrepanz entstanden zwischen begrenzten politischen Regelungs- und Einflussräumen einerseits und entgrenzten politischen Herausforderungen (Pflege der Umwelt, Rechtssicherheit, Umgang mit Migration, mit Terror und Korruption) sowie globalen vor allem ökonomischen Akteuren und Aktionen andererseits. Sie schränkt die Reichweite und Gestaltungsfähigkeit der nationalstaatlichen Demokratien drastisch ein. Dabei kommt der ökonomischen Dynamik des globalen Kapitalismus eine heraus-
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ragende Bedeutung zu, weil sie alle anderen Gestaltungskräfte – insbesondere die Politik – gleichsam aufzusaugen scheint. Gut erinnere ich mich noch an die Auseinandersetzungen in der Zeit nach 1968, als viele Studenten den Wert der deutschen Nachkriegsdemokratie radikal in Frage stellten mit der marxistisch inspirierten Behauptung, dass demokratische Politik nur als Feigenblatt wirke, weil die eigentlichen Entscheidungen vom „Kapital“ getroffen würden, namentlich von den multinationalen Konzernen. Dagegen hielten wir Verfechter der Nachkriegsdemokratie, dass demokratische Politik durchaus in der Lage sei, über Steuer-, Finanz-, Kartell- Arbeitsrechts- und Sozialpolitik die Wirtschaftsentscheidungen und -abläufe zu beeinflussen und zugunsten des Gemeinwohls zu gestalten. Die bundesdeutsche Politik, insbesondere ihre Wirtschaftspolitik war im Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise der Zwanziger Jahre und der Arbeitslosigkeit der Weimarer Republik so erfolgreich, dass die fundamentale Kritik an der Erfolgschance demokratischer Politik nicht verfing. Heute, mehr als dreißig Jahre später, müssen wir neue Erfahrungen machen: vor allem eine hohe, kaum zu bändigende Arbeitslosigkeit und zunehmende innerstaatliche und zwischenstaatliche Reichtumsdiskrepanzen. Wir stehen vor einer schleichenden Entmächtigung demokratischer Gestaltung durch die ökonomische Globalisierung.
II. Globale ökonomische Entgrenzung als Gefahr für die Demokratie Diese Gefahr geht nicht von einzelnen Menschen oder Bewegungen aus, sondern von einem ökonomischen System, das wir wollen, für das wir keinen prinzipiellen Ersatz wissen, das eine ungeheure Dynamik entfaltet, auf die wir zur Entwicklung unserer Welt angewiesen sind, das wir auch gar nicht abstellen können, das aber den Menschen zunehmend die Freiheit der politischen Gestaltung ihrer Verhältnisse nimmt. Mehr noch: Es instrumentalisiert sie, und zwar ganz systemnotwendig, weil sein Erfolgskriterium der Gewinn am Markt ist, weshalb sie im betriebswirtschaftlichen Kalkül nur als Rollenträger vorkommen: als Produzenten oder als Konsumenten.
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Aus diesem Mechanismus können sich auch die einzelnen Arbeitgeber nicht ausklinken. Sie sind der Weltmarktkonkurrenz genauso ausgesetzt wie die Arbeitnehmer und die Konsumenten; in der gegenwärtigen Situation zumal, in der die sog. Schwellenländer und die Entwicklungsländer z. T. rasant aufholen – was wir ja prinzipiell moralisch wollen und ökonomisch für sinnvoll halten, weil damit auch neue Märkte und neue Kaufkraft entstehen. In dieser Situation konzentriert sich der Blick der alten Industrieländer fast selbstverständlich auf die Produktionskosten, die in den neuen Konkurrenzländern wegen ihrer erheblich niedrigeren Lebens- und Sozialsicherheitsstandards viel geringer ausfallen als in den fortgeschrittenen Industriestaaten. So scheint die Alternative – jedenfalls in der öffentlichen Diskussion – nur die zu sein: entweder hier die Produktionsund Sozialsicherheitskosten radikal senken und in Sachen Arbeitsrecht oder Soziale Sicherung die Entwicklung hundert Jahre zurückdrehen oder die Produktion ins billigere Ausland verlagern. Damit entsteht ein Szenario, das für viele aufholenden Länder die Hoffnung auf Aufstieg und für die jeweils fortgeschritteneren, insbesondere in der EU eher den Abstieg programmiert. Er kann sich besorgniserregend steigern, wenn die Menschen sich pessimistisch in sich zurückziehen, ihr Zukunftsvertrauen verlieren und damit die entscheidende Wachstumsbedingung nicht nur Deutschlands, sondern Europas: die Binnennachfrage und mit ihr das Wirtschaftswachstum weiter zurückgehen. Die Vereinigten Staaten können dieses Negativ-Szenario bisher vermeiden, weil ihre Gesellschaft in Sachen Zukunftszuversicht sehr viel robuster ist als Europa und weil sie sich angesichts ihrer globalen Hegemonialstellung fast unbegrenzt verschulden können – obwohl amerikanische Wirtschaftsexperten ihr Land in dieser Hinsicht zunehmend warnen. Aber auch hier wächst die Angst vor der weltweiten Konkurrenz. In dieser Wettbewerbskonstellation sind Unternehmer, so scheint es, auch nur ein Rädchen im Getriebe, können sie sich um die menschlichen Folgen und die externen Kosten ihrer Entscheidungen nicht kümmern, können sie auch nicht abzuschwächen versuchen, so lange es keinen Rahmen gibt, der für alle Konkurrenten gilt, so dass alle gegebenenfalls Einschränkungen unterliegen, die einer unbegrenzten Lohnreduzierung oder einem uneingeschränkten hire and fire, einer
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Verzerrung des Marktes durch Korruption oder einer Zerstörung der natürlichen Ressourcen Einhalt gebieten.
III. Markt statt Politik? Aber wer, welche Instanz sollte diesen Rahmen setzen und seine Einhaltung garantieren? In einer technologisch und ökonomisch entgrenzten Welt, in der die ökonomischen Akteure sich nationalen politischen Regelungen entziehen können und durch den Weltmarkt auch dazu angehalten sind, wäre abstrakt dazu nur ein Globalstaat in der Lage. Den wird es nicht geben und den sollte es auch nicht geben, weil er die politische und kulturelle Vielfalt unerträglich einebnen und bei sich eine nicht mehr kontrollierbare Macht ansammeln würde. Aber vielleicht brauchen wir in der globalisierten Welt gar keine Politik mehr? Vielleicht kann – am anderen Ende – der Markt alles allein regeln? Würde es den Menschen gut gehen, wenn man ihn nur wirken ließe? Oder ist auch der Markt auf Voraussetzungen angewiesen, ohne die er nicht funktionieren kann? Adam Smith – der Ahnherr der freien Marktwirtschaft – hat im 18. Jahrhundert immerhin auf die Notwendigkeit eines staatlichen Rechtssystems, einer Verkehrsinfrastruktur, der Erziehung, der Friedenssicherung und der äußeren Sicherheit hingewiesen, damit die sogenannte unsichtbare Hand des Marktes für einen wohltuenden Interessenausgleich sorgen könnte. Er hat zudem – seine ursprüngliche Profession war ja die Moralphilosophie – in seiner „Theory of Moral Sentiments“ ein gemeinsames moralisches Fundament fordert, das die Bürger zusammenhalten muss, um eine Grundsolidarität herzustellen. Dahinter steckt der Gedanke, dass gemeinsames Wirtschaften nicht nur auf dem Eigeninteresse aufbauen kann, sondern neben der technischen Infrastruktur politisch sanktionierte Regeln, eine gemeinschaftlich besorgte Bildung und auch eine Fähigkeit zu gegenseitiger Empathie und Sympathie der Bürger braucht, die in einer gemeinsamen Sittlichkeit gründet. Sonst kann auch die viel gerühmte „unsichtbare Hand“ nicht wirken. Im Rahmen eines nationalen Gemeinwesens ist dies noch überschaubar und, wie wir historisch gesehen haben, auch recht und schlecht regelbar. Wie können wir hier auf globaler Ebene vorankommen?
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Diese Frage stellt m.E. die entscheidende theoretische und praktischpolitische Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte dar. Wie kann das de facto global wirkende, aber nicht koordinierte System von Nationalstaaten, internationalen Regierungszusammenschlüssen, globalen Konferenzen und Medienereignissen, weltweit agierenden Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, internationalen Rechtsregelungen und Gerichtshöfen sowie internationalen Organisationen (wie den UN), das man „global governance“ nennt, so geordnet werden und so zu einem Zusammenspiel gebracht werden, dass daraus eine „good global governance“ wird? Denn auf sie sind wir angewiesen, wenn wir die überall zunehmenden sozialen Diskrepanzen innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften ebenso wie die Defizite langfristiger Politik etwa im Bereich der Umwelt, des Wassers, der Energie, die aus der Dominanz eines ungeregelten globalen Wettbewerbs folgt, ebenso wie die Sicherheit vor Terrorismus zugunsten von mehr Gerechtigkeit, von mehr langfristiger gemeinwohlorientierter Politik und von mehr demokratischer Partizipation – insgesamt: zugunsten einer erneuerten demokratischen Politik, überwinden wollen. Da eine globale demokratische Politik nicht auf innerstaatliche Sanktionsmaßnahmen zurückgreifen kann, sind wir in einem System von „good global governance“ grundsätzlich auf freiwillige Vereinbarungen angewiesen. Der Druck, sie abzuschließen, kann nur aus der Einsicht der verantwortlichen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger und aus einer aufgeklärten Öffentlichkeit hervorgehen, zu der zunehmend die international und gemeinnützig agierenden Nichtregierungsorganisationen gehören. Das hat Folgen für die Bestimmung von politischer Macht. Wenn hinter politischen Entscheidungen nicht mehr das Sanktionsmonopol staatlicher Macht steht, dann ist eine prinzipiell auf die Überwindung von Gegnern ausgerichtete und auf die Erzwingungsmöglichkeit angewiesene Macht, wie wir sie im Verständnis von Max Weber finden, nicht mehr zureichend wirksam. An deren Stelle muss mehr und mehr die Fähigkeit treten, Koalitionen zu bilden nicht gegen Personen und Ziele, sondern mit anderen Personen und Institutionen für gemeinsame Ziele. Das ist es, was Hannah Arendt als wirkliche, weil wirksame Macht definiert hat, das andere nennt sie Gewalt, weil es nicht auf die Gewinnung freiwilliger Zustimmung zielt. Diese Folge-
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rung versteht sich nicht als moralisches Postulat, sondern als analytische Konsequenz, sofern man am Gesamtziel einer demokratischen, einer „good global governance“ festhält. Die Ziele solcher konstruktiver Machtausübung, bei der auch globalen Unternehmen eine hohe Verantwortung zukommt, finden sich z. B. in dem von Kofi Annan initiierten „Global Compact“, deren Teilnehmer sich zur Einhaltung von Wertmaßstäben und Verhaltensstandards verpflichten. Die darin enthaltenen inzwischen zehn Prinzipien umfassen den Respekt und die Einhaltung der international verkündeten Menschenrechte, die Abwehr von deren Verletzung, die Vereinigungsfreiheit, die effektive Anerkennung der Kollektiven Verhandlungsfreiheit, die Abschaffung von Zwangs- und von Kinderarbeit, die Abschaffung jeglicher Diskriminierung am Arbeitsplatz, den vorsichtigen und verantwortlichen Umgang mit der Umwelt, die Entwicklung dementsprechender Technologien und den Kampf gegen die Korruption.1 Als Akteure kommen all jene in Betracht, die schon jetzt in der faktischen, noch nicht koordinierten und auf die genannten Werte und Prinzipien ausgerichteten „governance“ agieren und die Schritt für Schritt in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse für eine „good governance“ gewonnen werden müssen. Die Rolle der legitimierten Regierungen bzw. ihrer Zusammenschlüsse oder Kooperationen liegt auch in Zukunft darin, legitimierte politische Entscheidungen zu treffen. Allerdings können sie sie oft nicht mehr allein vorbereiten und hinterher ihre Ausführung überwachen. Dabei können umgekehrt jene zwar nicht demokratisch legitimierten, aber sehr einflussreichen Akteure wie die globalen Untenehmen einerseits und die zwar ebenfalls nicht demokratisch gewählten, aber ein hohes Gemeinwohlvertrauen genießenden Nichtregierungsorganisationen andererseits helfen, indem sie dieses Vertrauen für die Vorbereitung von Entscheidungskoalitionen und für das nachträgliche „Monitoring“ von gemeinwohlorientierten Vereinbarungen einsetzen. Ein Beispiel dafür hat in den letzten Jahren die Weltbank gegeben und sich zunehmend am Aufbau solcher „good governance“ beteiligt, Vgl. J.G. Ruggie, Reconstituting the Global Public Domain – Issues, Actors and Practices; in: European Journal of International Relations, Vol. 10 (2004) S. 499–531.
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etwa indem sie Firmen, die sich der Korruption schuldig gemacht haben, von weiteren Ausschreibungen ausgeschlossen hat. Um sie zu entdecken, bedarf es wiederum zivilgesellschaftlicher Initiativen in den verschiedenen Ländern, zu denen oft eine gehörige Portion Zivilcourage gehört. Sie sehen, diese „good governance“ ist kein geschlossenes System, aber eine „schlüssige“ Ordnung, deren leitendes Prinzip auf die Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte gerichtet ist, die in England mit der Magna Carta 1215 als Kern rechtstaatlicher und später demokratischer Ordnung im Rahmen des Nationalstaats zwischen den Adligen und der Krone abgeschlossen und später durch viele weitere berühmte Erklärungen und Verträge ausgebaut worden ist. Sie wirkt übrigens in ihren Einzelbestimmungen, in denen es etwa um Brückenkopfrechte oder einzelne althergebrachte Privilegien geht, ähnlich zusammengewürfelt wie die moderne governance und verweist damit auf Ähnlichkeiten politischer Ordnungen vor und nach dem Nationalstaat. Die einfache Übersichtlichkeit politischer, sprich: nationalstaatlicher Organisation ist vorbei. Wir müssen lernen, in einem verbindenden und möglichst verbindlichen Wertehorizont mit Fragilität, Unübersichtlichkeit und Komplexität so zu leben, dass wir die Gefahren der Globalisierung eindämmen und ihre Chancen – den potenziellen wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum – nutzen, wenn möglich erweitern. Die Rechtwissenschaft geht, wenn ich recht sehe, in ihren Entwürfen und Vorschlägen eher vom „worst case“ aus. Da ich nur eine Politikwissenschaftlerin bin, erlaube ich mir, dem „best“, oder wenigstens dem „better case“ einen Vertrauensvorschuss zu geben. Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
2. Teil: Zivilrecht – Einfluss des deutschen Zivilrechts auf die Entstehung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts
§ 5 Europäisches Privatrecht – Bedürfnis, Entwicklungsstränge, nationale Beiträge – Jürgen Basedow
Übersicht I. Privatrecht als nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Europäisierung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . 1. Privatrecht im Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungsstränge der Europäisierung . . . . . . . . . . 3. Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft 4. Der acquis communautaire des Europäischen Privatrechts . 5. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Grundregeln“ des Europäischen Privatrechts . . . . . . .
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III. Das Vorhaben eines „Gemeinsamen Referenzrahmens“
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IV. Der deutsche Einfluss auf das Europäische Privatrecht . . . . . . 1. Kein spezifischer Einfluss auf die Gestaltung des materiellen Rechts 2. Die Methode der wertenden Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . .
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I. Privatrecht als nationales Recht Das Privatrecht der Gegenwart ist in den meisten Teilen der Welt national gebunden. Sein äußeres Erscheinungsbild wird vielfach durch Kodifikationen und Gesetze geprägt, die auf den Willen von nationalen oder subnationalen Gesetzgebern zurückgehen. Löst man sich vom positiven Recht, so fällt es dagegen schwer, dem Privatrecht einen spezifisch nationalen Charakter zuzuschreiben. Es regelt gesellschaftliche Konflikte zwischen Bürgern und Unternehmen, an denen die Nationalstaaten im Allgemeinen gerade nicht beteiligt sind. Es stellt die rechtliche Form einer Zivilgesellschaft dar, die sich im 19. Jahrhundert gerade in einer gewissen Distanz zum Staat herausgebildet hat. Nur wenige seiner Regelungen sind durch nationale Überlieferungen inspiriert. Die meisten haben eher einen pragmatischen und funktionalen Charakter. Spezifisch national ist der institutionelle Rahmen des Privatrechts: die Gesetzgebung, die Gerichte und Verfahren, die Struktur der juristi-
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schen Berufe, die Juristenausbildung und Organisation der Rechtswissenschaft etc. Dieses äußere Erscheinungsbild des Privatrechts war noch im 18. Jahrhundert von Fürstentum zu Fürstentum verschieden. Erst das 19. Jahrhundert brachte eine Vereinheitlichung auf nationaler Ebene. Hintergrund war die Erweiterung der Lebens- und Wirtschaftsräume über den kleinstaatlichen Bereich hinaus. Die sprunghafte Verbesserung des Transportwesens in der Folge der industriellen Revolution vermehrte und verdichtete die Beziehungen zwischen entfernten Gebieten eines Landes. Es entstand das Bedürfnis nach großräumigeren Lebensordnungen. Die Idee des Nationalstaats und die Nationalisierung des Rechts haben diesem Bedürfnis entsprochen. II. Die Europäisierung des Privatrechts 1. Privatrecht im Binnenmarkt
Im Zuge der europäischen Integration hat sich diese Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg auf einer höheren Ebene fortgesetzt. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontakte zwischen den Staaten Europas haben sich exponentiell vermehrt. Dies war in einer ersten Phase auf die Durchsetzung der Verkehrsfreiheiten, vor allem der Warenverkehrsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit zurückzuführen, also auf den Abbau öffentlich-rechtlicher Barrieren, die den Zugang zu nationalen Märkten für Ausländer erschwerten. In einer zweiten Phase kam seit Mitte der 80er Jahre die Verwirklichung eines europäischen Binnenmarkts hinzu, von dem beträchtliche Angleichungszwänge für das Wirtschaftsrecht ausgehen. Dadurch haben sich auch die Funktionen verändert, die das Privatrecht zu erfüllen hat. Divergenzen des Privatrechts werden zunehmend als störend für die weitere Integration empfunden. Der traditionelle Mechanismus der Nationalisierung grenzüberschreitender Sachverhalte durch die Regeln des internationalen Privatrechts (IPR) gilt als zu kompliziert. Die damit verbundene Ermittlung ausländischen Rechts, die im Ausnahmefall tragbar ist, belastet den intensivierten europäischen Rechtsverkehr heute über Gebühr. Nach der Umsetzung des Binnenmarktprogramms wurde in einer dritten Phase ab Anfang der 90er Jahre deshalb die Notwendigkeit einer Europäisierung des Privatrechts immer deutlicher.
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2. Entwicklungsstränge der Europäisierung
Die Europäisierung des Privatrechts, die wir gegenwärtig beobachten, gliedert sich bei näherer Betrachtung in mehrere Entwicklungsstränge auf. Sie erfassen alle Bereiche des Rechtslebens, also Gesetzgebung, Rechtsprechung, Kautelarpraxis, Rechtswissenschaft, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und in Bezug auf verschiedene Fragen. Einige dieser Entwicklungen reichen weit über Europa hinaus, folgen aber doch aus Diskussionen, die in Europa ihren Ursprung und Schwerpunkt haben. Vorläufer der Europäisierung ist das einheitliche Privatrecht der Konventionen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Staaten vor allem in Europa und Südamerika begonnen, das Instrument des mehrseitigen völkerrechtlichen Übereinkommens zur Vereinheitlichung des Privatrechts zu nutzen. Zu Anfang regelten sie vor allem Spezialgebiete des Wirtschaftsrechts wie etwa das Transportrecht und das Recht des geistigen Eigentums oder das Seerecht. Hier wirkte sich die vorangegangene Nationalisierung des Privatrechts besonders störend aus. Dementsprechend groß war das Bedürfnis für einheitliches Recht. Mit dem Wiener Übereinkommen über internationale Warenkaufverträge von 1980 (CISG) hält das einheitliche Privatrecht nun aber auch ein Modell für einen zentralen Vertragstyp des Zivilrechts bereit. Die Vorbildfunktion des CISG wird in zahlreichen nationalen Gesetzen der letzten zwanzig Jahre sichtbar. 3. Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft
Das Verständnis der Europäisierung des Privatrechts erschließt sich nicht ohne Kenntnis der eigenständigen Gesetzgebungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft. Der EG-Vertrag gibt der Gemeinschaft keine umfassende Zuständigkeit zur privatrechtlichen Gesetzgebung. Doch verleiht er ihr Einzelkompetenzen, die den Erlass spezifischer Gesetze in zahlreichen Politikbereichen erlauben, so zum Unternehmensrecht, Verbraucherrecht, zu manchen Fragen des Arbeitsrechts, zum geistigen Eigentum und zum internationalen Privat- und Prozessrecht. Für das Privatrecht potentiell am weitesten reicht die Zuständigkeit zur Verwirklichung des Binnenmarkts gemäß Art. 95 EG. Sie gestattet möglicherweise die Kodifikation des gesamten für den Binnenmarkt relevanten Privatrechts, insbesondere des
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Vertragsrechts. Dies ist strittig. Jedenfalls könnte die Gemeinschaft aber ein einheitliches Vertragsrecht auf Grund der subsidiären Kompetenz nach Art. 308 EG erlassen. Allerdings würde ein solches EGVertragsrecht nach Art. 308 EG wohl nicht an die Stelle der nationalen Rechte treten, sondern nur neben sie als ein wählbares Recht. Anders als bei Art. 95 EG genügt bei der Gesetzgebung nach Art. 308 EG keine qualifizierte Mehrarbeit im Rat. Der Rat müsste vielmehr einstimmig entscheiden. Letztlich dürfte also keine einzige der 25 nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten ihr Veto einlegen. Wichtig ist die Kompetenzgrundlage auch für die Wahl des Gesetzestyps. Nach Art. 95 EG werden im Allgemeinen Richtlinien erlassen; sie müssen erst noch in nationales Recht transformiert werden, Art. 249 Abs. 3 EG, und das geschieht in jedem Land anders. Bei der Gesetzgebung nach Art. 308 erlässt die EG dagegen durchweg Verordnungen, die unmittelbar für alle Europäer gelten. Für ein Vertragsgesetz wäre dies zweifellos die geeignetere Form der Rechtsetzung.
4. Der acquis communautaire des Europäischen Privatrechts
Schon jetzt hat die Gemeinschaft rund 75 Richtlinien und Verordnungen rein privatrechtlichen Inhalts erlassen. Fast alle enthalten lediglich punktuelle Regelungen. Dies schafft erhebliche Probleme der Abstimmung. Die Regelungen sind untereinander oft nicht widerspruchsfrei. Beispielsweise räumen mehrere Richtlinien zum Verbraucherrecht dem Konsumenten ein Widerrufsrecht ein, gestalten die Modalitäten des Widerrufs, z. B. die Widerrufsfrist, aber ganz unterschiedlich. Auch die Regelungstiefe differiert. So gibt es Richtlinien, die Haftungsansprüche begründen, ohne ein Wort über den ersatzfähigen Schaden zu verlieren. Andere Richtlinien bestimmen dagegen ziemlich genau, unter welchen Bedingungen immaterielle Schäden ersetzt werden können. Hinzu kommen erhebliche Spannungen zwischen den Rechtsakten der Gemeinschaft und den nationalen Gesetzbüchern. Viele EG-Richtlinien sind sehr detailreich und mit dem umfassenden Regelungsstil der Kodifikationen nur schwer zu vereinbaren. Kurz: Das Privatrecht der europäischen Rechtsakte bedarf einer Systematisierung. Insbesondere ist auf die konsistente Verwendung von Begriffen zu achten und ist eine Koordination der vielen Spezialregelungen durch sinnstiftende allgemeine Grundsätze zu ge-
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währleisten. EG-Regelungen und nationale Rechtstraditionen sind zusammenzuführen. 5. Allgemeine Rechtsgrundsätze
Allgemeine Rechtsgrundsätze können einerseits vom Europäischen Gerichtshof entwickelt werden, andererseits von der Wissenschaft. Der Europäische Gerichtshof hat die Kategorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze von Anfang an als eine Quelle des Gemeinschaftsrechts genutzt. Er hat auf diese Weise nicht nur die Haftung der Gemeinschaft für ihre Organe und Bediensteten ausgestaltet, wie dies Art. 288 Abs. 2 EG vorschreibt. Darüber hinaus hat er Prinzipien wie Treu und Glauben, Rechtssicherheit, Proportionalität etc. fruchtbar gemacht und sogar eigene Grundrechte des EG-Rechts entwickelt. Demgegenüber hat er sich bei der Auslegung von Richtlinien und Verordnungen aber bisher strikt an den jeweiligen Wortlaut gehalten und ist selten zur Formulierung allgemeinerer Grundsätze fortgeschritten. Immerhin ist die Rechtsprechung zum Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen von 1968 und zu einigen Richtlinien des Verbraucherschutzes für das europäische Privatrecht bedeutsam. 6. „Grundregeln“ des Europäischen Privatrechts
Sehr viel weiter sind die Arbeiten der Wissenschaft, vor allem die von der so genannten Lando-Kommission ausgearbeiteten Grundregeln des europäischen Vertragsrechts. Nach dem Vorbild der amerikanischen Restatements of the Law sind hier die wichtigsten Regelungen des allgemeinen Vertrags- und Obligationenrechts auf rechtsvergleichender Grundlage zusammengestellt. Die Grundregeln des europäischen Vertragsrechts der Lando-Kommission lehnen sich auch in der äußeren Erscheinung an das amerikanische Vorbild an: Sie bestehen aus Regeln, Kommentaren nebst Illustrationen und Anmerkungen. Die Regeln sind wie Gesetzesvorschriften gefasst. Die Kommentare erläutern ihre Stellung im gesamten Regelwerk und ihre Anwendung, letzteres manchmal in Verbindung mit Beispielsfällen (Illustrationen). Die Anmerkungen beschreiben die Rechtslage, wie sie sich nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten in Bezug auf den jeweiligen Regelungsgegenstand ergibt. Hier finden sich also Hinweise auf nationale Gesetzesvorschriften, Gerichtsurteile und Literatur.
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Nach dem Muster der Lando-Kommission arbeiten mittlerweile auch andere europäische Sachverständigen-Gruppen, so insbesondere zum Deliktsrecht, zum Trust-Recht, zum Versicherungsvertragsrecht, zum Internationalen Privatrecht und seit kurzem auch zum Familienrecht. Alle diese Gruppen stehen vor der Frage, was unter „Grundregeln“ oder „Allgemeinen Grundsätzen“ eigentlich zu verstehen ist. Sind damit nur solche Regelungen gemeint, die sich im Recht aller oder doch der allermeisten europäischen Staaten antreffen lassen? Eine Liste solcher Grundregeln wäre kurz. Denn Europa hat keine einheitliche Rechtstradition. Während die Rechtsordnungen der 50 Bundesstaaten der USA letztlich auf dem common law und einer einzigen Sprache aufbauen, leiten sich die europäischen Rechtsordnungen von den Wurzeln der romanischen und germanischen Traditionen sowie des common law ab und haben sich seit 300 Jahren in zahlreichen verschiedenen Sprachen weiterentwickelt. Von sehr allgemeinen Prinzipien einmal abgesehen, sind Unterschiede im positiven Recht der europäischen Rechtsordnungen deshalb sehr oft anzutreffen. Bei ihrer Würdigung folgen die europäischen Gruppen aber durchweg dem American Law Institute: Den Vorzug erhält nicht die am weitesten verbreitete Regelung, sondern diejenige, die im Hinblick auf das europäische Regelungsziel als die beste erscheint. III. Das Vorhaben eines „Gemeinsamen Referenzrahmens“ Seit dem Jahr 2001 hat die Europäische Kommission Überlegungen zum europäischen Vertragsrecht angestellt. Nach dem gegenwärtigen Stand wird die Ausarbeitung eines „Gemeinsamen Referenzrahmens“ angestrebt. Er könnte zugleich als „optionales Instrument“ mittels einer Rechtsverordnung erlassen werden. Den Parteien eines Vertrages stünde es dann frei, anstelle des sonst anwendbaren nationalen Rechts das optionale Instrument zu wählen. Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll der gemeinsame Referenzrahmen zunächst aus 9 Abschnitten bestehen. Nach der von der Kommission so benannten „denkbaren Struktur“ regeln die Abschnitte 1–7 Fragen des allgemeinen Vertrags- und Obligationenrechts. Sie folgen dabei ziemlich genau der Gliederung der Grundregeln des europäischen Vertragsrechts der Lando-Kommission. Abschnitt 8 ist dem Kaufrecht gewidmet. Mit dem CISG und
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der EG-Richtlinie 1999/44 über Verbrauchsgütergarantien gibt es zum Kaufrecht ebenfalls schon umfangreiche Vorarbeiten, auf die zurückgegriffen werden kann. Substantiell neu ist der 9. Abschnitt zum Versicherungsvertrag. Auf diesem Gebiet wäre eine europäische Initiative besonders wichtig. Denn nach dem gegenwärtigen Stand ist es Versicherungsunternehmen praktisch nicht möglich, ihre Policen europaweit zu vertreiben. Soweit es um Verbraucherversicherungen geht, gilt nach europäischen Richtlinien zwingend das Recht des Versicherungsnehmers. Da in den meisten europäischen Ländern das Versicherungsvertragsrecht zum Schutz des Versicherungsnehmers oder sogar absolut zwingend ausgestaltet ist, ist es nicht möglich, ein und dieselbe Police dem Recht mehrerer Staaten anzupassen. Die Schaffung europäischer Standards zum Versicherungsvertragsrecht dient insofern unmittelbar der Verwirklichung des Versicherungsbinnenmarkts. Die Europäische Kommission hat kürzlich ein so genanntes „Exzellenz-Netzwerk“ europäischer Rechtswissenschaftler damit beauftragt, inhaltliche Vorlagen für den Gemeinsamen Referenzrahmen auszuarbeiten. Koordiniert wird das Netzwerk von den beiden deutschen Professoren Christian von Bar, Universität Osnabrück, und Hans Schulte-Nölke, Universität Bielefeld. Eingebunden in das Netzwerk ist auch die Projektgruppe zum europäischen Versicherungsvertragsrecht unter Leitung des Österreichers Helmut Heiss, Professor an der Universität Mannheim. In jeder Teilgruppe sind aber Wissenschaftler aus allen oder fast allen europäischen Ländern beteiligt. Das Netzwerk soll seine Arbeit im Jahre 2008 abschließen.
IV. Der deutsche Einfluss auf das Europäische Privatrecht 1. Kein spezifischer Einfluss auf die Gestaltung des materiellen Rechts
Diese Arbeitsgruppe soll nach dem Willen der Veranstalter den deutschen Einfluss auf die geschilderte Europäisierung erörtern; so will es das ihr gestellte Thema. Was nun die Inhalte der kommenden europäischen Regelungen betrifft, so ist ein spezifisch deutscher Einfluss nicht feststellbar. Wesentliche Triebfeder der Entwicklung ist einerseits die Rationalität des europäischen Binnenmarkts, die sich in
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zahlreichen Richtlinien und den dazu ergangenen nationalen Umsetzungsgesetzen und Gerichtsurteilen niederschlägt. Andererseits wird die Europäisierung durch Beiträge der rechtsvergleichenden Wissenschaft vorangetrieben, deren Gewicht innerhalb der jeweiligen nationalen Rechtswissenschaft über die Jahrzehnte hinweg stetig zugenommen hat. Während Rechtsvergleichung traditionell als Teil einer nationalen Rechtswissenschaft verstanden wurde, findet sie in den Wissenschaftlergruppen der Gegenwart wie etwa der Lando-Kommission im Wege des multilateralen Diskurses statt. Es geht dabei nicht um Rechtsexport und Rechtsrezeption, sondern um die Ausarbeitung sachdienlicher und allseits akzeptabler Regelungen für eine europäische Wirtschaft und Gesellschaft. Das Ergebnis ist oft ein Konglomerat aus Lösungen von ganz unterschiedlicher nationaler Herkunft. Das CISG folgt zum Beispiel bei den Regeln über den Vertragsschluss der sog. Zugangstheorie, vgl. Art. 15 und 18 Abs. 2, wie sie zuvor am klarsten im deutschen Recht (§ 130 BGB) zum Ausdruck kam; die mailbox-Theorie des common law wird verworfen. Dagegen liegt dem Leistungsstörungsrecht des CISG der umfassende Begriff der nicht vertragsgemäßen Erfüllung zugrunde (Art. 35, 45), wie er aus dem common law bekannt ist. Die gekünstelte Aufspaltung der kontinentalen Rechtsordnungen in Verzug, Unmöglichkeit und Schlechtlieferung fand keine Billigung. Wer nach CISG Schadenersatz zu leisten hat, muss nach Art. 74 den bei Vertragsabschluss „vorhersehbaren“ Schaden erstatten. Die Regelung folgt dem französischen und italienischen Recht sowie dem common law, während sich die Adäquanzlehre des deutschen Rechts nicht durchsetzen konnte. Mehr Anklang fand das deutsche Recht mit dem Instrument der Nachfrist (Art. 47), die der Käufer dem Verkäufer zur Erfüllung seiner Pflicht setzen kann. Die Beispiele verdeutlichen: Bei der internationalen und europäischen Rechtsvereinheitlichung geht es vor allem um pragmatische und effiziente Lösungen für transnationale Wirtschaftsräume, nicht um nationales Prestige. 2. Die Methode der wertenden Rechtsvergleichung
Der deutsche Einfluss ist in der gegenwärtigen europäischen Entwicklung am ehesten in methodischer Hinsicht spürbar und aufzuzeigen. Die Methode der funktionalen und wertenden Rechtsvergleichung hat, von Deutschland (Zweigert/Kötz) ausgehend, überall in
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Europa Fuß gefasst. Demgemäß wird die Aufgabe der Rechtsvergleichung immer weniger darin gesehen, die Überlegenheit der eigenen Rechtsordnung zu belegen und der Welt zu predigen. Es geht vielmehr wie erläutert um „die beste Lösung“ für gemeinsame sozioökonomische Probleme. Deutschland hat für die Umsetzung dieser Methode mit den juristischen Max-Planck-Instituten Einrichtungen geschaffen, an deren Vorbild sich viele Universitätsinstitute orientieren. Sie alle empfangen in jedem Jahr Hunderte von Gästen aus ganz Europa und sind damit zu Kristallisationspunkten einer europäischen Rechtswissenschaft geworden. Die deutsche Rechtswissenschaft hat – zusammen mit der niederländischen – die Europäisierungstendenzen als erste wahrgenommen und daraus Konsequenzen gezogen: so die Gründung einer wissenschaftlichen „Zeitschrift für Europäisches Privatrecht“, die Vergabe von Preisen und Stipendien, die Durchführung von Tagungen und die Anregung von Dissertationen und Habilitationen auf diesem Gebiet. Nicht zuletzt ist auf die Begründung der erwähnten europäischen Sachverständigengruppe hinzuweisen. In allen Fällen waren deutsche Professoren der Rechtsvergleichung maßgeblich beteiligt. So überrascht auch die besondere Rolle deutscher Wissenschaftler in dem europäischen Exzellenz-Netzwerk nicht. In anderen europäischen Ländern, vor allem Frankreich und Großbritannien, hat sich die Rechtswissenschaft über etliche Jahre den Europäisierungstendenzen widersetzt. Dies ist im Falle Frankreichs auf die unmittelbare Verquickung der nationalen Geschichte mit der nationalen Kodifikation zurückzuführen. Der Code civil, dessen 200-jähriges Jubiläum gerade gefeiert wurde, gilt bis heute vielen Vertretern der französischen Rechtswissenschaft als ein nationaler Erinnerungsort. Die Vorbehalte der englischen Rechtswissenschaft erklären sich vor allem daraus, dass Europäisierungstendenzen als Gefahr für die richterrechtliche Methode wahrgenommen werden, wie sie dem common law seit Jahrhunderten zu Eigen ist. In beiden Ländern wächst aber in den letzten Jahren das Interesse an der Europäisierung des Privatrechts sehr deutlich, und die Arbeit in den Sachverständigen-Gruppen zeigt, dass gerade Professoren aus Frankreich und England zu den besonderen Stützen der jeweiligen Gruppe zählen. Der methodische Wandel, also die thematische Fokussierung der Rechtsvergleichung auf Fragen des einheitlichen und europäischen
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Privatrechts hat auch in der Sache wesentlich zur Vorbereitung des internationalen und europäischen Privatrechts beigetragen. Dies lässt sich an der Vorgeschichte des CISG verdeutlichen. Die Vorarbeiten zu einer Vereinheitlichung des Rechts der Warenkaufverträge begannen in einer Arbeitsgruppe von Unidroit zwischen den beiden Weltkriegen. Zur gleichen Zeit setzten unter Leitung von Ernst Rabel am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, dem Vorgänger des heutigen Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, die rechtsvergleichenden Forschungen zum Recht des Warenkaufs ein. Die umfangreiche zweibändige Untersuchung von Ernst Rabel hat nach dem 2. Weltkrieg das Fundament für das Haager Kaufrecht von 1964 gebildet. Ihm war freilich zunächst nur ein geringer Erfolg beschieden. Wiederum haben umfangreiche Arbeiten deutscher Rechtsvergleicher (von Caemmerer, Dölle, Drobnig/Zweigert, Huber, Schlechtriem) zur Neubelebung von Diskussionen beigetragen. So kam es zur Überarbeitung des Haager Kaufrechts und zur Verabschiedung der Wiener Konvention von 1980, die heute von nicht weniger als 65 Staaten in der ganzen Welt ratifiziert worden ist. Ähnliche Erfolgsgeschichten könnten für den einen oder anderen europäischen Rechtsakt erzählt werden. Gemeinsam ist ihnen, dass der Anstoß zur Harmonisierung von der Wissenschaftsdisziplin der Rechtsvergleichung ausging und dass der unvoreingenommene Blick der Rechtsvergleichung in vielen Fällen wahrhaft europäische Lösungen zu Tage gefördert hat.
§ 6 Einflüsse der deutschen Zivilrechtswissenschaft auf die japanische Zivilrechtswissenschaft – Drei Themen meiner persönlichen wissenschaftlichen Interessen – Hisakazu Matsuoka
Übersicht I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Übertragung dinglicher Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 III. Ungerechtfertigte Bereicherung
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IV. Systematische Trennung zwischen Schuld- und Sachenrecht . . 104
I. Vorbemerkung Zunächst muss ich mich dazu bekennen, dass meine Kenntnisse des deutschen Rechts durchaus noch vertiefungsfähig sind, obwohl das Studium des deutschen Zivilrechts meine erste Begegnung mit dem ausländischen Recht war. Ich hatte seinerzeit die Gelegenheit, etwa anderthalb Jahre als Gastprofessor bei Herrn Professor Hans G. Leser in Marburg zu forschen und einige Abhandlungen zum deutschen Recht veröffentlichen zu können. Zusammen mit den Professoren Shiomi und Nakata habe ich das Buch „Europäisches Vertragsrecht“ von Hein Kötz ins Japanische übersetzt. Da ich mich allerdings nicht so tief in das deutsche Zivilrecht eingearbeitet habe, wie eine durchaus nennenswerte Anzahl meiner japanischen Kollegen, fürchte ich, dass mein Referat nicht besonders eindrucksvoll ausfallen wird. Dennoch möchte ich versuchen, Ihnen, und hier spreche ich besonders die verehrten Kollegen aus Deutschland an, einige Diskussionsansätze zu bieten. Ich habe lange überlegt, unter welchem Blickwinkel ich mein Thema behandeln soll und mich schließlich entschieden, in diesem Referat die Entwicklung meines persönlichen wissenschaftlichen Interesses darzustellen. Damit möchte ich versuchen, nicht nur den Einfluss der deutschen Zivilrechtswissenschaft auf einen japanischen Zivilrechtler
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zu verfolgen, sondern auch, unter Ausblendung der Eigenarten des japanischen Rechts, Überlegungen über mögliche Einflüsse des deutschen Rechts auf das internationale Zivilrecht und das gemeinsame europäische Recht zum Ausdruck zu bringen. Mein Referat, welches außerhalb des durch Professor Kitagawa bereits ausgiebig erörterten Themenkreises der Theorienrezeption des vertraglichen Schuldrechts liegt, beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Wie und in welchem Umfang wurde die japanische Zivilrechtswissenschaft durch die Theorienrezeption auf außervertraglichen Gebieten beeinflusst? Wie stark ist heute noch der Einfluss auf uns, die in der Nachfolge Professor Kitagawas stehende jüngere Generation? Welchen Sinn finden Japaner noch im Nachschlagen deutscher Gesetze und Rechtsliteratur, wenn es keine gemeinsamen Probleme mehr gibt? Aus den verschiedenen Themen, denen mein besonderes Interesse gilt, habe ich drei Problembereiche ausgewählt: Die Übertragung dinglicher Rechte, die Ungerechtfertigte Bereicherung und die systematische Erfassung des Vermögensrechts durch die Unterscheidung zwischen Schuld- und Sachenrecht.
II. Übertragung dinglicher Rechte Das erste Forschungsthema, mit dem ich mich beschäftigt habe, ist die Doppelveräußerung von Immobilien. Bekanntlich ist das japanische Zivilgesetzbuch ein Produkt der Rechtsvergleichung von Zivilgesetzbüchern aus über 20 verschiedenen Ländern sowie dem englischen Rechtsprechungsrecht. Allegorisch ausgedrückt ist das japanischen Zivilgesetzbuchs ein kulinarisches Gericht, gekocht nach deutscher Art aus dem Fleisch des französischen Rechts und abgeschmeckt mit verschiedenen Gewürzen aus der ganzen Welt. Wichtige Kernpunkte stammen aus dem französischen Recht, die Anordnung und Gestaltung der Vorschriften selbst sind aber dem deutschen Pandektensystem nachempfunden. Die Übertragung dinglicher Rechte kann in diesem Zusammenhang als ein Paradebeispiel angeführt werden. Nach § 176 Zivilgesetzbuches (ZG) wird das Eigentum lediglich durch übereinstimmende Willenserklärungen zwischen dem Veräußerer und dem ersten Erwerber übertragen. Letzterer kann jedoch gemäß § 177 ZG den Rechtserwerb ohne Eintragung einem zweiten
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Erwerber nicht entgegensetzen. In diesem System der bloß konsensualen Übertragung dinglicher Rechte mit Priorität des zuerst erworbenen Rechtes folgt das japanische Zivilgesetz einerseits dem entsprechenden Grundsatz des französischen Rechts. Es nimmt andererseits aber die Unterscheidung zwischen dinglichem und schuldrechtlichem Aspekt auf und hält beispielsweise den Kaufvertrag über fremde Sachen für schuldrechtlich wirksam, woran die Schadensersatzhaftung des Verkäufers anknüpft (§§ 560 ff. ZG). Auch im Registersystem orientiert man sich am Sachenrechtsprinzip. In Bezug auf die Übertragung dinglicher Rechte wurden in der Zeit der Theorienrezeption durch eine starke Lehrmeinung Selbständigkeit und Abstraktheit des dinglichen Geschäfts anerkannt und soweit wie möglich eine dem Konstitutivprinzip des deutschen Rechts entsprechende Auslegungsmethode vertreten. Allerdings ist die Gesetzesauslegung natürlich prinzipiell von den jeweiligen Vorschriften abhängig, in diesem Falle von den ganz offensichtlich dem französischen Recht entnommenen Grundstrukturen. Hinzu kommt noch, dass die Grundbucheintragung in Japan keinen öffentlichen Glauben begründet, so dass der Einfluss des deutschen Rechts im hier besprochenen Bereich allmählich verloren ging. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern: Im japanischen Recht ist seit langem umstritten, ob der zweite Erwerber trotz Kenntnis vom Abschluss des ersten Kaufvertrags zwischen dem Eigentümer und einem anderen Käufer, diesem gegenüber Vorrang genießt. Die Antwort des deutschen Recht, welches die Annahme eines „ius ad rem“ (Recht zur Sache) ablehnt, ist insoweit klar, als es sich nur um die sachenrechtliche Ebene handelt; nur der zweite Käufer erwirbt überhaupt Eigentum; seine Kenntnis von der Existenz eines älteren Kaufvertrags schadet nicht. Auch im japanischen Recht hatte die Gesetzgebung zunächst auf diesen Grundsatz abgestellt, und zwar wegen des Wortlauts des § 177 ZG, der keine Einschränkung im Hinblick auf subjektive Faktoren kennt, sowie getreu der Absicht des Gesetzgebers, welcher auf eine einheitliche Lösung des Konflikts ausschließlich im Wege der Bewirkung der Eintragung abgestellt hatte. Rechtsprechung und Lehre in Japan entwickelten aber in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine eigene Lehre (den so genannten Grundsatz vom Ausschluss des treuwidrig handelnden Dritten): danach kann sich der zweite Käufer insoweit nicht auf die
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fehlende Eintragung des ersten Käufers berufen, als er nicht nur Kenntnis von dessen Vertrag mit dem Veräußerer hat, sondern sein Verhalten zusätzlich auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt. Als ich mich in den 80er Jahren mit diesem Forschungsthema beschäftigte, war es eher zufällig, dass ich mich entschied, deutsches Zivilrecht zu untersuchen. Mein Lehrer wies damals darauf hin, dass man seine rechtswissenschaftliche Befähigung grundsätzlich an der Untersuchung eines fremden Rechts im Rahmen der Magisterarbeit demonstrieren müsse. Meine zweite Fremdsprache war Deutsch. Darüber hinaus befassten sich alle Zivilrechtslehrer damals hauptsächlich mit der deutschen Zivilrechtswissenschaft; keiner von ihnen galt als Spezialist des französischen oder des angloamerikanischen Rechts. Wir haben jetzt zwar eine Kollegin, deren Fach französisches Zivilrecht ist, aber außer ihr sind alle Zivilrechtlehrer unserer Universität im deutschen Recht ausgebildet. Der Einfluss des deutschen Zivilrechts wird auf diese Weise in meiner Universität fortgesetzt. Ich komme nun zum subjektiven Faktor bei der Doppelveräußerung. Im deutschen Recht gibt es in der Praxis zwar keine doppelte Veräußerung, trotzdem ist ein Doppelverkauf aber sehr wohl möglich. In diesem Zusammenhang ist dann zu fragen, ob und inwieweit die vertraglichen Rechte des ersten Käufers gegenüber dem zweiten Käufer rechtlichen Schutz genießen. Der erste Käufer kann Naturalrestitution als Schadensersatz gemäß § 249 BGB nur dann geltend machen, wenn das Verhalten des zweiten Käufers als sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB zu werten ist. Dieses Ergebnis entspricht funktionell dem Grundsatz vom Ausschluss des treuwidrig handelnden Dritten im japanischen Recht, obgleich die Lösungen keinesfalls identisch sind. Zwischen ihnen liegen einige Unterschiede, die man mit den folgenden Stichworten charakterisieren kann: Vertrauenswürdigkeit des Eintragungssystems, gekennzeichnet durch einen unterschiedlichen Grad des Informationsgehalts der Eintragung hinsichtlich der rechtsrelevanten Tatsachen: reicht es aus, lediglich das Grundbuch einzusehen oder sind weitere, außerhalb dessen liegende Tatsachen von Belang, von denen man sich erst noch Kenntnis beschaffen muss? Weitere Unterschiede beruhen auf den unterschiedlichen Strukturen der Übertragung dinglicher Rechte; danach ist das Recht des ersten Erwerbers ohne Eintragung nur die Summe der vertraglichen Erfül-
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lungsansprüche gegen den Veräußerer, nicht also zwingend Volleigentum. Unterschiedlich sein können auch Umfang und Form des Schadensersatzes: wird nur das reine Vertragsinteresse geschützt oder ist ein umfassenderer deliktischer Anspruch gegeben, wird als Rechtsfolge die Naturalrestitution oder ein Anspruch auf Geld gewährt? So gesehen ist in den Rechtsgebieten, die sich in ihrer strukturellen Ausgestaltung voneinander unterscheiden, die unmittelbare Anwendung der deutschen Rechtsinstitute und zivilrechtlichen Lehren ohne rechten Sinn. Deren Funktion besteht dort eher darin, systematische bzw. theoretische Lösungsmodelle aufzuzeigen. III. Ungerechtfertigte Bereicherung Im Gegensatz zum soeben besprochenen Fall der Übertragung dinglicher Rechte setzte sich der Einfluss der deutschen Zivilrechtswissenschaft in systematisch nicht so sehr strukturierten Bereichen intensiv fort, was sicher auch damit zusammenhängt, dass äußerliche Ähnlichkeiten zwischen dem systematischen Aufbau und dem Wortlaut bestimmter Vorschriften bestehen, so beispielsweise im Bereicherungsrecht. Vor ca. 110 Jahren, als das japanische Zivilgesetzbuch zustande kam, gab es im angloamerikanischen Recht keinen Bereich, von dem man sagen könnte, er würde einigermaßen einheitlich den Bereich der ungerechtfertigten Bereicherung abdecken. Es scheint mir noch heute fraglich, ob der prinzipielle Unterschied zwischen dem deliktischen Schadensersatzspruch und dem Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung im dortigen Recht theoretisch durchdrungen und akzeptiert ist. Auch im französischen Recht existiert bis heute kein allgemeiner bereicherungsrechtlicher Anspruch. Demgegenüber galt zum Zeitpunkt der Rezeption das im deutschen BGB geregelte Recht der ungerechtfertigten Bereicherung auch systemgeschichtlich als am weitesten fortgeschritten, weshalb man dieses Institut ebenfalls ins japanische BGB aufnahm. Gerade in diesem Bereich, der durch eine gemeinsame Erkenntnis der Natur des Rechtsinstituts besonders geprägt ist, hat ein äußerst starker und direkter Einfluss der deutschen Zivilrechtswissenschaft stattgefunden. Die weitere Entwicklung der deutschen Lehre, zum Beispiel von der Bil-
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ligkeits- zur Typenlehre, hat sich in der japanischen Zivilrechtswissenschaft widergespiegelt. Der Gestaltung des europäischen Vertragsrechts kann ein europäisches Bereicherungsrecht folgen, welches von der Vorstellung der Abwicklung des fehlgeschlagenen Vertrags ausgeht. Dabei spielt das institutionell ausgebildete und auch dogmatisch ausgefeilte deutsche Recht eine führende Rolle im Prozess der rationalen Vereinheitlichung, soweit es sich um materiellrechtliche, und nicht um verfahrensrechtliche Aspekte handelt. Auch das japanische Zivilrecht könnte weiterhin dieser Entwicklung nachfolgen. IV. Systematische Trennung zwischen Schuldund Sachenrecht Von einzelnen Instituten oder Fragen abgesehen lässt sich der starke Einfluss der deutschen Zivilrechtswissenschaft auch bei den rechtlichen Grundbegriffen und Grundprinzipien erkennen. Das gilt z. B. für die systematische Erfassung des Vermögensrechts. Die dort praktizierte Unterscheidung zwischen Schuld- und Sachenrecht ist von japanischen Juristen wie eine Selbstverständlichkeit aufgenommen worden. Allerdings wird neuerdings auch behauptet, dass diese saubere Unterscheidung nicht unproblematisch sei. Ich möchte dazu an dieser Stelle nur ein Beispiel geben: der Schuldner, der die geschuldete Summe versehentlich auf das Konto eines falschen Gläubigers eingezahlt hat, kann im Fall der Beschlagnahme des Kontos nicht die Drittwiderspruchsklage erheben, selbst wenn auf dem Konto nur diese Summe vorhanden ist. Dies wird damit begründet, dass er keinen dinglichen Anspruch besitzt. Im Gegensatz dazu gibt es im angloamerikanischen Recht die Möglichkeit, mit der Konstruktion einer „fiktiven Treuhand“ (constructive trust) sowie dem Prinzip der „Verfolgung“ (tracing) dem einschlägigen Schuldner einen Vorzug einzuräumen. Sowohl in Deutschland als auch in Japan treten einige Zivilrechtler aus Wertungsgründen für dieses Ergebnis ein und zwar mit dem neu gebildeten Begriff der „Wertindikation“ bzw. noch verallgemeinerter der „Wertverfolgung“. Ob man unter der Prämisse der sauberen Unterscheidung zwischen
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Schuld- und Sachenrecht eine angemessene Lösung wie im angloamerikanischen Recht erzielen kann, oder ob die Unterscheidung selbst zu überwinden ist, muss sowohl in Japan als auch in Deutschland weiter diskutiert werden. Eine starke Verbundenheit zum logischen und systematischen Denken kann die internationale Rechtsvereinheitlichung und -angleichung verhindern, wenn die Beschäftigung mit dem Recht ausschließlich mit den institutionellen Bedingungen des eigenen Landes verbunden bleibt. Wenn man aber im Hinblick auf internationale Tendenzen darüber diskutiert, wie sich traditionelle Begriffe und Prinzipien umstrukturieren lassen, dann dient dies dem Versuch, eigene, möglicherweise zu enge Sichtweisen zu überwinden und neue Strukturen und Systeme zu entwickeln. Von daher sind die aktuellen Diskussionen in der deutschen Zivilrechtswissenschaft beachtlich, zumal sie in Bezug auf die fortschreitende Annäherung des Zivilrechts in Europa stattfinden. Wohl deshalb sind wir japanischen Juristen so interessiert an der deutschen Diskussion um die Reform des BGB jenseits von Verzug und Unmöglichkeit. Auch die Auseinandersetzungen in Deutschland über die ungerechtfertigte Bereicherung und die Trennung zwischen Schuld- und Sachenrecht dürften für die japanischen Zivilrechtwissenschaftler nach wie vor sehr anregend sein. Zum Schluss möchte ich noch etwas ergänzen, worauf mich die Beiträge der Kollegen Teubner und Basedow auf diesem Symposium gebracht haben. Es geht um die zu meinem Thema umgekehrte Fragestellung, nämlich ob die japanische etwas zur Entwicklung der deutschen Zivilrechtswissenschaft oder des europäischen Privatrechts beitragen kann. In meinem Vortrag habe ich bereits erwähnt, dass das japanische Zivilgesetz als ein Produkt der Rechtsvergleichung entstanden ist und sich im Wesentlichen auf das deutsche und französische Recht stützt, aber auch die Gesetze und Rechtsprechung anderer Länder berücksichtigt hat. Insbesondere kam dann noch nach dem Zweiten Weltkrieg in politischer und kultureller Hinsicht der starke Einfluss des amerikanischen Rechts hinzu. Vor diesem Hintergrund hat die japanische Rechtsprechung und Lehre in vielerlei Hinsicht Erfahrung damit gesammelt, einen Ausgleich zwischen Elementen unterschiedlicher Systeme zu schaffen, sie den in der japanischen Gesellschaft bestehenden Aufgaben anzupassen und dazu eine eigenständige Auslegungslehre im Zivilrecht zu entwickeln. So ist Japan
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zum Beispiel im Hinblick auf die früher weit verbreiteten, unglücklichen Probleme der Umweltschäden ein „fortschrittliches Land“, das bei der Behandlung dieser Probleme zahlreiche Erfahrungen gesammelt und rechtliche Diskussionen geführt hat. Dieser Erfahrungsschatz könnte – einschließlich negativer Beispiele einer fehlgeleiteten Entwicklung in der japanischen Diskussion – in Europa berücksichtigt werden, wo derzeit versucht wird, zahlreiche widerstreitende Rechtssysteme verschiedener Länder, die sich auf einem unterschiedlichen Entwicklungsniveau befinden, zu harmonisieren und einander anzugleichen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass vermehrt Informationen über das japanische Recht in europäischen Sprachen verbreitet werden, damit auch europäische Wissenschaftler und Praktiker Zugang besseren Zugang erhalten. Dies zu verwirklichen ist eine der wichtigen Aufgaben der japanischen Wissenschaftler.
