Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext: Herausforderungen, Möglichkeiten und Ausblicke im 21. Jahrhundert 9783111181530, 9783111138220

Die Beiträger/-innen des vorliegenden Sammelbandes sind sich darüber einig, dass soziopolitisch und kulturell bedingte k

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German Pages 346 [348] Year 2023

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Inhalt
Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext
I Interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migrations- und Fluchterfahrungen
Literarische Mehrsprachigkeit als Übersetzungsraum
Fluchterfahrung
Verwobene Geschichten im Exil
II Gewalt und (multidirektionale) Erinnerung: postkoloniale Perspektiven und Konstellationen
„Multidirektionale Erinnerung“ oder „Gegenläufige Gedächtnisse“?
Die Gewalt multidirektional und postkolonial lesen
Erinnerungspolitische Transformationen und koloniale Gewalt
Sklavenhandel, Erzählungen und (post‐)koloniale Weltgestaltung
III Erinnerungskultur und didaktische Perspektiven der postkolonialen Germanistik
Holocaust, Kolonialismus und Massengewalt im Deutschunterricht
Dekolonisierende Didaktik
IV Postkoloniale Analyse literarischer (Kon‐)Figurationen und Reflexionen von Gewalt
Der heuristische Vorteil der Marginalität
Inszenierungen der Gewalt in Bernd Jaumanns Namibia-Kriminalromanen
Prisma Sansibar
Eine Lektüre „gegen den Strich“
Autor*innenverzeichnis
Register
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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext: Herausforderungen, Möglichkeiten und Ausblicke im 21. Jahrhundert
 9783111181530, 9783111138220

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext Herausforderungen, Möglichkeiten und Ausblicke im 21. Jahrhundert Herausgegeben von Axel Dunker, Michael Hofmann und Serge Yowa

ISBN 978-3-11-113822-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-118153-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-118199-8 Library of Congress Control Number: 2023938287 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Sergei-Q / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext Zur Einführung 1

I Interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migrations- und Fluchterfahrungen Cornelia Zierau Literarische Mehrsprachigkeit als Übersetzungsraum Inszenierungen von kultureller Diversität in Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei 13 Swen Schulte Eickholt Fluchterfahrung Mahi Binebine, Luiz Ruffato und Friedrich Christian Delius im Vergleich Linda Maeding Verwobene Geschichten im Exil Zur Literatur von NS-Flüchtlingen in Lateinamerika

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II Gewalt und (multidirektionale) Erinnerung: postkoloniale Perspektiven und Konstellationen Michael Hofmann „Multidirektionale Erinnerung“ oder „Gegenläufige Gedächtnisse“? Shoah-Gedenken, Gedächtnis des Kolonialismus und Israel-Diskurse im Kontext 81 Serge Yowa Die Gewalt multidirektional und postkolonial lesen Zur Relevanz politisch-ethischer Fragen in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von Gewaltgeschichten

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Inhalt

Monika Albrecht Erinnerungspolitische Transformationen und koloniale Gewalt 131 Aus der Perspektive von Critical Post-Colonial Studies Jean Bertrand Miguoué Sklavenhandel, Erzählungen und (post‐)koloniale Weltgestaltung Perspektiven der Germanistik und der Afrikanistik 165

III Erinnerungskultur und didaktische Perspektiven der postkolonialen Germanistik Anja Ballis Holocaust, Kolonialismus und Massengewalt im Deutschunterricht Perspektiven für Lehren und Lernen in einer postmigrantischen 193 Gesellschaft Gesa Singer Dekolonisierende Didaktik Umgang mit Krisen und Umbrüchen am Beispiel Südafrikas

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IV Postkoloniale Analyse literarischer (Kon‐)Figurationen und Reflexionen von Gewalt David Simo Der heuristische Vorteil der Marginalität Postkoloniale Perspektiven auf die europäischen Literaturen

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Elke Sturm-Trigonakis Inszenierungen der Gewalt in Bernd Jaumanns Namibia-Kriminalromanen 255 Dirk Göttsche Prisma Sansibar Zur Modellierung regionaler Konfliktgeschichte in globalen Zusammenhängen bei Abdulrazak Gurnah und in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 283

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Inhalt

Donata Weinbach Eine Lektüre „gegen den Strich“ Darstellungsweisen in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss Autor*innenverzeichnis Register

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext Zur Einführung Mit dem Titel des vorliegenden Sammelbandes wird ein aktueller Problemkomplex angeschnitten, dessen soziopolitische, aber auch wissenschaftliche Relevanz und Brisanz aufgrund der jüngsten Entwicklungen etwa in Osteuropa naheliegend ist. Denn es handelt sich bei der Invasion Russlands in die Ukraine wegen deren EUBeitrittsintention tatsächlich um einen geopolitischen Kampf um Macht und Hegemonie. Außer dem Ukraine-Krieg sind seit 2011 der Krieg in Syrien sowie der islamistische Terrorismus ein großes Konflikt-Thema auf der ganzen Welt. Auch nationalistische und rechtsradikale Strömungen sind weltweit noch stärker geworden und haben zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen insbesondere in Bezug auf Migration geführt. So bietet etwa die noch gegenwärtige europäische „Flüchtlingskrise“ Rechtsextremisten (z. B. AfD etc.) Anlass, den Rückzug in eine nationalistisch konzipierte ‚Heimat‘ zu propagieren. Angesichts der Kulturhybridisierung in einer globalisierten Welt beanspruchen solche Gruppen für sich die „Vertrautheit eines imaginären ‚Eigenen‘“ in radikaler Abgrenzung zu einem ‚Fremden‘ (Bechhaus-Gerst und Zeller 2018, 17). Die sehr umstrittene, mittlerweile durch Widerstreit, Krieg, Flucht und Verbannung verstärkte Frage der Identität, die oft in und durch Dogmen propagierten „Fiktionen der Zugehörigkeit“ (Appiah 2019) prägen also noch die gegenwärtige Epoche. Diese und ähnliche Situationen sind Quellen von Konflikten. Dabei verweist der Konflikt nicht nur auf ein mit kriegerischen Mitteln ausgetragenes Streitgespräch, sondern auch auf die durch einen antagonistischen Zustand entstandene Zwietracht, die zu Gewalt führen kann. So gilt die Erkenntnis, dass manche auch durch Kulturkontakte bedingte Konflikte weltweit politisch motiviert sind, ein ideologisch-identitäres Fundament haben und mit Macht-, Herrschafts- und Hegemonieverhältnissen verbunden sind. Das Denken in binären Oppositionen als eine Ausdruckform von (kulturellen) Dominanzverhältnissen trennt die Welt in dichotomische Kategorien von Gut und Böse und folgt einer diskursiven Logik, durch die Inklusionen und Exklusionen sowie gewalttätige Ausschreitungen in manchen Gesellschaften ständig organisiert werden. Eine logische Konsequenz ist, dass die Welt von heute zu einem komplexen Ort ständiger Bedrohung wird, wo Kriege jederzeit ausbrechen können. Die Gewalttaten und Konflikte, die man weltweit beobachtet und die alle Lebensbereiche betreffen, erfordern mehr denn je gründliche Reflexionen und stellen die Wissenschaften, besonders auch die postkolonial ausgerichtete Germanistik, die sich dadurch neu konfigurieren muss, vor eine anspruchsvolle Aufgabe. Denn https://doi.org/10.1515/9783111181530-001

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

dieser Wissenschaftsbereich verfolgt analog etwa zur interkulturellen Literaturwissenschaft (vgl. Hofmann et al. 2018; Leskovec 2011; Mecklenburg 2009) gesellschaftspolitische Ziele. Er reagiert nicht nur auf gesellschaftlich-kulturelle Prozesse wie Globalisierung und Migration, sondern nimmt auch Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse sowie die Frage interkulturellen Zusammenlebens in den Blick und möchte dabei helfen, eine friedlichere, konfliktfreiere Welt zu erreichen. Von der Vielfalt der postkolonialen Germanistik zeugt also gerade ihre Erkundung nicht nur postkolonialer, sondern auch interkultureller, häufig von Macht geprägter Phänomene. Dies gilt besonders, weil postkoloniale und interkulturelle Literaturwissenschaft, trotz notwendiger Differenzierungen, in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Und die aktuelle Debatte um Interkulturalität lässt sich nur schwer ohne Einbeziehung postkolonialer Theorieansätze denken. Die postkoloniale Literaturwissenschaft geht davon aus, dass alle oben erwähnten Rahmenbedingungen auf Literatur und deren Erforschung einwirken und sie untersucht literarische Werke als Metadiskurse zu sozialen Problemen und Prozessen. Sie versteht Literatur als einen Ort, an dem kulturelle Identitäten mitgestaltet werden, „Imaginationen der Homogenität“ problematisiert und andere Möglichkeiten dargelegt werden können (Hofmann und Patrut 2015, 7). Zu den Verdiensten der postkolonialen Literaturwissenschaft zählen die Fähigkeit, „Funktionsmechanismen kolonialer Machtverhältnisse“ in literarischen Texten zu ermitteln (Febel 2012, 230), „kontrapunktisches Lesen“ durchzuführen, (neo‐)koloniale (Denk‐)Strukturen in der deutschsprachigen Literatur offenzulegen und diese kritisch zu reflektieren (Dunker 2008; auch Said 1993). Der postkoloniale Ansatz als „Teil der konflikterzeugenden Dynamik […] aus einer dialektischen Perspektive“ provoziert und reizt zugleich an, weil er auf die oft naturalisierten und trivialisierten „historischen Prozesse der Konstitution von Asymmetrien, Hierarchien und latenter struktureller Konflikte“ kritisch eingeht (vgl. Simo 2021, 296). So avancierten in den vergangenen Jahren die Postcolonial Studies im deutschsprachigen Raum – wenn auch mit größerer Verspätung im Vergleich zum angloamerikanischen Raum – durch ihr innovatives epistemologisch-kritisches, gleichzeitig auch provokatives Potential zu einem wichtigen Forschungsfeld der Kultur- und Sozialwissenschaften und zu einem Leitparadigma der germanistischen Sprachund Literaturwissenschaft. Nicht zufällig hat sich die In- wie Auslandsgermanistik in ihrer postkolonialen Orientierung mittlerweile zu einem höchst produktiven Arbeitsfeld entwickelt (vgl. u. a. Göttsche et al. 2017; Dürbeck und Dunker 2014; Uerlings und Patrut 2012; Albrecht 2008; auch programmatisch Simo 1999). Literarische Darstellungen von Gewalt, Konflikt und Krieg sowie die Erinnerung daran gehören daher auch zu den privilegierten Untersuchungsgegenständen einer postkolonial orientierten Germanistik. Es mag in dieser Hinsicht nicht verwundern, dass sie nicht nur vergangene, sondern auch gegenwärtige Machtkon-

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stellationen und Gewaltdiskurse in der Literatur erkundet und andere Formen und Möglichkeiten individuellen Handelns und gesellschaftlicher Systeme oder Diskurse prospektiv entwirft. Das sind wichtige Herausforderungen, denen sich die postkoloniale Germanistik angesichts einer sich pluralisierenden und von Konflikt geprägten Weltgesellschaft stellt. Der Schwerpunkt der Beiträge dieses Sammelbandes liegt in der interkulturellen und postkolonialen Literaturwissenschaft. Der Großteil der Texte geht auf einen im Februar 2022 vom Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (IfkuD, Universität Bremen) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft (Universität Paderborn) organisierten zweitägigen Workshop zum Thema „Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext“ zurück. Der Workshop stand im Kontext des zweijährigen GeorgForster-Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung, das dem Kameruner Literaturwissenschaftler Serge Yowa im Juni 2018 verliehen wurde. Weitere für treffend gehaltene Beiträge wurden aufgrund ihrer thematischen Relevanz und auf Aufforderung der Herausgeber für das Publikationsprojekt nachgereicht. Erklärtes Ziel dieses Workshops war es, in vier Sektionen gründliche Überlegungen über aktuelle und künftige Herausforderungen, Möglichkeiten und Perspektiven der postkolonialen Germanistik in einem Kontext globaler soziopolitischer Unruhen anzustellen. Ein Schwerpunkt des vorliegenden Bandes, der bereits bei dem Workshop ausgelotet, vertieft und erweitert wurde, bezieht sich auf den Themenkomplex „interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migrationsund Fluchterfahrungen“. Es wird in der Sektion eins des Bandes, die diesem Themenschwerpunkt gewidmet ist, gefragt, inwiefern sich interkulturelle und postkoloniale Germanistik hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz und ihres Studienobjekts in Beziehung zueinander bringen lassen. Erkundet wird, wie die postkoloniale Germanistik sich im heutigen von interkulturellen Verflechtungen und damit einhergehenden Spannungsverhältnissen geprägten Migrations- und Krisenkontext neu denken und konfigurieren lässt. In ihrem Beitrag mit dem Titel „Literarische Mehrsprachigkeit als Übersetzungsraum: Inszenierungen von kultureller Diversität in Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei“ arbeitet Cornelia Zierau am Beispiel von Özdamars Roman und in Anlehnung an Doris Bachmann-Medicks Ansatz des Translational Turn heraus, inwiefern literarische Inszenierungen von kulturellen Zwischenräumen durch Mehrsprachig- und Mehrstimmigkeit dominanzkritisch sprachliche und kulturelle Machtkonstellationen im Kontext von Migration(sliteraturen) und interkulturellen, globalisierten Gesellschaften sichtbar machen und zu einer besonderen Form kultureller Übersetzung führen, die das Fremde in seiner spezifischen Besonderheit darstellt. Richtungsweisend ist dabei die Frage, inwiefern über literarische Mehrsprachigkeit eine postkoloniale Form von Kulturbeschreibungen und -übersetzungen erzeugt werden

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

kann, die in einer Erschütterung des Monolinguismus und einer eurozentrischen Vereinnahmung kultureller Differenzen besteht. Swen Schulte Eickholts Beitrag geht von der Annahme aus, dass in der durch Naika Foroutan maßgeblich geprägten postmigrantischen Perspektive der Diskurs über Migration in nicht zu unterschätzender Weise die Verhandlung über das nationale Selbstverständnis prägt. Unter dieser Prämisse setzt sich der Beitrag mit den Romanen von Luiz Ruffato, Mahi Binebine und Friedrich Christian Delius auseinander, die auf unterschiedliche Weise die Flucht nach Europa thematisieren und Fluchterfahrungen literarisch figurieren. Im Sinne von Leo Kreutzers intertextuell und auch interkulturell fundierter Kategorie des Doppelblickens und von Michael Rothbergs multidirektionaler Erinnerung, ist die Analyse darauf angelegt, kulturelle Grunderfahrungen der Migration und Flucht nach Europa aufzuzeigen und ihren Platz im kulturellen Gedächtnis Europas zu unterstreichen. Linda Maeding widmet sich ihrerseits mit ihrem Beitrag der Darstellung von sich zwischen Europa und Lateinamerika bewegenden verwobenen Geschichten und Erinnerungen von NS-Flüchtlingen. Wenngleich die deutschsprachige Exilliteratur per se nicht in den Bereich der postkolonialen Germanistik fällt, weisen, so die Autorin, die Schriften von nach Lateinamerika Geflüchteten bedeutende Bezugspunkte und eine besondere Sensibilität für postkoloniale Fragestellungen auf. Die Analyse vornehmlich der essayistischen und autobiographischen Texte von Hilde Domin und Vilém Flusser macht deutlich, dass und wie der Kanon der postkolonialen Germanistik sinnvoll erweitert werden kann. Von der Annahme ausgehend, dass Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurse in den Postcolonial Studies sowie in der Literatur und ihrer postkolonialen Erforschung zentral sind, stellt sich die Frage, wie die Erinnerungskultur nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afrika und weltweit so erweitert werden kann, dass sie unterschiedliche historische Konstellationen integriert. So lautet ein weiteres Themengebiet des Bandes, dem sich die Sektion zwei widmet: „Gewalt und (multidirektionale) Erinnerung: postkoloniale Perspektiven und Konstellationen.“ Dieses Thema fand sich bereits in dem 2019 ausgearbeiteten und unverändert gebliebenen Konzept des Workshops. Es handelt sich dabei im Grunde um einen Problemkomplex, der in Anbetracht etwa der hitzigen Kontroverse um Michael Rothbergs 2021 auf Deutsch erschienenes und viel rezipiertes Buch zur Multidirektionalen Erinnerung nichts an Aktualität eingebüßt hat und die postkoloniale germanistische Forschung besonders beschäftigt. Michael Hofmann eröffnet die Sektion mit dem Beitrag „‚Multidirektionale Erinnerung‘ oder ‚Gegenläufige Gedächtnisse‘? ShoahGedenken, Gedächtnis des Kolonialismus und Israel-Diskurse im Kontext“. Der Beitrag zeigt, wie im Kontext von Rothbergs Konzept engagierte Bemühungen um das Gedächtnis der Shoah und um eine positive Bewertung des Existenzrechts Israels mit Debattenbeiträgen konkurrieren, in denen die Sache der Palästinenser in

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postkolonialer Perspektive vertreten wird. In seinem Beitrag über die Relevanz politisch-ethischer Fragen in der Auseinandersetzung mit Gewaltgeschichten ermöglicht Serge Yowa einen anderen Zugang zur Multidirektionalitätstheorie. Für ihn fungiert die weltweit zunehmende Konzentration auf die Gewaltproblematik als ein Indiz dafür, dass der Diskurs darüber mittlerweile global geworden ist. Nicht zuletzt geht die Vielfalt postmigrantischer und postkolonialer Gesellschaften mit einer Pluralisierung der Erinnerung – auch an Gewalt – einher. Will man vor diesem Hintergrund Gewaltgeschichten global betrachten, so erscheint es sinnvoll, multidirektional und postkolonial zu verfahren. Nach einer Explikation von Michael Rothbergs ‚multidirektionaler Ethik‘, welche Aspekte von Derridas dekonstruktiver Ethik erinnerungskulturell sowie erinnerungspolitisch neu formuliert und weiterdenkt, geht der Beitrag der Frage nach, inwiefern beiden Theorien das Postkoloniale als ein ethisch-dialogisches Denken zugrunde liegt. Er zeigt dabei, wie durch dieses Denken die Gewalt sowie Gewaltgeschichten neu gelesen, konzeptualisiert und kontextualisiert werden können. Daraus ergeben sich, so der Autor, wichtige Impulse für literatur- und kulturwissenschaftliche Gewaltforschung, die es erlauben können, eine Ethik der Solidarität zu fördern, durch die polarisierende und konfliktgenerierende (Erinnerungs‐)Diskurse unterlaufen werden können. Von den Beobachtungen ausgehend, dass ‚den‘ Deutschen zum einen bis heute die Vernachlässigung der Kolonialvergangenheit vorgeworfen wird und zum anderen in jüngster Zeit eine Schwerpunktverschiebung zu dem Thema koloniale Gewalt stattgefunden hat, diskutiert Monika Albrechts Beitrag aus der Perspektive von Critical Post-Colonial Studies erinnerungspolitische Debatten der letzten Zeit. Sie wirft bislang noch nicht gestellte Fragen wie die auf, wann und wie genau ein zufriedenstellender Zustand (post‐)kolonialer Erinnerungskultur erreicht sein könnte. Der Beitrag zeichnet den Weg von einem umfassenderen und komplexeren Bild des Kolonialismus, wie es etwa in den 1980er Jahren noch zu finden war, bis in die Gegenwart nach, die von der Vorstellung einer ununterbrochenen Reihe von Gewalttaten und Völkermorden in den ehemaligen Kolonien geprägt ist. Vor diesem Hintergrund wird nach den Interessen gefragt, die hinter der spezifisch postkolonialen Art der Zusammenführung von Kolonialismus und Erinnerung stehen. Die Autorin stellt die These auf, dass die verstärkte oder ausschließliche Hinwendung zum Thema koloniale Gewalt nicht zufällig zeitgleich mit einer Verschiebung der deutschen Erinnerungskultur in den Rahmen jener transnationalen Erinnerungsgemeinschaften erfolgte, die die globale Dimension von Erinnerungskulturen in den Vordergrund stellen und im postkolonialen Kontext den Unterschied zwischen Holocaust und Kolonialismus einebnen. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Gewalt im kolonialen Kontext, so das Fazit, fügt sich perfekt in diesen neuen Kontext erinnerungspolitischer Transformationen ein. Albrechts Beitrag schließt mit einem Ausblick auf Aktivitäten von global players in Afrika wie China und

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

Russland, die ein ganz anders geartetes Interesse an der Kontrolle der (post‐)kolonialen Narrative haben, und erörtert darüber hinaus Fragen nach einem möglichen Ende des Postkolonialismus. Gehen die so dargestellten Beiträge der Sektion den Perspektiven einer (vergleichenden) Erinnerungskultur nach, so erweitert Jean Bertrand Miguoue den Radius mit seinem die Beitragsreihe schließenden Artikel, indem er zeigt, inwiefern Perspektiven der Germanistik und der Afrikanistik für die kulturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Untersuchung des komplexen Gegenstands Sklavenhandel fruchtbar gemacht werden können. Sein Aufsatz erkundet die mit der historischen Erfahrung des Sklavenhandels und der Sklaverei verbundenen Afrikaimaginationen und legt dabei dar, inwieweit Narrationen über gezwungene Migration von versklavten Menschen aus Afrika zur Konstitution einer schwarzen Diaspora führten und was für kulturelle Austausche dadurch ermöglicht wurden. Er befasst sich zudem mit textuellen, intellektuellen und museographischen Spuren des Sklavenhandels und der Sklaverei in der deutschen bzw. europäischen Literatur- und Kulturgeschichte. Die Sektion drei stellt eine didaktische Erweiterung des Themas der vorigen Sektion dar. Sie umfasst zwei Beiträge, die sich mit der Erinnerungskultur und den didaktischen Perspektiven der postkolonialen Germanistik befassen. Anja Ballis’ Aufsatz zu „Holocaust, Kolonialismus und Massengewalt im Deutschunterricht – Perspektiven für Lehren und Lernen in einer postmigrantischen Gesellschaft“ widmet sich der mit dem vielbeschworenen ‚Ende der Zeitzeug/innen‘ verbundenen ‚Zeitenwende‘ in der (westlichen) Erinnerungskultur sowie den sich daraus resultierenden Veränderungen in Schule, Wissenschaft und Öffentlichkeit. In einem ersten Schritt werden die schulische Situation sowie die schulischen Herausforderungen und die sich neuformierenden fachlichen Zusammenhänge in den Blick genommen, wenn es um Holocaust und Vermittlungsprozesse für eine diverse Schüler/innenschaft geht. Dabei werden Diskurslinien dargestellt, die aktuelle, erinnerungskulturelle Debatten in der Öffentlichkeit und in der Disziplin der Fachdidaktik (Deutsch) prägen. In einem weiteren Schritt wendet sich die Autorin Gegenständen der Vermittlung zu, um – ausgehend von wenig bekannten Texten und Medien – postkoloniale und postmigrantische Perspektiven miteinander zu verschränken. Die Ausführungen enden mit einer „Neubesichtigung“ von Fünf Thesen zum Umgang mit dem Holocaust im Deutschunterricht, die die Autorin bereits im Jahr 2013 formuliert hat und die nun eine Aktualisierung erfahren. In ihrem Beitrag über die „dekolonisierende Didaktik“ und den „Umgang mit Krisen und Umbrüchen“ konstatiert Gesa Singer, dass die Postkolonialen Studien trotz ihrer starken Relevanz und ihrer inzwischen etablierten Forschungstradition einigen theoretischen wie praktischen Herausforderungen gegenüberstehen. Diesen könnte, wie die Autorin umreißt, auf didaktischer Ebene begegnet werden. Am Beispiel Südafrikas zeigt Singer, dass antirassistische und postkoloniale Ansätze eine wachsende

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Bedeutung in einer globalisierten Welt erhalten. Der Beitrag argumentiert, dass postkoloniale Lektüren erst in einem dekolonisierenden didaktischen Umfeld fruchtbar werden können, in dem das kritische Hinterfragen eigener Stereotype eine Voraussetzung des Lernens (nicht nur) in Krisen und Umbrüchen darstellt. Die vierte und letzte Sektion des Bandes zur „Postkolonialen Analyse literarischer (Kon‐)Figurationen und Reflexionen von Gewalt“ enthält Beiträge, die sich den Gewaltinszenierungen und -thematisierungen in kanonischen, aber auch in weniger bekannten Texten der deutschsprachigen Literatur widmen. Dabei fungieren einerseits Afrika (Namibia und Sansibar) als Schauplatz der Handlung. Andererseits wird der breitere, über die Zeit hinausweisende Kontext menschlicher Unterdrückungsgeschichten in den Blick genommen. Diesen Beiträgen wird der als ein wichtiger Abstecher fungierende Artikel von David Simo über den heuristischen Vorteil der Marginalität vorangestellt. In diesem Aufsatz setzt sich der Autor mit postkolonialen Perspektiven auf die europäischen Literaturen auseinander und geht auf die Gründe für die Konstruktion eines nicht-europäischen und nichtamerikanischen akademischen Blicks im Rahmen der Postcolonial Studies ein. Für postkoloniale Theoretiker werde Literatur als Teil eines allgemeinen Herrschaftsunternehmens wahrgenommen, wie es sich in der kolonialen Praxis konkret manifestiert. Am Beispiel von Edward Said, Gayatri Spivak, Homi Bhabha u. a. legt Simo dar, dass die biografisch bedingte marginale Position eine privilegierte und produktive Artikulationsposition darstellt, die es ermöglichen kann, die epistemologische Beziehung zwischen bestimmten Diskursordnungen, insbesondere dem kolonialen Diskurs und dem Diskurs der vergleichenden Literaturkritik, zu erkennen und sich der ‚epistemischen Gewalt‘ des kolonialen Diskurses zu entziehen – was von der westlichen Perspektive aus nicht möglich ist. Sich von essentialisierenden Tendenzen im postkolonialen Ansatz distanzierend, zeigt er, dass die postkoloniale Theorie sich zum Ziel gesetzt hat, sich all diesen Herausforderungen zu stellen und sich selbst zu reflektieren. Und diese Arbeit erfordert eine Dekonstruktion des herrschenden Diskurses, um ihn zu historisieren und zu zeigen, inwiefern er Teil eines allgemeinen Dispositivs der Unterwerfung und der Herrschaft ist. Eine solche postkoloniale, gewaltbewusste Perspektive auf europäische Literaturen findet – wenn auch ausschließlich aus europäischer Sicht – konkrete Anwendung in den Beiträgen von Elke Sturm-Trigonakis, Dirk Göttsche und Donata Weinbach. In ihrem Aufsatz fokussiert Sturm-Trigonakis auf die Inszenierung von Gewalt in Bernd Jaumanns Namibia-Kriminalromanen. Ihre These hierbei ist, dass sich im nachkolonialen Namibia Jaumanns Gewalt auf vielfältige Weise im Alltag manifestiert, wobei der Autor zeigt, dass die Trennlinien zwischen gewalttätig und nicht gewalttätig quer zu den Ethnien, den Einkommensschichten und den Geschlechtern verlaufen. Damit ergibt sich ein komplexes Bild, das die Konfliktlinien verdeutlicht, welche die erst von der deutschen Kolonialmacht und dann vom südafrikanischen

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

Apartheid-System ausgeübte Gewalt in der namibischen Gesellschaft hinterlassen hat. An Jaumanns Texten lässt sich, so Sturm-Trigonakis’ Fazit, eine „Topologie der Gewalt“ erstellen, die unmittelbar auf – zumeist ideologisch unterlegten – Machtverhältnissen basiert, und zwar sowohl im konkreten geographischen Raum als auch im Hinblick auf die historischen Verflechtungen zwischen Beherrschten und Beherrschern. In seinem Beitrag konzentriert sich Dirk Göttsche auf die Romane des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, die einen wichtigen englischsprachigen Beitrag zur kritischen Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte und ihre bis heute nachwirkenden Folgen leisten. In den Romanen reflektiere Gurnah anhand sansibarischer Migranten in Großbritannien auch die traumatische Gewalterfahrung der Revolution von 1964 in dem gerade erst in die Unabhängigkeit entlassenen multiethnischen Inselstaat mit seinen mehrschichtigen transkulturellen und globalen Bezügen: im Jahrhunderte alten Interaktionsraum Indischer Ozean, als Sitz des arabischen Sultanats von Sansibar mit seinem bis nach Zentralafrika hineinreichenden Handels- und Machtgefüge, als Brennpunkt deutscher und britischer Kolonialpolitik bzw. (nach 1964) des Kalten Krieges, sowie im Horizont der neuen Vernetzung erlebter Gewaltgeschichten aus aller Welt in der postkolonialen Diaspora. Der Aufsatz untersucht Gurnahs Modellierung regionaler Konfliktgeschichte in globalen Zusammenhängen mit vergleichendem Bezug auf den Sansibar-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bei Ilija Trojanow, H.C. Buch, Nicole Vosseler, Micaela Jary, Lukas Hartmann, Wolf-Ulrich Cropp und Cornelia Engel. Aus postkolonialer Sicht unternimmt Donata Weinbach eine Lektüre ausgewählter Stellen aus Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands, der zu den wichtigsten literarischen Auseinandersetzungen mit den Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts und der Geschichte des linken Widerstands zählt. Dabei berücksichtigt sie auch die Spannung, die zwischen dem expliziten Engagement für die Dritte Welt Mitte der 1960er Jahre und dem Spätwerk des Autors verläuft. Die Autorin zeichnet drei Verfahren nach, die von den Figuren in dem Roman als Verfahren etabliert werden, um im Sinne etwa von Saids „kontrapunktischem Lesen“ eine Lektüre „gegen den Strich“ zu vollziehen. Damit erschließen sich die Figuren nicht nur kraft ihrer sich ausbildenden ästhetischen Urteilskraft die Kunst, sondern sie lassen Leerstellen sichtbar werden, durch die immer wieder darauf hingewiesen wird, dass ein Dokument der Kultur auch eines der Barbarei ist. Alle Beiträge des Bandes haben eines gemeinsam: Sie zeigen aus unterschiedlichen theoretischen und analytischen Perspektiven und Orientierungen, dass in einem globalen Zeitalter, in dem Vergangenheits- und Erinnerungsdiskussionen explodieren (vgl. Conrad 2021), die postkoloniale Germanistik ihr Wort zu sagen hat. In einer Ära zunehmender (Bürger‐)Kriege, Vertreibungen und Massenvergewaltigungen kann sie aufgrund ihres historischen und epistemologisch-hermeneutischen Funktionspotenzials Reflexions- und Wissensräume eröffnen sowie

Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

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Paradigmen entwickeln, die es ermöglichen können, gesellschaftliche Phänomene zu konzeptualisieren. Sie kann Analyseinstrumentarien liefern, um etwa den – literarisch inszenierten – wieder erstarkenden (exklusiven) Nationalismus auf der Welt nachzuvollziehen und die zumeist diskursbedingten verborgenen Quellen mancher Konflikte und Gräueltaten aufzuspüren. Dies setzt auch voraus, dass sie sich selbst reflektiert und selbstkritisch verfährt. Unser Dank geht an die Referent/innen des Workshops für ihre Beiträge und ihre Bereitschaft, diese für die Veröffentlichung auszuarbeiten. Der Workshop sowie die vorliegende Drucklegung seiner Ergebnisse wurden durch die Fonds der Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglicht, wofür wir der Stiftung zu Dank verpflichtet sind. Wir danken ebenfalls allen Teilnehmer/innen an dem Workshop, die den Vortragenden durch ihre kritischen (Rück‐)Fragen und Bemerkungen wichtige Anregungen verliehen, die in viele der hier versammelten Beiträge eingegangen sind. Gedankt sei an dieser Stelle auch Dr. Jan Gerstner, der bei der Organisation der Tagung mitwirkte und sich an der Redaktion der Beiträge beteiligte. Für die Redaktion war ebenfalls die Mitarbeit von Katharina Gabriele sehr hilfreich. Ihr gilt unser besonderer Dank. Last but not least richten wir Dr. Anja Michalski und Dr. Katrin Hudey vom De Gruyter Verlag unseren herzlichen Dank für die sorgfältige Betreuung des Bandes und die Lektoratshilfe. Axel Dunker, Michael Hofmann und Serge Yowa Bremen, Paderborn und Yaoundé im November 2022

Literatur Albrecht, Monika. „Europa ist nicht die Welt“. (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit. Bielefeld: Aisthesis, 2008. Appiah, Kwame Anthony. Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Übers. Michael Bischoff. München: Hanser, 2019. Bechhaus-Gerst, Marianne und Zeller, Joachim. „Einführung“. Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Hg. Dies. Berlin: Metropol, 2018. 9–21. Conrad, Sebastian. „Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert“. Merkur, Heft 867 (August 2021): 5–17. Dunker, Axel. Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. Paderborn: Fink, 2008. Dürbeck, Gabriele und Dunker, Axel (Hg.). Postkoloniale Germanistik: Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis, 2014. Febel, Gisela. „Postkoloniale Literaturwissenschaft. Methodenpluralismus zwischen Rewriting, Writing back und hybridisierenden und kontrapunktischen Lektüren.“ Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Hg. Julia Reuter und Alexandra Karentzos. Wiesbaden: Springer VS, 2012. 229–247.

