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German Pages [324] Year 1983
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 55
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler
Band 55 Hartmut Kaelble Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1983
Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Deutschland im internationalen Vergleich
von
Hartmut Kaelble Mit 46 Tabellen und drei Schaubilder
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kaelble, H a r t m u t : Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhunden: Deutschland im internat. Vergleich / von Hartmut Kaelble. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1983. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 55) ISBN 3-525-35713-3 NE: GT
Gedruckt mit Unterstützung der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G W O R T G m b H , Goethestraße 49, 8000 München 2 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz: Tutte Druckerei G m b H , Salzweg-Passau Schrift: 10/11 ρ Garamond auf der VIP-Linotype Druck und Einband: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt
Vorwort
13
KAPITEL 1: Allgemeine Tendenzen der sozialen Mobilität
17
1.1 Entwicklungstendenzen der sozialen Mobilität im 19. und 20. Jahrhundert
17
Industrielle Revolution 26 - Der organisierte Kapitalismus 31 - Die post-industrielle Gesellschaft 35 - Zusammenfassung 41
KAPITEL 2: Soziale Mobilität in Deutschland, 1850-1960
42
2.1 Wandel der Berufsstruktur und sozialer Aufstieg, 1850-1914 . . .
42
2.2 Soziale Mobilität 1900-1960
59
Problemstellung und Forschungsstand 59 - Der Historische Trend der sozialen Mobilität 65. - Höhere Verwaltungsbeamte 73 - Spitzenbeamte der Verwaltung 84 - Professoren und Gymnasiallehrer 88 - Mittlere Verwaltungsbeamte 91 Volksschullehrer 95 - Unternehmer 102 - Angestellte 110 - Zusammenfassung 122
2.3 Chancenungleichheit und akademische Ausbildung 1910-1960
127
Entwicklung der Chancenungleichheit 129 - Wirtschaftliches Wachstum und Chancenungleichheit 135 - Bildungspolitik und Chancenungleichheit 139 - Zusammenfassung 148
KAPITEL 3: Deutschland im internationalen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert
150
3.1 Soziale Mobilität in europäischen und amerikanischen Städten im 19. Jahrundert 150 Vergleich der Mobilitätsraten 153 - Gründe für Unterschiede zwischen Europa und Amerika 163 - Zusammenfassung 167
5
3.2 Bildungschancen und Bildungspolitik in Europa während der Industrialisierung 170 Entwicklungsperioden der Bildungschancen 171 - Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung der Bildungschancen 176 - Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Faktoren von Bildungschancen 188
3.3 Bildungschancen in Europa, 1900-1970: Die Entstehung eines europäischen Musters? Die Vorkriegszeit 197 - Die Zwischenkriegszeit 199 - Die Nachkriegszeit 210 Zusammenfassung 227
3.4 Der Wandel der Unternehmerrekrutierung seit der industriellen Revolution 228 Unternehmerrekrutierung während der industriellen Revolution 230 - Faktoren der Veränderung seit der industriellen Revolution 235 - Der Wandel der Unternehmerrekrutierung seit der industriellen Revolution 238 - Zusammenfassung 245
3.5 Konvergenz oder Divergenz? Soziale Mobilität in Frankreich und Deutschlandim 19. und20. Jahrhundert
245
Gesamtgesellschaftliche Mobilitätsraten 247 - Die Bildungschancen in der Sekundär· und Hochschulausbildung 253 - Die Rekrutierung der Unternehmer 256 Zusammenfassung 258
Anmerkungen
260
Auswahlbibliographie
314
Sachregister
319
6
Tabellenverzeichnis
(Die Tabellen sind nicht durchlaufend, sondern nach Abschnitten numeriert, um ihre Zuordnung zu den verschiedenen Teilen des Buches leichter erkennbar werden zu lassen.) Tab. 2.1.1 Tab. 2.1.2 Tab. 2.1.3 Tab. 2.2.1 Tab. 2.2.2 Tab. 2.2.3 Tab. 2.2.4
Tab. 2.2.5 Tab. 2.2.6
Tab. 2.2.7 Tab. 2.2.8 Tab. 2.2.9 Tab. 2.2.10 Tab. 2.2.11 Tab. 2.2.12 Tab. 2.2.13 Tab. 2.2.14 Tab. 2.3.1 Tab. 2.3.2
Soziale Herkunft von höheren Beamten 1800-1918 Soziale Herkunft von Lehrern an höheren Schulen, von Ärzten und Technikern 1876-1907 Soziale Herkunft von Geistlichen 1804-1917 Sozialer Aufstieg und Abstieg in Deutschland 1904-1969 Sozialer Aufstieg und Abstieg im Deutschen Reich, 1904-1913 und 1925-1929 Soziale Herkunft höherer Beamter im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik 1890-1962 (BerufederVäter) Soziale Herkunft höherer Beamter im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik, 1890-1962 (soziale Schicht und Klasse der Väter) Soziale Herkunft von Spitzenbeamten der öffentlichen Verwaltung im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik, 1901-1968 . . Soziale Herkunft von Lehrern an höheren Schulen und von Hochschullehrern im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik, 1864-1966 Soziale Herkunft von mittleren Beamten in Deutschland und der Bundesrepublik 1890-1970 Soziale Herkunft von Volksschullehrern, 1891-1968 Soziale Herkunft von Volksschullehrern, 1891-1968 (Kontraste zwischen Männern und Frauen) Soziale Herkunft von Unternehmern im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik, 1800-1970 Soziale Herkunft von Angestellten in Deutschland bzw. der Bundesrepublik, 1903-1970 Soziale Herkunft von Angestellten ca. 1900-1972 Angestelltenkategorieninder Wirtschaft, 1895-1962 Soziale Herkunft verschiedener Angestelltenkategorien, 1903-1970 Soziale Herkunft der Studenten im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik, 1902-1960 Soziale Herkunft der Studenten im Deutschen Reich bzw. der
50 51 54 68 71 76
77 86
90 93 97 99 104 112 113 115 118 130
7
Tab. 2.3.3 Tab. 2.3.4 Tab. 2.3.5
Tab. 3.1.1 Tab. 3.1.2
Tab. 3.1.3 Tab. 3.1.4 Tab. 3.1.5 Tab. 3.2.1 Tab. 3.2.2 Tab. 3.2.3 Tab. 3.2.4 Tab. 3.2.5 Tab. 3.2.6 Tab. 3.3.1 Tab. 3.3.2 Tab. 3.3.3 Tab. 3.3.4 Tab. 3.3.5 Tab. 3.3.6 Tab. 3.4.1 Tab. 3.4.2
8
Bundesrepublik, 1911-1960 (Zusammenfassung der Berufsgruppen; Assoziationsindizes) Soziale Herkunft von Oberschülern in Deutschland bzw. der Bundesrepublik, 1921-1958 Soziale Herkunft von Primanern in Deutschland bzw. der Bundesrepublik, 18 75 -1966 Soziale Herkunft von Oberschülern (Primanern) in Deutschland bzw. der Bundesrepublik, 1931 und 1965 (Zusammenfassungen und Assoziationsindizes) Soziale Mobilität zwischen Generationen in europäischen und nordamerikanischen Städten des 19. Jh Intergenerationale Mobilität zwischen Arbeiter- und Mittelschichtberufen in nordamerikanischen und europäischen Städten des 19. Jh ;.' Karrieremobilität in nordamerikanischen und europäischen Städten des 19. Jh Karrieremobilität zwischen Arbeiter- und Mittelschichtberufen in nordamerikanischen und europäischen Städten des 19. Jh Berufsstruktur in den USA und im industrialisierenden Westeuropa:Industrie,HandelundVerkehrl860-1910 Ausmaß der Bildungschancen an Sekundärschulen Soziale Herkunft von Sekundarschülern in Frankreich, England und Deutschland, 1864-1918 Soziale Verteilung der Bildungschancen an Sekundärschulen in Frankreich, England und Deutschland, 1864-1918 Soziale Herkunft von Sekundarschülern in deutschen Großstädten, 1882-1912 Soziale Herkunft von Studenten in England, Frankreich, Deutschland undDänemark, 1800-1925 Soziale Verteilung der Bildungschancen an englischen, französischen und deutschen Hochschulen, 1850-1913 Das Ausmaß der Bildungschancen in Europa, 1840-1978 Soziale Herkunft von Studenten in westeuropäischen Ländern um 1910 Soziale Herkunft von Studenten in westeuropäischen Ländern während der dreißiger Jahre Soziale Herkunft der Studenten in westeuropäischen Ländern, 1910-1970: Arbeiter-, Angestellten- und freiberufliche Väter Bildungschancen von Arbeiterkindern in Westeuropa, 1910-1970 Bildungschancen von Frauen in Westeuropa, 1900-1975 Soziale Herkunft amerikanischer Unternehmer, 1771-1920 Unternehmersöhne unter amerikanischen, britischen, französischen und deutschen Unternehmern im 19. und20. Jh
134 142 144
146 154
158 160 162 165 177 180 182 183 184 186 200 204 206 214 218 222 232 240
Tab. 3.4.3
Hochschul- und Collegeausbildung amerikanischer, britischer, französischer und deutscher Unternehmer im 19. und20. Jh 244
Tab. 3.5.1
Die Entwicklung der sektoralen Berufsstruktur in Frankreich und Deutschland, 1780-1970 248
Tab. 3.5.2
Der Wandel der Stellung im Beruf in Frankreich und Deutschland, 1861-1972 249 Bevölkerungswachstum und Verstädterung in Frankreich und
Tab. 3.5.3
Deutschland, 1810-1970 Tab. 3.5.4
251
Schüler- und Studentenquoten in Frankreich und Deutschland, 1875-1961 254
Schaubilderverzeichnis
Schaubild 3.3.1 Rangordnung des Ausmaßes an Bildungschancen in Westeuropa 1880-1978 212 Schaubild 3.5.1 Die jährlichen Lebendgeburten, Heiraten und Sterbefälle in Frankreich 1801-1960 250 Schaubild 3.5.2 Die Geborenen- und Sterbeziffern in Preußen, im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik (1818-1969) in gleitenden Dreijahresdurchschnitten 250
9
Für Brigitte
Vorwort
In diesem Buch stecken zehn Jahre Arbeit. Seine Teile entstanden zu verschiedenen Zeiten und sind deshalb trotz Überarbeitung nicht ganz ohne Widersprüche und Akzentverschiebungen. Im Ganzen stehen aber doch durchgängig drei Fragen im Zentrum: Erstens wird der Entwicklung der Chancengleichheit ein sehr starkes Gewicht gegeben. Deshalb hat das Buch seinen Titel. Dabei wird Chancengleichheit teils in einem recht engen, teils in einem weiten Sinn verstanden. Einerseits konzentriert sich dieser Band weitgehend auf die Chancengleichheit zwischen sozialen Schichten und Klassen. Für das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert erschien sie mir als das fundamentalste Problem. Ihr habe ich deshalb arbeitsökonomische Priorität gegeben. Diese Einschränkung wurde allerdings auch sehr stark durch den Umstand bestimmt, daß andere Aspekte der Chancengleichheit - die Chancen etwa für Frauen, für ethnische, religiöse, nationale oder regionale Minoritäten - selbst in der neuesten Forschung sehr selten gründlich untersucht wurden und deshalb für eine international vergleichende Sekundäranalyse wie die vorliegende die wichtigste Voraussetzung fehlt. Andererseits erschien es notwendig, Chancengleichheit nicht ausschließlich als Verteilungsproblem anzugehen, sondern gleichrangig damit auch die allgemeine Zunahme und Abnahme der Ausbildungs-, Berufs- und Aufstiegschancen bzw. Abstiegsgefahren zu verfolgen, da sich Chancenungleichheit sowohl für den zeitgenössischen Betroffenen als auch für den heutigen Historiker ganz verschieden darstellt, je nach dem, ob es sich um Perioden der Chancenerweiterungen oder um Perioden der Chancenverknappungen handelt. Aus diesen Gründen wird der Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität neben der eigentlichen Verteilung ein sehr breiter Raum gegeben. Zweitens wird in allen folgenden Abschnitten dieses Bandes die Erklärung der Entwicklung der Chancengleichheit im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert mindestens ebenso wichtig genommen wie ihre Beschreibung. Zwei große Gruppen von Faktoren der sozialen Mobilität und Chancengleichheit stehen im Vordergrund des Interesses: auf der einen Seite die längerfristigen, für die Betroffenen nicht immer klar erkennbaren und erlebbaren Faktoren wie Industrialisierung, Urbanisierung, berufsstruktureller Wandel, demographische Transition, Veränderung der Familienstruktur und Mentalitätswandel; auf der anderen Seite kurzfristige, den Betroffenen primär bewußte Faktoren wie Wirtschaftskonjunkturen, Kriege, politische Systemumbrüche, Machtumverteilungen und Entscheidungen. Allerdings
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wurden nicht für beide Gruppen von Faktoren in gleicher Weise befriedigende Antworten gefunden. Es ist für eine historische Untersuchung vielleicht etwas paradox, daß die kurzfristigen, ereignisartigen Faktoren die größeren Schwierigkeiten aufwarfen, weil sie zwar beschrieben und erklärt werden können, aber in der Erforschung ihrer Auswirkungen auf gesellschaftliche Veränderungen, darunter auch auf Wandlungen der Chancenungleichheit, nicht viele Erfahrungen und erfolgreiche Untersuchungen vorliegen. Das gilt besonders für Wirtschaftszyklen und Kriege. Technische Probleme der historischen Mobilitätsforschung, die im Verlauf des Bandes deutlich werden dürften, erschweren dies noch mehr. Im Endeffekt leistet dieser Band deshalb mehr über die Auswirkung der längerfristigen Strukturwandlungen und kann unter den kurzfristigen Faktoren im wesentlichen nur politische Entscheidungen und Systemumbrüche berücksichtigen. Drittens beschäftigt mich ähnlich wie viele andere Historiker die Entwicklung der deutschen Gesellschaft im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern und mit den Vereinigten Staaten. Die Frage nach dem wirklichen Ausmaß der deutschen Abweichung, nach ihren Gegenständen und schichtenspezifischen Schwerpunkten, nach ihren Ursachen, ihren Anfängen, aber auch ihrem Ende steht unverkennbar hinter den meisten Abschnitten dieses Buches. Chancengleichheit ist ein neuralgischer Themenbereich für diese Fragestellung, weil sie nicht nur von Umständen beeinflußt wurde, in denen die deutsche Abweichung unbezweifelbar ist - dem politischen System, der politischen Machtverteilung und den politischen Ereignissen - , sondern auch von Faktoren, bei denen man starke Zweifel über einen deutschen, von einem einheitlichen übrigen Westeuropa und Amerika abgehobenen Sonderweg haben muß - wie etwa der Industrialisierung, der Urbanisierung, der Unternehmensstrukturen, der Mobilitätsmentalität, der Familienstruktur, dem Wohlfahrtsstaat. Dabei ergibt der Vergleich mit den Vereinigten Staaten eine recht klare Abweichung und Rückständigkeit Deutschlands in der Entwicklung der Chancengleichheit. In Vergleichen mit anderen westeuropäischen Ländern zeigt sich dagegen in diesem Buch ähnlich wie in komparativen Studien anderer Sozialhistoriker, daß es eine deutsche Abweichung nur in Teilaspekten der Chancengleichheit zweifelsfrei gab und daß man sehr genau abwägen muß zwischen westeuropäischen oder gar atlantischen Gemeinsamkeiten und den abweichenden Entwicklungen in Deutschland. Die Logik der Sache führte dazu, in einem Abschnitt über den für politische Faktoren recht insensiblen sozialen Aufstieg und Abstieg zwischen Arbeiter- und Mittelschichtberufen im neunzehnten Jahrhundert die Frage nach der deutschen Abweichung sogar völlig beiseite zu lassen und sich ganz auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa zu konzentrieren. Das Buch hat drei Teile. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Langzeitentwicklung der sozialen Mobilität. Es ist zuletzt geschrieben, faßt die grundsätzlichen Ergebnisse des Bandes grob zusammen und ordnet sie in 14