§ 7 Bericht aus der Arbeitsgruppe Karl Riesenhuber
Übersicht I. Die Entwicklung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung . . . . . . . . . . a) Ist Rechtsangleichung möglich und wünschenswert? . . . . . . . b) Inwieweit brauchen wir Einheitsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsvergleichung als Hilfsmittel der Rechtsangleichung . . . .
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II. Der Einfluss des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Grundlagen: Der Einfluss des deutschen Rechts auf das japanische und das chinesische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Der Einfluss des deutschen Rechts auf das internationale und gemeineuropäische Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Ausblick: Wie kann das deutsche – und auch das japanische – Recht auf die Entwicklung Einfluss nehmen? . . . . . . . . . . . . 111
Die Arbeitsgruppe 1 hat über den „Einfluss des deutschen Zivilrechts auf die Entstehung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts“ gesprochen. Dass hierbei Herr Kollege Kitagawa den Vorsitz übernahm, hat seinen guten Grund darin, dass er ganz wesentliche Beiträge zur Rezeption des deutschen Rechts in Japan, vor allem zur Theorienrezeption geleistet hat. Er stellte – in Anlehnung an Shapiro – gleich zu Anfang die Frage, ob nicht eine Amerikanisierung des Rechts zu beobachten sei. In einer systematischen Ordnung lässt sich die Erörterung in unserer Arbeitsgruppe in die zwei Hauptpunkte der Themenstellung gliedern: (1) die Entwicklung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts und (2) der deutsche Einfluss auf diese Entwicklung.
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I. Die Entwicklung eines internationalen und gemeineuropäischen Zivilrechts Im Zentrum der Erörterung stand der erste Aspekt: die Entwicklung des europäischen Zivilrechts. Er war zugleich Anlass, über die Themenstellung hinaus Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung zu erörtern. 1. Die Entwicklung
Jürgen Basedow zeichnet in seinem Impulsreferat die Entwicklungslinien vom nationalstaatlich geprägten Zivilrecht des 19. Jahrhunderts zur Internationalisierung und Europäisierung nach. Bereits im beginnenden 20. Jahrhundert – also schon kurz nach Abschluss des Kodifikationszeitalters – empfand man die nationale Zersplitterung des Rechts als unbefriedigend. Unter den Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen ragt das einheitliche Kaufrecht besonders heraus. Grundlagen dafür legte Ernst Rabel in seiner umfangreichen Untersuchung zum Recht des Warenkaufs. Sie mündeten schließlich in das Haager Einheitliche Kaufrecht von 1964 und das Wiener UN-Kaufrecht von 1980. In Europa überlagerte die Rechtsangleichung durch die Gemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Konventionsprivatrecht. Sie erfolgte freilich wegen der beschränkten Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nicht systematisch vom Allgemeinen zum Besonderen vorgehend, sondern, wie Christian Kirchner es einmal formuliert hat, von den Rändern her. Das Augenmerk war aber nicht nur auf die gemeinschaftsrechtliche Entwicklung zu legen, sondern zugleich auf die Entwicklung im Bereich der Wissenschaft. Hier sind vor allem die Principles of European Contract Law hervorzuheben, die eine von Ole Lando initiierte Arbeitsgruppe erarbeitet hat. Beide Entwicklungsstränge, der gemeinschaftsrechtliche und der wissenschaftliche, laufen in dem Vorhaben der Kommission zusammen, einen Gemeinsamen Referenzrahmen zu erarbeiten. Dieser Referenzrahmen soll dem Europäischen Gesetzgeber ein Hilfsmittel zur Wahrung der Kohärenz bei der Privatrechtsangleichung sein, er soll u. U. aber auch als wählbares Regelwerk verabschiedet werden, als ein so genannter optionaler Kodex.
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2. Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung
Im Mittelpunkt der Aussprache standen Fragen, die Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung betreffen. a) Ist Rechtsangleichung möglich und wünschenswert?
Dabei ging es zunächst um die fundamentale Frage, ob eine Rechtsangleichung möglich und wünschenswert ist. Insoweit wurde vor allem die Gefahr von Systemstörungen und Inkonsistenzen hervorgehoben, die entstehen können, wenn fremde Elemente punktuell in das nationale Recht eingefügt werden. Gunther Teubner, der bereits in seinem Eröffnungsvortrag auch eine Skepsis gegenüber der Rechtsvereinheitlichung ausgedrückt hat, hat einmal formuliert, Rechtsimplantate könnten u. U. als irritant wirken, als legal irritant, nicht legal transplant. Es wurde zudem die Gefahr einer Abschottung nach außen sowie einer Versteinerung hingewiesen. Stört nicht die Rechtsangleichung die organische Rechtsentwicklung? Wir sehen hier das Wiederaufleben des alten Streits zwischen Thibaut und Savigny. Wenn die Thibautianer heute zunächst die Oberhand gewonnen haben, fragt man sich, ob der Streit nicht letztlich anders ausgeht als im 19. Jahrhundert. b) Inwieweit brauchen wir Einheitsrecht?
Umstritten war zudem das richtige Maß der Rechtsangleichung. Das bleibt eine andauernde und ständig neu zu beantwortende Frage. Ob wir ein einheitliches Vertragsrecht brauchen, bedarf daher durchaus weiterer Überprüfung. Will man die Frage glaubwürdig beantworten, so muss man dabei auch offen bedenken, ob nicht in einzelnen Fällen eine einmal vorgenommene Rechtsangleichung wieder zurückzunehmen ist, wenn sie sich als unnötig erwiesen hat. – Brauchen wir in Europa z. B. einheitliche Regeln über Haustürgeschäfte? c) Rechtsvergleichung als Hilfsmittel der Rechtsangleichung
Neben diesen Grundlagen haben wir vor allem die Rechtsvergleichung als Hilfsmittel der Gesetzgebung und Rechtsangleichung erörtert. Wurde Rechtsangleichung anfänglich nur als Auslandsrechtskunde verstanden, so trat später ein Verständnis als echte Vergleichung hervor, die vor allem Konrad Zweigert zur wertenden Rechtsvergleichung weiterentwickelt hat.
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Das zentrale Problem bei der wertenden Rechtsvergleichung bleibt die Wertung. Die Rechtswissenschaft kann sie höchstens ansatzweise vorgeben. Letztlich wird man sie nur prozedural beantworten können. II. Der Einfluss des deutschen Rechts Der zweite Hauptpunkt ist die Frage nach dem Einfluss des deutschen Rechts. 1. Grundlagen: Der Einfluss des deutschen Rechts auf das japanische und das chinesische Recht
Hier haben Matsuoka und Mi die Grundlagen gelegt, indem sie den Einfluss des deutschen Rechts in Japan und China aufzeigten. Matsuoka wies auf die verschiedenen Wurzeln des japanischen Zivilrechts und den unterschiedlichen Wirkungsgrad deutschen Rechts und deutschen Rechtsdenkens in einzelnen Bereichen hin. Naturgemäß ist der Einfluss deutschen Rechtsdenkens dort gering, wo das japanische Recht – z. B. aufgrund seiner Wurzeln im französischen Recht – grundlegend anders strukturiert ist. Umgekehrt ist der Einfluss des deutschen Rechts dort besonders groß, wo es besonders ausgebildet ist und sachangemessene Strukturen anbietet. Nach Matsuoka ist das z. B. im Bereicherungsrecht oder in der Systematik des Vermögensrechts der Fall. Der große Einfluss des deutschen Rechts rührt weithin aus der begrifflich sauber und inhaltlich trennscharf ausgebildeten Systematik des deutschen Zivilrechts durch die Pandektistik des 19. Jahrhunderts. Inwieweit einzelne Konzepte noch heute als vorbildlich anzuerkennen sind, ist freilich umstritten, beispielhaft sei das Abstraktionsprinzip genannt. Auf den großen Einfluss des deutschen Rechts in China wies Mi in seinem Kommentar hin. Die Rezeption erfolgte hier zuerst vermittelt durch das japanische Recht, in jüngerer Zeit freilich auch unmittelbar. Interessanterweise wies auch Mi auf die Wirkkraft der Pandektistik hin. Das bei uns so häufig kritisierte Konzept des Rechtsgeschäfts hat über Japan auch seinen Weg nach China gefunden. Freilich führt es dort auch zu Kontroversen und Unsicherheiten.
§ 7 Bericht aus der Arbeitsgruppe
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2. Der Einfluss des deutschen Rechts auf das internationale und gemeineuropäische Zivilrecht
Wo sind schließlich die Einflüsse des deutschen Rechts auf das internationale und gemeineuropäische Recht? Jürgen Basedow unterschied insoweit zwischen Inhalten und Methoden. Bei den Inhalten der Rechtsangleichung sei ein spezifisch deutscher Einfluss nicht feststellbar. Zwar lassen sich in einzelnen Richtlinien der Gemeinschaft oder einzelnen Bestimmungen der European Principles of Contract Law deutsche Einflüsse ausmachen, doch sind in nicht minderem Maße auch englische oder französische usf. Konzepte eingeflossen. Im Rahmen der Rechtsangleichung durch die EU steht nicht die Durchsetzung eines nationalen Rechtsdenkens im Vordergrund, sondern das Ringen um die für den Binnenmarkt oder den internationalen Verkehr beste Lösung. Anders lägen die Dinge im Hinblick auf die Methoden. Hier sei insbesondere die Methode der wertenden Rechtsvergleichung als Grundlage der Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung hervorzuheben. Deutschland habe zudem – so wie in ähnlicher Weise auch die Niederlande – dadurch einen gewissen Beitrag zur Entwicklung des internationalen und gemeineuropäischen Rechts geleistet, dass es eine Infrastruktur zur Forschungsförderung in diesem Bereich etabliert hat. Diese besteht in Form von speziellen Forschungsinstituten wie dem Max-Planck-Institut, aber auch durch andere Forschungsförderungen wie Stipendien, wie sie beispielsweise Alexander von Humboldt-Stiftung und DAAD vergeben.
III. Ausblick: Wie kann das deutsche – und auch das japanische – Recht auf die Entwicklung Einfluss nehmen? Kann man davon einen Ausblick auf die Zukunft wagen? Ein Diskussionsbeitrag gibt dazu Anlass. Es ist vorgeschlagen worden, nicht nur theoretische Lehrbücher in fremde Sprachen zu übersetzen, sondern auch die gerade in Deutschland verbreiteten Praxis-Handbücher. Damit sind zwei Hinweise gegeben. Ein Einfluss des deutschen Rechts setzt zunächst voraus, dass es vermittelt wird. Das heißt zum einen sicher, dass auch das Maß der Dog-
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matik und Differenzierung vermittelbar bleiben muss. Differenzierungen, deren praktische Bedeutung nicht einleuchtet, setzen sich nicht durch. Zum anderen heißt es aber auch, dass wir das deutsche – oder auch das japanische – Recht vermitteln müssen. Das ist der Aufruf, den schon Frau Ministerin Zypries in ihrem Eröffnungsvortrag hervorgehoben hat: Pflegt das nationale Recht, aber teilt es auch anderen mit! Insoweit ist unsere Tagung Ausgangspunkt, nicht Schlusspunkt für zukünftige Zusammenarbeit.
3. Teil: Öffentliches Recht – Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – vom einheitlichen Wirtschaftsraum zur politisch verfassten Union?
§ 8 Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Vom einheitlichen Wirtschaftsraum zur politisch verfassten Union? – Jürgen Schwarze
Übersicht I. Anfänge als einheitlicher Wirtschaftsraum . . . . . . . . . . . . . 115 II. Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten III. Der europäische Binnenmarkt
. . 116
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
IV. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Union . . . . . . . . . . . . 118 V. Der Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge
. . . . . 118
VI. Erweiterung und Reformdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 VII. Der Verfassungskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 VIII. Der Verfassungsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 IX. Die ablehnenden Referenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 X. Ausblick
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
XI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
I. Anfänge als einheitlicher Wirtschaftsraum Die Anfänge der europäischen Integration vor heute mehr als 50 Jahren standen ganz im Zeichen der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums. Dem Prinzip der funktionellen Integration folgend, sollte über die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes auch eine politische Einigung Europas bewirkt werden. Anstelle des Entwurfs eines großen Verfassungsplans für Europa sollten also zunächst konkrete Schritte auf wirtschaftlichem Gebiet unternommen werden, um das weitergehende politische Ziel zu fördern. Dieses Konzept kommt deutlich in der Präambel des ersten der europäischen Gemeinschaftsverträge, dem sog. Montanvertrag von 1951 zum Ausdruck: „In dem Bewusstsein, dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errich-
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tung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann. […] Entschlossen, […] durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen.“
Der Gründung der (später) drei europäischen Gemeinschaften lag also Realitätssinn zugrunde. Statt hochfliegender Europapläne, deren es in der Geschichte dieses Kontinents viele gab, die aber regelmäßig keine wesentlichen praktischen Fortschritte bei der Einigung Europas bewirkten, sollte nun erst eine faktische Verbundenheit auf wirtschaftlichem Gebiet hergestellt werden, die einer politischen Einigung Europas den Boden bereiten sollte. Zu den „réalisations concrètes“, von denen Jean Monnet als einer der geistigen Väter der europäischen Integration gesprochen hat, gehörte als zentrale Vorstellung die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes. Dieser Begriff stellt in den Worten des Europäischen Gerichtshofs ab „auf die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahe kommen.“ II. Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten Zum Zweck einer über die Wirtschaftsintegration zu fördernden politischen Einigung in Europa haben die Verfassungen der Mitgliedstaaten besondere Ermächtigungen erteilt, Hoheitsrechte an die neu geschaffenen Europäischen Gemeinschaften abzugeben. So bestimmte etwa Art. 24 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes, dass der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Diese Linie hat das Grundgesetz später durch die spezifisch auf die Europäische Union zugeschnittene Verfassungsvorschrift des Art. 23 Abs. 1 GG fortgesetzt, wonach die Bundesrepublik „zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt“ und den Organen der Union zu diesem Zweck erforderlichenfalls weitergehende Hoheitsrechte überträgt. Mit diesen Neuerungen im Verfassungsrecht wollte die Bundesrepublik in den Worten Carlo Schmids, eines prominenten Mitglieds des mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes be-
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trauten Parlamentarischen Rates, „die Tore in eine neugegliederte überstaatliche Welt weit öffnen“. Die zunächst allein in Art. 24 Abs. 1 GG verankerte Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen erwies sich als verfassungsrechtlicher Hebel zur Herbeiführung der europäischen Integration. Die Mitgliedstaaten brachten eigene Hoheitsrechte zur gemeinsamen Ausübung ein und schafften so eine „rechts- und verwaltungsschöpferische Organisation“, die aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Kompetenz etwas leisten kann, was der einzelne Staat allein nicht mehr bewirken konnte (W. v. Simson). Auf diese Weise ist vor allem eine supranationale Gesetzgebungsgewalt entstanden, die auf den in den europäischen Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Feldern Recht setzen kann, das grundsätzlich Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten genießt und nicht nur den Mitgliedstaaten, sondern auch den Bürgern der EU unmittelbar durchsetzbare Rechte verleiht. III. Der europäische Binnenmarkt Der europäische Binnenmarkt bildet nach wie vor die wesentliche Grundlage und den Kern der europäischen Integration. Der Binnenmarkt umfasst in den Worten des Vertrages (Art. 14 Abs. 2 EG) „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist.“ Da sich das ursprünglich vertraglich fixierte Ziel, bis zum 1. Januar 1970 einen Gemeinsamen Markt zu schaffen, nur lückenhaft realisieren ließ, hat die EG in Gestalt der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäischen Akte einen zweiten Anlauf genommen und wiederum mit festem Zeitrahmen in geringfügig modifizierter und weiterreichender Zielsetzung die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes bis zum Ende des Jahres 1992 proklamiert. Bei dem zweiten Anlauf sind wesentliche Fortschritte bei der Realisierung des Europäischen Binnenmarktes erzielt worden. Es hat sich allerdings zunehmend auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Binnenmarkt keinen Endzustand bedeutet, der zu einem bestimmten Zeitpunkt ein für allemal erreicht ist, sondern vielmehr eine Daueraufgabe für die EU bedeutet.
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Zu den konstituierenden Elementen des europäischen Binnenmarktes gehören die Grundfreiheiten, die den Gemeinschaftsbürgern und Unternehmen verliehen worden sind (Freiheit des Warenverkehrs, Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Freiheit des Kapitalverkehrs) sowie die Durchsetzung eines gemeinsamen europäischen Wettbewerbsrechts. Als wirtschaftsverfassungsrechtliches Leitbild für die EU dient das Prinzip der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 4 Abs. 1 EG). IV. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Union Auch die Wortwahl des 1992 unterzeichneten Vertrages von Maastricht brachte zum Ausdruck, dass sich die ursprünglich auf die ökonomische Integration konzentrierte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) inzwischen zu einer auch politisch ausgerichteten Union gewandelt hat. Durch den Maastrichter Vertrag wurden die Gründung einer Europäischen Union (EU) und einer Europäischen Gemeinschaft (EG) verabredet. Neben der Einführung einer Europäischen Währungsunion brachte der Vertrag erhebliche politische Neuerungen wie die Einführung einer Unionsbürgerschaft für alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU, welche die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt, aber nicht ersetzt (Art. 17 EG) und eine im Wesentlichen intergouvernemental ausgerichtete Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf den Gebieten der Außen- und Sicherheitspolitik und der Justiz- und Innenpolitik (Pfeilerstruktur des EU-Vertrages). Diese Linie zu einer stärkeren politischen Orientierung der EU wurde später durch die Änderungsverträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) weiterverfolgt. V. Der Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge Was die Struktur von EU und EG anbelangt, ist seit längerem anerkannt, dass die Gemeinschaftsverträge sachlich und funktional betrachtet Verfassungscharakter besitzen. Sie haben für die EU ein eigenständiges institutionelles Entscheidungssystem geschaffen – u. a. eine allein dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtete unabhängige Exe-
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kutive (die Kommission), eine Gemeinschaftsgesetzgebung, die heute vor allem in Gestalt des Mitentscheidungsverfahrens von Rat und Europäischem Parlament gemeinsam gestaltet wird und eine besondere Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, die vor allem Funktionen eines Verfassungsgerichts und einer verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzinstanz in der Union ausübt. Wenn die EU auch nach wie vor eine besondere institutionelle Struktur aufweist und weder einen Staat noch einen Bundesstaat darstellt, ist sie auch als supranationale Organisation eigener Art demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet. Ebenso wie die Mitgliedstaaten gewährt sie in gemeinsamer europäischer Verfassungstradition auch den Schutz der Grundrechte (Art. 6 Abs. 2 EU). Dies hat – wie später gezeigt wird – zur Erarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta geführt. Für die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten gilt nach wie vor das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Gemeinschaft und ihre Organe nur in den Bereichen und mit den Instrumenten tätig werden dürfen, die ihnen in den Gemeinschaftsverträgen zugewiesen sind (Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 S. 2 EG). Für die Ausübung der Kompetenzen der Gemeinschaft ist als zentrales Gebot das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. Es verlangt von der Gemeinschaft, dass sie abgesehen von Feldern ausschließlicher Zuständigkeit wie z. B. der Gemeinsamen Handelspolitik (Art. 133 EG) nur tätig wird, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“ (Art. 5 Abs. 2 EG). Da das Recht die gemeinsame Basis für die europäische Einigung und darüber hinaus das entscheidende Integrationsinstrument bildet, kommt der richterlichen Kontrolle im Gemeinschaftssystem eine besondere Bedeutung zu. Es ist Aufgabe des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 220 EG). Im Gegensatz zur klassischen internationalen Gerichtsbarkeit ist die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit obligatorischer Natur, d.h. die Mitgliedstaaten haben sich ihr durch die Verträge bin-
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dend unterworfen. Wiederum im Unterschied zu den traditionellen Grundsätzen des Völkerrechts steht auch den Unionsbürgern der direkte Zugang zu dieser Gerichtsbarkeit offen. Der Gerichtshof kann nicht nur durch direkte Klagen von Staaten und Einzelnen angerufen werden. Auf Ersuchen der mitgliedstaatlichen Gerichte kann er auch zur Klärung von Zweifelsfragen bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts im Wege der Vorabentscheidung (Art. 234 EG) tätig werden.
VI. Erweiterung und Reformdruck Im Laufe der Zeit sind über ihren wirtschaftsrechtlichen Kern hinaus nicht nur die Politikfelder, auf denen die EU tätig wird, immer weiter gewachsen. Auch die Zahl der Mitgliedstaaten hat stetig zugenommen. Seit der letzten großen Erweiterung um zehn Staaten vor allem aus Mittel- und Osteuropa zum 1. Mai 2004 besteht die EU heute aus 25 Mitgliedstaaten. Sie ist also gegenüber ihren ursprünglichen sechs Gründungsmitgliedern (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Frankreich und Deutschland) mehr als 4-mal so groß. Allein die erheblich angewachsene Zahl der Mitgliedstaaten zwingt zu Reformen im institutionellen System und bei den Entscheidungsverfahren der EU. Sie sind bei der letzten Vertragsänderung (Vertrag von Nizza vom Dezember 2000 – seit Februar 2003 in Kraft) nur unzureichend verwirklicht worden. Immerhin wurden durch den Vertrag von Nizza einige wesentliche institutionelle Änderungen vorgenommen: eine neue Sitzverteilung im Europäischen Parlament, eine Neugewichtung der Stimmen im Ministerrat ab 1. Januar 2005 und eine Umstrukturierung der EU-Kommission ab 2005 (jeder Mitgliedstaat hat nur noch einen Kommissar). Im Übrigen wurde eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die als Avantgarde schneller als der Rest der Gemeinschaft voranschreiten will, erleichtert.
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VII. Der Verfassungskonvent Schon auf dem Europäischen Rat von Nizza im Dezember 2000 wurde offenbar, dass die vereinbarten Vertragsreformen inhaltlich unzureichend waren, um einer auf 25 Mitgliedstaaten anwachsenden Europäischen Union eine angemessene Gestalt und Struktur zu verleihen. Deshalb beschloss der Europäische Rat bereits in Nizza, eine weitere Regierungskonferenz für das Jahr 2004 einzuberufen, auf der die folgenden vier Reformanliegen verwirklicht werden sollten: 1. Eine bessere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2. eine Klärung des rechtlichen Status der bereits erarbeiteten Europäischen Grundrechtecharta, 3. eine Vereinfachung der Verträge und 4. eine Einbeziehung der nationalen Parlamente in die Architektur Europas. Auch in verfahrensmäßiger Hinsicht wurde eine wesentliche Änderung beschlossen. Während bis dahin Reformen der Europäischen Gemeinschaftsverträge in klassischen Regierungskonferenzen erarbeitet und beschlossen worden waren, sollte nun ein Konvent, der vornehmlich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments bestehen sollte, die eigentliche Regierungskonferenz vorbereiten. Ein solcher Verfassungskonvent ist dann unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing zusammengetreten und hat nach rund 1 1/2-jähriger Beratung im Juli 2003 den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vorgelegt. Die Europäische Union hat sich damit zum zweiten Mal des sog. Konventsverfahrens bedient, das bereits zuvor zur Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta praktiziert worden war. Seinerzeit hatte ein Konvent unter Vorsitz des früheren deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog eine Europäische Charta der Grundrechte für die EU entwickelt.
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VIII. Der Verfassungsentwurf Der Verfassungsentwurf des Konvents ist nach einzelnen Modifikationen von einer Regierungskonferenz am 29. Oktober 2004 gebilligt worden. Mit seinen zwei Elementen bringt der verwendete Begriff des Europäischen Verfassungsvertrages (genau: Vertrag über eine Verfassung für Europa) einerseits zum Ausdruck, dass er inhaltlich eine grundlegende Ordnung, eben eine Verfassung für die EU schaffen will, aber andererseits die Verwirklichung dieser Verfassung an das Einvernehmen der Mitgliedstaaten als Träger der Integration in der Form des Vertrages gebunden bleibt. Zwar haben – wie erwähnt – bereits die geltenden Gemeinschaftsverträge für die EU der Sache nach eine verfassungsmäßige Ordnung begründet. Diese Verfassungsordnung wird aber durch den Verfassungsvertrag neu strukturiert, inhaltlich verbessert und begrifflich ausdrücklich so bezeichnet. Inhaltlich besteht der Verfassungsvertrag aus vier Teilen: einem ersten Teil über die Ziele und Grundsätze der EU, einem zweiten Teil, der die bereits früher beschlossene Europäische Grundrechtecharta mit wenigen inhaltlichen Modifikationen insgesamt in das Vertragswerk integriert, einem Teil 3, der im Wesentlichen das bisherige Vertragsrecht einbezieht und insoweit rechtliche Kontinuität zu den bisherigen Verträgen herstellt und einem vierten Teil, der allgemeine und Schlussbestimmungen enthält. Abgesehen von der Inkorporierung der Grundrechtecharta und einem System klarerer Zuständigkeitsabgrenzung bringt der Verfassungsvertrag vor allem im institutionellen Bereich einige deutliche Fortschritte: ein hauptamtlicher Präsident soll der Union mehr Stabilität und Kontinuität verleihen, ein europäischer Außenminister ein verstärktes einheitliches Auftreten der Union auf dem Felde der auswärtigen Beziehungen fördern. Darüber hinaus soll das Europäische Parlament bei der Wahl der Kommission wie bei den Gesetzgebungsund Haushaltsrechten gestärkt werden. Im Übrigen sollen die nationalen Parlamente möglichst frühzeitig in den Entscheidungsprozess der EG einbezogen werden und insbesondere die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überprüfen. Ferner soll sowohl die Gleichheit der Mitgliedstaaten als auch ein möglichst gleicher Einfluss (Stimmgewicht) der Bürger in der Union insofern berücksichtigt werden, als das Prinzip der sog. doppelten
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Mehrheit, das in Ansätzen bereits im geltenden Vertrag von Nizza enthalten ist, weiterentwickelt wird. Danach müssen bei Beschlüssen, die vom Europäischen Rat bzw. vom Rat mit qualifizierter Mehrheit zu fassen sind, mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, gebildet aus mindestens 15 Staaten und mindestens 65 % der Bevölkerung, hinter den Beschlüssen stehen. Auf dem hier näher betrachteten Feld der Verbindung von einheitlichem Wirtschaftsraum und politisch verfasster Union hat der Verfassungsvertrag schließlich wirtschaftsverfassungsrechtlich betrachtet das Leitbild der EU jedenfalls in seiner Wortwahl verändert. Zum ersten Mal wird im Verfassungsvertrag (Art. I-3 Abs. 3) ausdrücklich davon gesprochen, dass die EU sich dem Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ verpflichtet fühlt. Bei einer Gesamtbewertung des Verfassungsentwurfs verdient die (Selbst-)Einschätzung, die Giscard d’Estaing als Präsident des Verfassungskonvents dem Entwurf hat zuteil werden lassen, Zustimmung: „zwar nicht perfekt, aber besser als erwartet“. Es ist dem Verfassungsentwurf trotz mancher Mängel insgesamt gelungen, sein eigenes Motto „in Vielfalt geeint“ in akzeptabler Form umzusetzen. Der Verfassungsvertrag bedeutet eine pragmatische Fortentwicklung der Verträge, nicht einen gänzlich neuen großen Sprung. Er ersetzt keineswegs die Verfassungen der Mitgliedstaaten, sondern tritt an deren Seite und schafft eine Verklammerung von mitgliedstaatlichem und europäischem Verfassungsrecht mit wechselseitigen Rückwirkungen. Damit trägt der Verfassungsvertrag dem Gedanken Rechnung, dass heute das Verfassungsrecht von gemeinsamen europäischen Verfassungsgrundsätzen überwölbt wird.
IX. Die ablehnenden Referenden Obwohl pragmatischer Verfassungsentwurf und nicht vollkommen neuer europäischer Verfassungsplan, hat der Verfassungsvertrag bekanntlich keine ungeteilte Zustimmung erhalten. Da der Verfassungsvertrag trotz seines Inhalts ein Änderungsvertrag zu den bestehenden Gemeinschaftsverträgen bleibt, ist er für sein Inkrafttreten an die Zustimmung aller Mitgliedstaaten gebunden. Gemäß Art. 48 Abs. 3 EU treten die beschlossenen Änderungen erst in Kraft, nach dem sie
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von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften gebilligt worden sind. Nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden hat der Europäische Rat auf seiner Tagung in Brüssel am 16./17. Juni 2005 eine Überlegungsphase beschlossen. Einvernehmen bestand darüber, dass der Ratifizierungsprozess – nicht zuletzt wegen der bereits erfolgreich abgeschlossenen Ratifizierungsverfahren in zehn Mitgliedstaaten (darunter die Bundesrepublik) – nicht endgültig aufgegeben, sondern nur zeitlich gestreckt werden sollte. Nach der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa aus Anlass des Brüsseler Gipfels bestand Einigkeit darüber, „im ersten Halbjahr 2006 zusammenzukommen, um eine Bewertung der einzelstaatlichen Diskussionen vorzunehmen und den weiteren Fortgang des Ratifizierungsprozesses zu vereinbaren“. X. Ausblick Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen, ob der Europäische Verfassungsvertrag trotz des Neins in Frankreich und den Niederlanden, zweier Gründungsmitglieder der EU, noch eine Chance hat. Zu Pessimismus besteht durchaus Anlass. Allerdings haben wir in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses immer wieder Rückschläge erlebt, die später durch pragmatisches Verfahren Schritt für Schritt überwunden worden sind. Auch dieses Mal erscheint dies nicht ausgeschlossen, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass diese Krise tiefgeht und grundlegende Auffassungsunterschiede über den weiteren Fortgang der europäischen Integration sichtbar geworden sind. Unter den denkbaren Entwicklungen kommen neben den grundsätzlichen Lösungen des endgültigen Aus für den Verfassungsvertrag oder seiner überraschenden späteren Annahme in der vorliegenden Form auch modifizierende oder Teillösungen in Betracht. Dazu mag einmal zählen, dass der Verfassungsentwurf auf seine eigentlichen verfassungsmäßigen Aussagen (die Teile I, II und IV) begrenzt wird und auch hier eine weitere Verdichtung des Textes stattfindet.
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Zum anderen ist es auch durchaus denkbar, dass später nur einzelne Elemente des Verfassungsvertrages wie insbesondere die Grundrechtecharta in Kraft gesetzt werden, über deren Sinn und Funktion weitestgehend Einigkeit besteht. Daneben ist vorstellbar, dass einzelne institutionelle Änderungen im Wege des traditionellen Vertragsänderungsverfahrens vorgenommen werden. Schließlich ist auch nicht zu übersehen, dass einzelne Elemente des Verfassungsvertrages Vorwirkungen entfalten können – auch ohne Ratifikation. Bei der Europäischen Grundrechtecharta haben wir dies insofern erlebt, als das Gericht 1. Instanz in Luxemburg ebenso wie einzelne Generalanwälte in ihren Schlussanträgen bereits auf die Charta zurückgegriffen haben, obwohl sie noch keine rechtliche Bindungskraft besitzt, sondern bisher nur feierlich proklamiert wurde. Es erscheint nach der Ratifikation des Verfassungsvertrages in der Bundesrepublik etwa durchaus denkbar, dass die nationalen Parlamente die ihnen im Verfassungsvertrag in Aussicht gestellten Mitwirkungsrechte an europäischen Entscheidungsprozessen jedenfalls nach nationalem Verfassungs- und Gesetzesrecht einfordern könnten. XI. Fazit Als abschließende Antwort auf das mir gestellte Thema möchte ich feststellen, dass die EU bereits heute nicht nur einen einheitlichen Wirtschaftsraum, sondern auch eine – wenn auch noch nicht ausreichend verfasste und nur begrenzt wirksame – politische Union darstellt. Ich halte einen europäischen Verfassungsvertrag – ggf. in modifizierter und auf die eigentlichen Verfassungselemente begrenzter Form – für wünschenswert und sogar für notwendig, weil der einzelne Mitgliedstaat heute nur als Teil eines überwölbenden europäischen Gesamtsystems bestehen kann. Durch die Eingliederung in ein solches System kann der einzelne Mitgliedstaat u.a. ein Stück des politischen und wirtschaftlichen Einflusses zurückgewinnen, der in Zeiten der Globalisierung verloren gegangen ist. Zugleich verleiht ein solcher Verfassungsvertrag der EU selbst die Möglichkeit, auf gesichertem verfassungsrechtlichem Grund der von ihr erwarteten Rolle als internationaler Akteur besser gerecht zu werden.
§ 9 Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa – Insbesondere die Bedeutung der Grundrechte in einer Konkurrenz zwischen Systemen der Staatsaufgaben – Hiroshi Nishihara
Übersicht I. Orientierung an Werten wie Freiheit, Demokratie und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Grundrechte in ihren verschiedenen Funktionen
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III. Träger der letzten Verantwortung zur Gewährleistung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Ausblick
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I. Orientierung an Werten wie Freiheit, Demokratie und Grundrechte Im Zeitalter der Globalisierung bleibt keine Rechtsordnung von Einflüssen fremder Herkunft verschont. Im Rahmen des öffentlichen Rechts stellen die Grundrechte eine Art Knotenpunkt verschiedenartiger Einflüsse dar. Sie entfalten nicht nur ihre Abwehrfunktion im nationalen Verfassungsrecht und als ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht, teilweise verstärkt durch den internationalen Überprüfungsmechanismus der EMRK; sie sind darüber hinaus in der Zukunft „Werte, auf denen sich die Union gründet“ (Art. 2 Verfassungsvertrag – Entwurf [nachfolgend: VVE]). Wie diese Proklamierung zum Ausdruck bringt, zeichnen sich aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa durch ihre Orientierung an Werten wie Freiheit, Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit ab. Durch die Herstellung des gemeinsamen Marktes ist etwa die Freizügigkeit des Menschen nur halbwegs verwirklicht, weil für sie Unterschiede im Grundrechtsstandard in den einzelnen Mitgliedstaaten eigentlich wesensfremd erscheinen. Deswegen wird die
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europäische Integration zwangsläufig auf die gegenseitige Anpassung der Gewährleistungsniveaus gerichtet und erst durch die Gewährleistung eines einheitlichen Grundrechtssystems vollendet sein. In diesem Sinne war es, im allgemeinen, für die weitere Entwicklung wichtig, dass der neu konzipierte Verfassungsvertrag einen ausgearbeiteten Grundrechtskatalog enthält – ob die Integration der Grundrechtscharta die beste Lösung war, gehört zu einer anderen Frage, die hier leider nicht mehr vertieft werden kann. Mit der Zielsetzung der Herstellung eines einheitlichen Grundrechtssystems beginnt jedoch eine große Schwierigkeit. Trotz des universalen Anscheins bedeuten die Grundrechte in jedem Rechtssystem etwas völlig anderes, und zwar sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihren Teilaspekten. Beschränkt man sich hier auf ein augenfälliges Beispiel, so entsprechen unterschiedliche Behandlungsweisen von diskriminierenden Äußerungen den verschiedenen Ausgangspunkten der Grundrechtsauslegung. Während diskriminierungsfördernde Äußerungen in der amerikanischen Verfassungsdoktrin aufgrund der von Anfang an zu achtende Subjektstellung des Zuhörers stets in den Geltungsbereich der Meinungsäusserungsfreiheit subsumiert wurden, neigen europäische Theorien dazu, im Bewusstsein der legitimierten Staatsaufgabe der Diskriminierungsbekämpfung eine diskriminierungsfördernde Äußerung gesetzlich zu unterdrücken. Bedingt durch nationale Erinnerungen und damit zusammenhängende verschiedene Menschenbilder, divergiert die Grundrechtsauslegung deutlich in verschiedene Richtungen. Diese Divergenz übt einen grossen Einfluss auf die gesamte Systematik des Rechts aus, wenn sich die Grundrechte von dem traditionellen Gebiet der Abwehrrechte entfernen und die Bedeutung als Grundsatznorm der gesamten Rechtsordnung entfalten. Beschränkt man die Bedeutung der Grundrechte auf Abwehrrechte, dann schreiben die Grundrechte nur den Bereich der für den Staat verbotenen um und schränken das Gebiet nicht wesentlich ein, was der Staat machen soll. Legt man dagegen die heute allgemein anerkannte Theorie der „objektivrechtlichen Bedeutung der Grundrechte“ zugrunde, d. h. wenn man die Grundrechte auch im Sinne der für das gesamte Rechtsordnung maßgebende Wertentscheidungen auffasst, dann betreffen alle Fragen über die Ziele der Rechtsordnung sowie die vom Staat erwarteten Aufgaben die Grundrechtsauslegung. Nimmt man somit darauf
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Bedacht, dass die Grundrechte bei der Fixierung der legitimierten Staatsaufgaben als grundlegende Werte fungieren, kommt man nicht umhin, in der Zielsetzung auf ein einheitliches Grundrechtssystem eine Gefahr für die demokratisch ausgebildete Rechtskultur zu erblicken.
II. Grundrechte in ihren verschiedenen Funktionen Die Entdeckung der positivrechtlichen Dimensionen der Grundrechte und die Ausarbeitung der grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates gehören eindeutig zu dem wichtigsten deutschen Beitrag zur weltweiten Grundrechtsdiskussion. Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflichten lautet wie folgt: die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern sie gebieten auch ein Minimum an staatlichen Eingriffsmaßnahmen, wo grundrechtliche Interessen eines Einzelnen durch Machtausübung eines anderen Privaten gefährdet werden. Nunmehr durchdringt der Gedanke der Schutzpflichten die ganze Rechtsordnung in Deutschland. Damit soll das zu verwirklichende Minimum an grundrechtlichen Interessen auch in den Beziehungen zwischen Privaten untereinander stets bei der Gesetzgebung und bei der Verwaltung zu achten sein. Freilich steht der Schutz der Freiheit und der einzelnen Staatsaufgaben auch im Rahmen der Sozialvertragstheorie. Deshalb kann sich kein Staat der Verantwortung entziehen, auch in den Beziehungen der Privaten untereinander das Minimum an Grundrechtsgarantie sicherzustellen. Die Frage liegt nunmehr darin, ob der Ausgleich privater Interessen zugunsten der grundrechtlichen Interessen als Aufgabe der Politik aufzufassen ist, die durch den Einsatz der demokratischen Gesetzgeber erfüllt werden muss, oder aber ob dort eine Vorentscheidung durch die Verfassung besteht, deren Inhalt durch Verfassungsauslegung ermittelt werden soll. Hier die grundrechtliche Schutzpflicht anzuerkennen, kann bedeuten, einen Vorrang des Rechtssystems vor den politischen Entscheidungen einzuräumen und dadurch den Wirkungsbereich der Demokratie einzuengen. Denkt man daran, so sind unterschiedliche Haltungen der einzelnen Staaten gegenüber der Lehre der grundrechtlichen Schutzpflichen eher verständlich.
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Während die Schutzpflichten im deutschen Rechtssystem einen festen Bestand haben, beharren manche Rechtsordnungen auch innerhalb der EU auf der Bedeutung der Grundrechte ausschließlich als Abwehrrecht. In ihnen wird das jeweilige Schutzniveau der grundrechtlichen Interessen der freien Entscheidung des Gesetzgebers anheimgestellt, die wiederum das Ergebnis des demokratischen Prozesses ist. In solch einem Staat würde man die Einführung der grundrechtlichen Schutzpflichten als Verengung des notwendigen gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums betrachten, während die Verdrängung der Schutzpflichten in Deutschand als Verunsicherung der grundrechtlichen Interessen empfunden würde. Zur Zeit geht der EGMR mit der Frage, ob er die grundrechtlichen Schutzpflichten anerkennen soll, noch sehr vorsichtig um. Es ist notwendig, zu überlegen, inwieweit die Schutzpflichten als Wesensgehalt der Grundrechte universal anzuerkennen sind und inwieweit sie als Folge einer bestimmten Institution systembedingt zu verstehen sind – etwa als Folge der Institution der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Staatstätigkeit aufgrund der Verfassungsbeschwerde in Deutschland. III. Träger der letzten Verantwortung zur Gewährleistung der Grundrechte Die Europäische Charta der Grundrechte, feierlich proklamiert im Dezember 2000, ist selbstverständlich kein gemeinsamer Grundrechtskatalog der Union und ihrer Mitgliedstaaten: Er bindet die Mitgliedstaaten allein in ihrer Eigenschaft als Durchsetzungsorgane der EU. Dies ändert sich nicht durch seine Eingliederung in den 2. Teil des Verfassungsvertrags. Sowohl Art. 51 (2) der Charta als auch Art. II-111 (2) VVE bestimmen, dass die Grundrechtscharta keine Änderung in der bisherigen Zuständigkeits- und Aufgabenteilung zwischen der Europäischen Union bzw. Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten mit sich bringt. Obwohl die letzte Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der Grundrechte in ihrem Territorium bisher von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wurde, scheinen die Mitgliedstaaten langsam die Befugnis zu verlieren, die von ihnen garantierten Grundrechte für sich allein zu definieren. Die Grundrechtscharta, die
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in den zweiten Teil des Verfassungsvertrags eingegliedert werden soll, enthalten gewisse soziale Grundrechte. Art. 94 (3) spricht vom „Recht auf eine Unterstützung für Wohnung“, obwohl die Europäischen Union bzw. Gemeinschaft keine Zuständigkeit für die Wohnungspolitik besitzt. Was nun dieses „Recht auf eine Unterstützung“ bedeuten soll, ist eine reizvolle Frage, weil der Verdacht besteht, dass eine Veränderung des Zuständigkeitssystems durch die Anerkennung eines neuen Rechts sozusagen „von hinten“ in Gang gesetzt wird. Allgemein gesagt, ist die Frage, inwieweit und mit welcher Intensität soziale Grundrechte zu gewährleisten sind, eng mit verschiedenen Aspekten verbunden, die bei der Erfüllung der sozialpolitischen Aufgaben in jedem Staat entschieden werden müssen. Wenn die Entscheidung über diese Aspekte dem Aufgabenbereich der nationalen Politik entzogen und ihre Interpretation auf die Ebene der supranationalen Gerichte transferiert werden soll, dann entsteht eine grundlegende Veränderung im Willensbildungsmechanismus innerhalb der nationalen Demokratie. So eine weitreichende Veränderung hat wenig mit der europarechtliche Gewährleistung der Grundrechte zu tun, welche von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen wird. Zwischen der allgemeinen Erklärung der Grundrechte ohne rechtliche Verbindlichkeit und der Gewährleistung der Grundrechte als rechtsverbindliche Norm liegt eine sehr große Kluft. Wenn wir diese Kluft durch die Eingliederung der Grundrechtscharta in den Verfassungsvertrag überschreiten wollen, stellt sich die ganz aktuelle Frage, wo die Grenzlinie zwischen dem juristischen Auslegungsproblem und dem demokratischen Ausgleichsproblem zu ziehen ist. Die Verbindlichkeit der sozialen Grundrechten sollte ursprünglich der „europäische Weg“ zeigen, – im Gegensatz zum amerikanischen Modell der Konkurrenzgesellschaft, aber das Veränderungspotenzial der Eingliederung der Grundrechtscharta in den Vertrag verursachte eine Angst, was eher zur Schwierigkeit bei der Ratifikation führte. Die japanische Verfassung ist bekannt für ihre frühzeitige Gewährleistung der sozialen Grundrechte. Dennoch herrschte in Japan bis vor kurzem eine Interpretation, nach der die sozialen Grundrechte weniger im Sinne eines konkreten Rechtsanspruches als im Sinne einer Ermächtigungsgrundlage für sozialgestaltende Tätigkeiten der Machteliten verstanden wurden. Die Diskussion in Europa, in der es
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hauptsächlich um die Bestimmung des justiziablen Gewährleistungskerns geht, entzieht sich wahrscheinlich des japanischen „Fehlers“. Es bleibt jedoch die Aufgabe, für die zukünftige Praxis zu bestimmen, wie einzelne soziale Grundrechte als funktionsfähige Anspruchsgrundlage wirken können, ohne dabei die notwendige Gestaltungstätigkeit des nationalen Gesetzgebers zu lähmen. In der Tat verengt sich über die bisher anerkannte Zuständigkeitsordnung hinaus die Wechselwirkung bezüglich des Inhalts und der Intensität der Grundrechtsgarantie. Die Grundrechtsnormen auf der Europäischen Ebene gelten als Vorgabe für die Mitgliedstaaten, und zwar in verschiedenen Geltungsmodi. Beispielsweise gelten im Bereich der Gleichheit – insbesondere im Bereich des Diskriminierungsverbots aufgrund des Geschlechts – verschiedene Gleichbehandlungsrichtlinien, deren Inhalte bis auf die letzten Kleinigkeiten vom EuGH schon ausgelegt und bestimmt sind. Dabei tendiert die Interpretation des Diskriminierungsverbots auf der Europäischen Ebene stark zur Betrachtungsweise, nach der Diskriminierungen als Verletzung des individuellen Rechts aufgefasst werden Diese Betrachtungsweise steht in einem deutlichen Gegensatz zur vormals herrschenden Meinung in Deutschland, nach der die Gleichheit eher im Zusammenhang mit einem Gerechtigkeitskonzept erklärt wird. Teilweise in Anbetracht dieser rechtlichen Umgebung musste das BVerfG seine alte Rechtsprechung zu Art. 3 GG im Sinne einer „neuen Formel“ überarbeiten. Welche Bedeutung den Grundrechten auf der europäischen Ebene zuerkannt werden soll, beeinflusst zwangsläufig das gesamte System der nationalen Grundrechte. Dabei herrscht zwar Einigkeit darüber, dass sich die Union auf den „Werten“ der Grundrechte gründet. Je weiter aber europäische Grundrechte im Sinne der Schutzpflichten ausgelegt werden, desto enger wird der Spielraum, in dem der nationale Gesetzgeber aufgrund des demokratischen Willensbildungsprozesses die konkurrierenden Interessen ausgleicht und dabei für seine Gesellschaft eine bestimmte Regelungsdichte auswählt.