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Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

Göttsche, Dirk; Dunker, Axel und Dürbeck, Gabriele (Hg.). Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 2017. Hofmann, Michael; Patrut, Iulia-Karin und Klemme, Hans-Peter (Hg.). Der Neue Weltengarten. Jahrbuch für Literatur und Interkulturalität 2017/2018. Hannover: Wehrhahn, 2018. Hofmann, Michael und Patrut, Iulia-Karin. Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015. Leskovec, Andrea. Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011. Mecklenburg, Norbert. Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München: iudicium, 2009. Said, Edward. Culture and Imperialism. New York: Vintage books, 1993. Simo, David. „Formen und Funktionen des Gedächtnisses der Kolonisation. Das Humboldt Forum und das postkoloniale Deutschland.“ Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit. Hg. Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer. Wien, Köln und Weimar: Böhlau, 2021. 281–299. Simo, David. „Interkulturalität und Postkolonialität in Afrika“. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 25. München: iudicium, 1999. 349–363. Uerlings, Herbert und Patrut, Iulia-Karin (Hg.). Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis, 2012.

I Interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migrations- und Fluchterfahrungen

Cornelia Zierau

Literarische Mehrsprachigkeit als Übersetzungsraum Inszenierungen von kultureller Diversität in Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei

1 Vorüberlegungen Literatur – so heißt es in der Einleitung zu diesem Band, „wird als ein Ort aufgefasst, in dem kulturelle Identität mitgestaltet wird, ‚Imaginationen der Homogenität‘ problematisiert und andere Möglichkeiten dargelegt werden können“. Inwiefern literarische Mehrsprachigkeit diese „Imaginationen der Homogenität“ (Hofmann und Patrut 2015, 7) problematisieren und aufbrechen kann und als eine spezifische Form kultureller Übersetzung einen postkolonialen Ansatz der Kulturvermittlung darstellt, in dem dominanzkritisch das Andere eine Stimme im Diskurs bekommt, soll in diesem Beitrag untersucht werden.¹ Dabei greife ich auf den Ansatz des Translational Turn nach Doris Bachmann-Medick zurück, wonach ein neues Licht auf Kulturbeschreibungen im Kontext von Migration(sliteraturen) und interkulturellen, globalisierten Gesellschaften geworfen wird, indem kulturelle Zwischenräume als „‚Übersetzungsräume‘ […] [d. h.] als Gestaltungsräume von Beziehungen, von Situationen, ‚Identitäten‘ und Interaktionen durch konkrete kulturelle Übersetzungsprozesse betrachtet werden.“ (Bachmann-Medick 2018, 247) Die Frage der literarästhetischen Ausgestaltung solcher Zwischenräume, „ausgehend […] von sprachlichen Verständigungsversuchen und sprachlichen Irritationen, von Sprachüberlagerungen und Mehrsprachigkeit“ (Bachmann-Medick 2018, 253–254), rückt dabei besonders in den Fokus. Eine Autorin wie z. B. Emine Sevgi Özdamar, aus deren Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus später Beispiele vorgestellt werden, setzt in ihren Texten Mehrsprachigkeit in einem weiten Sinne ein und erzeugt damit eine Hybridität und Mehrstimmigkeit nicht nur im sprachlichen, sondern auch im kulturellen Sinne. Inwiefern solche literarischen Inszenierungen von kulturellen Zwischenräumen durch Mehrspra-

1 Dieser Beitrag steht in einer Kontinuität mit anderen Beiträgen der Verfasserin zu Emine Sevgi Özdamars Karawanserei; vgl. dazu Zierau 2009, 2010, 2020 und 2022. https://doi.org/10.1515/9783111181530-002

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chig- und Mehrstimmigkeit dominanzkritisch sprachliche und kulturelle Machtkonstellationen offenlegen und zu einer „andere[n] Art der [kulturellen] Übersetzung [führen], der es darum geht, in der eigenen Sprache das Fremde als Fremdes auszustellen und mit seinen Eigenarten transparent werden zu lassen“ (Hofmann 2020, 74), soll in diesem Beitrag genauer herausgearbeitet werden. Leitend ist dabei also die Frage, inwiefern literarische Mehrsprachigkeit eine postkoloniale Form von Kulturbeschreibungen und Kulturübersetzungen bewirken kann, die sich dominanzkritisch einem Monolingualismus und einer eurozentrischen Vereinnahmung kultureller Differenzen widersetzt. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den Einsatz von Mehrsprachigkeit als einer spezifisch literarästhetischen Strategie zur Inszenierung von (inter)kultureller Dynamik gelegt, verbunden mit der Frage, inwiefern Özdamars mehrsprachige Erzählweise möglicherweise als ein Modell postkolonialen Übersetzens angesehen werden kann.

2 Übersetzung und literarische Mehrsprachigkeit – terminologische Fundierung The meeting ground, the frontierland, of cultures is the territory in which boundaries are constantly obsessively drawn only to be continually violated and re-drawn again and again – not the least for the fact that both partners emerge changed from every successive attempt at translation. Cross-cultural translation is a continuous process, which serves as much as constitutes the cohabitation of people who can afford neither occupying the same space nor mapping that common space in their own, separate ways. No act of translation leaves either of the partners intact. Both emerge from their encounter changed, different at the end of the act from what they were at its beginning […] and that reciprocal change is the work of translation. (Bauman 1999, xlviii)

Ausgehend von diesem Zitat von Zygmunt Bauman stellt sich die Frage, welchen Einfluss der kulturwissenschaftliche Shift des Translational Turn auf die Auffassung von Kulturen und den kulturellen Austausch hat. Nach Doris Bachmann-Medick (2018, 248–249) sind Kulturen Konstrukte, die „sich […] in der Übersetzung und durch die vielschichtigen Überlappungs- und Übertragungsphänomene von Verflechtungsgeschichten unter […] ungleichen Machtbedingungen der Weltgesellschaft“ konstituieren. Dabei wird „‚Übersetzung‘ […] über den Gegenstandsbereich der Übersetzung von Sprachen und Texten hinaus zu einer verallgemeinerbaren Kategorie, die dann auch auf die Übersetzung von und zwischen Kulturen anwendbar wird.“ (Bachmann-Medick 2018, 26). In der Weiterführung von Theo-

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rieansätzen der Postcolonial Studies, die Erfahrungen von (Post)Kolonialismus, Migration und Exil auswerten, erscheint „Kultur […] nicht mehr länger als ‚originale‘ und besondere Lebenswelt, sondern als ‚hybride‘, unreine, vermischte Erfahrungs- und Bedeutungsschichtung.“ (Bachmann-Medick 2018, 249) Der Hybriditätsbegriff des Postkolonialismus, nach dem ‚hybrid‘ alles ist, „was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist“ (Bronfen und Marius 1997, 14), wird dabei konkretisiert als „Übersetztheit bzw. Vielschichtigkeit von Kulturen“. Dabei ist „Hybridität […] mehr als nur Kulturenvermischung; sie ist eher als ein Handlungsraum von Übersetzungsprozessen zu verstehen statt als bloßer Vermischungsraum.“ (Bachmann-Medick 2018, 251) Über diese Interaktion, bei der – wie Zygmunt Baumann konstatiert – die beteiligten Partner alle verändert aus der Begegnung herausgehen, kommt es zu einem dynamisierten Kulturverständnis: „Übersetzung [wird] zunehmend als eine kulturelle Handlungsform erkennbar […], die für die überlebensnotwendige Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit zwischen antagonistischen kulturellen Zugehörigkeiten, Bedeutungen und Anforderungen unverzichtbar wird.“ (Bachmann-Medick 2018, 251) Sie wird somit „zu einer wichtigen Methode der Deplatzierung und Verfremdung, der Differenzbildung und Vermittlung“ (Bachmann-Medick 2018, 247), die „nicht nur […] interkulturelle, sondern auch […] innerkulturelle Prozesse“ (Bachmann-Medick 2018, 267) dynamisiert und verändert. Dazu zählen z. B. unterschiedliche Milieus und Lebenswelten, ebenso wie das Generationenverhältnis, Geschlecht und sexuelle Orientierungen, aber natürlich auch inter- bzw. transnationale Einflüsse, die Gesellschaften und Kulturen auch innerkulturell transformieren. Indem dieser Ansatz des Translational Turn an die Postcolonial Studies anknüpft und Migration, Exil und Diaspora in den Fokus der Untersuchungen stellt, soll unter anderem einem einseitigen eurozentrischen und anglo-amerikanischen Blick auf Globalisierung und Internationalisierung entgegengewirkt werden (vgl. Bachmann-Medick 2018, 259 und weiterführend Hall 2000), was für die Literaturwissenschaft wiederum heißt, den Blick auf Literaturen zu richten, die an den Schnittstellen europäischer und außereuropäischer kultureller Einflüsse entstehen. Denn hier sind Identitäts- und Differenzverhandlungen immer schon „von Übersetzungsprozessen und von der Notwendigkeit zur Selbstübersetzung geprägt“ (Bachmann-Medick 2018, 41), die sich in den ästhetischen Figuren- wie Kulturdarstellungen niederschlagen. Unter Rückgriff auf Ansätze der Gender Studies greift Bachmann-Medick den Begriff des „‚translated beings‘“ auf, der „[d]as Gefühl, nicht zu Hause zu sein in den Idiomen der Macht“, zum Ausdruck bringen möchte (Bachmann-Medick 2018, 266; vgl. auch Simon 1996, 135). Blumentrath, Bodenburg,

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Hillmann und Wagner-Egelhaaf (2007, 25) sprechen in Anlehnung an Homi Bhabha in dem Zusammenhang vom mimic man: Der mimic man ahmt den Kolonialherren zwar nach, weicht aber vom ‚Original’ ab. In dieser Ambivalenz der Mimikry, die ‚beinahe dasselbe’ (wie das Original) ist, ‚aber eben nicht ganz’, liegen Chancen des kolonialen Widerstands. Jene unvollständigen Kopien der Kolonialmacht enthüllen die Ambivalenz des kolonialen Diskurses und brechen seine Autorität auf. In nachkolonialen Kontexten löst die Figur des Migranten den mimic man ab.

Mit Bezug auf die poststrukturalistische Diskursanalyse Jacques Lacans, die er für die postkoloniale Situation weiterentwickelt, spricht Homi K. Bhabha (1994, 85–86) von einer Strategie der Mimikry, über die sich „der Fremdkörper […] sozusagen tarnen [muss], um wirksam zu werden und die Kultur und Sprache von innen her zu transformieren.“ (Bronfen und Marius 1997, 13) Er beschreibt über diese Strategie das Verhältnis zwischen Kolonialisierten und Kolonisatoren und sieht in ihr eine subversive Möglichkeit, Dominanzverhältnisse zu unterlaufen und eigene Repräsentationsmöglichkeiten zu schaffen – eine literarästhetische Technik, die in der Auseinandersetzung mit Dominanzverhältnissen in der Literatur gut beobachtbar ist (vgl. dazu Zierau 2009, 64–65; Zierau 2016, 113–114). Nachdem bis hierher versucht wurde, das Konzept der kulturellen Zwischenräume als Übersetzungsräume im Kontext des Shifts vom Postcolonial zum Translational Turn nachzuvollziehen und zu konkretisieren, stellt sich nun die Frage, wie solche Übersetzungsräume literarästhetisch gestaltet werden und ob bzw. wie die bei Baumann postulierte Handlungsdynamik ein dynamisiertes Kulturverständnis der wechselseitigen Veränderung kultureller Räume zum Ausdruck bringt. Bei Doris Bachmann-Medick (2018, 30) wird zwar auf die „besonderen Formen der literarischen Repräsentation“ im Kontext der Cultural Turns verwiesen, ohne das jedoch zu vertiefen. In Bezug auf den Translational Turn wird eine knappe Analyse von Salman Rushdies Roman The Ground Beneath Her Feet vorgenommen, ohne jedoch systematisch ästhetische Strategien zu benennen und herauszuarbeiten (vgl. Bachmann-Medick 2018, 270–271). Michael Hofmann (2020, 74–75) schreibt in Anlehnung an den Übersetzungsbegriff Goethes, dass es darum gehe, einer „koloniale[n] ‚Übersetzung‘“, bei der „das Fremde so erschein[t], dass es entstellt und sein eigener Wert nicht deutlich wird“, eine andere Form des Übersetzens entgegenzustellen: eine andere Art der Übersetzung, der es darum geht, in der eigenen Sprache das Fremde als Fremdes auszustellen und mit seinen Eigenarten transparent werden zu lassen, wobei dadurch die Zielsprache der Übersetzung selber ‚verfremdet‘ wird, weil in ihr ungewohnte Strukturen und Bilder aufscheinen.

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Da auch Goethe davon spreche, dass durch diese Art „der Übersetzung, durch welche die fremde Sprache und die fremde Kultur in die Zielsprache eindringen und diese verändern“, etwas ‚Drittes‘ entstehe, findet seine Übersetzungstheorie Anschluss an postkoloniale und interkulturelle Vorstellungen des Hybriden. So kann postkolonialer Kulturtransfer als neue Form der Übersetzung verstanden werden, die das Europäische so verändert, dass es in einen Dialog mit dem Außereuropäischen eintritt; der außereuropäische Text wird so vermittelt, dass seine Fremdheit und Eigenheit bewahrt bleibt, und es entsteht ein ‚Drittes‘, das tendenziell hegemoniale Konstellationen überwindet. Die postkoloniale Übersetzung trägt somit im Kontext ‚Neuer Weltliteratur‘ dazu bei, dass die europäische Einstellung des Anderen aufgehoben, das Europäische verfremdet und seine Interdependenz gegenüber dem außereuropäischen Anderen verdeutlicht wird. (Hofmann 2020, 75)

Während das bereits oben beschriebene Konzept der Mimikry vor allem auf das Unterlaufen und die Subversion von Macht- und Dominanzverhältnissen von Mehrheitsgesellschaften im Kontext interkultureller und postkolonialer Literatur abzielt, soll im Folgenden genauer untersucht werden, inwiefern diese Art des ‚postkolonialen Übersetzens‘ auch darüber hinaus als narrativästhetische Inszenierungen von Mehrsprachigkeit beschrieben werden können, um die von Zygmunt Baumann konstatierte wechsel- und gegenseitige Veränderung der Kulturräume in interkulturellen Begegnungen, die sie nach Bachmann-Medick zu Übersetzungsräumen macht, zu veranschaulichen. Nach Barbara Haider (2010, 207) bezeichnet Mehrsprachigkeit im linguistischen Sinne „den Umstand, dass einer Person […] oder einem System […] mehrere Sprachen zur Verfügung stehen. Fasst man den Begriff sehr weit, so ist jeder Mensch mehrsprachig, da er schon in seiner Muttersprache über mehrere Varietäten (muttersprachliche M.) verfügt.“ Mehrsprachigkeit wird hier im weiteren Sinne also als die Fähigkeit verstanden, sich verschiedener Sprachvarietäten zu bedienen und sich dementsprechend in seiner Artikulationsweise kommunikativen Situationen anzupassen. Diese können z. B. regional, fachsprachlich, generationen- oder geschlechtsspezifisch geprägt sein. Erst im engeren Sinne charakterisiert der Begriff das Vermögen, mehrere (National‐)Sprachen zu sprechen. Diese unterschiedliche Reichweite des Verständnisses von Mehrsprachigkeit spiegelt sich auch im Roman Das Leben ist eine Karawanserei wider. Über die geschilderte Binnenmigration wird eine in kulturellen, sozialen, regionalen, geschlechts- und generationenspezifischen Aspekten sehr heterogene Türkei beschrieben, die zudem unterschiedlichen interund transnationalen Einflüssen ausgesetzt ist: Differenzen, die sich auch in der Sprache und Kommunikation im Sinne der oben benannten Formen engerer und weiterer Mehrsprachigkeit niederschlagen, wie in der Romananalyse genauer gezeigt werden soll.

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Mehrsprachigkeit in einem literarästhetischen Sinne liegt nach Natalia BlumBarth (2021, 63) „auf der Textebene als Ergebnis des mehrsprachigen Schreibens vor. Sie bedeutet die Präsenz einer anderen, von der Basissprache des Textes differenten Sprache im literarischen Werk.“ Dabei unterscheidet sie „zwei Bedeutungsebenen des Begriffs […]. Im weiteren Sinne subsumiert ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ alle Erscheinungsformen vom fremdsprachigen Zitat über fremdsprachige Einsprengsel und Sprachmischung bis zu Mehrsprachigkeit im literarischen Text.“ (Blum-Barth 2021, 93) In diesem Sinne habe es schon immer mehrsprachiges literarisches Schreiben gegeben (vgl. auch Schmeling 2002, 18; Dembeck 2014). Eine zweite Bedeutungsebene knüpft sie an die veränderten Rahmenbedingungen in Zeiten der Globalisierung, des Postkolonialismus und der (Post‐)Migration: Im engeren Sinne lässt sich der Begriff ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ für die sprachliche Charakterisierung der Texte verwenden, die mit Bezug auf Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel der Autoren entstanden sind. […] Die Differenzierung trägt dem Umstand Rechnung, dass Texte der Migrantenliteratur und der neuen Weltliteratur unter veränderten Rahmenbedingungen verfasst werden. (Blum-Barth 2021, 93)

Diese migrationsbedingte Form literarischer Mehrsprachigkeit steht auch hier in diesem Beitrag mit Blick auf die Autorin Emine Sevgi Özdamar im Fokus. Dementsprechend gestaltet sich mehrsprachiges Schreiben „vor dem Hintergrund von zwei und mehr Sprachen“, wobei das „Ergebnis nicht unbedingt ein [auf der Textoberfläche] mehrsprachiger Text“ sein muss (Blum-Barth 2021, 63). Denn BlumBarth unterscheidet in Anlehnung an Radaelli eine manifeste und latente Form von Mehrsprachigkeit. Während die „[m]anifeste literarische Mehrsprachigkeit […] an der Oberfläche des Textes als Verwendung einer anderen Sprache“ (Blum-Barth 2021, 70) erscheint und sich in Sprachwechsel und Sprachmischung äußern kann, ist die „[l]atente literarische Mehrsprachigkeit […] in der Tiefenstruktur des Textes verortet.“ (Blum-Barth 2021, 77) Nach Radaelli (2011, 61) ist „[e]in Text […] immer dann latent mehrsprachig, wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf.“ Die Sprachmischung ist nach Schmeling (2002, 17) grundsätzlich ein „Akt der Grenzüberschreitung, der Nichtanerkennung einer bestimmten Spielregel“. Dabei vermag gerade die latente Form von Mehrsprachigkeit subversiv und dominanzkritisch auf bestehende Herrschafts- und Machtstrukturen innerhalb der dominanten Sprache und Mehrheitsgesellschaft zu reagieren: Anders als bei manifester Mehrsprachigkeit lassen sich bei latenter Mehrsprachigkeit Aspekte wie Marginalisierung und Subversivität der Sprachen, das an den Postkolonial-Diskurs angelehnte Phänomen der sprachlichen Mimikry sowie Sprachpolitik und -ideologie insgesamt veranschaulichen. […] So gesehen kann latente Mehrsprachigkeit als Spur der verdrängten

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bzw. unterdrückten Sprache in der Sprache des literarischen Werkes aufgefasst werden. (Blum-Barth 2021, 84)

Heidi Rösch (2011, 97–98) spricht in dem Zusammenhang von einem translingualen Sprachgebrauch, wodurch die Trennung von inter- und intralingualer Mehrsprachigkeit nach Haider quasi verwischt wird: Wenn Emine Sevgi Özdamar türkische Sprichwörter, Koransuren etc. in deutscher Sprache in den Text integriert, lässt sich ein translingualer Sprachgebrauch ausmachen. Dies sind Formen von Interlingualität, die den Gebrauch mehrerer Sprachen oder Sprachvarietäten innerhalb einer Sprache nicht nur dokumentieren, sondern ihn auch kommentieren, reflektieren oder überhaupt erst neu schaffen.

Mehrsprachigkeit kommt hier zwar als Übersetzung vor, diese ‚Übersetzung‘ reibt sich aber mit dem deutschen Sprachgebrauch und erhält somit ihr Fremdheitspotential. Folgende Textpassagen aus Emine Sevgi Özdamars Erzählung Schwarzauge in Deutschland veranschaulichen einen solch translingualen Sprachgebrauch: Mein erstes Theaterstück war ‚Karagöz in Alamania‘, 1982. Das bedeutet in Deutsch: ‚Schwarzauge in Deutschland‘. (Özdamar 2001, 47) Einer sagte: „Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen.“ (Özdamar 2001, 48)

Bei den Ausdrücken „Schwarzauge in Deutschland“ und „Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen“ bleibt trotz Übersetzung ins Deutsche die Fremdheit der anderen Sprache inhärent. Durch diese Beispiele translingualer und latenter Mehrsprachigkeit erleben wir einen Perspektivwechsel, der die gewohnte dominante Blickweise durchkreuzt und relativiert. So machen beide Textstellen auf spezifische sozio-kulturelle Erfahrungen des Lebens als sogenannte Gastarbeiter*innen in Deutschland aufmerksam: Die aus den Mittelmeerregionen stammenden Arbeitskräfte wurden häufig stereotyp als Menschen mit dunklen Augen wahrgenommen und betituliert – Özdamar nimmt von daher eine verfremdende Selbstaneignung dieser Zuschreibung vor, die darüber hinaus eine komische Brechung erhält. Denn wer sich im türkischen literarischen Feld auskennt, weiß, dass Karagöz ein Protagonist des türkischen Schattenspiels ist und mit seinem Partner Hacivat in humorvoller Weise Missstände vorführt. Wir sehen in diesem Textbeispiel also durchaus einen ersten Hinweis auf eine kritische Durchbrechung dominanter und stereotyper Wahrnehmungen des Gastarbeiter*innendaseins, was dann auch die Erzählung insgesamt charakterisiert, in der es um die Inszenierung eines Theaterstücks über Gastarbeiter*innen geht: „Wir machen etwas Besonderes! Zum ersten Mal ein Theaterstück über Türken.“ (Özdamar 2001, 50).

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Die zweite Aussage bezieht sich auf die zahlreichen tödlichen Autounfälle, die während der Urlaubsreisen auf der Balkanroute zwischen Deutschland und der Türkei passiert sind. Diese Route ist insbesondere bei türkischstämmigen Kulturschaffenden ein literarisches wie auch filmisches Motiv, z. B. im 1979 erschienenen Roman Europastraße 5 von Güney Dal und in Fatih Akins Roadmovie Im Juli aus dem Jahr 2000, 2011 von Selim Özdogan in einer Buchfassung adaptiert. Mehrsprachigkeit – parallel zum Übersetzungsbegriff – wird hier somit nicht nur auf einer linguistischen und damit rein sprachlich-textuellen Ebene verstanden, sondern literarästhetisch auch im Sinne des ursprünglich von Michail Bachtin (1996) geprägten Begriffs der Polyphonie, durch die eine Mehrstimmigkeit von Kulturen, Gesellschaften und Milieus zum Ausdruck kommen kann. Übersetzungsräume enthalten demnach also nicht nur auf linguistischer und semantischer Ebene Spuren von Mehrsprachigkeit, Inter- und Transkulturalität, die nicht nur schematisch den Einflüssen von Mutter- und Zweitsprache sowie Herkunfts- und Zielkultur zuzuordnen sind, sondern [implizieren] ein umfassendes Sprachund Kulturwissen. (Zierau 2010, 414)

Die literarästhetische Gestaltung solcher Übersetzungsräume mit dem Fokus auf Mehrsprachigkeit und Mehrstimmigkeit/Polyphonie soll nun im Folgenden am Roman Das Leben ist eine Karawanserei genauer untersucht werden.

3 Übersetzungsräume, Mehrsprachigkeit und Polyphonie in E.S. Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei Als Autorin türkischer Herkunft, die 1965 bis 1967 das erste Mal als sogenannte Gastarbeiterin nach Deutschland kam, anschließend eine Schauspielausbildung in Istanbul absolvierte, 1976 als Schauspielerin an die Ostberliner Volksbühne nach Deutschland zurückkehrte und zu Beginn der 1980er Jahre zu schreiben begann, erzeugt Emine Sevgi Özdamars Literatur – entstanden an den Schnittstellen europäischer und außereuropäischer Kulturen – „kulturelle Zwischenräume“ (Bachmann-Medick (2018, 41). Diese werden sowohl innerkulturell in der Darstellung der Heterogenität der Lebenswelten in der Türkei der 1950er und 1960er Jahre sichtbar als auch interkulturell, indem die Lebenswelten und das Heranwachsen der Protagonistin aus der Retrospektive der Migration nach Deutschland erzählt wird. Somit ist Özdamars Roman keinesfalls als reine Repräsentation türkischer Kulturen und Lebensweisen anzusehen, die ihr Werk zum bloßen Gegenstand kulturge-

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schichtlicher Betrachtungen und Vergleiche werden ließe (vgl. dazu z. B. Seyhan 1996, Fröhlich 1997). Immer spielt dabei die retrospektive literarische Inszenierung ihrer Kulturbeschreibungen eine zentrale Rolle (vgl. dazu Zierau 2009, 101; Zierau 2010, 414–415; Boa 1997; Breger 1999; Johnson 2001): „Erinnerungssplitter werden zu einer ‚übersetzten Erzählung‘ rekonfiguriert“, so Azade Seyhan (2016, 20), „und damit in das deutsche literarische Archiv transportiert.“ Die Aktualität von Emine Sevgi Özdamars Werk liege eben auch gerade darin begründet, dass „es sich in Diskurse über Übersetzung, (Un‐)Übersetzbarkeit […] und die Performance von Identität einbringt“ (Seyhan 2016, 19). Im Rahmen der Versprachlichung (inter‐)kultureller und persönlicher Erfahrungen der Protagonistin auf Deutsch kommt es im Roman Das Leben ist eine Karawanserei zu unterschiedlichen Strategien der Übersetzung. So werden einzelne türkische oder arabische Begriffe und Textpassagen – gerade im religiösen Kontext – im Sinne der manifesten Mehrsprachigkeit nach Blum-Barth explizit beibehalten oder in Bilder transformiert. Andererseits werden Redewendungen u. ä. aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt, was eine latente Mehrsprachigkeit bzw. in Röschs Worten Translingualität zur Folge hat, indem diese Formulierungen verfremdend wirken, in der deutschen Sprache bisher ‚unbeheimatet‘ sind. Innerhalb der türkischen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre werden darüber hinaus in „gesellschaftlichen ‚Sprachspielen‘“ (Bachmann-Medick: 2018, 268) heterogene Lebenswelten sichtbar, die sich zum Teil überlappen und als Mehrsprachigkeit und Polyphonie lesbar werden. Damit wird deutlich, dass die Übersetzungsprozesse im Roman nicht nur als Vermittlung ‚türkischer‘ Kultur an ein ‚deutsches‘ Lesepublikum zu verstehen sind, sondern vielmehr auch veranschaulichen, wie das ‚Türkische‘ im Kontext von Migration, Modernisierung und Internationalisierung in Bewegung gerät und einer Dynamisierung des Kulturverständnisses ausgesetzt wird. Inwiefern über diese unterschiedlichen Formen und Funktionen im Umgang mit latenter und manifester Mehrsprachigkeit in der Karawanserei Übersetzungsräume konstituiert werden, bei denen eine „kritische, fremdheitserhaltende Übersetzungsperspektive“ (Bachmann-Medick: 2018, 270) eingenommen wird, die als „Handlungsformen des Sich-selbst-Übersetzens“ (Bachmann-Medick: 2018, 271) angesehen werden können, wird im Folgenden genauer herausgearbeitet. Ob diese als Strategien der Mimikry im Sinne eines subversiven Aktes des Sich-Einschreibens in dominante Sprach- und Machtstrukturen gedeutet werden können, ob sie ästhetisch-literarisch und kreativ die deutsche Sprache erweitern oder ob damit auch Unübersetzbarkeiten bzw. Inkommensurabilitäten kultureller Aspekte angezeigt werden, wird dabei ebenfalls im Blick behalten.