den langfristigen Rahmen der gesellschaftshistorischen Entwicklung ein. Es möchte allgemein für Forschungen über den historischen Wandel von sozialer Mobilität ein analytisches Instrumentarium bieten, in dem die Erfahrungen vieler Detailstudien eingegangen ist. Es enthält schließlich zahlreiche Überlegungen, die in diesem Buch nicht genau empirisch überprüft wurden und vielleicht andere Arbeiten zur Geschichte der sozialen Mobilität anregen. Das zweite Kapitel befaßt sich ausschließlich mit Deutschland und besteht aus empirischen Arbeiten, mit denen dieses Projekt - nach dem »Anbiß« in einer Lokalstudie über Berliner Unternehmer 1 - begonnen wurde. Es behandelt zuerst die Auswirkungen der berufsstrukturellen Veränderungen der Industrialisierung auf soziale Mobilität vor 1914, dann den Wandel des sozialen Aufstiegs und sozialen Abstiegs sowohl für die gesamte deutsche Gesellschaft als auch für wichtige Berufsgruppen wie höhere und mittlere Verwaltungsbeamte, Oberschul- und Hochschullehrer, Volksschullehrer, Unternehmer, Angestellte und damit verbunden Arbeiter und schließlich die soziale Unterschiede beim Zugang zu Sekundär- und Hochschulen zwischen spätem Kaiserreich und der Bundesrepublik. Das dritte, umfangreichste Kapitel besteht aus internationalen Vergleichen. Es befaßt sich mit drei zentralen Themen der Chancengleichheit: dem sozialen Aufstieg von Arbeitern und den sozialen Abstieg in Arbeiterberufe im städtischen Westeuropa und Amerika im neunzehnten Jahrhundert; der sozialen und auch geschlechtsspezifischen Verteilung der Bildungschancen an Hochschulen in Westeuropa im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert und schließlich der Rekrutierung der Unternehmer und Manager von der industriellen Revolution bis in die Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten und einigen wichtigen westeuropäischen Ländern. Danach folgt ein Vergleich Deutschlands mit einem recht ähnlichen, anderen westeuropäischen Land, mit Frankreich, das für Unterschiede, aber auch europäische Gemeinsamkeiten, ein besonders wichtiger Testfall ist. Der Band schließt mit einer Auswahlbibliographie, die einen Uberblick der wichtigsten Arbeiten zur Geschichte der sozialen Mobilität auf dem neuesten Stand gibt und aus Kostengründen kurz bleiben mußte. Der Band enthält ausschließlich meine eigenen Forschungen und hat nicht das Ziel, einen Uberblick über die historische Mobilitätsforschung zu geben. Dies habe ich in einer kleinen gesonderten Monographie und in einem von mir herausgegebenen Reader mit den in meinen Augen wichtigsten Aufsätzen amerikanischer und europäischer Historiker zur Geschichte der sozialen Mobilität seit der industriellen Revolution getan.2 Die Überlegungen zum Forschungsstand, zu Forschungsmotivationen und zu Forschungslücken, die ich in diesen Bänden vorgetragen habe, werden im vorliegenden Band nicht wiederholt. Der Band baut im wahrsten Sinn auf den Schultern anderer auf. Erstens ist er überwiegend eine Sekundäranalyse, stützt sich in hohem Maß auf die mühsamen quantitativen Primärstudien Anderer. Zweitens habe ich die gegenwärtigen (hoffentlich nicht einmaligen) Möglichkeiten, als Wissenschaftler 15
viel zu reisen und zahlreiche andere Ansichten gründlich kennenzulernen, mit großem Gewinn und Vergnügen wahrgenommen. Einzelne Thesen dieses Buches habe ich in Vorträgen an der Yale University, an der Syracuse University, an der Rutgers University, am St. Antony's College in Oxford, im Seminar von Fernand Braudel, an den Universitäten Lyon, Nanterre, Stockholm und Uppsala, auf Tagungen an der University of Maryland, am Maison des Sciences de l'Homme in Paris, an der Erasmus Universität Rotterdam, an der University of Manchester, in Edinburgh, an der Universität Bielefeld, in Freiburg, am Max-Planck-Institut in Göttingen, in der Reimers-Stiftung in Bad Homburg, in Berlin, in Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer und besonders intensiv im Colloquium unserer Berliner sozialhistorischen Forschungsgruppe »Historische Modernisierungsforschung« diskutiert und dabei viel gelernt. Eingehende Kritik einzelner Artikel verdanke ich zudem Roy Hay, Arnold Heidenheimer, Bill Hubbard, Konrad Jarausch, Artur Imhof, Jürgen Kocka, Peter Lundgren, Fred Marquardt, Bo öhngren, Hans Jürgen Puhle, Rolf Torstendahl; Frau Heike Siesslack hat das Manuskript nicht nur getippt, sondern auch gründlich durchgesehen und Stilblüten aufgespießt. Rüdiger Hohls hat einige arbeitsintensive Tabellen zusammengestellt und Korrekturen gelesen. Trotzdem bin ich natürlich für Inhalt und Stil allein verantwortlich. Meine Frau, der ich diesen Band aus vielen guten Gründen widme, wird den Titel dieses Buches aus einer besonderen Perspektive lesen. Für sie hat das Wort »Soziale Mobilität« im Verlauf von zehn Jahren nicht nur einen Hauch von Immobilität bekommen. Sie wird sicher nichts dagegen haben, das Wort in Zukunft seltener zu hören.
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KAPITEL 1
Allgemeine Tendenzen der sozialen Mobilität
1.1. Entwicklungstendenzen der sozialen Mobilität im 19. und 20. Jahrhundert 1 Die langfristige Veränderung der sozialen Mobilität, die im Zentrum dieses Bandes steht, ist für das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert recht häufig und in einer beträchtlichen Zahl von Ländern empirisch verfolgt worden. Es gibt zwar sehr wenige Studien, die soziale Mobilität im gesamten Zeitraum vom frühen neunzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart nachzeichnen. Zahlreiche Untersuchungen geben uns jedoch wenigstens für den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten einen Eindruck von der Entwicklung der sozialen Mobilität'. Uber wenige Themen der Sozialgeschichte, die nicht zu den Standardgegenständen offizieller Statistiken gehören, besitzen wir international so viele Zeitreihen. Umgekehrt ist in wenigen Gebieten der Sozialgeschichte so wenig über strukturelle Bedingungen und Ursachen nachgedacht worden. In den meisten Untersuchungen finden sich nach ausführlichen Beschreibungen der Entwicklung der Mobilitätsraten nur kurze Bemerkungen über mögliche U r sachen für Stabilität und Veränderung, die sich im allgemeinen um Industrialisierung, wirtschaftliche Entwicklung und/oder Durchsetzung kapitalistischer Produktionsweisen dreht. Während in vielen anderen Forschungsfeldern der Sozialgeschichte Debatten um Entwicklungskonzepte im Zentrum stehen - man denke an den Ubergang vom Familienunternehmen zum professionellen Manager in der Unternehmensgeschichte, von der traditionellen zur modernen Beziehung der Familienmitglieder in der Familiengeschichte, von der primären zur tertiären Gesellschaft in der Geschichte der Berufe, von der Armenverwaltung z u m Wohlfahrtsstaat in der Geschichte der Sozialgesetzgebung, an das Konzept der demographischen Transition in der Bevölkerungsgeschichte - , fehlt ein solches Entwicklungskonzept in der Geschichte der sozialen Mobilität fast ganz. Seine Aufgabe wäre es, die Entwicklung der sozialen Mobilität in Zusammenhang mit den grundlegenden gesellschaftsgeschichtlichen Veränderungen zu bringen und damit gleichzeitig eine Periodisierung der Geschichte der sozialen Mobilität und ein Instrument zur Interpretation der Langzeitentwicklung zu liefern. Bisher liegen nur zwei ernsthafte Versuche zu solchen Entwicklungskon17
zepten der sozialen Mobilität vor. 2 Beide befriedigen nicht ganz: Der neueste, sehr wichtige Vorschlag von Franklin F. Mendels, auf den noch im Detail zurückzukommen sein wird, befaßt sich fast nur mit der Entwicklung von der mittelalterlichen Agrargesellschaft über die Protoindustrialisierung zur industriellen Revolution und streift die letzten anderthalb Jahrhunderte europäischer und nordamerikanischer Entwicklung nur kurz. Der anregende ältere Vorschlag von Kaare Svalastoga hat andererseits den Nachteil, daß er soziale Mobilität nur nebenbei in einem umfassenderen Entwicklungsmodell behandelt und daher besonders für die Zwecke der empirischen Forschung nicht detailliert genug ist. Alle anderen Theorien der Modernisierung und des gesellschaftlichen Wandels bleiben noch viel allgemeiner. Der folgende Abschnitt versucht, diesen Rückstand der historischen Mobilitätsforschung etwas abzubauen. In Ergänzung zum Vorschlag von Franklin Mendels wird im folgenden ein Entwicklungsmodell der sozialen Mobilität von der industriellen Revolution über den organisierten Kapitalismus zur post-industriellen Gesellschaft vorgeschlagen - jenen Gesellschaftsepochen, auf die Mendels nur wenig eingeht. Der Artikel besteht aus zwei Teilen. Er diskutiert zuerst allgemein, welche Faktoren der sozialen Mobilität in einem solchen Entwicklungsmodell enthalten sein sollten; er leitet danach daraus ein Entwicklungsmodell für die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts ab und versucht dabei gleichzeitig - soweit dies in einem kurzen Artikel möglich i s t - , die Plausibilität dieses Entwicklungsmodells mit Hinweisen auf empirische Beispiele zu stützen.
Faktoren der sozialen Mobilität Im Zentrum der folgenden Überlegungen zur Entwicklung der sozialen Mobilität stehen Verschärfung und Abbau von Chancengleichheit vor und seit der industriellen Revolution. Allerdings erscheint ein Entwicklungsmodell zur sozialen Mobilität, das sich ausschließlich mit Chancenungleichheit befassen würde und damit auf die Verteilungsproblematik reduziert wäre, unzureichend. Jede historische Verteilungs- und Ungleichheitsstudie, die nur die Distribution knapper Güter und Werte und nicht auch ihre allgemeine Verfügbarkeit verfolgt, ist angreifbar und tut ihrer eigenen Zielsetzung einen schlechten Dienst. So läßt sich die historische Entwicklung der Einkommensverteilung letztlich nur dann sinnvoll beurteilen, wenn die Veränderung von Volkseinkommen und Lebensstandard mitberücksichtigt wird. Historische Veränderungen der Ungleichheit vor Krankheit und Tod lassen sich nur dann richtig einordnen, wenn der Wandel von Gesundheitschancen und Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung nicht aus dem Gesichtsfeld verschwindet. In gleicher Weise ist ein Entwicklungsmodell zur Chancenungleichheit ohne Berücksichtigung der Gesamtentwicklung der sozialen Mo18
bilität nur ein Bruchstück. Die Behandlung, allerdings auch die Trennung beider Aspekte, ist deshalb ein zentrales Ziel der folgenden Überlegungen. Viele Studien zur Geschichte der sozialen Mobilität arbeiten offen oder implizit mit der Idee, daß ein einziger Faktor die Entwicklung der sozialen Mobilität beherrschend beeinflußt hat. Meist werden wirtschaftliche Entwicklung und berufsstruktureller Wandel, seltener Produktionsverhältnisse oder soziale Mentalitäten als solche dominierenden Faktoren angesehen. Im folgenden Entwicklungsmodell wird es nicht um solche simplen Zusammenhänge gehen. Es soll vielmehr versucht werden, die Beeinflussung der sozialen Mobilität durch die herrschenden Strukturveränderungen der letzten zweihundert Jahre, durch wirtschaftliche Entwicklung, Industriekapitalismus, durch demographischen Wandel, Entstehung der modernen Familie, Mentalitätsentwicklung, Entstehung des modernen Interventions- und Wohlfahrtsstaats zu behandeln. Dies ist sicher schwierig, da jede dieser Strukturveränderungen in sehr komplexer, manchmal stärkerer, manchmal schwächerer Form auf soziale Mobilität eingewirkt hat. Ich werde jedoch im folgenden zu zeigen versuchen, daß sich ihre Wirkungen in einigen wenigen Faktoren gebündelt haben dürften, die für die generelle Entwicklung der Mobilitätschancen einerseits, für die Chancenverteilung andererseits besonders wichtig wurden. Das im folgenden vorgestellte Entwicklungsmodell hat sowohl in seinen theoretischen als auch in seinen empirischen Ansprüchen deutliche Grenzen. Es beansprucht nicht, die genannten beherrschenden Strukturveränderungen miteinander theoretisch in kausale Beziehungen zu setzen oder sie auf eine einzige Grundveränderung - sei es wirtschaftliche Entwicklung, sei es Entstehung des Industriekapitalismus, seien es mentalitätshistorische Durchbrüche - zurückzuführen oder gar eine allgemeine, global gültige Theorie der sozialen Mobilität und Chancenungleichheit aufzustellen. Es beansprucht andererseits auch nicht, abschließende, empirisch voll abgesicherte Entwicklungen gefunden zu haben. Es will nur ein Arbeitsinstrument sein, das für weitere empirische Forschung über Europa, vielleicht auch Nordamerika, der letzten zweihundert Jahre an zentrale Faktoren und Zusammenhänge erinnert, die in der bereits vorhandenen Detailforschung teils eingehend behandelt, teils vernachlässigt wurden. Diese Faktoren und Zusammenhänge werden bewußt nur aufgelistet und mit Argumenten über ihre grundsätzliche Bedeutung für die Mobilitätsforschung dem Leser nahegebracht. Über ihr tatsächliches Gewicht für die Entwicklung der Chancengleichheit wird primär empirische Forschung entscheiden müssen.