§ 9 Aktuelle rechtliche Entwicklungstendenzen in Europa
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IV. Ausblick Im Bereich der Grundrechte ist der hier geschilderte, gegenseitige Anpassungsprozess zwischen der Union und den Mitgliedstaaten nicht mehr vermeidbar. Die Bedeutung der Grundrechte auf der europäischen Ebene ist dabei nicht eine feststehende Größe, sondern Ergebnis ständiger Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Rechtssystemen; mit anderen Worten: eine Systemkonkurrenz zwischen den national geprägten Rechtsgedanken. Deshalb kommt es darauf an, über eine kontinuierliche Kommunikation die Entwicklungslinien gegenseitig abzustimmen, wie es bisher auch einigermaßen gelungen scheint. Hinter der produktiven Wechselwirkung in Europa spielt die Einigkeit über den grundsätzlichen Wertegehalt der grundrechtlichen Gewährleistung innerhalb Europas eine große Rolle. Unter diesen Bedingungen scheint es verschiedenen Mitgliedstaaten gelungen zu sein, unter dem Einfluss fremder Anreize die ursprünglich intendierte Wirkung der Grundrechte, die gegenüber einer veränderten Realität aufgrund einer versteiften Dogmatik verloren zu gehen drohte, wiederherzustellen. Solche Auswirkungen sind natürlich nicht immer durch eine grundrechtliche Systemkonkurrenz zu erzielen. Insgesamt hat die Systemkonkurrenz jedoch zu zahlreichen produktiven Ergebnissen geführt, die eine Folge der langjährigen gegenseitigen Berücksichtigung der nationalen Rechtswissenschaften in Europa und des darauf basierenden sorgfältigen Prozesses der Integration in den letzten fünfzig Jahren sind. Das japanische Recht übt keinen unmittelbaren Einfluss auf diese Wechselwirkung aus – höchstens im sehr begrenzten Bereich durch die Zusammenarbeit mit der deutschen Rechtswissenschaft. Es kann jedoch mittelbar dazu kommen, etwa wenn man zu einer neuen Kommunikation mit dem Ziel ansetzt, in Zukunft im ostasiatischen Raum eine Grundrechtsgemeinschaft zu gründen. In diesem Fall müssen die Japaner die Bedeutung der Grundrechte mit den Verständnissen der Nachbarstaaten harmonisieren und dabei den Bedeutungskern erneut festlegen. Zu diesem Zweck müssen sie sich auch mit den Leistungen der – schon jetzt und seit jeher sehr oft berücksichtigten – deutschen Rechtslehre intensiv auseinandersetzen und die Ergebnisse des epochalen Experiments der europäischen Integration erneut analysieren.
§ 10 Kommentar Atsushi Takada
Es freut mich sehr, dass ich als „first speaker“ hier vor Ihnen sprechen darf. Ich möchte gerne einige Bemerkungen unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit machen. Herr Schwarze hat rechtliche Entwicklungen hin zur politisch verfassten Union in Europa als strukturelle Entwicklung historisch geschildert. Als einer derjenigen, die großes Interesse am deutschen öffentlichen Recht haben, sehe ich in dieser Entwicklung tendenziell eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit. Dabei handelt es nicht in erster Linie darum, dass die begrifflich deutsch geprägte Rechtsstaatlichkeit in den europäischen Verträgen, auch im Vertrag über eine europäische Verfassung, übernommen wird. Es geht auch nicht unbedingt um die Feststellung, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip durch die Rechtsprechung und Bestimmungen in den Verträgen ein wichtiger Bestandteil des Europarechts und der europäischen Verfassungsprinzipien geworden ist. Solche Entwicklungen sind durchaus von großer Bedeutung. Mir geht es aber vielmehr um eine gewisse Parallele der Entwicklung Europas hin zu einer verfassten Union mit historischen Entwicklungen der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Es wird manchmal davon gesprochen, dass der Rechtsstaatsgedanke – nicht der Rechtsstaatsbegriff – seinen wichtigen Ursprung bei Immanuel Kant hat. Kant hat dabei seine Rechtslehre entwickelt, die auf dem folgenden allgemeinen Rechtsgesetz beruht: handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen können. Dieses Rechtsgesetz bezieht sich deutlich auf Kants kategorischen Imperativ, der dem einfachen Verstand gegenüber transzendentalen, d. h. reflexiven Charakter hat. Schließlich soll nach Kant alles Recht von der gesetzgebenden Gewalt ausgehen. Diese Rechtskonzeption von Kant steht in einem erheblichen Gegensatz zur französischen, insbesondere von Jean-Jacques Rousseau geprägten Konzeption, bei der die Durchsetzung des volonté générale betont wird. Für Kant dagegen regelt das Recht Angelegenheiten
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Atsushi Takada
nicht von oben nach unten, nicht in einer Bewegung vom Scheitelpunkt bis zur Grundlinie. Das Recht kann vielmehr durch das Gesetz auf einer Meta-ebene reflexiv erlangen werden. Dieser reflexive Charakter der Rechtskonzeption von Kant war eine kritische Reaktion auf die damalige politische und rechtliche Lage in Deutschland. Das Recht konnte nur als Reflexion über die polizeistaatlichen Eingriffe des aufgeklärten Absolutismus konzipiert werden. Diese reflexive Rechtskonzeption war aber in Deutschland nicht nur im Zeitalter des Idealismus charakteristisch, sondern setzte sich auch im 19. Jahrhundert fort. Die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts entstanden in einem sehr langsamen und vorsichtigen Prozess. Die Bedeutung des Gewohnheitsrechts, der unterschiedlichen Rechte der Staaten und der Rechtslehre fand dabei starke Beachtung. Das Konzept der Kodifikationen bestand darin, „das Werden“ des Rechts nachzuvollziehen, nicht jedoch darin, eine hierarchische Steuerung der Gesellschaft „von oben“ durchzuführen. Die Gesetzgebung hat heute noch reflexiven Charakter. Es gibt heutzutage kein Gebiet mehr, welches völlig ohne rechtliche Regelungen auskommt. Die Gesetzgebung besteht infolgedessen praktisch immer in Rechts- oder Gesetzesänderungen, die sich auf bereits normierte Gebiete im Wesentlichen reflexiv beziehen. Der reflexive Charakter der Gesetzgebung wurde auch soziologisch erörtert, und zwar von Niklas Luhmann. Luhmanns Schlüsselbegriffe sind „Positivierung des Rechts“, „Rechtsstaat als Ausdruck des wechselseitig-parasitären Verhältnises von Politik und Recht“ sowie „struktureller Koppelung des Rechtssystems mit dem politischen System“. Aus Zeitgründen kann ich an dieser Stelle leider darauf nicht näher eingehen. Rechtliche Entwicklungen in Europa hin zur politisch verfassten Union spiegeln wider, dass die Europäisierung im politischen und rechtlichen Rahmen bereits weit fortgeschritten ist. Das wird auch an der Rechtsentwicklung mit dem Ziel einer politisch verfassten Union deutlich. Es handelt sich um eine reflexive Entwicklung, und darin liegt eine gewisse Parallelität mit der historischen Entwicklungen der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Aus meiner Sicht erscheinen die heutigen Entwicklungen in Europa deshalb ganz vertraut.
§ 10 Kommentar
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Bei der rechtlichen Entwicklung zur politisch verfassten Union Europas besitzen die Grundrechte eine besondere Bedeutung. Die Entfaltung der Grundrechte in Europa wird auch in Zukunft das Ergebnis ständiger Wechselwirkung zwischen den verschiedenen nationalen Rechtssystemen sein, wie Herr Nishihara dargelegt hat. Die Vielfältigkeit der Grundrechtssysteme, die wegen der unterschiedlichen, teilweise miteinander verschränkten Gerichtsbarkeiten in Europa, nicht nur eine nationale, sondern eben auch eine europäische Dimension besitzt, erfordert auch weiterhin Anstrengungen, eine Koordination der Systeme fortzuführen, worauf Herr Nishihara ebenfalls hingewiesen hat. Es entspricht amerikanischer Tradition, durch die Konzentration auf die ratio decidendi relativ konkrete Rechtsgrundsätze zu bilden, die unterschiedliche Entscheidungen miteinander in Beziehung setzen und unter einheitlichen Gesichtspunkten rationalisieren. Ähnliche Rechtsphänomene werden sich zukünftig auch in der europäischen Rechtsentwicklung beobachten können. In den neuen europäischen Verträgen ist das deutsche Wort „Rechtsstaat“ kompatibel mit dem englischen Begriff „Rule of Law“. Eine Koexistenz des „Rechtsstaats“ mit der „Rule of Law“ besteht aber nicht nur begrifflich, sondern auch in Form der Rechtsentwicklung. Es wird hoch interessant sein, zu beobachten, auf welche Weise in Europa die Rechtsentwicklung durch die Koexistenz dieser beiden Formen ihren weiteren Weg nehmen wird. Die neue Form Europas wird sicherlich als Modell für globale Rechtsentwicklungen fungieren können, besonders für diejenigen, die Rechtsentwicklungen nicht einfach „passieren lassen“ sondern aktiv mitgestalten möchten. Öffentliches Recht in Japan wurde sowohl durch das deutsche als auch durch das amerikanische Recht stark beeinflusst. Auf dieser historischen Grundlage haben wir Japaner eine ideale Position, Entwicklungen in Europa zu beobachten. Diese Beobachtung könnte uns selbst einen starken Impuls geben, darüber nachzudenken, welchen Beitrag das japanische öffentliche Recht zur Entwicklung der internationalen Rechtsordnung leisten kann, das unter starken Einflüssen des deutschen und des amerikanischen Rechts eine eigene japanische Formen zu entwickeln versucht.
4. Teil: Wirtschaftsrecht – Entstehung einer lex mercatoria als staatsunabhängige Rechtsquelle der globalen Wirtschaft?
§ 11 Lex mercatoria als soft law Hiroyuki Kansaku
Übersicht I. Einführung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
II. Lex mercatoria als staatsunabhängige Rechtsquelle . . . . . . . . 143 III. Lex mercatoria als soft law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Schlussbemerkung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
I. Einführung In diesem Bericht fasse ich zuerst den bisherigen japanischen Diskussionsstand über die Rechtsquelleneigenschaft der lex mercatoria und ihre Unabhängigkeit von staatlichen Regelungen zusammen. Danach erörtere ich, in welche Richtung sich die momentane Diskussion über die lex mercatoria entwickeln sollte. Ein einheitliches theoretisches Konzept der lex mercatoria existiert nicht. Diese Abhandlung folgt einer weit gefassten Definition: Die lex mercatoria bezeichnet private nicht-nationale Regeln internationaler Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, die besondere rechtliche Normen außerhalb der traditionellen Rechtsquellen darstellen.1 In Japan sind bisher Untersuchungen zur lex mercatoria im Wesentlichen in Anlehnung an die in Europa und den USA geführte Diskussion angestellt worden.2 Nach der bei uns herrschenden Lehre richtet sich das Anknüpfungsrecht nach dem IPR. Wenn beispielsweise japanisches Recht zur Anwendung kommt, dann kann die lex mercatoria
1 Zum Begriff der lex mercatoria siehe Böckstiegel, Die Bestimmung des anwendbaren Rechts in der Praxis internationaler Schiedsgerichtsverfahren, in: Sandrock (Hrsg.), Festschrift für Günter Beitzke (1979), S. 443, 456 f. 2 Yamate, Lex mercatoria ni tsuite no ichi ko¯satsu [Studie zur lex mercatoria (1) ¯ saka Ichiritsu Daigaku Ho¯gaku Zasshi, Bd. 33 Nr. 3 (1987), S. 51–82, (2)], O Nr. 4 (1987), S. 83–112; Taki, Kokusai chu¯sai to kokusai torihikiho¯ [Internationale Schlichtung und Internationales Handelsrecht] 1999, insb. S. 49–377.
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nach dem Willen der Parteien oder gemäß internationalem Handelsgewohnheitsrecht und sonstiger Handelsbräuche 3 gelten.4 Dass es sich dabei nicht um direkt auf den internationalen Geschäftsverkehr anwendbares Recht handelt, sondern um eine vom Staat unabhängige Rechtsquelle, wird dabei gerne übersehen. Nach der in Japan vorherrschenden Meinung beruht die Geltung der lex mercatoria grundsätzlich auf dem Willen der Parteien.5 Auch wenn die lex mercatoria keine unmittelbare rechtliche Wirkung hat, beeinflusst sie nachhaltig die Handelsgewohnheiten und Handelsbräuche im internationalen Handels- und Geschäftsverkehr.6 Das so genannte soft law enthält soziale Normen, die sich zwar nicht aufgrund einer legitimierten Legislative entwickelt haben und deswegen keine rechtliche Bindungskraft besitzen, aber doch das Verhalten der Parteien und die Praxis im Allgemeinen nachhaltig beeinflussen.7 Um eine tiefergehende Untersuchung zu ermöglichen, möchte ich die lex mercatoria in die Kategorie des soft law einordnen und ihre normative Funktion und Struktur analysieren.8
In Japan findet Gewohnheitsrecht Anwendung, wenn es keine gesetzliche Vorschrift gibt oder eine gesetzliche Bestimmung die Anwendung von Gewohnheitsrecht vorsieht (§ 2 Ho¯rei [EGBGB]. Auf die Auslegung von Rechtsgeschäften in Handelssachen finden zwingende Vorschriften des Handels- und Bürgerlichen Rechts, dispositive Vorschriften des japanischen Handelsgesetzes, Handelsgewohnheitsrecht und dispositive Vorschriften des japanischen Zivilgesetzbuchs Anwendung (§ 1 Shoho [HGB]). Der OGH hat allerdings darauf hingewiesen (Minroku 8-6-94), dass auch Handelsgewohnheiten anzuerkennen sind, die gegen zwingende Vorschriften des Handelsgesetzbuchs verstoßen. 4 Siehe z. B. Landgericht Tokio, Urteil vom 29. Mai 1987, Kinyu¯ Ho¯mu Jijô Nr. 1186, S. 84. 5 Takakuwa, Kokusai sho¯torihiki to funso¯ kaiketsu, tekiyo¯ho¯, ho¯ritsuka [Methoden der Streitentscheidung bei internationalen Handelsgeschäften, anwendbares Recht und Rolle der Juristen], in Kokusaitorihiki ni okeru shiho¯ no to¯itsu to kokusaishiho¯ [Vereinheitlichung des Privatrechts und IPR im internationalen Geschäftsverkehr] (2005), S. 98–100. 6 Teubner, ,Global Bukowina‘: Legal Pluralism in the World Society, in: Teubner (Hrsg.), Global Law without a State (1997), S. 21. 7 Snyder, The Effectiveness of European Community Law: Institutions, Processes, Tools and Techniques, The Modern Law Review 56 (1993), 32. 8 Mertens, Lex Mercatoria: A Self-applying System Beyond National Law?, in: Teubner (Hrsg.), Global Law without a State (1996), S. 50–52. 3
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II. Lex mercatoria als staatsunabhängige Rechtsquelle Die Frage nach dem Wesen der lex mercatoria, insbesondere danach, ob ihr Rechtsquelleneigenschaft zugesprochen werden soll, war bisher in der Lehre ein wesentlicher Diskussionspunkt.9 Zur Befürwortung der Rechtsquelleneigenschaft der lex mercatoria wird Folgendes angeführt: (1) Die lex mercatoria gab es schon vor der Entstehung der modernen Staaten. (2) Viele Schiedssprüche werden heutzutage publiziert und von Praktikern und Wissenschaftlern berücksichtigt und analysiert. Internationale Schiedsgerichte entwickeln Normen für internationale Handels- und Geschäftsbeziehungen durch Anwendung der lex mercatoria und allgemeiner Rechtsgrundsätze. (3) Zwischen den Schiedssprüchen untereinander und zwischen der Schiedsgerichtsbarkeit und der Praxis des internationalen Handels- und Geschäftsverkehrs kommt es zu einem feedback, wodurch im Ergebnis ein funktionales System konstitutiert wird. Andererseits wird gegen die Rechtsquelleneigenschaft der lex mercatoria Folgendes ins Feld geführt: (1) Auch von staatlicher Seite bestehe ein Interesse am Regelungsgegenstand der lex mercatoria, wobei es keinen Unterschied zu internationalen Rechtsbeziehungen (im Handels- und Wirtschaftsverkehr) gibt. (2) Es ist schwierig für die internationale Schiedspraxis, einheitliche und systematische Präjudizien zu entwickeln, weil ein kraft Parteiauftrages auf die Einzelfallentscheidung beschränkter Schiedsrichter nicht verpflichtet ist, die lex mercatoria in jedem Falle anzuwenden und sich nach bereits gefällten Schiedssprüchen zu richten. (3) Der lex mercatoria fehlt ferner die Autonomie, um die in einer Rechtsordnung notwendige Durchsetzungsfähigkeit zu gewährleis9 Stein, Lex Mercatoria (1995), S. 148–176, 203–251; Teubner (Fn. 6), S. 8–21; Mertens (Fn. 8), S. 31–39.
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ten. Außerdem mangelt es ihr an dem erforderlichen äußeren und inneren Systemzusammmenhang. (4) Ein Schiedsspruch unterliegt der Überprüfung durch ein staatliches Gericht, um ihn zu vollstrecken, muss eine gerichtliche Anerkennung oder ein Vollstreckungsbeschluss vorliegen. Wie erwähnt, wird die lex mercatoria in Japan generell nicht als Rechtsquelle anerkannt. Ein in allen staatlichen Rechtssystemen anerkannter Rechtsgrundsatz wie „pacta sunt servanda“ braucht nicht als lex mercatoria bezeichnet zu werden. Er ist vor allem zu abstrakt und zu allgemein gefasst, um die komplizierten und speziellen Rechtsprobleme des internationalen Handelsverkehrs lösen zu können und kann auch nicht als Verhaltensnorm für die Vertragsparteien dienen.
III. Lex mercatoria als soft law Andererseits ist man sich im Allgemeinen einig, dass der normative Inhalt der lex mercatoria im Wege der Willensauslegung der Parteien oder des Handelsgewohnheitsrechts und der Handelsbräuche zur Geltung kommt und zumindest als so genanntes soft law wirkt. Dies liegt auch daran, dass die lex mercatoria in der Praxis gegenüber der staatlichen Rechtsordnung meistens als vorteilhafter angesehen wird, denn ihre Ausführlichkeit, Spezialität und Flexibilität ermöglichen es, den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegen zu kommen und sich veränderten Situationen schnell anzupassen. An der Universität Tokyo läuft seit 2003 ein Forschungsprojekt über soft law,10 und auch die lex mercatoria wird in diesem Programm unter dem Gesichtspunkt des soft law untersucht.11 Hintergrund ist das Problem, dass die Abgren10 Fujita/Matsumura, Shakai kihan no ho ¯ to keizai – sono rironteki tenbo¯ [Das Recht gesellschaftlicher Normen und die Wirtschaft – theoretische Betrachtung], Soft Law Kenkyu¯ Nr. 1 (2005), S.59–104. 11 Prof. Noboru Kashiwagi hat am 2. Juli 2005 auf dem fünften Symposium des Soft Law Forschungsprojekts an der Universität Tokio über Soft Law und die globale Gesellschaft unter dem Titel „Kokusai Sho¯ Torihiki ni okeru Soft Law: Kokusaikanshu¯‚ Lex mercatoria‘, shiteki dantai ni yoru kisoku sonota“ [Regelungen durch internationale Gewohnheit, lex mercatoria, und private Vereinigungen] berichtet.
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zung rechtlicher Vorschriften von anderen sozialen Normen zunehmend schwierig geworden ist. Von juristischer Seite interessiert man sich für die Beziehung zwischen staatlicher Rechtsordnung und lex mercatoria, insbesondere dafür, nach welchem Maßstab ein Richter oder Schiedsrichter einem Teil der lex mercatoria im Wege der Willensauslegung der Parteien oder des Handelsbrauchs Geltung verschaffen sollte.12 Mit anderen Worten handelt es sich darum, die Merkmale derjenigen lex mercatoria herauszuarbeiten, die im Wege der Willensauslegung der Parteien oder des jeweiligen Handelsbrauchs als rechtliche Norm eingeordnet werden sollte.13 Hierbei könnte sich die Diskussion in den Vereinigten Staaten über die Auslegung einer solchen Vereinbarung als nützlich erweisen, um die Struktur der lex mercatoria zu beleuchten und die als Rechtsregel einzuordnende lex mercatoria von anderen sozialen Normen zu trennen. Insbesondere die amerikanische Debatte über die Auslegungsmethode, nämlich die Unterscheidung von incorporation strategy und plain meaning rule, könnte helfen zu beurteilen, inwieweit ein Richter oder Schiedsrichter die lex mercatoria zu berücksichtigen hat.14 1. Zunächst sind die Funktionen der lex mercatoria zu untersuchen.15 Die Vorteile der lex mercatoria bestehen darin, finanzielle Aufwendungen für das Abfassen eines Vertrages einzusparen und das Risiko zu vermindern, von den Parteien nicht erwartete oder unerwünschte Normen zur Anwendung zu bringen. Die lex mercatoria ist flexibler als die staatliche Rechtsordnung, was der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu Gute kommen könnte.16 Auf der andeFujita/Muramatsu (Fn. 10), S. 89–98. Ratz in Großkomm.HGB (3. Aufl. 1978), Anm. 30. Die institutionale Autonomie der lex mercatoria ist nicht so stark, weil die lex mercatoria aus dem dringenden Bedürfnis der globalen Wirtschaft entstanden ist, Teubner (Fn. 6), S. 19. 14 A. Schwartz, Relational Contracts in the Courts: An Analysis of Incomplete Agreements and Judicial Strategies, Journal of Legal Studies 21 (1992), S. 271– 318; Bernstein, Merchant Law in a Merchant Court: Rethinking the Code’s Search for Immanent Business Norms, 144 (1996) Penn.L.Rev. S. 1765–1821; Kraus/Walt, In Defence of the Incorporation Strategy, in: Kraus/Walt (Hrsg.), The Jurisprudential Foundations of Corporate and Commercial Law (2000), S. 193–237. 15 Gillette, Harmony and Stasis in Trade Usages for International Sales, 39 (1999) Va.J.Int’l L.707, S. 716–740. 16 Es gibt Beispiele, in denen bei internationalen Kaufverträgen eine Pflicht zur Neuverhandlung von Vertragsbedingungen nach der hardship- oder force majeur12 13
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ren Seite ist es nicht in jedem Falle günstig für die Parteien, die lex mercatoria zur Anwendung zu bringen. Denn es besteht die Gefahr, dass unter der Flagge der lex mercatoria auch unerwartete oder unerwünschte Normen vom jeweiligen Richter oder Schiedsrichter angewendet werden. Möglicherweise ist es auch kostspielig, den im Einzelfall maßgeblichen Inhalt der lex mercatoria genau zu bestimmen. Für die Parteien kann es wünschenswert sein, die Anwendung der lex mercatoria dadurch auszuschließen, dass sie den Vertrag bis ins Detail genau regeln und sich streng an den Wortlaut halten. Aber auch bei einer strengen Auslegung dürfte es in der Praxis sehr schwierig sein, die Geltung von Handelsbrauch und lex mercatoria zu negieren, es sei denn, dies ist im Vertrag ausdrücklich ausgeschlossen.17 Die Geltung der lex mercatoria nach dem Willen der Parteien oder gemäß internationalem Handelsgewohnheitsrecht oder sonstiger Handelsbräuche hängt demnach von der Einschätzung der Funktionen der lex mercatoria ab. 2. Die lex mercatoria ist auch aus rechtspolitischer Perspektive zu prüfen.18 Entstammt eine Norm der lex mercatoria aus einer Handelsgewohnheit oder einem Handelsbrauch, internalisiert sie tendenziell die Interessen beider Parteien.19 Eine Norm kann jedoch auch überdauern, obwohl sie der Natur nach nicht rational und effizient ist, weil sie z.B. wettbewerbsbeschränkende Wirkung hat oder nur für die Partei mit der größeren Verhandlungsmacht günstig ist.20 Nach Art. 1.9 der UNIDROIT Principles of international commercial contracts (PICC) sind die Parteien im Prinzip zwar an allgemein anerkannte und übliche Handelsbräuche gebunden, diese finden jedoch dann keine Anwendung, wenn sie (im konkreten Fall) nicht rational bzw. sachlich gerechtfertigt sind.
Klausel vereinbart und für den Fall, dass sich die Parteien nicht einigen, ein Schiedsrichter eingeschaltet wird. Nimmt der Schiedsrichter dann eine Vertragsänderung aufgrund der lex mercatoria vor, spielt diese für die Streitentscheidung eine größere Rolle als die staatliche Rechtsordnung. 17 Gillette, The Empirical and Theoretical Underpinnings of the Law Merchant, 5 (2004) Chi.J.Int’l L. 157, S.167. 18 Stein (Fn. 9), S. 239–251. 19 Gillette (Fn. 17), S. 158. 20 Juenger, Lex mercatoria und Eingriffsnormen, in: Löwisch/Schmidt-Leithoff/ Schmiedel (Hrsg.), Festschrift für Fritz Rittner (1991), S. 233, 239 f.
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Anwendungsbereich und Maß der Allgemeingültigkeit der lex mercatoria sind sehr unterschiedlich. Es gibt keine lex mercatoria, die auf alle internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Anwendung findet. Selbst wenn es solch eine lex mercatoria gäbe, wäre sie zu allgemein und abstrakt, um einen klaren Maßstab zu bieten, der rechtliche Probleme zu lösen ermöglicht und den beteiligten Verkehrskreisen einen Verhaltensstandard an die Hand gibt. Es ist wichtig, die einzelnen Normen der lex mercatoria anhand konkreter Beispiele zu prüfen: wer begründet, ändert oder verwirft diese Normen nach welchem Verfahren? Auf welchen konkreten Fall findet die Norm der lex mercatoria Anwendung und wer legt sie aus? Warum wird die Norm eingehalten und wie wird eine eventuelle Verletzung sanktioniert? Betrachtet man die lex mercatoria je nach Norm und Anwendungsbereich, so scheint es, als würde sich die Doktrin von der lex mercatoria mit der Teilgesellschafts-Lehre verflechten, wonach in einer autonomen Gesellschaft ein eigenes Recht oder eigene soziale Normen bestehen.21 Parallelen zur „Teilgesellschaft“ gibt es insoweit, als bei der lex mercatoria autonomes Recht oder Normen vorhanden sein können.22 Soweit es um internationale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen geht, hängt die Frage der „Autonomie“ von der Struktur und Funktion des jeweiligen Markts ab, in dem die Norm Anwendung findet. Fazit: Die lex mercatoria ist aus Sicht des soft law auf folgenden Ebenen zu untersuchen: Zum Begriff der „Autonomie“ im deutschen Privatrecht siehe Murakami, Doitsu Shimin Ho¯shi [Geschichte des Deutschen Bürgerlichen Rechts] (1985), S. 24–203. 22 Ko ¯ taro¯ Tanaka, einer der bekanntesten japanischen Handelsrechtler, der das einheitliche Weltrecht des internationalen Handels befürwortet hat, hat als Richter des japanischen Obersten Gerichtshofs (OGH) in einer Entscheidung als Erster in Japan die Teilgesellschafts-Lehre – damals noch als Mindermeinung – vertreten (OGH Urteil vom 16. Januar 1953, Minshu¯ Bd. 7, Nr. 1, S. 12 ff.). Später ist die Teilgesellschafts-Lehre zur herrschenden Meinung des OGH geworden (OGH Urteil vom 19. Oktober 1960, Minshu¯ Bd. 14, Nr. 12, S. 2633). Tanaka hat allerdings das Handelsrecht einschließlich der lex mercatoria als „Naturgesetz“ verstanden; Tanaka, Shoho¯ to shizenho¯ [Handelsrecht und Naturrecht], in: Sho¯ho¯gaku – ippan riron [Allgemeine Lehren des Handelsrechts] (1988) (erste Veröffentlichung 1960), S. 394–399. 21
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(1) Inhalt und Allgemeingültigkeit der Normen, (2) Geltungsbereich, (3) Entstehung, Veränderung und Abschaffung, (4) Anwendung und Auslegung, sowie (5) Durchführung und Zwangsmaßnahmen. Danach sind Struktur und Funktion der lex mercatoria durch Untersuchung der Beziehungen zwischen den Ebenen (1) bis (5) zu analysieren. Die lex mercatoria entsteht manchmal nicht auf „natürliche Weise“ wie Handelsgewohnheiten oder Handelsbräuche im inländischen Handelsverkehr, sondern wird künstlich erzeugt. Denn eine „spontane“ Entwicklung der lex mercatoria ist nicht immer einfach im internationalen Handelsverkehr zwischen Parteien, die zu unterschiedlichen kulturellen, religiösen, sozialen und rechtlichen Systemen gehören. Typische Beispiele für eine künstliche lex mercatoria sind die Modellgesetze von UNIDROIT oder UNCITRAL. Auch die Incoterms 2000 des International Chamber of Commerce (ICC) tendieren zu solch einem künstlichen Charakter, obwohl die Incoterms 1936 eigentlich überwiegend eine Sammlung und Neuformulierung von Handelsbräuchen darstellten.23 Wird die lex mercatoria von Organisationen insbesondere privater internationaler Wirtschaftszusammenschlüsse geschaffen,24 muss man berücksichtigen, zu welchem Zweck eine Norm gebildet und wie sie durchgesetzt wird, gerade im Hinblick auf Struktur und Funktion des Marktes, wo die Norm gelten soll. Eigenschaft und Durchführbarkeit einer Norm der lex merKashiwagi (Fn. 11). Die Incoterms können in die Kategorie der lex mercatoria eingeordnet werden, weil sie einen klar bestimmten Inhalt haben, in einem transparenten Verfahren entstanden sind, bei Bedarf überarbeitet werden, und allgemeine statt branchenspezifische Normen enthalten, Gillette (Fn. 17), S. 174–176. 24 Die Regeln einer Organisation werden als generell betrachtet, wenn (1) sich die Parteien an einem Markt aktiv an der Tätigkeit der Organisation beteiligen, (2) die Organisation als Repräsentant der Mitglieder zu erkennen ist, und (3) die Regeln der Organisation ausreichend autoritativ sind, um von den Mitgliedern akzeptiert zu werden; De Ly, Uniform Commercial Law and International SelfRegulation, in: Ferrari (Hrsg.), The Unification of International Commercial Law (1998), S. 60. 23
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catoria hängen insbesondere vom Grad der Interessengleichheit der Mitglieder eines wirtschaftlichen Verbandes, sowie dem Zweck und Gegenstand der Norm ab.25 Der Geltungsbereich wird beschränkt, wenn eine Norm der lex mercatoria mit Sanktionen durchgesetzt wird, etwa durch Ausschluss aus einem Geschäfts- oder Verkehrskreis.26 Je schlechter solche Sanktionen funktionieren, desto wichtiger ist die Durchführung auf Grundlage der staatlichen Rechtsordnung. Neuerdings beschäftigt sich die japanische Forschung auch mit der Frage, weshalb bestimmte Typen der lex mercatoria weit verbreitet sind, andere Arten dagegen weniger. Laut einer Abhandlung hat sich gezeigt, dass diejenige lex mercatoria, die von einer internationalen Organisation in bloßer Erwartung einer wirtschaftlichen Notwendigkeit bereits vorher geschaffen worden ist, nur wenig Verbreitung findet. Anders wirkt dagegen diejenige lex mercatoria, die aufgrund eines tatsächlichen, starken Bedürfnisses der privaten, wirtschaftlich beteiligten Parteien entstanden ist. Gibt es einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Normen, wird derjenigen Norm gefolgt, die rational und effizient ist.27
IV. Schlussbemerkung Zum Schluss möchte ich noch auf zwei in der heutigen globalen Wirtschaft bemerkenswerte Punkte außerhalb der traditionellen lex mercatoria-Lehre hinweisen, über die man aber dennoch im Zusammenhang mit der lex mercatoria nachdenken sollte. 1. Auch die weitere Entwicklung im Bereich des internationalen Wertpapierhandels- und Abrechnungssystems muss man im Blick behalten. Im Zuge der Entwicklung neuer Finanzierungs- und Nachrichtentechniken schreitet die Globalisierung der internationalen Kapitalmärkte und die Entwicklung der Buchführungssysteme entmaterialisierter Wertpapiere immer schneller voran, was zu Unklarheiten hinsichtlich des Anknüpfungsrechts führt. Insoweit bestehen ParalleDe Ly (Fn. 24), S. 67. Über die Sanktionen bei Verletzung der lex mercatoria siehe Blaurock, The Law of Transnational Commerce, in: Ferrari (Hrsg.), The Unification of International Commercial Law (1998), S. 17. 27 Kashiwagi (Fn. 11). 25 26
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len zur traditionellen lex mercatoria im Bereich des internationalen Warenkaufs, Transports und Versicherungsgeschäfts. In dem Bestreben, ein sicheres und effektives Wertpapierabrechnungssystem und klare Regeln für das anzuknüpfende Recht zu schaffen, kam 2002 das „Abkommen über das Anknüpfungsrecht für Recht an Wertpapieren, die von Kontoführungsorganen verwahrt werden“ zustande. Zur Zeit arbeitet auch UNIDROIT an der Harmonisierung der staatlichen Regelungen in diesem Bereich.28 Auf dem Gebiet des Wertpapierhandels und der Rechnungslegung ist es trotzdem schwierig, autonome Normen selbständig oder „künstlich“ zu bilden. Dies liegt vorrangig daran, dass die Normen die Rechte Dritter oder öffentliche Interessen berühren, z.B. die Regeln über den Inhaberschutz im Fall des Konkurs des Verwalters von entmaterialisierten Wertpapieren oder die Formerfordernisse für deren Übertragung oder Verpfändung. Hier kann man die Problemlösung nicht der materiell- oder kollisionsrechtlichen Privatautonomie überlassen. Bemerkenswert an diesem Prozess ist, dass, obwohl die Wertpapierverwahrungs- und Abrechnungssysteme und die dafür vorgesehenen rechtlichen Regeln in den verschiedenen Ländern sich erheblich unterscheiden, man nicht versucht, diese Systeme zu vereinheitlichen, sondern die jeweiligen Abrechnungssysteme miteinander funktional zu verbinden.29 Dieser Ansatz ist insofern beachtlich, als mit dem Versuch, auf nationalem Recht beruhende Systeme international zu verknüpfen und ein funktionell anationales Wertpapierhandels- und Abrechnungsnetzwerk zu bilden, ein neuer Weg beschritten wird. 2. Die Parteien bzw. Adressaten der lex mercatoria sind heute im Wesentlichen Unternehmen. Die transnationale Tätigkeit der großen Unternehmen wird von juristischen Personen organisatorisch getragen. Transnationale Aktivitäten von Großunternehmen werden vorrangig in einer Unternehmensgruppe.30 Trotz ihrer großen Macht und
Zur neuesten Fassung des Abkommens siehe http://www.unidroit.org/english/ workprogramme/study078/item1/main.htm. 29 UNIDROIT, Explanatory Notes to the Preliminary Draft Convention on Harmonised Substantive Rules regarding Securities Held with an Intermediary, Rome, December 2004, S. 18–20. 30 Robé, Multinational Enterprises: The Constitution of a Pluralistic Legal Order, in: Teubner (Hrsg.), Global Law without a State (1996), S. 50–52. 28
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ihres Einflusses ist von multinationalen Unternehmen nicht immer zu erwarten, dass sie sich gemäß ethischer und moralischer Prinzipien verhalten. Im Zuge der Internationalisierung ihrer unternehmerischen Aktivitäten hat sich deshalb die Doktrin von der „sozialen Verantwortung“, insbesondere multinational tätiger Unternehmen entwickelt. Als soft law könnte sie einen äußeren (Kontroll-) Faktor gegenüber der Ausbreitung der Unternehmensaktivitäten und der autonomen Entwicklung von Handelsbräuchen und Geschäftsgewohnheiten darstellen. In der Tat beeinflusst die Lehre von der „sozialen Verantwortung“ die unternehmerischen Aktivitäten bereits durch die Schaffung, Durchsetzung und Überwachung von so genannten „Codes of Conduct“.31 Der Inhalt dieser „Codes of Conduct“ betrifft der Sache nach natürlich internationale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen.32 Die Lehre von der „sozialen Verantwortung“ als soft law steht wiederum der lex mercatoria gleichfalls als soft law gegenüber, wodurch sich reflexive Wirkungen untereinander ergeben.
31 Sieht man das Wesen der Verrechtlichung in der rechtlichen Steuerung der Selbstregulierung, könnte die Lehre von der sozialen Verantwortung des Unternehmens als ein Beispiel von Verrechtlichung betrachtet werden; Teubner, Verrechtlichung: Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Zacher/Simitis/Kübler/ Hopt/Teubner, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität (1984), S. 289–344. 32 Nakatani, Kigyo ¯ kan go¯i no kokusaiho¯jo¯ no igi to genkai (Bedeutung und Grenzen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen nach internationalem Recht), Sekaiho¯ Gakkai, Sekaiho¯ Nenpo¯, Nr. 21 (2002), S. 48–53. Als Beispiel sei die Maßnahme einer NGO in Großbritannien genannt: CAFOD (Catholic Agency for Overseas Development) hat von weltweit tätigen PC-Herstellern verlangt, strikte globale Standards für den Arbeitsnehmerschutz innerhalb der supplychain in Entwicklungsländern anzunehmen. HP, DELL und IBM haben gemeinsam einen „Electronic industry code of conduct“ verfasst und sich verpflichtet, ihre globale supply-chain im Auge zu behalten, http://www.cafod.org.uk/policy_ and_analysis/policy_papers/private_sector/clean_up_your_computer_report/.
§ 12 Lex mercatoria: Allheilmittel? Rätsel? Chimäre? * Karsten Schmidt
Übersicht I. Ein Streitobjekt wird besichtigt . . . . . . . . . . . 1. Künder der lex mercatoria . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein akademischer Streit: also ein überflüssiger Streit? 4. Zuspitzung der Diskussion . . . . . . . . . . . . . .
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II. Über die „Wirklichkeit“ der lex mercatoria: Realität und Recht . 159 1. Zur empirischen Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Realisten oder Phantasten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 III. Die lex mercatoria auf dem rechtstheoretischen Prüfstand 1. Defizite im Vergleich zu staatlichem Recht . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis zu nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Staatliches und autonomes Recht: Gibt es ein Rechtsetzungsmonopol des Staats? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Lex mercatoria als kulturgeschichtliches Phänomen . . . . . . . . . 166 2. Das Wiederaufkommen der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . 168 V. Versuch einer Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autoritäre und anarchische Wurzeln des Rechts . . . 2. Die Frage der Normqualität . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der lex mercatoria . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Thesen zu Teil I: Ein Streitobjekt wird besichtigt . . . . . . . . . . 2. Thesen zu Teil II: Über die „Wirklichkeit“ der lex mercatoria: Realität und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Thesen zu Teil III: Die lex mercatoria auf dem rechtstheoretischen Prüfstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Thesen zu Teil IV: Staatliches und autonomes Recht: Gibt es ein Rechtsetzungsmonopol des Staates? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Thesen zu Teil V: Versuch einer Orientierung . . . . . . . . . . . .
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* Druckfassung des am 29. September 2005 in Tokyo stark gekürzt gehaltenen Vortrags; nachträglich erschienen die Beiträge von Basedow und Hartnell, in: Berger u. a. (Hrsg.), Zivil- und Wirtschaftsrecht im Europäischen und globalen Kontext, Festschrift für Norbert Horn (2006), S. 229 und 355.
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I. Ein Streitobjekt wird besichtigt 1. Künder der lex mercatoria
Der große Ernst Rabel stellte im Jahr 1936 fest, der Welthandel habe sich eine von den staatlichen Rechten weitgehend befreite, vor allem vor der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit praktizierte Rechtsordnung geschaffen.1 Schon Jahre davor, nämlich im Jahr 1929 hatte es ähnliche Töne gegeben. Ich nenne beispielhaft Masaichiro Ishizaki 2 und Hans Großmann-Doerth. Der Letztere hielt 1929 im Hamburger Überseeclub einen Vortrag, der alsbald in der Juristischen Wochenschrift abgedruckt wurde. Der Titel lautete „Der Jurist und das autonome Recht des Welthandels“.3 Hans Großmann-Doerth wird bis heute zitiert, vor allem mit seiner polemischen Schrift „Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft“.4 Auch der Überseeclub in Hamburg blüht – nach einer Zwangspause in den Jahren 1933 bis 1948 – bis heute, und heute noch könnte Großmann-Doerth vor den kosmopolitischen Mitgliedern dieses Clubs einen Vortrag mit diesem Thema halten. Ja: Er könnte damit als Vortragsreisender um die Welt ziehen. Denn die lex mercatoria ist, wie man heute wohl sagt, „in“ (früher hätte man die Worte „en vogue“ bevorzugt). Für Deutschland will ich nur die so sachkundigen wie zahlreichen Arbeiten von Klaus Peter Berger nennen (etwa dreißig sind mir bekannt),5 nicht übergangen sei aber auch die nur eine, aber besonders lesenswerte Monographie von Ursula Stein.6 Die lex mercatoria oder doch die ihr zugewandte Aufmerksamkeit wird als Antwort auf das Phänomen der Globalisierung empfunden:7 Als ein teils ungeschriebenes, teils von internationalen Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Band I, 1936 (1964), S. 36. Ishizaki, Le droit corporatif international de la vente de soies (1928), 3 Bände, 3447. 3 Großmann-Doerth, Der Jurist und das autonome Recht des Welthandels, JW 1929, 3447. 4 Großmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht (1939). 5 Vgl. etwa Berger, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnationalen Rechts (1996); ders., European Private Law, Lex mercatoria and Globalization, in: Hartkamp/Hesslink/Hondius (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 43 ff. 6 Stein, Lex mercatoria (1995). 7 De Ly, Emerging New Perspectives Regarding Lex mercatoria in an Era of Increasing Globalizations, in: Berger/Ebke/Elsing/Großfeld/Kühne (Hrsg.), Fest1 2
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Handelsorganisationen ausformuliertes „Weltrecht“ wirft die lex mercatoria ihr Licht über die engen Winkel der einzelstaatlichen Rechtsordnungen. Wenn man ihren Propheten glaubt, hat sie sich ein Weltreich geschaffen, in dem die Sonne nicht untergeht. Selbst das Internationale Privatrecht, das nach herkömmlicher Sicht ja nichts anderes ist als durchaus nationales, dem „conflict of laws“ gewidmetes Kollisionsrecht, erscheint neben ihr als überwindbarer Bestandteil juristischer Kleinstaaterei. Kosmopolitische lex mercatoria als Überwinderin juristischer Kleinstaaterei: wer wollte da nicht dabei sein? 2. Kritiker
Aber es gibt nicht nur Künder, sondern auch Kritiker der lex mercatoria. Drei aus deutscher Sicht prominente Beispiele will ich nennen: a) Frederick Alexander Mann (1907–1991), Rechtsgelehrter, deutschenglischer Emigrant, Rechtsanwalt und Londoner Solicitor und in unserer Frage Opponent des nicht minder berühmten Clive M. Schmitthoff 8 lehnte die Maßgeblichkeit einer autonomen lex mercatoria rundherum ab. Seine Devise lautete: „lex facit arbitrum“,9 und die „lex“ ist staatliches, nicht ein durch Usancen der Kaufmannschaft gebildetes Recht. b) In der Zeitschrift „Internationales Handelsrecht“ war vor zwei Jahren zu lesen, die Theorie der sog. „lex mercatoria“ sei „der Versuch einer Renaissance der lex mercatoria des Mittelalters. Wie ein Geisterschiff treibt dieser Begriff durch die internationale handelsrechtliche Diskussion – sich in Nichts auflösend, wenn man ihn genau betrachten will. Nostalgisch knüpft er an Handelsusancen an, die in schrift für Sandrock (2000), S. 179 ff.; Berger/Dubberstein/Lehmann/Petzold, Anwendung Transnationalen Rechts in der internationalen Vertrags- und Schiedspraxis, ZVglRWiss 101 (2002), 12; Gopalan, New Trends in the Making of International Commercial Law, in: University of Pittsburgh, The Journal of Law and Commerce 2004, 117 ff. 8 Schmitthoff, International Business Law: A New Law Merchant, CLSP 2 (1961), 129 ff.; ders., Das neue Recht des Welthandels, RabelsZ 28 (1964), 47 ff. 9 F. A. Mann, Schiedsrichter und Recht, in: Jakobs/Knobbe-Keuk u. a. (Hrsg.), Festschrift für Flume I (1978), S. 593, 595 ff.; ders., Internationale Schiedsgerichte und nationale Rechtsordnung, ZHR 130 (1968), 97, 101.