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3.1 Religiöse Übersetzungsräume Gerade in Bezug auf die Religion bietet Özdamars Roman einiges an Fremdheitspotential, nicht nur für die deutsche Leser*innenschaft, sondern auch für die Protagonistin selbst. Dabei wird Mehrsprachigkeit an (inter‐)kulturellen Schnittstellen in unterschiedlichen Varianten eingesetzt. Der Umgang mit der arabisch-islamischen Formel Bismillâhirahmanirrahim findet in einer manifesten mehrsprachigen Darstellung Ausdruck, da das Wort zunächst unübersetzt bleibt: Das Wort Bismillâhirahmanirrahim kam aus den Mündern von vielen Menschen. Man mußte, wenn man ins Haus trat, mit dem rechten Fuß auftreten und dabei Bismillâhirahmanirrahim sagen. Wenn man sich wusch, mußte man mit der ersten Tasse Wasser, die man über die Haare gießt, Bismillâhirahmanirrahim sagen, wenn man das erste Stück Brot am Morgen in den Mund nahm, mußte man auch Bismillâhirahmanirrahim sagen, Kleider zog man an und aus mit Bismillâhirahmanirrahim. Ein Brief kam an, man öffnete ihn mit Bismillâhirahmanirrahim. Auf einem Schlachtfest wartet ein Schafhals unter einem ruhigen Messer, man sagt Bismillâhirahmanirrahim. […] Man konnte überall und immer Bismillâhirahmanirrahim sagen, aber nicht auf der Toilette. Weil da kein Allah, sondern der Teufel wohnte. (Özdamar 1999, 55–56)

Mit ethnographischer Genauigkeit werden hier von der Protagonistin Situationen beobachtet, in denen das fremde arabische Wort Bismillâhirahmanirrahim Anwendung findet. Die Erzählerin selber weiß zunächst nicht, was der Ausdruck tatsächlich bedeutet. Folgerichtig wird er unübersetzt stehen gelassen. Die Bedeutung erfährt sie erst viel später, nachdem sie den Gebrauch des Wortes in verschiedenen Situationen ausprobiert hat. Über diese Schilderungen gibt sie auch dem deutschen Lesepublikum die Möglichkeit, sich diesen Begriff zu erschließen, ihn nicht nur kognitiv in seiner Übersetzung als: „Im Namen Gottes, oder im Namen Allahs, der schützt und vergibt“ (Özdamar 1999, 58) zu verstehen, sondern ihn performativ im Akt seines Gebrauchs nachzuempfinden: Diese Bismillâhirahmanirrahims haben mir im Leben zweimal geholfen, einmal, leise Bismillâhirahmanirrahim, beim zweiten Mal lauter Bismillâhirahmanirrahim. Leise Bismillâhirahmanirrahim: In der achten Klasse machte unsere Biologielehrerin eine schriftliche Prüfung. Oben auf dem Prüfungspapier über die Fragen habe ich Bismillâhirahmanirrahim geschrieben. Ich wußte nicht viele Antworten auf die Fragen. Die Lehrerin zog aus ihrer Mappe die Papiere und erzählte laut, daß sie mir eine gute Note gegeben hat, wegen dieses Bismillâhirahmanirrahim. (Özdamar 1999, 56–57)

Das zweite Mal hilft ihr in Paris das laute Bismillâhirahmanirrahim, als sie achtzehn oder neunzehn Jahre alt ist. Sie möchte dort bei einem algerischen Freund im

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Studentenwohnheim wohnen. Dieser Student ist zunächst nicht aufzufinden, so dass sie die Nacht auf dem Sofa der algerischen Pförtnerfamilie verbringt. Sie kann kein Wort Französisch und muss sich vor sexuellen Annäherungen schützen: In der Nacht wachte ich mit einem Schatten über meinem Körper auf, der Pförtner saß da auf einem Stuhl neben meinem Bett und guckte auf mich. Ich überlegte mir, wie ich mich retten könnte und fand dieses arabische Wort in meinem Kopf, den [sic!] dieser moslemische Algerier auch gut kannte. Ich sagte: „Bismillâhirahmanirrahim.“ Er stand auf und sagte laut: „Bismillâhirahmanirrahim.“ Dann schlief ich wieder ein. […] Am Morgen kam der algerische Student, zu dem meine Freunde mich geschickt hatten. Wir saßen in seinem Zimmer, er lachte und erzählte mir mit Zeichen, die er in der Luft machte, daß wir Liebe machen werden, bis seine Freundin kommt. Ich sagte wieder: „Bismillâhirahmanirrahim.“ Er sagte auch: „Bismillâhirahmanirrahim, Moslem, yes, you too Moslem? Yes, you too Moslem, elhamdülillah. Allah allahüekber, selamünaleyküm esselâmünaley.“ Wir redeten halb englisch, halb arabisch, bis die Freundin kam. Dann habe ich im Buch geguckt, was Bismillâhirahmanirrahim heißt: Im Namen Gottes, oder im Namen Allahs, der schützt und vergibt. (Özdamar 1999, 57–58)

Man könnte hier im Sinne Kwame Anthony Appiahs (2012), von einer thick translation sprechen, bei der „fremdkulturelle […] Rituale, Gefühlsbegriffe und Handlungsmuster […] auf kulturelle Bedeutungszusammenhänge und auf das Gesamtgefüge der sozialen Gesellschaftsorganisation bezogen“ (Bachmann-Medick: 2018, 244) und dementsprechend in ihrem Gebrauch eruiert werden. Erkennbar wird dabei, dass das Bismillâhirahmanirrahim in seinen verschiedenen Gebrauchsvarianten im Tagesablauf völlig automatisiert verwendet wird und so nach Nilüfer Kuruyazıcı (2006, 100) „den eigentlichen Sinn“ verliert. Der seiner Bedeutung entleerte Begriff wird aber durch die Verknüpfung mit neuen Kontexten wie der guten Note in der Klassenarbeit und der Abwehr sexueller Übergriffe durch Rekurs auf die einzig gemeinsame Sprache des Koran-Arabisch wieder neu aufgeladen: Traditionelle religiöse Begrifflichkeiten werden in moderne bzw. interkulturelle Lebenszusammenhänge überführt, so dass es zu ‚traditionell-modernen‘ hybriden Übersetzungsräumen kommt. Diese Transformation kann dann sogar so weit gehen, dass das Wort Bismillâhirahmanirrahim kurzzeitig ausgetauscht – also quasi doch übersetzt – wird: Als der Vater auf der Suche nach Arbeit aus Istanbul verschwindet, wird es durch das Wort ‚Mustafa‘ ersetzt/übersetzt: Keine dachte ans Bismillâhirahmanirrahim-Sagen. Das Wort Mustafa wurde unser Bismillâhirahmanirrahim. Wenn ich ins Haus kam und die Schuhe auszog, fragte ich: „Ist Mustafa gekommen?“ Meine Mutter packte jeden Morgen das Geschirr aus, nicht mit Bismillâhirahmanirrahim, sie sagte: „Wenn Mustafa kommt …“ (Özdamar 1999, 64).

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Doch nach Wiederherstellung der alten Familiensituation rückt auch das Bismillâhirahmanirrahim wieder an seinen Platz: „Dann kam Mustafa mit einem Taxi. Es war Nacht, er hatte einen neuen Hut, wir stiegen alle mit Bismillâhirahmanirrahim ins Taxi ein.“ (Özdamar 1999, 64) Durch diese Form des Experimentierens mit religiöser Sprache wird in diesem Roman ihr semantischer Gehalt quasi erforscht und in zweierlei Hinsicht übersetzt: einmal für das deutsche Lesepublikum, das somit Rituale islamischer Tradition kennenlernen kann und zum anderen wird innerhalb der türkischen Kultur eine Brücke geschlagen zwischen religiösen Traditionen und modernen bzw. interkulturellen Lebenswelten, ohne dass ihr Fremdheitspotential komplett aufgegeben wird. Das wird zum einen durch die Beibehaltung des arabischen Begriffs Bismillâhirahmanirrahim bewirkt, zum anderen aber auch durch dessen Herauslösung aus einem islamischen Diskurs und seiner Rekontextualisierung in modernen Lebenszusammenhängen (vgl. Zierau 2009, 138–140). Letzteres bewirkt eine – häufig humoristische – Irritation, weil durch die Übertragung eines Begriffes aus seinem eigentlichen Kontext in einen anderen dieser dort zunächst ‚unbeheimatet‘ und fremd wirkt. Bei dieser Übersetzung in unterschiedliche kulturelle Milieus bleibt somit das Fremdheitspotential erhalten und es entsteht aufgrund der Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturellen Sphären ein mehrsprachiger und polyphoner Übersetzungsraum. Eine weitere entscheidende erzähltechnische Strategie in der Vermittlung des religiösen Fremdheitspotentials liegt in der Perspektive der Protagonistin, wie auch das Beispiel zu Bismillâhirahmanirrahim schon zeigte (vgl. auch Skiba 2010, 331– 332). Die Protagonistin erwirbt ihr religiöses Wissen primär von ihrer Großmutter, die ihr die islamischen Gebete und Koransuren vorträgt. Z. B.: „Bismillâhirrahmanirrahim Elhamdü lillâhirabbil âlemin. Errahmanirrahim, mâlüki yevmiddin. Iyyakenà’büdü ve iyyake nestè’in. Ihdinessıratel müstekıym; Siratellezine en’amte aleyhim gayril màgdubi aleyhim veleddâllin. Amin Bismillâhirrahmanirrahim Kül hüvallahü ehad. Allahüssamed. Lem yelid velem yüled. Velem yekûn lehu küfüven ehad. Amin“ Als die Buchstaben aus dem Mund meiner Großmutter im Himmel des Friedhofs eine schöne Stimme und ein schönes Bild wurden, pustete meine Großmutter sie mit ihrem Atem nach links und rechts. „Die Toten brauchen es.“ Ich sah die Buchstaben, manche sahen aus wie ein Vogel, manche wie ein Herz, an dem ein Pfeil steckt, manche wie eine Karawane, manche wie schlafende Tiere, manche wie ein Fluß, manche wie im Wind auseinanderfliegende Bäume, manche wie laufende Schlangen, manche wie unter Regen und Wind frierende Bäume. (Özdamar 1999, 17–18)

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Auch hier bleiben die islamischen ritualisierten Gebetssprüche unübersetzt und stellen sowohl für die Protagonistin als auch für das deutsche und nicht-muslimische Lesepublikum Fremdheitspotential dar. Von der Protagonistin wird eine Übersetzung angeboten, die den Klang der Wörter und den Rhythmus der Litanei in Bilder transferiert. Dadurch werden das Gebet der Großmutter und die arabische Sprache sinnlich erfahrbar. Mehrsprachigkeit wird hierbei mehrfach eingesetzt: in manifester Form in den arabischen Gebetswörtern selbst und in deren Transfer in die gewählten Bilder als Versuch, den Sprachklang und -rhythmus zu verbildlichen und zu versprachlichen. An anderen Stellen im Roman eignet sich die Protagonistin die Gebete ihrer Großmutter als Gebete für die Toten an und füllt sie mit eigenen Fürbitten: Bismillâhirahmanirrahim, Elhamdü lillâhirabbil âlemin. Errahmanirrahim, […] Mein Allah, gib bitte diese Gebete für die Seele dieses albanischen Mädchens, das die Süßigkeiten am Petroleumofen gebraten hat. Für die Mutter meiner Mutter, die so jung gestorben ist, für die tote Tochter der Frau auf der heiligen Brücke in Bursa, die meine Großmutter gesehen hat, für die vom Sultan geköpften Sultansmoscheebauarbeiter, den heiligen Karagöz und Hacivat, die so komische Sachen sagten, daß vor Lachen kein Bauarbeiter weiterbauen konnte, für die gestorbenen beiden Schwestern der Frau, die meine Großmutter auf der Straße in Bursa gesehen hat, […] für den toten Atatürk, der den Molière hat übersetzen lassen, für den toten Molière in Bursa, für die tote Isadora Duncan, […] für den sechshundertvierundzwanzigsten Soldaten, der im ersten Weltkrieg gestorben ist […]. (Özdamar 1999, 295–298).

Die Einfügung solcher bis zu drei Seiten gehenden Gebetslitaneien in den Roman ist für Leser*innen zunächst einmal irritierend. Über die manifeste Mehrsprachigkeit hinaus enthalten sie Beispiele latenter Mehrsprachigkeit: Übersetzungen, die im deutschen Sprachgebrauch fremd und unbeheimatet wirken, wie z. B. die „heilige […] Brücke in Bursa“ oder „Sultansmoscheebauarbeiter“. Auch im Sinne einer Hybridisierung religiöser Traditionen finden hier wieder Übersetzungen statt, in deren Rahmen dieses traditionelle Totengebet verfremdet und rekontextualisiert wird. Die Gebete transportieren Erinnerungen an einzelne Personen und an damit verbundene Aspekte der Familien-, Landes- und Kulturgeschichte: Da ist z. B. die traurige Geschichte der Großmutter der Protagonistin, der Mutter ihrer Mutter, die vom Großvater aus verletztem Stolz in den Tod getrieben wurde. Ihr Schicksal erinnert an patriarchale Strukturen in den Geschlechterbeziehungen in Ostanatolien und die Verfügungsgewalt des Mannes über die Frau. Als Beispiel für die Landesgeschichte taucht in den Gebeten der Protagonistin immer wieder das Gedenken an Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gestorben sind und an den „toten Atatürk“ auf.

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Kulturgeschichtlich wird von den Begründern des türkischen Schattenspiels, Karagöz und Hacivat, ein Bogen von eigenen kulturellen Traditionen zu ‚adoptierten‘ europäischen und amerikanischen Kulturgütern geschlagen: der übersetzte Molière und die US-amerikanische Tänzerin und Choreographin Isadora Duncan. Ergänzt werden diese ‚Geschichtsreferent*innen‘ durch die zahllosen Nennungen von zumeist namenlosen Privatpersonen, über die sich die Sozialgeschichte der Türkei in den 1950er Jahren rekonstruieren lässt. Es entsteht ein mehrstimmiger, polyphoner Raum, der eine homogene Vorstellung türkischer Kultur außer Kraft setzt. Die Gebete für die Toten repräsentieren damit die von Bachmann-Medick (2018, 251) konstatierte „Übersetztheit bzw. Vielschichtigkeit von Kulturen“, die sowohl inner- als auch interkulturell transformiert wird. In dem scheinbar wahllosen Nebeneinander bekannter und unbekannter Personen wird hier ein fast utopischer Raum inszeniert, in dem Machtverhältnisse außer Kraft gesetzt und allen, auch minorisierten, in das Gebet eingeschlossenen Menschen gleichermaßen eine Erinnerung gegeben wird. In einem Akt der „Selbstübersetzung“ (Bachmann-Medick: 2018, 41) werden hier ein heterogenes, interkulturelles Bild der türkischen Gesellschaft und die dynamisierenden Einflüsse auf die türkische Kultur gezeigt. Indem die Protagonistin einerseits die religiöse Form des Totengebets aufgreift, dieses aber andererseits subvertiert, was sich durch den Sprach- und Duktuswechsel vom formelhaften Hocharabisch zum Gebet in der eigenen Sprache bereits ankündigt, lässt sich hier auch von der Strategie der Mimikry sprechen: Es wird sich der traditionellen Form angenommen, um sie zu unterlaufen, indem auch Minderheiten wie z. B. der „Seele dieses albanischen Mädchens“ oder der eigenen Großmutter mütterlicherseits eine Stimme gegeben bzw. an ihre Geschichte erinnert wird. Gleichzeitig kommt es dabei auch wieder zu einer Überschreitung und Vermischung der religiösen und lebensweltlichen Ordnungen (vgl. Zierau 2009, 147– 149). Ein weiteres Beispiel, bei dem es ebenfalls zu einer Vermischung und Verhandlung religiöser und lebensweltlicher Sphären kommt, enthält folgende Episode zwischen Vater und Tochter anlässlich des Fastenmonats Ramadan (vgl. auch Zierau 2022, 74–75): „Hast du gefastet, mein schönes Mädchen?“ „Ja.“ „Verkaufst du mir deinen Fastentag für 25 Kuruş?“ „Es ist Sünde.“ „Woher sollst du denn Sünden haben? Verkaufe deinen Fastentag an deinen sündigen Vater.“ Ich verkaufte ihm meinen Fastentag für 25 Kuruş und mit diesem Geld ging ich ins Kino […]. (Özdamar 1999, 60)

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Mit dem Verkauf des Fastentags wird auf eine spezifische Praxis im Islam Bezug genommen: Wenn man aus gesundheitlichen, beruflichen oder anderen Gründen selber nicht fasten kann, sollte man einem Armen Geld für das Essen zum Fastenbrechen geben. Diese Person fastet dann für einen mit. Die Komik der oben beschriebenen Szene liegt zum einen in der wörtlichen Übersetzung der Redewendung vom Verkauf der Fastentage ins Deutsche. Der Satz ist semantisch und syntaktisch korrekt, wirkt aber trotzdem fremd, unbeheimatet. Trotz der Übersetzung dieser Redewendung bleibt durch diese latente Mehrsprachigkeit ein Aspekt der Fremdheit bestehen. Über eine solche Nutzung der deutschen Sprache werden subversiv im Sinne der Mimikry neue kulturelle Erfahrungen in sie eingeschrieben, was wiederum auch als ein Akt der „Selbstübersetzung“ (Bachmann-Medick: 2018, 41) angesehen werden kann bzw. – um mit Seyhans Worten zu sprechen – so werden Erinnerungssplitter in das deutsche literarische Archiv eingeschleust. Gleichzeitig wird die deutsche Sprache ästhetisch kreativ erweitert. Aber auch im Kontext der islamischen Tradition des Ramadan und des sich vom Fasten Freikaufens wirkt die beschriebene Szene verfremdet, da auch hier eine Übersetzung im Sinne einer Überlappung unterschiedlicher gesellschaftlicher Sphären sichtbar wird: Das religiöse Ritual wird in eine weltlich-ökonomische Situation des Verhandelns eingebunden und modernisiert: „Einmal kauft der Vater seiner Tochter ihren Fastentag ab, sie geht mit dem Geld ins Kino […]. Das ist ein Schwank wie aus einem alten Schwankbuch genommen, aber das Kinomotiv bringt einen komischen Kontrast von Tradition und Moderne in ihn hinein“, so Norbert Mecklenburg (2008, 517). Religiöse Tradition und moderne Lebenswelt wie aber auch arabisch-orientalische und euro-amerikanische Kulturbereiche werden dabei zusammengeführt und verhandelt. Die Protagonistin lebt in einem Zwischenraum, der durch die verschiedenen (inter‐)kulturellen Prägungen beeinflusst und überlappt ist und sich dementsprechend als ein mehrsprachiger und polyphoner Übersetzungsraum repräsentiert. Dazu sollen im Folgenden weitere Beispiele vorgestellt werden.

3.2 (Inter‐)kulturelle Übersetzungsräume In der Auseinandersetzung mit kulturellen Sphären des Türkischen, die sich in sprachlichen Varietäten niederschlagen, spielt – wie wir in Bezug auf den religiösen Sprachgebrauch schon gesehen hatten – in diesem Roman die Dichotomie zwischen Tradition und Moderne eine wichtige Rolle. In der familiären Konstellation steht in erster Linie die Großmutter für islamische und ländlich geprägte Traditionen. Ihr Sprachgebrauch ist religiös konnotiert und steht damit im Kontrast zur säkularisierten und modernen, durch internationale und interkulturelle Einflüsse gepräg-

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ten zeitgemäßen Sprache der Eltern der Protagonistin. Folgender Dialog veranschaulicht dies: Zu Hause sagte mein Vater nach dem Essen zu meiner Mutter: „Hast du Schmerzen? Kinder, wir gehen zum Zahnarzt.“ Sie gingen, und meine Großmutter sagte: „Sie sind ins Kino gegangen. Sie gucken sich die nackten Menschen an, sie werden in der Hölle brennen, aber du kannst sie retten.“ „Warum ich, Großmutter?“ „Hast du denn Sünden? Du hast keine. Dein Sündenheft ist leer. Du hast zwei Engel, auf deiner rechten Seite steht der Engel, der deine guten Taten in ein Heft schreibt, der auf deiner linken Seite stehende Engel schreibt deine Sünden. Der Tag, an dem die Menschen ihre Mütter und Väter nicht mehr erkennen, ist der Jüngste Tag.“ (Özdamar 1999, 22)

Die Türkei in den 1950er Jahren ist in den Großstädten durch einen zunehmenden Einfluss amerikanischer Kultur geprägt, was im Roman am wiederholt auftretenden Motiv Kino veranschaulicht wird. Dieser Einfluss konfligiert mit traditionellen religiös und ländlich geprägten Lebensvorstellungen, wie die Großmutter sie verkörpert. Während die Protagonistin – wie bereits gezeigt – religiöse Traditionen durchaus mit modernen weltlichen Neuerungen wie dem Kino in Verbindung bringen kann, stößt dies bei der Großmutter auf Ablehnung. Sie schafft es nicht, sich Übersetzungs- bzw. Zwischenräume aufzubauen, in denen sie traditionelle und moderne Lebensweisen verbinden kann. Dementsprechend bleibt auch ihre Sprache durch den religiösen Duktus gekennzeichnet und wirkt somit fremd im Kontext der Familienkommunikation. Das führt sogar so weit, dass zwischen ihr und dem Rest der Familie ein Riss entsteht: Die „Großmutter konnte nur Dorflieder singen. Mutter sagte: ‚Wir singen klassische Musik.‘ Großmutter faßte ein Stück Brot und wackelte leicht mit ihrem Gebiß, hörte uns zu, als ob sie mit Fremdsprache sprechenden Menschen an einem Tisch säße.“ (Özdamar 1999, 128) Die generationenbedingt unterschiedlichen kulturellen und sozialen Erfahrungen werden somit in Form von innerer Mehrsprachigkeit als innerkulturelle dynamische Prozesse sichtbar, führen für die Großmutter jedoch zu einer Inkommensurabilität und Unübersetzbarkeit der traditionellen und modernen Lebenswelten ineinander. Sie hat das Gefühl, in einer anderen Sprache zu leben bzw. im eigenen Land von einer „Fremdsprache“ umgeben zu sein. Dabei ist ihr die explizite Fremdsprache des Arabischen in ihren islamischen Gebeten offensichtlich näher und weniger fremd als die sprachlichen und kulturellen Entwicklungen des Türkischen. Anders hingegen die Protagonistin, die sich von den unterschiedlichen Lebenswelten inspirieren lässt und an allen teilhaben möchte. Somit gelangt sie dazu, sich hybride, mehrsprachige und polyphone Übersetzungsräume zu schaffen, die allerdings auch auf Widerstand stoßen können, wie folgendes Beispiel zeigt. Während ihrer Sommerferien verbringt die Protagonistin einige Wochen in Malatya, ihrem Geburtsort und Herkunftsort ihrer Mutter, im südöstlichen Teil der

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Türkei. Von hier bringt sie bei ihrer Rückkehr nach Istanbul dialektale Varianten des Türkischen mit, die auf Ungnade bei ihrer Mutter stoßen. Statt ihre Mutter, wie es sich auf Istanbul-Türkisch gehört, mit „Anneciğim“ zu begrüßen, folgt ihre Zunge dem neuen Dialekt: „Anacuğum“: „Die beiden Wörter fochten in der Mitte des Zimmers, wo die Spinnen in großer Ruhe an den Wänden ihre Häuser längerzogen.“ (Özdamar 1999, 53) Trotz Unterstützung durch die Großmutter, die ebenfalls ihr kapadokisches „Anagı“ den Istanbuler Wörtern, die „keinen süßen Geschmack auf der Zunge“ hinterlassen, sondern „wie kranke Äste“ (Özdamar 1999, 53) hintereinander zerbrechen, vorziehen würde, besteht die Mutter auf einer Sprachkorrektur, denn sie fürchtet den Ansehensverlust ihrer Tochter in der Schule, wenn sie diesen Dialekt nicht wieder ablegt: Meine Mutter sagte: „Sprich nicht so, du musst wieder istanbultürkisch, sauberes Türkisch sprechen, verstehst du, in zwei Tagen fängt die Schule an. Wenn du so anatolisch sprichst, werden alle zu dir Bauer sagen, verstehst du? […]“ […] Meine Mutter weinte und schnaubte in die saubere Wäsche: „In der Schule werden sie dir das Leben wie einen engen Schuh anziehen. Ich weine für dich.“ (Özdamar 1999, 53)

Um ihrer Tochter diese Erfahrung zu ersparen, muss das Mädchen „[f ]ür meine Wörter, die ich aus der Stadt, wo meine Mutter und ich geboren wurden, mitgebracht hatte“, „bis abends von vier Lira 10 Kuruş [das Geld hat sie in Malatya von ihrem Onkel bekommen] drei Lira 50 Kuruş Strafe zahlen“: „So schnitten mir İstanbuler Messer mein Anacuğum rasch zu Anneciğim.“ (Özdamar 1999, 54) Der hier geschilderte Sprachenstreit, der am nicht ins Deutsche übersetzten und in den Regionen variierenden Wort für „meine liebe Mutter“ veranschaulicht wird, zeigt dem deutschen Lesepublikum zunächst einmal regionale und dialektale Sprachvarianten und damit eine innere Mehrsprachigkeit des Türkischen auf. Darüber wird eine Heterogenität türkischer Lebensräume angedeutet, die von der Protagonistin an anderer Stelle auch explizit formuliert wird: Malatya „war ein anderer Planet.“ (Özdamar 1999, 48) Zugleich werden über den Konflikt aber auch innertürkische Hierarchien und soziale Ausdifferenzierungen sichtbar: Wer kein Istanbul-Türkisch spricht, wird als rückständig diffamiert. Deshalb müssen die Wörter, die einen „süßen Geschmack auf der Zunge“ hinterlassen, wie es die Großmutter formuliert hatte, wieder entfernt und durch das Istanbul-Türkisch ersetzt werden. Der Versuch der Protagonistin, hier einen mehrsprachigen und polyphonen Übersetzungsraum zu schaffen, der es erlaubt, ihre Erfahrungen und kulturellen Aneignungen aus ihrem Besuch im südostanatolischen Malatya in den großstädtischen und westlich orientierten Lebensraum Istanbul zu integrieren, scheitert am Widerstand ihrer Mutter. Für diese scheinen diese Lebens- und Sprachräume inkommensurabel zu sein, kulturell, ökonomisch und entwicklungsbedingt voneinander abgelöst. Der Protagonistin wird damit die Möglichkeit ver-

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wehrt, einen Übersetzungsraum zu schaffen, in dem die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten der östlichen und westlichen Regionen des Türkischen gleichwertig nebeneinander existieren können. Ihr subversiver Ansatz, das Anatolische ins Istanbulische zu integrieren, scheitert am Dominanzverständnis der Mutter von der Istanbuler Großstadtkultur. An den bisherigen Beispielen zeigt sich, dass die Protagonistin nach Übersetzungsräumen sucht bzw. diese kreiert, die traditionelle und moderne bzw. innerund interkulturelle Aspekte verbindet, während die Mutter – und auch der Vater – sich tendenziell eher von traditionellen kulturellen Anteilen distanzieren und in Rekurs auf die westlichen anglo-amerikanischen Einflüsse nach einem neuen Selbstverständnis suchen. Das deutete die weiter oben zitierte Textstelle zum Kinobesuch bereits an und wird durch folgendes Textbeispiel, in dem die Eltern der Protagonistin mit verschiedenen Rollen, die sie in den amerikanischen Kinofilmen kennengelernt haben, spielen, veranschaulicht: Am Tisch saß mein Vater. Neben seinem Teeglas stand ein Spiegel, er nahm mit der Gabel vom Schafskäse ein Stück und brachte das in den Mund, dabei schaute er in den Spiegel. Dann nahm er das Teeglas und trank Tee, wieder in den Spiegel schauend. Meine Mutter hatte ihre langen Haare nicht mehr. Wo hatte sie ihre vielen Haare gelassen, jetzt sah sie so aus, als ob sie viele dicke Makkaronis auf dem Kopf trug, und eine Locke hing über ihrer Stirn und deckte eins ihrer Augen zu. […] Mein Vater lief im Zimmer hin und her, auf dem Kopf einen Hut, er trug eine Sonnenbrille, und beim Gehen schaute er in den Spiegel, den er jetzt in der Hand hielt. Der Spiegel spiegelte meinen Vater und spiegelte sich selbst an den Wänden des Zimmers. Meine Mutter legte eine Schallplatte auf das Grammophon, aus dem eine sehr komische fremde Stimme ins Zimmer kam. Meine Mutter hielt ihre Hand über diese Platte, und es sah so aus, als ob sie ihre Hände über dieser Stimme wärmen würde. Dann nahm sie ein Glas Wasser und kippte ein halbes Glas Wasser auf den Kragen meines Vaters. Er faßte meine Mutter an ihren Makkaronilocken, küßte sie auf den Mund, ich trat ins Zimmer, mein Vater drehte sich mit seinem rot gefärbten Mund um und sagte: „Was lachst du, meine schöne Tochter, ich bin es, ich bin dein Vater.“ Er holte aus seiner Jackentasche eine Photographie, unterschrieb sie und gab sie mir. Mein Vater sagte mir, er hieße Erol Flayn, dann ging er ans Fenster und sagte: „Chevrolet ist da.“ Er ging aus dem Haus. Ich schaute aus dem Fenster raus, da sah ich Chevrolet. Sein Fahrer wartete, dann kam ein anderer Mann mit einem Hut, und meine Mutter sagte: „Ein Mann wie Humprey Pockart.“ (Özdamar 1999, 27–28)

Durch die wiederholten Hinweise auf die Selbstbespiegelung kann diese Szene zwischen den Eltern im Sinne der poststrukturalistischen Auffassung Lacans (1991) zur Subjektkonstruktion wie eine künstliche Inszenierung und Erprobung von neuen Rollen bzw. Identitäten gesehen werden. Der Vater wird zunächst als ‚Türke‘ vorgestellt: Aus einem Teeglas Tee trinkend und Schafskäse essend ist er mit typischen Requisiten ausgestattet. Hierbei beobachtet er sich sitzend im Spiegel. Dann, den Spiegel in der Hand, verwandelt er sich in einen amerikanischen Filmschau-

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spieler – Errol Flynn – mit einem Hut auf dem Kopf, einer Sonnenbrille und einem Chevrolet, der vor der Tür wartet. Eine ähnliche Verwandlung hat die Mutter durchlaufen. Sie hat sich ihre langen Haare abgeschnitten und stattdessen wohl eine Dauerwelle legen lassen. Ihr kesses Verhalten dem Gatten gegenüber wirkt wie die Wiederholung einer Filmszene und wird in Özdamars Roman Die Brücke vom Goldenen Horn auch als eine Handlung Liz Taylors in einem amerikanischen Spielfilm beschrieben: „Bei diesen alten Filmen war es leicht, die Figuren nachzumachen. Liz Taylor kippte, wenn sie böse auf ihren Geliebten war, ein Glas Wasser über seine Jacke.“ (Özdamar 1998, 156) Die amerikanischen Namen der Schauspieler und des Chevrolets, humoristisch verstärkt durch die Verballhornung von Humphrey Bogart als „Humprey Pockart“ und von Errol Flynn als „Flayn“ sowie die „sehr komische fremde Stimme“, die aus dem Grammophon erklingt, markieren auf einer sprachlich lautlichen Ebene die Fremdheit der ausprobierten Rollen. Unterstrichen wird das durch die aus der Perspektive der Tochter als befremdlich und irritierend wahrgenommenen Veränderungen am Outfit der Eltern, wodurch sich der Vater sogar noch zu dem Satz hinreißen lässt: „Ich bin es, in bin dein Vater.“ Die elterlichen Verwandlungen lassen sich auch als eine Form der Mimikry beschreiben, die in diesen Verballhornungen zum Ausdruck kommt, indem in der Adaption an die amerikanischen Figuren und Rollen gleichzeitig die Abweichung davon sichtbar wird. Diese komisierenden Darstellungen der Transformationen verdeutlichen wie bereits in vielen Beispielen zuvor somit auch die Spannung, die in diesen Prozessen der De- und Rekontextualisierung kultureller Aspekte und der Entwicklung von Übersetzungsräumen liegt, in denen unterschiedliche (inter‐)kulturelle Elemente aufeinandertreffen.