Die Gesamtentwicklung der Mobilitätschancen Die Faktoren, die nach allem, was wir bisher über Europa und Nordamerika des 19. und 20. Jahrhunderts wissen, für ein Entwicklungsmodell zu die19
sem Zeitraum wichtig sind, sollen zuerst allgemein behandelt werden, bevor ihre sich wandelnden Auswirkungen in den verschiedenen Gesellschaftsepochen diskutiert werden. Ich beginne dabei mit den Faktoren, die auf die Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität einwirkten, komme danach auf die Faktoren der Verteilung der Chancen auf soziale Schichten und Klassen zu sprechen. Sechs Faktoren scheinen die allgemeine Entwicklung der sozialen Mobilität seit der industriellen Revolution besonders stark beeinflußt zu haben. (1) Der erste, wichtigste und am häufigsten untersuchte Faktor für Veränderung von Mobilitätschancen sind Wandlungen der Berufsstruktur, primär bestimmt durch den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungsprozeß. Zentrale Verschiebungen der Berufsstruktur des 19. und 20. Jahrhunderts wie die Expansion und Schrumpfung von manuellen Berufen, von Eigentümerunternehmern, von Kleinhändlern, die Abnahme der selbständigen Handwerker und der Bauern, die Expansion der Angestellten, der Beamten, der Manager, der akademischen Berufe werden als zentrale Ursachen für Zunahme, Stagnation und Blockierung von Mobilitätschancen angesehen. Vor allem die industrielle Revolution wird oft als eine Umbruchszeit der Berufsstruktur und daher auch als eine Periode der Hochmobilität betrachtet. Zu diesem Faktor sozialer Mobilität sind bezeichnenderweise die meisten Indikatoren und analytischen Instrumentarien entwickelt worden. 3 (2) Ein zweiter, komplizierterer Faktor ist die Struktur und der Wandel sozialer Schichtung während der kapitalistischen Industrialisierung Europas und Amerikas, wobei oft schwer zu entscheiden ist, ob Industrialisierungsprozeß oder kapitalistische Produktionsweise prägender war. Ganz allgemein gibt es verschiedene Auswirkungen von Schichtungswandel auf soziale Mobilität: Der Umfang sozialer Schichten und Klassen kann sich ändern und Mobilitätsvorgänge hervorrufen. Soziale Schichten und Klassen können aufsteigen oder absteigen; dadurch kann auch Mobilität einzelner Individuen entstehen. Die Durchlässigkeit der Schichtungs- und Klassenstruktur kann sich ändern; auch daraus können Mobilitätsvorgänge entstehen. Wandlungen der Schichtungs- und Klassenstruktur wirken ohne Zweifel in intensiver, oft empirisch schwer faßbarer und selten erfaßter Form auf die Entwicklung der Mobilitätschancen ein. (3) Ein dritter Faktor ist die demographische Entwicklung. Hier beeinflussen besonders zwei Aspekte, Lebenserwartung und Bevölkerungswachstum, die Entwicklung der Mobilitätschancen. Auf der einen Seite bestimmt die Lebenserwartung der erwerbstätigen Bevölkerung die Zeitdauer, nach der eine Berufsposition frei wird. Steigende Lebenserwartung im erwerbstätigen Alter verlängert die individuelle Berufstätigkeit und senkt dadurch die berufliche Zirkulation. Auf der anderen Seite hat das Wachstum der erwerbstätigen Bevölkerung große Bedeutung für die Nachfrage nach Berufschancen. Hohe Wachstumsraten führen im allgemeinen zu einer wachsenden Nachfrage nach Berufschancen und reduzieren dadurch (wenn nicht andere 20
Faktoren wirksam werden) die Mobilitätschancen. Gerade in der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts, während der in den meisten europäischen und nordamerikanischen Ländern die demographische Transition mit spürbaren Veränderungen von Lebenserwartung und raschem Bevölkerungswachstum stattfand, war daher die Bevölkerungsentwicklung ein wichtiger, sich stark verändernder Mobilitätsfaktor. 4 (4) Ein vierter Faktor, der mit der demographischen Entwicklung teilweise zusammenhängt, ist die räumliche Mobilität. Europa und Amerika erlebten während des 19. und 20. Jahrhunderts dramatische Zu- und Abnahmen der räumlichen Mobilität, und zwar sowohl in der transatlantischen Wanderung als auch in den internen Land-Stadt-, Stadt-Land- und StadtStadt-Wanderung. Dabei veränderte sich nicht nur das Wanderungsvolumen, sondern auch der Charakter der Wanderung. Migration war teilweise eher bestimmt von Chancenwanderung, die zu einer besseren Nutzung von Arbeitsmarkt- und Berufschancen und damit zu einer Erhöhung von Berufsund Aufstiegsmobilität führte. Zeitweise herrschte eher erzwungene Mobilität vor, die, durch Mangel an Arbeits- und/oder Wohnmöglichkeiten ausgelöst, zu einem unfreiwilligen, hektischen Ortswechsel führen konnte und meist die Nutzung von Arbeitsmarkt- und Berufschancen eher abschnitt als förderte. Ohne diesen Faktor der räumlichen Mobilität wäre daher ein Entwicklungsmodell der sozialen Mobilität besonders im europäischen und nordamerikanischen 19. und 20. Jahrhundert lückenhaft. 5 (5) Ein fünfter, häufiger untersuchter, Institutionen- und mentalitätshistorischer Faktor ist der Ubergang zum formalisierten Wettbewerb beim Zugang zu Berufspositionen, der Wandel von der situationsgebundenen Arbeitsplatzerfahrung zur formalisierten Qualifikation, von der Mentalität der familienbestimmten Berufsvererbung zum leistungsorientierten Wettbewerb. Auch dieser Wandel, der eng mit dem abnehmenden Gewicht der Familie und mit der Entwicklung von privaten und öffentlichen Bürokratien zusammenhängt, hat einen tiefgreifenden Einfluß auf die allgemeine Verfügbarkeit von Berufschancen. (6) Ein sechster Faktor schließlich ist die Staatsintervention. Die Rolle dieses Faktors läßt sich nicht in ein einziges Argument fassen, da die Staatsintervention die Verfügbarkeit von Berufschancen in vielerlei Hinsicht beeinflußte, sowohl reduzierte als auch erweiterte. Agrarreformen, Gewerbereformen, Freizügigkeitsgesetze, Bildungsreformen, Sozialpolitik, Expansion von staatlichen Bürokratien, staatliche Personalpolitik werden in der historischen Mobilitätsforschung selten untersucht, waren jedoch zweifelsohne für die allgemeine Entwicklung der Berufschancen im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert von großer Bedeutung.
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Die Verteilung der Mobilitätschancen Für die soziale Verteilung der expandierenden oder schrumpfenden Berufsund Mobilitätschancen erscheinen wiederum mehrere Faktoren wichtig, wobei vor allem die Verteilung von Chancen über soziale Klassen und Schichten, weniger die regionale, ethnische und geschlechtsspezifische Verteilung im Vordergrund stehen wird: Ein Entwicklungsmodell, das alle diese Verteilungsperspektiven gleichrangig erfassen wollte, wäre zu kompliziert. (1) In kapitalistischen Gesellschaften wie den nordamerikanischen und westeuropäischen des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Zugang zu Kapital ein zentraler Faktor der Chancenverteilung. Dieser Zugang wandelte sich einerseits entsprechend den Sparquoten und Gewinnmargen, der Rolle der Familie und des Freundesnetzes als Kreditgeber, der Entwicklung des Bankensystems, der Investitionsmentalitäten, der Konzentration und der Kapitalintensität von Produktion und Distribution. Auf der anderen Seite verschob sich die Bedeutung von Kapitalbesitz für Chancenungleichheit durch die wachsende Trennung von wirtschaftlicher Macht und Besitz in Großunternehmen und durch die wachsende Bedeutung der Ausbildung als Mittel der Statusvererbung in der wirtschaftlichen Oberschicht. In beider Hinsicht sind während des 19. und 20. Jahrhunderts so einschneidende Veränderungen abgelaufen, daß sie als ein Faktor für Wandlungen der Chancenungleichheit berücksichtigt werden müssen. (2) Ein zweiter, stark von der Entwicklung der Familie bestimmter Faktor für Veränderungen der Chancenverteilung sind die sozialen Unterschiede in der Bewältigung von kritischen familiären Lebenssituationen wie Geburt, Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Tod. Kritische Lebenssituationen beeinflussen soziale Mobilität, da es von ihrer Bewältigung in hohem Maß abhing, ob Ausbildungs-, Berufs- und Aufstiegschancen in längerfristiger individueller Planung genutzt werden konnten. Ist die soziale Ungleichheit bei der Bewältigung kritischer Lebenssituationen groß, sind auch starke U n gleichheiten der Mobilitätschancen zu erwarten. Die Bewältigung der kritischen Lebenssituation wandelte sich in ihrem Gewicht und ihrer sozialen Verteilung während des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Wandel der Familie, der Nachbarschaft und Freundesnetze, der privaten und staatlichen Sozialsicherung tiefgreifend und ist daher ein wichtiger Bestandteil eines Entwicklungsmodells für Mobilitätschancen. (3) Drittens hat die demographische Entwicklung, hier vor allem die soziale Verteilung der Lebenserwartung und der Familiengröße, auch die Chancenverteilung beeinflußt. Sind in einer Gesellschaft die erwerbsfähigen Nachfahren desto zahlreicher und ist die Lebenserwartung desto höher, je weiter man in der sozialen Hierarchie aufsteigt, so sehen sich soziale Aufsteiger relativ vielen Konkurrenten aus den Aufstiegsschichten gegenüber und haben damit relativ ungünstige Aufstiegschancen. Soziobiologische Unterschiede können auf diese Weise zu Aufstiegsbarrieren werden. Soziale U n 22
terschiede in Lebenserwartung und Familiengröße veränderten sich im 19. und 20. Jahrhundert erheblich, müßten auch die Chancenverteilung beeinflußt haben und sollten daher ebenfalls in ein Entwicklungsmodell der sozialen Mobilität eingehen. (4) Weiterhin hat die räumliche Mobilität nicht nur die allgemeine Entwicklung der Chancen, sondern auch ihre Verteilung beeinflußt. Markante soziale Unterschiede bestanden im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur im Ausmaß; auch im Charakter der Migration, im Vorherrschen von Chancenwanderung oder Zwangswanderung unterschieden sich soziale Schichten und Klassen deutlich. So war die Schicht der ungelernten Arbeiter in bestimmten Zeiträumen nicht nur erheblich mobiler, sondern auch häufiger als andere soziale Schichten erzwungen mobil. Ihre Chancen waren besonders ungleich, nicht nur weil sie Arbeit und Ort zu häufig wechselten, sondern auch weil ihre Migration häufig nicht so sehr durch bessere Chancen motiviert als durch den Mangel an Chancen erzwungen war. Ausmaß und Charakter der sozialen Unterschiede der räumlichen Mobilität verschoben sich im 19. und 20. Jahrhundert deutlich; sie müßten daher auch zur Veränderung der Chancenverteilung beigetragen haben. 6 (5) Ein weiterer, mentalitätshistorischer Faktor der Chancenungleichheit, der sich nicht einfach aus den bisher genannten Faktoren ableiten läßt, ist die sozial unterschiedliche Bereitschaft, Ausbildungs-, Berufs- und Aufstiegschancen wahrzunehmen und der Chancennutzung gegenüber anderen Prioritäten wie Statuserhaltung, sozialer Sicherheit oder resignativer Nichtplanung den Vorrang zu geben. Auch die sozialen Unterschiede in der Bereitschaft zur Chancennutzung, die erst neuerdings in der historischen wie soziologischen Forschung stärkere Aufmerksamkeit gewonnen haben, dürften sich während des 19. und 20. Jahrhunderts stark verändert haben und sollten daher in einem Entwicklungsmodell zur sozialen Mobilität enthalten sein. 7 (6) Schließlich war die Staatsintervention ein Faktor nicht nur der allgemeinen Verfügbarkeit von Berufschancen, sondern auch ihrer Verteilung. Auch unter diesem Aspekt ist die Staatsintervention verästelt und ambivalent; sie kann die Verteilung von Mobilitätschancen wenig oder stark beeinflußt haben, sie kann Chancenungleichheit verschärft oder abgemildert haben. Die politische Ideengeschichte und die Demokratisierung von politischen Entscheidungsprozessen läßt erwarten, daß sich die Staatsintervention zugunsten elitärer Chancenungleichheit langfristig abschwächte und zugunsten egalitärer Chancengleichheit langfristig verstärkte. Es ist jedoch unklar, ob die Staatsintervention in Wirklichkeit diese Wirkung besaß. Trotzdem sollte sie auch unter dem Aspekt der Chancenverteilung Teil eines Entwicklungsmodells sein.
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Gesellschaftsepochen und soziale Mobilität Alle diese Faktoren der Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität und der sozialen Verteilung von Mobilitätschancen haben sich in ihrer Auswirkung während des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika einschneidend gewandelt. Sie haben darüber hinaus unterschiedliche regionale und nationale Ausprägungen erfahren, auf die allerdings hier nicht weiter eingegangen wird, teils weil es sich dabei eher um eine empirische als eine theoretische Frage handelt, teils weil es ein gemeinsames europäisches oder atlantisches Entwicklungsmuster der sozialen Mobilität gegeben zu haben scheint, das freilich deutliche nationale und regionale Variationen nicht ausschließt. 8 Ich werde im folgenden kurz die Zeit vor der industriellen Revolution streifen und dabei im wesentlichen Ideen von Lawrence Stone und Franklin Mendels zusammenfassen; danach werde ich ausführlicher auf industrielle Revolution, den organisierten Kapitalismus und die nachindustrielle Gesellschaft eingehen.
Die Zeit vor der industriellen Revolution Geht man von diesen Mobilitätsfaktoren aus, so erscheint die Zeit vor der industriellen Revolution in Europa weder als eine einheitliche Periode noch als eine Reihe von Gesellschaftsepochen, in denen in gleicher Weise sozialer Wandel bedeutungslos war und daher auch wenig Impulse für Veränderungen der sozialen Mobilität zu erwarten war. Nach dem landläufigen Bild von der industriellen Revolution wird in dieser Umbruchszeit eine statische, überwiegend agrarische, vorindustrielle Gesellschaft abgelöst, in der eine begrenzte Verfügbarkeit von Boden, das Fehlen technischen Fortschritts, eine marginale handwerkliche Produktion, eine stagnierende Bevölkerungszahl fast jeglichen sozialen Wandel unterbanden und in der damit die soziale M o bilität auf einem niedrigen Niveau stabil blieb. Dieses landläufige Bild hat wenig mit der Realität der hoch- und spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaft zu tun: Es ist offensichtlich sehr schwer, im Europa jener Zeit eine Region zu finden, die diesem Modell von vorindustrieller Gesellschaft wirklich voll entspricht und in der die Folgen für soziale Mobilität empirisch gleichsam in einem Experiment durchgetestet werden könnte. Wenn man von den einschneidenden Mobilitätsauswirkungen großer Epidemien, Mißernten, Kriege und Bürgerkriege absieht, so haben sich eine ganze Reihe der genannten Mobilitätsfaktoren schon vor der industriellen Revolution in Europa verändert und müßten daher auch auf soziale Mobilität Auswirkungen gehabt haben, die freilich bisher noch wenig erforscht und daher hypothetisch bleiben müssen. Wie Franklin Mendels und Lawrence Stone in Langzeitstudien zur sozialen Mobilität während der frühen Neuzeit gezeigt haben, gab es zumindest
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drei Impulse für Veränderungen der Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität. Erstens hat sich die Berufs- und Sozialstruktur gewandelt. Die Protoindustrialisierung, die Expansion der gewerblichen Produktion in vielen ländlichen Regionen Europas, löste seit dem Spätmittelalter eine wichtige Verschiebung der Sozialstruktur von rein agrarischer Erwerbstätigkeit zu gemischt gewerblich-agrarischen Erwerbstätigkeiten aus. Teilweise in Zusammenhang damit expandierte zudem der überwiegend städtische Fernhandel und bot ebenfalls neue Berufschancen in kaufmännischen und davon abhängigen manuellen und Dienstleistungsberufen in Städten. Schließlich stagnierten auch die agrarischen Mobilitätschancen nicht. Rodungen, überseeische Eroberungen, neue landwirtschaftliche Technologien haben die Verfügbarkeit von Land erweitert und die Produktivität verbessert. Allerdings verlief dieser Wandel der Berufsstruktur nicht stetig und kontinuierlich, sondern ruckhaft. Stone argumentiert, daß in England besonders das 16. und 17. Jahrhundert eine Zeit ökonomischer Expansion und damit wachsender Mobilitätschancen war, daß sich dagegen während des Jahrhunderts vor der industriellen Revolution die Berufsstruktur weniger veränderte und damit soziale Mobilitätschancen eher stabilisierten oder sogar reduzierten. Ein zweiter Mobilitätsfaktor, die demographische Entwicklung, hat ebenfalls schon vor der industriellen Revolution zu Veränderungen der sozialen Mobilität geführt. Protoindustrialisierung, kommerzielle Expansion, wachsende Verfügbarkeit von Land waren Faktoren für ein Bevölkerungswachstum, das zwar nicht mit der späteren Bevölkerungsexplosion der demographischen Transition vergleichbar ist, aber doch als wesentlicher Faktor dafür angesehen wird, daß die Nachfrage nach Berufschancen das Angebot überstieg, daß hohe Geburtenraten und starke Migration in protoindustrielle Regionen und in Städte zu einer Absenkung des Lebensstandards und zu massenhaftem sozialen Abstieg führten. Drittens schließlich vermutet Lawrence Stone, daß mentalitätshistorische Veränderungen, die er in England als die Entstehung der puritanischen Ethik festmacht, zu einer egalitäreren, Mobilitätschancen erweiternden Gesellschaftsauffassung führten. Ähnlich widersprüchlich wirkten sich, soweit bekannt, auch die Faktoren der Chancenverteilung aus. Die Protoindustrialisierung, möglicherweise auch die räumliche Expansion der Landwirtschaft, haben die soziale Barriere, die der Landbesitz in der reinen Agrargesellschaft darstellt, erheblich reduziert und damit sozialen Aufstieg erleichtert, gleichzeitig allerdings auch wie Mendels meint - sozialen Aufstieg abgewertet und in immer weniger einträgliche Erwerbstätigkeit geführt. Eindeutiger negativ haben sich soziale Unterschiede der Lebenserwartung und Fruchtbarkeit ausgewirkt. Lawrence Stone argumentiert, unterstützt durch neuere Studien zu nicht-englischen Fällen, daß in den oberen Schichten höhere Lebenserwartung besonders für Kinder, aber auch für Erwachsene, relativ niedriges Heiratsalter besonders bei Frauen und rasche Wiederverheiratung beim T o d eines Ehepartners in hohen Fruchtbarkeitsraten und einem starken Nachfragedruck der 25
Nachfahren der Oberschicht auf Berufschancen und daher geringen Aufstiegschancen und einer ungleichen Verteilung von Mobilitätschancen durchschlug. Positiv auf Aufstiegsmobilität hat sich umgekehrt die starke Expansion des Ausbildungssektors und die soziale offene Rekrutierung von Schülern und Studenten besonders im 16. und 17. Jahrhundert ausgewirkt, eine Entwicklung, die sich allerdings im späten 17. und im 18. Jahrhundert umkehrte und in eine Reduktion der Bildungs- und Aufstiegschancen einmündete. 9 Wie sich diese widersprüchlichen Impulse verschiedener Mobilitätsfaktoren auf die Entwicklung und Verteilung der sozialen Mobilität praktisch auswirkten, wissen wir bisher so gut wie nicht. Wichtig erscheint jedoch vor allem, daß die landläufige Pauschalvorstellung von der immobilen, vorindustriellen Gesellschaft nur wenig realistisch ist. Selbst wenn zukünftige Forschung zeigen wird, daß die Mobilitätschancen zwar nicht stabil, aber ihre Veränderung doch begrenzt und die Verteilung der Mobilitätschancen zwar nicht kastengesellschaftlich, aber doch ungleich waren, so sind doch schon graduelle Revisionen des bisherigen Bildes wichtig, da die andere Seite der verbreiteten Ansicht, die Vorstellung von einer Umbruchzeit der industriellen Revolution mit hochschnellenden, sozial offenen Mobilitätschancen in letzter Zeit ebenfalls ins Wanken geraten ist.