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Zeiten entwickelt wurden – und entwickelt werden mussten –, in denen es praktisch an jeder Rechtssetzungsautorität fehlte“.10 Der Autor dieser harschen Kritik ist weder ein weltabgewandter Theoretiker noch ein auf das nationale Recht versessener Instanzrichter, sondern Rolf Herber, ein erfahrener Mann der Gesetzgebung, als Professor langjähriger Direktor des Hamburger Seerechtsinstituts, Kommentator des internationalen Kaufrechts und international operierender Rechtsanwalt. Als „Irrlicht“, nicht als Leuchtturm, bezeichnet Herber die lex mercatoria 11 und fasst zusammen: 12 „Ebenso wie die lex mercatoria des Mittelalters kann (…) auch ihre moderne Nachfolgerin – wenn man sie denn überhaupt als einen Sammelbegriff anerkennt – kein normatives Recht sein (…).“ c) Ein besonders prominenter, noch stärker in das Grundsätzliche eindringender Kritiker ist der Osnabrücker Professor Christian von Bar. Nach ihm gibt es keine lex mercatoria.13 Sie könne folglich von keinem Gericht oder Schiedsgericht zur Entscheidungsgrundlage gemacht, ja nicht einmal von den Parteien durch Rechtswahl für maßgeblich erklärt werden.14 Selbst wenn ein Schiedsgericht oder ein staatliches Gericht, den Verführungen der lex-mercatoria-Lehre erlegen, seine Entscheidung als Anwendung der vorgeblichen mercatoria begründe, könne dies nicht als Anwendung einer lex mercatoria als Rechtsquelle, sondern nur als eine Fehlbegründung angesehen werden. „Denn etwas, das nicht existiert, lässt sich auch nicht dadurch schaffen, dass man ihm einen Namen gibt.“ 15 „Die ‚lex‘ mercatoria als eine Summe von Rechtsregeln gibt es nur in der Phantasie ihrer Erfinder.“ 16 Ja: von Bar geht sogar so weit, dass er von Schadensersatzpflichten der Schiedsrichter spricht, wenn sie einen Schiedsspruch auf die lex mercatoria stützen.17 Herber, „Lex mercatoria“ und „Principles“ – gefährliche Irrlichter im internationalen Kaufrecht, IHR 2003, 1, 5. 11 Der Titel des Beitrags lautet: „‚Lex mercatoria‘ und ‚Principles‘ – gefährliche Irrlichter im internationalen Kaufrecht“. 12 Herber, IHR 2003, 1, 6. 13 v. Bar, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht (2. Aufl. 2003), Band I, § 2 Rdnr. 77. 14 v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 77, § 2 Rdnr. 86. 15 Ebd. 16 v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 84. 17 v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 87. 10
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3. Ein akademischer Streit: also ein überflüssiger Streit?
a) Der Streit ist heil- und hilflos. In der 2000 erschienenen Festschrift für Otto Sandrock findet sich beides in exemplarischer Weise direkt nebeneinander: ein Loblied auf die lex mercatoria von Filip De Ly 18 und eine vernichtende Abrechnung aus der Feder von Detlev von Breitenstein.19 Breitensteins Aufsatz endet mit den Worten: „Vielleicht war die von Goldman flink auf die Bahn gebrachte ‚lex mercatoria‘ eine funkelnde Sternschnuppe, die für eine Zeit die Juristenwelt in Erregung versetzt und zum kritischen Nachdenken veranlasst hat. Hoffen wir, dass sie verglüht, ohne bleibenden Schaden angerichtet zu haben, und dass die internationale Arbitrage wieder zur Ordnung des Rechts zurückfindet.“ b) Wir sehen: Die lex mercatoria löst fundamentalistische Debatten aus, wird von den einen als weltweit gespendeter Segen verherrlicht, von den anderen als Teufelswerk verdammt. Woher mag das kommen? Passt solcher Fundamentalismus zu den mit dem Begriff „lex mercatoria“ verbundenen Fakten? Auf den ersten Blick eignet sich die lex mercatoria nicht zu solcherlei Fundamentaldebatten, denn wenn man auf die Fakten sieht, geht es dabei doch um nichts anderes als um – international anerkannte Usancen (Handelsbräuche und Verhaltensregeln), die teilweise (jedoch eben nur teilweise) von internationalen Organisationen katalogisiert worden sind, sowie um – international gebräuchliche Formulare, Klauseln und Geschäftsbedingungen (auch sie teilweise, jedoch eben nur teilweise, in Katalogen zusammengefasst). Die Existenz dieser Usancen und Regelwerke wird von niemandem bestritten. Dass sie von Fall zu Fall tausendfältige Rechtsstreitigkeiten, vor allem bei Schiedsgerichten, auslösen oder auch bereinigen können, liegt in der Natur der Sache und damit im Bereich der Normalität. Streitigkeiten fundamentalistischer Art sind dagegen durch De Ly, in: FS Sandrock (Fn. 7), S. 179. von Breitenstein, Rechtsordnung und „Lex mercatoria“ – Zur vergeblichen Suche nach einem „anationalen“ Recht für die internationale Arbitrage, in: Berger/Ebke/Elsing/Großfeld/Kühne (Hrsg.), Festschrift für Sandrock (2000), S. 111 ff. 18 19
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und durch unkaufmännisch, weil die kaufmännische Welt bekanntlich auf Streitvermeidung und kooperative Streitschlichtung, nicht auf Elementarkontroversen zielt. Das spricht dafür, das Problem nicht bei den Betroffenen, also nicht bei den Handelsleuten, zu sehen, sondern bei den Juristen. Und genau so verhält es sich auch. Die Maßgeblichkeit der sog. lex mercatoria in der Welt des Handels steht außer Streit, und doch wissen wir Juristen nicht, ob wir lex mercatoria als das akzeptieren sollen, als was sie sich ausgibt: eben als „lex“. Der Grund liegt aber nicht bei der intellektuellen Kleinlichkeit unserer Zunft. Er liegt vielmehr darin, dass das so speziell scheinende Thema der „lex mercatoria“ in Wahrheit ein ganz generelles ist: Es geht bei dem Streit um nicht mehr und nicht weniger als um die Vergewisserung über die Frage: Was eigentlich ist „Recht“? c) Der Streit um die lex mercatoria erscheint hiernach ganz akademisch. Akademisch ist er aber nicht in dem mit diesem Wort meist verbundenen geringschätzigen Sinn. Zugegebenermaßen macht es zwar nachdenklich, wenn Schiedsgerichte ganz unbefangen von der lex mercatoria sprechen, während die akademische Zunft nicht einmal zu wissen scheint, ob es dergleichen gibt. Aber es ist eben doch ein Grundproblem, was es mit dem auf die lex mercatoria gestützten Schiedsspruch auf sich hat. Ist er eine rechtliche Entscheidung, oder ist er es nicht? Viele Vertreter der lex-mercatoria-Lehre wollen von solchen Fragestellungen möglichst nichts hören.20 Und doch kann die Grundfrage unausweichlich werden. 4. Zuspitzung der Diskussion
Die Grundsatzdiskussion über die lex mercatoria ist, wie meistens der Fall bei akademischen Diskussionen, stark zugespitzt. Sie lässt die lex mercatoria im Urteil der einen als einen kosmopolitischen Alleskönner erscheinen, im Urteil der anderen als einen sich als Recht nur verkleideten normativen Hochstapler. Beides wird sich als eine einseitige Übertreibung erweisen. Aber es wäre nicht richtig, über die Diskussion ironisch zu schmunzeln. Auch wenn der nach lex mercatoria entscheidende Praktiker dies in der Mehrzahl der Fälle nicht spürt, kann es eben doch einmal auf Fragen ankommen wie diese: 20
Charakteristisch etwa Stein (Fn. 6), S. 239 f.
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– Ist eine Entscheidung nach lex mercatoria Rechtsanwendung oder bloß ein ex aequo et bono getroffenes Schiedsgutachten? – Setzt eine Rechtsentscheidung nach lex mercatoria voraus, dass diese „lex“ durch Gesetzes- oder Gewohnheitsrecht rezipiert oder durch materielle Verweisung Vertragsinhalt geworden ist? – Können die Parteien eines Vertrags nach Art. 27 Abs. 1 EGBGB, also nach Internationalem Privatrecht, die Anwendung staatlichen Rechts durch Wahl der lex mercatoria ausschließen? – Kann lex mercatoria sogar stärker sein als selbst zwingendes staatliches Recht?
II. Über die „Wirklichkeit“ der lex mercatoria: Realität und Recht 1. Zur empirischen Seite
a) Wenn die Existenz eines Rechtsinstituts so umstritten ist, ist man zunächst geneigt, die Ursache in Defiziten auf der empirischen Seite zu suchen und Abhilfe von dort zu erhoffen. Richtig ist, dass die rechtstatsächliche Bestandsaufnahme wohl niemals zum Ziel gelangen wird. Richtig ist aber auch, dass wir auf der empirischen Seite nicht eben arm dastehen: – Die Unidroit Prinicples of International Commercial Contracts sind der Beginn einer sukzessiven Auflistung von lex-mercatoriaRegeln.21 – Die Dokumente der Internationalen Handelskammer in Paris und vieler privater Organisationen kommen hinzu.22 – Allein die veröffentlichte Praxis der ICC-Schiedsgerichte gewinnt laufend an Konsistenz.23 Vgl. nur Berger (Fn. 5), S. 129 ff. Dazu Stein (Fn. 6), S. 39. 23 Jarvin/Derains (Hrsg.), Collection of ICC Arbitral Awards = Recueil des sentences arbitrales de la CCI 1974–1985 (1990); Jarvin/Derains/Arnaldez (Hrsg.), Collection of ICC Arbitral Awards = Recueil des sentences arbitrales de la CCI 1986–1990 (1994); Arnaldez/Derains/Hascher (Hrsg.), Collection of ICC Arbitral 21 22
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Auch gibt es eine ganze Reihe rechtstatsächlicher Umfragen bei Praktikern (die Befragung von Universitäten, die es gleichfalls gegeben hat, hätte man sich m. E. ersparen können).24 Diese Umfragen sind von großem Nutzen, soweit es darum geht, in welchem Sinne bestimmte Rechtsgrundsätze wie „pacta sunt servanda“, „good faith“ oder „rebus sic stantibus“ im transnationalen Verkehr verstanden und verwendet werden und ob dies ohne Rückgriff auf nationales Recht geschieht. Sie helfen der akademischen Szene auch insofern, als sie den unentbehrlichen Bezug zur Praxis herstellen. b) Aber nicht nur das Vorhandensein der als lex mercatoria bezeichneten Regeln, sondern auch ihre rechtspolitische Notwendigkeit und Berechtigung steht außer Frage.25 Doch über den Rechtscharakter dieser Regeln und über die Autonomie dieses angeblichen Rechts besagen diese Erhebungen nichts. 2. Realisten oder Phantasten?
a) Nichtjuristen werden staunen, wie denn über Regeln gestritten wird, deren Existenz doch offenbar festgestellt werden kann. Aber das geht auch manchen Fachleuten so. In der Literatur wird bemängelt, dass die Positionen pro und contra lex mercatoria durch die Übermacht von Vorurteilen geprägt und gespalten sind.26 Gleichzeitig halten sich Befürworter und Gegner der lex-mercatoria-Doktrin mangelnden Realismus vor: Wie kann man, lautet der Vorwurf der einen, die Augen vor der Existenz international anerkannter Normwerke verschließen? 27 Aber die Gegner kontern: Was ist von Juristen zu halten, die den Unterschied zwischen „factum“ und „ius“ nicht mehr kennen und uns ein bloß in ihrer Phantasie existierendes Recht als Wirklichkeit vorspiegeln? 28 Diese Patt-Situation darf nicht verAwards = Recueil des sentences arbitrales de la CCI 1991–1995 (1997); 1996–2000 (2003); dazu Stein (Fn. 6), S. 169 ff. 24 Überblick bei Berger/Dubberstein/Lehmann/Petzold, ZVerglRWiss 101 (2002), 12, 14 ff. 25 Vgl. nur Berger (Fn. 5), S. 9 ff. 26 Berger/Dubberstein/Lehmann/Petzold, ZVerglRWiss 101 (2002), 12, 13. 27 Vgl. statt vieler Stein (Fn.6), S. 252 ff. 28 Zu dieser Diskussion vgl. Delbrück, Prospects for a „World (International) Law“. Legal Development in a Changing International System, Indiana Journal of Global Legal Studies 2002, 401, 421, 430.
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wundern: Es ist die festgefahrene, außerhalb bloßer Empirie geführte Grundsatzdiskussion, die jede Position bei den Gegnern als Vorurteil und als Wunschdenken erscheinen lässt. b) Nicht viel anders verhält es sich mit der Frage, ob ein Gericht oder Schiedsgericht die Option der Parteien für „lex mercatoria“ als Rechtswahl beim Wort genommen und damit ohne Rückgriff auf nationales Recht entschieden hat. Auch dies scheint uns zunächst durch einen bloßen Blick auf den Text der Entscheidung klärbar. Nicht festgestellt werden kann aber auf diesem Wege, – ob dies Rechtsanwendung oder in Wahrheit eine Entscheidung ex aequo et bono ist, – ob diese Entscheidung, wenn ihr ein nationales Recht unterlegt worden wäre, anders ausgefallen wäre und schließlich – ob die Entscheidung aus diesem Grund unrichtig ist (so die Gegner der lex mercatoria) oder ob sie aufgrund der Geltungskraft transnationalen Rechts richtig ist. Vereinfacht gesprochen: die Feststellung, dass Anwälte und (Schieds-) Richter von der lex mercatoria gesprochen haben, besagt nichts über die Relevanz dieser Worte. 3. Zwischenergebnis
Was folgt aus den bisher angestellten Überlegungen? Wir kennen das als lex mercatoria bezeichnete Phänomen. Wir wissen, dass es existiert und dass die lex mercatoria als Summe von international akzeptierten Regeln eine achtbare, nützliche Sache ist. Und doch stellen wir fest, dass wir genau das nicht wissen, worum es uns geht. Das aber bedeutet, dass uns noch die beste Aufbereitung der Rechtstatsachen der theoretischen Frage nicht enthebt: Ist das, was rechtstatsächlich festgestellt, als „lex mercatoria“ bezeichnet und bei Rechtsstreitigkeiten zugrundegelegt wird, auch im Rechtssinne „lex“? Die Frage ist rechtstheoretischer Art.
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III. Die lex mercatoria auf dem rechtstheoretischen Prüfstand 1. Defizite im Vergleich zu staatlichem Recht
Nach den Maßstäben staatlichen Rechts weist die lex mercatoria als Rechtsquelle eine Reihe dramatischer Mängel auf: a) Charakteristisch für die lex mercatoria ist zunächst das Fehlen einer systematischen Ordnung.29 Kritisiert wird deshalb, dass es „die“ lex mercatoria, von der immer wieder gesprochen wird, gar nicht gibt.30 Was wir vorfinden, ist ein Flickenteppich, nicht ein Rechtssystem. Dies kann aufgrund der Natur der Sache nicht anders sein, ist deshalb auch nicht als ein Vorwurf gemeint. Aber die Augen darf man vor diesem vor allem im kontinentaleuropäischen Recht empfundenen Mangel nicht verschließen. Dieser Mangel wird selbst dann noch erkennbar, wenn von der Kodifikation der lex mercatoria gesprochen wird. Unter Kodifikationswerken stellte man sich anfangs lückenlose, heute stellt man sich darunter jedenfalls systematisch angelegte Gesetzgebungswerke vor.31 Die lex mercatoria entbehrt nun von Haus aus solcher Systematik, weil sie eben ein Produkt der Wirklichkeit, nicht ein Produkt des Verstandes ist. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn für die „Kodifikation“ der lex mercatoria eine neue „Kodifikationstechnik“ vorgeschlagen wird: die Technik der Liste.32 Solche Listen werden, soweit erste Ansätze vorhanden sind, auch von Praktikern begrüßt als Hilfsmittel für „tackling the lex (mercatoria) and wrestling it into usable shape“.33 In Köln gibt es ein „Center for Transnational Law“, das eine „Transnational Law Data Base“ vorhält.34 Diese Vorgänge werden als „schleichende“, besser wohl „dynamische“ Kodifikation der lex mercatoria angepriesen.35 Es ist aber mit Händen zu greifen, dass dies mit der Schaffung von KodifikationsKritik deshalb bei v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 75. Ebd. 31 Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee (1985). 32 Berger, Lex mercatoria Online, RiW 2002, 256, 258 ff. und öfter. 33 Fortier, Arbitration International 2001, 121, 127, zitiert nach Berger, RIW 2002, 256 ff., Fn. 27. 34 Dazu Berger, RiW 2002, 256 ff. 35 Berger, RiW 2002, 256, 261 f. 29 30
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werken im klassischen Sinne nichts zu tun hat.36 Das Defizit besteht nicht einfach nur darin, dass es schwer ist, sich in solchen Listen zurechtzufinden.37 Es besteht in der vollständigen Andersartigkeit der lex mercatoria im Verhältnis zu kodifiziertem Recht und damit in ihrer prinzipiellen Kodifikationsfremdheit. b) Aber es ist nicht nur die fragmentarische Zerrissenheit der lex mercatoria, die sie von kodifiziertem Recht unterscheidet. Auch inhaltlich kann sich die lex mercatoria nur in Grenzen mit staatlichem Recht messen. Blickt man in die Collection of ICC Arbitral Awards,38 dann fällt auf, dass es inhaltlich durchweg um die Anerkennung und Konkretisierung von Generalklauseln geht, die dem staatlichen Recht keineswegs fremd sind: „general principles of good faith“ (Band III, S. 512), „confidentiality“ (Band III, S. 512), „rebus sic stantibus principle and its exclusion“ (Band I, S. 297), „obligation to mitigate damages“ (Band III, S. 459).
Kaum dagegen ist von strengen und präzisen Regeln die Rede wie von solchen über Zinssätze.39 Aus diesen Gründen ist den auf lex mercatoria gestützten Schiedssprüchen regelmäßig nicht anzusehen, ob sie anders gelautet hätten, wären sie auf staatliches Recht gestützt. c) Autonomes, nichtstaatliches Recht wird mehr und mehr auf den Prüfstand der Verfassung gestellt. Für Deutschland gelten die Grundregeln: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Und: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“ (Art. 20 Abs. 3 GG). Kein Wunder also, dass man den staatlichen Gerichten viel weniger als den Schieds36 Mit Bezugnahme auf den Verfasser (vgl. Fn. 31) wird die Liste als „kodifikatorischer Brennpunkt“ bezeichnet bei Berger (Fn. 5), S. 200; ähnlich ders., RiW 2002, 256, 259 („kodifikatorischer Kristallisationspunkt“). Damit ist aber nur ein Wort des Verfassers aufgegriffen, nicht der dahinterstehende Gedanke; ihm kann eine Liste nicht entsprechen. 37 Dazu Berger, RiW 2002, 256, 259. 38 Vgl. dazu Fn. 23. 39 Vgl. Band II, S. 387: „Lex mercatoria does not include such detailed rules as those regarding the rate of interest.“
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gerichten zutraut und zumutet, parlamentarisch nicht legitimiertes Recht anzuwenden. Unsere Grundfrage erweist sich aber gerade darum nur noch klarer als unentschieden. 2. Das Verhältnis zu nationalem Recht
Charakteristisch für die hier aufgezeigten Befunde ist auch die Diskussion über das Verhältnis der lex mercatoria zum nationalen Recht. Die Literatur sucht sich in eine theoretische Systematik zu retten: 40 – Die sog. Negativitätstheorie weist der lex mercatoria weder Vorrang noch Nachrang zu, sondern verweist, soweit überhaupt von Recht gesprochen werden kann, auf das generelle Verhältnis zwischen Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht. – Die sog. Subsidiaritätstheorie wendet lex mercatoria hilfsweise an, wenn nationales Recht durch Rechtswahl ausgeschlossen ist oder wenn es keine Antwort auf die zu klärende Rechtsfrage gibt. – Die sog. Interpretationstheorie hält die lex mercatoria für tauglich zur Konkretisierung auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe im positiven Recht. Diese sog. Theorien helfen wieder nicht weiter. Sie können nicht, wie es die Rechtswelt sonst liebt, in falsche und richtige Theorien aufgeteilt werden. Denn sie schildern – bei Nähe besehen – nur mögliche Funktionsweisen der lex mercatoria. Dass diese Gewohnheitsrecht im ganz konventionellen Sinne werden und dann mit staatlichem Recht konkurrieren kann, ist unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar ist, dass offene Rechtsbegriffe wie etwa die Regel von Treu und Glauben durch Regeln der lex mercatoria konkretisiert und ausgefüllt werden können. Und dass etwaige Lücken durch einen Blick auf die lex mercatoria gefüllt werden können, ist auch nicht eben erstaunlich. Das aber bedeutet: Diese Theorien beschreiben nur, was die lex mercatoria kann oder angeblich kann. Alternative Problemlösungen stellen sie nicht dar.
40 Vgl. die – im Detail nicht ganz übereinstimmende – Aufstellung bei Ehricke, Zur Einführung – Grundstrukturen und Probleme der lex mercatoria, JuS 1990, 967.
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3. Rechtsquellenlehre
a) In der traditionellen Rechtsquellenlehre ist kein Raum für das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft als eigenständige Rechtsquelle. Die Rechtsquellenlehre beantwortet im wesentlichen zwei Fragen: – Sie unterscheidet erstens Rechtsnormen von Nicht-Rechtsnormen (z. B. von ethischen Normen oder von bloßen Verkehrssitten). – Sie bringt zweitens die Normen in eine hierarchische Ordnung. Die lex mercatoria ist in beiderlei Hinsicht ein Sonderling. Sie nimmt für sich Rechtsnormqualität in Anspruch, die ihr von Kritikern bestritten wird. Und sie drängt sich nach Auffassung mancher in mancherlei Fällen in das staatliche Recht hinein, u. U. gar vor dieses Recht. Beides wird ihr in der tradierten Rechtsquellenlehre versagt. Nur unter den für die Anerkennung von Gewohnheitsrecht geltenden Voraussetzungen kann die lex mercatoria hiernach zu Recht erstarken. Im übrigen sind Handelsbräuche kraft nationalen Rechts für rechtserheblich erklärt (§ 346 HGB). b) Der staatliche Gesetzgeber hat schon im 19. Jahrhundert versucht, der lex mercatoria Herr zu werden, indem er die Berücksichtigung von Handelsbräuchen durch die Gerichte vorschrieb. In Deutschland schreibt das Handelsgesetzbuch von 1897 (§ 346 HGB) ebenso wie sein Vorgänger von 1861 (Art. 279 ADHGB) vor, dass auf Handelsbräuche Rücksicht zu nehmen ist. Und Art. 28.4 des UNCITRAL Modellgesetzes für die Schiedsgerichtsbarkeit enthält eine ähnliche Regelung: „In all cases, the arbitral tribunal shall decide in accordance with the terms of the contract and shall take into account the usages of the trade applicable to the transaction.“ Es gehört zu den Charakteristika unseres Themas, dass Normen wie diese selbst als Bestandteil der lex mercatoria gelten können und doch im selben Zuge den Rechtscharakter der lex mercatoria in Zweifel stellen: Ist nicht die Verweisung des Gesetzes auf Handelsbräuche das beste Kennzeichen für die Autorität des Gesetzes und nur des Gesetzes … auch über die lex mercatoria? c) Verteidiger des staatlichen Rechts wollen die lex mercatoria gleichsam in das staatliche Recht zurückholen, sie ihm unterwerfen. Bei v. Bar ist zu lesen: „Das staatliche Recht hat stets das letzte Wort; was es nicht autorisiert, das hat – gerade auch im demokratischen Staat –
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keine Geltungschance“.41 Insbesondere die von den Verbänden der internationalen Wirtschaft selbstgeschaffenen Regeln können nach v. Bar keine andere Qualität haben als z. B. Vertragsabsprachen, Vereinssatzungen oder einheitlich praktizierte Allgemeine Geschäftsbedingungen.42 Ihre Verbindlichkeit beruht einzig auf der vom staatlichen Recht konzedierten Privatautonomie, ist also nicht autonom vom Staat.43 Das ist in sich schlüssig. Wiederum aber ist zu bemerken, dass die lex mercatoria genau die Prämissen dieser Sichtweise in Frage stellt. Über sie ist zu streiten. IV. Staatliches und autonomes Recht: Gibt es ein Rechtsetzungsmonopol des Staats? 1. Lex mercatoria als kulturgeschichtliches Phänomen
a) Die lex-mercatoria-Diskussion kann nicht verstanden werden ohne einen Rückgriff auf die rechtliche Kulturgeschichte. Als Vorbild der modernen lex mercatoria gilt das einheitliche Welthandelsrecht des Mittelalters.44 Vor dem Erstarken der Nationalstaaten mit ihren die Regionen verbindenden, aber die Nationen teilenden Rechtssystemen stand die Maßgeblichkeit der als lex mercatoria anerkannten Rechtsregeln im überregionalen Handel außer Frage. Das „ius mercatorum“ – teils aus Handelsbräuchen entstanden – wurde in der richterlichen Praxis ohne weiteres angewendet.45 Der Vergleich der neuen mit dieser alten lex mercatoria liegt heute, da nationales Recht im buchstäblichen Sinne an seine Grenzen stößt, nur zu nahe. Klar sein muss man sich allerdings darüber, dass die Normqualität des mittelalterlichen „Welthandelsrechts“ heutigen Maßstäben in keiner Weise entsprechen konnte, denn: – Der räumliche Geltungsbereich dieses „Welthandelsrechts“ war begrenzter und doch gleichzeitig unübersichtlicher als die vernetzte Weltwirtschaftsordnung von heute. v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 76. Ebd. 43 Ebd. 44 Dazu etwa Berger, Einheitliche Rechtsstrukturen durch außergesetzliche Rechtsvereinheitlichung, JZ 1999, 369, 370 f.; Stein (Fn. 6), S. 4. 45 Näher Blaurock, Übernationales Recht des Internationalen Handels, ZEuP 1993, 247, 249 ff. 41 42
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– Das lokale Recht, insbesondere das der mittelalterlichen Stadtrechte, war seinerseits von kodifikatorischem Ehrgeiz weit entfernt. Die Schlagkraft der mittelalterlichen lex mercatoria musste unter solchen Auspizien eine andere, noch ziemlich unproblematische sein. Gleichwohl bleibt die kulturgeschichtliche Anknüpfung interessant. b) Eine Reihe unterschiedlicher Effekte drängte sodann in ihrem Zusammenwirken die lex mercatoria zurück, nämlich: – die Entstehung der Nationalstaaten, – der damit verbundene Merkantilismus, – die allmählich entstehenden, abschließend gedachten Kodifikationen, – die Perfektionierung des internationalen Privatrechts als Kollisionsrecht, – die Akademisierung des Rechts und, mit all dem zusammenhängend, – das Entstehen einer streng legistischen Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Das Ergebnis alles dessen ist eine Kulturleistung, die wir nicht gering schätzen dürfen: – Die Nationalstaaten sorgten für eine durch Staatsmacht kontrollierte, heute demokratisch legitimierte Rechtsordnung. – Der Merkantilismus führte zu einer sich zunehmend öffnenden Konkurrenz von Rechts- und Wirtschaftssystemen. – Die Kodifikationen brachten Geschlossenheit, Systematik und Rechtssicherheit. – Die Akademisierung des Rechts und die juristische Methodenlehre gewährleistete ein rechtsstaatlich fundiertes, hierarchisches, der Rechtssicherheit dienendes Normensystem. Alles, was vor allem in Deutschland als Zivilrechtsdogmatik verstanden wird, hat hier seine Wurzeln und Stärken … jedoch eben auch seine Grenzen und Defizite!
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2. Das Wiederaufkommen der Diskussion
a) Die aktuelle Diskussion um die lex mercatoria begann in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem von französischem, englischem und deutschem Boden aus. Die Rede war von einem Recht „d’origine purement professionelle“ (Goldman), und festgestellt wurde: „Il existe un droit dont la source est ailleurs que dans l’Etat“ (Philippe Kahn).46 Clive M. Schmitthoff sprach von einem von Schiedsgerichten praktizierten und geschaffenen „neuen Recht des Welthandels“,47 und 1973 war in der Schmitthoff-Festschrift zu lesen: 48 „Commercial law is no longer created by parliaments alone, its makers being also those who take part in business, so that views are confronted outside classical agencies and law-creating methods“ (Goldstajn). Das Ergebnis dieser Renaissance kennen wir schon: Es besteht in einer inspirierenden Öffnung des Blicks und zugleich in der heillosen Fundamentaldebatte, die hier konstatiert wurde. b) Um uns in dieser Pattsituation wenigstens zu orientieren, sollten wir die Fehler vermeiden, die beiderseits die Verständigung unter den streitenden Lagern erschweren. – Wir sollten uns hüten vor naiver Empirie: Das Vorhandensein von Regeln besagt noch nicht, dass wir es mit Recht zu tun haben. – Hüten sollten wir uns aber auch vor doktrinärem Fundamentalismus: Unser auf staatliches Recht fixiertes Verständnis darf uns nicht eingeben, es könne kein anderes Recht geben als das staatliche. Denn unser Rechtsverständnis ist historisch determiniert, folglich auch veränderlich.
V. Versuch einer Orientierung 1. Autoritäre und anarchische Wurzeln des Rechts
a) Alles Recht – jedenfalls alles Privatrecht – speist sich aus zwei Quellen: aus dem rechtspolitischen Willen des mit NormsetzungsbeBelege bei v. Bar (Fn. 13), § 2 Rdnr. 73 f. Schmitthoff, Das neue Recht des Welthandels, RabelsZ 28 (1964), 47 ff. 48 Goldstajn, The New Law Merchant Reconsidered, in: Fabricius (Hrsg.), Festschrift für Schmitthoff (1973), S. 171, 176 f. 46 47
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fugnis ausgestatteten Gesetzgebers und aus dem Rechtsgeltungswillen der Rechtsgemeinschaft. In die Gestaltung des Rechtsstoffs teilen sich damit autoritäre und anarchische, gleichsam naturwüchsige Kräfte. Selbst staatliche Gesetzgebung ist nicht ausschließlich Umsetzung rechtspolitischen staatlichen Willens, sondern stets zu einem guten Teil Sammlung und Autorisierung naturwüchsigen Rechtsstoffs.49 Die Europäischen Kodifikationswerke haben versucht, diese ganz unterschiedlichen Quellen des Rechtsstoffs – also die auf Staatsmacht und die auf dem Willen der Rechtsunterworfenen beruhenden Anteile des geltenden Rechts – unter einer paternalistischen Staatsgewalt systematisch zusammenzuführen. Selbst die Berücksichtigung von Handelsbräuchen, die keine Rechtsnormen im klassischen Sinne sind, wurde gesetzlich angeordnet (Art. 279 ADHGB 1861, § 346 HGB) und wird als Ausdruck von Gesetzestreue der Gerichte verstanden. So wurde der naturwüchsige Anteil am Recht durch die staatlichen Kodifikationswerke verdeckt, und doch wurde diese zweite Quelle des Rechts niemals verstopft. Deshalb sind – Case Law, – Rechtsfortbildung durch Gerichte und Vertragsgestalter, – Gewohnheitsrecht und – die Respektierung der von nicht-staatlichen Organisationen aufgestellten Codices nicht Zeichen zerbrechender Gesetzesautorität und Gesetzestreue, sondern Emanationen dieser zweiten, neben dem Gesetzesrecht unablässig sprudelnden Quelle des Privatrechts. b) Auch die lex mercatoria erscheint in diesem Licht nicht als bloßes Faktum, nicht als bloß außer- oder unterrechtliches Regelwerk, sondern sie bereichert den naturwüchsigen, durch staatliches Recht nur verdeckten, aber niemals beseitigten Anteil am Rechtsstoff. Ihre Vielfalt besteht darin, dass lex mercatoria – einmal als bloßer (untergesetzlicher) Handelsbrauch, – einmal als bloße Interpretationshilfe, 49 Zu den Interferenzen vgl. auch: Fassberg, The Empirical and Theoretical Underspinnings of the Law Merchant: Lex Mercatoria – Hoist with its own Petard?, Chicago Journal of International Law 2004, 67 ff.
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– dann aber doch auch als autonomes (Gewohnheits-)Recht in Erscheinung tritt. Die Existenz einer staatsunabhängigen Rechtsquelle zu leugnen, hieße der Rechtswirklichkeit Gewalt antun. Bis hierher ist den Befürwortern der lex mercatoria Recht zu geben. 2. Die Frage der Normqualität
Das wahre Problem der lex mercatoria besteht in ihrer nur beschränkten Leistungsfähigkeit, und diese beruht auf ihrer im Vergleich zu den staatlich legitimierten Rechtsquellen geringeren Normqualität. a) Zunächst einmal ist der Rechtscharakter der als lex mercatoria ausgegebenen Regeln ein Kann, nicht in jedem Fall ein Muss. Wo die bloße Vertragsregel, die Verkehrssitte, der Handelsbrauch endet und die Rechtsregel beginnt, wird immer wieder schwer zu entscheiden sein. Das wiederum bedeutet: Der Kaufmann sollte sich auf die Verbindlichkeit, aber der Jurist kann sich nicht auf die Gesetzesgleichheit der lex mercatoria verlassen. Insoweit trägt die lex mercatoria Züge, die wir vom Gewohnheitsrecht kennen. b) Hier nun kommt die schon herausgestellte Normqualität der lex mercatoria zum Zuge, besser gesagt: das Defizit an Normqualität. Wie festgestellt wurde, fehlt es der lex mercatoria an Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit. Hinter ihr steht kein Staat, der den Rechtsunterworfenen eine Einheit der Rechtsordnung – d.h. eine mindestens theoretische Lückenlosigkeit und Widerspruchsfreiheit – garantiert. „Lex“ kann „Rechtsnorm“ heißen, aber auch „Rechtsordnung“. Ein Patchwork von Rechtsnormen aber ist keine Rechtsordnung. Jedes Rechtssubjekt, Rechtsverhältnis und jeder Rechtsstreit darf aber nicht isoliert gesehen werden, sondern ist in eine Rechtsordnung gestellt. Die Frage ist deshalb: Kann die lex mercatoria eine solche Rechtsordnung bereithalten? 3. Grenzen der lex mercatoria
Die Kernfrage der lex mercatoria ist damit keine Frage der Normenhierarchie, sondern eine Frage der Normqualität. Das diesbezügliche Defizit ist weniger den einzelnen lex-mercatoria-Regeln anzusehen als
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der lex mercatoria insgesamt. Eine einzige Regelung – z. B. die Rügelast beim Handelskauf – kann genau so präzis oder genau so generalklauselhaft sein wie eine staatliche Rechtsnorm. Aber diese ist stets in ein Rechtsganzes gestellt, während die lex-mercatoria-Regel ihr rechtliches Umfeld erst noch zu bilden hat. Daraus ziehe ich Folgerungen: a) Eine vertragliche Verweisung auf „lex mercatoria“ ist mehr als die Gestaltung einer Gerichtsentscheidung ex aequo et bono, denn sie darf den Vertrag nicht in einen rechtsfreien Raum stellen. In einen umfassenden Rechtsrahmen ist aber der Vertrag nur gestellt, wenn man ihn – entweder einem allgemeinen, der Idee nach lückenlosen, Welt-Gewohnheitsrecht als ius commune – oder doch einem kollisionsrechtlich zu ermittelnden nationalen Recht unterstellt. Für das Erste scheint es vorerst noch zu früh. Die bestehenden rechtskulturellen Gegensätze sprechen auch unter dem Eindruck der Globalisierung immer noch gegen die Annahme, dass bald ein umfassendes Welt-Gewohnheitsrecht vorhanden sein wird. Deshalb habe ich am Ende doch Verständnis für die Position jener Konservativer, die die vertragliche Option für die lex mercatoria nicht für eine jedes staatliche Recht ausschließende Rechtswahl halten. Lex mercatoria kann staatliches Recht vorerst nur partiell ergänzen und etwaige Lücken des staatlichen Rechts füllen. b) Eine Ersetzung nationalen Rechts durch transnationales Wirtschaftsrecht setzt deshalb als Durchgangsphase eine vorherige Angleichung der nationalen Rechte durch lex mercatoria voraus. Erst wenn diese Phase durchlaufen ist, kann über echte Autonomie der lex mercatoria nachgedacht werden. Vorerst kann die lex mercatoria nur zweierlei sein: teils Ergänzung nationalen Rechts durch Gewohnheitsund Vertragsrecht, teils hoffnungsvoller Baustein für ein vielleicht künftiges Weltrecht. Dieser Befund mag manche Sprecher der internationalen Szene, auf der auch wir uns befinden, enttäuschen. Nach meiner Einschätzung werden ausgerechnet Praktiker besser mit ihm leben können als auf das Grundsätzliche erpichte Theoretiker, weil eben der praktische Nutzen der lex mercatoria nicht von weltrechtlichen Glaubenssätzen abhängt.
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VI. Thesen50 1. Thesen zu Teil I: Ein Streitobjekt wird besichtigt
These Nr. 1: Die lex mercatoria eint die internationale Wirtschaftspraxis und spaltet die Juristenzunft. These Nr. 2: Die Realität der sog. lex mercatoria ist ebenso unbestritten wie ihre rechtliche Relevanz etwa bei der Auslegung internationaler Verträge. Unbestreitbar ist auch, dass vor allem internationale Schiedsgerichte die lex mercatoria nutzen und fortbilden. These Nr. 3: Der Streit, ob es die lex mercatoria überhaupt „gibt“, ist nicht ein Streit um das Vorhandensein dieser Regeln, sondern ein Streit um ihre Rechtsqualität. Die Debatte ist in hohem Maße theoretisch, jedoch zugleich notwendig. These Nr. 4: Die lex mercatoria erscheint in den Augen der einen als kosmopolitischer Alleskönner, in den Augen der anderen als Hochstapler, der sich als Recht ausgibt, ohne dies zu sein. Hinter dieser überspitzten Debatte stehen Fragen wie diese: – Ist eine Entscheidung nach lex mercatoria Rechtsanwendung oder bloß eine ex aequo et bono getroffene „amiable composition“? – Setzt eine Rechtsentscheidung nach lex mercatoria voraus, dass diese „lex“ durch Gesetzes- oder Gewohnheitsrecht rezipiert oder durch materielle Verweisung zum Vertragsinhalt gemacht und erst hierdurch für rechtsrelevant erklärt worden ist? – Können die Parteien eines Vertrags nach Art. 27 Abs. 1 EGBGB die Anwendung staatlichen Rechts durch Wahl der lex mercatoria ausschließen? – Kann lex mercatoria stärker sein als staatliches, selbst zwingendes staatliches Recht?
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Die Thesen lagen den Teilnehmern vor und waren Grundlage der Diskussion.
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2. Thesen zu Teil II: Über die „Wirklichkeit“ der lex mercatoria: Realität und Recht
These Nr. 5: Die rechtstatsächliche Bestandsaufnahme der als „lex mercatoria“ bezeichneten Regeln ist im Detail zwar lückenhaft und wird der Realität ständig nachlaufen. Aber eine taugliche Basis ist vorhanden. Auch die Bezugnahme auf lex mercatoria in Schiedssprüchen und Urteilen ist, wenn auch nicht lückenlos, empirisch belegbar. These Nr. 6: Aber die Kernfrage der lex-mercatoria-Diskussion „Ist die lex mercatoria Recht?“ entzieht sich der rechtstatsächlichen Bestandsaufnahme und Beweisführung. Denn sie zielt nicht auf Fakten, sondern auf eine reine Rechtsfrage. 3. Thesen zu Teil III: Die lex mercatoria auf dem rechtstheoretischen Prüfstand
These Nr. 7: Nach den Maßstäben staatlichen Rechts weist die lex mercatoria eine Reihe dramatischer Defizite auf: – Sie ist ein der inneren Systematik entbehrender Flickenteppich. – Sie ist auch inhaltlich fragmentarisch, in weiten Bereichen nur generalklauselhaft und bleibt damit hinter der Normqualität staatlichen Rechts zurück. – Sie entbehrt, soweit nicht durch materielle Verweisung unter individuellen Parteien zum Vertragsinhalt erhoben, der Legitimation durch demokratisch organisierte und demokratisch verantwortliche Entscheidungsträger. Die Feststellung dieser Defizite trifft die lex mercatoria nicht als unverdienter Vorwurf, sondern sie ist das Ergebnis nüchterner Betrachtung und folgt aus der Natur der Sache. These Nr. 8: Die vorhandenen Theorien über das Verhältnis der lex mercatoria zum staatlichen Recht versprechen keine Lösung der Kernfrage „Ist lex mercatoria Recht?“. Sie beschreiben nur mögliche Wirkungsweisen der lex mercatoria und sind ihrerseits nur Spiegelungen dieser hinter der lex-mercatoria-Diskussion stehenden Frage. These Nr. 9: In der traditionellen Rechtsquellenlehre und in der das 19. und 20. Jahrhundert beherrschenden Methodenlehre der Rechts-
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wissenschaft ist kein Raum für die lex mercatoria als eigenständige Rechtsquelle. Usancen können als Gewohnheitsrecht zu „Recht“ erstarken. Sie können als Handelsbräuche auch vom nationalen Recht für rechtsrelevant erklärt werden (§ 346 HGB). „Als solche“ kann die lex mercatoria hiernach nicht Recht sein. Genau diese rechtstheoretische Prämisse ist aber durch die lex-mercatoria-Diskussion in Frage gestellt. 4. Thesen zu Teil IV: Staatliches und autonomes Recht: Gibt es ein Rechtsetzungsmonopol des Staates?
These Nr. 10: Die traditionelle juristische Methodenlehre ist als postnationale und post-kodifikatorische Theorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu hoher Blüte gelangt. Sie basiert auf den Erfahrungen staatlichen, theoretisch lückenlosen und theoretisch widerspruchslosen Rechts. Folglich befasst sie sich vorwiegend mit der Auslegung und Fortbildung staatlichen, vielfach sogar kodifizierten Rechts. These Nr. 11: Dem Erstarken der Nationalstaaten und dem Entstehen kodifizierten Rechts ist eine vor-nationale, vor-kodifikatorische lex mercatoria vorausgegangen, die durch die nationalen Rechte nicht wirklich verdrängt, aber seit der Kodifikationsepoche immer weniger wahrgenommen wurde. Recht wurde auf Gesetzgebungshoheit und Gesetzgebungshoheit wurde auf den Staat zurückgeführt. These Nr. 12: Die angestammte Methodenlehre der Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik findet hier ihre Wurzeln … aber auch ihre Grenzen! Das Wiederaufkommen der lex-mercatoria-Diskussion in einer Phase der Globalisierung und Entstaatlichung kann deshalb nicht wirklich erstaunen. 5. Thesen zu Teil V: Versuch einer Orientierung
These Nr. 13: In der Rechtswirklichkeit hat es neben staatlich (an-) geordnetem Recht zu jeder Zeit naturwüchsiges Recht gegeben. Gesetzgebung und Rechtstheorie seit dem 19. Jahrhundert haben versucht, dieses naturwüchsige Recht in das nationale Recht zu integrieren. Dies führte zu der Annahme, Recht sei eine nationale, staatlich verantwortete Sache und internationales Privatrecht könne nichts
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anderes sein als zwischen staatlichen Rechten wählendes Kollisionsrecht. Die Begrenztheit dieser Sicht wird nicht nur im Bereich der lex mercatoria, hier aber besonders deutlich, sichtbar. These Nr. 14: Die lex mercatoria erinnert uns daran, dass es zu aller Zeit – auch neben staatlich geordnetem oder gar kodifiziertem Recht – naturwüchsiges Recht gibt. Es gibt einen ständigen Austausch zwischen autoritären und anarchischen Kräften im Recht, einen immerwährenden Wettstreit zwischen staatlichem und naturwüchsigem Recht. Die Rollenverteilung unter diesen Kräften wechselt von Epoche zu Epoche. These Nr. 15: Die lex mercatoria ist nicht bloßes Faktum, nicht außer- oder unterrechtliches Regelwerk, sondern Bestandteil des geltenden und praktizierten Rechts. Sie steht in diesem Sinn auch nicht in einem Subsidiaritätsverhältnis zum staatlichen Recht. Aber die von ihr reklamierte „Autonomie“ stößt auf Grenzen. These Nr. 16: Über die Bedeutung der lex mercatoria neben dem staatlichen Recht entscheidet die „Normqualität“ der lex mercatoria. Gemeint ist hiermit nicht „Normqualifikation“, denn lex mercatoria kann Rechtsnormen generieren. Gemeint ist „Normqualität“ im Sinne eines Qualitätswettbewerbs zwischen hochgezüchteten staatlichen Regelwerken und naturwüchsigem Recht. Hier nun fallen die Defizite der lex mercatoria – insbesondere ihr lückenhafter, auch inhaltlich fragmentarischer Charakter – ins Gewicht. Als Grundlage rechtlicher Entscheidungen taugt die lex mercatoria fast nur im Bereich der Handelsgeschäfte, aber hier kann sie auch kraft materieller Verweisung oder als bloßer Handelsbrauch zum Zuge kommen. Im übrigen muss auch ein auf lex mercatoria verweisender oder ihr sonst unterliegender Vertrag in eine umfassende Rechtsordnung gestellt sein, – sei diese Rechtsordnung ein umfassendes Welt-Gewohnheitsrecht, – sei diese Rechtsordnung ein kollisionsrechtlich zu ermittelndes nationales Recht. These Nr. 17: Solange es kein umfassendes Welt-Gewohnheitsrecht gibt, kann deshalb die lex mercatoria trotz ihres Rechtscharakters die nationalen Rechte nicht verdrängen, also das Kollisionsrecht auch nicht ersetzen. Was im Einzelfall als „Vorrang“ der lex mercatoria vor
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staatlichem Recht erscheinen mag, ist nicht Resultat einer hierarchischen Überordnung. Es kann nur Resultat einer Ergänzung oder Ausfüllung dispositiven Rechts bzw. der Lückenfüllung durch lex mercatoria sein. These Nr. 18: Eine Ersetzung nationalen Rechts durch transnationales Wirtschaftsrecht setzt deshalb als Durchgangsphase eine vorherige Angleichung der nationalen Rechte durch lex mercatoria voraus. Erst wenn diese Phase durchlaufen ist, kann über echte Autonomie der lex mercatoria nachgedacht werden.
§ 13 Kommentar Kittisak Prokati *
Übersicht I. Die Rechtsquellenlehre im thailändischen Recht . . . . . . . . . . 178 II. Stellungnahme zu den Referaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Es freut mich sehr, hier in Tokio zu einem wissenschaftlichen Austausch unter Kollegen der Rechtswissenschaft aus verschiedenen Ländern zu sein und viele namhafte Kollegen aus Deutschland und Japan, aber auch aus anderen Ländern Asiens kennenzulernen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu diskutieren. Was für eine schöne Angelegenheit es ist! Dafür möchte ich mich bei den Veranstaltern – Humboldt-Stiftung, DAAD und auch JSPS – sehr bedanken. Unser Thema, der Status der lex mercatoria als Rechtsquelle, wird oft im Zusammenhang mit der Frage des anzuwendenden Rechts bei internationalen Wirtschaftsstreitigkeiten diskutiert. Man behauptet, dass weder das nationalstaatliche Recht noch das Völkerrecht für die Behandlung solcher Streitigkeiten geeignet sei. Daher bietet sich eine lex mercatoria – oft als „transnationales Recht“ bezeichnet – als eine reizvolle alternative Rechtsordnung an, die aus einer Kombination von handelsrechtlichen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheiten besteht, welche entweder spontan aus dem Handeln entstanden sind oder im Rahmen handelsrechtlicher Überlegungen sorgfältig ausgearbeitet worden sind. Es ist aber noch streitig, ob und inwieweit solche Rechtsgrundsätze und Gewohnheiten staatsunabhängig als eigenständige Rechtsquelle existieren. Zu dieser Frage könnte man entweder mit Schmitthoff sagen, dass eine lex mercatoria als ein Teil der nationalstaatlichen Rechtsordnung anzusehen ist, in deren Rahmen eine selbständige, für internationale
* Für die freundliche Durchsicht dieses Beitrags dankt der Verfasser Herrn Professor Ulrich Loewenheim, Frankfurt am Main.
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kommerzielle Geschäfte anwendbare Rechtsordnung besteht.1 Oder man kann noch eine Stufe weiter mit Goldman gehen und meinen, dass eine lex mercatoria eine selbständige Rechtsordnung darstellt, die sich auf kein nationales Rechtsystem zu beziehen braucht.2 Darüber hinaus, insbesondere bei Rechtsverhältnissen zwischen Staaten und Privatunternehmern, spricht man sogar von lex mercatoria als einem neuen Zweig des Völkerrechts.3 Diese Frage werde ich aus thailändischer Sicht behandeln. Mein Beitrag zu diesem Thema besteht aus drei Teilen, nämlich erstens aus einem Überblick über die Rechtsquellenlehre im thailändischen Recht, zweitens aus einer eigenen Stellungnahme und drittens aus einem Ausblick auf die Zukunft.