4 Fazit Die Textanalyse hat gezeigt, dass im Roman Das Leben ist eine Karawanserei auf vielfältige Art und Weise Mehrsprachigkeit literarisch inszeniert wird. Sie wird dabei nicht nur manifest als Verwendung unterschiedlicher Sprachen wie des Arabischen, Türkischen und Deutschen eingesetzt, sondern auch latent, indem in Übersetzungen aus dem Türkischen oder Arabischen ins Deutsche das Fremdheitspotential erhalten bleibt und somit ins „deutsche literarische Archiv“ (Seyhan 2016, 20) eingeschleust wird. „Imaginationen der Homogenität“ (Hofmann und Patrut 2015, 7) werden durch literarästhetisch inszenierte Mehrsprachigkeit wirkungsvoll unterlaufen und sie ermöglicht es, dass „in der eigenen Sprache das Fremde als Fremdes […] transparent“ (Hofmann 2020, 74) wird. Darüber hinaus finden Übersetzungen im Sinne von De- und Rekontextualisierungen von Hand-

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lungen, Ritualen, Rollenbildern etc. in unterschiedliche kulturelle Ordnungen statt, die die Polyphonie der Übersetzungsräume bewirken und im Sinne der Mimikry auch zu einer Subvertierung dominanter Ordnungen beitragen können. In diesen Übersetzungsräumen geht es dabei nicht nur um die Vermittlung von Fremdheitspotential im Sinne der ‚türkischen‘ Kultur an ein deutschsprachiges Lesepublikum. Zuallererst geht es um die Vermittlung der innertürkischen Dynamik der kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche der 1950er und 1960er Jahre, die zu einem Nebeneinander und zu Überlappungen unterschiedlicher kultureller Ordnungen führen. Das Bild, das dabei von der Türkei und den Figuren des Romans gezeichnet wird, ist vielfältig. Nicht allen gelingt es so wie der Protagonistin, sich hybride, polyphone und mehrsprachige Räume zu schaffen. Für die Eltern wie auch für die Großmutter kommt es entlang der Dichotomie von Tradition und Moderne auch zu Inkommensurabilitäten, die es ihnen unmöglich machen, bestimmte kulturelle Aspekte in andere Sphären zu übertragen. Durch die vielseitigen narrativ ästhetischen Inszenierungen von Mehrsprachigkeit in der Karawanserei wird gezeigt, dass es möglich ist, sprachliche und kulturelle Übersetzungsprozesse zu initiieren, bei denen eine „kritische, fremdheitserhaltende Übersetzungsperspektive“ (Bachmann-Medick: 2018, 270) erhalten bleibt. Dadurch widersetzt sich der Text dominanzkritisch einem Monolingualismus wie auch der Vereinnahmung und Auslöschung von kultureller Diversität. Die hybriden Zwischenräume werden somit als postkoloniale Übersetzungsräume lesbar, in denen Fremdes, Unbeheimatetes der jeweiligen Sprache bzw. kulturellen Sphäre nicht adaptiert, sondern in ein dynamisches Spannungsverhältnis gesetzt wird. In diesem Sinne kann Özdamars mehrsprachige Erzählweise durchaus als ein Modell postkolonialen Übersetzens, Kulturbeschreibens und Kulturverhandelns angesehen werden.

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Swen Schulte Eickholt

Fluchterfahrung Mahi Binebine, Luiz Ruffato und Friedrich Christian Delius im Vergleich Zwei verlumpte Männer streichen erschöpft durch die Gassen von Tanger. Der eine bleibt abrupt stehen und starrt wie hypnotisiert in die Auslage eines Elektrofachgeschäfts. Erst nach einer Weile bemerkt sein Begleiter, dass er den Bildschirm eines Fernsehers betrachtet. Nach kurzer Zeit gibt es keinen Zweifel mehr: Die Leichen, die dort von den spanischen Behörden aus dem Wasser geborgen werden, sind jene verzweifelten Flüchtlinge, mit denen sie am Vorabend fast die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer angetreten wären.

1 Methodische Perspektiven auf Flucht als europäisches Phänomen Nach der Genfer Flüchtlingskonvention wird unter einem Flüchtling „eine Person verstanden, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.“ (Art. A 2., nach Luchterhand 2010, 247) Entsprechend ist Flucht, wenn auch kein Begriff des Völkerrechts, ein „nicht wirklich freiwillig geschehendes individuelles oder kollektives Entweichen“ (Luchterhand 2010, 245) aufgrund von (befürchteter) Verfolgung. Unter diese Kategorie fallen die Protagonisten aus Luiz Ruffatos Roman Ich war in Lissabon und dachte an dich (2015)¹ und Friedrich Christian Delius’ Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1998)² nicht und von den vielen Figuren in Mahi Binebines Kannibalen (2003)³ nur eine im strengen Sinne der existentiellen Verfolgung. Nach Jochen Oltmer lassen sich die Protagonisten der drei Romane allerdings auch kaum in die gängigen Schemata von Migration einordnen (vgl. Oltmer 2017).⁴ Ob sie illegal ihren Staat

1 Im Folgenden direkt im Text unter der Sigle IwL nachgewiesen – im Text finden sich viele Kursivierungen im Original. 2 Im Folgenden direkt im Text unter der Sigle SnS nachgewiesen. 3 Im Folgenden direkt im Text unter der Sigle K nachgewiesen. 4 Frauke Schacht weist darauf hin, dass die Begriffe Flucht und Migration eine Klarheit in der Sache nahelegen, die es de facto nicht gibt, wie es auch das Personal der untersuchten Romane nahelegt. https://doi.org/10.1515/9783111181530-003

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verlassen, am Ende ohne Pass in der Fremde stranden oder gar als staatenlose Harragas versuchen, nach dem Verbrennen ihrer Papiere unter extrem hohem Risiko auf kleinen Motorbooten das Mittelmeer zu überqueren, am Ende eint sie die Unmöglichkeit, auf legalem Weg an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Hier soll nun keine neue Kategorie zwischen Flüchtling und Migrant vorgeschlagen werden, sondern vielmehr die geisteswissenschaftliche Freiheit von der klassifizierenden Statistik genutzt werden, um grundsätzlichere Fragen nach den Ursachen dieser Fluchtversuche zu stellen. Dafür schien es ratsam, keine der Texte auszuwählen, die sich auf Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konventionen beziehen, die vor extremer, häufig durch kriegerische Handlungen ausgelöster Gewalt oder Verfolgung fliehen. Das weite Feld politischer Verfolgung wurde aus dem gleichen Grund ausgespart. Dabei glaube ich, dass bestimmte Grundstrukturen von Aufbruch und Ankunft sich in allen Formen von Flucht und Migration finden lassen, wenn auch in ganz unterschiedlichem Maße. Die Texte eint ebenfalls die Flucht nach Europa – bei Delius der Sonderfall der Flucht aus der DDR. Ob Ursachen und Struktur einer Flucht nach Europa wesentlich verschieden sind von denen der Binnenmigration etwa in Afrika oder Asien oder von Mexiko in die USA, kann hier nicht entschieden werden. Es stellen sich mit der Einwanderung nach Europa allerdings ganz konkrete Fragen nach dem europäischen Selbstverständnis, die in den letzten Jahren in nationaler Verengung in der germanistischen Literaturwissenschaft in aller Regel als Fragen des deutschen Selbstverständnisses verhandelt wurden. Netzwerke, institutionelle Struktur, Möglichkeiten der Arbeit, illegal oder nach Gewährung des Asyls, mögen sich in den europäischen Ländern teilweise recht grundsätzlich unterscheiden, es bleibt ein Faktum, dass Hauptziel illegaler Einwanderung in erster Linie die Stürmung der Festung Europa ist. Auf welch unterschiedliche Weise das gedacht und geleistet werden kann, wird am Rande auch zu besprechen sein. Wichtiger erscheint mir die Änderung der Perspektive, die nötig ist, um illegale Einwanderung als europäisches Phänomen zu fassen und zu verhandeln. In einem ersten Schritt möchte ich daher mit Rückgriff auf Thesen und Theorien von Naika Foroutan, Ulrich Beck und Edgar Grande, Aleida und Jan Assman, Michael Rothberg, Leo Kreutzer und Ottmar Ette eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf Flucht herleiten, unter der sie als gestaltender Teil des kulturellen Selbstverständnisses Europas verstanden werden muss. Es wird sich zeigen, dass literarische Figurationen von Flüchtenden und

Sie optiert für den Doppelbegriff FluchtMigration, was mir nachvollziehbar, aber zu sperrig erscheint – auch stellt sich die Frage, ob den Diskursen immer neue Kunstwörter guttun. Wenn im Folgenden beide Termini verwendet werden, geschieht das eingedenk der Unschärfe der Begriffe (vgl. Schacht 2021, 9.).

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Narrative der Flucht einen maßgeblichen Anteil am Selbstverhandlungsprozess europäischer Identität haben oder zumindest haben sollten.

1.1 Postmigration und kosmopolitisches Europa Warum erscheint mir die von Naika Foroutan stark gemachte postmigrantische Perspektive als sinnvoller Theorierahmen, wenn doch Flüchtlinge explizit nicht als Migranten im engen Sinne gelten (vgl. Foroutan 2021, 56)? Foroutan geht von einer grundsätzlichen Ambivalenz demokratischer Gesellschaften aus, die darin besteht, dass Freiheit und Gleichheit in einer strukturellen Spannung zueinander stehen (vgl. Foroutan 2021, 44). Pluralität wird nach Foroutan damit zu einer „paradoxale[n] Bezugsgröße“ (Foroutan 2021, 31), da auch die Minderheiten ein im Grundgesetz verankertes Recht auf Gleichheit und Teilhabe haben, das in spannungsvollem Verhältnis zu den historisch erarbeiteten Freiheiten und Vorrechten der Mehrheitsgesellschaft steht, die derzeit demokratiespezifische Probleme über das Thema Migration austrägt. Es dürfte schon jetzt deutlich sein, dass die sogenannte Flüchtlingswelle – wenn auch illegal Eingewanderte nicht auf die gleichen Grundrechte wie legale Migranten pochen können – den Diskurs über die Grundwerte der demokratischen Gesellschaft stark prägt. Für Foroutan soll „[d]as Brechen der Aufmerksamkeitsakkumulation gegenüber Migration und das Erkennen der dialektischen Funktion von Migration für die Aushandlung der pluralen Demokratie […] als postmigrantische Perspektive bezeichnet werden.“ (Foroutan 2021, 32) Ob irgendeine Form des Sprechens über Migration die Aufmerksamkeitsakkumulation brechen kann, braucht hier nicht entschieden werden – und ist für eine literaturwissenschaftliche Perspektive auch nicht relevant. Wenn Moritz Schramm eine „postmigrantische Perspektive“ für die Literaturwissenschaft vorschlägt, „die sich potentiell auf alle literarischen und künstlerischen Texte, unabhängig vom Hintergrund der jeweiligen Autor_innen, beziehen lässt“ (Schramm 2018, 83), so möchte ich diesen Vorschlag hier aufgreifen und insofern variieren oder nochmals präzisieren, dass die postmigrantische Perspektive eben, wie Foroutan mehrfach betont, kein Nach der Migration meint, sondern eine Gesellschaft, die durch Migration verändert und geprägt wurde und ihr Selbstverständnis dadurch verhandelt. Für literarische Repräsentationen von Flucht und Migration bedeutet das, dass sie aktiv teilhaben und eingreifen in einen Diskurs über das Selbstverständnis der deutschen und europäischen Gesellschaft. Zur Disposition steht, welchen Erinnerungen im europäischen Archiv zugestanden wird, Identität mitzugestalten. Aus fachlichen Gründen verständlich verhandelt Foroutan die Frage der Postmigration in erster Linie anhand der deutschen Gesellschaft. Ich denke aber, für die

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Literaturwissenschaft ist eine europäische Perspektive angebracht, wie ich später auch methodisch begründen werde. Ulrich Beck hat sich in vielen, im aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskurs zu wenig berücksichtigten Texten mit der Stellung Europas in der von ihm als zweite Moderne bezeichneten Epoche beschäftigt.⁵ „Europa“, so Beck und Grande, „ist ein anderes Wort für variable Geometrie, variable nationale Interessen, variable Betroffenheit, variable Innen-Außenverhältnisse, variable Staatlichkeit, variable Identität“ (Beck und Grande 2017, 16). Damit ist Europa das ideale politische Gebilde für eine kosmopolitische Perspektive. Im Gegensatz zum Nationalismus, der einer Entweder-Oder-Logik von Innen und Außen folge, habe der Kosmopolitismus die „Anerkennung von Andersheit zur Maxime“ (Beck und Grande 2017, 27) erhoben. „Unterschiede werden weder hierarchisch geordnet noch aufgelöst, sondern als solche akzeptiert, ja positiv bewertet.“ (Beck und Grande 2017, 27) Im Sinne Julliens wäre die liberale Ausrichtung auf Unterschiede eine Ressource europäischer Kultur (vgl. Jullien 2017, 63). Dass diese Ressourcen der Pflege bedürfen, zeigt der aktuelle Vormarsch populistischer Parteien in Europa, der, wie Harry Lehmann (2021) richtig zu bedenken gibt, weniger eine Gefahr für die Demokratie, sondern für den Liberalismus ist – und damit für den Kern des europäischen Projekts. Der Kosmopolitismus in Becks und Grandes Perspektive ermöglicht hingegen, „die Anderen als verschieden und als gleich wahrzunehmen.“ (Beck und Grande 2017, 27.) Für die nachfolgenden Überlegungen ist dabei besonders die Einsicht zentral: „In der radikalen Unsicherheit der Welt sind alle gleich, und ist jeder anders.“ (Beck und Grande 2017, 28) Für Beck und Grande ist der Kosmopolitismus damit in einer paradoxen Wendung eine „reale Utopie“, die es zu vergegenwärtigen gilt. Ein „[r]eflexiver Kosmopolitismus“ soll ähnlich der postmigrantischen Perspektive und in meinem Dafürhalten in Erweiterung derselben als „regulative[s] Prinzip“ wirken, „mit dessen Hilfe das Zusammenwirken universalistischer, nationaler und kosmopolitischer Prinzipien“ (Beck und Grande 2017, 32) begriffen und geregelt werden kann. Ähnlich der postmigrantischen Perspektive, die sich der binären Logik aus Integration oder Parallelgesellschaft entzieht, formulieren auch Beck und Grande eine inklusiv duale Logik des Sowohl-als-Auch (vgl. Beck und Grande 2017, 51). Eine Entscheidung für Europa ist insofern keine Schwächung des Nationalstaates (Entweder-Oder), sondern im Gegenteil eine Stärkung auch nationaler Identität. Dank der doppelten Staatsbürgerschaft kann man zugewandert und deutsch sein (und 5 Die zweite Moderne als Begriff ist in vielen Publikationen von Beck profiliert und in der Soziologie breit besprochen. Hier ist ein Abriss nicht möglich. Es gibt weite Überschneidungsräume mit bestimmten Definitionen der Postmoderne oder der flüssigen Moderne, die hier nicht dargestellt werden sollen. Der Bezug zu Beck soll keine grundsätzliche Übereinstimmung mit seinen Thesen zur zweiten Moderne bedeuten.

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eben eine europäische und deutsche Identität vertreten) und beide Nationalitäten haben. An diesem Punkt wird es allerdings Zeit, den Gedankengang an kulturwissenschaftliche Theorien zurückzubinden. Gerade auch Michael Rothbergs Theorem der multidirektionalen Erinnerung funktioniert ebenfalls nach der Sowohl-alsAuch-Logik und hilft, die sozialwissenschaftliche Theorie kulturwissenschaftlich praktikabel und schließlich literaturwissenschaftlich anwendbar zu machen.

1.2 Multidirektionale Erinnerungskultur Michael Rothbergs Auseinandersetzung mit dem Holocaustgedenken⁶ gleicht konzeptionell Beck und Grandes Überlegungen zu Europa. So wie Europa einer Sowohlals-Auch-Logik gehorchen könne, sieht Rothberg in vielen Formen nationalen Gedenkens die problematische Vorstellung eines „Nullsummenspiels“ (Rothberg 2021, 34) – in dieser Vorstellung, die dem nationalistischen Entweder-Oder bei Beck und Grande entspricht, konkurrieren die Erinnerungen. Ein Gedenken des Holocaust verdränge so zwangsläufig das Gedenken an andere Katastrophen aus der Menschheitsgeschichte; ein analogisches Denken würde die Einzigartigkeit des Holocaust untergraben und ihn damit relativieren. Auf die besondere Form des Holocaustgedenkens braucht hier nicht eingegangen zu werden. Methodisch interessant erscheint mir, was Rothberg in einem reflektierenden Interview postuliert, das der deutschen Übersetzung von Multidirectional Memory vorangestellt ist. Hier fordert er die Etablierung einer „nuancierten Ethik des Vergleichs“ (Rothberg 2021, 11) und fasst das Potential seiner Theorie zusammen: „Was ich an einem solch multidirektionalen Zugang schätze, ist die Möglichkeit, Erfahrungen zusammenzudenken, die sich deutlich voneinander unterscheiden und die dennoch Berührungspunkte haben – und dadurch gegenseitiges Verständnis erwecken können.“ Was damit geleistet werden kann sei „eine neue ‚Landkarte‘ der multidirektionalen Erinnerung.“ (Rothberg 2021, 12.) Sicherlich ist ihm zuzustimmen, wenn er festhält: „Solidarität erfordert keine Identifikationen, die die realen materiellen Unterschiede der Standorte und Erfahrungen auslöschen.“ (Rothberg 2021, 13.) Das ist nah an Beck und Grandes Entwurf eines Europas der Differenz, das Ähnlichkeit und Unterschiede gleichzeitig zulässt und bedroht ist von illiberalen Tendenzen insbesondere populistischer Herkunft des Entweder-Oder. Wenn mit Beck und Grande nochmals daran erinnert werden kann, dass Europa neben handfesten Institutionen und klar – und schmerzhaft – umgrenzten Nationalstaaten auch ein utopischer Raum mit unklaren Grenzen ist (Beck und

6 Die m. E. problematische Verwendung des Begriffs Holocaust übernehme ich hier von Rothberg.

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Grande 2017, 23), wird deutlich, dass die Frage, welche Narrationen Teil am europäischen Selbstverständnis haben, immer wieder neu zu verhandeln ist. Alle im Folgenden analysierten Fluchtgeschichten haben einen unmittelbaren Europa-Bezug. Europa als Staatenverbund steht in einem spannungsvollen Verhältnis zu den Eigeninteressen der Staaten, die sich hier verbinden. Nationalstaaten, das betonen auch Beck und Grande, funktionieren über stabile Grenzen, über Strategien von Inklusion und Exklusion. (Beck und Grande 2017, 92.) Wo endet, wo beginnt Europa? Wo endet, wo beginnt Deutschland? Welche Form und Reichweite kann ein europäischer Kosmopolitismus haben? Welche Form und Reichweite hat das multidirektionale Erinnern? Welche Werke kommen in den Kanon? Was ist deutsche Gegenwartsliteratur? Das alles sind Fragen, die im Sinne postmigrantischer Gesellschaftsanalyse auch und gerade über das Phänomen der Flucht verhandelt werden. Aleida Assmann betont in ihrem Standardwerk Erinnerungsräume die Bedeutsamkeit des Archivs: „Kontrolle des Archivs ist Kontrolle des Gedächtnisses.“ (Assmann 2003, 344.) Hier zu der komplexen Thematik des kulturellen Gedächtnisses nur einige knappe Überlegungen, um den bisherigen Theorierahmen zu profilieren. Mit Foucault fasst Assmann das Archiv als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ (Foucault 1973, 186, zit. nach Assmann 2003, 346). Für die Literatur ist das Archiv der Prüfstein für die „Differenzqualität des Neuen“ (Assmann 2003, 347). Mit Bezug zu Derrida betont Assmann allerdings, dass Literatur gerade dann in das Archiv (den Kanon) wandert, wenn ihre Aussagen sich einem klaren Verständnis entziehen. Diese – moderne – Perspektive auf Kunst betont ihre anhaltende Inkommensurabilität, was gerade für das Archiv ein Reservoir stets neuer Aktualisierungen bedeutet. Wichtig ist der Hinweis, dass ein gelenktes nationales Gedächtnis oftmals eine kurze Halbwertszeit haben kann (vgl. Assmann 2022), gleichzeitig aber mit der Herrschaft über das Archiv enorme Auswirkungen auf das hat, was gedacht werden kann. Das kulturelle Gedächtnis kann mit Rückgriff auf das Archiv als Koordinatensystem verstanden werden, das festlegt, an was sich wie erinnert wird, um welche Zukunft zu erreichen (vgl. Assmann 1988, 9‒19). Dass das kulturelle Gedächtnis in einer postmigrantischen Gesellschaft Ort vehementer Auseinandersetzungen ist, zeigt sich in ständig neuen Debatten um nationales und europäisches Selbstverständnis. Wie stark die EU und die Nationen auf das Archiv Einfluss nehmen, sollte dabei nicht unterschätzt werden. Wenn schon in den 1990er Jahren nur 1 % der Textmenge in das Archiv aufgenommen wurde (vgl. Assmann 2003, 345) und „Ausmisten und Wegwerfen zu einer nicht weniger wichtigen Tätigkeit der

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Archivare“ (vgl. Assmann 2003, 345) geworden ist wie Bewahren und Sammeln,⁷ ist die positive Idee, multidirektionale Erinnerung wäre keine Erinnerungskonkurrenz, zumindest relativiert. Was erinnert wird, ist oft genug Teil einer bewussten Strategie. Für die Literaturwissenschaft heißt das in erster Linie eine Diskussion darüber, welche Texte überhaupt besprochen werden und warum.

1.3 Entwicklungs- und Überlebenswissen Die Frage, warum Texte aus der so genannten Peripherie in den Kanon oder vorerst in das Blickfeld auch einer germanistischen Literaturwissenschaft geraten sollten, möchte ich nur ganz kurz anhand zweier Begriffsprägungen von Leo Kreutzer und Ottmar Ette umreißen. Das Lebens- oder Überlebenswissen von Literatur, wie Ottmar Ette es bezeichnet, sei es, „das die Literatur – und im besten Sinne auch die Philologie – von all ihren Anfängen her auszeichnet und buchstäblich überleben lässt.“ (Ette 2017, 11) Damit künde Literatur ganz praktisch von dem Wissen, das Leben in unterschiedlichsten Situationen zu meistern, und die Philologie werde zur „Lebenswissenschaft“ (Ette 2017, 2). Im etwas überzogenen Lebens-Vokabular Ettes heißt das: Vom Leben in den Literaturen der Welt wird folglich wenig erfahren, wer sich bemüht, sie auf eine einzige politische, mediale, kartographische, geokulturelle oder ästhetische Logik zu reduzieren. Wer sich dem viellogischen Leben der Literaturen der Welt aber so annähert, dass sich das LebensWissen in ein ErlebensWissen transformiert und aus dem ÜberLebensWissen ein ZusammenLebensWissen entsteht, der hat die Chancen gut genutzt, welche die Literaturen der Welt all jenen bieten, die sich nicht der Falle der Zufriedenheit im Zeichen einer vorgeblichen Fülle, sondern der unabschließbaren Suche im Zeichen eines Fehlens, eines Mangels, eines Entbehrens anvertrauen. (Ette 2017, 67)

Auch wenn ich mit der pathetisch anmutenden Positionierung der Philologie als Lebenswissenschaft Probleme habe, wird eine Intention deutlich, welche die literaturwissenschaftliche Perspektive an den bisherigen Theorierahmen anschließbar macht. Im Sinne eines multidirektionalen Erinnerns können die Literaturen der

7 Die Auswirkungen der neuen Speichermedien, aber auch der neuen Möglichkeiten der geradezu grenzenlosen Textproduktion, sind da noch gar nicht erfasst. Erstere dürften in Kombination mit Suchalgorithmen ein explosionsartiges Wachstum des Archivs bedeuten, das dann allerdings völlig ungeordnet und weitgehend egalisiert ist. Was man unter den Bedingungen des Internets als Archiv verstehen möchte, ist noch zu klären. Dass auch das Internet nicht unendlich und Digitalität durchaus an Materialität gebunden ist, bleibt ein anderes Thema. Digitalisierte Texte sind keineswegs für immer gesichert.

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Welt dabei helfen, zu konturieren, wie wir uns als Gesellschaft positionieren wollen. Der Literaturwissenschaft käme die Aufgabe zu, entsprechende Texte in den Diskurs einzuspeisen und vergleichend ins Gespräch zu bringen. Eine genauere Positionierung halte ich allerdings für geboten, um die Anforderungen an das Archiv methodisch begründen zu können. Denn bei aller Begeisterung für die Literaturen der Welt wird niemals alles eine Rolle spielen können, was weltweit produziert wird. Begründbar ist eine Integration von Weltliteratur in einem extensiven Sinne entweder über Identitätsverhandlungen, was wir als europäische Literatur, Kultur, Werte, etc. begreifen wollen, oder im Sinne der multidirektionalen Erinnerung über vergleichbare Kulturthemen – die Vergleichsgröße wird dann aber in aller Regel eine vertraute sein, wie gleich noch profiliert werden soll. Nach Leo Kreutzer enthält Literatur ein spezifisches Entwicklungswissen (Kreutzer 1989, 26),⁸ das sich als „Auseinandersetzung einer bestimmten Tradition mit der jeweils sie ereilenden ‚Moderne‘ darstellt.“ (Kreutzer 1989, 17) Methodisch – Kreutzers Publikation ist immerhin von 1989! – wäre daran zu korrigieren, dass Literatur keinesfalls stellvertretend für eine Tradition spricht, sondern – zumindest unter Maßgabe moderner Ästhetik – in aller Regel Widerstände gegen traditionelles Wissen mobilisiert. Gerade die Moderne – und damit Europa⁹ – als Projekt braucht diese Formen widerständigen Entwicklungswissens, um in ihrer Dynamik den wechselnden Anforderungen an eine liberale Gesellschaft nachkommen zu können.

8 Kreutzer geht hier von Ungleichzeitigkeiten kultureller Entwicklung aus, die aus der hegemonialen Position Europas als Rückständigkeit der übrigen Welt erscheint, die gefälligst aufzuholen hat. Kreutzer setzt diesem nivellierenden Denken der richtigen Entwicklung ein Denken entgegen, das in literarischen Texten exemplarisch verdichtete Darstellung von Konflikten kultureller Entwicklung zu erkennen vermag. Die Ungleichzeitigkeit der Weltliteratur ist damit in keiner Weise Ausweis der Rückständigkeit anderer Kulturräume, sondern im Gegenteil Anreiz, über Fehlentwicklungen der eigenen Kultur nachzudenken. Warum wird das zeitlich Ferne als nostalgisches Reiseziel in andere Orte verlagert, wenn nicht, weil sich in der Sehnsucht nach der Vergangenheit Verlusterfahrungen spiegeln, die allerdings auf andere Orte zu übertragen eine Fehlleistung hegemonialen Denkens ist. Nicht ganz unproblematisch bleibt der Entwicklungsbegriff dennoch, da auch Kreutzer bisweilen impliziert, wir könnten in anderen Kulturen ältere Entwicklungsformen unserer Gesellschaft erblicken – auch wenn er positiv gewendet dadurch Fehlentwicklungen Europas sichtbar machen möchte. Konsequent erscheinen durchaus Kreutzers Re-Lektüren von Goethe und Hölderlin unter dieser Perspektive. 9 Nach Beck und Grande ist Europa nur im Kontext der Moderne denkbar. In einer vormodernen Gesellschaftsstruktur hätte sich ein solches Projekt schlicht und ergreifend nicht ausbilden können (vgl. Beck und Grande 2007, 54.).