Die industrielle Revolution Entgegen der landläufigen Auffassung, die die Industrielle Revolution als eine Zeit des völligen Umbruchs der Berufsstruktur, der sozialen Umschichtung und der Entstehung massenhafter neuartiger Berufs- und Mobilitätschancen ansieht, kommt man bei einer Durchsicht aller wichtigen Mobilitätsfaktoren zu dem Schluß, daß die Gesamtentwicklung der Mobilitätschancen weder massenhaft noch besonders spektakulär noch - darauf wird gleich zurückzukommen sein - besonders gleichmäßig verteilt waren. Schon eine nähere Betrachtung des ersten, wichtigsten, am häufigsten angeführten Mobilitätsfaktors, des Wandels der Berufsstruktur, läßt skeptisch gegenüber einer euphorischen Beurteilung werden. Ohne Zweifel haben besonders in den Industrieregionen Unternehmer, Industriearbeiter und in der Folge davon zahlreiche Berufe des tertiären Sektors wie Einzelhändler, Handwerker, Eisenbahnbeamte, Dienstboten, städtische Verwaltungsbeamte zugenommen. Dadurch entstanden neue Mobilitätschancen. Dieser Zuwachs wurde jedoch aus zwei Gründen häufig überschätzt. Erstens wurde er oft zu sehr nur unter der lokalhistorischen Perspektive expandierender, ja explodierender Industrieregionen, zu wenig unter der Perspektive ganzer Länder gesehen. Auf dieser Ebene war die Industrielle Revolution nicht mehr eine Art direttissima von der agrarischen zur industriellen Sozialstruktur, selbst wenn man dafür einige Jahrzehnte ansetzt. Berufsstrukturelle Wandlungen während der in26
dustriellen Revolution erscheinen langsam und nicht durchschlagend. So nahm in Preußen der Anteil der Industriearbeiter (einschließlich Bergarbeiter) zwischen 1822 und 1861, also mit der Kernzeit der Industriellen Revolution, nur von 3 % auf 7 % zu; in Italien stieg ihr Anteil während der dortigen industriellen Revolution nur von 9 % auf 15% an (zwischen 1881 und 1921); in Belgien wuchs der Anteil aller gewerblichen Arbeitnehmer zwischen 1846 und 1880 nur von 2 4 % auf 2 9 % an. Von so langsamen, nur Teile der Gesellschaften betreffenden, strukturellen Veränderungen während der Industriellen »Revolution« sind keine einzigartig hohen Mobilitätsraten zu erwarten. Zweitens war das Tempo berufsstrukturellen Wandels in vielen europäischen Ländern nicht während der Industriellen Revolution, sondern in späteren Epochen, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, am größten. So schrumpfte der Anteil der agrarischen Erwerbstätigen in Belgien während der Industriellen Revolution um weniger als 1 % jährlich, in der Nachkriegszeit um fast 4 % jährlich, in Italien während der Industriellen Revolution um weit unter 1 %, in der Nachkriegszeit um fast 4 % , in Schweden, möglicherweise dem europäischen Land mit der raschesten Industrialisierung, während der Industriellen Revolution um etwas über 1 % , in der Nachkriegszeit um über 4 % , in Deutschland während der Industriellen Revolution um weniger als 1 % , in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik sogar um über 5 % . 1 0 Auch diese Illustration weist darauf hin, daß hohe, von berufsstrukturellem Wandel induzierte Mobilitätsraten nicht so sehr von der Industriellen Revolution, sondern von späteren Epochen zu erwarten sind. Im Grunde überrascht beides nicht, denn die Industrielle Revolution war wichtig, weil sie einen irreversiblen Prozeß ökonomischen und sozialen Wandels auslöste, nicht etwa weil sie ihn abschloß. Andere wichtige Mobilitätsfaktoren haben ebenfalls keine spektakuläre Zunahme der allgemeinen Mobilitätschancen bewirkt, teilweise sogar dem entgegengewirkt. Die demographische Transition, die in einigen europäischen Ländern mit der industriellen Revolution teilweise oder ganz zusammenfiel, hat die Expansion der Mobilitätschancen gebremst: Die Lebenserwartung, die während der demographischen Transition nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch - wenn auch sehr viel geringer - für berufstätige Erwachsene zunahm, hat die Mobilitätschancen aus einem biologischen Grund eher reduziert: Erwerbstätige starben seltener während ihres Berufslebens; daher wurden weniger Berufspositionen frei. Die Bevölkerungsexplosion, ebenfalls ein Charakteristikum der demographischen Transition, hatte zwar Wachstumseffekte für die Bauindustrie, für die Nahrungsmittelproduktion, für eine ganze Reihe von Dienstleistungsberufen und vergrößerte damit Berufschancen; diese Effekte wurden jedoch weitgehend überdeckt durch die wachsende Nachfrage nach Berufschancen, die ebenfalls durch tias meist rasche Bevölkerungswachstum hervorgerufen wurden und über das Angebot an Berufschancen im allgemeinen hinausging. Die Auswirkungen der geographischen Mobilität auf die Gesamtentwick27
lung der Berufschancen sind während der industriellen Revolution zumindest ambivalent. Die Zunahme der geographischen Mobilität, die in vielen europäischen Ländern erkennbar war und auf die Entstehung von Industrieregionen und das wachsende regionale Wachstumsgefälle, auf das Bevölkerungswachstum, auf Freizügigkeitsgesetze zurückzuführen ist, hat auf der einen Seite zu einer geographischen Erweiterung und besseren Nutzung von Arbeitsmärkten und Berufschancen geführt. Sie war jedoch auf der anderen Seite oft auch Ausdruck von Bevölkerungswachstum, von wirtschaftlicher Depression, von hoher Arbeitsplatzunsicherheit, von Wohnungsknappheit und hohen Wohnungspreisen, von Verstädterungsprozessen, die über das Beschäftigungspotential hinausschössen, von Uberbevölkerung in den Abwanderungsregionen. Dieser Typ erzwungener Mobilität, den eine ganze Reihe von Studien zur Migration während der Industriellen Revolution direkt oder indirekt belegen, hinderte eher an der Nutzung der Arbeitsmarktund Berufschancen. 11 Auch die Entwicklung der Berufsmentalitäten war in Europa meist kein Faktor, der neue Berufschancen erschloß. Die Wertvorstellung der Berufsvererbung innerhalb der Familie war nicht nur in Landwirtschaft und Handwerk, sondern auch in der Industrie in vielen europäischen Ländern noch wenig gebrochen. Nicht nur für Unternehmer ist gezeigt worden, daß zumindest in Frankreich und Deutschland die wichtigsten Spitzenpositionen meist nach Möglichkeit von Familienmitgliedern besetzt wurden und die Ererbung, nicht die Gründung eines Unternehmens, auch während der Industriellen Revolution die vorherrschende Unternehmerkarriere war. 1 2 Auch für gelernte Arbeiter spielte die familiäre Kontinuität für die berufliche Mobilität eine wichtige Rolle; für eine Reihe qualifizierter Berufe wie Bergarbeiter, Eisenhüttenarbeiter, Glasbläser, Maschinenbauarbeiter, Textilarbeiter ist eine recht wirksame Reservierung des Arbeitsmarkts für Familienmitglieder belegt worden. 13 Für die Masse der Bevölkerung einschneidender als bei Unternehmerberufen, haben hier familienorientierte Mentalitäten das Wachstum des Angebots von Arbeitsmarkt- und Berufschancen für Außenstehende nur reduziert spürbar werden lassen. Die traditionale wirtschaftliche Oberschicht und das traditionale Handwerk entwickelten genügende Potentiale an Unternehmern und gelernten Arbeitern, um eine industrielle Revolution in Gang zu bringen. Eine euphorische Beurteilung der Mobilitätschancen während der industriellen Revolution gerät weiter ins Wanken, wenn man die Faktoren der Chancenverteilung durchgeht. Danach erscheint die industrielle Revolution vor allem als eine Periode ungleicher Verteilung von Berufs- und Mobilitätschancen, die gleichzeitig nur begrenzt zunahmen. Ein erster wichtiger Grund dafür ist die schroffe Ungleichheit beim Zugang zu Kapital, ein in einer kapitalistischen Industrialisierung wie der westeuropäischen und nordamerikanischen wichtiger Verteilungsfaktor. Besonders in Branchen, in denen die Gründung eines Unternehmens relativ viel Kapital erforderte, wie in Spinne28
reien, teils auch in Webereien, im Bergbau, in der Hüttenindustrie, im Bankensektor, war die Rekrutierung der Unternehmer sozial exklusiv. Man sollte diesen Faktor zwar nicht überschätzen, da auch bei sehr offenen Unternehmerkarrieren immer nur ein sehr kleiner Teil der Masse der Bevölkerung erfolgreicher Unternehmer werden kann und da außerdem eine Reihe, wenn auch eine Minderheit von Branchen wie etwa der Maschinenbau, ein Teil der Webereien, einige Konsumgüterindustrien noch sehr wenig kapitalintensiv produzierten. Von einer Verstärkung der Chancengleichheit und einer Öffnung der Unternehmerkarriere für alle Talentierten zu sprechen, ergäbe jedoch sicher ein unrealistisches Bild. 1 4 Die demographische Entwicklung scheint die Ungleichheit der Chancenverteilung während der industriellen Revolution ebenfalls eher verstärkt als gemildert zu haben. Alles, was wir bisher über die sozialen Unterschiede von Lebenserwartung und Familiengröße wissen, deutet darauf hin, daß sich in der sozialen Hierarchie von unten nach oben die Lebenserwartung deutlich verbesserte, die Zahl der erwerbstätigen (und nicht schon vorher gestorbenen) Nachfahren im allgemeinen vergrößerte, so daß jeder Aufsteiger sich aus demographischen Gründen einer großen Zahl von Konkurrenten aus der Aufstiegsschicht gegenübersah. Hier könnte, sollten sich diese demographischen Unterschiede zwischen Schichten und Klassen durch weitere Forschung bestätigen, für die industrielle Revolution eine wichtige soziobiologische Barriere für die Wahrnehmung von Berufs- und Mobilitätschancen gefunden werden. 1 5 Auch die Entwicklung der geographischen Mobilität während der industriellen Revolution dürfte die ungleiche Verteilung der Chancen eher gestützt und verstärkt als reduziert haben. Auch hier weist das wenige, was wir bisher an Forschung über Europa besitzen, darauf hin, daß starke soziale Unterschiede im Ausmaß und im Charakter räumlicher Mobilität existierten. Vor allem unter ungelernten Arbeitern scheint räumliche Mobilität nicht nur hoch, sondern auch besonders häufig erzwungen gewesen zu sein und deshalb öfter als in anderen Schichten an der Nutzung von Arbeitsmarkt- und Berufschancen vorbeigeführt zu haben. Schon unter gelernten Arbeitern findet man nicht nur größere räumliche Persistenz, sondern auch mehr arbeitsmarkt- und chancennutzende Mobilität. Geographische Mobilität scheint deshalb die soziale Ungleichheit bei der Nutzung eines bescheidenen Chancenzuwachses eher vertieft zu haben. 1 6 Schließlich war die Entwicklung der Familie und ihre Rolle in der Vorsorge für kritische Lebenssituationen wie Geburt, Krankheit, Invalidität, Tod gerade während der industriellen Revolution ein weiteres wichtiges Moment für Chancenungleichheit. Auf der einen Seite schwächte sich die traditionelle Vorsorge für kritische Lebenssituationen, wie sie vor allem durch Familie, aber auch durch die Nachbarschaft, die Gemeinde, den Patron oder Feudalherrn zum guten Teil geleistet wurde, durch Migration und die Entstehung der klassischen Industriegemeinden deutlich ab. Auf der anderen Seite ent29
wickelten sich neue genossenschaftliche oder staatliche Sicherungssysteme erst allmählich. Die industrielle Revolution ist daher gleichsam die Talsohle in der Vorsorge für kritische Lebenssituationen. Für die Chancenverteilung ist wichtig, daß diese Talsohle sozial sehr unterschiedlich einschneidend war. Sie scheint wiederum hochmobile, ungelernte Arbeiter mit oft gelockerten Familienbeziehungen, geringer Neigung zu Selbsthilfeorganisationen, kinderreicheren Familien mit geringerer Lebenserwartung der Kinder, geringen Sparquoten und Vermögensreserven, geringen Sozialleistungen von Unternehmern härter als gelernte Arbeiter und diese wiederum härter als das Bürgertum getroffen zu haben. Krankheit, Geburt, Tod oder Invalidität eines erwerbstätigen Familienmitglieds haben damit die Nutzung von Berufschancen sozial sehr unterschiedlich intensiv behindert - ein weiterer Faktor für soziale Ungleichheit während der industriellen Revolution. 17 Mentalitätsunterschiede, die sich nicht schon aus diesen soeben genannten Mobilitätsfaktoren erklären lassen, haben zu starken Unterschieden bei der Nutzung von Berufs- und Mobilitätschancen geführt, dabei allerdings nach dem, was wir bisher wissen, vor allem nationale, regionale, religiöse und ethnische Unterschiede der Chancenverteilung bewirkt. Besonders Mentalitätsunterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Arbeitern, zwischen anpassungsfähigen Bauernsöhnen und klassenbewußten Arbeitersöhnen, zwischen irischen und anglogermanischen Einwanderern sind in ihrer Auswirkung auf Mobilitätsunterschiede von der Forschung untersucht worden. Einige wenige Studien belegen darüber hinaus, daß soziale Unterschiede der Mobilitätsmentalitäten auch zwischen sozialen Schichten und Klassen existierten, daß die an traditionalen agrarischen Wertvorstellungen besonders stark und zäh festhaltenden ungelernten Arbeiter ihre Chancen besonders wenig, die Arbeiteraristokratie oder Angestellte und Beamte der unteren Mittelschicht sehr viel besser nutzten. 1 8 Wir wissen über Mobilitätsmentalitäten noch sehr wenig; immerhin könnten auch sie, wenn sie nicht nur andere soziale Unterschiede widerspiegeln, die Chancenungleichheit beeinflußt und wahrscheinlich verstärkt haben. Faßt man zusammen, so erscheint die industrielle Revolution nicht als eine Periode raschen Wachstums der Berufs- und Mobilitätschancen. Neue Berufsgruppen nahmen im Gegenteil nicht sehr dramatisch zu, neue Berufschancen expandierten noch weniger dramatisch, da die Tradition innerfamiliärer Berufsvererbung selbst in der Industrie noch nicht wirklich gebrochen war, da die wachsende räumliche Mobilität nicht notwendigerweise mehr Berufschancen erschloß, sie oft verschloß und da das Bevölkerungswachstum in vielen Ländern die Nachfrage nach Berufschancen stärker wachsen ließ als das Angebot. Die industrielle Revolution ist noch weniger eine Zeit größerer Chancengleichheit, der freien Bahn für Talente. Die scharfen sozialen Unterschiede des Zugangs zu Kapital, der Lebenserwartung und oft auch der Zahl der erwachsenen Nachkommen, der Vorsorge für kritische Lebenssituationen, des Umfangs und des chancenbezogenen Charakters der räumlichen 30
Mobilität, möglicherweise auch der Berufs- und Mobilitätsmentalität haben gerade während der industriellen Revolution Chancenungleichheit eher verschärft als gedämpft. Damit soll nicht in Zweifel gezogen werden, daß die industrielle Revolution für den transatlantischen Raum eine zentrale, irreversible, positive Transformation war. Sie hatte jedoch hohe Kosten. Zu diesen Kosten scheint die ungleiche Verteilung von Mobilitätschancen gehört zu haben, die durch die bescheidene Zunahme der Mobilitätschancen nicht wirklich aufgewogen wurde.