I. Die Rechtsquellenlehre im thailändischen Recht Die Frage, ob die lex mercatoria eine unabhängige Rechtsquelle ist, wurde in Thailand nicht diskutiert. Dies ist auf die historische Entwicklung des thailändischen Rechts zurückzuführen. Schon vor der privatrechtlichen Kodifikation in Siam (1925) wurde die lex mercatoria von der thailändischen Rechtsprechung teils als Handelsbrauch, teils als ein Teil der „allgemeinen von der zivilisierten Rechtsgemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätze“ ins thailändiSchmitthoff, International Business Law: A New Law Merchant, in: Chia-Jui Cheng (Hrsg.), Schmitthoff’s Select Essays on International Trade Law (1988), S. 20; Schmitthoff, Nature and Evolution on the Transnational Law of Commercial Transactions, in: Horn/Schmitthoff (Hrsg.), The Transnational Law of International Commercial Transactions: Studies in Transnational Economic Law, Band II (1988), S. 19, 22, in seinem Wortlaut: „transnational law is the uniform law developed by parallelism of action in the various national systems in an area of optional law in which the state in principle is disinterested“. 2 Goldman, The Applicable Law: Gerneral Principles of Law: the Lex Mercatoria, in: Lew (Hrsg.), Contemporary Problems in International Arbitration (1986), S. 113, 116. 3 Fatouros, Government Guarantees to Foreign Investors (1962), S. 287. Dies wurde von Dupuy aufgenommen, der meinte „contracts between States and private persons, under certain conditions, come within the ambit of a particular and new branch of international law: the inernational law of contracts.“ Siehe Texaco Overseas Petroleum Co. v. Libyan Arab Rep., 53 I.L.R (1977). 389, 446–49. 1
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sche Rechtsystem aufgenommen.4 Die Frage nach der Rechtsqualität der lex mercatoria wurde seit der Kodifikation des Zivil- und Handelsgesetzbuchs Thailands (ZHGB-TH) selten gestellt. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die Rechtsquelle, die Auslegung und die Anwendung des Rechts in Artikel 4 des thailändischen Zivil- und Handelsgesetzbuchs gesetzlich geregelt ist. Nach Artikel 4 ZHGB-TH findet das Recht auf den Fall unter der Voraussetzung Anwendung, dass der Tatbestand der Streitigkeit dem Recht entspricht. Als erste Rechtsquelle gilt die Gesetzesvorschrift, die nach ihrem Wortlaut oder Zweck anzuwenden ist. Fehlt eine entsprechende Vorschrift, kommt das Gewohnheitsrecht zur Anwendung. Besteht ein Gewohnheitsrecht nicht, dann soll die den Fall zwar nicht direkt regelnde, aber der Natur der Sache nach am nächsten stehende Vorschrift analog angewendet werden. Findet man keine nahe stehende Vorschrift, dann sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze anzuwenden. Aufgrund dieses Art. 4 ZHGB-TH erkennt die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung Thailands die lex mercatoria als ein aus dem internationalen Handel gewachsenes Gewohnheitsrecht, als einen Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze Thailands an,5 insbesondere beim Handelsgesellschaftsrecht, Kreditsicherungsrecht, Seetransportsrecht, Wertpapierrecht, und ähnlichen Rechtsgebieten. Fehlt ein anwendbares nationales Recht, so findet die lex mercatoria direkt als ein Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze Anwendung. Natürlich kommt es darauf an, ob die jeweilige lex mercatoria eine Normqualität hat, die erstens von der zivilisierten Rechtsgemeinschaft anerkannt wird, zweitens beiden Parteien bekannt und in der Praxis beachtet wurde, und drittens nicht gegen die öffentliche Ordnung Thailands verstößt. 4 Z. B. Dika 1150/2477 (1932) weist darauf hin, dass ein vor Inkrafttreten des ZHGB-TH (1925) abgeschlossener Vertrag ohne consideration nach dem damals in Thailand geltenden, auf dem Vorbild des englischen Common Law beruhenden Recht gerichtlich nicht einklagbar war; Dika 136/2481 (1938), Dika 661/2481 (1938) sowie Dika 336/2502 (1959) bezeichnen den dem englischem Recht nachgebildeten Trust als eine Rechtsfigur des vor Inkrafttreten des ZHGB-TH geltenden Rechts Thailands. 5 Dika 863/2481 (1938) legt eine thailändische Gesetzvorschrift in der Weise aus, dass das Gericht sich auf die anerkannte Tradition des Kreditinstituts nach französischem Recht stützt; Dika 999/2496 (1953) wendet englisches Seefahrtrecht als einen allgemeinen Rechtsgrundsatz Thailands an.
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Handelsbräuche und Geschäftsgewohnheiten, die noch nicht als internationales Gewohnheitsrecht anerkannt sind, werden gemäß der Regelung über die Vertragsauslegung (Art. 368 ZHGB-TH) als ein Teil des Vertrags angesehen. Aus der Sicht des thailändischen Gesetzbuchs ist daher die Tür für eine lex mercatoria als Rechtsquelle durch die gesetzliche Regelung und durch die Anwendung juristischer Methoden geöffnet. Die lex mercatoria steht damit in einer engen Verbindung zur nationalen Rechtsordung und kann unmittelbar zur Anwendung kommen. Welches Recht auf einen bestimmten Fall anwendbar ist, bleibt eine Frage der juristischen Subsumption.
II. Stellungnahme zu den Referaten Mit den Ausführungen von Herrn Kollegen Schmidt und Herrn Kollegen Kansaku stimme ich grundsätzlich überein. Es ist klar, dass die lex mercatoria durch Parteiwillen ihre Geltung erlangen kann, aber sie kann das nationale Recht – insbesondere das ius cogens – nicht verdrängen, ausschließen oder ersetzen. Die globale Marktwirtschaft bedarf immerhin der Kontrolle und Korrektur durch die „sichtbare Hand des Rechts“. Der Staat hat auch ein Interesse am ordre public und erlaubt es den Parteien nicht, dem ius cogens auszuweichen. Aber mit der Weiterentwicklung der Globalisierung muss man von einem starren staatlichen Gebots-Verbots-Dualismus wegkommen. Die flexibleren Steuerungsmechanismen in Form von soft law der Marktwirtschaft, wie Herr Kollege Kansaku sie dargestellt hat, sind sehr aussichtsreich. Die lex mercatoria ist keine starre Ordnung, sondern eher eine aus den berechtigten Erwartungen der Parteien erwachsende und festzustellende kaufmännische Rehtsordnung. Dies kann man als „law in the Making“ bezeichnen. Mit Lando soll man die lex mercatoria nicht als eine komplette, sondern als eine allmählich durch juristische Entscheidungensverfahren entstehende Rechtsordnung betrachten.6 Diese tritt durch die Angleichung des nationalen Privatrechts, insbesondere durch die Lehre, als die „ProzeduraSiehe Lando, The Law Applicable to the Merits of the Dispute, in: Sarcevic (Hrsg.), Essays on International Commercial Arbitration (1989), S. 129, 147–150. 6
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lisierung des Wirtschaftsrechts“ mehr und mehr in den Vordergrund. Die Rechtsqualität der lex mercatoria kann deshalb besser durch die Lehre und dann entweder durch die schiedsrichterliche Rechtsfindung oder durch die Rechtsprechung gewährleistet werden. Nur durch ein solches Entdeckungsverfahren der Rechtsgemeinschaft kann die Rechtsqualität einer lex mercatoria anerkannt werden. Die wichtige Rolle der Lehre kann durch ein Beispiel aus einer Entscheidung des thailändischen höchsten Gerichts im Jahre 1994 belegt werden.7 Nach Art. 456 Abs. 2 ZHGB ist ein Kaufvertrag mit einem Kaufpreis über 500 Baht (d. h. ca. 1500 Yen oder ca. 10 Euro) nur gerichtlich einklagbar, wenn der Kauf entweder in Form einer schriftlichen vom Schuldner unterschriebenen Beweisurkunde, oder mit Draufgabe sowie Teilleistung abgeschlossen ist. Ein bloß mündlich abgeschlossener Kauf ist nicht einklagbar. Hier spürt man den Einfluss des französischen Code Civil und der consideration doctrine des englischen Common Law. Der Sachverhalt des Falls ist folgender: Eine schweizerische Firma hatte per Fernschreiben (Telex) mehrere Tonnen Reis bei einer Firma in Thailand bestellt. Sie hatte vom Verkäufer eine Bestätigung des Kaufabschlusses per Fernschreiben erhalten. Auf die Bitte des Verkäufers hatte der Käufer bei seiner Bank ein Akkreditiv zu Gunsten des Verkäufers in Thailand eröffnet. Nachdem der Verkäufer überhaupt nicht leistete, wollte der Käufer den Verkäufer auf Leistung und Schadensersatz in Thailand verklagen. Als Beweis hatte der Käufer aber nur ein vom Verkäufer abgegebenes Bestätigungsschreiben über den Kaufabschluss per Telex. Da dies keine Unterschrift des Verkäufers enthielt, hat das höchste Gericht entschieden, dass dies zwar als Vertrag anzusehen ist, aber ohne die Unterschrift des verantwortlichen Schuldners oder irgendeine Teilleistung nicht gerichtlich einklagbar ist. Diese Rechtsprechung wurde von der Lehre und Handelspraxis heftig kritisiert.8 Die herrschende Meinung meint, dass die Rechtsprechung das Gesetz zwar seinem Wortlaut nach gesetzestreu aber im Ergebnis Dika 3046/2537 (1994). Die heftige Kritik an dieser Entscheidung führte dazu, dass der Gesetzgeber 2001 ein Gesetz über E-Commerce erließ. Danach sollte dem durch ein elektronisches Verfahren erzeugten Schreiben nicht bloß wegen der Anwendung des elektronischen Verfahrens seine Eigenschaft als Schriftstück aberkannt werden. 7 8
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falsch angewendet habe. Eigentlich hätte die Rechtsprechung die Vorschrift nicht anwenden sollen, da diese Vorschrift für den Fall gedacht war, dass Zweifel darüber bestehen, ob die Parteien wirklich den Abschluss eines Kaufvertrages gewollt haben. Bei Fehlen eines schriftlichen Beweises oder einer Teilleistung sollten keine Zeugen zur Klage mündlich vor Gericht gehört werden; aus diesem Grunde sollte ein solcher Fall nicht einklagbar sein. In diesem Fall besteht aber ein klarer ernsthafter Wille beider Parteien. Daher sollte der Klageausschluss nach Art. 456 Abs. 2 ZHGB-TH hier keine Anwendung finden. Im Gegensatz dazu hätte der Grundsatz der Vertragsfreiheit angewendet werden sollen. Außerdem ist es in Thailand gang und gäbe, dass zwischen Kaufleuten Kaufgeschäfte ohne schriftlichen Beweis abgeschlossen werden. Leistet der Verkäufer nicht, so wird dies zwar nicht durch ein staatliches Gericht sanktioniert, aber der Fall wird bekannt werden und der gute Ruf des Kaufmanns wird entscheidend beeinträchtigt werden. Hätte der diesen Fall zu entscheidende Richter einen Blick in die rechtsvergleichenden Literatur geworfen und nicht nur das Gesetz schlechthin angewendet, so hätte er unter Zuhilfename der rechtsvergleichenden Erkenntnisse die Einsicht gewinnen können, dass der Tatbestand der Vorschrift nicht entspicht und er hätte zu einem anderen Ergebnis kommen können. Hätten die Parteien die Anwendung eines ausländischen Rechts, der lex mercatoria oder CISG vereinbart, hätte es aber zum selben Ergebnis kommen können, wenn die ausreichende rechtsvergleichende Einsicht gefehlt hätte. Um die Durchsetzung in Thailand zu sichern, würde der Schiedsrichter oder Berufsrichter die Unterschrift der Schuldner verlangen. Da man die genannte Vorschrift als ius cogens bezeichnen kann, würde der Schiedsrichter oder Berufsrichter meinen, dass ein ohne Unterschrift der haftenden Partei abgeschlossener Vertrag nicht einklagbar ist. Die Wahl eines fremden Rechts würde also nicht weiter helfen. Nach Art. V(2) (b) New York Arbitration Convention 1958 (1994) und auch nach dem thailändischen Gesetz über die Schiedsgerichtsbarkeit von 1987, Art. 35, sollte man daran denken, dass die Anerkennung oder die Durchsetzung des schiedsrichterlichen Urteils wegen Verstoß gegen den ordre public versagt werden kann.
§ 13 Kommentar
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III. Ausblick Die Frage der lex mercatoria ist daher eine Frage der Anerkennung der gewählten Ordnung, deren Qualität durch die Wissenschaft ermittelt werden muss. Es ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen den aus der Handelpraxis entstandenen Regelungen, dem Juristenrecht und dem staatlichem Recht. Ob die staatliche Ordung ausgeschlossen werden darf und, wenn ja, wieweit, ist keine politische, sondern eine wissenschaftliche Frage. Die Grundsätze und die Methode müssen wissenschaftlich erarbeitet werden. Ein erhebliches Hindernis der Weiterentwicklung der lex mercatoria liegt aber darin, dass im Laufe der letzten Jahrzehnte die Frage noch nicht geklärt ist, ob mit dem Bestreben nach der Anwendung der lex mercatoria als einer staatsunabhängigen Rechtsquelle und damit der Ausschluss des staatlichen Rechts nicht lediglich der Nutzen der wirtschaftlichen Interessen der multirnationalen Konzerne bezweckt wird. Es wird allmählich immer lauter der Verdacht geäußert, dass die Bemühungen der Juristen der westlichen Welt um eine universale lex mercatoria zwar wissenschaftlich begründet werden, aber im Grunde nur dem Schutz der Interessen ausländischer Investoren in Entwicklungsländern und der Sicherung der wirtschaftlichen Vormachtstellung der westlichen Welt dienen sollen und nicht umgekehrt.9 Genau so verliert man allmählich mehr und mehr das Vertrauen in die Wissenschaft, wenn in der wissenschaftlichen Welt mehr von „Free Trade“ und sehr wenig von „Fair Trade“ gesprochen wird. Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass wir in Asien in unserer Forschung auch die Frage stellen sollten, ob in Asien, Ost-, Süd- oder Südostasien überhaupt eine asiatische oder regionale lex mercatoria besteht oder bestanden hat, inwieweit sie in der Vergangenheit im Handel verwendet wurde und ob oder inwieweit sie zur Zeit im Handel zwischen den asiatischen Ländern eine Rolle spielt.
Dezalay/Garth, Dealing in Virtue: International Commercial Arbitration and Construction of a Transnational Legal Order (1996), S. 98; siehe auch Nattier, International Commercial Arbitration in Latin America: Enforcement of Arbitral Agreements and Awards, 21 Tex. Int.L.J. (1986), 397, 407.
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5. Teil: Völkerrecht – Sicherheit durch Völkerrecht in Zeiten der Globalisierung
§ 14 Das Völkerrecht auf dem Weg zu einem Recht der Weltbevölkerung? * Philip Kunig
Übersicht I. Begriffe und Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II. Inhaltliche Defizite der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung . . . 189 III. Ursachen der defizitären Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 IV. Wege in die Zukunft des Völkerrechts
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I. Begriffe und Realitäten Von Konfuzius haben wir gelernt, dass es eine wesentliche Voraussetzung für geordnete Verhältnisse ist, wenn die Begriffe den Tatsachen gerecht werden. Stellt man fest, dass hier ein Missverhältnis vorliegt, so besteht Handlungsbedarf, sagt Konfuzius. Was er auf Tatsachen bezogen hat, gilt auch für eine Sollensordnung, wie das Recht. Das Völkerrecht ist, wie wir wissen, kein Recht der Völker dieser Erde, von deren Selbstbestimmungsrecht und vielleicht weiteren kollektiven Rechten hier einmal abgesehen. Es ist im Kern ein Recht der Völker in Staaten, welche seine ursprünglich einzigen und heute immer noch strukturbildenden Rechtssubjekte sind. Das Volk ist als Staatsvolk eines von drei die Staatlichkeit konstituierenden Elementen. Es geht also um Nationen. Wenn ein Staat sich aus mehreren Nationen und Ethnien konstituiert, ist dies nicht anders; sie werden durch das Völkerrecht zum Staatsvolk gebündelt. Als zwischenstaatliches Recht regelt das Völkerrecht die Beziehungen zwischen den Staaten. Dabei handelt es sich nicht um eine Rechtsmasse, die im Ausgangspunkt vollkommen isoliert ist vom innerstaatlichen Rechtsraum, wie radikal-dualistische Konstruktionen ursprüng* Eine erweiterte und ergänzte Fassung dieses Vortrags ist unter dem Titel ,Das Völkerrecht und die Interessen der Bevölkerung‘ erschienen in Dupuy/Fassbender/Shaw/Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung – Common Values in International Law, Festschrift für Chr. Tomuschat, 2006, 377 ff.
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lich meinten. Vielmehr öffnen sich sämtliche Rechtsordnungen in den Staaten dieser Welt auf unterschiedliche Weise dem Völkerrecht. Dass sie sich öffnen, verlangt das Völkerrecht von ihnen, aber wie sie sich öffnen, bleibt ihnen weitgehend überlassen. Teilweise hat das Völkerrecht Geltungsvorrang vor innerstaatlichem Recht, teilweise nur Anwendungsvorrang, oft dient es der Auslegung innerstaatlichen Rechts, ob aus der Sicht des jeweiligen Staates freiwillig oder nicht. Das Völkerrecht erreicht, so gesehen, die Staatsvölker, von denen eben die Rede war. Aber sie sind weit davon entfernt, in seinem Mittelpunkt zu stehen. Dort befinden sich weiterhin die Staaten. Das ist deshalb wichtig, weil es diese Staaten sind, welche das Völkerrecht erzeugen. Sie generieren es in verschiedenen Formen der Explikation von Konsensen, sei es durch förmlichen Rechtsakt, durch Rechtsgeschäfte, sei es durch Schweigen oder durch Handeln. Dies ist, allen theoretischen Verästelungen zum Trotz, heute der gemeinsame Ausgangspunkt aller, die sich mit dem Völkerrecht befassen, sofern sie nicht auf naturrechtlicher Basis argumentieren, wie manche namentlich in Lateinamerika, oder meinen, dass Völkerrecht aus religiösen Konzepten ableiten zu können, wie manche Denker in der arabischen Welt, wo dann aber infolge der religiösen Fundierung letztlich kein Raum bleibt für Dissidenz und Vielfalt: Wer nicht mit im gemeinsamen Haus wohnt, hat – theoretisch – keine Rechte. Alle anderen legen das Völkerrecht und seine Erzeugung in die Hände der wesentlichen Akteure selbst, also der Staaten, die damit zugleich Rechterzeuger wie Rechtsunterworfene sind und im Übrigen – drittens – auch noch über die Einhaltung des Rechts selbst zu wachen haben. Deshalb ist das Völkerrecht wesentlich geprägt von den Interessen der Staaten selbst, was in der Geschichte, namentlich in einer Jahrzehnte lang durch Kolonialismus geprägten Welt, mit fortdauernden Folgen aber auch noch in der postkolonialer Zeit, dazu geführt hat, dass das Völkerrecht den Interessen bestimmter Staatengruppen deutlich besser gerecht wurde als denjenigen anderer Staatengruppen. Vereinfachend kann man sagen, dass das Völkerrecht lange Zeit europäisch zentriert war. In Japan hat man sich Jahrzehnte lang damit auseinandergesetzt, oft auch in Kritik und in Selbstkritik und in dem Bemühen, sich von jener europäischen Zentriertheit zu emanzipieren. Aber mir geht es um etwas anderes, nicht um die Gegensätze zwischen Staaten, sondern um diejenigen zwischen Regierungen und
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Regierten. Wenn es richtig ist, dass die Staaten bei ihren Interaktionen, aus denen das Völkerrecht erwächst, ihre Interessen im Auge haben, so muss das nicht notwendigerweise ein nationales Interesse sein, also ein solches in Rücksichtnahme auf das jeweilige individuelle Staatsvolk. Vielmehr ist nicht selten zu bemerken, dass die Regierungen, durch welche die Staaten im Außenverhältnis allein handlungsfähig sind, gerade nicht die Interessen der Summe der von ihnen regierten Menschen wahrnehmen, sondern ihre eigenen Interessen. Das können die Interessen einzelner regierender Personen sein, viel häufiger sind es die Interessen einer Partei, einer Klasse, einer Schicht, eines oder mehrerer Clane, d.h. jedenfalls Partikularinteressen der Herrschenden, die sich in verschiedenen Systemen dieser Welt, keineswegs nur in Diktaturen, erheblich unterscheiden können von den Interessen der Bevölkerungen. Ich behaupte als erste These, dass ein so entstandenes Völkerrecht den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht wird, wobei ich ausdrücklich offen lasse, ob es den Anforderungen der Vergangenheit jemals gerecht worden ist. Das Völkerrecht muss vielmehr heute und künftig ausgerichtet werden auf die Interessen aller Menschen, die derzeit auf diesem Globus leben oder künftig noch auf ihm geboren werden. Das Völkerrecht als zwischenstaatliches Recht muss zu einem Recht werden, für das die Interessen der Weltbevölkerung maßgebend sind. Vorsichtiger und bescheidener formuliert: Es muss auf diesen Weg gebracht werden. Jedenfalls müssen wir die Probleme identifizieren, die einem solchen Weg womöglich entgegenstehen, um dann Alternativen erwägen zu können. II. Inhaltliche Defizite der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung Es sei sogleich eine zweite These aufgestellt: Die Interessen aller Menschen, der Weltbevölkerung also, sind einander näher als es die Interessen der verschiedenen Staaten sind. Das bestätigt sich in dem Befund, dass oft die Interessen von Regierungen einzelner Staaten stärker miteinander übereinstimmen als die Interessen der Regierungen und der von ihnen Regierten. Es können Interessen an Machterhaltung und Ausbeutung sein. Die Organisation der afrikanischen Einheit, die Vorgängerin der heutigen Afrikanischen Union, hat man
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als eine Art Gewerkschaft von Regierungschefs bezeichnet. Ähnliche Assoziationen stellen sich z. B auch für die arabische Welt ein. Die Interessen der einzelnen Menschen überall auf der Welt sind demgegenüber im Ausgangspunkt nahezu identisch. Es sind basale Interessen, solche an der Sicherung der eigenen Existenz, an Gesundheit und Leben, an hinreichender Ernährung und Versorgung mit Wasser, an entsprechenden Wohnverhältnissen, der Möglichkeit der Familiengründung, an Arbeit und beruflicher Fortentwicklung. Dafür benötigen Menschen einige tatsächliche Grundvoraussetzungen sowie einige organisatorische Strukturen, darunter ein Rechtssystem und Institutionen zu dessen Vollzug. Dies alles lässt sich mit dem Begriff der Sicherheit zusammenfassen, der deshalb im Mittelpunkt unseres Workshops steht. Dieser Begriff geht freilich über die basalen Interessen von Individuen weit hinaus, umfasst etwa auch die Art von Sicherheit, derer die Staatsgrenzen überschreitenden Individuen einschließlich juristischer Personen bedürfen: Die heutigen ökonomischen Verhältnisse, die Kommunikationssysteme, die Migrationsmöglichkeiten, eben: die Globalisierung, haben tatsächliche Verhältnisse geschaffen, welche Sicherheitsprobleme ungekannter Art hervorgerufen haben. Das gilt auch für die Vulnerabilität des Ökosystems und die globale Reichweite des Umweltpfades. Das führt den Bogen zurück zu den basalen Interessen der Individuen: Ein Mindestmaß an Erhaltung oder Wiedergewinnung funktionierender Umweltbedingungen ist die Voraussetzung der Entfaltung menschlichen Lebens. Die universale soziale Frage ist von der universalen ökologischen Frage nicht zu trennen. Die beschriebenen Sicherheitsinteressen der Individuen einschließlich der Unternehmen treten an die Seite der Sicherheitsinteressen der Staaten, mit denen sie manchmal identisch sind, oft aber auch nicht. Die Sicherheitsinteressen der Individuen können sogar seitens der eigenen Staaten gefährdet sein, was vor allem in repressiven Systemen der Fall ist und auch in solchen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind, manchmal in Anknüpfung an die ethnische Zugehörigkeit, die soziale Herkunft, die Abstammung allgemein oder auch die Religionszugehörigkeit sowie, immer noch, an das Geschlecht: 1,2 Mrd. Menschen müssen mit einem US-Dollar pro Tag auskommen, 70 % davon sind Frauen. 60 % der Analphabeten sind Frauen, Frauen stellen weltweit 10 % der Parlamentarier und 14 % der Füh-
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rungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung, aber 80 % der Flüchtlinge von Kriegen, Bürgerkriegen und Katastrophen. Häufig ist es auch so, dass die Sicherheitsgefährdungen nur mittelbar von den Staaten ausgehen und unmittelbar von anderen Privatpersonen, den sog. non-state actors ganz unterschiedlicher Provenienz, von kriminellen Netzwerken bis hin zu ökonomischen Akteuren, deren faktische Macht auf durchsetzungsschwache Rechtsordnungen trifft. Außerhalb der Welt der OECD finden sich zahlreiche Staaten, die nicht in der Lage sind, Rechtssicherheit und Freiheit von Gewalt effektiv auf ihrem Staatsgebiet zu garantieren, wie es die klassische Völkerrechtsordnung von ihnen erwartet. Möglicherweise trifft dies auf etwa 2/3 der heutigen Staaten zu.
III. Ursachen der defizitären Lage Derzeitige politische, soziale und ökologische Zustände sind aus der Geschichte erwachsen, teils durch menschliches Handeln gesteuert oder bestimmt, teils bedingt durch natürlich vorgegebene Verhältnisse, Ressourcenarmut oder Ressourcenreichtum, klimatische Verhältnisse, geographische Lagen. Der Kolonialismus hat wesentliche Ursachen gesetzt für heutige Problemfelder, aber nicht für alle. Ohnehin kann es niemals um die Revision des historisch Gewordenen gehen, wohl aber muss es gehen um die Linderung des aktuellen Problemdrucks für die Sicherheit auf allen Feldern und um den Problemabbau in der Zukunft. Dabei drohen die Gefahren in der Zukunft durch unangemessenes ökonomisches Handeln, durch ideologische Verblendung und durch fehlende Verantwortung im Bereich der Ökologie, darüber hinaus durch die Natur selbst, denkt man an Naturkatastrophen, die nicht durch menschliches Handeln induziert sind oder jedenfalls nur diffus und nicht in der Freilegung klarer Kausalität auf solches Handeln zurückgeführt werden können. Es war Japan, dass die Gefahr von Naturkatastrophen im Sommer diesen Jahres erfolgreich in die Reformagenda der Vereinten Nationen gleichrangig neben den bekannten anderen Gefahrenlagen eingebracht hat. In diesem Zusammenhang ein Wort der Klarstellung zu dem, was ich mit ideologischer Verblendung meine. Die Vielfalt des Denkens und Wertens, der Erklärung und Auseinandersetzung damit, was der
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Mensch in dieser Welt soll, darf oder vielleicht auch muss – diese Vielfalt resultiert unmittelbar aus der Vielfältigkeit der Kulturen, welche die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat. Einige solcher Kulturen sind mehr oder weniger spurlos verschwunden, viele sind uns erhalten geblieben. Diese auch für die Zukunft zu erhalten, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Es kann nur gelingen, wenn jede der Weltanschauungen, Religionen oder Ideologien, die aus den einzelnen Kulturen erwachsen sind, insoweit Respekt für die anderen aufbringt, als deren Existenzrecht zugestanden wird, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Seit und soweit Rassismus, Nationalismus und expansiver, d. h. potentiell imperialistischer Marxismus-Leninismus in den Hintergrund getreten sind, seit namentlich das Christentum in wohl allen seinen Spielarten zwar nicht auf Missionierung verzichtet, insoweit aber allein den Weg des Geistes beschreiten will, dürfte auf der Seite der nicht mehr hinnehmbare Alleinvertretungsansprüche in Negation des Existenzrechts für andere Denkweisen reklamierenden Ideologien wohl nunmehr nur islamistischer Fundamentalismus stehen, der sich teilweise staatstragend zeigt, teilweise terroristisches Handeln anleitet, teilweise beides verbindet. IV. Wege in die Zukunft des Völkerrechts Ich habe einen Problemdruck beschrieben und das gegenwärtige Völkerrecht als dem Ausmaß dieses Problemsdrucks nicht adäquat bezeichnet. Als Hauptursache dafür habe ich die Staatszentriertheit des gegenwärtigen Völkerrechts bezeichnet. Diese Staatszentriertheit ist durch Entwicklungen der letzten Jahre schon teilweise relativiert worden. Das gilt etwa institutionell, für den Ausbau des Systems der internationalen Organisationen, die teils partikulär zuständig sind für einzelne politische Agenden, teils umfassender ansetzen und dann zu regionalen Strukturen hinführen. Es gilt für die Wirkungschancen, die nichtstaatlichen Akteuren in formellen oder informellen Normbildungsprozessen eröffnet wurden, insbesondere Nichtregierungsorganisationen. Es gilt in einem allgemeinen Sinne für Erfolge im Ausbau des Menschenrechtsschutzes, für Veränderungen im Bereich der Immunität der staatlichen Organe, für die Realisierung einer Strafgerichtsbarkeit seitens des Sicherheitsrates und bezogen auf bestimmte Konflikte und schließlich den Weg hin zu
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einer Strafgerichtsbarkeit universellen Ausmaßes, von dem wir noch nicht wissen, wie weit er führen kann. Institutionelle Bemühungen sind insoweit inhaltlich verschränkt und verbunden mit Fortschritt auf der materiell-rechtlichen, der inhaltlichen Seiten, ich erwähne die Folterkonvention bzw. – für die dogmatisch-theoretische Ebene – das Bemühen um kategoriale Neuschöpfungen, wie das ius cogens und die Verpflichtungen erga omnes. Doch was hier auf der Habenseite einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Völkerrechtsordnung steht, kommt bislang über Ansätze nicht hinaus. Es ist bei Weitem zu wenig. Tiefgreifende Veränderungen, ein Paradigmenwechsel, sind nötig. Ich sehe mich hier einig – beispielsweise – mit Hisashi Owada, der schon vor einiger Zeit die Ausrichtung des Völkerrechts auf die souveränen Staaten für nicht ausreichend erklärt und den Ausgleich der Dichotomie zwischen innerstaatlicher und globaler Gerechtigkeit gefordert hat. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass das Völkerrecht für sich genommen den entscheidenden Schlüssel zur Bewältigung der Zukunftsprobleme bereithalten könnte. Technologischer und geisteswissenschaftlicher Fortschritt, Aufklärung, eine soziale und ökologische Anliegen stärker in den Blick nehmende Politikgestaltung auf einzelstaatlicher Ebene und in den Staatenverbünden, wie sie in Teilen der Welt schon bestehen, sind entscheidende Aktionsfelder. Es kann und muss also nur, aber immerhin, darum gehen, die Beiträge des Völkerrechts zur Problembewältigung zu optimieren. Das setzt auch voraus, die teilweise wohl vorhandene Selbstisolierung der Völkerrechtswissenschaft gegenüber der Praxis der internationalen Politik zu überwinden, in den Worten von Onuma Yasueki: in der Wissenschaft den Anschluss an die „wirkliche Welt“ zu finden. Es setzt des weiteren eine Vergewisserung über die methodologischen Grundlagen des Völkerrechts voraus, vor allem über die Unterscheidung von Recht und Politik und ihre Wechselwirkungen, damit auch über Fragen der Quellen des Völkerrechts und des Anteils international agierender bzw. sich artikulierender Akteure an der Normentstehung und Normveränderung. Es bedarf weiterhin der prinzipiellen Trennung zwischen der Feststellung dessen, was gilt, und dem Diskurs darüber, was gelten sollte. Erst wenn Klarheit darüber herrscht, wie eine Rechtslage sich derzeit darstellt, kann sinnhaft darüber diskutiert werden, ob das Recht der Veränderung bedarf sowie – hier-
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von getrennt – auf welchen Wegen solche Veränderungen herbeigeführt werden können. Diese methodologischen Prämissen stellen sich Sichtweisen entgegen, die von dem Postulat getragen sind, aus einer bloßen Rechtsbehauptung oder auch der verbalen Etablierung einer Doktrin folge unmittelbar die Modifizierung oder Ersetzung des zuvor geltenden Rechts. Dabei ist andererseits zu beachten, dass aus dem Diskurs über das Recht im Ergebnis derartige Veränderungen seiner Substanz durchaus erwachsen können, dies in einem erheblichen graduellen Unterschied zur Normallage der Rechtsbildung im nationalen Bereich; aus diesem Grund bedarf es der engagierten Teilnahme am Völkerrechtsdiskurs auch auf Seiten derer, welche an den Erfordernissen positivrechtlicher Rechtsbegründung festhalten, wie es für Japan und Deutschland gilt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Absage an Versuche einer rein ethischen Bewertung staatlichen Handelns von Fall zu Fall; aus solchen Ansätzen würde die Selbstaufgabe des Völkerrechts resultieren. Wie ich vorhin bei der Diagnose zwei Thesen zugrunde gelegt habe, so nunmehr auch bei dem Nachdenken über die Therapie. Wenn Recht, Recht auf allen Ebenen und nicht nur das Völkerrecht, einerseits Handlungsspielräume, Spielräume politischer Gestaltung, begrenzt, andererseits Instrumente zur Umsetzung des für richtig Gehaltenen bereitstellt, Organisationen strukturiert, Zuständigkeiten verteilt und nicht zuletzt die Legitimation von Entscheidungen ermöglicht und bewältigt, dann ergeben sich daraus qualitative Anforderungen an das Recht allgemein und deshalb auch an das Völkerrecht. Für solche Qualitätsanforderungen, denen jede Rechtsordnung genügen muss, stehen Begriffe wie Beständigkeit, Transparenz, Durchsetzbarkeit, verlässliche Ahndung des Rechtsbruchs, Legitimität, Ausrichtung auf allgemein konsentierte Werte. Das führt mich – drittens – zu der These, dass es sinnvoll ist, den Reichtum der auf nationaler Ebene erworbenen Erfahrungen bei der Etablierung von Systemen nutzbar zu machen, welche den genannten Qualitätsanforderungen gerecht werden. Auch wenn das internationale System weit davon entfernt ist, einem Staat zu ähneln, sind auf dem Weg hin zu moderner Staatlichkeit Aufgaben zu bewältigen gewesen, die den heute auf internationaler Ebene gestellten Aufgaben ähnlich sind: Etablierung eines Gewaltmonopols, Herausbildung von Legitimationssträngen, Bereitstellung von Gemeinwohlgütern. Das
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gelingt innerstaatlich keineswegs überzeugend, aber doch in Europa, Amerika, Teilen Asiens seit einigen Jahrzehnten brauchbar, von Rückschlägen abgesehen. Das sei sogleich mit der weiteren – vierten – These verbunden, dass Ähnliches und Vergleichbares auf internationaler Ebene nur in einem eindeutig multilateral geprägten System erreichbar ist, niemals aber in hegemonialen Strukturen. Das setzt zwingend die Erhaltung und Bewahrung des heute vielfach in Frage gestellten Verbots zwischenstaatlicher Gewalt voraus. Wer dies in Frage stellt, legt die Axt an die Wurzeln des Völkerrechts, nicht anders als diejenigen, die ihm die normative Kraft absprechen, es zur Rhetorik denaturieren oder gar behaupten, die – in diesem Fall US-amerikanische – Verfassung akzeptiere das Völkerrecht nur als ein Mittel zur Wahrung des eigenen Wohlstandes. Solche Argumente hörten wir zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Sie galten dann weltweit als überwunden. Nun hören wir sie am Beginn des neuen Jahrhunderts wieder und von prominenten Repräsentanten der Wissenschaft. Beide eben genannten Thesen verbinde ich mit der Behauptung, dass die Fortentwicklung des Völkerrechts im Hinblick auf die genannten Qualitätsmerkmale von Recht nur im Rahmen einer universalen Organisation mit regionalen Vernetzungen gelingen kann. Diese universelle Organisation ist vorhanden, nämlich mit der Satzung der Vereinten Nationen, die gerade auch in der japanischen Völkerrechtswissenschaft schon vor Jahrzehnten als Verfassung der Staatengemeinschaft bezeichnet und gefeiert worden ist. Schon im großen, in Deutschland viel beachteten Völkerrechtslehrbuch von Yuichi Takano lesen wir über die Entwicklung des internationalen Rechts hin zum Weltrecht, von der Aufhebung der Souveränitäten als Fernziel. Dass die Verfassungsqualität der Satzung der Vereinten Nationen allerdings heute und auf absehbare Zeit deutlich zurückbleibt hinter den Qualitäten staatlicher Verfassung in vielen Staaten dieser Welt, wissen wir alle. Damit ist das Thema dieses Sommers angesprochen, die Reform der Vereinten Nationen. Es ist dies, ungeachtet des derzeitigen Entwicklungsstandes, das Thema nicht nur diesen Sommers, sondern es bleibt sicher auf Jahrzehnte das Hauptthema des Völkerrechts, unabhängig von einem Ausbleiben formeller Erfolge. Die Millenium Developments Goals, die Reformvorschläge des High Level Panels und des Generalsekretärs, die über die letzten Jahre hin entwickelt worden sind, gerie-
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ten in diesem Sommer in eine turbulente Debatte. Insbesondere die Veto-berechtigten ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, aber auch andere Staaten argumentierten in erstaunlicher Weise egoistisch und machtbezogen, teils ohne auch nur den Versuch, das Eigeninteresse an der Wahrung des Status quo mit Gemeinwohl bezogenen Argumenten einer rationalen Debatte zuzuführen. Ähnlich verhielten sich Staaten, die sich als Rivalen etwa der in den Sicherheitsrat strebenden Staaten Deutschland, Japan, Brasilien und Indien empfinden, vielfach begründet durch historische Erfahrung in unmittelbarer Nachbarschaft. So argumentierten die Staaten „als Staaten“, mit Ich-Bezug und Vergangenheitsbezug und und also nach dem Muster, das ich eingangs geschildert und kritisiert habe. Demgegenüber wird es nötig sein, die Reform der Vereinten Nationen in viel stärkerem Maße als bisher auf die Interessen der Weltbevölkerung auszurichten. Neben die Collective Security muss gleichberechtigt die Human Security treten. Das verlangt nicht nur nach institutionellen, also organisationsrechtlichen Veränderungen, sondern bedarf einer materiellen, einer inhaltlichen Qualität. In seinem Reformpapier „In larger freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All“ hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen diese Verbindung betont: Freedom from Want, Freedom from Fear, Freedom to live in Dignity – auf die Sicherung dieser Freiheiten der Weltbevölkerung müssen auch die institutionellen Reformen der UNO-Organe ausgerichtet werden. Das hat Bedeutung auch für Fragen der Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Weniger strategische Überlegungen sollten hier den Ausschlag geben als qualitative. Mit Qualität ist hier nicht allein ökonomische Leistungsfähigkeit gemeint. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung, nämlich, wie die Erfahrung zeigt, vor allem auch für das Engagement, zu menschenrechtsbezogenen und friedensstiftenden Aktionen der Vereinten Nationen beizutragen, und andererseits die menschenrechtlich-rechtstaatlich-demokratische Qualität im Innern zu sichern oder überhaupt erst zu erreichen. Bei Menschenrechten ist hier gleichermaßen an die ökonomische, soziale, kulturelle Qualität zu denken, wie an die klassische Sicherung individueller Freiheit, also die Ziele und Verheissungen beider Pakte von 1966. Auch die Rechtsgrundlagen für die Handlungsbefugnisse des Sicherheitsrats müssen stärker auf die Interessen der Weltbevölkerung ausgerichtet sein. Die diffuse Tatbestands- und Ermessensstruktur der
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Art. 39 ff. der Satzung könnte differenziert und schärfer gefasst werden, einschließlich des für die Ermessensausübung unverzichtbaren, sie disziplinierenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch. Dabei ist ein Interesse an willkürfreier und egalitärer Nutzung des Handlungspotentials des Sicherheitsrats besonders offenkundig. Es muss vernetzt werden mit dem Anliegen einer Responsibility to Protect, die in eine Verpflichtung zum Einschreiten münden kann, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen, Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen stattfinden oder drohen. Ob dies durch förmliche Satzungsänderungen herbeigeführt wird oder durch konsentierte Auslegungsstandards für das schon geltende Recht, ist letztlich nicht entscheidend. Die Menschenrechtskommission bedarf ebenfalls grundsätzlicher Umgestaltung. Sie ist derzeit zu groß, um handlungsfähig zu sein; ihr gehören Mitglieder mit desaströser eigener Menschenrechtsbilanz an, was die Akzeptanz ihres Handelns in Frage stellt. Auch hier muss die Mitgliedschaft in Abhängigkeit gebracht werden vom eigenen Erscheinungsbild der Kandidaten in deren inneren Bereichen. Die Menschenrechtskommission sollte ferner als Hauptorgan etabliert, von der Abhängigkeit von Wirtschafts- und Sozialrat bzw. Generalversammlung befreit und diesen gleichrangig an die Seite gestellt werden. So würde organisatorisch abgebildet, was programmatisch längst gleichberechtigt nebeneinander steht, aber bisher eben nur programmatisch und noch nicht institutionell. Als dritter Aspekt sei die Idee einer Peacebuilding Commission genannt, die gleichermaßen dem Sicherheitsrat wie dem Wirtschaftsund Sozialrat zuzuarbeiten hätte. Friedensbewahrung, also Peacekeeping, reicht nicht aus, Strukturen müssen aufgebaut werden, welche im Anschluss an Konflikte wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Aufbau gewährleisten. Bekanntlich weht der Gegenwind sowohl für die Menschenrechtskommission wie für die Peacebuilding Commission – anders als bei dem Thema der Reform des Sicherheitsrats – hier aus der Richtung nicht der derzeitigen ständigen Mitglieder, sondern wird getragen von Staaten der südlichen Hemisphäre. Die Reform stößt also auf Opposition aus unterschiedlichen Lagern. Das könnte auch Chancen für Kompromisse bieten. Über den Fortgang der Reformbestrebungen ist hier nicht zu spekulieren. Die genannten Themen bleiben auf der Tagesordnung. Unab-
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hängig davon stellt sich aber die Frage einer Entwicklung des Völkerrechts zu einem Recht der Weltbevölkerung auch ohne das baldige Gelingen von Reformen im Bereich der Vereinten Nationen. Wenn wir mit Gunther Teubner und seinem gestrigen Einleitungsreferat davon ausgehen, dass es keine Chancen zu einer Hierarchisierung internationaler justizieller Spruchkörper gibt (dem kann ich angesichts des Niedergangs des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag nur zustimmen), dass das derzeit in Teilrechtsordnungen fragmentierte Völkerrecht nicht umfassend integriert werden könne, dass eine bruchlose Hierarchie des Rechts auf internationaler Ebene nicht erreichbar ist und dass es stattdessen bei einer Heterarchie des Rechts bleibt, dann fragt sich, in welche Richtung vorangeschritten werden kann. Gunther Teubner empfiehlt die Einleitung von Konzepten der Vernetzung, den sektoriellen statt des territorialen Ansatzes. Er trifft sich dabei u. a. mit US-amerikanischen Stimmen, die das Bild von Netzwerken in den Mittelpunkt stellen, eine Desintegration der Staaten beobachten und das Konzept der Souveränität in dem Sinne modifizieren und ergänzen wollen, dass es hierbei nicht um Autonomie gehe, sondern um eine kompetenzielle Kategorie, weshalb dann den Staaten andere Akteure mehr oder weniger gleichberechtigt an die Seite zu treten hätten, welche gehalten seien sich miteinander zu vernetzen. Solche Ansätze sind interessant, bergen zweifellos aber auch Gefahren. Diese Gefahren betreffen v.a. die Frage der Legitimation, welche diffundiert, sofern das Konzept der staatlichen Souveränität aufgegeben wird zugunsten von Akteuren mit allein durch faktische Macht begründeter Rolle. Den Netzwerkkonzepten insbesondere amerikanischer Provenienz stehe ich daher skeptisch gegenüber. Souveränitätsbeschränkungen sind gewiss erforderlich, schon zur Schließung von Lücken, die sich aus der Schwäche vieler Staaten ergeben, welche ich eingangs erwähnt habe. Doch sehe ich hier vor allem international organisierte Strukturen im Spiel, nicht allein solche, die sich in chaotischer Kooperation miteinander vernetzen und einander beobachten. Auf die Staaten als Gründer zurückführbare Organisationen sind die Regime, von denen Teubner gesprochen hat. In der Tat bedarf es einer Austarierung der sich aus deren Nebeneinander ergebenden Kollisionen. Diese Austarierung kann m. E. aber angemessen und weiterführend nur geleistet werden durch die Herausbildung neuer Rechts-
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regeln i. S. nicht lediglich einer Berücksichtigungspflicht für Entscheidungen anderer Regime, sondern i. S. einer Bindungsvermutung an solche Entscheidungen mit der Chance der Widerlegung der Bindungswirkung bei nachhaltigem Begründungszwang. Innerhalb der europäischen Gerichtsjudikatur, nämlich bezogen auf das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs der Integrationsgemeinschaft, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie auch nationaler Verfassungs- und Fachgerichte beobachten wir gegenwärtig den Prozess einer Herausbildung solcher Regeln. Es könnte einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts geben, dass Entscheidungen internationaler Gremien, welche im Rahmen von deren Zuständigkeiten verfahrensmäßig korrekt getroffen worden sind, die grundsätzliche Vermutung ihrer Richtigkeit für sich haben und insofern eine Bindungswirkung entfalten. Das setzt natürlich auch eine Erhöhung der Begründungskultur voraus. Wenn persuasive authority entstehen soll, weil für precedential authority die formalen Voraussetzungen fehlen, sind eingehende Entscheidungsbegründungen unabdingbar. Was Begründungskulturen für durch Recht angeleitete Entscheidungen anlangt, liefern die nationalen Rechtskulturen interessante und unterschiedliche Erfahrungen, die auch geprägt sind von den unterschiedlichen Traditionen hinsichtlich der Frage gerichtlicher und außergerichtlicher Streitschlichtung gerade in Europa einerseits, in Asien andererseits. Auch in diesem Zusammenhang möchte ich wiederum behaupten, dass die Verbesserung der internationalen Strukturen von den Erfahrungen bei der Bewältigung von Binnenproblemen, sei es im Staat, sei es innerhalb einer Integrationsgemeinschaft, profitieren kann und profitieren muss. Ich bin noch nicht bereit die Forderung aufzugeben, dass dies im Rahmen der Vereinten Nationen angeleitet und von diesen wesentlich vorangebracht werden sollte. Insofern betone ich, dass wir eine Hierarchie des internationalen Rechts, wenn auch nicht sogleich im Sinne einer hierarchischen Justiz, so doch jedenfalls in einem materiell-rechtlichen Sinne jedenfalls teilweise erreichen können und müssen: Der Vorrang jener Rechtsmasse, welche unmittelbar und elementar die Interessen der einzelnen Menschen, welche in ihrer Gesamtheit die Weltbevölkerung konstituieren, zu dienen bestimmt ist, der universellen Menschenrechte also – der Vorrang dessen muss auf allen Ebenen und in allen Kontexten, über die wir hier reden,
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bewahrt oder erkämpft werden. Yoshiro Matsui hat im Japanese Annual of International Law 2002 die menschenrechtliche Perspektive als eine der wichtigsten strukturellen Veränderungen im Völkerrecht der Gegenwart identifiziert und dabei historisch herausgearbeitet, wie die japanische Völkerrechtswissenschaft sich erfolgreich von deutschen Einflüssen gelöst und emanzipiert hat. Das waren deutsche Einflüsse für die – z. B. – die Namen Carl Schmitt oder Hans Morgenthau gestanden haben, Repräsentanten einer vergangenen Zeit. Heute geht es nicht mehr um Einflüsse und Importe, sondern um Dialoge. Es wäre schön, wenn wir am Ende unseres Workshops sagen könnten: Der japanisch-deutsche Dialog in der Völkerrechtswissenschaft nützt beiden Seiten und vor allem dem Völkerrecht selbst, zu dessen Fortentwicklung wir gemeinsam beitragen wollen.
§ 15 Globalisierung, Verrechtlichung und Völkerrecht – Kann das Völkerrecht die Globalisierung überleben? * – Naoya Okuwaki 1. Mein Referat hat den herausfordernden Titel: „Kann das Völkerrecht die Globalisierung überleben?“ Hierzu möchte ich in Frage stellen, ob diese Fragestellung überhaupt sinnvoll ist oder nicht. Vom Ergebnis her gesehen wäre es zwar sinnlos, auf diese Frage mit Ja oder Nein zu antworten, es ist jedoch sehr sinnvoll, darüber nachzudenken, warum sich diese Frage stellt und wie man darauf antworten sollte. 2. Hinter der Frage steht die Erkenntnis, dass durch die Globalisierung der internationalen Beziehungen, des zunehmenden grenzüberschreitenden Verkehrs von Personen, Gütern, Kapital und Informationen, die Unterscheidung von „international“ und „national“ schwierig geworden ist. Die nationalen Gesellschaften, die bisher auf die jeweiligen Staaten bezogen organisiert waren, werden zunehmend miteinander verflochten, wobei internationale Systeme in vielfältiger Weise Einfluss darauf nehmen. An diesem Globalisierungsprozess sind auch nichtstaatliche Akteure einschließlich Privatpersonen direkt beteiligt, und verschiedene autonome Normen schaffen und stützen unabhängig von offiziellen zwischenstaatlichen Vereinbarungen die gesellschaftliche Ordnung. Darüber hinaus werden Initiativen solcher nichtstaatlicher Akteure in durch zwischenstaatliche Vereinbarungen geschaffene internationale Strukturen einbezogen, so dass Privatpersonen sichtbar im Prozess der Umsetzung des Völkerechts auftauchen. Hier stellt sich die Frage, ob dies nicht eindeutig außerhalb des Rahmens des traditionellen Völkerrechts liegt, das sich als Recht der zwischenstaatlichen Regulierungen definiert. 3. Um diese Frage zu beantworten, sollten zunächst zwei begriffliche Unterscheidungen erörtert werden. Die erste ist die Unterscheidung zwischen dem „gemeinsamen Interesse (common interest) der internationalen Gesellschaft (international society)“ und dem „globalen Wohl“ (public interest). Die zweite bezieht sich auf die Begriffe „Glo*
Übersetzung: Chieko Koori in Zusammenarbeit mit Hans-Peter Marutschke.