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1.4 Doppeltblicken Zuletzt eine methodische Konkretisierung. Mit dem Konzept Doppeltblicken – das Ette eher als viellogische Lektüre fassen würde – schlägt Leo Kreutzer einen Analyserahmen vor, der sich insofern von konkret komparatistischen Verfahren absetzt, als er keinerlei direkten Einfluss eines Textes auf einen anderen voraussetzt (vgl. Kreutzer 2009, 58‒60). Damit ist chronologische Vor- oder Nachzeitigkeit ebenso obsolet wie andere denkbare Hierarchisierungen (Europa, der Rest etc.). Um Texte in einer solchen Form des informierten Vergleichs miteinander in einem gleichsam vom Philologen selbst geschaffenen dritten Raum¹⁰ ins Gespräch zu bringen, benötigt man allerdings ein tertium comparationis, das den Vergleich motiviert. Im Sinne eines Entwicklungs- oder LebensWissens in diesem konkreten Fall: Fluchterfahrungen. Als kulturwissenschaftliche Perspektive der Literaturwissenschaft geraten damit universelle menschliche Erfahrungen in ihrer konkreten kulturellen Ausgestaltung in den Blick, die im Sinne einer multidirektionalen Landkarte der Erinnerungen dazu beitragen können, das postmigrantische und kosmopolitische Europa mitzugestalten.

2 Fluchterfahrungen bei Binebine, Ruffato und Delius Zwei verlumpte Männer streichen erschöpft durch die Gassen von Tanger. Der eine bleibt abrupt stehen und starrt wie hypnotisiert in die Auslage eines Elektrofachgeschäfts. Erst nach einer Weile bemerkt sein Begleiter, dass er den Bildschirm eines Fernsehers betrachtet. Nach kurzer Zeit gibt es keinen Zweifel mehr. Die Leichen, die dort von den spanischen Behörden aus dem Wasser geborgen werden, sind jene verzweifelten Flüchtlinge, mit denen sie am Vorabend fast die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer angetreten wären. „Man fischt jeden Tag ‚Harragas‘ aus dem Wasser. Nein, das ist reiner Zufall. Es gibt keinen Beweis, dass sie das sind […]“ (K 152), versuchen sie sich zu beruhigen, aber sie wissen es besser. Zu diesem Zeitpunkt geht es dem Leser wie den Protagonisten in Mahi Binebines Roman Kannibalen: Man kennt die Menschen, die dort ertrunken sind. Sie sind nicht mehr irgendwelche Harragas, sie haben Namen und eine Geschichte. Auf beiden Seiten des Mittelmeers werden die ertrinkenden Flüchtlinge als anonyme Menge verarmter Verzweifelter wahrgenommen – selbst von ihren Schicksalsgenossen. Ein Gebot vielleicht des Alltags, um ihn ertragen zu können. Aber das geht nicht mehr, 10 Hier in leichter Abwandlung von Bhabhas Konstrukt zu verstehen (vgl. Bhabha 2007, 55‒56).

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sobald diese Menschen ein individuelles Schicksal haben, sobald man sich mit ihnen identifizieren konnte, Empathie empfunden hat. Tatsächlich ist die Geschichte, die sie erzählen können, das größte Kapital der Flüchtenden. Wie Shumona Sinha in ihrem zynischen Roman Erschlagt die Armen (2015) vor Augen führt: Die Narration der Fluchtursachen muss gerade für die europäischen Behörden plausibel sein, um Asyl gewährt zu bekommen. Eine neue narrative Gattung mit bitterem Realitätsstatus: die Fluchterzählung auf dem Amt. Auch hier ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität mit verschwimmender Tusche gezogen. Im Folgenden geht es allerdings um in der Fiktion reale Geschichten. Die Darstellung wird nicht die drei Werke nacheinander abhandeln, sondern sich an besonders wichtigen Figurationen, Symbol- und Themenbereichen orientieren und jeweils alle drei Werke für die Darstellung heranziehen. Ziel des synchronen Vorgehens ist es, vergleichbare Elemente der Fluchterfahrung besonders prägnant herauszuarbeiten. Das geht methodisch zu Lasten der interpretatorischen Tiefenschärfe im Bezug auf das einzelne Werk, was hoffentlich durch eine profiliertere Darstellung der Fluchterfahrungen ausgeglichen wird. Da durch die diskussionswürdige Weitung des Kanons Kenntnis der Werke nicht mehr vorausgesetzt werden kann, gebe ich eine knappe Zusammenfassung vor der Analyse.

2.1 Zusammenfassung der drei Romane Mahi Binebine: Kannibalen: Der Marokkaner Azûz und sein Cousin Reda fliehen vor dem Mangel an Perspektiven bis nach Tanger. Dort wollen sie mit einer Gruppe nordafrikanischer Flüchtlinge als Harragas über das Mittelmeer nach Spanien fliehen und ein neues Leben beginnen. Der homodiegetische Erzähler Azûz berichtet von den vielfältigen Lebensgeschichten der Mitglieder der kleinen Gruppe, wobei er die Geschichten der anderen als heterodiegetischer, nullfokalisierender wiedergibt berichtet.¹¹ Am Ende verpassen Azûz und Reda die mitternächtliche Abfahrt des kleinen Motorboots, weil Reda eine Panikattacke bekommt. Erst am nächsten Tag erfahren sie, dass das Schiff gekentert ist und alle Insassen ertranken. Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus: Paul Gompitz möchte auf den Spuren seines Idols Seume eine Bildungsreise nach

11 Nach der ontologischen Logik müsste Azûz homodiegetischer Erzähler bleiben. Allerdings war er jeweils nicht anwesend, bleibt aber Erzählinstanz, wodurch eine größere Distanz zu den Geschichten der anderen realisiert ist und er als Erzähler Kontur gewinnt. Die narratologische Unschärfe kann hier in Kauf genommen werden, da die Fokalisation keine tragende Bedeutung für die Analyse hat – Fokalisierungskonzeptionen für Fluchtgeschichten wären allerdings ein ergiebiges Forschungsthema.

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Syrakus unternehmen. Als Bürger der DDR wird ihm die Ausreise allerdings nicht genehmigt. Alle legalen Ausreiseanträge scheitern. Paul beschließt, die DDR illegal zu verlassen, um seinen Wunsch zu erfüllen. Die Flucht plant er über sieben Jahre akribisch und kleinteilig. Genauso allerdings seine Rückkehr, die von Anfang an vorgesehen ist. Die Flucht gelingt, der Westen enttäuscht ihn allerdings ebenso wie seine Reise. Hat er auch bisweilen intensive und freudige Momente, so fehlen ihm Freunde und Heimat. Zurück in der DDR wird er kurzfristig inhaftiert und von der Stasi verhört. Allerdings wird er unerwartet mild behandelt. Er kehrt im Oktober 1988 zurück. Der Roman ist heterodiegetisch erzählt und wird von einem Gespräch zweier nicht näher benannter Figuren gerahmt. Luiz Ruffato: Ich war in Lissabon und dachte an dich: Der Brasilianer Serginho stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Als seine psychisch kranke Freundin unerwartet schwanger wird, heiratet er sie. Kurz darauf lässt sie sich allerdings von ihm scheiden. Auch finanziell am Ende beschließt er, nach Lissabon auszuwandern. Mit einem Touristenvisum hat er per Flugzeug die denkbar leichteste Fluchtroute. Dennoch kann er als illegaler Einwanderer nicht Fuß fassen. Am Ende steht er ohne Pass, verarmt und einsam in einem Land, in dem er ein Mensch zweiter Klasse ist. Die Geschichte ist in zwei Teile gegliedert, welche nach ihren Überschriften zu urteilen nur davon berichten, wie der homodiegetische Erzähler Serginho mit dem Rauchen aufhört und wieder anfängt. Die gescheiterte Flucht wird damit zur bloßen Ursache dafür verkleinert, ein Laster wieder aufzunehmen.

2.2 Der Pass „Der Pass ist der edelste Teil eines Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch“, wie ‚der Untersetzte‘ in Brechts Flüchtlingsgesprächen (1967, 1383) bekanntlich mit ungebrochener Gültigkeit formuliert. So kann es nicht verwundern, dass der Pass in Migrationstexten eine gleichermaßen konkrete wie symbolische Bedeutung erhält. Einerseits wird die existentielle Wichtigkeit eines Passes deutlich, andererseits wird auf den symbolischen Wert von Pässen in der Realität verwiesen. Pässe erscheinen leitmotivisch in allen drei Romanen, um auf den prekären Status der Flüchtenden zu verweisen. Bei Ruffato wird das Recht auf eine selbstberechtigte Existenz, wie sie bei aller wirtschaftlichen Not in den Herkunftsländern noch ungefragt Gültigkeit hat, bereits vor der Immigration durch den Pass in Frage gestellt: „Und was braucht man noch, wenn man nach Portugal will?“, „Einen Pass“, „Einen Pass?“, „Ein Dokument für die Reise“, „Aha…“, „Und man muss Geld tauschen“, „Woher bekomme ich so einen Pass?“, „In Juiz de Fora, bei der Polizei“, „Und wie meinen Sie das mit dem Geld?“, „Man

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muss Geld wechseln, man braucht Euro“, „Und wenn man noch nie einen Euro gesehen hat?“ (IwL 30)

Während Serginho sich durch den Erwerb des Passes, der ihm mit einem Touristenvisum die ‚Flucht‘ nach Portugal so einfach macht, mit einer gewissen Nobilität ausgerüstet wähnt, zeugt schon seine Abfertigung am Flughafen von der paradoxen Unwichtigkeit des so zentralen Dokuments: „Als ich in Lissabon ankam, schaute der Kerl auf das Foto in meinem Pass, ich sagte Guten Tag, er antwortete nicht mal, knallte den Stempel hinein und winkte mich weiter, so hatte ich mir das nicht vorgestellt, er war bestimmt mit dem falschen Fuß aufgestanden.“ (IwL 43) Schon hier wird deutlich, dass dieser „edelste Teil“ des Menschen keineswegs eine Erfolgsgeschichte garantiert. Allerdings wird das endgültige Scheitern seiner Migrantenträume symbolisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er – um einer Prostituierten zu helfen – seinen Pass einem Schieber als Pfand aushändigt und natürlich nie wieder sieht. Der Pass ist Symbol der potentiellen Zugehörigkeit; ohne Pass ist eine legale Einwanderung erst gar nicht möglich – aber auch der Pass selbst, was den Thesen Foroutans entspricht, befreit nicht von einer randseitigen Existenz. Bei Delius stellt Paul Gompitz immer wieder einen Ausreiseantrag, um mit legalen Dokumenten seinen Plan verwirklichen zu können. Der Reisepass wird dabei zunehmend zum Weihnachtswunder: „Immer wieder hat er auf eine Änderung der Politik gehofft, auf Tauwetter, auf Bruderküsse gegen Minenfelder, auf Reisepässe als Weihnachtsgeschenk.“ (SnS 11) Das Ausbleiben des Tauwetters (im Handlungszeitraum des Romans) legitimiert für Gompitz den illegalen Grenzübertritt. Dass er in seinem Wertesystem keine Straftat begangen hat, gibt ihm ein Gefühl moralischer Überlegenheit: Er hat keinerlei Schuldgefühle, er schämt sich nicht, er hat nichts zu verbergen. Der Erfolg und die Beruhigungspillen machen ihn stark und selbstbewußt. Du bist moralisch stärker als sie, du hast keine Hühner geklaut, bist nicht mal erwischt worden bei der Republikflucht, du hast die nur unsicher gemacht mit ihrem Tabu, du hast ihre Grenze verletzt, das schwerste Verbrechen, denn das einzige, was noch klappt in diesem Land, ist die Grenze! (SnS 143)

Mit Rückbezug auf Beck und Grande ist die funktionierende Grenze allerdings zentrales Kennzeichen des Nationalstaates, der sich über stabile Grenzen geradezu definiert. Dass Flucht in der öffentlichen Wahrnehmung und dem politischen Diskurs als ‚Krise‘ verhandelt wird, spiegelt Delius’ Text mit beachtenswertem Vorzeichenwechsel. Durfte er bei Verfassung mit Zustimmung rechnen, dass die fanatische Grenzkontrolle der DDR als unmenschliches Überwachungssystem galt, das Menschen an ihrer freien Entfaltung hinderte, stellt sich natürlich die Frage, wie die ‚Festung Europa‘ ihrerseits ihr unmenschliches Grenzregime legitimieren

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möchte, wenn gleichzeitig der Erinnerungsdiskurs über die deutsche Trennung intakt bleiben soll. Multidirektionales Erinnern kann so den aktualisierten Wissensbeständen des Archivs durch erinnernde Neukombination eine unerwartete Sprengkraft verleihen.¹² In Binebines Kannibalen wird die durch den Pass ermöglichte europäische Freiheit fast zynisch mit dem damit gemachten Gebrauch konterkariert und auf die im Alltag fraglos beanspruchten Rechte des Europäers hingewiesen, sich auf der ganzen Welt frei bewegen zu dürfen, während die anderen mit zwielichtigen Grenzabkommen und einer aufgerüsteten Flotte an der Einreise gehindert werden: Ohne zu bemerken, dass ihre Art seit langem aus der Mode war, fuhren die Hippies, die neben uns saßen, fort, in aller Sorglosigkeit vor sich hin zu siechen. Frühzeitig gealtert, nicht schicksalhaft wie wir, sondern weil sie sich entschieden hatten, das Leben von beiden Seiten abzubrennen. Schöne Verschwendung, nicht wahr, diese roten, blauen, grünen, weinroten Pässe, die in der Tiefe der Taschen dieser zerschlissenen Jeans vergammelten? (K 43)

Der ‚falsche‘ Pass als Signum der Marginalität und Legitimation der Abschiebung ist dabei endgültig nicht mehr „edelster Teil“ des Menschen – das gilt nur für die so nutzlos verschwendeten Pässe der europäischen Hippies –, sondern Hindernis beim Angriff auf die Festung Europas, der in letzter Instanz oftmals als bürokratischer Kampf auf den Ämtern endet:¹³ Alle eure Papiere. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Adressbüchlein: kurz und gut, jegliches Dokument, das dazu dienen könnte, euch zu identifizieren. Ihr müsst so gut wie nackt sein, auf der anderen Seite.“ […] „Willkommen bei den ‚Harragas‘!“, sagte Kas’em Djudi. „Was sagt er da?“, fragte mich Reda. „Er sagt, dass wir uns, indem wir akzeptieren, dass unsere Papiere verbrannt werden, in den Rang von Staatenlosen erheben. (K 140‒141)

Während der Pass bei Ruffato auch „ohne dazugehörigen Menschen“ (Brecht 1967, 1384) ein kostbares Dokument ist und Serginho durch seinen Verlust endgültig seinen Traum einer glorreichen Rückkehr beerdigen muss, machen Delius und Binebine deutlich, wie radikal sich Staaten vor einem illegalen Eindringen (oder Auswandern) schützen. Während Delius’ Roman (wenn auch vielleicht unbeabsichtigt) die deutsche Erinnerungskultur in ein prekäres Verhältnis zur Gegenwart bringt, da das Grenzregime der DDR als Unrechtssystem zu erinnern im Angesicht

12 Hier in bewusster Anlehnung an Walter Benjamin (vgl. 1977, 251‒261). 13 Dieser Aspekt ließe sich anhand von Abbas Khiders Roman Ohrfeige (2016) und dem bereits genannten Text Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha (2015) besser besprechen und wird daher hier weniger Beachtung finden.

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der militärischen Überwachung des Mittelmeers zumindest fragwürdig erscheint,¹⁴ weist Binebine auf die paradoxe Logik der Ausweisung hin, die den Flüchtenden auferlegt, ihren eigenen Pass zu verbrennen, um auf einen anderen hoffen zu dürfen, womit wiederum Brecht aktualisiert wird: „Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so daß man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wäre keine Ordnung.“ (Brecht 1967, 1386)

2.3 Helden und Eroberer Die Migration ist für die Flüchtenden nur als Erfolgsgeschichte denkbar. Natürlich – wie die einführende Episode zeigt – ist die Möglichkeit des Scheiterns stets präsent, erscheint aber insbesondere als das Schicksal der anderen. In Binebines Kannibalen stellen sich die Flüchtenden ihre Ankunft in Europa in der Pose des Eroberers vor: Das musste ein wirklich hübscher Anblick sein, Algericas in der Morgendämmerung, gesehen vom Meer unter einem wolkenlosen Himmel. Ich sah mich als Eroberer, aufrecht am Bug, mit geschwelltem Oberkörper, alle Dämonen des Okzidents herausfordernd. Einmal an Land, würde ich die düsteren Herzen der Andalusierinnen entflammen. Morad hatte sie uns als die verführerischsten, reizendsten, unwiderstehlichsten Wesen des Planeten beschrieben. (K 92)

Gerade die Morgendämmerung mag hier als paradigmatisches Zeichen eines Neuanfangs gelesen werden und all die Hoffnungen verdichtet zum Ausdruck bringen, die sich die Flüchtenden machen. Europa ist wieder eine Frau, deren „düsteres“ Herz erobert werden muss.¹⁵ Die Ankunft am Ufer muss dann auch wie der Eintritt ins Paradies verlaufen:

14 Die an dieser Stelle notwendige moralische Debatte kann hier nicht geführt werden. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen einer streng gesicherten Grenze und eindeutigem Schießbefehl und Selbstschussanlagen – Fakt ist, dass seit 2014 jedes Jahr weitaus mehr Flüchtende im Mittelmeer ertrunken sind als beim illegalen Grenzübertritt aus der DDR insgesamt umgekommen sind (vgl. die Statistik auf Statista zu den ertrunkenen Flüchtlingen – die Zahl von 5.136 ertrunkenen Menschen im Jahr 2016 erscheint in der Nüchternheit der Statistik beinahe zynisch, wenn man versucht, sich die einzelnen Geschichten von Hoffnung und Leid auch nur annäherungsweise vorzustellen – gerade das leistet Binebines Kannibalen–vgl. auch Staadt und Kostka 2019). Bei 803 Todesfällen im Grenzbereich verbietet es sich, das Wort ‚nur‘ vergleichend heranzuziehen. Die differenzierte Darstellung von Staadt und Kostka vermittelt eindringlich die militärische Aufrüstung der Grenze und erwähnt insbesondere die erheblichen Verluste der Grenztruppen durch Unfälle oder Suizid. 15 Der Topos der zu erobernden Frau verweist darauf, dass die Mehrheit der Flüchtenden aus jungen Männern besteht, was Navid Kermani mit den strapaziösen Fluchtrouten erklärt (vgl. Kermani 2016, 11‒12).

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[W]ir hatten in unserer Naivität gedacht, dass uns nichts Geringeres beschieden sein würde, als in Spanien zu Abend zu essen! „Ein Gelage von Tapas, mit Sangria begossen […].“ Dies waren die Worte Morads gewesen, der nicht mit Superlativen gegeizt hatte, um uns die Nahrung jenseits des Meeres zu beschreiben, die unendliche Vielfalt von Gerichten, die man dort genießen konnte: schmelzende Früchte, unbekannt im Land der Mauren, alle Sorten Gemüse, den Jahreszeiten zum Hohn, Fleisch, dessen Zartheit und Geschmack erlesen war. (K 19)

Das fast schon romantische Motiv der verlockenden Ferne erscheint hier angereichert mit Bildern des Überflusses, wie der Mangel sie zu allen Zeiten imaginieren ließ. Als Vorbild galten die erfolgreichen Migranten, die sich in Europa etablieren konnten und als zahlungskräftige Diaspora der Familie aushalfen: Ein jedes Jahr kehrte er [ein erfolgreicher Migrant, SSE] aus Frankreich zurück, seine Koffer voll gestopft mit Geschenken: schimmernde Seidenstoffe für die Kaftane, Flanell und Mohair für die Djellabas, gemusterte Kopftücher, Stoppuhren, Sonnenbrillen, Taschenlampen, T‐Shirts, Pullover, Küchengeräte und eine Unmenge von Dingen, deren Nutzen man nicht kannte, die jedoch wertvoll schienen. (K 35)

Der Segen des europäischen Kapitalismus erscheint hier als (nutzloser) Überfluss – verdeutlicht insbesondere in einem Kühlschrank für eine Wohnung ohne Stromanschluss. Das Zielbild des erfolgreichen Migranten ist damit insbesondere der erfolgreiche Rückkehrer, der einen neuen Habitus entwickeln darf und das soziale Umfeld beeindrucken kann. So ist insbesondere eine kurze Episode über diesen Rückkehrer bedeutsam, in der das einzige Mal in Kannibalen die afrikanische Landschaft positiv hervorgehoben wird: Sie [die Frau des Rückkehrers, SSE] war in geblümter Djellaba ohne Schleier, er im tadellos gebügelten, karierten Anzug, die Schuhe glänzend schwarz. So schlenderten sie unter den Olivenbäumen von Menara oder im Agdal. Von dort hatte man einen hübschen Blick: auf der einen Seite – hinter den Olivenbäumen – der Palmenhain, reglos, lasziv, unendlich; auf der anderen der Atlas, schneebedeckt, majestätisch. (K 38)

Die lapidaren Ortsbeschreibungen (unendlich/majestätisch) evozieren eine lange Tradition europäischer Landschaftsbeschreibung, die ein ästhetisches Verhältnis zur Umwelt markiert. Man mag hier die Konfrontation von Petrarca – mit dem gemeinhin der Beginn der ästhetischen Landschaftswahrnehmung gesetzt wird – mit einem Bauern am Fuße des Mont Ventoux bei Avignon im April 1336 gespiegelt sehen. Dem Bauern war die Ersteigung völlig unverständlich, da er die Natur hauptsächlich als gefährlich kannte.¹⁶ Was der erfolgreiche Rückkehrer importiert,

16 Zur Ästhetik der Landschaft kann hier nicht mehr gesagt werden. Ich halte aber den verdeckten Verweis auf europäischen Habitus und ästhetische Einstellung zur Natur für eine sehr wichtige

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ist eine europäisch-ästhetische Einstellung zur Natur, die ihn von den Daheimgebliebenen ebenso absetzt wie die materielle Fülle, die er verkörpert. Ähnlich verhält es sich auch bei Gompitz, der auf seinem Spaziergang keinerlei ökonomisches Kapital anstrebt, sondern im Sinne Bourdieus¹⁷ sind symbolisches, kulturelles und soziales Kapital die Hauptantriebsfedern. Während Paul sich minderwertig fühlt, wenn die Seemänner in der Hafengaststätte, in der er arbeitet, Geschichten von draußen erzählen, generiert bereits die Aussicht auf das eigene Abenteuer Hoffnungen auf symbolischen Aufstieg: „Die anderen haben zwar mehr zu erzählen, aber er baut sein Abenteuer schon im Kopf zusammen und tüftelt an den Einzelheiten. Eines Tages, tröstet er sich, werde ich die beste Geschichte zu erzählen haben, dann werdet ihr aber Ohren machen!“ (SnS 9) Neben diesen Hoffnungen soll die Flucht Gompitz seine verlorene Souveränität wiedergeben, er strebt nach der Handlungsfähigkeit des Helden, der Herr seines eigenen Schicksals ist, und nimmt dafür den Auszug aus den für ihn paradiesisch erscheinenden Zuständen in Kauf: „Am schönsten Ort der ganzen DDR führt er das bequemste Leben, das Geld reicht, er kann nach Laune schwimmen, segeln, lesen, wandern oder ein Mädchen gewinnen. Im Westen wird er es nie so gut haben wie hier. Nie.“ (SnS 64) Dennoch kann er sich selbst nicht zum Bleiben überreden: Ja, gib dich zufrieden, warum das Leben riskieren, du kannst kuschen, viele Jahre kuschen, wie alle, wie viele Leute, die zu ihrer Arbeit, zu ihrem Dienst schleichen und kuschen […], für dich ist es zu spät zum Kuschen, du kannst nicht mehr heucheln, du kannst sie täuschen, aber du kannst nicht mehr heucheln […]. Ja, alles kannst du aushalten, die leeren Geschäfte, die kaputten Dächer […], den Gestank des Sozialismus, aber was du nicht aushalten kannst, daß sie dich einsperren für immer […]. (SnS 79)

Es ist die Unmöglichkeit eines ‚Sowohl-als-Auch‘, die Beschränkung seiner Rechte, die Paul zur Flucht treibt. Am deutlichsten wird die imaginative Kraft der möglichen Rückkehr als gemachter Mann bei Ruffato, wenn Serginhos Ausreise die kollektive Imagination sofort befeuert und er sich noch intensiver als Paul Gompitz schon vor der Ausreise die Rückkehr ausmalt: Also sagte ich eines Sonntagmorgens mitten in das Geschwätz der Schluckspechte in der Beira Bar, unbedacht, auf die Frage „Was willst du denn jetzt tun, Serginho?“, ich würde fortgehen, „ins

Positionierung des Textes. Es wird viel zu wenig gesehen, dass auch die materiellen Ziele in erster Linie immateriellen Gütern dienen sollen und dass eine gleichsam europäische Einstellung besonderer Ausweis von Erfolg und Savoir-vivre ist (zur Ästhetik der Landschaft und Petrarca vgl. Ritter 2010, 130 und Seel 1991, 220‒233). 17 Die grundlegende Vertrautheit mit dem Ansatz wird hier vorausgesetzt (vgl. Bourdieu 1982).

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Ausland“ […] alle Kumpels umringten mich und gratulierten mir für meinen Mut, meine Schlauheit und bestellten schon Andenken, falls ich mal zu Besuch kommen sollte […]. (IwL 26‒27) Die übrige Woche war ich ganz aufgeregt, konnte kaum schlafen und nicht richtig essen, ganz komisch, albern und fröhlich zum einen, wenn ich mir vorstellte, wie ich irgendwann durch genau diese Straßen unterwegs sein würde, als ein feiner Herr, und alle mir um den Bart gehen würden […] (IwL 28‒29)

Im Bestellen von „Andenken“ wird allerdings auch sogleich der soziale Druck deutlich, der auf die Auswanderer einwirkt und eine Rückkehr ohne den erwarteten Erfolg unausdenkbar im wahrsten Wortsinn macht, da die kollektive Imagination nur eine Partizipation an den unterstellten Reichtümern des Westens vorsieht. Auch hier zeigt sich der Zusammenhang von ökonomischem und insbesondere symbolischem und sozialem Kapital. Ein befreundeter Makler zeigt ihm schon vor der Ausreise Häuser in der besseren Lage und erklärt: „nach dem Kontakt mit der Zivilisation und der portugiesischen ‚Hochkultur‘ würde ich [Serginho, SSE] die Leute von Taquara Preta nicht mehr ertragen können, so ungebildet, ohne Manieren und Stil, zweitklassig […].“ (IwL 34) In Ich war in Lissabon und in Kannibalen ziehen die Menschen natürlich auch aus, um drückender ökonomischer Not zu entkommen, aber nicht erst der Blick auf Paul Gompitz, dessen Lebensumstände sehr sorglos sind, macht deutlich, dass die Flüchtenden aufbrechen, um sich einen neuen Platz in der Welt zu erobern, dass die Migration eine Imaginationsmaschine in Gang setzt, die teilweise gegen besseres Wissen auf eine Verbesserung jeglicher Lebensumstände abzielt. Paradox erscheint, dass in allen Romanen die Heimat einerseits als Zwangssystem erscheint, andererseits aber Ziel persönlicher Imagination ist. Die Ausnahme bildet Binebines Kannibalen, da hier besonders die Ankunft in Europa imaginiert wird. Motor für die Auswanderungswünsche ist aber ebenfalls das Bild des erfolgreichen Rückkehrers, der es geschafft hat und nun sein Heimatdorf besonders auch durch einen neuen Habitus beeindrucken kann, den der Makler auch Serginho in Ruffatos Roman vorausschauend attestiert. Auffällig ist dabei eine Tendenz, die Auswanderung an die Hoffnung auf Erneuerung auch der Beziehungen in der Heimat zu knüpfen. Während in Kannibalen Europa als zu erobernde Frau stellvertretend für die Hoffnung auf eine fruchtbare Beziehung stehen mag (nicht zuletzt werden die ‚düsteren Andalusierinnen‘ im Kontext eines Gelages imaginiert), die die einzelnen Geschichten, die hier nicht näher betrachtet werden konnten, auf ganz unterschiedliche Weise grundiert, entflieht Serginho vor einer gescheiterten Ehe, denkt aber auch stets an seinen zurückgelassenen Sohn, den er als reicher Rückkehrer beeindrucken möchte – auch die Beziehung von Paul Gompitz ist durch Routine und von einer durch die Fluchtplanung bedingten Distanz versehrt und auch er hofft auf

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Verständnis durch seine Partnerin und Erneuerung und Belebung der Beziehung durch sein Abenteuer.¹⁸

2.4 Einsamkeit und Desillusionierung Dass derart hochfliegende Hoffnungen zum Scheitern verurteilt sind, liegt nahe. Dabei ist es insbesondere die juristische und soziale Ausgrenzung, die den Migranten zu schaffen macht. Ruffato gelingt es, den enttäuschenden Verlauf der Auswanderung Serginhos bereits bei der Ankunft anhand des Koffers zu symbolisieren (der Koffer ist naheliegender Weise ein häufig eingesetztes Dingsymbol in der Migrationsliteratur), den er sich für die Auswanderung extra angeschafft hat: „ich […] fand schließlich meinen Koffer, der einsam auf einem Band Runden drehte, völlig zerkratzt und verbeult, was mich echt ärgerte, denn in Brasilien hatte ich ihn ja ganz gegen meinen Willen aufgeben müssen, da war er noch nagelneu gewesen […].“ (IwL 43) Ökonomisch am Ende und arbeitslos gerät Serginho schon bald in Verzweiflung: „manchmal schoss es mir durch den Kopf, eine Dummheit zu begehen, Gift zu schlucken, mich von der Brücke des 25. April zu stürzen.“ (IwL 55) Dabei ist der 25. April als Datum der sogenannten Nelkenrevolution auch insofern symbolträchtig, als Portugal sich in der offiziellen Narration durch einen Militärputsch von der autoritären Diktatur befreite, während diese in offiziellen Gedenkfeiern proklamierte Freiheit für Serginho ein ferner Traum bleibt. Azûz, der homodiegetische Erzähler der Rahmenhandlung in Kannibalen, artikuliert allerdings eine existentielle Einsamkeit, die nicht zuletzt mit den als unfair erlebten Lebensbedingungen zusammenhängt: Im Übrigen habe ich schon immer diese unselige Einsamkeit empfunden, die Waisenkinder verspüren. Seit meiner frühesten Kindheit wusste ich, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren war, dass ich weder für das Elend noch für die Unwissenheit bestimmt war. Ich war ein Fremder unter den meinen, eine vom Himmel vergessene Seele, im Schlamm ausgesetzt. (K 140)

18 Es wäre lohnenswert, in weiterer Forschungsarbeit die Archetypik des mittelalterlichen Brautwerbungsschemas auf die Romane anzuwenden. Ein junger König verlässt in der Absicht, seine Genealogie zu sichern, die Heimat, reist zumeist über das Meer und verdeckt seine wahre Identität. Ziel ist es freilich, mit der Braut zu Hause die Herrschaft zu sichern. Hier ist auffällig, dass auch die Flüchtenden in den drei Romanen im Grunde alle besonders die erfolgreiche Rückkehr imaginieren. Insofern ist das Schema passender als konterkariertes Narrativ als die zumeist bemühte Odyssee (vgl. zum Brautwerbungsschema Schulz 2015, 191‒209).