Der organisierte Kapitalismus Ähnlich wie die industrielle Revolution ist der organisierte Kapitalismus für eine Betrachtung von sozialen Konsequenzen wirtschaftlicher Entwicklung wie der sozialen Mobilität kein klar datierbarer Zeitraum, sondern mehr ein Arbeitsinstrument, das zentrale Prozesse erkennen läßt. Die Epoche des organisierten Kapitalismus ist vor allem charakterisiert durch die Entstehung von Großunternehmen in der Industrie, zum Teil auch im Banken- und Verkehrssektor. Mit starken zwischennationalen Variationen ist die Entwicklung großer Unternehmenseinheiten begleitet von zunehmender Staatsintervention und expandierenden staatlichen Bürokratien. In einer ganzen Reihe von Ländern fallen diese Veränderungen mit späten Stadien der demographischen Transition zusammen. Aus allen diesen Gründen ist sowohl die Gesamtentwicklung als auch die Verteilung der Mobilitätschancen während der Epoche des organisierten Kapitalismus deutlich verschieden von der industriellen Revolution. Ein erster wichtiger Unterschied ist der Wandel der Berufsstruktur. Angestellten·, teilweise auch Beamtenberufe expandierten rasch und erreichten substantielle Anteile unter den Erwerbstätigen im Zusammenhang teils mit der Expansion von Großunternehmen und öffentlichen Verwaltungen, teils mit der Revolution der Verkaufstechniken, teils mit der Expansion des Ausbildungssektors. Das Wachstum der Angestellten- und Beamtenberufe ließ neue Berufs- und Mobilitätschancen entstehen, da ihre Rekrutierung sozial deutlich offener war als die gleichzeitig relativ zurückgehenden, durch sie gleichsam ersetzten selbständigen Handwerker und Bauern. Weiterhin führte die verstärkte Massenproduktion und die Entstehung eines großen Marktes von Konsumgütern zu einer Expansion des Einzelhandels und auch hier zu neuen Berufs- und Aufstiegschancen. Schließlich nahm die Schicht der Manager wiederum im Zusammenhang mit der Entstehung von Großunternehmen zu. Da diese Unternehmerkarriere nicht vom schwer zugänglichen Besitz an Kapital abhing, eröffnete auch sie neue Berufs- und Mobilitätschancen, allerdings in der Praxis nur für einen schmalen Kreis von Personen und Schichten. Aus allen diesen Gründen, unter denen die Expansion von Angestellten- und Beamtenberufen der bei weitem gewichtigste ist, 31
nahm das Angebot von Berufs- und Aufstiegschancen deutlich stärker zu als während der industriellen Revolution. Zweitens wurde der Zugang zu Berufen besonders mit der Entstehung von wirtschaftlichen und öffentlichen Bürokratien deutlicher von genereller Qualifikation und offenem Wettbewerb, weniger von familiären oder anderen sozialen Beziehungen abhängig. Im Zusammenhang damit setzte die Bildungsexpansion auf verschiedenen Bildungsebenen ein. Der Zugang zu Sekundärschulen, H o c h - und Fachschulen war zwar von Chancengleichheit weit entfernt; die soziale, ethnische, regionale und geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Schüler und Studenten wurde jedoch mit der Expansion graduell offener. 1 9 Der zunehmende Wettbewerb zwischen Besitzern von allgemeinen Qualifikationen wurde damit sozial etwas weniger exklusiv. Darüber hinaus veränderte sich die soziale Schichtung in einigen für die Gesamtentwicklung der Mobilitätschancen wichtigen Hinsichten. Erstens wurde die für die industrielle Revolution charakteristische soziale Kluft zwischen ungelernten und gelernten Arbeitern weniger tief. Das hängt zum Teil mit der Entstehung von angelernten Arbeiterberufen in der hochspezialisierten Massenproduktion zusammen, zum Teil mit dem Niedergang der für die industrielle Revolution charakteristischen Arbeiteraristokratie, deren Arbeitsautonomie, Einkommens- und Beschäftigungsprivilegien sich reduzierten. Darüber hinaus setzte während des organisierten Kapitalismus ein Prozeß der Nivellierung zwischen Angestellten und Arbeitern vor allem dort ein, wo die sozialen Unterschiede während der industriellen Revolution besonders groß gewesen waren. Alle diese Prozesse innerhalb der Lohnabhängigen erleichterten die Nutzung von Berufs- und Aufstiegschancen, da sie psychologische und kulturelle, aber auch ausbildungsmäßige Aufstiegsbarrieren abbauten, freilich teilweise auch sozialen Aufstieg abwerteten. 2 0 Zweitens fiel die Epoche des organisierten Kapitalismus zusammen mit einem Prozeß der Professionalisierung von Berufen wie Ärzten, Apothekern, Architekten, Ingenieuren, Chemikern. Dieser Professionalisierungsprozeß wertete diese Berufe, die freilich noch weit hinter ihrer in der Epoche der post-industriellen Gesellschaft erreichten quantitativen Bedeutung zurücklagen, in ihrem sozialen Status erheblich auf und ließ dadurch neue, wenn auch gesamtgesellschaftlich noch recht marginale Berufschancen entstehen. Drittens schließlich veränderte sich der soziale Status der Unternehmer mit der Entstehung von Großunternehmen erheblich. Erst jetzt wurden sie, gemessen an ihrer wirtschaftlichen Macht, ihren Einkommen und Vermögen, ihrem sozialen Prestige, ihrem politischen Einfluß ein substantieller Teil, ja die Kernsubstanz der Oberschicht. Sozialer Aufstieg zum Eigentümer eines großen Unternehmens der industriellen Revolution mit wenigen tausend Beschäftigten, mit Vermögen und Prestige, die deutlich unter Großgrundbesitzern rangierten, mit instabilem, von persönlichen Zufälligkeiten abhängigen^, selten organisiertem politischen Einfluß oberhalb lokaler oder regionaler Ebene war etwas anderes als der Aufstieg zum (aus ähnlichen Schichten 32
rekrutierten) Manager oder Besitzer eines Großunternehmens des organisierten Kapitalismus mit zigtausend Beschäftigten, mit festem Einfluß auf Regierungen und mit einem der wenigen tausend Spitzenvermögen des jeweiligen Landes. Auch diese letztere soziale Umschichtung hat freilich nur die Aufstiegschancen einer begrenzten Schicht verändert. Während des organisierten Kapitalismus begann sich weiterhin in vielen Ländern ein bestimmter Aspekt von räumlicher Mobilität, die Pendelwanderung, zu wandeln. Die Entwicklung und Ausbreitung von Nahverkehrssystemen wie Straßenbahnen, U-Bahnen, Bussen, Vorortzügen ist bisher meist nur bei der Geschichte des Wohnens berücksichtigt worden. 2 1 Sie dürften jedoch auch die sozialen Mobilitätschancen beeinflußt haben, da sie für die Masse der Bevölkerung erheblich mehr als die durch täglichen Fußmarsch erreichbaren Berufschancen erschlossen. Sicher sollte man die Auswirkungen dieser Verkehrsinnovationen auf soziale Mobilität während des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht überschätzen. Sie setzten sich vor 1914 im wesentlichen nur in Großstädten durch. Wir wissen zudem nicht, wie diese Erweiterungen der Berufschancen wirklich genutzt wurden. In einem Entwicklungsmodell sind sie jedoch sicher ab ungefähr der Jahrhundertwende ein wichtiger Merkposten. In einer ganzen Reihe von europäischen Ländern fielen diese mit dem organisierten Kapitalismus in Verbindung stehenden Veränderungen von Mobilitätsfaktoren mit einem Teil der demographischen Transition und damit einem Faktor zusammen, der umgekehrt die Nachfrage nach Berufschancen verstärkte und daher den genannten Ausweitungen der Berufschancen während des organisierten Kapitalismus entgegenwirken konnte. Ob dies eintrat, hing von der zeitlichen Überlappung der demographischen Transition und den genannten Auswirkungen des organisierten Kapitalismus zusammen. Der organisierte Kapitalismus unterschied sich von der industriellen Revolution in seinen Auswirkungen nicht nur für die Gesamtentwicklung der Mobilitätschancen, sondern auch für ihre Verteilung. Erstens verlor das Eigentum an Produktionsmitteln etwas von seiner Bedeutung für soziale Mobilität. Auf der einen Seite wurde der Kleinunternehmer im Handwerk und der Landwirt für den Aufstieg in die Mittelschicht weniger wichtig und wurde teilweise verdrängt durch Angestellten- und Beamtenberufe, für die keinerlei Kapitalbesitz notwendig war. Auf der anderen Seite wurden viele Unternehmerkärrieren in Großunternehmen vom Eigentum an den Produktionsmitteln abgekoppelt: Für Manager war Kapitalbesitz keine wesentliche Karrierevoraussetzung mehr. In beiden Fällen führte der Wegfall der Kapitalbarriere freilich nicht zu einer dramatischen Reduktion der Chancenungleichheit. Er brachte im Gegenteil die Rolle anderer materieller und kultureller Barrieren erst recht ans Licht; so wurde der Zugang zu wirtschaftlichen Spitzenpositionen nur für die nichtunternehmerische Oberschicht und obere Mittelschicht, nicht für die Mehrheit der Bevölkerung, offener. 22 Immerhin verstärkte sich die Chancenungleichheit bei der Rekrutierung von Spitzenun33
ternehmern nicht; der Zugang zur unteren Mittelschicht wurde sogar etwas weniger exklusiv. Zweitens fiel in einigen Ländern mit dem organisierten Kapitalismus die Abmilderung soziobiologischer Mobilitätsbarrieren zusammen. Die sozialen Unterschiede der Lebenserwartung reduzierten sich einerseits mit der Verbesserung des Lebensstandards, der allgemeinen medizinischen Versorgung, der Hygiene, andererseits mit der epidemiologischen Transition, während der Krankheiten wie Krebs, Gefäßkrankheiten in den Vordergrund traten, für die soziale Unterschiede der materiellen Bedingungen weniger wichtig waren als für die zurückgehenden Krankheiten wie Typhus, Cholera, Tbc. Möglicherweise begannen sich auch soziale Unterschiede des generativen Verhaltens und damit auch der Familiengröße abzuschleifen. 23 Soziale Nivellierung von Lebenserwartung und generativem Verhalten können dazu geführt haben, daß soziale Aufsteiger einer relativ geringeren Zahl von Konkurrenten aus den Aufstiegsschichten gegenüberstanden und ihre Aufstiegschancen daher zumindest aus soziobiologischen Gründen weniger beeinträchtigt waren. Drittens begannen sich in der Periode des organisierten Kapitalismus die Auswirkungen der regionalen Mobilität auf die Verteilung der sozialen Mobilitätschancen zu wandeln. Das Ausmaß der räumlichen Mobilität nahm zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erheblich ab. 24 Vermutlich teils weil das Bevölkerungswachstum und der Verstädterungsprozeß sich verlangsamten, zum Teil wohl auch weil der relative Stock an Wohnungen in Zuwanderungsgebieten zunahm, weil sich Wohnungsbau- und Sozialpolitik verbesserten, weil die Expansion von angelernten Arbeiterberufen zu dauerhafterer Beschäftigung führte. Hektische, erzwungene Chancennutzung verhindernde räumliche Mobilität verschwand sicher nicht völlig. Sie dürfte jedoch etwas von ihrer negativen Wirkung auf die Chancenverteilung verloren haben. Viertens schließlich kann man annehmen, daß sich die soziale Ungleichheit bei der Vorsorge für kritische familiäre Lebenssituationen wie Geburt,' Krankheit, Tod oder Invalidität eines Einkommensträgers etwas reduzierte. Dazu dürften mehrere Ursachen beigetragen haben: die sinkende Geburtenrate und Kinderzahl, die steigende Lebens-, aber auch Gesundheitserwartung von Kindern und - wenn auch in geringerem Ausmaß — von Erwachsenen, der allmähliche Ausbau der Sozialversicherungssysteme, möglicherweise auch die geringere räumliche Mobilität und die größere Beständigkeit von nichtfamiliärer, vielleicht sogar familiärer Hilfe in kritischen Situationen. Aus diesen Gründen konnten die sozialen Unterschiede teilweise im Auftreten, teilweise in der Bewältigung von kritischen Lebenssituationen etwas geringer geworden sein. Die Möglichkeiten zur längerfristigen Nutzung von Mobilitätschancen wurden dadurch zwischen sozialen Schichten und Klassen etwas weniger verschieden. Ein fünfter Faktor der Verteilung von Chancen, die staatliche Interven34
tion, wurde während des organisierten Kapitalismus wichtiger, wirkte sich jedoch gleichzeitig auch in seiner Ambivalenz stärker aus und verschärfte nationale Unterschiede. Die schon genannten wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme, die Expansion von Bildungseinrichtungen und Bildungschancen, die Ausweitung des staatlichen Personals können Chancenungleichheit ebenso abbauen wie zielgerichtete, egalitäre, chancenungleichheitsmindernde staatliche Bildungs-, Personal-, Rechts-, Verfassungspolitik. In der Periode des organisierten Kapitalismus gibt es jedoch genügend Beispiele staatlicher Entscheidungen, die Chancenungleichheit indirekt oder zielgerichtet verschärfte. Mit dem wachsenden Kontrast politischer Systeme in Westeuropa während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts könnten daher - dies wäre noch zu untersuchen - innereuropäische Kontraste der Chancenungleichheit mitgewachsen sein. Im Unterschied zu anderen Faktoren der Chancenverteilung weist daher die Staatsintervention während des organisierten Kapitalismus nicht in eine Richtung. Insgesamt war der organisierte Kapitalismus sowohl für die Gesamtentwicklung als auch für die Verteilung der Mobilitätschancen das Ende der Talsohle, in die die industrielle Revolution geführt hatte. Die Mobilitätschancen nahmen insgesamt stärker als während der industriellen Revolution zu, da sich aus Wandlungen der Berufsstruktur und der sozialen Schichtung stärkere Wachstumsimpulse ergaben und da in einigen Ländern die Abschwächung des Bevölkerungswachstums die Nachfrage nach Berufschancen zurückgehen ließ. Die Verteilung der Chancen dürfte etwas weniger ungleich geworden sein, da die Rolle des Eigentums von Produktionsmitteln etwas weniger wichtig für Berufschancen wurde, da sich die soziale Ungleichheit bei der Vorsorge für kritische familiäre Lebenssituationen abmilderten, da weiterhin zumindest in einigen Ländern soziobiologische Mobilitätsbarrieren etwas niedriger wurden und da schließlich die hohe räumliche Mobilität zurückging und mit ihr vermutlich auch die krassen sozialen Unterschiede in chancennutzender und chancenverbauender Migration. Freilich hing diese gegenüber der industriellen Revolution positive Entwicklung in hohem Maß von der jeweiligen Intervention des Staates ab, die zu stark variierte als daß sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein gemeinsames europäisches oder atlantisches Muster absehen ließ.