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balisierung“ und „internationale Gemeinschaft (international community)“. Aus Zeitgründen kann ich die Inhalte nicht ausführlich erläutern, doch kurz zur ersten Unterscheidung: Nach der herrschenden Meinung wird das Völkerrecht als Recht einer Gemeinschaft definiert, deren Mitglieder Staaten sind. Im Deutschen gibt es zwei Begriffe, „Völkerrecht“ und „internationales Recht“. Wenn diese beiden Begriffe bewusst differenziert werden, entspricht der letztere der eben genannten Definition. Das Völkerrecht im Sinne des internationalen Rechts wird als eine Rechtsordnung verstanden, deren Akteure souveräne Staaten sind. Sie schaffen durch Vereinbarungen Regelwerke zur Vermeidung internationaler Konflikte und gleichen in diesem Rahmen gegensätzliche Interessen aus. Der Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten ist ein Mechanismus zur Vermeidung internationaler Konflikte, die durch die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates durch andere Staaten verursacht werden. Die Bestimmungen des Völkerrechts beinhalten derartige Mechanismen zur Konfliktvermeidung in vielfältigen Formen. In diesem Sinne hat das traditionelle Völkerrecht eher passiven Charakter. 4. Als im Zuge der Entwicklung der Industriegesellschaft die Unvermeidbarkeit zwischenstaatlicher Interdependenz ins Bewußtsein drang, erhielt das Völkerrecht aktive Funktionen insofern, als man Probleme, die die einzelnen Staaten allein nicht zu lösen vermögen – z.B. internationaler Verkehr, internationale Kommunikation, Maße und Gewichte, Infektionskrankheiten, Arbeitsnormen, Bekämpfung der Kriminalität –, auf der Basis gemeinsamer Interessen durch Angleichung nationaler Standards zu lösen versuchte. Zu diesem Zweck werden auch internationale Organisationen geschaffen, die dafür sorgen, dass die Angleichung entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen vonstatten geht. So schafft das Völkerrecht einen Rahmen für die aktive Umsetzung von Projekten von gemeinsamem Interesse durch internationale Zusammenarbeit. Allerdings setzt diese Entwicklung des Völkerrechts die traditionelle Souverenität einzelner Staaten voraus. Ein Staat geht Vereinbarungen ein, um nationale Interessen zu wahren. Er lässt sich nicht durch das Völkerrecht fremdbestimmt regulieren. Solange er souverän die Regulierung vereinbart, kann gerade eine solche internationale Zusammenarbeit als Ausdruck der Souveränität betrachtet werden. Dabei sollten wir doch
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zur Kenntnis nehmen, dass die Entwicklung der internationalen Organisationen ursprünglich auf internationale Verbände zurückzuführen ist, die durch private Initiativen entstanden sind (so genannte private international union). 5. In der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts änderte sich jedoch die Situation drastisch, wobei insbesondere das Interesse am Schutz der Menschenrechte auf internationaler Ebene gestiegen ist. Diese Änderung wird durch die jüngste Entwicklung des internatonalen Umweltschutzrechts forciert. Zusammenfassend könnte man sagen, dass nun der internationalen Gemeinschaft, bei der es bisher hauptsächlich um staatliche Interessen ging, ein eigenes Interesse, nämlich das globale Wohl zuerkannt wird. Man hört viel von der „Internationalen Gesellschaft als ganzes“ oder dass es „auch in der internationalen Gesellschaft zwingendes Recht (ius cogens) gibt“. Das heißt also, dass die internationale Gesellschaft auch eine öffentliche Ordnung (ordre public) hat und folglich eine internationale Gemeinschaft (international community) ist. Staaten sind demnach verpflichtet, zusammenzuarbeiten, um einheitliche Werte und universale Interessen zu realisieren. Ob dieser Gedanke im Völkerrecht als Ordnung des positiven Rechts seinen Niederschlag findet, kann allerdings nicht ohne weiteres bejaht werden. Die Frage, was das jus cogens der internationalen Gemeinschaft sein soll, ist ebenfalls nicht klar, und es fehlt vor allen Dingen ein System, das die Zusammenarbeit der Staaten international sicherstellt. Allerdings können UN-Resolutionen und Ergänzungen zur Menschenrechtskonvention über das individuelle Recht auf Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen, Inspektionsgremien internatonaler Institutionen für die finanzielle Entwicklungshilfe wie die Weltbank oder die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofes (ICC), um den Genozid oder gravierende Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht zu verurteilen, als Bemühungen um ein solches System verstanden werden. 6. Die Einführung des Begriffs „globales Wohl“ geht jedoch zum Teil über die traditionell passive Funktion des Völkerrechts im Sinne der zwischenstaatlichen Konfliktvermeidung hinaus. In der Tat ist er vielerorts Auslöser für Kontroversen und belastet die souveränen Staaten über ihre Reaktionsfähigkeit hinaus. Die vom Internationalen Gerichtshof (ICJ) behandelten Fälle wie der Breard-Fall, der LaGrand-Fall, oder der vom Europäischen Gerichtshof für Men-
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schenrechte behandelte Soering-Fall, der Pinochet-Fall oder der Belgium Arrest Warrant-Fall scheinen alle den Rahmen zwischenstaatlicher Vereinbarungen zu sprengen. Sollten Konsularverträge und das System der (konsularischen) Benachrichtigung allein der zwischenstaatlichen Verfahrensbestimmung dienen, um die konsularischen Funktionen reibungslos zu gestalten, kann die Unterlassung der konsularischen Benachrichtigungspflicht nicht im direkten Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte eines Verdächtigen stehen. Außerdem ist eigentlich nicht vorgesehen, dass ein Staat die Auslieferung eines Verdächtigen mit der Begründung des unangemessenen Strafwesens eines anderen Staates ablehnt, zumal es nach der Menschenrechtskonvention zu den Pflichten eines Staates gehört, die Menschenrechte im eigenen Territorium zu wahren, also in der geographischen Abgrenzung. Es sei denn, dass das Völkerrecht die Todesstrafe als unmenschlich verurteilt. Die universale Zuständigkeit der Antifolterkonvention sieht ebenfalls nicht vor, dass ein Staat einen Verdächtigen außerhalb des Landes ins Land holt und bestraft. Die genannten Fälle sind allerdings vor dem Hintergrund des Gedankens des „globalen Wohles“ zu sehen, nach dem der Schutz der Rechte ausländischer Verdächtiger, das Verbot der unmenschlichen Strafe oder das Verbot der Folter allerorts effektiv umgesetzt werden und zu diesem Zweck die Einschränkung der souveränen Staaten durch das Territorialprinzip über den Rahmen des existierenden Völkerrechts hinaus durchbrochen werden sollte. Das heißt, dass der Gedanke „globales Wohl“ das Territorialprinzip der souveränen Staaten relativiert und den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten langsam erodiert. 7. Dies hat für die Globalisierung folgende Bedeutung. Im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, der lediglich gemeinsame Interessen der Staaten zugrunde liegen, wird es möglich, dass sich verschiedene Akteure am Prozess der Verwirklichung des „globalen Wohls“ beteiligen. Staaten und internationale Organisationen müssen nicht nur daran interessiert sein, was im Territorium der einzelnen Staaten wirklich stattfindet, sondern müssen Informationen darüber sammeln und diese beurteilen. Hier stellt sich aber die Frage des Territorialprinzips der exekutiven Zuständigkeit. Eine unbedachte Durchbrechung dieses Prinzips könnte die alltägliche Stabilität in den internationalen Beziehungen von heute gefährden.
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Wenn ich hier von „alltäglich“ spreche, so meine ich damit nicht die Entscheidung der Staaten, den Krieg zu eröffnen. Der NATO-Luftangriff auf Kosovo oder der Irak-Krieg verlangen einen anderen Diskussionsrahmen außerhalb der internationalen Zusammenarbeit. Dies sind Fragen der internationalen Sicherheitspolitik und nicht Maßnahmen zur Verwirklichung des „globalen Wohls“.
Daher braucht man Menschenrechts- und Umweltexperten, die die Geschehnisse in den einzelnen Staaten beobachten, und die Informationssammlung durch deren internationales Netzwerk ist unerläßlich. Das bedeutet, dass die vom Staat bereitgestellten Informationen allein nicht verläßlich sind. Daher ist es sinnvoll, dass internationale Organisationen und Umsetzungsinstitutionen für Menschenrechtsund Umweltverträge private Gruppen wie NGOs in ihre Äktivitäten heranziehen. Das System des Berichts über Menschenrechtsverletzungen durch den Staat oder Individuen hat die gleiche Bedeutung. Für das Funktionieren des internatonalen Strafgerichtshofes (ICC) sind Beobachter nötig, die die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Ort verfolgen. Um es kurz zu sagen, wird im Prozess der Verwirklichung des “globalen Wohls” die Rolle des staatlichen Willens nach außen als eine einzige nationale Stimme, die die verschiedenen Interessen im Lande zusammenfasst, relativiert. Die internationalen Organisationen, andere Staaten, verschiedene staatliche Organisationen, NGOs und die Zivilgesellschaft als nichtstaatliche Akteure suchen in ihrer Wechselwirkung – aber auch mittels verschiedener vorhandener politischer Systeme – Visionen einer neuen internationalen Gemeinschaft. 8. Die internationale Gemeinschaft befindet sich z.Z. in einer Phase des vielfältigen institutionellen Aufbaus. Verschiedene Verfahren zur Beilegung der zwischenstaatlichen Konflikte werden etabliert und es wird von der Verrechtlichung (legalisation) oder Judizialisierung der internationalen Beziehungen gesprochen. So sind zwar in den einzelnen Gebieten unterschiedliche rechtliche Foren etabliert, aber es wird auch eine Fragmentierung des Völkerrechts befürchtet, da die Einheitlichkeit der Entscheidungen der einzelnen Foren nicht gewährleistet ist. Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Globalisierung lässt sich sagen, dass die WTO zwar als Institution zur Konfliktlösung inzwischen sehr gut funktioniert, aber nicht in der Lage ist, sich aktiv mit dem Bereich der so genannten nicht-handelsrelevanten Angelegenheiten auseinanderzusetzen, da das System nur für die
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Anwendung des GATT konzipiert war. Auf der anderen Seite scheint die Privatisierung der Verfahren in der WTO fortzuschreiten, so dass die Kontrolle verstärkt von den handelsbezogenen privaten Organisationen wahrgenommen wird, obwohl die WTO an sich eine zwischenstaatliche Institution zur Problemlösung ist. Rechtsberater privater Umwelt- oder Menschenrechtsorganisationen haben kürzlich Zugang zum offiziellen Verfahren erhalten, die WTO dagegen stellt ein auf den Handel beschränktes geschlossenes Regime dar. In diesem Sinne führt die Verrechtlichung der Globalisierung u. a. bei der WTO nicht zwangsläufig zur Verwirklichung des „globalen Wohls“, sie ist eher ein Forum handelsbezogener Organisationen. Mag sein, dass die Ausweitung des fairen Handels letztlich durch die Marktmechanismen zum Schutz der Umwelt und der Menschenrechte beitragen wird und so die Perspektive auf das „globale Wohl“ eröffnen wird. Es kann aber auch sein, dass die WTO bloß eine Herrschaft der Technokratie aufbaut, indem sie ökonomische Rationalität durch die Fragmentierung und Spezialisierung der Streitpunkte durchsetzt. Wenn dies der Fall sein sollte, bedeutet eine solche Globalisierung einerseits eine Zunahme der Interdependenz, andererseits aber auch eine Verbreitung einer neuen Abhängigkeit; sie bedeutet ebenso eine Vereinheitlichung wie auch eine Fragmentierung. Sie birgt gegensätzliche Aspekte in sich wie die Homogenisierung, aber gleichzeitig auch die Diversifizierung der Gesellschaften. Die Globalisierung ist also keine einfache Strömung nur in eine Richtung. Dies scheint auch der Grund zu sein, dass im Zusammenhang mit der WTO über die Konstitutionalisierung diskutiert wird. Der Prozess einer Verrechtlichung, die zum „globalen Wohl“ führt, muß verschiedene stakeholders (interessierte Parteien) einbeziehen und einen neuen Begriff schaffen, der das „globale Wohl“ konkret definiert. Dieser Prozess sollte als Ort konzipiert werden, an dem die Perzeption aller Menschen durch Wechselwirkung oder Dialog auf der Basis eines solchen Begriffs verändert werden kann. 9. Welchen Stellenwert hat nun das Völkerrecht vor diesem Hintergrund? Diese Frage leitet zur Rollenfrage in der Gesellschaft des modernen Staates über. Ebenso wie die fortschreitende Privatisierung oder die funktionierenden Marktmechanismen innerhalb eines Staates lediglich die Rolle des Staates ändern und nicht „den Rückzug des Staates“ oder „das Ende der Geschichte“ zur Folge haben, ändert
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sich auch in der internationalen Gesellschaft nur die Rolle der Diplomatie und des Völkerrechts. G. Niemeyer hat bereits in den 1930er Jahren in seinem Werk „Law without Force“ durchschaut, dass sich das Völkerrecht von einem „Damm-Modell“ in ein „Kanal-Modell“ wandeln wird. Das heißt, dass das Völkerrecht den Wasserfluss nicht mit Hilfe eines Verbots stoppt, sondern den Wasserstrom stattdessen durch Flussregulierung zur Verhinderung der Überflutung etwas kanalisiert. Freilich darf während des Kanalbaus die Flutgefahr (ohne Staudamm) nicht vernachlässigt werden. Andererseits darf das Vorhandensein eines Staudamms nicht als Vorwand benutzt werden, um den Kanalbau hinauszuzögern. Ebenso bedarf es einer langen Zeitspanne, bis sich der Begriff „globales Wohl“ autonom entwickelt und sich die Perzeption der Menschen weltweit ändert. Bis dahin müssen die Staaten ihre schwierige Arbeit unter Zuhilfenahme der allgemeinen Begriffe des Völkerrechts fortsetzen, eine Unordnung großen Ausmaßes unterdrücken und gleichzeitig den Begriff „globales Wohl“ kultivieren. Konkrete Beispiele dafür wären z. B. neue Begriffe im Umweltrecht wie „Präventionsprinzip“, „nachhaltige Entwicklung“, „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“, „gerechte Nutzung“ aber auch „gemeinsame aber differenzierte Verantwortung“, die in dieser Form auch in juristischen Texten verwendet werden. Sie verändern die Perzeption der Menschen und finden Aufnahme in der Politik einzelner Staaten. Solche Begriffe lassen sich jedoch nicht direkt bei der Problemlösung beispielsweise durch Gerichtsverfahren anwenden. Sie sind sicher nützlich, um die Maßnahmen der einzelnen Staaten zur Schaffung einer besseren Umwelt zu koordinieren oder um Probleme durch den konstruktiven Dialog zwischen den internationalen Organisationen oder Bürgern zu lösen. Es lassen sich daraus aber schwerlich konkrete Vorschriften im Sinne von Verboten ableiten. Vielmehr bedeutet die Einhaltung dieser Regelungen, dass sie bei der Gestaltung der Politik auf verschiedenen Ebenen berücksichtigt werden. Sie sind nicht durch eine von Sanktionen begleitete Vollstreckung erzwingen. Diese Begriffe haben Leitungscharakter. Die Staaten können aber mit der Beilegung der Konflikte nicht so lange warten, bis der Begriff „globales Wohl“ ausgereift ist. Konflikte müssen umgehend beigelegt werden. Dabei weist das Völkerrecht als System der Regulierungen zunächst den Weg zur Problemlösung. Eine Konfliktbeile-
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gung durch das Gericht ist in den internationalen Beziehungen nicht unbedingt üblich. Jedoch schafft das Urteil mit seiner Begründung Klarheit hinsichtlich der konkreten Bedeutung der Regulierung in einem bestimmten Kontext und hat damit eine weiterreichende Bedeutung, die über die Beilegung einzelner Konflikte hinausgeht. Auch das Gericht kann Konflikte ohne Anwendung des etablierten Völkerrechts als System der Regulierungen nicht lösen. Es verfügt über verschiedene Methoden, die notwendigen Regelungen vom allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz oder Gewohnheitsvölkerrecht abzuleiten, falls sie im Prozess der Konfliktbeilegung fehlen sollten, und kann damit auch kreativ arbeiten. Dies gilt aber nicht nur für das Gericht, sondern ebenso für die Konfliktbeilegung auf diplomatischem Weg. Im Prozess der Konfliktbeilegung werden die Begriffe in den einzelnen Grundsätzen langsam spezifiziert. Durch die Akkumulierung solcher Bemühungen können Regulierungen unter Einbeziehung des „globalen Wohls“ generiert werden, und so wird das Völkerrecht fortgeschrieben. Anders als das innerstaatliche Urteil wird die Umsetzung des Urteils in der internationalen Gesellschaft den Konfliktparteien überlassen. Daher ist die Umsetzung des Urteils auch Gegenstand des diplomatischen Dialogs. Dies ist nicht unbedingt als eine Schwäche des Völkerrechts anzusehen, sonderen vielmehr eine Stärke. Denn auf der neuen Grundlage des Urteils können neue Verhandlungen beginnen. Der Prozess des Völkerrechts erzeugt so neue Regulierungen, indem es den neuen Situationen entsprechend Konflikte behandelt.
§ 16 Kommentar Adelheid Puttler
Zur Lösung der Probleme, die die zunehmende Globalisierung aufwirft, soll auch das Völkerrecht beitragen. Die Referenten haben den Weg dafür aufgezeigt: Das Völkerrecht soll nicht mehr vorrangig auf die Beziehungen zwischen souveränen Staaten ausgerichtet und von Staateninteressen geleitet sein. Es soll vielmehr, so Herr Kollege Kunig, zu einem Recht werden, für das die Interessen der Weltbevölkerung maßgebend sind. Beide Referate verweisen auf positive Entwicklungen in diese Richtung, etwa die Zunahme der Zahl an internationalen Organisationen und die Einbeziehung auch nichtstaatlicher Akteure. Herr Kollege Okuwaki hat uns seine Gedanken vorgetragen, inwieweit ein universelles Gemeinwohl, ein „globales Wohl“, das Territorialprinzip der Staaten relativieren und den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten langsam aufbrechen könnte. Nach beiden Referaten ist das gegenwärtige Völkerrecht aber allenfalls erst auf dem Weg von einem Recht der Staateninteressen zu einem Recht der Verwirklichung globaler Interessen. Während Herr Kollege Okuwaki die Rolle von internationalen Gerichten und Konfliktbeilegung auf diplomatischem Weg für die Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts betont, setzt Herr Kollege Kunig vor allem auf reformierte Vereinte Nationen mit regionalen Vernetzungen, in deren Rahmen das Völkerrecht auf die Interessen der Weltbevölkerung ausgerichtet werden könne. Die Vorsicht und der Bedacht, mit der die beiden Referenten zwischen erstrebenswertem Völkerrecht (lex ferenda) und geltendem Völkerrecht (lex lata) unterscheiden, möchte ich ausdrücklich unterstützen. Gerade bei der Globalisierungsdiskussion werden wir heutzutage in der Völkerrechtspraxis, aber leider auch in der Völkerrechtswissenschaft nicht selten mit Rechtsbehauptungen konfrontiert, ohne dass der Nachweis geführt wird, dass sich diese behauptete Rechtslage mit dem geltenden Recht deckt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Sie reichen von Machtpolitik und Hegemonialstreben bis zu ehrenwerten Motiven wie der wirksamen Verfolgung schwerer Menschenrechtsverstöße.
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Vor allem plädiere ich wie die Referenten dafür, streng und dogmatisch sauber zwischen völkerrechtlich Wünschenswertem und völkerrechtlicher Realität zu trennen. Zwar ist es die Rolle der Wissenschaft, über den Tag hinauszudenken und Anstöße für die Weiterentwicklung des Rechts zu geben. Die seriöse Rechtswissenschaft sollte dabei jedoch stets vom geltenden Recht ausgehen und deutlich machen, wo ihre Vorschläge dessen gesicherten Boden verlassen. Ich zweifle allerdings – und damit weiche ich von den gerade gehörten Referaten ab –, ob es gelingen wird, das Völkerrecht so weit von staatlichen Einzelinteressen abzulösen und so auf universale Interessen der Weltbevölkerung oder ein universales Gemeinwohl auszurichten, wie es die Referenten befürworten und in Aussicht stellen. Meine These ist, dass Völkerrecht immer vorrangig auf die Verwirklichung von Staateninteressen ausgerichtet sein wird und die Einbeziehung von Gemeinwohlerwägungen nur insoweit zulassen wird, wie Staaten damit auch ihre eigenen Interesse voranzubringen glauben. Das liegt im System des Völkerrechts begründet. Trotz der Globalisierung und der damit gewachsenen Zahl an internationalen Akteuren ist und bleibt Völkerrecht eine Koordinationsrechtsordnung, in der vom Grundsatz her Rechtserzeuger und Rechtsunterworfene identisch sind. Die Völkerrechtsordnung bezieht ihre Legitimation aus dem Konsens der Rechtserzeuger und lebt von ihm. Es ist der Konsens der Staaten, der letztlich das Völkerrecht legitimiert. Denn auch internationale Organisationen gehen auf den Konsens der beteiligten Staaten zurück und können von ihnen wieder aufgelöst werden. Private Akteure, vor allem Nichtregierungsorganisationen, fordern die Mitwirkung an der völkerrechtlich Rechtserzeugung und werden auch zunehmend in der einen oder anderen Form beteiligt. Zwar soll der politische Wert der Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen nicht bestritten werden. Letztlich sind aber auch etablierte und weltweit tätige Nichtregierungsorganisationen wie amnesty international oder Greenpeace nichts anderes als Lobbygruppen, die zwar versuchen, Einfluss auf das Völkerrecht zu nehmen, selbst zur Rechtsetzung aber nicht legitimiert sind. Lobbygruppen entstehen und können auch wieder vergehen, Staaten jedoch bleiben, auch wenn sie ihre Namen ändern, ihr Territorium vergrößern oder verkleinern, sich zusammenschließen oder aufspalten.
§ 16 Kommentar
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Es ist keineswegs so, dass Staaten sich nicht um die Rechtsfragen der Globalisierung kümmern. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind große Rechtsfortschritte zu beobachten. Vehikel dieses Fortschrittes war dabei vornehmlich der Konsens der beteiligten Staaten in Form völkerrechtlicher Verträge. Dass sich die Staaten zunächst von ihren eigenen Interessen leiten lassen, ist für eine Koordinationsrechtsordnung nur natürlich. Die größten Fortschritte sind daher im internationalen Wirtschaftsrecht, vor allem im Bereich der Welthandelsorganisation mit ihren nunmehr 148 Mitgliedern zu verzeichnen, zu denen politisch und wirtschaftlich so unterschiedliche Staaten gehören wie beispielsweise Japan, Deutschland, die USA, China, Kuba, Papua Neuguinea, Uganda, Nigeria. Natürlich ist das WTOSystem nicht perfekt und Verhandlungen über WTO-Reformen sind in der Vergangenheit auch schon gescheitert. Staaten bemühen sich aber um intensive internationale Zusammenarbeit, wenn diese Kooperation ihren Eigeninteressen dient. Dann sind sie auch bereit, erhebliche Souveränitätseinschränkungen hinzunehmen. Signifikantes Beispiel dafür ist das Streitschlichtungssystem der WTO, das Dispute Settlement Understanding mit seiner geradezu revolutionären Abkehr vom völkerrechtlich üblichen Einstimmigkeitsprinzip zum umgekehrten Konsensprinzip. Im Bereich der Menschenrechte sind Staaten zögerlicher. So haben sich Staaten bislang über einen wirksamen Menschenrechtsschutz nur regional (insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention), nicht aber global verständigt. Auch über die Frage, welche Menschenrechte zum ius cogens zählen und welche Folgen eine Verletzung solcher Rechte nach sich ziehen soll, herrscht Streit. Mit der Begründung, für den Menschenrechtsschutz einzutreten, haben in der Vergangenheit immer wieder nationale Gerichte das Völkerrecht ihrem Gerechtigkeitsempfinden angepaßt und beispielsweise Klagen gegen ausländische Staaten oder Staatsorgane zugelassen, ohne sich ernstlich mit den einschlägigen völkerrechtlichen Fragen wie Zuständigkeit und Immunität zu befassen. Zum Glück haben die jeweiligen nationalen Obergerichte in der Regel mehr Kenntnis im Umgang mit Völkerrecht bewiesen und derartige Urteile aufgehoben. Natürlich entwickelt sich das Völkerrecht weiter, auch das Völkergewohnheitsrecht, nach dem die gerade genannten Beispiele zu Zuständigkeit und Staatenimmunität in der Regel zu beurteilen sind.
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Weicht eine Regierung oder ein nationales Gericht vom bisher geltenden Völkergewohnheitsrecht ab, kann darin auch der Versuch liegen, das Völkergewohnheitsrecht zu ändern. Derartige Erscheinungen müssen allerdings sehr vorsichtig bewertet werden. Immer ist zu bedenken, dass das Völkerrecht letztlich von der Anerkennung der Staatengemeinschaft abhängig ist. Die Theorie vom spontan erzeugten Völkergewohnheitsrecht (instant customary law) ist damit nicht vereinbar. Die Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts sind unvollständig. Daher wird das Völkerrecht vorrangig deshalb beachtet, weil seine Beachtung im wohlverstandenen Eigeninteresse der Rechtsunterworfenen liegt. Versuche, das Völkerrecht mit Werten aufzuladen, die nicht auf den Konsens der Staatengemeinschaft stoßen, müssen daher letztlich zum Scheitern verurteilt sein.
§ 17 Bericht aus der Arbeitsgruppe Doris König
Die Arbeitsgruppe Völkerrecht beschäftigte sich mit dem Thema „Sicherheit durch Völkerrecht in Zeiten der Globalisierung“. Den Referaten von Prof. Dr. Philip Kunig (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Naoya Okuwaki (Universität Tokio) lag ein weiter Sicherheitsbegriff zugrunde, der sich nicht nur auf die Abwesenheit militärischer Gewalt zwischen Staaten beschränkte, sondern auch die Sicherung des Friedens innerhalb der Staaten sowie grundlegende Elemente der Rechtsstaatlichkeit wie Wahrung der Menschenrechte, Rechtssicherheit und die Erhaltung von Gemeinschaftsgütern einbezog. Was den Befund der gegenwärtigen Entwicklung des Völkerrechts betraf, waren sich beide Referenten weitgehend einig. Zu beobachten seien erste Ansätze der Herausbildung einer Werteordnung und die zunehmende Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Bildung und Durchsetzung des Völkerrechts. Beide Referenten plädierten im Ergebnis für eine Entwicklung des Völkerrechts weg von einem Recht im Interesse der Staaten hin zu einer Rechtsordnung, die den „Interessen der Weltbevölkerung“ (so Kunig) bzw. dem „globalen Wohl“ (so Okuwaki) dient. Den Kontrapunkt hierzu bildete der Eingangskommentar von Prof. Dr. Adelheid Puttler (Ruhr-Universität Bochum). Sie teilte zwar das Ergebnis der Bestandsaufnahme der beiden Referenten, vertrat dann aber die These, dass das Völkerrecht immer vorrangig auf die Verwirklichung von Staateninteressen ausgerichtet sein werde und folglich eine Einbeziehung von Gemeinwohlerwägungen nur insoweit zulasse, als Staaten damit auch ihre eigenen nationalen Interessen fördern könnten. Dementsprechend bewertete sie die Mitwirkung ziviler Akteure wie NGOs anders als die Referenten: Diese seien nichts anderes als Lobbygruppen, die versuchten, Einfluss auf das Völkerrecht zu nehmen; sie seien allerdings zur Rechtsetzung nicht legitimiert. Das Völkerrecht beziehe seine Legitimation allein aus dem Konsens der Staaten, und deshalb sei jeder Versuch, es mit nicht allgemein konsentierten Werten aufzuladen, zum Scheitern verurteilt.
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Diese gegensätzlichen Positionen bestimmten die nachfolgende Diskussion. Diese wurde von dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, dem Völkerrechtshistoriker Prof. Dr. Masaharu Yanagihara (Kyushu Universität, Fukuoka), mit der Frage nach der Identität des heutigen Völkerrechts eingeleitet. Sei das Völkerrecht auf dem Weg zu einem „Weltbürgerrecht“? Diese Frage verband er mit einem Hinweis darauf, dass man – entgegen landläufiger Vorstellungen – selbst für die Periode des klassischen Völkerrechts im 19. Jahrhundert nicht davon ausgehen könne, dass das Völkerrecht lediglich ein Recht zur Regelung der Beziehungen zwischen Nationalstaaten gewesen sei. Vielmehr hätten die Staaten bereits zu dieser Zeit auch Verträge mit nichtstaatlichen Gruppen wie indigenen Völkern abgeschlossen. Das Völkerrecht sei in ständiger Entwicklung begriffen, und man müsse neue Begriffe finden und neue Wege beschreiten, um die Herausforderungen der Globalisierung zu meistern. In der weiteren Diskussion wurde die Fortentwicklung des Völkerrechts hin zu einer Einbeziehung des „globalen Wohls“ eher begrüßt als problematisiert. Die Analyse der Referenten, dass es zu einer stärkeren Berücksichtigung globaler Werte wie insbesondere des Schutzes grundlegender Menschenrechte gekommen sei, wurde unter Hinweis auf die jüngere Praxis des Sicherheitsrats und neuere Urteile internationaler Gerichte bestätigt. Zudem wurde die Frage gestellt, wie man zu einer angemessenen Abwägung zwischen nationalen Interessen einerseits und globalem Wohl andererseits kommen könne, und in diesem Zusammenhang auf das in der deutschen Grundrechtsdogmatik angewandte Prinzip der Herstellung praktischer Konkordanz verwiesen. Bei ihrer Erwiderung wandten sich beide Referenten entschieden gegen die These der Kommentatorin, dass sich Staaten nur über Punkte verständigen könnten, die in ihrem eigenen Interesse lägen, bzw. dass das Völkerrecht immer vorrangig ein staatenzentriertes Recht sein werde. Beide betonten, dass das Völkerrecht in Bewegung geraten sei und dass NGOs bei seiner künftigen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen würden. Kunig wies darauf hin, dass, um der Kritik an der Legitimation von NGOs zu begegnen, deren Zugang zu Normsetzungsprozessen von einer Evaluation bzw. einer Zertifizierung abhängig gemacht werden sollte. Dabei müssten die NGOs bestimmte Voraussetzungen erfüllen, über die man sich im Einzelnen
§ 17 Bericht aus der Arbeitsgruppe
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verständigen müsse. Okuwaki unterstrich noch einmal die wichtige Aufgabe, neue Begriffe zu erarbeiten und das Völkerrecht in vorsichtiger Weise fortzubilden. Hierzu seien nicht nur die Gerichte, sondern auch die Völkerrechtswissenschaftler aufgerufen. Einigkeit herrschte zwischen Referenten und Kommentatorin darüber, dass man zwischen dem geltenden Völkerrecht einerseits und dem politisch Wünschenswerten oder Nützlichen andererseits strikt unterscheiden müsse. Man müsse sich der methodologischen Grundlagen der Völkerrechtswissenschaft vergewissern und an dem Erfordernis einer positiven Rechtsbegründung festhalten. In seinem Schlusswort gab der Vorsitzende Yanagihara mit Blick auf die von Okuwaki in seinem Vortrag gestellte Frage seiner Hoffnung Ausdruck, dass das Völkerrecht die Globalisierung überleben werde. Dies stieß naturgemäß auf allseitige Zustimmung. Im Hinblick auf die Frage, welchen Beitrag die deutsche und die japanische Rechtswissenschaft zu dem Prozess der Entwicklung des Völkerrechts in Zeiten der Globalisierung leisten kann, lassen sich die Ergebnisse der Arbeitsgruppensitzung wie folgt zusammenfassen: Alle Podiumsteilnehmer waren sich darin einig, dass an dem methodologischen Anspruch, klar zu unterscheiden zwischen dem, was heute als Völkerrecht verbindlich sei, und dem, was lediglich als politisch wünschenswert oder nützlich erscheine, festgehalten werden müsse. Man müsse Bestrebungen in der (amerikanischen) Völkerrechtswissenschaft, die das Völkerrecht den politischen Interessen eines Staates unterordnen und es allenfalls selektiv befolgen wollten, eine klare Absage erteilen. Die Völkerrechtswissenschaft Deutschlands und Japans kann auf dieser gemeinsamen methodologischen Grundlage zu der notwendigen Weiterentwicklung des Völkerrechts zu einer Rechtsordnung beitragen, die auf das „Interesse der Weltbevölkerung“ bzw. auf das „globale Wohl“ ausgerichtet und dem Schutz grundlegender gemeinsamer Werte zu dienen bestimmt ist.
6. Teil: Strafrecht – Grenzüberschreitende Kriminalität und Internationalisierung des Strafrechts
§ 18 Was bringt die so genannte Internationalisierung des Strafrechts? – Eine Problembetrachtung aus japanischer Perspektive – Makoto Ida
Übersicht I. Zur Einführung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
II. Internationalisierungstendenzen im japanischen Strafrecht – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 III. Probleme um die Internationalisierung des Strafrechts . . . . 1. Kollision mit dem Rechtsgüterschutzprinzip? . . . . . . . . . . . 2. Verkehrung von Ausnahme und Regel? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsordnung als Flickenteppich? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Problematik des Verfahrens und des Inhalts der Rechtsgestaltung
. . . . .
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IV. Schluss – Aufgaben der Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . 229
I. Zur Einführung Es war bereits zu der Zeit des Entstehens der modernen Strafgesetzbücher, die die Staatshoheit der souveränen Staaten voraussetzten, eine Selbstverständlichkeit, dass das Strafrecht auch die die Landesgrenzen überschreitenden Straftaten zu bekämpfen hatte. Die Existenz der grenzüberschreitenden Kriminalität allein rechtfertigt damit noch nicht, von der „Internationalisierung des Strafrechts“ zu sprechen. Auch das japanische Strafgesetzbuch (nachfolgend „StGB“) von 1907 enthält in seinen §§ 1 ff. Regelungen über den territorialen Geltungsbereich des Strafrechts. Diese Vorschriften, die den Grundgedanken des Gebietsprinzips um das Personal- und dem Schutzprinzip ergänzen, haben manche Änderungen im Detail erfahren, sind aber in ihrem Kern bis heute beibehalten worden. Erst wenn wir uns in einer bis dahin unbekannten, neuen Sachlage befinden, kann man berechtigterweise von der „Internationalisierung des Strafrechts“ sprechen. Und ich bin durchaus der Meinung, dass unser Strafrecht in dieser Hinsicht bereits in eine neue Ära eingetreten ist. Es haben sich erstens in einigen Bereichen jene übernationalen Rechtsgüter herausgebildet, die nicht mehr auf die Interessen der einzelnen
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Staaten und ihrer Mitglieder begrenzt werden können, und alle Staaten sind zu deren gemeinsamen Schutz durch das Strafrecht aufgerufen. Hier geht es um die Internationalisierung des Strafrechts im eigentlichen Sinne des Wortes. In diesen Bereichen ist das Strafrecht der Weltgemeinschaft oder das Weltstrafrecht auf den Plan getreten. Als solche übernationale Rechtsgüter sind etwa die Umwelt, die Sicherheit des Kommunikationsnetzwerks oder die Menschenwürde im bioethischen Bereich zu nennen. Auch der Internationale Strafgerichtshof (ICC), der zu dem Zweck als übernationale Justizinstitution gegründet worden ist, um die schwersten Straftaten wie den Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich – unter der Achtung des Komplementaritätsgrundsatzes – zu belangen, sieht in diesen Taten eine Bedrohung der Weltgemeinschaft und damit der Menschen überhaupt. In diesen Bereichen, wo es sich um solche übernationale Rechtsgüter handelt, wird entweder das Eingreifen des Strafrechts – angesichts der drohenden großen Schäden – tendenziell in einem ziemlich frühen Stadium gefordert, oder es wird überhaupt der Schutz der abstrakten oder unsichtbaren Rechtsgüter angestrebt. Hier stellt sich deshalb die Frage, ob und in welchen Grenzen das Strafrecht legitimerweise eingesetzt werden darf. Ein besonders wichtiger Faktor, der die heutige Internationalisierung des Strafrechts fördert, ist zweitens der Umstand, dass jetzt das sich an wirtschaftlichen Interessen orientierende organisierte Verbrechen sowie zahlreiche politisch oder religiös motivierten Gruppierungen grenzüberschreitend illegale Tätigkeiten entfalten. Es ist deshalb nötig geworden, diesen „Feinden“ der Weltgemeinschaft auch mittels des Strafrechts mit vereinten Kräften entgegenzutreten. Materiellrechtlich gilt es, dass der einzelne Staat die mit anderen Staaten im wesentlichen inhaltsgleichen Strafgesetze bereithält, sodass etwaige Regelungslücken (loop holes) auf dem Weltatlas nicht entstehen können. Hier geht es – im Gegensatz zum oben genannten ersten Problembereich – um den Schutz traditioneller Rechtsgüter wie Leben, Körper, Freiheit oder Vermögen. Aber die Tendenz geht dahin, von den einzelnen Staaten für einen effizienten Rechtsgüterschutz auch die bisher einer nationalen Gesetzgebung unbekannten Vorschriften und Rechtsinstitute zu verlangen. Hier sollte die Frage ihrer Verträglichkeit mit den herkömmlichen Strafrechtsprinzipien zur Debatte stehen.
§ 18 Internationalisierung des Strafrechts
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In meinem Referat möchte ich unter Beachtung dieser zwei Aspekte der Internationalisierung versuchen, zunächst einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des japanischen Strafrechts zu geben, dann auf einige grundlegende Probleme um das dem Druck der Anpassung ausgesetzte Strafrecht hinweisen und, statt das Referat zusammenzufassen, die heutigen Aufgaben der japanischen Strafrechtswissenschaft kurz erwähnen. II. Internationalisierungstendenzen im japanischen Strafrecht – ein Überblick In Japan hat die Forderung nach der Internationalisierung seit den 90er Jahren insbesondere auf dem Gebiet der Gesetzgebung ein unverkennbares Gewicht erlangt und zu einer auffallenden Aktivierung der früher sehr zurückhaltenden Gesetzgebung geführt. Das Verlangen nach Internationalisierung bietet heute neben dem der Verstärkung des Opferschutzes dem Gesetzgeber starke Motivation zu intensiver Arbeit, wie dies bisher nie der Fall war. Die Internationalisierung und der Opferschutz kommen normalerweise getrennt zum Zug. Aber die beiden Forderungen vereinigten sich bei der Änderung des StGB im Jahre 2003: Durch die (Wieder-)Einführung des passiven Personalprinzips ins Strafgesetzanwendungsrecht kann nunmehr das japanische Strafrecht auch dann angewendet werden, wenn ein Japaner im Ausland Opfer einer schweren Straftat wie etwa der vorsätzlichen Tötung, der Körperverletzung oder des Raubs wird und der Täter kein japanischer Staatsangehöriger ist. Die heutige Strafgesetzgebung im Zuge der Internationalisierung ist je nach der Materie in unterschiedlichem Maße aktiv. Am ausgeprägtesten reagiert der japanische Gesetzgeber auf den Welttrend im Bereich der Bekämpfung der organisierten Kriminalität (nachfolgend auch „OK“) und – oft damit zusammenhängend – des Wirtschaftsstrafrechts. Die Bekämpfung der OK stellt auch für Japan eine der wichtigsten kriminalpolitischen Herausforderungen dar. In den letzten Jahren sind viele Fälle des durch ausländische Verbrechensorganisationen begangenen Drogenhandels, der von den Verbrechenssyndikaten organisierten illegalen Einreise und der durch Ausländergruppen ausgeführten Straftaten wie der Kreditkartenfälschung, des Betruges oder des Einbruchsdiebstahls aufgetreten.
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Im Bereich der OK-Bekämpfung hat die weltweite Kooperation mit dem „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen“ von 1988 erst richtig begonnen. Auch der japanische Gesetzgeber führte mit der Umsetzung dieses UNO-Übereinkommens eine Reihe von Maßnahmen einschließlich der Strafbarkeit der Geldwäscherei ein, mittels derer illegale Gewinne aus dem Drogenhandel abgeschöpft werden können. Nach der Durchsetzung dieses Übereinkommens hat sich der Schwerpunkt internationaler Kooperation auf der Ebene der Strafgesetzgebung ganz allgemein auf die OK-Bekämpfung verschoben. Auch Japan erließ im Anschluss an die UNO-Konferenzen, die G8-Gipfeltreffen und die Empfehlungen der FATF (Financial Action Task Force) im Jahre 1999 das neue Gesetz zur OK-Bekämpfung, das den Strafrahmen für die durch Verbände in organisierter Form ausgeführten Straftaten wie der vorsätzlichen Tötung, der Freiheitsberaubung, des Betruges, der Erpressung usw. erhöht und bei der Geldwäsche die Liste der Vortaten über die Drogenstraftaten hinaus auch auf allgemeine Straftaten erweitert hat. In den Jahren 2001 und 2002 wurden mit der Ratifikation der internationalen Anti-Terrorismuskonventionen einschlägige Strafvorschriften geändert oder neu geschaffen. Was das UNO-Übereinkommen gegen transnationale organisierte Kriminalität (TOC Convention) betrifft, hat es die japanische Regierung unterzeichnet und das japanische Parlament anerkannt, aber noch besteht kein Konsens über die vom Justizministerium vorgeschlagenen Strafvorschriften, die bereits die Verabredung zu der organisierten Ausführung gewisser schwerer Straftaten unter Strafe stellen, und deshalb ist es zu den für die Ratifikation des Übereinkommens erforderlichen Gesetzänderungen noch nicht gekommen. Aber seinem Zusatzprotokoll gegen Menschenhandel (trafficking) entsprechend änderte der japanische Gesetzgeber 2005 das StGB dahin, dass der Strafrahmen für die Straftaten gegen die Freiheit erhöht und der neue Straftatbestand des Menschenhandels eingeführt wurde. Dass sich diese Gesetzesreform zügig verwirklichen ließ, lag an der herben Kritik, die in den letzten Jahren Japan von anderen Ländern erhalten hat: in diesem Land gebe es einen ganz ungenügenden Schutz vor dem Menschenhandel. Ebenso veranlasste die Kritik auf internationaler Ebene den japanischen Gesetzgeber zu einer schnellen Gesetzesreform hinsichtlich des Verbots der Kinderpornographie.
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Im Bereich des Wirtschaftstrafrechts führte der Beitritt zum OECDÜbereinkommen von 1997 zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb und der Einführung eines neuen Straftatbestandes der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. Im Jahre 2001 wurde entsprechend einer offiziellen Erklärung des G8-Gipfeltreffens das japanische StGB geändert und um neue Strafvorschriften ergänzt, die das unberechtigte Herstellen und den Gebrauch von Zahlungskarten wie Kreditkarten und deren Vorbereitung unter Strafe stellen. Auch das „Cybercrime-Abkommen“ des Europarats, das die Mitgliedsstaaten u.a. verpflichtet, das Herstellen und In-Verkehr-Bringen von Computer-Viren zu bestrafen, wurde von der japanischen Regierung unterzeichnet. Zu seiner Ratifikation ist es bisher noch nicht gekommen, obwohl der Entwurf für die dazu nötige Änderung des StGB mehrmals im Parlament beraten wurde. Im Bereich des Schutzes übernationaler Rechtsgüter, der die echte Internationalisierung betrifft, ist der japanische Gesetzgeber jedoch weniger aktiv. Mit der Problematik der gravierenden Umweltverschmutzung war Japan sehr früh konfrontiert. Bereits im Jahre 1970 führte das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Umweltstraftaten, die die menschliche Gesundheit beeinträchtigen“, kurz das Umweltstraftatengesetz, Strafbestimmungen ein, die eine vorsätzliche oder fahrlässige Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit durch umweltbelastende Betriebstätigkeiten unter Strafe stellen. Daneben existieren zahlreiche Verwaltungsstrafgesetze. Aber das Umweltstraftatengesetz ist bis heute in der Praxis kaum angewendet worden. Die Strafverfolgung wegen Verstoßes gegen Verwaltungsstrafgesetze findet – ausgenommen von Fällen der Abfallbeseitigung – sehr selten statt. Das bedeutet nicht, dass es in Japan keine Umweltprobleme mehr gäbe. Die niedrigen Zahlen der Strafverfolgung ließen sich vermutlich auf den mangelnden Verfolgungswillen der Ermittlungsorgane zurückführen. Was den ICC anbelangt, nimmt Japan zwar an der Zusammenkunft der Vertragsstaaten als „observer“ teil, hat aber das Römische Statut bis heute weder ratifiziert noch unterzeichnet, aus dem Grund, dass seine Umsetzung ins japanische Rechtssystem schwierig sei. Im bioethischen Bereich trat im Jahre 2000 das Gesetz zur Regelung der Klontechnik beim Menschen in Kraft: Dieses Gesetz verbietet das reproduktive Klonen sowie die Bildung von
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Chimären und Hybriden unter Verwendung von menschlichen Zellen. Etwa ist für die Implantation eines geklonten Embryos in eine Gebärmutter u.a. eine Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren vorgesehen. Hinter diesem Gesetz steht jedoch die Forderung der japanischen Wissenschaftler, von dem Verbot des reproduktiven Klonens das Klonen zu Forschungszwecken mit Humanzellen auszunehmen und zu legalisieren. Dieses starke Verlangen und die Besorgnis, dass die japanische Biomedizin auf diesem Gebiet sonst nicht mit dem internationalen Forschungsniveau Schritt halten könnte, hat dieses erste Gesetz bezüglich der bioethischen Problematik ermöglicht. Nach dieser notgedrungen knappen Übersicht über die Entwicklung des japanischen Strafrechts in den letzten Jahren wende ich mich jetzt der Frage zu, welche Probleme die Internationalisierung des Strafrechts hervorbringt. Ich möchte sie darstellen und einige Überlegungen darüber anstellen. III. Probleme um die Internationalisierung des Strafrechts 1. Kollision mit dem Rechtsgüterschutzprinzip?
Zunächst befasse ich mich mit der Problematik der übernationalen Rechtsgüter. Ist bei einer Straftat mit einer so gravierenden Gefahr zu rechnen, dass mehrere Länder zugleich betroffen sind, wird das Eingreifen des Strafrechts schon in einem früheren Stadium gefordert als dies sonst der Fall wäre. Wie es sich exemplarisch im Bereich der Bioethik und des Umweltschutzes zeigt, muss eine im Augenblick nicht deutlich schädliche Tat unter Strafe stehen, weil durch solche Taten noch nach Generationen große Schäden entstehen können. Die Straftaten des 21. Jahrhunderts können nicht nur als grenzüberschreitend, sondern auch als generationenüberschreitend ausgeführt werden. Das heißt, dass der heutige Maßstab zur Bewertung der Straftaten nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich erweitert werden muss. Hand in Hand mit dieser Vorverlegung der Strafbarkeit tritt die Tendenz der Idealisierung oder der Abstrahierung der Rechtsgüter auf. Die technische Lebensmanipulation wie das reproduktive Klonen wird bestraft, weil dadurch die „Würde des Menschen“ verletzt werde. Bei den Straftaten gegen die Menschlichkeit entstehen zwar durchaus
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sichtbare Schäden, aber von der ICC werden sie deshalb belangt, weil sie eine Bedrohung gegen den Menschen überhaupt mit sich bringen. Hier sucht man den Grund des strafrechtlichen Eingreifens auf einer ideellen oder abstrakten Ebene. Es sieht deshalb so aus, als ob im Zeitalter der Internationalisierung vom Strafrecht erwartet wird, zur Bildung oder Aufrechterhaltung von internationalen Standards auch im Bereich der Werturteile einen Beitrag zu leisten. In der traditionellen Strafrechtswissenschaft herrscht das Prinzip des Rechtsgüterschutzes, nach dem die Strafe erst dann ihre Legitimation erhält, wenn die betreffende Tat einen rechtsgutsbeeinträchtigenden Charakter besitzt. Mit diesem Prinzip wird die Trennung von Strafrecht und Moral durchgeführt und der Einmischung der Staatsgewalt in den Bereich reiner Werturteile vorgebeugt. Wie verträgt sich dieses Prinzip mit der Internationalisierung des Strafrechts? Man könnte argumentieren, dass der Gedanke, den Einsatz des Strafrechts auf die Fälle sichtbarer Rechtsgüterbeeinträchtigung zu beschränken, deshalb weite Anerkennung gefunden hat, weil dadurch in der nationalen Rechtsordnung die Freiheiten des Individuums gegenüber dem konservativen Interventionalismus durchgesetzt werden sollten, und er somit dort fehl am Platz ist, wo man auf internationaler Ebene einen gewissen Verhaltenskodex aufrechterhalten will. Die Erweiterung individueller Freiheiten in einer bereits bestehenden Rechtsordnung und die Suche nach Konsens minimaler Werturteile in einer noch zu bildenden Weltgemeinschaft sind zwei verschiedene Sachen. Zu bedenken ist auch, dass es hier um ein Minimum fundamentaler Wertentscheidungen geht, das mit dem Anspruch auf die kulturelle Vielfalt oder die lokale Eigenart nur wenig zu tun hat. Was die Vorverlegung der Strafbarkeit betrifft, möchte ich darauf hinweisen, dass das Potenzial des Individuums auch im Hinblick auf die Rechtsgutsverletzung gewaltig zugenommen hat und deshalb das Strafrecht um eines effektiven Rechtsgüterschutzes willen in einem früheren Stadium eingesetzt werden muss, wenn es nicht zu spät zur Stelle sein will. Hieraus ergibt sich, dass die Kritik an den Internationalisierungstendenzen, soweit sie auf dem Rechtsgüterschutzprinzip beruht, nicht stichhaltig ist. Andererseits ist es zu befürchten, dass mit diesem Prinzip die Schranken vor einem übermäßigen Gebrauch des Strafrechts aus utilitaristischen Erwägungen verloren gehen. Eine hohe Plausibi-
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lität der Schutzwürdigkeit des betreffenden ideellen Wertes sowie eine demokratische Kontrolle der Entscheidung über die Kriminalisierung sind vorauszusetzen. Ebenso ist in Betracht zu ziehen, welche Konsequenzen solche Taten in ihrer Verallgemeinerung hervorbringen werden, und ob die Strafsanktion für die Vorbeugung derselbigen geeignet ist und nicht durch ein anderes, weniger einschneidendes Mittel ersetzt werden kann. 2. Verkehrung von Ausnahme und Regel?