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Azûz nimmt es seinen Eltern übel, „mich in die Welt gesetzt zu haben, in ihre Welt, geprägt von Hässlichkeit.“ (K 138) Das Europa des ‚Sowohl-als-Auch‘ im Sinne Becks und Grandes erscheint da als der Raum, den der jugendliche Drang nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ersehnt. Diese Hoffnung wird in dem titelgebenden Traum Momos, dem einmal die Flucht nach Frankreich geglückt ist (allerdings wurde er wieder abgeschoben), mit der (Traum)Realität konfrontiert: Er träumt regelmäßig, dass er dem Restaurantbesitzer, in dessen Etablissement er arbeitet, für seinen sozialen Aufstieg Stücke seines Körpers verkauft, damit dieser seinen Hunger nach Menschenfleisch stillen kann. Als nur noch sein Kopf übrig ist, schleudert der erboste Vorgesetzte diesen hinter einem ‚Müllmann‘ her, der an die Wand seines Restaurants uriniert hat, und den er zusätzlich als ‚dreckigen Neger‘ beschimpft (vgl. K 82‒90). Das implikationsreiche Bild des stückweise von dem Europäer verspeisten Afrikaners soll hier keiner vereinfachenden Deutung unterzogen werden, illustriert aber, dass die ‚liberale Ausrichtung auf Unterschiede‘ (s. o.) noch weit von der gesellschaftlichen Realität entfernt ist – und wohl auf unbestimmte Zeit bleiben wird. Ein Motiv, das in dem schlaflos und einsam in seinem kleinen Zimmer liegenden Momo nur anklingt und von dem Kannibalismus-Motiv überdeckt wird, ist die Melancholie des Einzelnen in der Fremde. Dies wird an Paul Gompitz deutlicher, der auf seiner überwiegend touristischen Reise kaum finanzielle Schwierigkeiten hat. Es zeigt sich, dass die Realität des Ankommens der Imagination der Reise nicht gerecht werden kann: Alles schweigend aufzunehmen, überfordert ihn, und alles nur in Briefen festzuhalten, scheint ihm ungenügend. […] Gestört von der neuen Erfahrung, dort, wo er sich jahrelang hingewünscht hat, vom Wunsch geplagt zu werden, möglichst schnell wieder zu Hause zu sein, wird ihm die Ewige Stadt ein Alptraum. (SnS 121)

Nüchtern kommentiert der Erzähler: „Er hat die Freiheit gesucht und findet sich nun in größerer Einsamkeit gefangen als in der Zeit der Vorbereitungen.“ (SnS 109) Auch hier wird deutlich, dass ökonomisches Kapital alleine nahezu wertlos ist und selbst die oft ersehnte Freiheit enttäuschend bleibt, wenn das soziale Netzwerk fehlt. Der Möglichkeitsraum, den die Imagination der Flucht öffnet, ist in allen Romanen größer als in der Realität. Im Vorgriff auf das gute Leben als Zielkategorie der Flucht (s. u.) kann mit Martin Seel festgehalten werden, dass der „Ausfall kommunaler Solidarität“ (Seel 1996, 327) nicht kompensiert werden kann.

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2.5 Illegal und unerwünscht „Ich bin hier nichts, denkt er, als Sachse mit Bart bin ich ein Untermensch, und in meinen schäbigen, unmodischen Kleidern sehe ich wie ein herumreisender Penner aus.“ (SnS 109) So die bittere Erkenntnis von Paul Gompitz schon wenige Tage nach seiner Ankunft in der BRD. Als Bürger der DDR nach erfolgreicher Flucht ist er Ende der 80er keine Attraktion mehr und wird in Deutschland schnell an das untere Ende der Gesellschaft geschoben. Der hermetische Wohlstand des Westens hat – entgegen tatsächlicher Bedürfnisse des Arbeitsmarktes – wohl für die Migranten aller Romane dieselbe Botschaft, die bei Delius exemplarisch formuliert wird: „Es ist alles in Ordnung! Es wird niemand mehr gebraucht! Schon gar nicht ein hergelaufener Ostmensch! Wir haben alles! Die Menschheit ist an ihrem Ziel angekommen! Du bist zu spät dran, Paul! Pech gehabt, im falschen Land geboren!“ (SnS 110) „Im falschen Land geboren“ erinnert an den existentiellen Frust von Azûz aus Kannibalen und findet auch bei Ruffato ein deprimierendes Echo, als ein ebenfalls illegal immigrierter Landsmann dem Protagonisten erklärt: „Serginho, wir sind die Gelackmeierten“, hier in Portugal seien wir niemand, hätten „nicht mal einen Namen“, sind immer nur Brasilianer, „und in Brasilien, was sind wir da?“, auch nichts, die anderen, „Was für ein Scheißland!,Verbrecher und Gauner!“, er schwang sich fast zu einer Rede auf, „Damit es einem gut geht, muss man Politiker sein oder Bandit, was ja eigentlich auf das Gleiche hinausläuft.“ (IwL 86)

Diese geradezu vernichtende Bilanz des Versuchs, in Europa sein Glück zu machen, akzentuiert einige Aspekte, die in allen drei Romanen auf unterschiedliche Art zu finden sind: 1.) Die Flüchtenden werden über ihre Herkunft definiert und nicht als Individuen gesehen, 2.) der Druck aus der Heimat macht sie zu Ausgestoßenen, die auch dort fremd werden, wo sie hergekommen sind, 3.) die europäischen Länder haben ein äußerst kapitalistisches Interesse an der Ausbeutung illegaler Einwanderer oder anderweitig Marginalisierter, die auch bei Beck und Grande oder in der Erinnerungskultur wortreich beschworenen humanistischen Werte Europas bestimmen in keinem Roman auch nur in Ansätzen den Alltag der Einwanderer.¹⁹ Binebine trifft in seiner Darstellung am ehesten die Personengruppe, die man im gegenwärtigen Diskurs meint, wenn von Flüchtlingen²⁰ die Rede ist. So schildert

19 Das ist als fiktive Tatsache kein Realbefund, aber diese lägen so zahlreich vor, dass ein Nachweis hier unterbleiben kann, zumal das Erkenntnisinteresse hier nicht sein kann, die Realität von Einwanderern herauszuarbeiten, sondern die Figurationen in der Literatur. 20 Wenn kriegsbedingte Flucht von Ukrainern vorerst ausgeblendet wird. Tatsächlich ließen sich kontrastiv die unterschiedlichen Bilder von Flüchtlingen zeigen – aber das sei für spätere Untersuchungen aufgehoben.

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er eindringlich – wenn auch ohne die oft dramatisierende Erfahrung von Gewalt und Tod – die Zustände in den Schieberlagern in Marokko: In Tanger wohnten Pafadnam, Jarsê, Jussef, Reda und ich in derselben Unterkunft: eine mit Bastmatten ausgelegte Bruchbude, in der ein undefinierbarer Geruch hing, zusammengesetzt aus dem Gestank von Schweiß, ungewaschenen Füßen, Kinderpisse, abgestandenem Öl, Tierkot, übel riechendem Atem, Kif und Tabak, vermischt mit verschiedenen, nicht näher beschreibbaren Ausdünstungen. (K 56)

Gegen Ende motiviert Azûz wohl nur in Gedanken seinen beinahe ertrunkenen Cousin Reda (und wohl auch sich selbst), indem er die Visionen eines guten Lebens entwirft. Dafür verwendet er hauptsächlich Bilder des verlorenen Paradieses der Kindheit und die Imagination eines besseren Lebens in Europa: Wir werden lachen, du wirst sehen, wie wir früher in den Maisfeldern gelacht haben, wo wir uns versteckten, in den halb ausgetrockneten Bächen, in denen wir uns wie Welpen wälzten. Komm, reiß dich zusammen! Morgen wird es heiß werden, wir werden ins ‚Café France‘ gehen, wir werden rauchen, wir werden das Paradies in den Träumen Momos sehen. (K 148)

Das mag auf den ersten Blick im Widerspruch zu der ‚von Hässlichkeit geprägten‘ Welt stehen, die er seinen Eltern vorwirft, kann aber schlaglichtartig nochmals die Bedeutsamkeit sozialer Beziehungen und die Kraft der Imagination unterstreichen, die in allen Romanen zentrale Rollen spielen. Momos Träume sind dabei durchaus ambivalent, da er es doch gerade war, der den Kannibalismus-Traum hatte.

2.6 Das gute Leben „Wollen wir Europa, oder wollen wir es nicht?“ (Kermani 2016, 27) fragt Navid Kermani in seiner Reportage Einbruch der Wirklichkeit kurz nachdem ihm der kroatische Innenminister auf die Frage, was geschehen würde, schlösse Deutschland seine Grenzen, apodiktisch geantwortet hat: „Das geht nicht“ (Kermani 2016, 26). Menschen, die so verzweifelt seien, durchbrächen jede Grenze. Nicht zuletzt davon legen die drei Romane Zeugnis ab. Besonders, da in Kannibalen das eingangs zitierte Bootsunglück Azûz und Reda keinesfalls davon abhält, weiterhin die Flucht nach Europa zu versuchen. Es dürfte unmöglich sein, allgemein gültig zu formulieren, was die Flüchtenden sich von Europa erhoffen – zu vielfältig ihre Träume, Hoffnungen, Ängste und die Konstellationen, aus denen sie fliehen. Sicher aber hat es mit der Hoffnung auf ein gutes Leben im ethischen Sinne zu tun.

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Draußen atmete er tief ein. Die Sonne, die durch ein Loch in den Wolken auftauchte, verlieh diesem Winternachmittag einen kleinen Hauch von Frühling. Die Angst hatte Momo seltsamerweise verlassen. Leicht, ohne jegliche Furcht ging er der Begegnung mit seinem eigenen Schicksal entgegen, als hätte es sich um jenes eines anderen gehandelt. (K 133)

So Momo, den der Kannibalismus-Alptraum jede Nacht heimgesucht hat, als er erwischt wurde und der Abschiebung sicher war. Es ist eine der wenigen friedvollen Szenen des Romans und in der elementaren Freude am Dasein ein Ausdruck guten Lebens, das hier nicht umfassend definiert werden soll. „Ein im ganzen gelingendes Leben […] muß kein im ganzen glückliches Leben sein – manchmal liegt das menschliche Glück in der geglückten Freiheit allein“ (Seel 1996, 335), wie Martin Seel festhält. Dieses Postulat ist sehr bedeutsam, soll anhand der untersuchten Literatur eine These gewagt werden, wo Europa endet. Im symbolisch aufgeladenen Pass, in den erträumten Eroberungen, ja selbst noch in der Einsamkeit und der empfundenen Ablehnung wird der Imaginationsraum deutlich, den Europa erzeugt. Es bedürfte gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Ausführungen, um plausibel begründen zu können, worin diese Attraktivität liegt. Aber die Hoffnung auf intakte Institutionen, ökonomische und körperliche Sicherheit, demokratische Strukturen, Beachtung der Menschenrechte und freiheitlich-liberale Gesellschaftsstrukturen dürften sicherlich insgesamt oder teilweise immer eine Rolle spielen – ganz sicherlich aber gerade in den Grenzfällen zwischen Flucht und Migration, wie sie in den Romanen gespiegelt werden, die Erwartung, das Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können. Momo hat wieder eine grundsätzliche Empfindung eines guten Lebens, da sein illegales, von der ständigen Furcht, erwischt zu werden, begleitetes Daseins nun beendet ist und er sich damit in der Paradoxie desjenigen, dessen schlimmste Befürchtungen wahr geworden sind, wieder seinem Schicksal zurückgegeben fühlt. Was die Romane zeigen, ist die Reichweite des europäischen Projekts in der Imagination. „Wo soll Europa enden?“ Sollen die freiheitlichen Narrative, die sich die europäischen Gesellschaften selbst erzählen, an den Grenzen enden?²¹ Können wir erwarten, dass Bewohner der Länder, die wir als wirtschaftlich und politisch schlechter gestellt wahrzunehmen gelernt haben, diese Wahrnehmung nicht auch teilen können? Das geografische Europa hat mehr oder weniger klar definierte Grenzen, das politische Gebilde der EU scharf gezogene. Doch wo endet das ideelle

21 Der Tag, an dem die Tagung begann, auf welche die Beiträge dieses Bandes zurückgehen, fiel mit dem ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine zusammen. Natürlich, mussten alle plötzlich feststellen, hat Europa Grenzen, die es zu schützen gilt. Aber die Antwort der freiheitlich demokratischen Gesellschaft spricht ihren Werten Hohn, wenn sie zu einer geschlossenen Gesellschaft mit zunehmend militärisch aufgerüsteten Grenzen wird.

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Europa? Der American Dream hatte eine Anziehungskraft auf Millionen von Menschen weltweit und die amerikanische Gesellschaft hat ihren Aufstieg zur Supermacht nicht zuletzt der Kreativität dieser Migranten und der motivierenden Kraft dieses Traumes zu verdanken.²² Der Traum von einer offenen Gesellschaft ist eine Ressource²³ Europas. Es ist der Traum von einem guten Leben. Es bleibt eine Aporie der offenen Gesellschaft, wie sie ihre Werte vertreten kann, ohne ihre staatliche Souveränität aufgeben zu müssen – gerade durch die von Foroutan herausgearbeitete Paradoxie von Pluralismus und Freiheit (s. o.). Aber auch hier greift vielleicht das Potential eines ‚Sowohl-als-Auch‘. Die verblüffende Einsicht ist, dass es zu einseitig ist, die Flucht nach Europa durch Krieg, ökonomische Perspektivlosigkeit, Einschränkung der Freiheit oder Angst vor Gewalt und Verfolgung zu erklären. Die zweite Seite ist schlicht und ergreifend, dass Europa immer noch als das politische Gebilde wahrgenommen wird, in dem all diese vielfältigen Ursachen zur Flucht eben nicht zu befürchten sind, in dem ein gutes Leben wenigstens vorstellbar ist. Damit ist der ‚europäische Traum‘ ein ähnlich starker Imaginationsmotor wie der amerikanische und wenn man nach einem einheitlichen Grund für die Fluchtursachen sucht, so liegen diese in Europa, nicht in den Herkunftsländern, die ganz unterschiedliche Formen der Not für ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen bereithalten mögen.

3 Literarische Figurationen des europäischen Traums – ein Resümee Als methodische Reflexion ergibt sich aus der Analyse, dass sich die positive Idee eines ÜberLebensWissens (Ette) der Literatur mit den Romanen nur bedingt in Übereinstimmung bringen lässt. Leo Kreutzers Vorschlag eines Entwicklungswissens ist als theoretisches Fundament der Analyse tragfähiger, wenn man den Hinweis ernst nimmt, dass Literatur gerade auf Probleme und Versäumnisse gesellschaftlicher Entwicklung aufmerksam macht. Mit Ettes Konzept ließe sich das insofern erweitern, als Ette stärker auf den konkreten Erlebnishorizont der Literatur eingeht. Der Roman als Gattung vermag es hier in besonderer Weise, Erfahrungswelten abzubilden – entgegen einem derzeit grassierenden Authentizitätswahn muss das keine individuelle Erfahrung der Schriftsteller sein (Ruffato, Delius

22 Auch hier mag der Großteil der Geschichten in ähnlicher Resignation und Desillusionierung geendet haben, wie in den analysierten Romanen, was dem amerikanischen Traum aber auch lange Zeit nichts von seiner imaginativen Kraft genommen hat. 23 Im Sinne Julliens (s. o.).

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und Binebine können keinerlei persönliche Fluchterfahrungen vorweisen). Die kontrastive Analyse im Sinne eines Doppelblicks (Kreutzer) hat deutlich werden lassen, dass Fluchterfahrungen in elementaren Aspekten auch bei sehr unterschiedlichen Fluchtursachen und -bedingungen ähnlich sind. Das Charakteristikum von Nationalstaaten, ihre innere Stabilität durch Grenzen zu sichern, wird in jeglicher Form der (illegalen) Migration deutlich. Die Literatur vermag es dabei, symbolische Figurationen dieser Erfahrungen darzustellen. So wird etwa am Pass exemplarisch deutlich, welche Hoffnungen (oder Ängste) an den Erwerb oder Besitz bestimmter Staatsbürgerschaft gebunden ist. Während die privilegierten Europäer sich ihres Sonderstatus zumeist gar nicht mehr bewusst sind, verbrennen die Harragas ihre Papiere, um bei erfolgreicher Flucht der Abschiebung zu entgehen. Dabei hat gerade der Roman von Delius deutlich werden lassen, wie wichtig es ist, Wissensgrößen aus dem Archiv unter den Bedingungen der Gegenwart zu aktualisieren (die Aktualisierung Seumes, die in vielerlei Hinsicht ebenfalls ihren Ort in gegenwärtigen Diskursen hat, konnte leider nicht berücksichtigt werden). Die Form, wie die DDR und ihr Grenzregime im kulturellen Gedächtnis repräsentiert werden, kann im Sinne eines multidirektionalen Erinnerns nicht statisch bleiben, sondern ist aufgefordert, gegenwärtige Gewalterfahrungen an Europas Grenzen zu integrieren. Auch hier zeigt sich, dass die postmigrantische Gesellschaft Europas ihr Selbstverständnis immer noch am Status der Einwanderer verhandelt und verhandeln muss. Gerade die durch Grenztruppen nach außen und institutionelle Verfahren nach innen gesicherte Integrität der europäischen Nationalstaaten fordert die Einwanderer dazu heraus, die Ankunft in Europa im Modus der Eroberung zu denken. Damit wird die Flucht potentiell einem klassischen Narrativ unterworfen, nach dem der Held sich in Gefahren erproben muss, um zum Lohn ‚die Frau‘ zu erobern. Alle drei Romane zitieren dieses Narrativ, verweigern aber seine Erfüllung und präsentieren Geschichten des ziellosen Treibens, der Enttäuschung und der Einsamkeit. Der prekäre Zustand der Illegalität ist es, der den Figuren den Raum zur freien Handlungsfähigkeit nimmt, während sie andererseits durch die Flucht auf sich allein gestellt sind und jede auf ihre Weise von Einsamkeit bedroht. Die Romane machen deutlich, dass keinesfalls nur ökonomische Aussichten die Flucht antreiben, sondern im Gegenteil symbolisches und kulturelles Kapital angestrebt wird. So ist es nur folgerichtig, dass Europa in erster Linie eine ‚Imaginationsmaschine‘ ist, vergleichbar dem American Dream (und tatsächlich dürfte ja die Migration in die USA ganz analoge Ursachen haben). Was die Romane deutlich machen: Unabhängig davon, welche politischen Folgerungen man aus der sogenannten Flüchtlingskrise ziehen möchte, auch eingedenk der Tatsache, dass Nationalstaaten ein elementares Interesse an funktionierenden Grenzen haben, tragen wir als Europäer eine Verantwortung für die europäischen Werte und die Anziehungskraft, die sie ausüben. Wie weit soll Europa

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reichen? Reicht es bin an die Grenzen der EU oder so weit, wie seine liberalen Werte geteilt werden? Und dürfen wir jene ausschließen, die dem Ruf dieser Werte folgen und sich ein ‚gutes Leben‘ erträumen? Denn das ist die letzte Einsicht und ein im Grundgesetz verankertes Recht: Menschen fliehen, weil ihnen ein gelingendes Leben in ihrer Heimat nicht mehr möglich erscheint. Ist es legitim, sie vor dem Hintergrund einer langen postkolonialen Unrechtgeschichte wortwörtlich auszugrenzen? Die Literatur kann diese Probleme ins Zentrum des politischen Diskurses spiegeln und auch vergangenen Unrechts je aktualisieren und im kulturellen Gedächtnis verankern – lösen kann sie sie nicht.

Literatur Assmann, Aleida. Soziales und kollektives Gedächtnis. https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/fileadmin/ Downloads/Artikel_Dokumente/Aleida_Assmann_Soziales_und_Kollektives_Gedaechtnis.pdf (23. Februar 2022). Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck, 2003. Assmann, Jan. „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.“ Kultur und Gedächtnis. Hg. Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte.“ Ders. Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Ausgewählt von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. 251–261. Beck, Ulrich, und Edgar Grande. Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. Bhabha, Homi K. Die Verortung der Kultur. Übers. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg, 2007. Binebine, Mahi. Kannibalen. Übers. Patricia A. Hladschik. Innsbruck: Haymon, 2003. Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. Brecht, Bertolt. „Flüchtlingsgespräche.“ Ders. Gesammelte Werke. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967. Bd. 14, 1381‒1515. Delius, Friedrich Christian. Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Hamburg: Rowohlt, 1998. Ette, Ottmar. WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: Metzler, 2017. Foroutan, Naika. Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: Transcript, 2021. Foucault, Michel. Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Jullien, François. Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2017. Kermani, Navid. Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Mit dem Magnum-Photographen Moises Saman. München: Beck, 2016. Kreutzer, Leo. „Doppeltblicken.“ Ders. Goehte in Afrika. Die interkulturelle Literaturwissenschaft der „École de Hanovre“ in der afrikanischen Germanisitik. Hannover: Wehrhahn, 2009. 58‒59. Kreutzer, Leo. Literatur und Entwicklung. Studien zu einer Literatur der Ungleichzeitigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989.

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Verwobene Geschichten im Exil Zur Literatur von NS-Flüchtlingen in Lateinamerika

1 Einleitung Auf der verzweifelten Suche nach Asyl war Lateinamerika für die meisten nach 1933 geflüchteten deutschsprachigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen alles andere als ein Wunschziel.¹ Zu groß schien ihnen – mit Ausnahme vielleicht der kommunistischen Flüchtlinge in Mexiko – die soziale, kulturelle und ökonomische Kluft. Assimilation (historisch gefasst als ein Begriff, wie ihn noch Hannah Arendt verwendete) oder Akkulturation, vor gut einem Jahrzehnt als neues Paradigma der Exilforschung ausgerufen (Becker und Krause 2010), wurden nicht einmal als Option aufgefasst.² An deren Stelle rücken in der Literatur je nachdem Ablehnung oder Faszination – beide Reaktionen gründen auf Distanz.

Anmerkung: Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 404354183. 1 Was die Ausmaße des Exils in Lateinamerika betrifft, so flüchteten Wolfgang Kießling (1984, 23) zufolge über 100.000 deutschsprachige Emigranten auf den Kontinent, die meisten davon nach Argentinien. Nach Mexiko kamen dagegen Schätzungen zufolge nur etwa 1000 Exilierte, allerdings gab es hier eine besonders rege Aktivität und öffentliche Präsenz des Exils; Exiltätigkeiten wurden institutionell gefördert. Das Land war insbesondere für politisch Verfolgte attraktiv – hier waren Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Bodo Uhse, Theodor Balk, Gustav Regler. Trotz der eher geringen Zahlen brachte das Exil in Lateinamerika bedeutende publizistische Organe hervor: Deutsche Blätter. Für ein europäisches Deutschland, herausgegeben von Albert Theile und Udo Rukser in Santiago de Chile und bis in die USA rezipiert, Argentinisches Tageblatt, oder Freies Deutschland in Mexiko. 2 Dafür spricht auch, dass die Wenigsten nach Kriegsende in Lateinamerika blieben. Darüber hinaus wurde Assimilation zwar durchaus eingefordert von einigen lateinamerikanischen Regierungen (siehe z. B. in Santo Domingo der Versuch, jüdische Exilierte aus akademischen Berufen zur Agrarexistenz zu bewegen), diese Bestrebungen stießen im Exil aber ob ihres Irrealismus auf offene Ablehnung und Spott. Von Paul Zech wurde diese Sachlage literarisch verarbeitet in seinem Exilroman Michael M. irrt durch Buenos Aires. Aufzeichnungen eines Emigranten. Allerdings gibt es Ausnahmen: Die Jüdische Rundschau in Argentinien animierte 1940 geflüchtete Juden zur Niederlassung, ohne allerdings für eine Assimilation zu werben: „Hier werden wir Amerikaner werden können, ohne das geringste von unserem jüdischen Leben und unserem jüdischen Sein abstreichen zu müssen“ (zitiert nach Maas 1978, 44). https://doi.org/10.1515/9783111181530-004

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Gewalt ist dagegen ein Phänomen, das Distanz auslöscht. Seit jeher symbolisch mit dem lateinamerikanischen Kontinent verbunden, erlebte sie, so die Ausgangsthese des vorliegenden Beitrags, im lateinamerikanischen Exil eine unheimliche Dopplung: Selbst an Leib und Leben bedroht, gewann sie für die Vertriebenen an Sichtbarkeit, weil diese nun in postkoloniale Ordnungen eintraten, die ihrerseits an noch aktuelle, andere Erfahrungen von Gewalt gebunden waren. Dass diese postkolonial zu nennende Gewalt nicht völlig loszulösen ist von Europa, aus dem die Exilierten geflohen waren, ist der Literatur jener Flüchtlinge bereits stellenweise abzulesen. Es scheint, als würde dieser – nicht unbedingt realpolitische, teils fantasmagorische – Konnex für Flüchtlinge wie Anna Seghers, Egon Erwin Kisch oder Paul Zech in ihren „lateinamerikanischen“ Texten erfahrbar.³ Tatsächlich stellte dieses Exil sie vor ganz besondere Herausforderungen. Hier fanden sie sich plötzlich in einer eigenartigen Rolle wieder: als Flüchtlinge in einer von zahlreichen Zwängen geprägten Lage und mit oftmals traumatischen Erinnerungen an das Zurückliegende, aber auch als Zeugen der gewaltsamen Präsenz einer Kolonialvergangenheit, zu der sie sich als Europäer ins Verhältnis setzten. Manche, wie Stefan Zweig und Paul Zech, griffen dabei in ihren Werken auf Entdecker- und Eroberer-Topoi aus dem Repertoire der Landnahme- und allgemeiner der Reiseliteratur zurück. Andere wiederum, wie Anna Seghers, zeigten in ihren Texten eine besondere Empfänglichkeit für die von offener oder latenter Gewalt und Unterdrückung geprägten Strukturen der Aufnahmegesellschaften. So unterschiedlich der Bezug auch ausfällt, der zwischen der Bewertung der Lage des hier Exilierten und der Beobachtung einer unter den Folgen des Kolonialismus stehenden Umgebung gesetzt wird, so ist die hier jeweils mit implizierte Neubetrachtung der eigenen Position doch in vielen Fällen auffällig intensiv. Wenn also auch die Exilliteratur per se nicht in den Bereich der postkolonialen Germanistik fällt, so möchte ich doch anhand der Texte von im globalen Süden Exilierten bedeutende Bezugspunkte herausarbeiten. Dadurch kann, so meine These, der Kanon der postkolonialen Germanistik sinnvoll erweitert werden. Mein Beitrag konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf die Darstellung verwobener Geschichten und Erinnerungen – eine Art Lebenswissen – im Werk zweier Geflüchteter: Hilde Domin (seit 1940 in Santo Domingo, der heutigen Dominikani-

3 Im Übrigen gilt dies auch umgekehrt für lateinamerikanische Künstler und Intellektuelle, die im deutschen und europäischen Faschismus Resonanzen ausmachten bzw. sich ausgehend von der Überzeugung einer gemeinsamen Geschichte antifaschistisch engagierten. Ein herausragendes Beispiel ist die Produktion und Rezeption des von einem internationalen Schriftstellerkomitee in Mexiko herausgegebenen El libro negro del terror nazi en Europa. Testimonios de escritores y artistas de 16 naciones (1943).

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schen Republik) und Vilém Flusser (seit 1940 in Brasilien). Anhand ihrer in autobiographischen Schriften, Essays und im Falle Domins auch in Gedichten verarbeiteten Exilerfahrung soll aufgezeigt werden, wie die Doppelrolle als Flüchtlinge aus Europa und Zeugen des europäischen Post- und Neokolonialismus, als Bedrohte und zugleich Privilegierte, in der Figur des Exilierten reflektiert wird.

2 Zum Verhältnis von Exil und Postkolonialität Inwiefern kann Exil als ein Paradigma für die postkolonial orientierte Germanistik dienen? Meiner These nach ist die Exilerfahrung in Lateinamerika eine, die postkolonial gelesen werden kann. Obwohl es seit der Öffnung der Exilforschung für transnationale Fragestellungen und Theoriebildung einzelne Versuche gab, Exil und Postkolonialität in Bezug zu setzen, ist dieses Bestreben keineswegs selbstverständlich. Dies liegt unter anderem am vertrackten Verhältnis des deutschsprachigen Exils zu homogenisierenden Vorstellungen von Nation und Kultur. Ihrer Hinterfragung oder gar Dekonstruktion in der postkolonialen Theorie steht eine gewisse Selbstverständlichkeit nationaler Identität im Exil gegenüber; das Festhalten an nationaler Emphase als Reaktion auf den Ausschluss ist, wie Bernhard Spies im Handbuch Exilliteratur (2013, 83)⁴ anführt, ein immer wieder anzutreffender Aspekt dieser Exilliteratur. Allerdings ist jeder Leserin etwa von Anna Seghers einsichtig, dass im Exil auch gegen essentialistische Auffassungen von Nation und Volk angegangen wird. Dies ist nun bei weitem nicht nur ein Beleg für die – ja nicht unbedingt überraschende – Pluralität der Exilliteratur. Tendenzen sind im Sinne von Spies vielmehr auszumachen, wenn wir uns die Sprachorgane des Exils anschauen – Verbände und Zeitschriften etwa. Hier lässt sich insbesondere anhand des viel beschworenen Topos vom anderen Deutschland als dem „wirklichen“ Deutschland feststellen, dass homogenisierende Vorstellungen von Nation im Exil sogar Anschub und Verstärkung erhalten, wie Stephan Braese in seinem Beitrag zu Exil und Postkolonialismus überzeugend dargelegt hat (2009, 3): Auch die geistig-ideelle Vorstellung des Exils von Deutschland als Nation sei schließlich essentialistisch (2009, 4). Er kommt jedoch zum Fazit eines deutlich ambivalenten Verhältnisses zwischen Exil und postkolonialen Dispositiven: So hemmten ideologische Voraussetzungen die Neukonzeptualisierung von Kultur und Nation, zu der das Exil als Erfahrung ja prinzipiell Anlass gab, doch habe

4 Es handelt sich neben Braese (2009) um einen der zwei mir bekannten Texte, die Exil und Postkolonialismus aus theoretischer Perspektive in Beziehung zu setzen suchen.