Die post-industrielle
Gesellschaft
Schließlich wird man eine letzte Periode, die post-industrielle Periode, unterscheiden können, in der sich die Entwicklung der Mobilitätsfaktoren wiederum deutlich von den vorherigen gesellschaftshistorischen Epochen abhebt. Auch diese Periode wird hier vor allem als ein analytisches Instrument zur Heraushebung wichtiger Veränderungen und weniger als ein genau da-
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tierbarer Zeitabschnitt verstanden. Primär ist jedoch damit die Nachkriegszeit angesprochen. Drei zentrale Charakteristika der post-industriellen Gesellschaft, die allerdings häufig unter anderen Bezeichnungen - wie »tertiäre Gesellschaft«, »Wohlfahrtsstaat«, »korporativer Kapitalismus« - geführt werden, sind für die Entwicklung und Verteilung von Mobilitätschancen wichtig. 25 Erstens wird in der post-industriellen Gesellschaft der industrielle Sektor durch den tertiären Sektor zurückgedrängt oder zumindest eingeholt, weil arbeitssparender technischer Fortschritt in vielen der im tertiären Sektor zusammengefaßten Erwerbstätigkeiten wie etwa Verwaltung, medizinische Versorgung, Unterricht nur begrenzt möglich ist, während sich umgekehrt im industriellen (und agrarischen) Sektor die Arbeitskräfte einsparende Produktivität beträchtlich steigern ließ. Dabei ist vor allem die Dynamik dieses Prozesses, nicht die Relation von,industriellem und tertiärem Sektor wichtig, die in Europa und den USA seit dem späten neunzehnten Jahrhundert sehr verschieden ist. 2 6 Zweitens ist die post-industrielle Gesellschaft charakterisiert durch die wachsende Bedeutung der Wissenschaft einerseits in der Entwicklung neuer Produkte, Produktionsverfahren, betriebsorganisatorischer Innovationen, neuer Verkaufs- und Absatztechniken, andererseits bei der zunehmenden Planung, Steuerung, Formalisierung und Bürokratisierung von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen. Dadurch veränderte sich die soziale Lage, die Marktsituation und der Einfluß von Akademikern; ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung wächst gegenüber früheren Epochen in bisher unbekannte Dimensionen hinein. Drittens schließlich ist die post-industrielle Gesellschaft in Westeuropa und USA durch die sich schon in der Zwischenkriegszeit abzeichnende, aber erst in der Nachkriegszeit sich durchsetzende Verschiebung der politischen Macht auf drei Machtträger, die Bürokratie, das organisierte Kapital und die organisierte Arbeit charakterisiert, eng verbunden mit der parlamentarischen Demokratie als politischer Struktur und dem Wohlfahrtsstaat als sozialpolitischem Basiskompromiß. Gegenüber dem organisierten Kapitalismus bedeutet dies einen Machtzuwachs oder einen stabilisierten Einfluß der organisierten Arbeit, teils auch der Bürokratie, durch den sich die Intervention des Staates in die Entwicklung der sozialen Mobilität einschneidend verändern konnte. Die Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität, die wiederum zuerst behandelt werden soll, wurde in der Epoche der postindustriellen Gesellschaft erstens durch mehrere Veränderungen der Berufsstruktur beeinflußt. Die wichtigste neue Entwicklung ist das rasche Wachstum der akademischen Berufe, die teils mit der schon genannten Gewichtsverlagerung auf die systematische Entwicklung neuer Produkte, Produktionsverfahren und Verkaufstechniken in der Wirtschaft, teils mit der ebenfalls schon erwähnten Ausweitung der Planungs- und Steuerungskompetenzen in Politik und Verwaltung, teils mit der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Administrationen zusammenhängt. Diese expandierende Nachfrage nach Hochschulabsolventen hat dar36
über hinaus die Ausbildungsinstitutionen für akademische Berufe, Sekundärschulen und Hochschulen anwachsen lassen, die Nachfrage nach Sekundarschul- und Hochschullehrern gesteigert und dadufch einen weiteren Wachstumsimpuls für akademische Berufe entstehen lassen. Allerdings ist die Entwicklung dieser Berufe sehr selten historisch genau verfolgt worden. Man kann schätzen, daß diese Gruppe in Großbritannien von rund 5% (1931) auf 12% (1971) zunahm. In der Bundesrepublik zeigen gröbere Schätzungen ähnliche Entwicklungen. 27 Der prognostizierbare Akademikeranteil an der Erwerbsbevölkerung - legt man den relativen Hochschulbesuch zugrunde - lag in der Bundesrepublik 1975 schon ungefähr so hoch wie der Industriearbeiteranteil ein Jahrhundert zuvor am Ende des ersten großen Industrialisierungsschubs. 28 Diese rasche Expansion der Akademikerberufe zu einem substantiellen Anteil der Erwerbstätigen hat zu einer deutlichen allgemeinen Erweiterung der Berufschancen geführt. Eine zweite, wichtige, mobilitätsfördernde Entwicklung in der post-industriellen Gesellschaft ist die Verschiebung von industriellen, aber auch agrarischen Berufen zu tertiären Berufen. In einer ganzen Reihe europäischer Länder - in den Niederlanden, in Belgien, in Frankreich, in den skandinavischen Ländern - wurde der tertiäre Sektor zum beschäftigungsstärksten Sektor; in den meisten übrigen westeuropäischen Ländern zog er mit dem industriellen Sektor gleich. 29 Bedingt durch eine Periode bisher unbekannten ökonomischen Wachstums, lief diese sektorale Verschiebung in der Nachkriegszeit besonders schnell ab und hat damit um so mehr zu einer Steigerung der allgemeinen Mobilitätschancen geführt. Drittens schließlich setzten sich in der post-industriellen Gesellschaft frühere Tendenzen berufsstrukturellen Wandels fort. Der Anteil der Selbständigen sank weiterhin in allen wirtschaftlichen Sektoren deutlich ab; die Selbständigen wurden in vielen Ländern zu einer statistisch, wenn auch nicht politisch marginalen Gruppe. Der Anteil von Angestellten- und Beamtenberufen stieg weiterhin an. Diese Faktoren beruflicher Mobilität blieben daher auch während der postindustriellen Gesellschaft wirksam. Eng mit diesen Wandlungen der Berufsstruktur hingen Veränderungen der sozialen Schichtung zusammen. Am wichtigsten ist auch hier zweifelsohne die rasche Expansion der akademischen Berufe, die eine Schicht gut bezahlter, relativ beschäftigungssicherer, angesehener Berufe mit vergleichsweise großer Arbeitsautonomie entstehen ließ und damit ζμ einer Ausweitung der generellen Aufstiegschancen führte. Auch wenn der Charakter dieses Aufstiegs durch Nivellierungstendenzen bei Einkommen und Beschäftigungssicherheit etwas abgewertet wurde, blieben die akademischen Berufe für die Mehrheit der Bevölkerung auch in der post-industriellen Gesellschaft grundsätzlich doch Aufstiegsberufe. Die meisten Mobilitätsstudien zur Nachkriegszeit, die den historischen Trend untersuchen, zeigen daher eine Zunahme der Aufstiegsmobilität in die obere Mittelschicht und erklären das vor allem mit dieser Expansion der akademischen Berufe. 30 Zweitens scheint sich die Expansion von Angestellten- und Beamtenberufen während der post-in37
dustriellen Gesellschaft nicht nur fortgesetzt zu haben, sondern stärker als bisher Auswirkungen auf die soziale Schichtung gehabt zu haben. Erstmals scheinen gleichzeitig die Arbeiterberufe abgenommen zu haben und damit die potentiellen Aufstiegschancen für Arbeiter bzw. Arbeitersöhne verstärkt zu haben. Freilich wurde der Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenberufe gleichzeitig durch die Abschwächung der Unterschiede der Einkommen, der Arbeitskontrolle und der Beschäftigungssicherheit zwar nicht entwertet, aber doch abgewertet. 31 Die post-industrielle Gesellschaft hob sich in demographischen Mobilitätsfaktoren nur noch wenig von der Epoche des organisierten Kapitalismus ab. Die Steigerung der Lebenserwartung flachte sich ab, schlug sogar teilweise in einen leichten Rückgang um und verlor damit ihre bremsende Auswirkung auf die berufliche Zirkulation. Das Bevölkerungswachstum blieb in den meisten Ländern nach dem Auslaufen der demographischen Transition langfristig niedrig. Allerdings wurde diese langfristige rückläufige Tendenz des Bevölkerungswachstums in der unmittelbaren Nachkriegszeit in weiten Teilen Europas und der USA überlagert durch eine kurzfristige Zunahme der Geburtenraten und -nach einem Zeitverzug von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren - durch eine hochschnellende Nachfrage nach Ausbildungs- und Berufschancen überlagert. Diese Fluktuationen haben kurzfristig die Berufsund Mobilitätschancen verknappt, auch wenn sie die Grundtendenz günstiger Berufs- und Mobilitätschancen nicht umgebogen haben. Andere Faktoren der Gesamtentwicklung der sozialen Mobilität wie die räumliche Mobilität, Berufs- und Mobilitätsmentalitäten, die Staatsintervention, haben - wenn man von der schon genannten Expansion des staatlichen Personals und der Ausweitung der meist staatlichen Ausbildungskapazitäten absieht - sich gegenüber dem organisierten Kapitalismus nicht wesentlich verändert und haben deshalb eher eine Stabilität der Berufs- und Mobilitätschancen auf dem Niveau des organisierten Kapitalismus, keine Erweiterung bewirkt. Für die Verteilung der Mobilitätschancen entstand in der postindustriellen Gesellschaft aus mehreren Gründen eine etwas andere Situation als im organisierten Kapitalismus. Erstens konnte die rasche Expansion der akademischen Berufe und in der Folge davon der Hochschulen und Sekundärschulen Chancen nicht nur für die bisherigen Zugangsschichten erweitern; sie war so rasch, daß sie zu einer deutlichen Verschiebung der Rekrutierungsfelder führen und damit auch die Chancenverteilung beeinflussen konnte. 32 Freilich hing diese Veränderung der Chancenungleichheit nicht so sehr von der dauerhaften Expansion der akademischen Berufe, sondern in sehr viel empfindlicherer Form vom Tempo ihrer Expansion ab und konnte daher auch rasch wieder enden. Zweitens hat die Verschiebung der Machtstruktur eine weit höhere politische Priorität der Chancengleichheit durchgesetzt als während des organisierten Kapitalismus oder gar während der industriellen Revolution. In parlamentarischen Ländern Westeuropas entstand ein weitreichen38
der Konsens über politische Erwünschtheit von Chancengleichheit. Er schlug sich teils in verfassungsrechtlichen Grundsätzen, teils in einer Vielzahl politischer Entscheidungen im Bereich der Bildungs-, staatlicher Personal-, Sozial- und Rechtspolitik nieder. Freilich darf diese politische Einmütigkeit und die große Zahl politischer Entscheidungen nicht darüber hinweg täuschen, daß die historischen Erfahrungen mit effizienter Politik der Chancengleichheit gering sind und deshalb viele politische Entscheidungen an der Verteilung der Chancen nur wenig änderten. Drittens kann man erst in der Nachkriegszeit davon ausgehen, daß sich soziale Sicherungssysteme auf die Chancenverteilung auswirkten. In den meisten westeuropäischen Ländern wurde die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erst in der Nachkriegszeit von sozialen Sicherungssystemen überhaupt erfaßt oder wenigstens die wichtigen klassischen Bereiche staatlicher Vorsorge - Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Tod eines Einkommensträgers, A l t e r - v o l l entwickelt. Substantielle Leistungen, durch die kritische Lebenssituationen wirklich entschärft wurden, erbrachten die Sozialversicherungen und -Verwaltungen in vielen Ländern ebenfalls erst in der Nachkriegszeit. Dabei wissen wir bisher sehr wenig über die wirklichen Auswirkungen der sozialen Sicherungssysteme auf die Situation der Betroffenen. 3 3 Wir können jedoch frühestens für die Nachkriegszeit annehmen, daß durch die Entwicklung von sozialen Sicherungssystemen die tiefgreifenden sozialen Unterschiede in der Bewältigung kritischer Lebenssituationen abgemildert wurden und damit die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Ausbildungs- und Berufschancen etwas weniger ungleich wurden. Andere Faktoren der Chancenverteilung veränderten sich nicht erkennbar oder entwickelten sich sogar in der Gegenrichtung. Die historische Entwicklung sozialer Unterschiede in der Mobilitätspriorität und -bereitschaft sind bisher auch für die Nachkriegszeit nicht untersucht worden. Punktuelle Untersuchungen zur Gegenwart belegen weiterhin gravierende, wenn auch nicht sich verstärkende Unterschiede. Soziobiologische Barrieren könnten sich in der Nachkriegszeit sogar etwas erhöht haben. Es gibt Hinweise dafür, daß die Familien der Oberschicht und der oberen Mittelschicht in der Nachkriegszeit größer waren als die der unteren Mittelschicht und daß damit aus dem für die vorhergehende Zeit meist typischen Α-förmigen Muster mit vergleichsweise kleinen Familien in der Oberschicht ein X-förmiges Muster geworden war, 3 4 das für sozialen Aufstieg ungünstiger war, weil sich Aufsteiger aus der Unter- und Mittelschicht besonders vielen Konkurrenten aus den Aufstiegsschichten gegenübersahen. Gründliche Untersuchungen zu diesem Zusammenhang fehlen zwar bisher noch. Diese demographische Entwicklung könnte jedoch die Chancenverteilung ungünstig beeinflußt haben. Für keine Epoche ist die Tendenz der Chancenverteilung so genau untersucht worden wie für die Nachkriegszeit. Untersuchungen vor allem zu Großbritannien und zu Deutschland kommen zu dem Ergebnis, daß sich zwar die Berufs-, Ausbildungs- und Aufstiegschancen der Mittel- und Un39
terschichten in der Nachkriegszeit deutlich verbessert haben und wahrscheinlich nie zuvor so vielfältig und günstig waren, daß damit jedoch keine Chancenumverteilung verbunden war. Auch die Ausbildungs- und Berufschancen von Nachfahren der oberen Mittelschicht verbesserten sich. Die Privilegierung blieb unverändert bestehen. Die Mobilitätschancen der Mittelund Unterschichten nahmen im wesentlichen durch Wandlungen der Berufsstruktur, nicht auf Kosten der Privilegierten z u . 3 5 Freilich wissen wir bisher noch wenig über die Ursachen. O b sich ungleichheitsmindernde und ungleichheitsverschärfende Faktoren gegenseitig die Waage hielten, ob die Politik größerer Chancengleichheit ineffektiv und nur sehr langfristig wirksam oder nur an Chancenverbesserung, nicht an Chancenumverteilung orientiert war, ob die rasche Zunahme der Mobilitätschancen das Nullsummenspiel der Chancenumverteilung aus dem Blickfeld rückte, ob schließlich das in der Mobilitätsforschung benutzte Konzept von Chancenungleichheit und Chancenumverteilung politisch gar nicht wirksam werden konnte, weil es zu kompliziert, zu wenig in politische Forderung umsetzbar, Nichtspezialisten zu wenig bewußt zu machen ist, blieb bisher offen. 3 6 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die post-industrielle Gesellschaft etwas mehr Mobilitätschancen als der organisierte Kapitalismus und mehr Chancen als die industrielle Revolution bietet. Neue Mobilitätsfaktoren waren vor allem die Expansion des tertiären Sektors, die rasche Zunahme akademischer Berufe und damit auch einer Schicht mit hohem Prestige, relativ großer Beschäftigungssicherheit, beträchtlicher Arbeitsautonomie und hohen Einkommen, der leichte Rückgang der Arbeiterberufe und schließlich der endgültige Abschluß der demographischen Transition. Gleichzeitig blieben mobilitätsfördernde Faktoren vorhergehender Epochen weiterhin wirksam. Aus der gegenwärtigen Rückschau in die Nachkriegsgeschichte läßt sich allerdings die wirtschaftliche, besonders mobilitätsfördernde, aber zeitlich begrenzte Properitätsphase von dem langfristigen Niveau und den Langzeittendenzen der sozialen Mobilität während der postindustriellen Gesellschaft schwer trennen. Die soziale Mobilität mag sich in der Zukunft von der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weniger scharf unterscheiden als im heutigen Rückblick auf die zwanzig Jahre beschleunigten Wandels nach 1945. Es kommt hinzu, daß trotz der hohen politischen Priorität von Chancengleichheit, trotz oder wegen des Mobilitätsbooms, trotz oder wegen der raschen Expansion relativ offener Aufstiegsberufe sich die Chancenverteilung nicht erkennbar änderte und keine deutlich faßbare Chancenumverteilung stattfand. Eine langfristige stabile Reduzierung von Chancenungleichheit ist uns freilich - von einigen, nur kurzfristigen Chancenumverteilungen durch politischen Umbrüche abgesehen - auch aus vorhergehenden Epochen nicht bekannt.