Die OK-Bekämpfung gibt dem japanischen Gesetzgeber besonders starke Motive zur Internationalisierung des Strafrechts zur Hand. Die Mitwirkung an der diesbezüglichen Kooperation der Weltgemeinschaft verursacht jedoch große Spannungen in der nationalen Strafrechtsordnung. Ich sehe hier das zweite wichtige Problem bei der Internationalisierung des Strafrechts. Das Strafrecht in seiner heute üblichen Form knüpft an die Einzeltat des individuellen Täters an, die nur ihm persönlich zurechenbar ist. Wegen dieser Individuumsorientierung kann es manchmal dem Potenzial der organisierten Kriminalität nicht gerecht werden. Darüber hinaus hat das heutige Strafrecht bei der OK-Bekämpfung mit Tätern zu tun, die, wie verbrecherische Organisationen, fanatische Sekten und Terroristen, von Wertvorstellungen ausgehen, die von denen eines Durchschnittsmenschen grundverschieden und mit seinen Anschauungen inkompatibel sind. Es erscheint nicht mehr möglich, mit ihnen unter dem Motto „leben und leben lassen“ zu koexistieren. Hier könnte man meines Erachtens mit Recht die Frage stellen, ob und inwieweit von den herkömmlichen strikten Schranken zur Strafgewaltausübung Ausnahmen gemacht werden sollen und dürfen, um gegen diesen „Feind“ der Weltgemeinschaft effektiv vorzugehen. Hieraus resultiert die Spaltung des Strafrechts in zwei Teile, für die jeweils unterschiedliche Prinzipien gelten: die Teile, die nur an die „normalen“ Bürger gerichtet sind, und die Teile, die als Ausnahmefall mit dem Organisierten Verbrechen zu tun haben. Für besonders problematisch halte ich das Phänomen, dass die eigentlich zur OK-Bekämpfung geschaffenen Strafvorschriften auch Anwendung auf die gewöhnlichen Fälle der allgemeinen Straftaten finden. Denn es kommt häufig vor, dass der Gesetzgeber die OK im Auge behält und eine Strafbestimmung schafft, aber deren Anwendung nicht von der
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Begehung durch die Organisierten abhängig macht, weil das gesetzestechnisch schwierig ist oder eine solche Differenzierung mit dem Gleichheitsgebot nicht im Einklang steht oder aber diese Bestimmung Beweisschwierigkeiten vermeiden und effektiver einwirken soll. Hier entsteht die Gefahr der Erosion des allgemeinen Strafrechts durch die Ausnahmeprinzipien. Es reicht nicht aus, von den Justizorganen eine der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers entsprechende Handhabung dieser Vorschriften zu erwarten. Als ein Beispiel ist unser Geldwäscherei-Tatbestand im OK-Gesetz zu nennen. Diese Vorschrift setzt eine Begehung im Kontext der OK nicht voraus und ist im Gegensatz zum Hehlerei-Tatbestand des StGB ziemlich locker gefasst. Bei ihrer Anwendung auf die gewöhnlichen Fälle würde der Strafbarkeitsbereich jedoch übermäßig weit ausgedehnt werden. 3. Rechtsordnung als Flickenteppich?
Es ist m. E. unumgänglich, dass das Vorantreiben der strafrechtlichen OK-Bekämpfung Spannungen und Spaltung ins herkömmliche Strafrecht hineinbringt. Man könnte dagegen höchstens verschreiben, den Bereich, in dem die Ausnahmeprinzipien herrschen, aufs wirklich Nötigste einzuschränken und die Erosion der allgemeinen Strafrechtsprinzipien möglichst zu vermeiden. Zugleich ist es hier wichtig zu erkennen, dass es ein weiteres, tiefer liegendes Problem gibt, auf das ich im Folgenden kurz hinweisen möchte. Wie ich es oben im Zusammenhang mit dem OK-Problem beschrieben habe, bringt die Internationalisierung Kollisionen mit dem nationalen Strafrecht und seinen Prinzipen mit sich. Nicht zu übersehen ist hierbei, dass die Effektivität und die Praktikabilität im Vordergrund stehen. Die Strafvorschriften, die den Verfolgungsorganen das frühestmögliche Eingreifen ermöglichen und sie von den Beweisschwierigkeiten befreien, werden bevorzugt. Der Schutz der wirtschaftlichen Interessen erlangt tendenziell zu großes Gewicht, da über ihn auf der Ebene der internationalen Kooperation leicht ein Konsens zu erzielen ist. Das alles führt möglicherweise auf lange Sicht zu einem grundlegenden Wandel des nationalen Strafrechts. Diesen Prozess könnte man so bezeichnen: weg von einem durch einheitsstiftende Prinzipien geordneten Rechtssystem zu einem Sammelsurium von Rechtsregeln, das in seinen Teilbereichen jeweils von unterschiedlichen Prinzipien
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beherrscht wird. Diese ohnehin bereits in Gang gesetzte Erscheinung wird durch die Bildung der internationalen Standards und ihre Aufnahme ins nationale Recht wesentlich weitergefördert werden. Es ist vorauszusehen, dass sich das künftige japanische Recht zu einem „Flickenteppich“ entwickeln wird, wobei man versucht, den einzelnen Fällen und Problemen – unter flexibler Anpassung an die Änderungen der Gesellschaft und der Wertvorstellungen ihrer Mitglieder – jeweils sachgemäße Lösungen zu geben, aber ihre systematischen Zusammenhänge immer weniger beachtet. Diesem Wandel entspricht, dass die Japaner mehr und mehr – statt des deutschen – das amerikanische Recht zum Vorbild für die Rechtsbildung nehmen. 4. Problematik des Verfahrens und des Inhalts der Rechtsgestaltung
Das vierte Problem, auf das ich hinweisen möchte, betrifft die formelle und die materielle Seite der Gesetzgebung. Bei der Ratifikation eines internationalen Übereinkommens verfährt man so, dass es zunächst von der Regierung des einzelnen Staates unterzeichnet, dann von seinem Parlament anerkannt und nach der entsprechenden Änderung oder der Ergänzung des nationalen Rechts schließlich ratifiziert wird. Auf den Inhalt des Vertrags haben nur die in den einzelnen Staaten Verantwortlichen Einfluss, im Fall Japans die Bürokraten des Justizministeriums. Es ist manchmal so, dass die entscheidende Weichenstellung schon bei der Fassung des Vertragstexts stattfindet und für die Umsetzung ins nationale Recht nur noch technische Fragen übrig bleiben. Ich habe zwar keine prinzipiellen Bedenken gegen den Inhalt der Übereinkommen, die die japanische Regierung im Kontext der Internationalisierung des Strafrechts unterzeichnet hat. Aber die Legitimität des Verfahrens ist eine andere Sache. Die heutige Vorgehensweise ist vielleicht zweckmäßig, aber vom Gesichtspunkt einer demokratischen Kontrolle keineswegs unproblematisch. Was den inhaltlichen Aspekt der neuen Strafgesetzgebung betrifft, möchte ich noch auf einen Problempunkt hinweisen. Bei der nationalen Strafgesetzgebung werden üblicherweise genügend empirische Tatsachen gefordert, die die Gesetzgebungsarbeit fundieren und ihre Rationalität sicherstellen sollen. Aber bei der Bildung der internationalen Standards etwa im Bereich der OK-Bekämpfung wird von den gesonderten Umständen der einzelnen Staaten abgesehen und so wer-
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den nur auffällige Erscheinungen betont. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die die Effektivität anstrebende Regelbildung einer empirischen Grundlage entbehrt. Der einzelne Staat soll sogar die – national gesehen – nicht empirisch fundierten Strafgesetze nur deshalb erlassen, damit keine Regelungslücke auf dem Weltatlas entsteht. Teile der japanischen Strafrechtswissenschaft kritisieren deshalb die neueren Strafgesetze unter dem Gesichtspunkt der sog. mit Beweisen fundierten Kriminalpolitik (evidence-based criminal policy).
IV. Schluss – Aufgaben der Strafrechtswissenschaft Zum Schluss möchte ich, statt mein Referat zusammenzufassen, eine Zukunftsperspektive als ein japanischer Wissenschaftler zur Debatte stellen. In der Vergangenheit ist das japanische Recht unter dem Einfluss des westlichen Rechts modernisiert worden. In Japan spricht man oft vom „Druck von Außen“. In der Tat sind große Reformen, die, wie die Rezeption des europäischen Rechts in der Meiji-Periode oder die des angloamerikanischen Rechts nach dem Zweiten Weltkrieg, den Paradigmenwechsel des japanischen Rechtssystems mit sich brachten, stets unter dem Druck von Seiten des Auslandes durchgeführt worden. Dank dieses Drucks ist aber das japanische Recht modernisiert, rationalisiert und humanisiert worden. Die Rezeption des westlichen Rechts, die diesen Druck begleitete, hat ein rückständiges Recht zum Weltniveau erhoben. Die heutige Internationalisierungstendenz bringt möglicherweise so grundlegende Änderungen des Strafrechts hervor, dass man auch hier von einem Paradigmenwechsel sprechen könnte. Ein fundamentaler Unterschied zur Rezeption des westlichen Rechts in der Vergangenheit liegt aber darin, dass wir heute keine fertigen Rechtsregeln und -institute vorfinden, sondern die Bildung der Standards unsere noch erst zu bewältigende Aufgabe darstellt. Darüber hinaus steht Japan nicht etwa unter Druck, diese Standards nur zu rezipieren. Unser Land ist in der Lage, hier bei einer gemeinsamen Bildung mitzuwirken, und trägt sogar die Verantwortung dafür, dies zu tun. Ob Japan seiner wirtschaftlichen Position entsprechend einen wesentlichen Beitrag zur Bildung der internationalen Standards zu leisten vermag, hängt von der Unterstützung der hiesigen Rechtswissen-
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schaftler durch dazu nötige Vorarbeiten ab. Es ist unverantwortlich, in dieser Zeit des Wandels unkritisch mit dem Strom zu schwimmen. Es ist andererseits nicht des Namens „Wissenschaft“ würdig, sich an die alte Strafrechtstradition nur anzuklammern und den Forderungen der Zeit schlicht ablehnend gegenüberzustehen. Zu dieser Materie eine ausgewogene und konstruktive Lösung zu finden, ist eine wirklich schwierige Aufgabe. Es kommt nicht in Frage, dass die japanischen Rechtswissenschaftler ihren alten deutschen Patron verlassen und unter die neue Schutzherrschaft des angloamerikanischen Rechts eintreten. Die japanische Strafrechtswissenschaft des 21. Jahrhunderts soll am internationalen Forum der Wissenschaft mit ihrem eigenen Beitrag mitwirken können.
§ 19 Bericht aus der Arbeitsgruppe * Kanako Takayama
Übersicht I. Zu den Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts und zur Ideologiefunktion des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . 231 II. Zur Spaltung in Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht
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III. Zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht . . . . . 1. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Verhältnis von nationaler und supranationaler Strafgewalt
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In der Arbeitsgruppe Strafrecht wurde diskutiert, ob im Kontext der „Grenzüberschreitenden Kriminalität und Internationalisierung des Strafrechts“ Werte wie etwa Öffentlichkeit, Demokratieprinzip oder Kultur erhalten werden sollten. In diesem Rahmen stellte sich u.a. die Frage, ob zur Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität und Terrorismus eine Einschränkung der Menschenrechtegarantie eines Tatverdächtigen bzw. Angeklagten im Strafverfahren zugelassen werden soll. Außerdem wurde das Problem erörtert, ob solche Bekämpfungsmaßnahmen dazu führen könnten, dass bestimmten Ideologien Vorschub durch das Strafrecht geleistet wird.
I. Zu den Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts und zur Ideologiefunktion des Strafrechts Bezüglich der Entwicklung des Völkerstrafrechts wurde zunächst der Wandel des Völkerrechtsubjekts festgestellt. Traditionell galt der Staat als Völkerrechtssubjekt, während mit der Entwicklung des Völkerstrafrechts das Individuum als Subjekt anerkannt wurde. So wird das Individuum immer mehr als Subjekt einer Straftat bzw. als Objekt der Bestrafung angesehen, andererseits wurde das Individuum
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Übersetzung: Jan-Martin Wilhelm.
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aber auch als Opfer einer Straftat, also als Objekt des durch das Völkerstrafrecht gewährten Schutzes in Betracht gezogen. Man kann aber zu der Frage, ob Länder wie Deutschland oder Japan einer solchen Entwicklung des Völkerstrafrechts zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen, geteilter Meinung sein. Als nächstes wurde bestätigt, dass durch einige internationale Strafgerichte nach dem Zweiten Weltkrieg das Kriegsverbrechen, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Völkermord und das Aggressionsverbrechen als sog. Kernverbrechen (core crimes) im Völkerrecht gelten. Im Bezug auf die Rechtsgrundlage für die Bestrafung solcher Verbrechen wurde allerdings ein Dissens deutlich. Nach dem Referat von Herrn Osten fände das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof auch für Nichtbeitrittsstaaten Anwendung und die Bestrafung dieser Kernverbrechen sei auch ohne Normierung in positives Recht in einem Nichtbeitrittsstaat möglich, da sich die Bestrafung von Kernverbrechen völkergewohnheitsrechtlich bewährt habe. In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass Art. 25 GG festlege, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind. In Erwiderung demgegenüber wurde (von Doris König) die Meinung geäußert, dass – auch wenn es sich um Kernverbrechen handele – die Sanktionsgrundlage nicht im Völkergewohnheitsrecht gesucht werden sollte, sondern im positiven Recht zu Grunde gelegt werden müsste und dass einer solchen Bestrafung verfassungsrechtliche Schranken auferlegt werden sollten. Kernverbrechen sind Angelegenheiten, die im Interesse der gesamten Weltengemeinschaft liegen, und es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass bei deren strafrechtlicher Verfolgung jeder einzelne Staat mitwirken sollte. Kontroversen gab es allerdings zur Frage, ob dies wirklich abseits jeglicher Konfrontationen von Ideologien möglich ist. Einerseits wurde die in Deutschland allgemein herrschende Ansicht vertreten, dass – zumindest was die Kernverbrechen anbelangt – deren Strafwürdigkeit offensichtlich sei und deshalb kein Raum für ideologische Auseinandersetzungen bestünde. Demgegenüber wies Yi in seiner Stellungnahme darauf hin, dass – Bezug nehmend auf den im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgeführten, ellenlangen Katalog zum „Kriegsverbrechen“ – zu bezweifeln sei, dass dieser in seiner Gesamtheit universell als Verbrechen angesehen werden könne. Dies läge daran, dass in den Rechtssystemen kulturell bedingte Unter-
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schiede bestünden. Dies werde z. B. an der Thematik der „Menschenwürde“ deutlich. So sei die Forschung über das Klonen menschlicher Embryonen zu Fortpflanzungszwecken in Deutschland stark eingeschränkt, während dies in Südkorea durchgeführt werden dürfe, sofern eine Genehmigung des staatlichen Ethikrates vorläge. Auch die Prostitution, die in Südkorea als ein herkömmliches Dienstleistungsgewerbe weit verbreitet gewesen sei, sei durch die von der Globalisierung stark beeinflusste feministische Bewegung pönalisiert worden, so dass die Konfrontation zwischen Prostituiertenvereinigungen und Feministen zu einem gesellschaftlichen Problem geworden sei. In den letzten Jahren sei in der koreanischen Strafjustiz anstelle der traditionell ermittelten materiellen Wahrheit das Prinzip des due process aufgenommen worden, dessen Schwerpunkt in der prozessualen Gerechtigkeit läge, und außerdem werde durch die Entscheidung, ein „Justizteilnahmesystem“ des Volkes einzuführen (es handele sich um ein System, durch das bei schwerwiegenden Strafprozessen die Bürgerbeteiligung in Form eines Mittelweges zwischen Geschworenen- und Schöffensystem anerkannt wurde) das Phänomen der Amerikanisierung auffallend deutlich. Schließlich wurde auch die Ansicht vertreten, dass der Großteil des strafrechtlich relevanten Gebietes mit rechtskulturell bedingten Differenzen verbunden sei, so dass man im Rahmen des Globalisierungsprozesses vom Strafrecht keine Funktion zur Bildung einer (einheitlichen) Ethik erwarten könne. Stattdessen sei es wichtig, von der Prämisse der Pluralität von Werten auszugehen.
II. Zur Spaltung in Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht In den vergangenen Jahren war in vielen Ländern zu beobachten, dass zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus Gesetze erlassen wurden, die innerhalb eines gewissen Rahmens den Umfang der Strafbarkeit zeitlich vorverlegten, die angedrohte Strafe verschärften oder das Niveau der Gewährleistung prozessualer Rechte senkten. Dieses Phänomen bezeichnet und analysiert Günther Jakobs als „Feindstrafrecht“. Während das übliche „Bürgerstrafrecht“ davon ausgeht, dass Bestrafende und Bestrafte gleiche Bürger sind, klassifiziert das „Feindstrafrecht“ die Objektperson als einen zum Lager der Opfer bzw. Bestrafende heterogenen „Feind“. Dieses
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Problem bestünde zwar schon seit jeher, mit der Globalisierung des Verbrechens habe es sich allerdings zugespitzt (Winfried Hassemer). Zudem wurde (von Marc André Wiegand) die Meinung vertreten, dass die deutsche Strafrechtswissenschaft einer solchen Entwicklung, einen bestimmten Personenkreis nachteilig zu behandeln, kritisch gegenüberstünde. Dieser Ansatz verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, würde als Gesetz ohnehin nicht anerkannt werden und sei zudem auch kein wirksames Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Demgegenüber wird im Referat von Herrn Ida ein leicht abweichender Standpunkt aufgezeigt. Die Spaltung in Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht sei zwar als solche nicht erwünschenswert, folge man aber dem Zurückhaltungs- bzw. „ultima ratio“-Grundsatz des Strafrechts, so gäbe es Fälle, in denen diese zur Verbrechensbekämpfung unvermeidbar sei. Wichtig sei aber, wie man diese Entwicklung in Zukunft aufhalten kann. Von beiden Ansichten wurde aber betont, dass der Verbreitung von Kriminalisierung, Strafverschärfung und Reduktion prozessualer Rechte im bestehenden Strafrecht – ursprünglich stellte dies ja die Ausnahme dar – Einhalt geboten werden sollte. Vor allem wurde darauf hingewiesen (Jürgen Schwarze, Hiroshi Nishihara), dass es besonderer Wachsamkeit bedarf, damit – angefangen beim Verhältnismäßigkeitsprinzip, das der Einschränkung präventiver Maßnahmen dient – die Auslegung allgemeiner Verfassungsgrundsätze nicht sukzessive ausgehöhlt wird durch Gesetze, die als Erwiderung zu neuartigen Verbrechensbildern erlassen wurden.
III. Zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht Es wurde hervorgehoben, dass unter den verschiedenen Aspekten der Internationalisierung des Strafrechts künftig mehr Diskussionen zwischen Verfassungs- und Strafrechtlern überschneidend geführt werden sollten.
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1. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip
Das Referat von Herrn Ida erläutert, dass es etwa bei verheerenden Umweltzerstörungen oder in sonstigen Fällen, in denen ein einmal eingetretener Schaden nicht mehr restituierbar ist, einer vorbeugenden Strafverfolgung bedarf, dass es aber auch von großer Bedeutung sei, eine uneingeschränkte Ausweitung der Bestrafung zu verhindern. Es wurde (von Hiroshi Nishihara) die Frage gestellt, ob nicht vielleicht nach derzeitiger Lage alleine der Prävention nachgegangen werde, ohne dass die Verhältnismäßigkeit genau geprüft werde. Gleichzeitig wurde (von Jürgen Schwarze) vorgeschlagen, dass bei einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Rechtsnormierung nicht zwangsläufig am „harm principle“ festgehalten werden müsse. Mit anderen Worten setze die Strafverfolgung nicht unbedingt eine tatsächliche Verletzung eines Schutzgutes bzw. dessen konkrete Gefährdung voraus. Auch ein auf präventiven Erwägungen basierendes Gesetz könne dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, sofern man für eine Kriminalisierung das Bestehen von eindeutigen tatsächlichen Grundlagen voraussetze. In diesem Zusammenhang wurde (von Tomoko Utsumi) die Ansicht vorgetragen, dass beispielsweise das Verbot der Geburt eines menschlichen Klons nicht bloß abstrakt mit der „Missachtung der Menschenwürde“, sondern konkreter in der Form begründet werden sollte, dass sich daraus ein schlechter Einfluss auf das Fortbestehen der Menschheit als Spezies für die Zukunft ergäbe. 2. Zum Demokratieprinzip
Die treibende Kraft für die Globalisierung des Strafrechts bilden die völkerrechtlichen Verträge in Strafsachen. Zweifelsohne werden diese zwar von den Parlamenten der jeweiligen Länder ratifiziert, verfasst werden sie indes eigentlich von Verwaltungsbeamten, die für den Staat handeln. So gesehen, stelle sich (nach Gentarô Kamei) die Frage, ob ein hinlängliches Bewusstsein darüber herrsche, dass ein Mangel an demokratischer Kontrolle über den Inhalt der strafrechtlichen Gesetzgebung bestehe. Hierzu wurde (von Winfried Hassemer) mitgeteilt, dass man in Deutschland gegenüber dem Vorantreiben der Europäisierung bzw. Globalisierung ursprünglich eine zustimmende Haltung einnahm,
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dass sich aber auch in letzter Zeit wegen des teilweisen Verzichts auf die Staatssouveränität eine skeptische Sichtweise breit mache. Insbesondere stünden die Strafrechtswissenschaftler einer Aufweichung der verfassungsrechtlichen Garantien durch die Europäisierung sehr kritisch gegenüber. 3. Zum Verhältnis von nationaler und supranationaler Strafgewalt
Herrn Osten hatte in seinem Referat die Frage aufgeworfen, ob der Kriegsverzicht und der Verzicht auf Unterhalt von Streitkräften nach Art. 9 der Japanischen Verfassung, ein Hindernis für den Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof darstellt. Ein Vorschlag (von Christian Kirchner) hierzu lautete, ob man dem nicht die in der Präambel erwähnte Pflicht zur Achtung des Völkerrechts entgegenhalten könne. Eine Entwicklung der Diskussion unter diesem Aspekt ist allerdings bisher nicht erkennbar gewesen. Eine Frage, die im Verhältnis von nationalem und internationalem Recht in Zukunft geklärt werden sollte, ist die Zuständigkeitsaufteilung zwischen staatlichen Einrichtungen untereinander sowie zwischen staatlichen und supranationalen Einrichtungen. Der Umfang der staatlichen Strafverfolgung kann nicht von jedem Land uneingeschränkt ausgeweitet werden, sondern unterliegt völkerrechtlichen Beschränkungen. Das Beispiel Belgiens, das einst unter Berufung auf die Strafgewalt nach dem Weltrechtsprinzip die Verhaftung des kongolesischen Außenministers forderte – die Durchführung verhinderte der Internationale Gerichtshof –, zeigt, dass es zur Berufung auf die Zuständigkeit des eigenen Staates völkerrechtlich eines „Bezugspunkts“ zwischen dem betreffenden Fall und dem Staat bedarf. Ferner folge (nach Philipp Osten) die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes dem Subsidiaritätsgrundsatz, nach der die Zuständigkeit nur dann anerkannt wird, wenn die staatliche Strafverfolgung nicht hinlänglich funktioniere. Es sei aber bis heute nicht geklärt, wer wie über die Koordination von Zuständigkeitsstreitigkeiten unter den Staaten sowie über das Vorliegen der Subsidiarität entscheiden soll. Auch im europäischen Kontext sei (so Winfried Hassemer) – wie am Beispiel unterschiedlicher Standpunkte des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts deutlich werde – das Problem der gegenseitigen Verständigung akut.
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Abschließend wurde festgestellt, dass es konkreter Maßnahmen bedarf, um der Ausweitung der Strafverfolgung Einhalt zu gebieten, dass unabhängig davon die diese Maßnahmen stützenden Grundsätze wie der der Verhältnismäßigkeit bisher nicht hinreichend geprüft wurden und dass von nun an zum Zwecke einer verbesserten Verwirklichung der Grundrechte auf Seiten der Lehre, wie auch der Praxis, die Diskussionen unter Verbindung des Verfassungs- und Strafrechts fortgeführt werden müssen.
7. Teil: Juristenausbildung – Folgen der Globalisierung für die Juristenausbildung
§ 20 Folgen der Globalisierung für die Juristenausbildung Hanns Prütting
Übersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Globalisierung in der Juristenausbildung? 1. Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . 2. Differenzierte Systeme . . . . . . . . . . . . 3. Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die neue Globalisierung . . . . . . . . . . .
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III. Japan und Deutschland: Die gemeinsame Vergangenheit . . . . 247 IV. Die deutsche Juristenausbildung im 20. Jahrhundert und die Reform des Jahres 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 V. Europäische Entwicklungstendenzen 1. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . 2. England . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . .
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VI. Europäisierung und Globalisierung: Der Bologna-Prozess . . . . 254 VII. Ausbildungsziele und Konsequenzen
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I. Einführung Das Recht als institutionalisiertes Regelwerk für menschliches Verhalten und menschliches Zusammenleben in jeder Form ist die zentrale Grundlage jeder Art von Sozialverhalten und damit zugleich jedes Gemeinwesens schlechthin. Die Bedeutung des Rechts für unsere moderne Welt kann daher wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden. Recht kann aber immer nur so gut sein wie die Personen, die Recht setzen, Recht auslegen, Recht fortbilden und Recht anwenden. Schon aus dieser einfachen Grundsatzüberlegung ergibt sich, wie außerordentlich groß der Stellenwert der juristischen Ausbildung ist. Juristische Ausbildung hat eine sehr lange Tradition. Sie wird seit nahezu 1000 Jahren an Universitäten betrieben, zwar nicht exklusiv,
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aber zu wesentlichen Teilen. Die Geschichte der Juristenausbildung ist daher nicht zufällig mit der Geschichte der Universität eng verknüpft. Universitäten (als Kollegium der Lehrenden und Lernenden) im Sinne eines über den normalen Unterricht hinausgehenden Zusammenschlusses von Studenten und Professoren mit einer gewissen Selbstverwaltung sind bekanntlich an der Wende des 11. zum 12. Jahrhundert zunächst in Norditalien (Bologna 1088; Zusammenschluss von Studenten) sowie in Frankreich (Paris um 1100; Zusammenschluss von Professoren und Studenten) entstanden.1 Sehr schnell gab es von diesen Zentren aus vielfältige weitere Universitätsgründungen. Nach dem Vorbild Bolognas entstanden in Italien etwa Rechtsfakultäten in Padua, Pavia, Perugia und Siena. Von Paris aus wurden insbesondere in Montpellier, Orléans, Toulouse und Avignon Rechtsfakultäten gegründet. Ebenfalls im 12. Jahrhundert entstand in Oxford eine Rechtsfakultät für ziviles und für kanonisches Recht. Der mittelalterliche Rechtsunterricht hatte bereits weitgehend globale Tendenzen. Denn es wurde mit Hilfe gemeinsamer Rechtsquellen (corpus iuris civilis und corpus iuris canonici), mit gemeinsamer Sprache (Latein) und mit gemeinsamen wissenschaftlichen Strukturen und Methoden (Glossatoren, Postglossatoren) gearbeitet. Auf der Basis dieser drei gemeinsamen Merkmale gibt es seit dem 12. Jahrhundert eine wissenschaftliche Juristenausbildung, die sich bis zum 15. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet hatte.2 Das europäische Universitätsmodell nach dem Beispiel der oberitalienischen und französischen Städte, das sich zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert entwickelte, hat sich bekanntlich weltweit verbreitet und ist im 19. Jahrhundert auch von Japan übernommen worden. Dabei war die Universität von Anfang an nicht nur eine Stätte der Schaffung und Weitergabe von theoretischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern es ging immer auch um die praktische Anwendung des erworbenen Wissens durch Übernahme hoher gesellschaft-
1 Vgl. H. Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter (2. Aufl. 1960), S. 17 ff.; Weber, Geschichte der europäischen Universität (2002), S. 16 ff.; grundlegend nunmehr Rüegg, Geschichte der Universität in Europa, Band I (1993). 2 Vgl. Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert – Zur sozialen Stellung gelehrter Juristen in Bologna und Modena (1974).
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licher Positionen, also um Elitebildung und praktische Berufsausübung. Diese grundlegende Universitätsentwicklung hat trotz ständiger Veränderungen im Einzelnen große Kontinuität bewiesen. In der Gesamtgeschichte der modernen Universität gibt es wohl nur zwei Phasen eines wirklich radikalen Umbaus. Die eine Phase ist die Zeit um das Jahr 1800, die andere Phase liegt in unserer Gegenwart.3 Der Niedergang der alten Universität am Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich schon rein zahlenmäßig dokumentieren. So gab es in Europa im Jahre 1789 (also zu Beginn der Französischen Revolution) 143 Universitäten, im Jahre 1815 waren es noch gut die Hälfte, nämlich 83.4 Die ab 1800 sogleich wieder einsetzende Renaissance der europäischen Universitäten und ihr Aufstieg zur Weltspitze war jedoch kein gemeineuropäischer Prozess, sondern ein Weg der Vielfalt. Neben dem britischen Sonderweg bildeten sich vor allem zwei Organisationsmodelle, das französische und das deutsche. Kern des französischen Modells war die Gründung von vielfältigen Spezialhochschulen sowie deren Konzentration auf Paris. Im deutschen Sprachraum bildete sich demgegenüber die heute meist als Humboldt’sches Modell bezeichnete Gesamtinstitution. Im Idealfalle waren sämtliche Fakultäten in einer solchen Universität enthalten. Die Möglichkeit eines Studium generale war ihr Sinnbild. Diese universitas war eine gleichberechtigte Stätte von Lehre und Forschung, eine Gemeinschaft der Lehrenden und Forschenden. Aufbauend auf Ideen des Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) setzte sich Wilhelm von Humboldt (1767–1835) für die Gründung der Universität Berlin im Jahre 1810 ein, deren Aufgabe nicht der Unterricht unmittelbar anwendbarer Kenntnis und Fertigkeiten sein sollte, sondern „die Idee der Wissenschaft zu erwecken, in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis“. Dieser Universitätsidee liegt ein Freiheitsgedanke wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses zu Grunde, der sich seit der Begründung mit dem Wunsch nach staatlicher Kontrolle und strikter funktioneller Ausbildung reiben musste.5 3 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen (1963). 4 Rüegg, Geschichte der Universität in Europa, Band III (2004), S. 17. 5 Vgl. zu den Ausgangstexten den Sammelband: Anrich (Hrsg.), Die Idee der deutschen Universität (1956); ferner Jaspers, Die Idee der Universität (1946).
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Nach 900 Jahren Universitätsgeschichte und den grundlegenden Veränderungen um 1800 stehen wir heute mitten im radikalen Umbruch eines solchen liberalen und freiheitlichen Universitätsgedankens. Der Weg wird durch vollständig neue Formen der Planung und Steuerung gekennzeichnet (Globalhaushalt, Zielvereinbarungen, Qualitätspakt mit dem Staat, hierarchische Weisungsbefugnis von Rektor und Dekan, Drittmittelsteuerung, Evaluation, parameter-orientierte Mittelverteilung usw.). Das Grundprinzip der Freiheit von Forschung und Lehre muss strikt reglementierten und ihrer Wissenschaftlichkeit weitgehend entkleideten Ausbildungsgängen weichen. Das Schlagwort dieser Epoche (jedenfalls aus europäischer Sicht) ist der Bologna-Prozess (siehe unten VI).
II. Globalisierung in der Juristenausbildung? 1. Ausgangspunkte
Wie bereits angedeutet war die Juristenausbildung an den Rechtsfakultäten von Anfang an eine gemeineuropäische. Ihre drei zentralen Kennzeichen waren gemeinsame Rechtstexte, gemeinsame Rechtssprache und gemeinsame Methodik. Diese gemeinsamen Wurzeln sind in einem über lange Zeit fließenden Prozess verloren gegangen. Zentrale Bedeutung im Rahmen dieser Entwicklung kommt der Herausbildung von Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert zu. Mit dieser Entwicklung geht die Schaffung neuer nationaler Kodifikationen einher, die in der jeweiligen Landessprache verfasst sind. Das Studium dieser nationalen Codices führt damit zwangsläufig zu einer Auflösung der gemeinsamen Rechtsquellen des ius commune und der gemeinsamen lateinischen Wissenschaftssprache. In Grenzen erhalten geblieben ist die im 19. Jahrhundert fortentwickelte gemeinsame juristische Methode, vor allem die Grundgedanken einer Auslegung und Fortbildung des Rechts in den Formen, wie sie im Wesentlichen von Savigny (1779–1861) vorgezeichnet sind. 2. Differenzierte Systeme
Innerhalb dieser methodischen Grundansätze hat sich freilich in Europa eine gewisse Dreiteilung der Systeme entwickelt.
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a) In Deutschland hat sich die Form der externen und ausführlichen Kommentierung von Normtexten durchgesetzt, deren Ergebnis in der Regel in eigenen Büchern (Kommentare genannt) ihren Niederschlag findet. Durch diese wissenschaftlichen Kommentierungen ist eine enge Verknüpfung von Praxis und Wissenschaft entstanden. Umgekehrt entspricht dem die in der Praxis üblichen Form der ausführlichen Urteile und der ausführlichen Anwaltsschriftsätze mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung und Zitierung unterschiedlicher Stimmen. b) In Frankreich hat sich schwerpunktmäßig das einheitliche und sehr groß angelegte Loseblattwerk (z. B. Juris-Classeur de procédure civile) durchgesetzt, wobei die einzelne Auseinandersetzung mit Gerichtsurteilen häufig in knappen Anmerkungen besteht. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist dabei deutlich größer geworden, was sich umgekehrt auch in der Kürze und Prägnanz französischer Gerichtsurteile ohne Literaturzitate widerspiegelt. c) Für das englische System ist im Gegensatz zum deutschen und französischen System das gerichtliche Urteil als Präjudiz prägend. Das Auffinden und die exakte Urteilsanalyse im Einzelfall ist daher von besonderem Gewicht. Die umfassende und exakte wissenschaftliche Begleitung der Präjudizien ist demgegenüber im Grundsatz weitgehend unbekannt. Es gibt wenig geschriebenes Recht und ebensowenig den Kommentar. So entsteht zwischen Theorie und Praxis eine sehr starke Kluft. 3. Tendenzen
Insgesamt zeigt also die Entwicklung des rechtswissenschaftlichen Studiums und der gesamten Juristenausbildung eine Generaltendenz, die weg von einer globalisierten Welt und einer einheitlichen Rechtssprache hin zu strikt nationaler Rechtswissenschaft und nationaler Rechtssprache führte. Dieser über Jahrhunderte lang zu beobachtenden Tendenz der Entfernung von einer Europäisierung und Globalisierung und hin zur nationalen Rechtswissenschaft konnte auch der Prozess der Rezeption nationaler Rechte im 19. und 20. Jahrhundert nicht grundlegend widerstehen. Zwar hat die umfassende Rezeption von Rechtsquellen Ende des 19. Jahrhunderts z. B. in Japan ähnlich wie ein vergleichbarer Vorgang vor ca. 150 Jahren in Griechenland
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oder vor ca. 80 Jahren in der Türkei globale Verbindungslinien geschaffen, deren Auswirkungen bis heute bestehen. Andererseits hat die Vermischung von Einflüssen (vor allem nach dem Ende des 2. Weltkriegs) und schließlich die zunehmende Nationalisierung rezipierter Kodifikationen die Tendenz zur Globalisierung deutlich abgeschwächt. Dies gilt besonders für diejenigen Rechtsbereiche, in denen nach 1945 vor allem amerikanisches Recht in verschiedenen Ländern der Erde rezipiert worden ist. 4. Die neue Globalisierung
So sind neue Tendenzen einer Globalisierung des Rechts eine außerordentlich junge Erscheinung unter dem Diktat ökonomischer Globalisierung. Deutlich zu erkennen ist dieser Prozess im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, der Angleichung gewisser wirtschaftsrechtlich relevanter Regelungen (Wertpapierrecht, Patentrecht, internationales Verkehrsrecht) sowie im internationalen Strafrecht (Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs). Wenn wir heute auch im Rechtsbereich das Schlagwort der Globalisierung benutzen, so scheint dies mehr eine Herausforderung unserer Zeit mit Blick auf die Zukunft zu sein als die Konstatierung einer bereits eingetretenen Lage. Tatsächlich hat sich im europäischen Rechtsraum in den vergangenen 50 Jahren eine neue Zwischenebene des Rechts gebildet und international hat das Weltrecht der UN sowie ihrer Untergruppierungen und ähnlich der Fortschritt bei weltweiter Rechtsregelung durch Staatsverträge in jüngster Zeit enorme Fortschritte erzielt. Dieser Entwicklung der zunehmend globalisierten Rechtsquellen steht eine vergleichbare Entwicklung einer globalisierten Juristenausbildung noch nicht gegenüber. Allenfalls zu beobachten ist weltweit die Einführung von Moot Courts zur Entwicklung richterlicher Fähigkeiten. Auch sind gewisse Tendenzen zur verstärkten Durchsetzung einer legal (clinical) practice als Feld der Einübung anwaltlicher Tätigkeiten zur beobachten. Gewisse Fortschritte werden wohl auch dadurch erzielt, dass es (jedenfalls in Deutschland) nunmehr zwingend vorgeschrieben und mehr und mehr praktisch umgesetzt ist, fremdsprachige Rechtsterminologiekurse für alle wichtigen Rechtssprachen zu installieren. Letztlich steht aber hinter der zögerlichen Veränderung von Juristenausbildung das ungelöste Grundproblem:
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Soll Juristenausbildung künftig eine ganz konkrete Berufsausbildung sein oder soll sie (auch) weiterhin eine allgemeine Universitätsausbildung bleiben. III. Japan und Deutschland: Die gemeinsame Vergangenheit Die deutsche Juristenausbildung hat sich im 19. Jahrhundert in den über lange Zeit hin festgefügten Bahnen der Ausbildung zum Einheitsjuristen entwickelt. Grundgedanke dieser Ausbildung war und ist (als Basis) ein Schulabschluss mit einer breiten Allgemeinbildung, die ein undergraduate-Studium überflüssig erscheinen lässt. So kann die universitäre Juristenausbildung unmittelbar mit dem Fachstudium beginnen. Sie ist im Großen und Ganzen auf vier Jahre hin konzipiert und soll einerseits die rechtshistorischen, methodischen, rechtsphilosophischen und rechtstatsächlichen Grundlagen vermitteln, andererseits soll sie in allen wichtigen Bereichen (Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht) intensive dogmatische Grundlagen legen, so dass der von der Universität abgehende Jurist in der Lage ist, sich in jeden einzelnen Rechtsstoff selbständig einzuarbeiten. Abschluss dieser Juristenausbildung ist im Hinblick auf die bundesweit gewünschte Einheitlichkeit und staatliche Kontrolle ein Staatsexamen, nicht ein Universitätsabschluss. Der anschließende praktische Ausbildungsteil im Rahmen eines sog. Referendardienstes, der zu früheren Zeiten einen Umfang von drei bis vier Jahren aufwies und der heute in der Regel noch zwei bis zweieinhalb Jahre beträgt, hatte in der Vergangenheit eine allzu starke Ausbildungsorientierung hin zum Justizdienst. Zur Zeit werden in Deutschland größere Anstrengungen unternommen, diese Justizlastigkeit zu korrigieren und insbesondere das Leitbild des Rechtsanwalts stärker in der Juristenausbildung zu verankern (sog. „anwaltsorientierte Juristenausbildung“). Aus den historisch bekannten Gründen der Rezeption von deutschem Recht in Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich zunächst auch die Juristenausbildung in Japan und Deutschland zwischen 1890 und der Wende zum 21. Jahrhundert sehr ähnlich entwickelt. Trotz gemeinsamer Rechtsgrundlagen waren jedoch die Ergebnisse dieser Juristenausbildung in beiden Ländern extrem unterschiedlich. Besonders deutlich hat sich dies bei Zahl und Inhalt von Gerichtsverfahren sowie bei den Anwaltszahlen gezeigt. So hat sich in
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Deutschland im 20. Jahrhundert eine Justiz entwickelt, die insbesondere im Rahmen der zivilrechtlichen Streitigkeiten das gesellschaftliche Konfliktpotential im Wesentlich umfassend bearbeitet hat. Demgegenüber wurde in Japan über lange Zeit von einer „20-Prozent-Justiz“ gesprochen. Man wollte damit andeuten, dass in aller Regel allenfalls ein Fünftel der zivilrechtlichen Streitigkeiten zu einem gerichtlichen Verfahren führten. Die Gründe hierfür mögen sehr unterschiedlicher Art gewesen sein. Ein durchaus zentraler Gesichtspunkt dieser sehr unterschiedlichen Entwicklung war aber in dem gravierenden Anwaltsmangel in Japan 6 zu beobachten, während es in Deutschland gerade umgekehrt zu einer echten Anwaltsschwemme gekommen ist. Es kann schwerlich bestritten werden, dass die extrem unterschiedliche Anwaltsdichte in Japan und Deutschland die Konsequenz unterschiedlicher Ausbildungsergebnisse ist. Dabei spielt allerdings das berühmte japanische Staatsexamen mit seinen im Vornherein beschränkten Erfolgszahlen sicher eine ganz besondere Rolle. So konnten in der Zeit zwischen 1960 und 1990 in Japan pro Jahr nur etwa 500 Juristen das Staatsexamen bestehen. Diese Zahl wurde 1991 auf 600, 1993 auf 700, 1998 auf 800 und 1999 auf 1000 erfolgreiche Absolventen gesteigert. Geplant ist mit der Einführung des neuen Law-School-Systems daher auch eine Abkehr von der Politik dieser kleinen Zahlen. So soll das alte Staatsexamen nach den japanischen Plänen noch bis ca. 2010 durchgeführt werden und in dieser Zeit auf eine Gesamtzahl der erfolgreichen Absolventen von 3000 kommen. Danach sollen weiterhin pro Jahr ca. 3 000 Juristen nach dem neuen System erfolgreich ausgebildet werden. Umgekehrt wird in Deutschland diskutiert, ob der freie Zugang aller Absolventen der Juristenausbildung zur Rechtsanwaltschaft aufgegeben werden soll, sei es durch Zugangsbeschränkungen, durch eine Station als Anwaltsassessor oder durch Aufgabe des Einheitsjuristen. Aus heutiger Sicht ist also im Vergleich der Juristenausbildung in Deutschland und Japan eine sehr interessante Entwicklung zu beobachten. Während die formalen Ausbildungswege und die ursprünglichen Ausbildungsinhalte seit 1890 sehr ähnlich waren, ist diese Vergleichbarkeit unter dem Einfluss des amerikanischen Rechts in Japan Vgl. dazu Nakamura, Jüngste Justizreform in Japan, in: St. Lorenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heldrich (2005), S. 359, 363. 6
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mehr und mehr geschwunden und im Jahre 2004 mit dem LawSchool-System aufgegeben worden. Umgekehrt hat dieses gemeinsame Ausbildungssystem des 20. Jahrhunderts über lange Zeit außerordentlich unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht, die nunmehr zu Beginn des 21. Jahrhunderts einander deutlich angepasst werden sollen. Dies muss um so mehr gelten, als der deutlichen Steigerung der erfolgreichen Absolventen in Japan in Deutschland (wie im Hinblick auf die Anwaltstätigkeit bereits erwähnt) derzeit der Versuch gegenüber steht, die Zahl der in der Ausbildung befindlichen Juristen zu drosseln. IV. Die deutsche Juristenausbildung im 20. Jahrhundert und die Reform des Jahres 2003 Kernpunkte der über lange Zeit weithin unveränderten Juristenausbildung im 20. Jahrhundert in Deutschland waren der Grundgedanke des Einheitsjuristen und die zweistufige Ausbildung mit jeweils zwei Staatsexamina als Abschluss. Nach diesem Grundgedanken sollte an der Universität in einer ca. 4-jährigen wissenschaftlichen Ausbildung der zentrale Kernbestand des nationalen Rechts vermittelt werden. Aus didaktischen Gründen wurde dabei stets mit der Dreiteilung in Privatrecht, Strafrecht und öffentlichtes Recht gearbeitet. Ausgangspunkt dieser Ausbildung waren die großen Kodifikationen (BGB, HGB, StGB, GG, VwVfG sowie das dazugehörige Verfahrensrecht). Ausgeschlossen von dieser Ausbildung waren praktisch so bedeutsame Spezialbereiche wie das Steuerrecht, das Sozialrecht sowie die speziellen Teile des privaten und des öffentlichen Wirtschaftsrechts. Ab ca. 1970 wurde allerdings in Deutschland versucht, durch die Einführung sog. Wahlfachgruppen eine gewisse Spezialisierung schon im Studium zu ermöglichen, die auch die Einbeziehung solcher praktisch relevanter Spezialfächer ermöglichte. Wegen der außerordentlich geringen Bedeutung dieser Wahlfächer für das Staatsexamen war diese Reform aber kein durchschlagender Erfolg. Neben die durch das erste juristische Staatsexamen abgeschlossene wissenschaftliche Ausbildung an Universitäten trat sodann die praktische Ausbildung im Referendardienst, die unter der Aufsicht der staatlichen Prüfungsämter bei den Gerichten stand. Der Zugang zu diesem Referendardienst war für jeden erfolgreichen Absolventen des
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ersten juristischen Staatsexamens zwingend eröffnet. Dementsprechend haben in der Vergangenheit mehr als 90 % der erfolgreichen Absolventen des ersten Staatsexamens diesen Weg einschließlich der Absolvierung des zweiten Staatsexamens beschritten, da für den Zugang zu nahezu jedem juristischen Beruf das zweite Staatsexamen gefordert wurde und wird. Mit diesem zweiten Staatsexamen führt der fertige Jurist den Titel „Assessor“ und hat die sog. „Befähigung zum Richteramt“. Nach längeren Diskussionen über die Praxistauglichkeit der deutschen Juristenausbildung hat der Bundesgesetzgeber durch ein Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11. Juli 2002 (BGBl. I, 2592) Rahmenbedingungen für eine tiefgreifende Veränderung der gesamten Ausbildung festgelegt. Die für die Juristenausbildung zuständigen Bundesländer haben diese Rahmenbedingungen in der Zwischenzeit durch den Erlass neuer Juristenausbildungsgesetze umgesetzt, so z. B. das Bundesland Nordrhein-Westfalen durch das Juristenausbildungsgesetz vom 11. März 2003 (GVBl. NRW S. 315). Die darin enthaltenen Regelungen sowie die Regelung der übrigen Bundesländer werden bundesweit am 1. Juli 2006 verbindlich, im Vorgriff für die Referendarausbildung sind sie bereits am 1. Juli 2005 in Kraft getreten. Kernpunkte dieser Neuregelung sind die Einführung einer obligatorischen Zwischenprüfung, eine völlig neue universitäre Schwerpunktbereichsausbildung (die an die Stelle der alten Wahlfächer tritt) sowie eine Aufteilung des ersten juristischen Staatsexamens in eine staatliche Pflichtfachprüfung (mit Bedeutung für 70 % der Gesamtnote) und in eine universitäre Schwerpunktbereichsprüfung (mit Bedeutung für 30 % der Gesamtnote). Weitere zentrale Aspekte der neuen Juristenausbildung sind die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die Internationalisierung der Ausbildung sowie die Anwaltsorientierung. Festgehalten wird dagegen am Grundmodell der zweistufigen Juristenausbildung sowie an dem Grundgedanken des Einheitsjuristen. Unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung der Juristenausbildung ist diese Reform insofern von Bedeutung, als sie gewisse globale Instrumentarien neu einführt oder verstärkt: So insbesondere die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die Internationalisierung und die Anwaltsorientierung. Zu bedenken ist dabei weiter, dass heute viele gute Studenten mindestens ein Semester im Ausland studieren (z. B. mit dem Erasmus-Programm). Der von der staatlichen Prüfung
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erfasste Pflichtfachkatalog im Zivilrecht, Strafrecht und Öffentlichen Recht bleibt zwar weitgehend unverändert und ist noch immer stark auf das nationale Recht hin ausgerichtet. Dagegen gibt die neue Schwerpunktbereichsbildung die Chance, Fragen des internationalen Rechts und der Rechtsvergleichung auf allen Ebenen in die Ausbildung verstärkt einzufügen. So lautet an der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Schwerpunktbereich 6 etwa „Internationales Privat-, Wirtschafts- und Verfahrensrecht“. Der Schwerpunktbereich 7 lautet: „Privatrechtsgeschichte und Privatrechtsvergleichung“. Der Schwerpunktbereich 10 lautet: „Völker- und Europarecht“. Schließlich lautet der Schwerpunktbereich Nr. 15: „Internationales Strafrecht, Strafverfahren, praxisrelevante Gebiete des Strafrechts“. Über die Auswirkungen und Erfolge der künftigen Juristenausbildung in Deutschland lassen sich abschließende Urteile noch nicht fällen. Allerdings hat der Gesetzgeber am 1. Juli 2006 eine außerordentlich strikte Frist ohne jede Übergangsregelung eingeführt. Ab diesem Zeitpunkt müssen alle in der Ausbildung befindlichen Juristen Studium und Examen nach neuem Recht absolvieren. Es ist also damit zu rechnen, dass sich bereits im Jahre 2007 sehr deutlich abzeichnen wird, welche praktischen Veränderungen die neue Juristenausbildung herbeigeführt hat. Besonders interessant dürfte dabei die Ausbildung in den neuen Schwerpunktbereichen sein. Das Gesetz legt diese Schwerpunktbereiche nicht inhaltlich fest, sondern gibt nur eine allgemeine Zielsetzung vor (vgl. § 5a Abs. 2 Satz 4 DRiG). Danach soll das Schwerpunktstudium die Pflichtfächer berufsfeldorientiert und wissenschaftlich ergänzen sowie mit interdisziplinären und internationalen Zügen wissenschaftlich vertiefen. Im Einzelnen wird die Festlegung der Schwerpunktbereiche den juristischen Fakultäten überlassen, was zu einem verstärkten Wettbewerb führen soll. Die hohen Erwartungen an diese Neuregelung stützten sich vor allem darauf, dass nunmehr erstmals ein Teilbereich des rechtswissenschaftlichen Universitätsstudiums durch eine Universitätsprüfung abgeschlossen wird, deren Ergebnis in die Note des gesamten ersten Examens eingeht.