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es durchaus Konstellationen gegeben (und hier ist das jüdische Gedächtnis der Diaspora an vorderster Stelle zu nennen), die genau diese Revision ermöglichten. So lässt sich einerseits mit einigem Recht und bei aller Gefahr der Pauschalisierung festhalten, dass das deutschsprachige Exil sich eher „dem Erhalt des Eigenen anstatt der Konfrontation mit dem Neuen, Fremden“ (Enderle-Ristori 2007, IX) verschrieben habe. Ein beinahe beliebiger Blick in die Publikationen des sehr aktiven und von Anna Seghers geführten Heine-Klub in Mexiko zeigt dies mit wenigen Abstrichen. Trotz gelegentlicher Einbindung von spanischen Flüchlingen und Bekanntschaft mit den großen mexikanischen Künstlern der Zeit (allen voran den kommunistisch orientierten Muralisten David Alfaro Siqueiros und Diego Rivera) bleibt das Aufnahmeland selbst eigentümlich abwesend im regen Kulturleben des Heine-Klub und erscheint bisweilen primär über seine bürokratischen Ämter, eine notwendige Berührungsfläche für die Visumsanträge und Papiergänge der Exilierten. Alternativ wird honoriert, dass Mexiko den Exilierten einen sicheren Rahmen und Freiraum ohne Interventionen bietet: „Die mexikanischen Behoerden haben uns nicht nur Asyl gewaehrt, sondern sie ermoeglichten uns, auch im Exil echte deutsche Kultur zu pflegen.“ (Jungmann 1946, 34) Dieser Fokussierung auf das Bewahren „deutscher Kultur“, auf Rückaneignung des von den Nazis gewaltsam Entzogenen und Affirmation der eigenen Kollektividentität stehen aber andererseits eben die oft schockhafte Gewahrung post- und neokolonialer Strukturen gegenüber und dadurch eingesetzte Prozesse der Verschiebung und Bewegung. Damit ist nicht die Beziehung dieser Exilliteratur zu Exotik gemeint, die prominente Behandlung von Indio-Figuren, die der tatsächlichen Proportion und Präsenz dieser Bevölkerungsschicht in vielen Fällen gar nicht entsprach und im Falle etwa von Paul Zechs „Indianergeschichten“ eher an exotistische Strömungen der deutschen und europäischen Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anknüpfte als an Versuche der Durchdringung fremder Kulturen. Auch die übliche Mythisierung Lateinamerikas durch den Rückgriff auf die Vorgeschichte der conquista ist nicht gemeint. Ohnehin, dies als Einschränkung, fanden die Flüchtlinge je nach Land und Region so unterschiedliche Wirklichkeiten vor, dass es kaum gerechtfertigt sein mag, den in sich problematischen „Kunstbegriff“ (Walther L. Bernecker) Lateinamerika hier vereinheitlichend zu nutzen.⁵ Doch jenseits der Selbstverständlichkeit, dass sich die ganz unterschiedlichen Realitäten und Bedingungen des Kontinents im Rahmen einer literaturwis5 Diese Heterogenität, jenseits des verbindenden Elements der Sprache, schlug sich selbstverständlich in der Flüchtlingspolitik nieder, die den Exilierten ihr Dasein erleichterte oder erschwerte, je nachdem, inwiefern prokommunistische (wie in Mexiko) oder antikommunistische Tendenzen (wie in Brasilien und vielerorts) vorherrschten, abhängig auch von der Regierungsform (Diktatur, Autokratie, Demokratie, Volksfrontregierung).

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senschaftlichen Untersuchung mit dem Topos Lateinamerika vermengen, so verweist der „Kunstbegriff“ eben doch auf das verbindende Attribut des Postkolonialen.⁶ An dieser Stelle geht es daher im Falle der in und auch „über“ Lateinamerika entstandenen Exilliteratur nicht darum, mit der neueren transnationalen Forschung zu fragen, „ob also Konstellationen des historischen Exils als Vorgeschichte für Erfahrungen der kulturellen Entortung im Zeitalter von Globalisierung und (Massen‐)Migration begriffen werden können.“ (Bischoff und Komfort-Hein 2013, 8). Zweifellos sind solche Präfigurationen in Exiltexten auszumachen. Hier steht aber eine synchrone Dimension im Fokus, die im Titel angesprochenen verwobenen Geschichten, die sich im lateinamerikanischen Exil auftun und für die sich die Formel von der„Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ aufdrängt, die beispielsweise die Erkundungen aztektischer Geschichte des in Mexiko exilierten Autors Gustav Regler prägt (siehe Blinn 1995, 425). Spies’ Annahme, dass in Amerika exilierte NS-Flüchtlinge „nicht in postkoloniale Konstellationen“ gerieten (2013, 76), weil die Bindung zu Kolonie und ehemaligem Mutterland nicht gegeben gewesen sei,⁷ kann dieser Beitrag nicht folgen. Dabei fördert gerade die komplexe Gemengelage zwischen den europäischen Exilierten und ihrer (post)kolonial geprägten Umwelt Spannungen und Konflikte zutage: das Gefälle führt dem Geflohenen seine eigene manchmal unbequeme Rolle vor Augen, bringt aber auch Zuschreibungen von Vertriebenen, Opfern und Gewaltherren in Bewegung. Wenn wir mit Ina Kerner davon ausgehen, dass postkoloniale Theorien in besonderem Ausmaß „durch Erfahrungen der Peripherie geprägt“ sind und „ein besonderes Gespür für die Effekte transnationaler Machtwirkungen“ (2012, 165) aufweisen, so wird deutlich, weshalb sich das Exil in Lateinamerika als ein Gegenstand anbietet, an dem sich diese Effekte studieren lassen. Für das deutschsprachige Exil ist Lateinamerika, wie erwähnt, eine periphere Region. Die Bestrebungen richteten sich mehrheitlich darauf, weiter in Richtung USA zu reisen. Der 1922 in Wien geborene, als Kind jüdischer Eltern nach Bolivien geflüchtete spätere Germanist Egon Schwarz erfasst mit folgenden Worten, was ihn

6 Zwei Ebenen vermengen sich hier: die postkoloniale Lektüre der von Lateinamerika handelnden Texte, und die Darstellung der postkolonialen Wirklichkeit Lateinamerikas durch die Autoren und Autorinnen. Mitunter fällt in den autobiographisch-reflexiven Texten beides zusammen. Das ist der Fall bei Vilém Flusser, der eine solche Lektüre gleich selbst anbietet, wie noch zu zeigen ist. 7 Dennoch erachtet Spies die postkoloniale Literaturwissenschaft als eine mögliche Zugangsweise zu Exilliteratur, weil sie den Anspruch auf eine generell anwendbare Methode entwickelt habe (2013, 76). Meiner Lektüre kommt Spies’ Erkenntnis entgegen, Exilierte könnten zwar nicht als postkoloniale Autoren, wohl aber als Verstrickte in postkolonialen Konstellationen gelten (2013, 77).

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von anderen Exilanten unterschied: „Denn wo ich mich nach einigen Grenzüberschreibungen und Deportationen wiederfand, das war nicht eine der bekannteren Kulturnationen, sondern eine der rückständigsten Andenrepubliken, ein Gebiet von schwer vorstellbarer Isolierung und Einsamkeit.“ (1994, 119) Die Jahre dort bewirkten, „dass ich die Geschehnisse mit Augen betrachte, denen das Sehen in den Entwicklungsländern der Dritten Welt beigebracht wurde“ (1987, 205). Signifikant ist an dieser Beschreibung der eigenen Sozialisation, dass als prägend nicht das Exil als solches erfahren wird, sondern das Erlebnis als Flüchtling in einer marginalisierten Region der Welt. Die postkoloniale Erfahrung wird mit Blick auf das Selbstverständnis als ehemaliger Flüchtling, der sich auf die andine Umgebung einlässt, hier ausdrücklich gestärkt: But gradually the new experiences corrected my European notions and became an integral part of my self and world view. In a peculiar process of dialectical hermeneutics the subject, my European being, in trying to relate to the Andean way of life, melded with its focal object into an entirely different entity, emerging in the end with a radically changed understanding of human affairs and history. (Schwarz 1983, 92–93)

Auch die Forschung spiegelt die Peripherie Lateinamerikas wider, insofern nur wenige neuere kulturwissenschaftliche Studien zu diesem Exil vorliegen (Carreras 2019), bzw. die vorliegenden Werke älteren Datums sich vornehmlich der Quellenerschließung widmen und verlässliche Daten zusammentragen (Kohut und von der Mühlen 1994). Daher möchte ich mich nun zwei Autoren zuwenden, die in erster Linie nicht über ihr Exil (und weniger noch über das spezifische Exil in Lateinamerika) bekannt und gelesen wurden.⁸

3 Hilde Domin Domin erzählt in ihrem autobiographischen Text „Meine Wohnungen – mis moradas“, dass auf einem der dominikanischen Ersatzpässe, der ihrem Ehemann, dem späteren Heidelberger Professor Erwin Walter Palm, im Exil für seine Vortragsreisen durch ganz Lateinamerika ausgestellt worden war, stand: „Geboren in Frankfurt in der Dominikanischen Republik […]“ (1992, 120). Diese Anekdote zeigt nicht einfach die Unvorbereitetheit der Behörden im Umgang mit staatenlosen Flüchtlingen, sondern ist womöglich auch ein passendes Bild für ihre verwobenen Geschichten. Im Unterschied zu anderen Flüchtlingen betreibt Domin diese Ver-

8 Vilém Flusser ist primär als Medientheoretiker rezipiert worden, allerdings hat die Exilforschung ihn mittlerweile für sich entdeckt. Domin ist vor allem als Zurückgekehrte gelesen worden.

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webung selbst und macht sie zu einem Teil ihrer Autorinnenpersönlichkeit, wie sich in der Etablierung eines deutsch- und spanischsprachigen Netzwerkes zeigt, geführt über zahlreiche Briefkorrespondenzen zwischen Santo Domingo, Deutschland und Spanien. Sie zeigt sich aber auch in den Selbstportraits und biographischen Skizzen, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem Exil 1954 Verlagen und Akteuren im literarischen und literaturwissenschaftlichen Feld zukommen lässt. In einer selbst verfassten Biographie steht: „Hilde Domin begann 1951 zu schreiben, noch im Exil in Lateinamerika. Sie stand damals unter dem Einfluss der modernen spanischen Lyrik, dann auch der neuesten Amerikaner“ (o. J., Typoskript, DLA⁹). Sie stellt sich also dem deutschen Publikum gegenüber durchaus selbstbewusst in eine Tradition, die auch kulturelle Hegemonialverhältnisse umkehrt.Vor diesem Hintergrund sind auch ihre kritischen Beobachtungen einzuordnen, das deutsche Lesepublikum ignoriere die spanischsprachige Literatur der Moderne, die in Deutschland nicht aus ihrer Nische herausgekommen sei.¹⁰ Wenn ich ihr Leben an dieser Stelle von hinten aufrolle, dann auch deshalb, weil Domin in Deutschland primär als Lyrikerin der Remigration bekannt geworden ist, als exemplarische Figur einer geglückten Rückkehr. Mit diesem Bild zeigte sie sich durchaus einverstanden und arbeitete ihm auch zu.¹¹ Emphatisch gestaltete Heimatlosigkeit und andere Leitmotive einer transnationalen Exilforschung können ihr schwerlich zugeschrieben werden. Andererseits zeigt sie in dem Aufsatz „Randbemerkungen zur Rückkehr“ große Sensibilität für Fremdheitserfahrungen und erinnert sich an ein Gespräch mit einer „Antillenbewohnerin, die mich fragte: ‚Aus Deutschland kommen Sie also? Ja, auf welcher Antille liegt denn das?‘ Das Wissen, dass es ein Draußen gibt, stößt kaum mehr als ein Luftloch in den Kasten, in dem wir sitzen, und der ‚unsere‘, das heißt, DIE Wirklichkeit ist. […]“ (1992, 339). Im Exil gehe es um eine entscheidende Erfahrung, die keineswegs im Registrieren von Unterschieden aufgehe: „An dem Kasten, in dem wir sitzen und der unsere Welt ist, bricht plötzlich auf der einen Seite die Wand heraus, und dahinter beginnt etwas ganz anderes.“ (1992, 339) Domin ist also keine einfache, aber eine ergiebige Autorin für die postkoloniale Germanistik. Nachdem sie 1940 nach Santo Domingo geflohen war, lebte sie mit

9 Zitiert wird hier und im Folgenden aus dem im DLA verwahrten Nachlass. Die Typoskripte sind teils nicht datiert. 10 So in einem Brief an den spanischen Professor Gonzalo Torrente Ballester vom 30.12.1963, in dem sie die bei Fischer erscheinende und von ihr herausgegebene Anthologie Spanien erzählt (1963) ankündigt und schreibt, für das deutsche Lesepublikum sei spanische Literatur noch immer „tan esotérica como si fuese cosa de Africa [sic]“ (DLA Marbach, Nachlass). 11 „Die Rückkehr, nicht die Verfolgung, war das große Erlebnis meines Lebens.“ (Domin 1992, 156)

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ihrem Mann zwölf Jahre in der Hauptstadt, die damals nach dem Diktator noch Ciudad Trujillo hieß, knüpfte enge Verbindungen zu den dortigen Intellektuellen, aber auch zu den spanischen Franco-Flüchtlingen. Die Zwiespältigkeit, die Exilierte in postkolonialen Zusammenhängen oft empfanden, kommt auch im lakonischen Bericht über ihre Jahre in der Karibik zum Vorschein. Über Trujillo schreibt sie: Viele hat er umgebracht, in großen Haitianerschlachten aber auch laufend. Viele Flüchtlinge verdanken ihm das Leben. Er nahm sie auf, um sein Land aufzuweißen, ohne Ansehen ihres politischen Glaubens oder der Religion und ‚Rasse‘, die spanischen Republikaner und Kommunisten, die sogenannten ‚Zentroeuropäer‘,Verfolgte Hitlers aus Deutschland, Österreich und den reihum besetzen Ländern. Er ließ sie aussteigen. Und das war damals viel. (1992, 99)¹²

Dass sie selbst sich im Inselstaat, von ihr auch als „Rand“ bezeichnet (1992, 101), einrichten konnte, begründet sie mit ihrer Erzählung, sie sei in der Dominikanischen Republik zur Dichterin geworden. Auf den Herbst 1951 datiert sie den „Beginn einer neuen Existenz.“ Ein Datum, das nichts mit den historischen Zwängen und der Exilgeschichte zu tun hat (oder nur vermittelt, als Gegenbild von eigener, poetischer Selbstwirksamkeit), sondern als Bild einer Geburt in Szene gesetzt wird. Mit ihm wird die exuberante Natur und organische Fruchtbarkeit der Karibik in verschiedenen autobiographischen und lyrischen Texten mythisierend enggeführt: Wie ich, Hilde Domin, die Augen öffnete, die verweinten, in jenem Hause am Rande der Welt, wo der Pfeffer wächst und der Zucker und die Mangobäume, aber die Rose nur schwer, und Äpfel, Weizen, Birken gar nicht, ich verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim, in das Wort. (1992, 21)

Die Heimkehr ist eine neue Flucht, eine eskapistische in die Literatur.¹³ In Bezug setzen möchte ich diese Szene aber zu der Figur des Natürlichen und (normativ) Naturhaften, die unterschwellig auf entsprechende NS-Diskurse reagiert und in der sich auch eine Dimension zeigt, die für postkoloniale Lektüren empfänglich ist. So empfindet sich Domin in der Karibik selbst, wie sie 1962 in „Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf“ schreibt, als „gekreuzt und wieder gekreuzt […], Außerhalb jeder Regel. Von der Natur nicht vorgesehen. Vielleicht durfte es mich nicht 12 Sie schreibt von Trujillo auch, in unerträglicher Zerrissenheit, als „furchterregende[m] Lebensretter“ (1992, 100). Nach der Flüchtlingskonferenz in Evian nahm der Diktator zwischen 1939 und 1941 rund 1000 deutschsprachige Juden auf: Sein Rassismus richtete sich gegen schwarze Menschen. Bei der Hetzjagd auf Haitianer im Oktober 1937 wurden Schätzungen zufolge zwischen 15.000 und 18.000 Menschen ermordet. Siehe Eisenbürger 2013, 35. 13 Es ist hier nicht der Ort darauf einzugehen, inwieweit sie diesen Moment der Geburt als Dichterin in ihren Texten verschränkt mit dem Tod der eigenen Mutter und der verweigerten eigenen Mutterschaft.

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geben. Vielleicht gibt es mich nicht. Aber daß es meine Gedichte gibt, scheint außer Zweifel.“ (1992, 31) Hier stehen mit dem angesprochenen Existenzverbot gleich mehrere Identitäten auf dem Spiel: die exilierte Deutsche, die Jüdin, die Frau, die nicht Mutter sein kann. In diesen drei Zugehörigkeiten definiert und erklärt sie sich (1992, 162–164). Die im historischen Kontext wohl problematischste dieser drei, nämlich die Identifikation als Deutsche, ist kurioserweise diejenige, die sie im autobiographischen Band Von der Natur nicht vorgesehen am wenigsten problematisiert. Frausein und Jüdin sind dagegen äußerst fragile Kategorien, die mit dem Exil an einem „Rand“ verwoben werden. Auf erstere und die in der Wiederholung auffällige Selbstbeschreibung als (deutscher) „Dichter“, nicht „Dichterin“, gehe ich hier nicht näher ein. Die zweite verlangt eine kurze Erläuterung. „Ich bin ein emanzipierter Mensch, ein ‚befreiter‘ […]“ (1992, 150), schreibt sie als Beitrag zu dem 1978 von Hans Jürgen Schulz herausgegebenen Band Mein Judentum, erneut abgedruckt in den autobiographischen Schriften unter dem Titel „Hineingeboren“. Sie bekennt, dass die Frage nach ihrem Judentum eine „widerspruchsvolle Frage“ sei (1992, 153) – für sie selbst und ihr Selbstverständnis, so bliebe hinzuzufügen, eine widerspruchsvolle Frage: ein Konflikt, der zwischen der deutschen Zugehörigkeit und dem Jüdinsein schwelt und interiorisiert wird. Domin vertritt die durchaus provokant aufgenommene These, für die sie auch Unverständnis und Ablehnung in Kauf nimmt, „in dem jüdischem Schicksal nur den Extremfall des Allgemeinen“ (1992, 164)¹⁴ zu sehen. Sie begründet dies folgendermaßen: Der Jude könne für sich nie „einen Logenplatz von der Historie“ fordern, „er weiß sich mitbedroht im jeweiligen geschichtlichen Opfer […].“ (1992, 154) Mit dieser Universalisierung und dem Anspruch, die jüdische Erfahrung repräsentiere das menschliche Leiden an der Geschichte, steht Domin nicht alleine da; es ist auch ein Topos, der beim deutschen Publikum durchaus auf Zustimmung stößt. So feiert Hans-Georg Gadamer ihre Gedichte als „Schöpfungen eines durch ein Wanderschicksal gereiften Lebens.“ (1977, 135) Dass ihre Gedichte erst mehrheitlich nach der Rückkehr entstanden, scheint ihm in seiner Lektüre „von symbolischer Wahrheit“ (1977, 135). Die Gültigkeit von Domins Lyrik sei „nicht von der Art politischer Lyrik, selbst dort nicht, wo die unvertilgbaren Spuren politischen Geschehens, ‚silence‘ und ‚exile‘, Rückblick auf graue Jahre und erneute Angst um die Freiheit, sichtbar zutage treten“ – vielmehr ermutigten ihre Gedichte dazu, „an 14 Das insgesamt 22-jährige Exil (eigener Zählung nach) findet in allen Texten und Entwürfen Erwähnung, seltener aber ihre jüdische Herkunft. Im Typoskript einer „Zeittafel zu Hilde Domin“, undatiert und mit dem Jahr 1993 endend, ist bei der Nennung des Geburtsdatums „jüdischer Herkunft“ handschriftlich durchgestrichen und dann, erst nach Nennung der Berufe der Eltern, wieder handschriftlich hinzugefügt (DLA Marbach, Nachlass).

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Rückkehr zu glauben.“ (1977, 136)¹⁵ Die Universalisierung von Domins Exil wirkt wie ein Entschärfer: Wenn ihre Gedichte „von uns allen [reden]“, weil wir „alle wissen […], was Rückkehr ist“ (1977, 136), dann bedürfen die Erfahrungen der Exilierten, noch dazu eines Exils unter besonders schwierigen Bedingungen jenseits westlicher Metropolen, auch keiner Anerkennung – sie lösen sich auf in einer Bewegung, die allen Menschen gemein ist.¹⁶ Auch die Ambivalenz der Rückkehrerfahrung einer Exilierten wird dadurch zum Schweigen gebracht. Domin hatte sicherlich eigene Gründe – unter anderem ihre Ambition, sich als Autorin einen Ort zu schaffen in der deutschen Öffentlichkeit – um dieses Schweigen selbst nur stellenweise und vor allem in Briefen oder bei der Parteinahme für andere, z. B. Kriegsopfer und diskriminierte Minderheiten, in der Presse zu durchbrechen. Die Widersprüchlichkeit, mit der sie ihre jüdische Herkunft empfindet, wird in der Selbstdarstellung aber gewissermaßen deaktiviert durch die Selbstwerdung als Dichterin und von dieser Erzählung verdeckt. Sie wird ihrerseits metaphorisch eng verwebt mit dem Exil auf Santo Domingo, wie kurz an folgendem Gedicht angeführt werden soll: LANDEN DÜRFEN Ich nannte mich ich selber rief mich mit dem Namen einer Insel. Es ist der Name eines Sonntags einer geträumten Insel. Kolumbus erfand die Insel an einem Weihnachtssonntag. Sie war eine Küste etwas zum Landen man kann sie betreten die Nachtigallen singen an Weihnachten dort Nennen Sie sich, sagte einer als ich in Europa an Land ging, mit dem Namen Ihrer Insel. (2009, 238)

15 Beim Lesen von Gadamers Lobgesang stellt sich die Frage, wer eigentlich an die Rückkehr glauben muss – der deutsche Philosoph oder die ehemals Exilierte. 16 Dichtung, so kulminiert Gadamers Gedankengang, sei „immer Rückkehr […] – Rückkehr zur Sprache.“ (1977, 136) So sei die Rückkehr zur Sprache des Dichters „unser aller Rückkehr zu uns selbst, in der wir uns finden.“ (1977, 144). Mit diesen Worten schließt der Aufsatz, erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung (18. August 1971) gedruckt.

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Das lyrische Ich beschreibt hier einen Akt der Selbstermächtigung, der mit der Namensgebung zusammenfällt, der Wahl des Kunstnamens „Domin“ in Referenz auf die Exilinsel. Bereits der Titel „Landen dürfen“ spielt nicht nur auf das Ankommen im Exil an, auch als Selbstzitat: „Bleiben dürfen“ ist eine zentrale Formulierung aus ihrem Essay „Meine Wohnungen – mis moradas“ (1993, 71). Auch Landnahme-Szenen werden aufgerufen, wie sie aus kolonialen Narrativen vertraut sind. So wird ja dann Kolumbus auch genannt, der nun als Erfinder und nicht als Eroberer oder Entdecker der Insel eingeführt wird. Die Selbstermächtigung der Exilantin, die schließlich nach Santo Domingo geflohen war – was hier nur im zweideutigen Titel anklingt (auch durch das Modalverb dürfen) –, hier aber eine ganz eigene, intime Kolonialfantasie durchdekliniert, kulminiert in der letzten Strophe mit der ebenfalls als solcher ungenannten Rückkehr aus dem Exil und der suggerierten Aneignung ‚ihrer‘ Insel. Die Insel ist hier also tatsächlich ein Topos, der dem Titel gemäß noch Zuflucht sein mag; bis auf die eigenmächtige Namensgebung werden aber alle anderen sonst bei Domin zu findenden autobiographischen Zusammenhänge getilgt.

4 Vilém Flusser Vilém Flusser zählt zu jenen Autoren, die das historische Exil von 1933 in einen Zusammenhang stellen mit anderen Migrationsphänomenen und Fluchterfahrungen, er partizipiert daher an der Entgrenzung und auch Problematisierung eines engen Epochenbegriffs (Krause 2013, 300). In Deutschland hat lange Zeit sein Bild als Medientheoretiker die Rezeption bestimmt, obwohl damit vornehmlich das Spätwerk gemeint ist. Ich möchte hier nur wenige Überlegungen zu seiner postum publizierten „philosophischen Autobiographie“ Bodenlos (1992) anstellen und lasse bekanntere Attribute Flussers wie die Mehrsprachigkeit seines Werks und die Übersetzungsprozessen eingeräumte Bedeutung, die ihn für postkoloniale Lektüren interessant machen,¹⁷ an dieser Stelle beiseite. Der Prager Jude, in der Kultur der deutschsprachigen Minderheit erzogen und 1940 nach Brasilien geflüchtet, in dessen Zivilgesellschaft er sich ganz maßgeblich engagierte, ging 1972 nach dem Staatsstreich und der Errichtung einer Militärdiktatur in Brasilien in eine Art zweites Exil und entschloss sich nach eigenen Angaben unter Schmerzen, sein „Engagement an Brasilien aufzugeben und in der Provence, diesem Antibrasilien, zu wohnen.“ (1992, 259)

17 „Ich bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen.“ (Flusser 1992, 248)

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Geschrieben in Frankreich 1973 und 1974, besteht seine „Autobiographie“ eigentlich aus einer Reihe „autobiographischer“ Essays und meta-autobiographischer Reflexionen, die, so sein Herausgeber, „alles Nur-Autobiographische einklammer[n], um fundamentale Möglichkeiten des Unterlaufens und Überholens von Bedingungen freizulegen.“ (Bollmann 1992, 288) Teile dieses Werkes sind Brasilien gewidmet, das er zunächst von „eurozentristischen Vorurteilen“ befreien will (Flusser 1992, 254). Seine Überlegungen widmen sich immer wieder dem viel und oft topisch behandelten Verhältnis von Natur und Kultur bzw. Geschichte: „Das Problem der Geschichtlichkeit stellt sich in Brasilien anders als in Europa. Wenn man unter ‚Geschichte‘ die Summe der Taten versteht (‚res gestae‘) und nicht auch die Summe der Leiden, dann gibt es keine brasilianische Geschichte. Brasilien ist dann ein Objekt, aber nicht ein Mitsubjekt der westlichen Geschichte.“ (1992, 191) Über die Vergleiche, Parallelisierungen und auch Gegenüberstellungen von Europa und Brasilien verhandelt Flusser in seiner Autobiographie dezidiert postkoloniale Fragestellungen und gelangt jenseits dieses konkreten Textes zu einer Theorie und Praxis (kulturellen) Übersetzens, die in Publikationen zu seiner Brasilien-Erfahrung für ein deutschsprachiges Publikum entfaltet wird. In einer verdeckten Anspielung auf einen Klassiker der brasilianischen Moderne, Oswald de Andrades Manifesto antropófago (1928), argumentiert Flusser, Übersetzen heiße nicht, „Fremdes Eigenem anzugleichen, sondern Eigenes Fremdem. Es ist nicht ein Verschlucken, sondern ein Öffnen.“ (1967, 353) Von dem weiter oben zitierten, ja nicht unproblematischen Befreiungsanspruch kommt er also im Laufe seines Unternehmens, das in der Schilderung und Bewertung Brasiliens nach der Ankunft noch stark an Stefan Zweig erinnert,¹⁸ zu einer dem „Mitsubjekt“-Status entsprechenden, auch formal dialogischen Konzeption, in der die Autobiographie Gespräche Flussers mit brasilianischen Partnern, Intellektuellen und Freunden integriert. Dieser Entwicklung entspricht die Fokusverschiebung von „Natur“ zu „Kultur“. Bei der Betrachtung seines Asyllandes galt ersterer zum Zeitpunkt seiner Ankunft alle Aufmerksamkeit: „Man verschloß sich der Kultur Brasiliens, um sich seiner Natur zu öffnen.“ (1992, 67) „Man suchte die Weite und Leere, um sich selbst darin zu finden, und nicht, um sie zu erobern und dabei sich selbst zu verlieren.“ (1992, 69) Dieser letztlich gescheiterte Versuch, sich die brasilianische Natur anzueignen, führte in dialektischer Manier zum späteren

18 „Ich tauchte in die Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter.“ (1992, 256) Flusser unterstreicht wie Zweig die „vorurteilslose Stimmung“, die sich „so stark von der europäischen Stimmung der Heimaten [unterschied], aus denen die Einwandernden vertrieben worden waren“ (1992, 257). Im Kontrast zu Zweig allerdings ist Flusser von Beginn an nicht nur Beobachter, sondern sucht die Teilnahme. Er markiert sein perspektivisches Schweben über dem Beschriebenen daher auch stets als Konstrukt.