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Zusammenfassung Die Hauptintention dieses Kapitels war, für die historische Langzeitentwicklung der sozialen Mobilität, ihren allgemeinen Umfang und ihre soziale Verteilung, ein Instrument zur Periodisierung und Ursachenanalyse zu entwikkeln. Dabei ging es nicht um eine abschließende, ausgefeilte, theoretische Systematik, sondern um den Anstoß zu einer bisher fast völlig ausgebliebenen Diskussion über ein Entwicklungskonzept zum neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, um eine Sammlung von Argumenten, um eine Arbeitserleichterung für empirische Analysen. Der hier vorgelegte Vorschlag, der ohne die reichhaltige empirische Forschung zur Geschichte der sozialen Mobilität undenkbar wäre, geht in zwei Richtungen: Er versucht erstens - getrennt nach der Gesamtentwicklung und der sozialen Verteilung der Mobilitätschancen - zu zeigen, welche Auswirkungen die wichtigsten gesellschaftlichen Charakteristika des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem die industrialisierungsbedingten Veränderungen der Berufsstruktur und Schichtung, die demographische Transition, die massenhafte Migration, die Entwicklung und Bewältigung kritischer familiärer Lebenssituationen, der Industriekapitalismus, die Veränderungen der politischen Machtstruktur, der staatlichen Intervention und der Priorität einer Politik der Chancengleichheit auf die soziale Mobilität gehabt haben und auf welche Weise sie in eine Ursachenanalyse der historischen Entwicklung der sozialen Mobilität eingebracht werden können. Zweitens macht dieser Artikel den Vorschlag einer langfristigen Periodisierung dieser Mobilitätsfaktoren wiederum für das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert. Für jede der großen sozioökonomischen, hier hermeneu tisch verstandenen Perioden - industrielle Revolution, organisierter Kapitalismus, post-industrielle Gesellschaft - wird überlegt, welche Auswirkungen die tiefgreifenden, epochenspezifischen Veränderungen der genannten Faktoren auf Gesamtentwicklung und soziale Verteilung der Mobilitätschancen gehabt haben können. Wiederum geht es dabei nicht darum, Ergebnisse gründlicher empirischer Untersuchungen vorwegzunehmen, sondern mögliche Zusammenhänge vorzutragen und Argumente zu sammeln. In der Tendenz kommt der Artikel allerdings zu dem Schluß, daß sich auf der einen Seite der Umfang der Mobilitätschancen von der industriellen Revolution zum organisierten Kapitalismus und weiter zur post-industriellen Gesellschaft erweitert und die Aufstiegschancen zugenommen haben, daß sich auf der anderen Seite zwar einige Bedingungen der Chancenverteilung verbesserten, aber andere zentrale Verteilungsfaktoren wie etwa die staatliche Intervention in ihrer Auswirkung auf soziale Mobilität so ambivalent sind, daß allgemeine Überlegungen über Verschärfung oder Abschwächung der Chancenungleichheit nicht möglich sind. In diesem letzten Punkt bleibt die Entscheidung bei empirischen Untersuchungen, von denen man allerdings erhoffen würde, daß sie sich nicht in der Beschreibung der Chancenverteilung verlieren, sondern zur Ursachenanalyse vorstoßen. 41
KAPITEL 2
Soziale Mobilität in Deutschland 1850-1960
2.1. Wandel der Berufsstruktur und sozialer Aufstieg 1850-1914 Es gehört zum Selbstverständnis der modernen Industriegesellschaft, daß sie sich durch stärkere Aufstiegsmobilität oder zumindest durch günstigere Aufstiegschancen von traditionalen Gesellschaften der Gegenwart und von früheren Entwicklungsstufen der eigenen Gesellschaft zu unterscheiden glaubt. Als Grund für diesen positiven Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Aufstiegsmobilität wird neben den an Leistung und nicht mehr an Geburt orientierten Kriterien beruflicher Selektion sehr häufig die außerordentlich rasche Vermehrung bestimmter Berufsgruppen wie der Angestellten, der Beamten, der Unternehmer angesehen. Der wachsende Bedarf an geeigneten Personen für diese Berufe führte zu einer verstärkten Rekrutierung in den mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft. Aus dem Wachstum bestimmter Berufsgruppen, wie es die Industrialisierung mit sich brachte, entstand daher - so Lipset und Zetterberg in einer mobilitätstheoretischen Skizze - eine »Woge des Aufstiegs«. 1 Wie weit während des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Industrialisierung in dieser Weise aufstiegsanreizend wirkte, wird die erste der beiden Hauptfragen dieses Abschnitts sein. Die Historiker haben sich bisher auf andere Problembereiche der Industrialisierung und ihrer sozialhistorischen Folgen konzentriert. Während der Zwischenkriegszeit gab es für Deutschland zwar eine ganze Reihe historischer Mobilitätsuntersuchungen, 2 auf den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und sozialer Aufstiegsmobilität gingen sie jedoch fast nie ein. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von deutschen Historikern dieser Problemzusammenhang meist nur gestreift. 3 Die wohl überwiegende Meinung hat am eingehendsten Köllmann in einer sehr anregenden Arbeitshypothese wiedergegeben. Demnach verstärkte die Industrialisierung die Aufstiegsmobilität nicht uneingeschränkt. Unter den drei Sektoren der damaligen Gesellschaft, dem agrarischen, dem »industriellen« und dem »öffentlichen« Sektor (d.h. dem Sektor der Dienstleistungen, der Staats- und Stadtverwaltung und der Kirchen) kann nach Ansicht Köllmanns nur der »industrielle« Sektor als »die Ordnung der sozialen Mobilität« gelten. 4 Starre Schranken im agrarischen und öffentlichen Sektor führten darüber hinaus dazu, daß der industrielle Sektor Aufstiegsschleuse für Angehörige der Mit42
tel- und Unterschichten anderer Sektoren wurde. So wären nach Köllmann typische Aufstiegsstationen von der agrarischen Unter- zur agrarischen Oberschicht Landarbeiter, Industriearbeiter, selbständiger Handwerker oder mittlerer Angestellter, Unternehmer, Großgrundbesitzer - Aufstiege freilich, die sich über mehrere Generationen hinziehen könnten. Diese Arbeitshypothese Köllmanns soll Ausgangspunkt der zweiten Hauptfrage sein. 5 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf verstreute Untersuchungen und gedruckte Statistiken zum Problem des sozialen Aufstiegs in Deutschland vor 1914 - auf Schul- und Universitätsstatistiken, Verbands- und Verwaltungsenqueten, Berufsberatungsergebnisse, frühe sozialwissenschaftliche Erhebungen, familien- und verwaltungshistorische Arbeiten. Soweit es dieses Material erlaubt, werden die Ausführungen schon vor der Jahrhundertmitte einsetzen. Der Schwerpunkt kann jedoch nicht in der Zeit der Frühindustrialisierung liegen, da beide genannten Hauptfragen einen höheren Grad an Industrialisierung voraussetzen. Als zeitlicher Endpunkt wurde deshalb 1914 gewählt. Das Folgende stellt eine Bilanz der bisher durchgeführten Untersuchungen und verfügbaren Materialien dar. N u r für einige Bereiche lassen sich daher schon endgültige Thesen formulieren. In anderen Bereichen können nur Arbeitshypothesen für spätere Forschung in die D e batte eingebracht werden. Zuvor einige wichtige Vorfragen. U m wenigstens die genannten Fragestellungen detailliert behandeln zu können, werden zwei Arten sozialen Αμίstiegs außer Betracht gelassen: erstens der Aufstieg ganzer sozialer Gruppen wie etwa der der Unternehmer seit der Jahrhundertmitte oder der Techniker gegen Ende des Jahrhunderts, da es sich hier um ein gesondertes Problem handelt; zweitens der intragenerationale berufliche Aufstieg, d . h . die Entwicklung der Berufskarrieren und ihre hemmenden und fördernden Bedingungen. Für einen Bericht der vorliegenden Art ist die Forschungssituation in diesem interessanten Arbeitsbereich sehr ungünstig. Zwar wurde sehr viel über die Möglichkeiten der beruflichen Mobilität und des beruflichen Aufstiegs gearbeitet - etwa über die preußischen Gewerbereformen oder über das Berechtigungswesen im preußischen Schulsystem. Wie stark jedoch diese Karrieremöglichkeiten genutzt wurden oder diese Karriereschranken hemmten, darüber gibt es nur sehr wenige detaillierte Analysen. Zur Karrieremobilität vor 1914 lassen sich daher Fragen stellen, aber kaum Antworten geben. Deshalb soll hier nur sozialer Aufstieg zwischen Generationen oder - anders ausgedrückt - intergenerationale individuelle vertikale Mobilität behandelt werden. Zur Bestimmung des sozialen Status der Vater- und der Sohngeneration stehen hier nur Berufsangaben zur Verfügung. Dies ist sicher keine außergewöhnliche Situation. Diese Berufsangaben führen zum wohl schwierigsten Problem fast aller Aufstiegsanalysen, der Frage nämlich, welche soziale Hierarchie zwischen 43
diesen Berufen bestand. Schichtungsanalysen, die genügend differenzierten, besitzen wir für die Zeit zwischen 1850 und 1914 kaum; außerdem ist nicht untersucht, welcher Berufsgruppenwechsel als sozialer Aufstieg galt. Es ist deshalb nötig, ein gröberes Verfahren zu wählen. In Anlehnung an Sozialwissenschaftler vor oder kurz nach 1914 wie Max Weber, Gustav Schmoller, Werner Sombart, Johannes Conrad, Franz Eulenburg, Paul Mombert, Robert Michels, Theodor Geiger, 6 sollen zwei Barrieren der damaligen Gesellschaft in den Mittelpunkt dieser Untersuchung gestellt werden; dabei erscheinen die Vorstellungen dieser Sozialwissenschaftler von der damaligen Hierarchie der Berufe als der relativ beste Ersatz für noch fehlende Schichtungsuntersuchungen: Erstens soll untersucht werden, wie viele soziale Aufsteiger - neutral und ohne den Beiklang des »Parvenüs« verstanden - in die Schicht der durch Bildung und/oder Besitz privilegierten Berufsgruppen gelangen konnten. Zu diesen höheren Schichten sollen hier die akademischen Berufe, also höhere Beamte, Hochschullehrer, Gymnasiallehrer, Geistliche, Rechtsanwälte und Ärzte, die Offiziere, die Großgrundbesitzer und die Unternehmer gerechnet werden. Zweitens soll festgestellt werden, wie hoch die Zahl der Aufsteiger in den mittleren Schichten der damaligen Gesellschaft, den selbständigen Handwerkern, Händlern, Landwirten, den mittleren Beamten und Angestellten und den Volksschullehrern war, wie häufig also der Aufstieg aus den unteren Schichten der Land- und Industriearbeiter, der unteren Beamten und Angestellten und der Dienstboten war. Gegen diese Zuordnung der Berufsgruppen lassen sich einige Bedenken vorbringen; sie erscheint jedoch aus mehreren Gründen der am wenigsten schlechte Weg. Sie gibt so weitgehend wie gegenwärtig möglich die historische Hierarchie unter den Berufsgruppen wieder. Eng damit zusammenhängend lassen sich mit dieser Zuordnung komplizierte Berechnungen und Schätzungen auf ein Minimum reduzieren, da sich das vorhandene Material in der Mehrzahl in diese Zuordnung einpassen läßt. Weiterhin kann eine seit den Mobilitätsuntersuchungen der zwanziger Jahre zentrale These geprüft werden, wonach sozialer Aufstieg von der Unter- in die Oberschicht der damaligen Gesellschaft immerhin in zwei Generationen möglich war. Berufsgruppen der Mittelschicht wurden dabei als wichtige Zwischenstationen des sozialen Aufstiegs angesehen. 7 Eine noch stärkere Untergliederung, wie sie in der modernen Mobilitätsforschung vor allem für Arbeiter, aber auch kleine Selbständige üblich geworden ist oder zumindest gefordert wird, erlaubt das vorliegende Material meist nicht; auf dieses Problem kann erst bei künftigen historischen Erhebungen eingegangen werden. Schließlich ist diese Zuordnung so grob, daß kleinere Schwankungen des sozialen Status von Berufsgruppen die Ergebnisse wenig beeinflussen. Sie wird allerdings im folgenden nur als Skelett dienen: die einzelnen Berufsgruppen bleiben deutlich sichtbar, und es ist daher überschaubar, zu welchen Resultaten eine andere Zuordnung geführt hätte. Im einzelnen sind dabei die Landwirte, die Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte besonders schwierig einzuordnen. Ein 44
guter Teil dieser Berufsgruppen, vor allem die Kleinbauern, die kleinen Handwerker und Händler werden sich in ihrer ökonomischen und sozialen Lage von Industrie- oder auch Landarbeitern kaum unterschieden haben, auch wenn ihre Selbsteinschätzung dem widersprochen haben mag. Unterscheidungen innerhalb dieser Berufsgruppen nach Betriebsgrößen, wie sie Theodor Geiger und Werner Sombart 8 vornahmen, fanden sich allerdings im hier vorliegenden Material nicht und lassen sich auch nachträglich nicht mehr einführen. N u n zum ersten Hauptproblem, nämlich der Frage, ob die Industrialisierung zu einer über das Bevölkerungswachstum hinausgehenden Vermehrung der mittleren und höheren Berufe führte und dadurch zusätzliche Aufstiegsplätze und -möglichkeiten entstanden. Innerhalb der höheren Schichten wirkte sich - wie zu erwarten - die Industrialisierung am stärksten auf die Zahl der Unternehmer aus. Es gab - um eine Orientierungszahl zu nennen 1858 in Preußen knapp 2000 Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten; 1907 hatten die Betriebe dieser Größenordnung schon eine Zahl von 17000 erreicht. Sie wuchsen damit im Durchschnitt jährlich um fast 5 % - rund dreimal so schnell wie die Bevölkerung, deren jährliches Wachstum in diesem Zeitraum im Jahresdurchschnitt bei etwa 1,5% lag. Die Zahl der Bankiers nahm in Preußen während dieser Zeit fast ebenso schnell zu. 9 Die Zunahme anderer Berufsgruppen der damaligen höheren Schichten war zwar nicht so spektakulär, übertraf jedoch immer noch das Wachstum der Bevölkerung teilweise erheblich. In Preußen, dem Land einer schon frühzeitig hochentwickelten staatlichen Bürokratie, war und blieb die hohe Beamtenschaft einer der zahlenmäßig stärksten höheren Berufe. 1849 gab es knapp 7500 höhere preußische Beamte; 1907 hatten sie sich demgegenüber um das Zweieinhalbfache vermehrt. Die hohe Beamtenschaft im Deutschen Reich insgesamt nahm nur wenig langsamer z u . 1 0 Zu diesem Anschwellen des staatlichen Verwaltungsapparats hat ohne Zweifel die durch die Industrialisierung vorangetriebene Ausweitung und Vermehrung von städtischen Ballungsgebieten beigetragen. 1870 zählte man in Deutschland nur acht große Städte mit mehr als 100000 Einwohnern; 1914 waren es bereits 46. Die kommunalen Betriebe nahmen darüber hinaus in dieser Zeit besonders rasch zu, da sich wichtige kommunale Versorgungsleistungen wie Kanalisation, Wasser- und Gasversorgung, städtische Verkehrsbetriebe erst nach der Jahrhundertmitte entwickelten. Diese Expansion kommunaler Verwaltungsaufgaben erforderte zahlreiche höhere Beamte mit administrativen und technischen Fachkenntnissen. Das wirtschaftliche Wachstum hat weiterhin die Nachfrage nach Verkehrsleistungen verstärkt; Hafen-, Kanal-, Eisenbahnund Postverwaltungen benötigten damit mehr Beamte. Es kommt hinzu, daß sich in engem Zusammenhang mit der Industrialisierung zahlreiche andere Zweige der Wirtschaftsverwaltung wie die Zollverwaltung, die Steuerverwaltung, die Gewerbepolizei ausweiteten, daß der Bedarf nach Informationen aus der Verwaltung und den statistischen Ämtern wuchs und daß die politi45