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V. Europäische Entwicklungstendenzen Bisher war die Juristenausbildung in Europa vom System her sehr unterschiedlich geprägt. Sie war und ist bis heute relativ stark auf das jeweils nationale Recht fixiert. Zu beobachten ist in jüngster Zeit allerdings in den meisten europäischen Ländern ein vertiefter Versuch zur Reformierung der Juristenausbildung. 1. Frankreich
Die französische Juristenausbildung war bisher geprägt von einer gestuften Ausbildung in mehreren Zyklen. Zunächst mussten alle Studenten einen zweijährigen Zyklus mit den allgemeinen Grundlagen durchlaufen, der mit dem Diplôme d’Etudes Universitaires Générales (DEUG) abgeschlossen wurde. In einem weiteren einjährigen Studienabschnitt konnte sodann die Licence en Droit und danach in einem erneuten einjährigen Studienabschnitt die Maîtrise en Droit erworben werden. Die Licence stellt den Ausweis in den allgemeinen Rechtsgebieten (Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht) dar, die Maîtrise ist bereits eine Spezialisierung in einem dieser drei Grundlagenfächer. Im Anschluss an diese Abschnitte kann ein Absolvent noch eine Zusatzqualifikation durch Diplom erwerben (DESS oder DEA). Auf Grund der aktuellen europäischen Entwicklung reformiert derzeit Frankreich seine Juristenausbildung grundlegend. Das DEUG ist ersatzlos entfallen und mit der Licence zusammen zu einer dreijährigen Grundausbildung vereinigt worden. Anschließend wird eine zweijährige Magisterausbildung angeboten, bei der die bisherige Maîtrise mit einer Spezialisierung durch das DESS oder das DEA verbunden wurde. Den Abschluss kann das Doctorat mit einer weiteren dreijährigen Ausbildung darstellen. Kennzeichnend für die französische Ausbildung ist die strenge Fixierung auf den mündlich vorgetragenen Stoff und die durch das ganze Studium hindurch angesetzten studienbegleitenden Abschlussprüfungen. Eine dem deutschen Staatsexamen vergleichbare generelle Abschlussprüfung gibt es nicht. Die einzelnen erreichten Prüfungen und Grade umfassen jeweils genau den Stoff der Vorlesungen, auf die sich die Prüfung bezieht.
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2. England
Die Juristenausbildung in England gliedert sich ein UndergraduateStudium und ein Postgraduate-Studium. Der Zugang zu einem normalen Undergraduate-Studium ist auf das dreijährige Bachelor-Studium ausgerichtet. Studieninhalt können sowohl die allgemeinen Grundlagen eines normalen Rechtsstudiums sein als auch die Möglichkeit, ein juristisches Grundlagenstudium mit einem weiteren Hauptfach zu verbinden. Die Prüfungen sind studienbegleitend und über den gesamten Studienverlauf verteilt. Nach Abschluss des Undergraduate-Studiums kann man für ein Jahr ein Master-Studium anschließen. Dieses Studium ist im Regelfall auf ein Jahr beschränkt und stellt eine wissenschaftliche Vertiefung und Spezialisierung auf bestimmten Fachgebieten dar. Wichtig für das Verständnis der englischen Juristenausbildung ist es darüber hinaus, dass der Zugang zu vielen juristischen Berufungsbereichen, insbesondere zur Anwaltschaft, ein juristisches Studium nicht voraussetzt. 3. Italien
Bis 1999 gab es in Italien ein vierjähriges Studium der Rechtswissenschaft mit studienbegleitenden Prüfungen und einem variablen Studienplan. Dieses klassische Ausbildungssystem ist 1999 geändert worden und es wurde ein dreijähriges Grundstudium eingeführt, das offiziell berufsqualifizierend sein sollte, das jedoch keinerlei praktische Bedeutung besitzt. Auf das dreijährige Grundstudium baut ein zweijähriges Hauptstudium auf, in dem die Studenten einzelne Bereiche wählen können. Insgesamt wird gegenüber dem früheren Modell also ein Studienabschluss mit Berufszugang nach fünf Jahren erreicht. Dies und die Möglichkeit der Auswahl zwischen altem und neuem System hat offenkundig dazu geführt, dass in Italien die Studienreform von 1999 im Jahre 2004 wiederum reformiert und praktisch zurückgenommen worden ist. In jedem Falle schließt sich an den erfolgreichen Abschluss des Hauptstudiums in Italien eine eigene Ausbildung für Anwälte und andere juristische Berufe an, die dann den eigentlichen Berufszugang sichert.
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4. Zwischenergebnis
So unterschiedlich die verschiedenen juristischen Ausbildungsgänge in Europa sein mögen, so sind sie doch generell nicht mit einer Juristenausbildung vergleichbar, wie sie in den USA vorzufinden ist. Die dortige Zweiteilung des Studiums in ein College-Studium von vier Jahren und ein Studium von drei Jahren an einer Law-School hat zur Folge, dass das dreijährige Law-School-Studium von Anfang an ein Postgraduate-Studium ist und daher mit den europäischen BachelorStudien nicht vergleichbar ist. Insgesamt lässt sich die Möglichkeit eines erfolgreichen juristischen Abschlusses nach drei Jahren nur durch das umfangreiche vorgeschaltete College-Studium erklären. Die Möglichkeit eines zusätzlichen weiteren Studienabschlusses mit einem Master of Laws (LL.M.) wird von Amerikanern überwiegend nicht angestrebt, weil der Master nicht Voraussetzung für den Zugang zu juristischen Berufen ist. Ingesamt kann festgestellt werden, dass auch nach den in vielen europäischen Staaten angestrebten Reformen eine Übereinstimmung des Studienaufbaus mit den USA (und damit zugleich mit dem neuen japanischen System) nicht gegeben ist.
VI. Europäisierung und Globalisierung: Der Bologna-Prozess Am 19. Juni 1999 haben insgesamt 29 europäische Bildungsminister bei einem Treffen in Bologna (und aufbauend auf der SorbonneErklärung vom 25. Mai 1998) eine Erklärung abgegeben, wonach sie einen einheitlichen europäischen Hochschulraum bis zum Jahre 2010 schaffen wollen. Dazu soll ein einheitliches europäisches Studiensystem eingeführt werden, das im Grundsatz aus zwei Hauptzyklen besteht, einem ersten Undergraduate-Abschluss und einem weiteren sich anschließenden Graduate-Abschluss. Für den ersten Studienzyklus wurde die Studiendauer auf drei Jahre festgelegt, der zweite Studienzyklus soll zu einem Magisterabschluss führen und soll in der Regel zwei Jahre dauern. Allerdings ist die Bologna-Erklärung sehr allgemein gehalten. So wäre nach überwiegender Ansicht auch eine Studiendauer von vier plus einem Jahr statt drei plus zwei Jahren möglich.
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In Folgekonferenzen (2001 in Prag; 2003 in Berlin; 2005 in Bergen) wurden in den vergangenen Jahren diese allgemeinen Ziele bekräftigt und teilweise konkretisiert. Nach derzeitigem Stand haben sich 40 europäische Staaten der Bologna-Erklärung angeschlossen. So sehr die Grundgedanken des vielbeschworenen Bologna-Prozesses in Europa einleuchten mögen, so stellen sich doch zentrale Probleme. Die Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit von Bachelor- und Master-Studiengängen ist insbesondere in der Juristenausbildung gerade dort nicht gewährleistet, wo Titel, Studienzeiten und Studieninhalte angeblich schon angepasst wurden. Bei genauerer Überprüfung zeigt sich, dass eine Vergleichbarkeit bereits in Europa nicht gegeben ist. Besonders auffallend ist es aber, dass die USA nicht in das System des Bologna-Prozesses eingefügt werden können. Hinzu kommt die Tatsache, dass in den meisten europäischen Staaten des BolognaModell im Fach Rechtswissenschaft nicht zwingend umgesetzt wird, sondern dass vielmehr die traditionellen Studienabschlüsse in unterschiedlichem Maße wahlweise angeboten werden. Dies hat nach ersten Untersuchungen z. B. in Frankreich dazu geführt, dass 98 % der Studenten weiterhin die traditionellen Abschlüsse ablegen. In Italien hat dies dazu geführt, dass das im Jahre 1999 voreilig geänderte System 2004 bereits wieder grundlegend verändert wurde. Deutschland steht demgegenüber vor der grundsätzlichen Frage, ob ein noch nicht in die Praxis vollständig umgesetztes neues (und möglicherweise sehr gutes) System der Juristenausbildung bereits heute wiederum grundlegend reformiert werden soll. Hinzu kommt aus deutscher Sicht das Problem, dass das dreijährige künftige Bachelor-Studium nicht wissenschaftlich ausgestaltet sein soll und zu einem berufsqualifizierten Abschluss führen soll. Beides erscheint aus deutscher Sicht nicht akzeptabel. Abzulehnen ist ferner der Gedanke, dass die Absolventen eines Bachelor-Studiums nur zu etwa 25–30 % in ein weiterführendes Master-Studium wechseln können. Eine solche Regelung würde die deutschen rechtswissenschaftlichen Fakultäten stark verändern und im Wesentlichen zu Bildungsstätten für ein UndergraduateStudium verwandeln. Der Zuschnitt solcher Fakultäten würde künftig die Ausstrahlungswirkung deutscher Rechtsfakultäten im internationalen Bereich weitgehend entwerten. Neben den einzelnen Bedenken gegen den Bologna-Prozess aus deutscher Sicht bleibt festzuhalten, dass die bisherigen Ansätze in Europa
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nicht zu einer Vereinheitlichung führen und darüber hinaus nicht dem Grundgedanken einer künftigen Globalisierung des Rechts entsprechen. Die zahlreichen Unterschiede der bisher vorgenommenen Umsetzungen des Bologna-Prozesses in Europa haben bisher nirgends zu einer Erweiterung des Tätigkeitsfeldes für Juristen nach dem ersten Studienabschnitt geführt. Besonders auffallend ist dieser fehlende Zusammenhang in Großbritannien, wo einerseits die universitäre Ausbildung seit jeher dem Bologna-Modell entsprochen hat, wo andererseits der Berufszugang rechtlich und faktisch mit dem Abschluss eines juristischen Studiums nicht zusammenhängt. Insgesamt ist die Idee des Bologna-Prozesses für die Juristenausbildung unredlich und unrichtig. Denn die formale Angleichung kann keine europäische Rechtseinheit schaffen, sie würde aber den Praxisbezug der Ausbildung beseitigen und die Rechtsfakultäten in den Elfenbeinturm verweisen. VII. Ausbildungsziele und Konsequenzen Das berühmte Stichwort der Globalisierung beschreibt eigentlich nur einen aktuellen Zustand bzw. einen modernen Entwicklungsprozess. Für eine erfolgreiche Juristenausbildung müssen wir demgegenüber aber vor allem über die angestrebten Ausbildungsziele und deren erfolgreiche Verwirklichung nachdenken. Dabei könnten sich trotz aller Unterschiede im Einzelnen interessante Konvergenzen ergeben. Benötigen wir nicht weltweit Juristen, die dem Rechtswesen und der Gerechtigkeit innerlich verbunden sind, die Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien sowie demokratische Grundsätze verteidigen, die Probleme kompetent und souverän abhandeln, dabei eigenständig denken und den Blick für die Gesamtrechtsordnung behalten, auf Ausgleich bedacht sind und die Rechtsfolgen abwägen. Als Richter sollten solche Juristen darüber hinaus auch Unabhängigkeit und Neutralität verkörpern, als Rechtsanwälte sollten sie für ihre Partei kämpferisch und engagiert eintreten, dabei aber sachlich und fair bleiben. Schließlich sollten alle Juristen die Fähigkeit haben, sich in neue Rechtsgebiete schnell und selbständig einarbeiten zu können und damit flexibel zu bleiben. Solche Forderungen stehen aus juristischer Sicht in einem Zusammenhang mit der Eingangsfrage, ob die universitäre Juristenausbildung künftig eine reine Berufsqualifikation
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sein sollte oder ob sie dem Freiheitsgedanken des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses verbunden und damit weiterhin eine allgemeine Universitätsausbildung bleibt. Es ist dies letztlich das Spannungsverhältnis zwischen der Autonomie des Wissenschaftlers und seiner Wissenschaft und der Nutzungserwartung der Gesellschaft. Über diese Fragen und ihre richtige Auflösung hat bereits Kant nachgedacht. Als Antwort hat Kant die Forderung nach einem Staat aufgestellt, der erkennt, dass er aus Eigeninteresse eine „interessenlose“ Forschung fördern sollte. Heute stehen dagegen Berufsbildung und staatliche Eigeninteressen so sehr im Vordergrund, dass die Autonomie und Wissenschaftsfreiheit trotz der Hervorhebung solcher Werte durch den Gesetzgeber unterzugehen drohen. Die Grundlagen des Rechts (Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Methodenlehre, Rechtssoziologie usw.) verkommen zu rein semantischen Bildungszielen. Gerade diese Grundlagen des Rechts und der Juristenausbildung sind es aber, die die gemeinsame Basis unterschiedlicher Juristenausbildungen in Japan und Deutschland auch künftig bilden sollten.
§ 21 Der japanische Beitrag zur Juristenausbildung in Kambodscha* Keiichi Aizawa
Übersicht I. Vorbemerkung
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II. Research and Training Institute des japanischen Justizministeriums und dessen Unterstützungsaktivitäten beim Aufbau der Rechtsordnung in Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 III. Allgemeines zu den Unterstützungsaktivitäten
. . . . . . . . . . 262
IV. Zur Bedeutung der Juristenausbildung in Kambodscha . . . . . 263 V. Das Königliche Institut zur Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 VI. Probleme des RSJP
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
VII. Unterstützungskonzept und -praxis für das RSJP . . . . . . . . . 266 VIII. Konkrete Inhalte der Unterstützungsaktivitäten . . . . . . . . . . 268 IX. Künftige Aufgaben und weitere Aussichten
. . . . . . . . . . . . 269
I. Vorbemerkung Zunächst möchte ich den Veranstaltern für die Gelegenheit danken, auf diesem Symposium zu sprechen. Mein Thema ist die japanische Hilfe zur Juristenausbildung in Kambodscha, die im Rahmen der japanischen Entwicklungshilfe (ODA) stattfindet. Dabei geht es vor allem um den konkreten Fall der praxisorientierten Juristenausbildung in Zivilsachen am Königlichen Institut zur Ausbildung der Richter und Staatsanwälte in Kambodscha (RSJP). Im Folgenden stelle ich Ihnen die bisherige Entwicklung dieser Unterstützungsarbeit sowie deren künftige Aufgaben und weitere Aussichten vor. In Kambodscha gibt es derzeit ein duales System der Juristenausbildung, ähnlich wie in Frankreich. Das heißt, der Bildungsgang besteht * Übersetzung: Keiichi Aizawa in Zusammenarbeit mit Hans-Peter Marutschke (zur Erläuterung: der Übersetzer K. Aizawa ist nicht der Autor, denn im Japanischen unterscheiden sich gleichlautende Vornamen durch verschiedene Schriftzeichen.)
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aus zwei nebeneinander bestehenden Wegen: einer ist für die Juristen im Staatsdienst vorgesehen, also Richter und Staatsanwälte, der andere für Rechtsanwälte, jeweils mit eigenen Prüfungen und Ausbildungsprogrammen. Im November 2003 wurde als zentrales Institut für die Juristenausbildung im Staatsdienst das Königliche Institut zur Ausbildung der Richter und Staatsanwälte gegründet, in dem zur Zeit die erste Teilnehmergruppe ausgebildet wird. Japan unterstützt dieses RSJP-Projekt auf Bitten der kambodschanischen Regierung mit der Durchführung einer praktischen Juristenausbildung im Bereich des Zivilprozesses. Ein Jahr zuvor war für die Ausbildung von Rechtsanwälten das Rechtsanwaltsausbildungsinstitut gegründet worden, das von der japanischen Rechtsanwaltsvereinigung (The Japan Federation of Bar Associations, Nichibenren) inhaltlich unterstützt wird.
II. Research and Training Institute des japanischen Justizministeriums und dessen Unterstützungsaktivitäten beim Aufbau der Rechtsordnung in Kambodscha Der japanische Beitrag zur Juristenausbildung in Kambodscha findet, wie gesagt, im Rahmen der Entwicklungshilfe statt, und zwar in dem Teilprogramm „Unterstützungsaktivitäten zur Gestaltung der Rechtsordnung“. In diesem Programm arbeite ich als Mitglied des Research and Training Institute des japanischen Justizministeriums mit. Deshalb möchte ich mir erlauben, Ihnen unser Institut kurz vorzustellen und einige Worte darüber zu sagen, worin eigentlich die Unterstützungsaktivitäten zur Gestaltung der Rechtsordnung bestehen, bevor ich auf mein eigentliches Thema zurückkomme. Unser „Research and Training Institute“ ist ein Forschungs- und Ausbildungsinstitut, das dem japanischen Justizministerium angehört. Die Aufgaben dieses Instituts liegen in der empirischen Forschung zur Strafjustiz in Japan, der Weiterbildung der Mitarbeiter des Justizministeriums und eben auch in der Durchführung von Aktivitäten zur Unterstützung der Gestaltung von Rechtsordnungen in Entwicklungsländern. Dadurch trägt das Institut im Rahmen internationaler Kooperationen zur Erhaltung der Rechtssicherheit im Ausland bei. Die Geschichte der durch das Institut durchgeführten internationalen Zusammenarbeit reicht recht weit zurück. Begonnen hat es mit inter-
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nationalen Ausbildungsprogrammen im Bereich der Strafjustiz. Aufgrund eines 1961 zwischen der japanischen Regierung und den Vereinten Nationen abgeschlossenen Abkommens wurde das UNInstitut für die Prävention der Kriminalität in Asien und Fernost (United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders) gegründet. Dieses Institut heißt auf Japanisch abgekürzt „Asi-Ken“, und auf Englisch „UNAFEI“. Unser Institut unterstützt das UNAFEI, indem wir so genannte multinationale Ausbildungsprogramme für ausländische Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte und Mitarbeiter in den Besserungs- und Jugendanstalten durchführen. Parallel dazu bietet unser Institut seit 1996 auch Unterstützung zur Gestaltung der Rechtsordnung im Bereich des Zivil- und Handelsrechts in asiatischen Entwicklungsländern an. Begonnen hat dieses Unterstützungsprogramm in Vietnam, Schritt für Schritt wurde es seither erweitert auf die Länder Kambodscha, Laos, Usbekistan und Indonesien. Unsere Hilfsaktivitäten bestehen hauptsächlich aus zwei Schwerpunkten: Erstens unterstützen wir die betreffenden Länder dabei, ein Zivilrechts- und Zivilprozessrechtssystem zu entwerfen. Ohne eine zivilrechtliche Ordnung kann weder ein Staat nach einem Krieg oder einem politischen Chaos wiederaufgebaut, noch eine zusammengebrochene Planwirtschaft in eine funktionierende Marktwirtschaft überführt werden. Zweitens helfen wir den Staaten bei der Ausbildung der Juristen, die dann mit den neu entstandenen Gesetzen gut umgehen können sollen. Japan konzentriert sich bei seinem internationalen Beitrag zur Gestaltung von Rechtsordnungen auf Gesetzeskodifikationen. Diese Arbeit wird von vielen Seiten mitgetragen: von zahlreichen Wissenschaftlern, d. h. Rechtsprofessoren verschiedener Hochschulen, dem japanischen Obersten Gerichtshof, der japanischen Rechtsanwaltsvereinigung, der Japan International Cooperation Agency (JICA) und vielen anderen mehr. Daneben wird die Aufgabe zunehmend wichtiger, in den betreffenden Entwicklungsländern die Juristen auszubilden, die die Gesetze später anwenden sollen. Dies geschieht vornehmlich auf Wunsch unserer Partnerländer. Wir verstehen diese Aufgabe in einem weiten Sinne und unterstützen die Staaten bei folgenden Programmen:
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– Verfassen von Curricula und Lehrmaterialien in den Juristenausbildungsinstituten, – Erstellung ausführlicher Anleitungen für das Abfassen von Urteilen in der ersten Instanz eines Zivilprozesses, – Unterricht zur Leitung von Verhandlungen und Schlichtungsverfahren. Weil Japan selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der Modernisierung seines Staatssystems europäisches Recht rezipiert und der eigenen Gesellschaft und Kultur angepasst hat, ist es heute in der Lage, diese historische Erfahrung beim Aufbau der Rechtssysteme anderer asiatischer Länder einzubringen.
III. Allgemeines zu den Unterstützungsaktivitäten Wir helfen den Kambodschanern bei der Juristenausbildung im Rahmen der genannten „Unterstützungsaktivitäten zur Gestaltung der Rechtsordnung“. Kambodscha war lange Zeit einem Zustand ausgesetzt, in dem wegen des langen Bürgerkriegs und des politischen Chaos keine funktionierende Legislative bestand. Gesetze, die eigentlich eine Ordnung der Gesellschaft herstellen, wurden kaum erlassen oder novelliert. Auch die Judikative war zusammengebrochen, so dass lange keine systematische Juristenausbildung stattfinden konnte. Am 23. Oktober 1991 kam das Land als Folge des Pariser Friedensabkommens endlich zur Ruhe. Zunächst unterstützte die United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) den Wiederaufbau. Seit 1993 bemüht sich Kambodscha selbst um seinen Wiederaufbau und seine weitere Entwicklung. Für den Aufbau eines demokratischen Rechtstaates bedarf es unbedingt einer Grundlagengesetzgebung, die die Basis der Regierung bildet und auf deren Grundlage der Aufbau eines gerechten und effektiven Justizsystems sowie der Juristenausbildung erfolgen kann. In diesem Sinne bat die kambodschanische Regierung um Unterstützung bei der Kodifizierung des bürgerlichen Rechts und der Zivilprozessordnung. Japan gewährt diese Hilfe seit 1999.
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Zum Abfassen des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Zivilprozessordnung gründeten Japan und Kambodscha Arbeitsgruppen jeweils im eigenen Land, die regelmäßig zusammenarbeiteten. Die Arbeitsgruppe in Japan, für deren Organisation die JICA zuständig war, hieß „Unterstützungsausschuss zur Wiederherstellung des kambodschanischen Rechts“. Unter diesem Ausschuss wurden zwei weitere kleinere Arbeitsgruppen gebildet, eine für das bürgerliche Recht und eine für das Zivilprozessrecht. Mitglieder dieser Arbeitsgruppen waren hauptsächlich renommierten Rechtswissenschaftlern und Lehrer an juristischen Forschungsinstituten, außerdem Praktiker, wie z. B. Richter und Rechtsanwälte. Vorsitzender der Arbeitsgruppe für Zivilprozessrecht ist Herr Professor Takeshita, der heute diese Sitzung leitet. Die kambodschanische Seite hat eine „Entwurfs-Arbeitgruppe“ gegründet, die aus über 10 Mitgliedern, Richtern und Funktionären des Justizministeriums, besteht. Das ist zahlenmäßig nicht sehr viel, allerdings handelt es sich um herausragende Juristen, die die juristischen Diskussionen in Kambodscha entscheidend prägen. Den ersten Entwurf hat zunächst die japanische Arbeitsgruppe verfasst. Dieser Entwurf diente als Diskussionsgrundlage beim Gespräch zwischen den beiden Arbeitsgruppen in Japan und Kambodscha. Im Verlaufe der gemeinsamen Arbeit entstanden bis März 2003 Entwürfe für das Bürgerliche Gesetzbuch und die Zivilprozessordnung, die der kambodschanischen Seite übergeben wurden. Das kambodschanische Parlament ist zurzeit dabei, die Entwürfe in Gesetzesform zu gießen. Soweit ich gehört habe, ist die Überprüfungs- und Koordinierungsarbeit am Entwurf der Zivilprozessordnung innerhalb der kambodschanischen Regierung abgeschlossen, Beratungstermine im Parlament stehen auch schon fest. Alle, die sich mit diesem Projekt beschäftigt haben, freuen sich schon auf die baldige Verabschiedung der beiden Gesetzentwürfe im Parlament.
IV. Zur Bedeutung der Juristenausbildung in Kambodscha Genauso wichtig wie die Gesetzgebung ist die Juristenausbildung in Kambodscha. Aufgrund der Bitte der kambodschanischen Seite um entsprechende Hilfe, vor allem bei der praktischen Juristenausbildung
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in Zivilsachen, ist Japan seit 2004 auch in diesem Bereich beteiligt. Die japanische Unterstützung hat hier zwei Aspekte. Einerseits soll dadurch der Umstand beseitigt werden, dass Kambodscha noch viel zu wenig Juristen hat. Bis heute arbeiten in ganz Kambodscha nur 193 Juristen im öffentlichen Dienst als Richter und Staatsanwälte (121 Richter, 63 Staatsanwälte und 9 Richter innerhalb des Justizministeriums). Unter diesen Juristen sind 15 Frauen. Bei einer Gesamtbevölkerung Kambodschas von 13,5 Millionen Menschen ist das Verhältnis der in der Justiz tätigen Juristen zur Bevölkerungszahl eins zu 70,000. Das ist sehr gering. Die Zahl der Rechtsanwälte in Kambodscha beträgt übrigens meines Wissens 470. Das Problem des Juristenmangels ist auf die problematische jüngere Geschichte Kambodschas zurückzuführen. Viele Intellektuelle einschließlich der Juristen wurden in der Zeit des sogenannten „Demokratischen Kambodscha“ unter dem Pol-Pot-Regime von 1975 bis 1979 verfolgt und entweder hingerichtet oder sie starben durch Erkrankungen. Auch nach dem Zusammenbruch des Pol-Pot-Regimes wurde keine systematische Juristenausbildung betrieben, so dass zum Beispiel einfache Schullehrer oder Regierungsbeamte ohne spezifische Juristenausbildung zu Richtern und Staatsanwälten ernannt und eingesetzt werden mussten. Es ist für den Aufbau der Rechtsordnung in Kambodscha deshalb unabdingbare Voraussetzung, dass kompetente Juristen in genügender Anzahl ausgebildet werden, damit dort dem Recht zur Geltung verholfen werden kann. Die zweite Bedeutung der japanischen Hilfe bei der Juristenausbildung hat mit den vorgenannten, von Japan unterstützten Entwürfen für das Bürgerliche Gesetzbuch und für die Zivilprozessordnung zu tun. Es ist abzusehen, dass die beiden Entwürfe vom Parlament verabschiedet werden und in Kraft treten. Die Zivilverfahren werden dann aufgrund der beiden neuen Gesetze geführt. Dazu braucht man so früh wie möglich qualifizierte Juristen, die imstande sind, die neuen Gesetze angemessen auszulegen und in der Rechtspraxis anzuwenden. In diesem Sinne ist es eine große Verantwortung und auch Freude für Japan, das bisher die Arbeit mit an den beiden Entwürfen unterstützt hat, deren Umsetzung durch weitere Hilfe im Bereich der Juristenausbildung praktisch zu unterstützen.
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V. Das Königliche Institut zur Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten Das Königliche Institut zur Ausbildung der Richter und Staatsanwälte wurde am 5. Februar 2002 durch einen königlichen Erlass (Royal Decree) gegründet. Die Ausbildungsdauer beträgt zwei Jahre. Seit November 2003 laufen die Ausbildungsprogramme für eine erste Teilnehmergruppe. Anfang 2005 wurde beschlossen, neben dem RSJP eine weitere Einrichtung zur Ausbildung von Gerichtssekretären zu gründen. Die beiden Institute werden von der ebenfalls neu gegründeten Royal Academy for Judicial Profession (RAJP) geleitet. Deshalb ist das RSJP jetzt ein Teil der RAJP. An der Unterstützungspraxis der RSJP durch Japan wird sich trotz dieser Umstrukturierung kaum etwas ändern. Die Zahl der Kursteilnehmer im ersten Jahrgang des RSJP betrug 55, davon waren 6 Frauen. 50 der insgesamt 55 Teilnehmer wurden durch eine Aufnahmeprüfung ausgewählt, die restlichen 5 aufgrund einer Regierungsempfehlung. Die Grundvoraussetzung für die Teilnahme ist in jedem Fall ein erfolgreicher Abschluss des Jura-Studiums mit dem Titel Bachelor of Law. Die zweijährige Ausbildungszeit wird in drei Phasen eingeteilt. Die erste Ausbildungsphase wird am Institut (RSJP) für 8 Monate durchgeführt, gefolgt von einem 12-monatigen Praktikum (Internship) an Gerichten. Daran schließt sich die zweite Ausbildungsphase am Institut für 4 Monate an. Das Praktikum findet an einem der insgesamt 15 Distriktgerichte des Landes statt. Im Praktikum lernen die Kursteilnehmer den tatsächlichen Ablauf des Zivilprozesses, des Strafprozesses und der sogenannten Voruntersuchung sowie die Arbeit der Staatsanwaltschaft kennen. Der zivilprozessuale Teil wird von Japan unterstützt, der Bereich des Strafverfahrens wird übrigens von Frankreich betreut. Neben der Erarbeitung von Curricula und der Herstellung von Lehrmaterialien wird auch der Einsatz von Lehrkräften koordiniert und didaktischer Rat erteilt.
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VI. Probleme des RSJP Das Königliche Institut zur Ausbildung der Richter und Staatsanwälte besteht noch nicht sehr lange und hat deshalb noch mit gewissen Schwächen zu kämpfen. Ein Problem liegt darin, dass es dort keine fest angestellten Lehrer gibt, sondern nur solche mit Zeitverträgen. Zurzeit arbeiten am RSJP 15 Lehrer, die jedoch hauptamtlich entweder Richter, Staatsanwälte oder Beamte des Justizministeriums sind. Sie kommen zum RSJP, wenn sie neben ihrer hauptamtlichen Tätigkeit dazu Gelegenheit finden, so dass ihre Zeit für die Unterrichtsvorbereitung und die Erarbeitung von Lehrmaterial begrenzt ist. Außerdem macht es der Mangel an ganztägig anwesenden Lehrern schwierig, die Arbeit zwischen den Lehrern im Hinblick auf Unterrichtsziele oder Lehrmaterialien zu koordinieren. Dies erschwert die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts. Ein solches Konzept ist bis heute nicht entwickelt worden. So ist noch immer nicht klar, welcher Lehrer welches Thema für welchen Zeitraum unterrichtet. Das Problem wird dadurch verstärkt, dass neben Japan und Frankreich zahlreiche weitere Staaten und internationale Organisationen ihre Hilfe beim Unterricht leisten, wobei zu beobachten ist, dass der Unterricht gerade in den Fächern erfolgt, die für die jeweilige Nation oder Organisation von besonderem Interesse sind. Dass dies der Entwicklung eines übergeordneten Gesamtkonzepts im Wege steht, liegt auf der Hand. Schließlich besteht ein weiteres Problem darin, dass schlicht zu wenig Lehrmaterial vorhanden ist.
VII. Unterstützungskonzept und -praxis für das RSJP Die japanische Unterstützung basiert auf dem längerfristigen Konzept, dass die gesamte Arbeit am RSJP künftig von den Kambodschanern selbst getragen und weiterentwickelt wird. Dies erfolgt in der Form der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Deshalb soll die Erstellung des Curriculums, die Festlegung des Unterrichtsinhaltes und die Herstellung der Lehrmaterialien in erster Linie von der kambodschanischen Seite selbst geleistet werden, wobei die japanische Seite selbstverständlich bei bedarf beratend und unterstützend zur Seite steht.
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Um die Kambodschaner in diesem Sinne zu unterstützen, haben wir eine Arbeitsgruppe in Kambodscha eingerichtet, die aus 6 Personen besteht: 5 der tragenden RSJP-Lehrer und Rechtspraktiker sowie der Institutsdirektor Vann Phann (ehemaliger Leiter der Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten) arbeiten in dieser AG mit. Diese Personen waren gleichzeitig die tragenden Mitglieder der Arbeitsgruppen für die Entwürfe des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Zivilprozessordnung. Durch ihre Erfahrungen haben sie eine umfassende Kenntnis und ein tiefes Verständnis der beiden Gesetzentwürfe. Es ist daher zu erwarten, dass diese Personen künftig eine zentrale Rolle bei einer selbständig durchgeführten Juristenausbildung spielen werden. Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter aus unserem „Research and Training Institute“ des japanischen Justizministeriums als JICAFachkräfte nach Kambodscha geschickt werden und dort mit den kambodschanischen Arbeitgruppen eng zusammenarbeiten. Auf japanischer Seite haben wir ein Pendant zur genannten kambodschanischen Arbeitsgruppe gegründet, nämlich den Unterstützungsausschuss für die Juristenausbildung. Dabei geht es vor allem um folgende zwei Punkte: Der erste betrifft das in Japan existierende einheitliche Ausbildungsinstitut für angehende Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, das vom japanischen Obersten Gerichtshof betriebene „Justizforschungs- und Trainingsinstitut“. Wir hoffen, aus der dortigen praxisorientierten Ausbildung in Zivilsachen Hinweise für unsere Unterstützungsaktivitäten in Kambodscha zu bekommen. Darüber hinaus wollen wir die Erfahrungen und Kenntnisse, die wir bei der Arbeit an den Gesetzesentwürfen in Kambodscha gesammelt haben, auch für die Juristenausbildung in Japan effektiv nutzen. Diesem Konzept entsprechend wird der „Unterstützungsausschuss für die Juristenbildung“ personell besetzt, er besteht nämlich hauptsächlich aus den Lehrern des genannten Justizforschungs- und Trainingsinstituts und den erfahrenen Richtern, die die beiden Entwürfe für Kambodscha mitverfasst haben, ergänzt durch einige Rechtsanwälte und Lehrer am Research and Training Institute des Justizministeriums.
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VIII. Konkrete Inhalte der Unterstützungsaktivitäten Konkret sehen die Unterstützungsaktivitäten folgendermaßen aus: Im September 2004 wurden 7 Lehrer des RSJP, einschließlich der früheren Direktorin des Instituts, Frau Kim Sathavy, nach Japan eingeladen. Sie haben durch Hospitieren am „Justizforschungs- und Trainigsinstituts“ und anderen Einrichtungen die gegenwärtige Situation der Juristenausbildung in Japan kennen gelernt. Dabei gab es offene und konstruktive Diskussionen zwischen der japanischen und der kambodschanischen Seite über den Zustand des RSJP, bestehende Probleme und künftige Perspektiven. Im November 2005 erwartet das RSJP zum zweiten Mal eine neue Gruppe von Kursteilnehmern. Die Ausbildungsrichtlinien der RSJP sowie das Konzept der japanischen Unterstützung haben beide Seiten für diesen neuen Kurs aufgrund der bisherigen Erfahrungen gemeinsam neu erarbeitet. Dabei waren die folgenden Grundsätze maßgebend: Erstens ist es notwendig, den Teilnehmern den konkreten Ablauf eines Zivilprozesses erster Instanz entsprechend den Vorschriften der neuen Zivilprozessordnung zu vermitteln, und zwar möglichst anhand von Fallstudien. Zurzeit bereitet die kambodschanische Arbeitsgruppe unter der Beratung japanischer Fachkollegen dies vor, indem sie anhand ähnlicher Lehrmaterialien des japanischen Trainingsinstituts eigene Texte als Lehrmaterialien verfasst. Zweitens ist geplant, dass im Unterricht am RSJP der Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches interpretiert wird und entsprechende Fallstudien angeboten werden. Die kambodschanischen Kursteilnehmer sind zwar alle Juristen mit abgeschlossenem Studium, sie hatten jedoch in ihrer Studienzeit keine Gelegenheit, das Bürgerliche Gesetzbuch kennen zu lernen, so dass sie diesen Teil des Studiums im RSJP nachholen müssen. Ab November 2005 erhalten die Kursteilnehmer darüber hinaus Vorlesungen, die zwischen den kambodschanischen und japanischen Lehrern koordiniert worden sind. Wenn zum Beispiel das Zivilrecht von einem japanischen Lehrer unterrichtet wird, so soll die praktische Übung im Fach Zivilrecht von einem kambodschanischen Lehrer übernommen werden. Unser Fernziel ist, sämtliche Lehrveranstaltun-
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gen von kambodschanischen Lehrern allein durchführen zu lassen. Wir sind gerade dabei, die Lehrmaterialien für diese praktischen Übungen zu erstellen. Drittens sollen die Kursteilnehmer lernen, die Tatsachenbehauptungen beider Parteien im Hinblick auf das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu analysieren und den Tatbestand notfalls aufgrund von Beweisen festzustellen, um in Zukunft als Richter Prozesse angemessen leiten und ein gerechtes Urteil fällen zu können. Dazu sind Fallstudien geeignet, passende Lehrmaterialien werden noch ausgearbeitet.
IX. Künftige Aufgaben und weitere Aussichten Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die künftigen Aufgaben und weiteren Aussichten unserer Hilfsaktivitäten eingehen. Was die Aufgaben angeht, so ist Voraussetzung weiterer Aktivitäten von japanischer Seite, dass die sichere und kontinuierliche Arbeit des RSJP auch weiterhin gewährleistet wird. Hierzu müssen von kambodschanischer Seite noch intensivere Anstrengungen unternommen werden. Konkret heißt dies, dass nach dem Abschluss des Ausbildungskurses für die erste Gruppe der Kursteilnehmer im Oktober 2005 sofort die zweite Gruppe mit dem Ausbildungsprogramm an der RSJP beginnen kann. Für die Zukunft hoffen wir, dass unsere Aktivitäten zur Unterstützung der Juristenausbildung in Kambodscha Fuß fassen und dazu beitragen werden, dass dort kontinuierlich Juristen qualifiziert ausgebildet werden, die die Herstellung von Rechtsicherheit garantieren. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass durch diese Kooperation die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Japan und Kambodscha noch verstärkt und intensiviert werden.
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Übersicht I. Eckdaten einer Juristenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 II. Bilateraler Vergleich der Juristenausbildung . . . . . . . . . . . . 273 III. Drittlandexport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Takeshita wurden in der Sektion zwei Vorträge präsentiert, die inhaltlich verschieden ausgelegt waren. Während Prof. Dr. Prütting die Europäisierung der Juristenausbildung beleuchete, indem er einen weiten Bogen vom Bologna des Mittelalters zum Bologna des Jahres 1999 schlug, berichtete Herr Aizawa vom japanischen Justizministerium von der Hilfestellung der japanischen Regierung beim Aufbau materiellen Rechts und der Rechtspflege in Kambodscha. Angesprochen wurden unter Einschluss der Diskussion insbesondere drei Themenbereiche: Eckdaten einer Juristenausbildung, Bilaterale Unterschiede zwischen Deutschland und Japan sowie der Drittstaatenexport eigener Erfahrungen. I. Eckdaten einer Juristenausbildung Einigkeit bestand in der Sektion darin, dass das Recht für jede Gesellschaft von grosser Bedeutung ist und deshalb diejenigen, die damit umgehen, gut auszubilden sind. Damit aber waren die Gemeinsamkeiten schon weitgehend erschöpft. Zwar wurde auf fast alle wichtigen Eckdaten einer guten Juristenausbildung eingegangen, über eine Diskussion der Punkte aber kam man nicht hinaus. Zunächst wurde die Trägerschaft für die Juristenausbildung erörtert. Die Universität wurde dabei als geeigneter Träger angesehen, der die Juristenausbildung wissenschaftlich betreibt, im Unterschied zu anderen denkbaren Trägern, die Juristenausbildung eher unter rechtstechnischen und handwerklichen Gesichtspunkten verwirklichen. Auch wurde die Universität als geeigneter Träger der Weiterbildung und Spezialisierung von schon in der Praxis Tätigen angesehen.
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Des Weiteren war der Gegenstand der Ausbildung in der Diskussion. Insoweit wurde mit Nachdruck eine Aufwertung der sog. Grundlagenfächer wie Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte gefordert. Auch sollte die Rechtsvergleichung einen breiteren Umfang einnehmen. Da Rechtsvergleichung nach einhelliger Ansicht ohne solide Sprachkenntnisse der Rechtssprache des Ziellandes nicht möglich sei, wurde in diesem Zusammenhang das Erfordernis nach Sprachunterricht, wünschenswerterweise sogar der Fachsprache, wie es jetzt ansatzweise in Deutschland unter dem Begriff der fachspezifischen Fremdsprachenausbildung verwirklicht ist, angesprochen. Auch die Aufnahme von Veranstaltungen zur Berufsethik wurde verlangt. Die Frage nach der nötigen Länge eines Jurastudiums kam zu kurz. Insoweit wurde vor der Gefahr der Überalterung gewarnt, aber nur das europäische Modell gestufter Studiengänge B.A./M.A. im 4 zu 1 oder 3 zu 2 Jahren-Rhythmus erläutert. Die Diskussion der Vermittlung der nötigen Methodik für die Jurisprudenz nahm breiteren Raum ein. Hier wandte man sich eindeutig gegen die reine Wissensvermittlung und stellte dem das deutsche System der Falllösung gegenüber. Nur kurz wiederum wurde der Punkt der nötigen Anzahl von Juristen gestreift. Dabei wurde für Deutschland die Überlegung genannt, die Anzahl der Rechtsanwälte zu begrenzen und für Japan das Erfordernis, die Anzahl der Volljuristen eher zu erhöhen. Vertieft wurde schließlich die Rolle des Staates bei der Ausbildung und Prüfung. Das Interesse des Staates an der Juristenausbildung ist dabei als bekannt unterstellt worden. Es wurde aber darauf hingewiesen, dass durch die neue Teilung des ersten juristischen Staatsexamens in Deutschland in eine staatliche Pflichtfachprüfung und eine universitäre Schwerpunktbereichsprüfung, die immerhin 30 % des Gesamtergebnisses ausmache, eine Rückkehr zur Universitätsprüfung eingeleitet sei. Auch sei in Japan aufgefallen, dass die Studierenden der Rechtswissenschaften, die sonst eher den Staatsdienst anstrebten, immer mehr bereit seien, sich in ihrem Beurfsleben auch für die Rechte der Bürger einzusetzen. Schliesslich wurde klargestellt, dass die Staatsangehörigkeit einer Person kein geeignetes Kriterium für die Einstellung als Richter, Staatsanwalt oder Verwaltungsbeamter
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sein könne, wenn nur das Rechtssystem, in dem die Arbeit ausgeübt werde, ausreichend bekannt sei. Unbeachtet blieben in der Diskussion Fragen der Kosten der Juristenausbildung und wer diese schultern sollte.
II. Bilateraler Vergleich der Juristenausbildung Bei Berücksichtigung unterschiedlicher Ausbildungssysteme wurde deutlich, dass die Juristenausbildung fast überall auf die Personen fokussiert ist, die die Justiz bilden: Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Das gelte in besonderer Weise für Japan, wo nur diese drei Berufsbilder unter dem Begriff ho¯so¯ sansha als Juristen angesehen würden. Demgegenüber greift der Begriff Volljurist in Deutschland weiter aus, in dem namentlich auch für die Berufsbilder des Verwaltungsbeamten, des Universitätsprofessors der Rechtswissenschaften und des Unternehmensjuristen auf diesselbe Ausbildung zurückgegriffen wird und deshalb der Begriff des Einheitsjuristen geprägt wurde. Auch sei in vielen Ausbildungssystemen in aller Regel eine zweiphasige Ausbildung zu verzeichnen. Der Vergleich zwischen Deutschland und Japan konnte aber an dieser Stelle nicht fortgesetzt werden, weil über die im Jahre 2004 umgesetzte Reform der japanischen Juristenausbildung nicht berichtet worden war. Das hätte indes sehr fruchtbar sein können, weil Japan seither einen Staatsexamenstudiengang Rechtswissenschaften kennt, der rein formal betrachtet, eine bisher nicht bestehende Parallele zu Deutschland zustandegebracht hat. Für die weitere Diskussion wäre es auch interessant gewesen, für die im Rahmen des Bologna-Prozesses auch für den juristischen Studiengang in Deutschland vorgesehenen Umbau in B.A.-/M.A.-Studiengänge Japan als Beispiel zu betrachten, wo diese gestuften Studiengänge schon seit dem Ende des Pazifischen Krieges bestehen.
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III. Drittlandexport Der dritte größere Themenbereich befasste sich mit dem möglichen Export der Juristenausbildung in Drittstaaten, von dem Herr Aizawa auf gebender japanischer Seite und der erste Diskutant, Herr Moncharia, Richter am Obersten Gerichtshof Kambodschas, auf nehmender Seite, berichteten. Es wurde darauf hingewiesen, dass auch die Bundesrepublik Deutschland über die Stiftung für juristische Zusammenarbeit über vergleichbare Aktivitäten verfüge. In der Diskussion ist indes gleich deutlich geworden, dass beim Drittlandexport mit größter Behutsamkeit vorzugehen ist. Herr Pratvia, Gast aus Thailand, machte unter Bezug auf den in seinem Land herrschenden Buddhismus sofort deutlich, dass eine Anpassung an geistesgeschichtliche, insbesondere religiöse Besonderheiten beachtet werden muss. Auch wurde hervorgehoben, dass im Rahmen des Exports der Juristenausbildung die jeweilige Infrastruktur des vorgefundenen Rechtssystems Beachtung verdient, was auch durch die von Herrn Aizawa beschriebenen Aktivitäten der japanischen Regierung in Kambodscha, die eben nicht nur an der Juristenausbildung mitwirkt, sondern auch bei den Arbeiten am materiellen Recht, deutlich wurde. Die Frage, ob es angesichts der erst 2003 in Deutschland und 2004 in Japan eingeführten Neuerungen der Juristenausbildung, von denen noch keine Erfahrungen verfügbar sind, überhaupt sinnvoll ist, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, Drittstaatenexporte vorzunehmen, ging in der Diskussion der Frage unter, ob nicht Deutschland und Japan angesichts der Ähnlichkeiten ihrer beiden Rechtsordnungen in ausgewählten Drittstaaten auch gemeinsam auftreten könnten.