sehen Entseheidungsprozesse auch im Bereich der Wirtschaftspolitik sachlich und technisch zunehmend komplizierter wurden. Auch dadurch vergrößerte sich der Verwaltungsapparat. Unter den sozialen Konflikten, denen sich die Staatsverwaltung im Zuge der Industrialisierung gegenübersah, wird schließlich zumindest der Konflikt mit der Industriearbeiterschaft die Zahl der höheren Beamten gesteigert haben, sei es nun in den Sozialversicherungsämtern, sei es bei der politischen Polizei. Die Hochschullehrer, eine zahlenmäßig sehr viel kleinere Berufsgruppe, verdanken ihre Zunahme zum Teil ebenfalls der Industrialisierung. 1835 gab es in Deutschland 1186 Hochschullehrer, d . h . Ordinarien, Extraordinarien und Privatdozenten; bis 1910 stieg ihre Zahl auf 3919. Ihre jährliche Wachstumsrate lag damit etwas über der der Bevölkerung. An diesem Wachstum waren vor allem die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer beteiligt - diejenigen Wissenschaftsgebiete also, die neben Lehrern vor allem technische Kader für die Industrie und in zunehmendem Maß auch Unternehmer ausbildeten, mit ihren Forschungen Innovationen in der Industrie vorbereiteten und damit einer Nachfrage entsprachen, die sich erst infolge der Industrialsierung ergab. Schon 1910 lehrten in Deutschland 1 9 % der Hochschullehrer an technischen Hochschulen; an den Universitäten stieg der Anteil der naturwissenschaftlichen und medizinischen Dozenten zwischen 1864 und 1910 von 34 auf 5 2 % . Ohne diese Expansion in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern wäre die Zahl der Hochschullehrer nicht schneller gewachsen als die Bevölkerung. 1 1 Bei anderen höheren Berufen wie den Ärzten, Offizieren, Lehrern an höheren Schulen und Geistlichen läßt sich ein so direkter Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Wachstum nicht nachweisen. Ihre Entwicklung hing primär von politischen Entscheidungen vor allem der Bismarckzeit und der Wilhelminischen Ära ab. Bei einem Teil dieser Entscheidungen ging es freilich um den Versuch der Verdrängung von Konflikten, die ohne die Industrialisierung nicht entstanden wären; alternative politische Entscheidungen, aus denen sich eine langsamere Entwicklung dieser Berufsgruppen ergeben hätte, sind jedoch denkbar. Unter diesen Berufsgruppen nahm die Zahl der Ärzte am schnellsten zu. 1843 gab es in Preußen rund 5000 Ärzte, 1909 dagegen über 3 0 0 0 0 Ärzte. Sie waren damit die zahlenmäßig stärkste Berufsgruppe der höheren Schichten. Besonders seit den achtziger Jahren schnellte die Zahl der Ärzte empor; man kann annehmen, daß hier neben der Medikalisierung die staatlichen Sozialversicherungen zu einer stark steigenden Nachfrage nach ärztlichen Leistungen in der Arbeiterschaft geführt haben und daher die Zahl der Ärzte schneller zunahm, als es Bevölkerungs- und Städtewachstum erwarten lassen. Die forcierte imperialistische Rüstungspolitik führte dazu, daß die Zahl der Offiziere nicht nur in Preußen schnell von knapp 5000 Offizieren 1860 auf 20472 1907, sondern auch im gesamten Deutschen Reich zwar weniger spektakulär, immerhin jedoch erheblich schneller als die Bevölkerung zunahm. Mit der Bildungsexpansion wuchs die 46
Zahl der Lehrer an höheren Schulen. 1849 gab es 1804; 1900 hingegen 8500. Damit wuchs auch die Berufsgruppe beträchtlich schneller als die Bevölkerung. Im Kontrast zu diesen Berufen entwickelte sich die Berufsgruppe der Geistlichen. 1843 zählt Dieterici in Preußen fast 10000 protestantische und katholische Geistliche; 1907 gab es rund 2 6 0 0 0 . Die Zahl der Geistlichen nahm damit im Durchschnitt jährlich um 1 , 7 % , also kaum schneller als die Bevölkerung zu. 1 2 Das Wachstum der höheren Schichten lag also insgesamt über dem der Bevölkerung. An der Berufs- und Sozialstruktur der Gesamtgesellschaft änderte sich allerdings dadurch quantitativ wenig, da diese Berufsgruppen unter einer Spanne von 2 % aller Erwerbstätigen blieben. Tiefgreifend wandelte sich dagegen die zahlenmäßige Relation der höheren Schichten untereinander. Während noch 1849 Geistliche und Großgrundbesitzer die zahlenmäßig stärksten Gruppen waren, standen 1907 Ärzte und Beamte an der Spitze. U n ternehmer und Offiziere holten schnell auf. Neben der Industrialisierung haben politische Entscheidungen vor allem im Bereich der Schul-, Sozial-, Verkehrs- und Rüstungspolitik die Entwicklung der höheren Schichten bestimmt. Die mittleren Schichten entwickelten sich ebenfalls recht unterschiedlich. Die Zahl der Angestellten nahm zumindest in den letzten drei Jahrzehnten vor 1914, in denen ihre Entwicklung statistisch faßbar wurde, in Deutschland stark zu. 1882 waren erst 1 , 5 % der gewerblich Beschäftigten Angestellte, 1907 waren es schon 6 % . Im Durchschnitt gab es jedes Jahr fast fünf Prozent mehr Angestellte. In der Oberschicht läßt sich damit nur die Zunahme der Unternehmer vergleichen. Die Wechselbeziehung dieses schnellen Wachstums mit der Industrialisierung ist allerdings vielschichtig, da die Angestellten eine Berufsgruppe mit sehr unterschiedlichen Funktionen waren. Zu ihrer Zunahme haben deshalb unterschiedliche Faktoren beigetragen. So verlangte der Einsatz von Maschinen zusätzliches technisches Personal; mit der Entstehung von Großbetrieben vermehrte sich das Aufsichts- und Verwaltungspersonal; die Verstärkung von Verkaufs- und die Einführung von Entwicklungsabteilungen in der Industrie führte zur Zunahme kaufmännischen und wissenschaftlichen Personals. Eine andere, langsamer zunehmende Berufsgruppe der mittleren Schichten waren die mittleren Beamten. 1849 gab es in Preußen nicht mehr als 4 0 0 0 0 mittlere Beamte, 1907 hingegen über 2 5 0 0 0 0 . Ähnlich wie die höheren Beamten wuchs diese Berufsgruppe jährlich im Durchschnitt um rund 3 % . Wachstumsanstöße mögen auch hier in starkem Maße von der Industrialisierung ausgegangen sein. Die Volksschullehrerschaft, eine weitere Berufsgruppe der mittleren Schichten, wurde sehr häufig als wichtiger Aufstiegsplatz angesehen. Die Lehrer nahmen allerdings nicht schneller zu als andere Berufe des Ausbildungssektors, die Hochschullehrer und die Gymnasiallehrer, und lagen damit nur wenig über dem Bevölkerungswachstum. Diese Vorgänge haben freilich die relative Größenordnung der mittleren Schichten insgesamt nur wenig verändert, da diese Be47
rufsgruppen damals zahlenmäßig noch nicht sonderlich ins Gewicht fielen und die anderen mittleren Berufsgruppen, die selbständigen Handwerker, Händler und Landwirte keine starke Expansion erlebten. Gemessen am Wachstum der Bevölkerung stagnierten oder schrumpften sie. Im Gegensatz zu den höheren Schichten kann man deshalb nur davon sprechen, daß die Aufstiegsplätze in den mittleren Schichten erhalten blieben. Eine wachsende Zahl von Aufstiegsplätzen, die zu größeren Aufstiegsmöglichkeiten hätte führen können, ist in den mittleren Schichten insgesamt nicht erkennbar. 13 Ohne Zweifel gab es also zwischen 1850 und 1914 starke Anreize für soziale Aufstiegsmobilität, die allerdings nicht allein von der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch von der Bismarckschen und Wilhelminischen Wirtschafts-, Rüstungs-, Bildungs- und Sozialpolitik ausgingen. Eine ganze Reihe von höheren und mittleren Berufen vermehrte sich schneller als die Bevölkerung. Diese Anreize mußten freilich nicht unausweichlich Auswirkungen auf den sozialen Aufstieg haben. Es stellt sich deshalb hier die zweite Hauptfrage, ob ein Zusammenhang zwischen Expansion einer Berufsgruppe und sozialer Aufstiegsmobilität bestand, ob - um die Köllmannsche Arbeitshypothese wieder aufzugreifen - der industrielle Sektor besonders hohe Aufstiegsraten besaß und zudem Aufstiegsschleuse für Angehörige anderer Sektoren war. Die Position des Unternehmers, eine der am schnellsten wachsenden Berufsgruppen, gilt im allgemeinen als ein relativ leicht zugänglicher Aufstiegsplatz. In den meisten Fällen wird davon ausgegangen, daß während der Frühindustrialisierung viele Unternehmer aus den mittleren und unteren Rängen der damaligen Gesellschaft stammten. 14 Regionale Untersuchungen und die Zusammenstellung in Tabelle 2.2.10 lassen es allerdings als schon recht gesichert erscheinen, daß nur wenige deutsche Unternehmer des 19. Jahrhunderts soziale Aufsteiger waren; einige Branchen wie die Maschinenindustrie bilden Ausnahmen, ohne das Gesamtbild zu beeinflussen. 15 In Tabelle 2.2.10 fällt vor allem der Widerspruch zwischen hoher Selbstrekrutierung und starker Expansion dieser Berufsgruppe auf; mindestens die Hälfte der Unternehmer stammte wiederum von Unternehmern ab. Es erstaunt, wie wenig sich die Frühindustrialisierung dabei von späteren Wachstumsperioden unterscheidet. Hauptgrund mag die für das 19. Jahrhundert noch typische Einheit von Betriebseigentum und Betriebleitung sein, die die Unternehmerposition in vielen Fällen zu einer Erbsache werden ließ. Die übrigen höheren Schichten, auch die protestantischen Pfarrhäuser, haben demgegenüber nur wenige Unternehmer hervorgebracht; in kaum einem der höheren Berufe war der Zustrom aus den übrigen höheren Schichten so gering. Wichtigstes Rekrutierungsfeld innerhalb der mittleren Schichten war für Unternehmer die gewerbliche Mittelschicht, Kleinhändler, Gastwirte und vor allem Handwerker, die zumindest vor 1914 als das eigentliche Sprungbrett für Aufsteiger in die Position des Unternehmers gelten können; Arbeitersöhne gab es dagegen unter den deutschen Unternehmern kaum. Aus dem 48
agrarischen Sektor und aus der öffentlichen Verwaltung stammten ebenfalls nur sehr wenige Unternehmer; nichts deutet hier darauf hin, daß der »industrielle« Sektor Aufstiegsschleuse war und besonders günstige Aufstiegschancen für Angehörige der außergewerblichen mittleren und unteren Schichten bot. Für die höheren Verwaltungsbeamten vor 1914 gibt es bisher nur regionale Untersuchungen, deren Resultate weit auseinandergehen (Tabelle 2.1.1). So stammten die Spitzenbeamten Bayerns zu rund einem Drittel aus den mittleren und unteren Schichten ab, während die (»politischen«) Spitzenbeamten Westfalens nur zu rund zehn Prozent Aufsteiger in diesem Sinne waren. Daneben gab es innerhalb der Verwaltungshierarchie deutliche Herkunftsunterschiede. So wurden in Westfalen die unteren Ränge der höheren Beamtenstellen weit weniger exklusiv besetzt als die Spitzenpositionen. Die Untersuchung Hennings zeigt, daß ähnlich wie in Baden auch in den preußischen Westprovinzen rund ein Drittel aller höheren Beamten aus den mittleren Schichten stammte. 1 6 Die Chancen für soziale Aufsteiger scheinen zumindesten in Preußen desto schlechter gewesen zu sein, je größer die Entscheidungskompetenz war. Diese gravierenden Unterschiede lassen vermuten, daß soziokulturelle und politische Faktoren für die soziale Herkunft der höheren Beamten einschneidender waren als das durch die Industrialisierung mitinduzierte zahlenmäßige Wachstum. Dieses Argument wird weiter dadurch gestützt, daß sich innerhalb eines ganzen Jahrhunderts tiefgreifender Industrialisierung in den beiden am besten untersuchten Gebieten, Westfalen und Bayern, die Zahl der Aufsteiger unter den höheren Beamten nicht steigerte. Auch im Detail hat sich die Industrialisierung auf die soziale Herkunft der höheren Beamten in den bisher untersuchten Fällen wenig ausgewirkt. Unter den Vätern der sozialen Aufsteiger waren und blieben die mittleren Beamten dominierend. Die Aufsteiger aus der gewerblichen Mittelschicht nahmen nicht zu; auch hier gibt es keine Hinweise, daß der »industrielle« Sektor Aufstiegsschleuse war. Die einzige Veränderung könnte - soweit bisher erkennbar - darin bestehen, daß Unternehmerfamilien in zunehmendem Maße, Großgrundbesitzerfamilien dagegen immer weniger der Spitzenbeamten hervorbrachten. Gründe dafür mögen die sehr ungleichartige Expansion dieser beiden Berufsgruppen, aber auch der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Unternehmer sein, der Unternehmersöhnen den Zugang zu anderen Oberschichtpositionen erleichterte. Die soziale Herkunft der deutschen Hochschullehrer ist recht gründlich untersucht worden. Ein wichtiger Unterschied gegenüber den höheren Verwaltungsbeamten lag - wie die Tabelle 2.2.6 zeigt - darin, daß die Herkunft der Hochschullehrer in den höheren Schichten der damaligen Gesellschaft breiter gestreut war und sich weniger auf einzelne Berufsgruppen konzentrierte. Vor allem war die Selbstrekrutierung ungewöhnlich niedrig. Die einzige Auswirkung der Industrialisierung kann man darin sehen, daß auch hier 49
Tab. 2.1.1: Soziale Herkunft von höheren Beamten 1800-1918 ( % ) 17 Beruf des Vaters
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