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Einsatz für die brasilianische Kultur: „im eigenen Kern, nämlich als Schriftsteller, fühlte man sich von der Natur zurückgewiesen, und so wandte man sich ewig der brasilianischen Kultur zu.“ (1992, 73) Dabei hatte die Auseinandersetzung mit Natur bei Flusser nicht in einer kolonialliterarischen Tradition gestanden, sondern in einem Moment der dezidierten Absetzung von westlichen Paradigmen,¹⁹ die er im Übrigen immer wieder implizit mit dem Gedächtnis des Holocaust verbindet. Überhaupt verweben sich die Reflexionen zu Brasilien in der Erinnerung mit der europäischen Nahvergangenheit: Man stand über der Szene und schaute auf die Marionetten herab, die sich für Industriekapitäne hielten, oder zumindest für Kriegsgewinnler. Das konnte man, denn man sah durch sie hindurch, und hinter ihnen sah man nicht nur das koloniale Brasilien mit seinen paradiesischen Bananensträuchern und seinen schläfrig-höflichen Massen, sondern auch die deutschen Panzer, die über frostige Tundras rollten. […] [U]nd man selbst war ein Botschafter der Panzer unter den Bananensträuchern. (1992, 41)

Dieses Schweben und Über-der-Szene-Stehen ist charakteristisch für Flussers Bodenlosigkeit, die er ursächlich aus der Reaktion auf die Entsubjektivierung des Flüchtlings herleitet. Der Metapher des Treibguts, oft bemüht in der Exilliteratur, vermag er auf diese Weise eine reflektierte Position abgewinnen, aus der Überlegenheit spricht – Überlegenheit nicht über das postkoloniale Land, sondern über die eigene Geschichte: So hatte man vorerst den Eindruck, von den Wellen der Sinnlosigkeit an die einem entsprechende Stelle geschleudert worden zu sein, an die des allgemeinen Strandguts. In einen Abfalleimer der Menschheit. Dort herrschte, nach einem glücklichen Wort, der ewige schimmelgrüne Frühling. (1992, 43)

Gerade aus der Erfahrung des Flüchtlings heraus gelangt er aber auch in seiner Schrift Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen zu einer Kritik des in Europa und Nordamerika gepflegten „Mythos des ‚Lateinamerikaners‘“ (1994, 207), den Flusser konzentriert in dem Wort vom „mañana“ verortet, also der passiven Geduld. Dieses herablassende Bild scheint ihm das Gegenteil zur brasilianischen Wirklichkeit, der „Ungeduld als Übergang zwischen Leiden und Handeln“, und damit zu Geschichte:

19 „Man hatte demnach nicht nur alle durch ‚Prag‘ übertragenenen Modelle verloren und sah sie nun als leere Formen, sondern man hatte auch das Gerüst verloren (nämlich die okzidentale Tradition), welches diese Modelle trägt, und sah in ihm nun Regeln eines bedeutungslosen Spiels“ (Flusser 1992, 56–57).

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Also bedeutet die Ungeduld, die in Brasilien herrscht, eine empörte Ablehnung einer Lage, in der brasilianische Menschen zu Dingen verwandelt werden, die man behandelt, also mit denen etwas geschieht, und nicht, die etwas geschehen machen. […] Ein wütender Versuch, aus der Geschichte anderer in eigene Geschichte zu treten (1994, 208).

Diese Interpretation der„Ungeduld“ Brasiliens korreliert aber mit einer subjektiven Zurücknahme, mit dem Versuch des Migranten, sich gedanklich aus der eigenen Verstricktheit zu befreien: „einen Schritt zurück aus der Lage eines Intellektuellen in Brasilien zu tun und diese Lage aus der Distanz zu betrachten, so dass sie selbst als Lebenswelt zu Worte kommt.“ (1994, 15) Den Schritt zurück weitet er noch aus, indem er gegen die orchestrierte Vernichtung das – wie er es nennt – nicht-westliche Projekt setzt, „sich ins Nichtsein zu retten“ (1992, 57), das auch darin besteht die eigene Erfahrung von subjektiven Anteilen zu befreien und zu systematisieren²⁰: ein ungewöhnliches Verfahren für einen autobiographischen Text. Die Hinwendung zur brasilianischen Kultur, an der er sich nicht als außenstehender Beobachter, sondern als Mitglied der synkretischen brasilianischen Gesellschaft beteiligt, führt dann auch hier wieder zu einer Korrektur: Es ginge ihm nun darum, „eine Synthese von Engagement und Abstand zu erzielen.“ (1992, 63) Eine Synthese, die mit der – wie er betont – Entscheidung, Brasilien aufgrund der Diktatur zu verlassen, ebenfalls scheitert. Abstand wird nun das Engagement vollständig ersetzen, Brasilien ist letztlich entgegen seiner realhistorischen Entwicklung eine Utopie – für Flusser aber keine individuelle, nicht seine Utopie, sondern die einer Vielzahl von Menschen. Sie ist dabei die Dekonstruktion von Nationsein, da „Brasilianer sein“ kein Zustand sei, sondern eine „Art des Suchens“: „Es liegt im Wesen der Sache, dass Brasilien nicht vollendet ist […]. Brasilien ist eine Potentialität, eine Möglichkeit […] und es hat nur Sinn zu fragen, was es bedeuten könnte, Brasilianer zu sein und zu werden.“ (1994, 39) In einem dialektischen Moment der Aufhebung des Gegensatzpaares von Engagement und Abstand wird Flusser selbst dagegen seine multiplen Zugehörigkeiten weiter affirmieren und gleichzeitig in der Schwebe halten:²¹ Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen

20 Siehe dazu den Versuch, „Kultur“ in drei Formen theoretisch-kategoriell zu erfassen: als „Kultur, in die man hineingeboren wird, […] als eine Gegebenheit der Welt“, nach dem Transzendieren der eigenen Kultur als Schweben über „einem Komplex von Kulturen“ sowie als Erleben „an der Grenze zweier Kulturen“ –das klassische „Kulturerlebnis“ des Immigranten (1992, 75–77). 21 Damit verbunden sind bei Flusser weitreichende Überlegungen zu Heimat und dem Heimatbegriff, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

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sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können. (1992, 253)

5 Schlusswort Die Lektüre Domins und Flussers führt vor Augen, dass die „verwobenen Geschichten“²² nicht nur das Verhältnis zwischen ehemaligen Kolonialgesellschaften und Europa, Peripherie und Metropole, prägen, sondern hier spezifisch auch von deutschsprachigen Exilierten in den postkolonialen Ländern Lateinamerikas erfahren, dargestellt und in Text übersetzt werden. Der Prager Autor geht dabei phänomenologisch und theoretisch versierter vor als Domin, die aber ihrerseits zweifellos auch ein Denken simpler Selbstbezogenheit überwindet. Das Exil in Lateinamerika liefert in diesem Sinne auch einen Beitrag zur Provinzialisierung Europas, in einem Moment, als die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft eigentlich wieder damit beschäftigt war, die Kategorie der „Nation“ (später dann als geläuterte Nation) zu stabilisieren. Bei dem von Dipesh Chakrabarty vorgebrachten Konzept ging es darum, „in die Geschichte der Moderne die Ambivalenzen, die Widersprüche, die Gewaltanwendung und die Tragödien und Ironien einzuschreiben, die sie begleiten“ (2010, 63). Dies gelingt Domin und Flusser in unterschiedlichen Formen und Genres, gerade auch durch den – wie gesehen ambivalenten – Rückbezug auf ihre jüdische Zugehörigkeit, auf das implizite oder explizite Erfahrungswissen des Exils und die Entscheidung, sich von den anderen Geschichten Lateinamerikas imprägnieren zu lassen.

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22 Ich greife hier die Formulierung der„entangled histories“ (Conrad und Randeria 2002, 17) auf, die ja nicht nur verwobene, sondern auch geteilte Geschichten einer pluralen Moderne kennzeichnen.

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II Gewalt und (multidirektionale) Erinnerung: postkoloniale Perspektiven und Konstellationen

Michael Hofmann

„Multidirektionale Erinnerung“ oder „Gegenläufige Gedächtnisse“? Shoah-Gedenken, Gedächtnis des Kolonialismus und Israel-Diskurse im Kontext

1 Einleitung Michael Rothbergs Untersuchung Multidirectional Memory (2009, deutsch 2021) steht im Zentrum aktueller Debatten um das Verhältnis der postkolonialen Kritik zum Gedächtnis der Shoah, zu Israel und zum Zionismus. Das Buch diskutiert hauptsächlich das Verhältnis von Shoah-Gedächtnis und Gedächtnis des Kolonialismus; seine Hauptthese besagt, dass Gedächtnis kein „Nullsummenspiel“ sei; Gedächtnisse müssten nicht konkurrieren, sondern könnten sich ergänzen und bestärken. Neben das Gedächtnis der Shoah treten das armenische Gedächtnis, das Gedächtnis des Kolonialismus und der Sklaverei und nach Rothbergs Auffassung muss dieses Neben- und Miteinander der Gedächtnisse das der Shoah nicht in seiner Bedeutung herabsetzen; vielmehr ist er der Auffassung, dass im Zeichen von Empathie und Solidarität ein Bewusstsein entwickelt werden kann, das jedem kollektiven Verbrechen entschieden entgegentreten und im Gedächtnis den Opfern eine Stimme und eine Identität geben kann. Rothberg beruft sich unter anderem auf Hannah Arendt und Aimé Césaire, die in den 1950er Jahren über Bezüge zwischen Kolonialismus und Shoah nachdachten. Beide bezogen sich auf Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis (1900) und postulierten eine Kontinuität zwischen der rassistischen kolonialen Gewalt (in Afrika) und der NS-Gewalt. Paul Gilroy zeigt in Black Atlantic, dass die versklavten Afroamerikaner_innen und ihre Nachfahren ihre Erfahrungen mit Bezug auf jüdische Diaspora-Erfahrungen interpretierten, und er zeigt Analogien zwischen dem NS-Gedächtnis und dem Gedächtnis der Sklaverei auf. In der deutschsprachigen Literatur wird von jüdisch sozialisierten Autor_innen über den Bezug zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus/Exil/ Migration nachgedacht, gleichzeitig aber auch die Bedeutung Israels für alle Juden auf der ganzen Welt unterstrichen. Einer postkolonialen Annäherung zwischen Shoah-Gedächtnis und Gedächtnis des Kolonialismus widerspricht demgegenüber der deutsch-israelische Historiker Dan Diner vehement, indem er erklärt, dass das NS-Gedächtnis auf einen „Zivilisationsbruch“ im Kontext der säkularen Tradition des Westens bezogen sei und deshalb von anderen Kulturen nicht zwingend https://doi.org/10.1515/9783111181530-005

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nachvollzogen werden könne. Koloniales Gedächtnis und NS-Gedächtnis seien nicht „multidirektional“, sondern „gegenläufig“ (vgl. Diner 2007). Die Spannung zwischen den Positionen Rothbergs und Diners ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Ausführungen, die eine Konfliktlinie nachzeichnen, die in der aktuellen Diskussion unversöhnlich erscheint, obwohl alle Beteiligten für sich in Anspruch nehmen, gegen Unmenschlichkeit, Rassismus und die Diskriminierung unterdrückter Menschen und Völker einzutreten. Mir geht es zunächst und im Ergebnis nicht um eine Versöhnung widerstrebender Positionen, sondern in gewissem Sinne um eine Materialsammlung, mit der die Vielfalt der Konzepte und Strategien verdeutlicht werden kann. Im Endergebnis handelt es sich hier um einen „Widerstreit“ im Sinne Lyotards, bei dem berechtigte Positionen aufeinanderprallen. Ich zeige auch, dass sich die aktuellen Positionen in den 1960er und 1970er Jahren bereits andeuten, wenn man die Argumentationen der exilierten Juden Jean Améry und Peter Weiss vergleicht: Während nämlich der linke Jude Améry bei aller Kritik an der konkreten Politik Israels den jüdischen Staat nach der Shoah für ein potentielles Refugium für alle Juden der Diaspora hält, fragt Peter Weiss, ob nicht gerade die Erfahrungen der Shoah dazu verpflichteten, sich der Politik der USA in Vietnam und auch der Politik Israels gegenüber den Palästinensern energisch entgegenzustellen. Während Diner wie schon vor ihm Améry das Gedächtnis der Shoah und eine pro-israelische Politik in den Kontext der westlichen Moderne und Aufklärung stellt, reflektieren postkoloniale Denker (durchaus in Übereinstimmung mit Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung) problematische Implikationen der westlichen Moderne insgesamt, die sich im Kolonialismus manifestierten – etwa im Gefühl der Überlegenheit der europäischen Schriftkultur(en) gegenüber den Kulturen Lateinamerikas (Mignolo) und in der Verschränkung von Vernunft und Rassismus im Black Atlantic (Gilroy) und im Afrika-Kolonialismus (Mbembe).

2 Rothberg: Multidirectional Memory (2009) – Gedächtnisse ergänzen und unterstützen sich Erinnerung, so erklärt Rothberg, dürfe nicht durch „Opferkonkurrenz“ belastet werden; Rothberg entwickelt das Modell einer von Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geprägten Erinnerungskultur, in der verschiedene Erinnerungen dadurch voneinander profitieren, dass sie sich gegenseitig Sprache verleihen. Perspektiven der „Ko-Erinnerung“ beziehen sich auf die Geschichte der Sklaverei, den Kolonialismus, auf „Aghet“, den Genozid an den Armeniern, auf die Shoah sowie auf die Ermordung unschuldiger Menschen etwa in Srebrenica und Ruanda. Gleich-

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zeitig übt Rothberg Kritik an simplifizierenden Parallelisierungen und stellt die Frage nach literarisch-künstlerischen Formen, in denen differenzierte Versionen des Bezugs verschiedener Erinnerungen entwickelt werden können. Die Entwicklung der Erinnerung an Shoah und Kolonialismus, so erklärt Rothberg, vollzog sich im Austausch und nicht gegeneinander; er verweist dabei auf Hannah Arendts The Origins of Totalitarism und Aimé Césaires Discours sur le Colonialisme. Hannah Arendt sah einen Zusammenhang zwischen dem Kolonialrassismus etwa der Buren und dem NS-Rassismus. Dabei ist ihre Argumentation allerdings durch eine sehr problematische Perspektive auf Afrikaner gekennzeichnet, denn Arendt meinte, dass die Fremdheit der Afrikaner (auch im Vergleich etwa zu Indern) deren unmenschliche Behandlung gewissermaßen erleichterte. Mit Bezug auf Joseph Conrads berühmten Roman Heart of Darkness vermutete Arendt, dass die Konfrontation mit der „Wildheit“ der Afrikaner den Rückfall der Europäer in Barbarei bewirkt habe. Rothberg erklärt, dass rassistische Vorurteile gegenüber Afrikanern ein wichtiges Moment von Arendts Erklärungsmodell gewesen seien (vgl. Rothberg 2021, 59–94). Aimé Césaire wiederum spricht von einem „Choc en retour“ (einem BumerangEffekt) zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus (vgl. Rothberg 2021, 95– 140). Er sieht die koloniale Gewalt wie Arendt als Voraussetzung der NS-Gewalt; nach seiner Meinung ist aber die manifest werdende koloniale Gewalt ein Ausdruck aggressiver Potentiale der Europäer. Die Verdrängung der kolonialen Gewalt führte zu dem genannten „choc en retour“ und zu einem Ausbruch der unterdrückten Gewalt gegen die Juden. Weiterhin gibt er zu bedenken, ob die besondere Beachtung der Shoah darauf beruhte, dass sich die NS-Gewalt gegen „Weiße“ richtete.

3 Afrika, der Black Atlantic und die Shoah: Joseph Conrad/Paul Gilroy Conrads Roman gilt als eine prototypische Analyse des europäischen Blicks auf Afrika. Er übt Kritik an den Exzessen des Kolonialismus und beschreibt eine Reise in den Kongo, „das Herz der Finsternis“: die afrikanischen Menschen am Ufer werden nicht als Menschen wahrgenommen; ihre Stimmen werden als Tierstimmen interpretiert. Im tiefsten Urwald trifft Marlow den Weißen Kurtz, der als Elfenbeinhändler nach Afrika gekommen ist und im Urwald eine unumschränkte Macht über eine schwarze Gruppe erlangt hat; dort herrschen Repression und Brutalität ebenso wie sexueller Rausch. Kurtz war der „beste Mann“ der Gesellschaft; er hat einen europäischen Alptraum von Afrika realisiert; das „Herz der Finsternis“ befindet sich im Innern des Kongo und in Kurtz‘ Psyche. Der Roman

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konstruiert somit eine Parallele zwischen dem Innern des afrikanischen Kontinents und dem Unbewussten der Europäer. Fragt man in diesem Kontext nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Sprache, so zeigt sich, dass die Weißen die Sprachen der Afrikaner als Tierlaute interpretierten. Kurtz identifiziert das „Primitive“ der Afrikaner als seine Möglichkeit, ein Reich des Schreckens und der Lust jenseits der europäischen Konventionen zu errichten, und er (er‐)lebt das Afrikanische als das Andere des Europäischen, das aber sein eigenes Anderes ist. Kurtz’ letzte Worte vor seinem Tod sind „The Horror“; das Grauen ist aber weniger das Grauen angesichts der vermeintlichen Primitivität Afrikas, sondern das Grauen vor den Untiefen des eigenen Selbst. So wird Afrika zu dem Alptraum der Machtgier und sexuellen Eroberungslust der Europäer, obwohl diese gerade in der Mission die Idee einer „Zivilisierung“ der Afrikaner propagierten. Um 1900 begründet Freud bekanntlich die Psychoanalyse und Conrad entlarvt zur gleichen Zeit europäische Afrika-Diskurse als Diskurse des europäischen Unbewussten. Dabei ist charakteristisch die Gegenüberstellung zwischen der jungfräulichen Verlobten Kurtz’ und dem afrikanischen „Weib“, Kurtz’ Geliebter in Afrika. Wir erkennen das Nebeneinander von Humanismus und Begehren/Gewalt analog zu Adornos Kritik an Kultur nach Auschwitz. Von dieser Perspektive aus kann in der Psychologie des europäischen Bewusstseins eine Kontinuität zwischen kolonialem Rassismus und Antisemitismus konstruiert werden. Auf der anderen Seite zieht Paul Gilroy in seinem einflussreichen Werk The Black Atlantic (Gilroy 1993) eine Parallele zwischen dem Gedächtnis der Sklaverei und dem Gedächtnis der Shoah. Gilroy sieht eine Spannung bei afroamerikanischen Denkern zwischen einem anti-modernem Afrozentrismus mit Bezug auf ein idealisiertes vorkoloniales Afrika, das in Analogie zum Zionismus verstanden werden kann, und einem Denken, das auf die jüdische Erfahrung der Diaspora bezogen werden kann. Er erkennt eine Verbindung des afrikanischen Denkens mit dem Denken der Aufnahmegesellschaften und sieht eine Parallele zu modernen jüdischen Denkern, sodass eine afroamerikanische Moderne, die durch Hybridität gekennzeichnet ist, Analogien zu den Denkern des modernen europäischen und amerikanischen Judentums aufweist. Hier kann ein Bezug zum „Afropolitanismus“ etwa bei Achille Mbembe hergestellt werden. Gilroy betont dabei die „uniqueness of the Holocaust“ und gleichzeitig „the complicity of rationality and ethnocidal terror“ in der europäischen Neuzeit (Gilroy 1993, 213). Und er verweist darauf, dass Bezüge zwischen Erfahrungen der Juden und Erfahrungen der Schwarzen u. a. bei Martin Luther King und James Baldwin hergestellt wurden. Außerdem finden sich Bezüge zwischen NS-Gedächtnis und dem Gedächtnis der Sklaverei etwa bei Toni Morrison in ihrem Roman Beloved.

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4 Dan Diners Gegenposition: Gegenläufige Gedächtnisse (2007) Dan Diners Ansatz kann aus heutiger Sicht als eine radikale Gegenposition zu Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung angesehen werden (vgl. Diner 2007). Er prägte bereits 1988 die Formel von der Shoah als „Zivilisationsbruch“, als Widerlegung der (westlichen) Vernunft. Er selber erkennt aber, dass etwa aus algerischer Perspektive mit den französischen kolonialen Massakern in Sétif ausgerechnet am 8. Mai 1945 ein Auseinanderbrechen des Gedächtnisses der Shoah und des Gedächtnisses des Kolonialismus entstand. Und Diner fragt: Bindet das Gedächtnis des Zivilisationsbruchs auch nicht-westliche Kulturen? Und er antwortet mit „nein“, weil der Zivilisationsbruch in einer Kultur entstanden sei, in der die durch die Vernunft gestaltete Lebenswelt das Erbe des Göttlichen angenommen habe, woraus sich die einschneidende Dimension des „Zivilisationsbruchs“ ergebe. Denn ein theozentrisches Denken könne das Ausmaß dieses Zivilisationsbruchs nicht anerkennen. Den Terminus „Zivilisationsbruch“ hatte Diner 1988 mit nachdrücklichem Erfolg in die Debatte um die Shoah eingebracht. Er hatte erklärt: Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewissheit, die zu den Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens gehören. Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt; ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen, das eine gleichsam grundlose Massentötung, gar noch in Gestalt rationaler Organisation, schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt. […] Den Zivilisationsbruch Auschwitz gilt es im Wesentlichen im Denken jener zu eruieren, die als ausgesprochen säkulare Menschen und Menschenfreunde eine bei aller Skepsis optimistische und zukunftsfrohe Perspektive eingenommen haben, und auf die das Ereignis Auschwitz eine um so niederschmetterndere Wirkung hatte. (Diner 1988, 7, 9)

Diese Position wird in den aktuellen Debatten wieder aufgegriffen, indem die besondere Dimension der Judenvernichtung erneut fokussiert wird. So erklärt Sybille Steinbacher: Die strukturellen Besonderheiten des Holocaust sind unübersehbar – und nicht in jedem anderen Genozidgeschehen vorzufinden: der unbedingte Vernichtungswille, der noch anhielt, als der Zweite Weltkrieg für Deutschland militärisch schon verloren war, die Systematik des Mordprogramms, dessen geographische Reichweite über das gesamte deutsch beeinflusste Europa, und der Umstand, dass die Angehörigen der deutschen Volksgemeinschaft – mindesten als Profiteure und Mitwisser – in die Verbrechen an den Juden einbezogen waren (Steinbacher 2022, 59).

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In seinem Essay Gegenläufige Gedächtnisse von 2007 formuliert Diner aus heutiger Sicht bereits ein Gegenmodell zu Rothbergs multidirektionaler Erinnerung, indem er am Beispiel von Algerien darauf verweist, dass unmittelbar am Ende des Zweiten Weltkriegs das Gedächtnis der Shoah und das Gedächtnis des Kolonialismus auseinandergelaufen seien; es erfolgte nämlich eine „Begegnung zweier Gedächtnisgeschichten zu ein und demselben Tag, zum 8. Mai 1945: dem Tag der deutschen Kapitulation zu Reims und dem Tag des Geschehens in Sétif in Nordalgerien. Just an diesem Tag verübten dort französische Sicherheitskräfte an algerischen Muslimen ein grauenvolles Massaker.“ (Diner 2007, 65) Das Verhältnis von Shoah und Kolonialismus beschreibt Diner in sehr differenzierter Weise, ohne den Primat des Gedächtnisses der Shoah aufzugeben: Und die Kolonialgewalt? Die Anwendung der Folter rückt sie in die Nähe dessen, setzt sie gar dem gleich, was die Résistance unter deutscher Besatzung erlitt. Und sie geht sogar weiter als die systematische Anwendung der Folter zur Bezwingung des Gegners. Im Laufe des Kampfes wird die Kolonialgewalt sich veranlasst sehen, unterschiedslos vorzugehen. Mittels der unterschiedslosen Gewalt wird sie genozidalen Charakter annehmen. […] Die gesichtslose Kriegsführung wird sich all jener bemächtigen, die […] ihrer Herkunft wegen der Gegnerschaft verdächtigt werden. So wird die koloniale Gewalt zunehmend genozidal. Wie nahe kommen sich genozidale Kolonialkriege und Holocaust? Bei aller Absolutheit der kolonialen Gewalt, – und dies im Unterschied zum konventionellen Krieg zwischen sich als Gleiche anerkennenden Gegnern – steht der Holocaust als eine bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft. Weder gilt es durch Gewalt einen Willen zu brechen noch etwas zu erzwingen. Der Vernichtungstod ist ein im Kern grundloser Tod. (Diner 2007, 80–81)

Ein wesentliches Moment von Diners These bezieht sich – wie bereits angedeutet – auf die Einschätzung, dass im kolonialen Gedächtnis insbesondere in der islamischen Welt wegen einer angeblich ausbleibenden Säkularisierung der Einschnitt der Shoah nicht angemessen erfasst werden könne: Das Koloniale Gedächtnis, vor allem das in der arabisch-muslimischen Welt, und das Gedächtnis des Holocaust treten auseinander. […] Auch ist zu beobachten, dass sich der Diskurs über die Gräuel des Kolonialismus ausweitet und der Holocaust als ein vom Westen zu verantwortender Genozid unter anderen Genoziden, als Ausdruck einer von der westlichen Vernunft verursachten Moderne erinnert wird. Die Kritik an der westlichen Moderne eröffnet in der Tat einen Blick auf eine verstellte Wahrnehmung des Holocaust, wie sie in erster Linie in der arabisch-islamischen Welt anzutreffen ist. Eine solche Annahme liefe auf die Überlegung hinaus, dass die unter Muslimen vorherrschende Wahrnehmungsbarriere des Holocaust in einer unzureichenden Profanierung der dortigen Lebenswelten beschlossen ist. Erst vor dem Hintergrund eines weitgehend säkularisierten Weltbilds vermögen sich die dem Geschehen des Holocaust signifikanten Konturen abzubilden; angesichts der die westlichen Lebenswelten durchdringenden Aufklärung […] zeichnet sich der Holocaust als das ab, was er angesichts einer solch fortgeschrittenen Entzauberung auch war: eine Durchbrechung aller Stufen der Vernunft, ein Zivilisationsbruch. […] So dementiert der Holocaust die von der Aufklärung of-

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ferierten Gewissheiten und die Hoffnungen an vernunftgeleitetes menschliches Handeln. Und deshalb wird er zum Signum der Widerlegung westlicher Aufklärungserwartung – ein Signum des Dementis zivilisatorischer Grundannahmen. (Diner 2007, 104–105)

Nur die Erfahrung der Aufklärung und die Einsicht in deren epochales Scheitern ermöglichten eine angemessene Erfassung des Phänomens der Shoah. Diner nähert sich dem Gedanken, dass die Shoah in der europäischem und der außereuropäischen Welt eine unterschiedliche Bedeutung annehmen könnte, bleibt aber (paradoxerweise?) dabei, dass nur die europäische Moderne die Shoah hervorbringen konnte und angemessen erinnern könne: Verpflichtet die westliche Aufklärung und ihr Gedächtnis andere Kulturen – vor allem die Kultur und Zivilisation des Islam? Sollte dem nicht so sein, so käme dem Holocaust dort nicht jene Bedeutung zu, die dem Ereignis im Westen zugeschrieben wird. Allein auf der Grundlage einer zutiefst anthropozentrischen Weltsicht gibt sich die dem Holocaust eingeschriebene Negativität zu erkennen. Eine vergleichbare Erkenntnis bleibt dem eher theozentrisch gebundenen Weltverständnis erspart. Dort kreist die Deutung der Wirklichkeit um die allseitige Präsenz Gottes. […] Während sich die Aufklärung an die Stelle Gottes setzte und ihrerseits durch den Holocaust widerlegt wird, nimmt dieser mit der Annullierung des Glaubens an die Aufklärung jene Stelle ein, die vormals Gott vorbehalten war. So mag es scheinen, dass der im westlichen Bewusstsein dem Holocaust zugewiesene Rang einem strikt theozentrisch gehaltenen Weltbild einer Leugnung Gittes gleichkommt. […] So wird der Auffassung das Wort geredet, die dem Holocaust im Westen zugesprochene Bedeutung käme einer Leugnung Gottes gleich. (Diner 2007, 105–106)

Diners sehr reflektierte und komplexe Perspektivierung des Problems verdient eine genaue Beachtung. Zwei Aspekte sind aber kritisch hervorzuheben: Einerseits scheint eine Art von Eurozentrismus vorzuliegen, wenn das europäische Bewusstsein wegen seiner Säkularisierung privilegiert wird, die auf der anderen Seite nach Diners Meinung an der Entstehung der Shoah mitbeteiligt war. Andererseits wird der Terminus „Zivilisationsbruch“ vielleicht problematisch, wenn man sich die Frage stellt, ob Opfer der Sklaverei und des Kolonialismus wirklich eine Kontinuität der Zivilisation erlebt haben. (Problematisch wäre es, Diner so zu verstehen, dass sich ein Zivilisationsbruch nur in der vermeintlich am höchsten entwickelten europäischen Kultur ereignen konnte. Aber zu dieser Folgerung versteigt sich Diner auf jeden Fall nicht explizit).

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5 Zwei Fallbeispiele: Jean Améry und Peter Weiss über Israel und den Nahostkonflikt Der Auschwitz-Überlebende Jean Améry schreibt in dem Aufsatz Juden, Linke – linke Juden. Ein politisches Problem ändert seine Konturen aus dem Jahre 1973, dass er die Politik Israels gegenüber den Palästinensern missbillige: Ich glaube […], daß die verschiedenen Regierungen des Staates Israel sich schwerer Unterlassungssünden schuldig gemacht haben, weil sie nicht, als es noch möglich gewesen wäre, eine wohldurchdachte, humane und fortschrittliche Araberpolitik entwarfen. Weder bin ich mit jeder Repressalienaktion Israels einverstanden, noch halte ich es für einen gesunden Zustand, daß die Israelis sich zum „Herrenvolk“ machen, indem sie zum Zwecke ihrer wirtschaftlichen und industriellen Expansion arabische Gastarbeiter importieren, die sich, auch wenn es ihnen materiell vielleicht besser geht als je zuvor in ihrer Heimat, in einer unwürdigen Situation befinden. (Améry 2005, 154)

Améry distanziert sich auch von dem Anspruch Israels auf die Jerusalemer Altstadt, indem er erklärt, „[…] so ist mir die starre Unerbittlichkeit, mit der Israel auf den Besitz der Altstadt von Jerusalem besteht, fremd, ja, sie ist mir als eine theologische bis theokratische Besessenheit zutiefst unbehaglich.“ (Améry 2005, 154) Weiterhin betont Améry seine Distanz zu dem konkreten Land Israel, einem Land, „das ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht spreche, dessen Religion nicht die meine ist und dessen Folklore mir so fremd ist wie die irgendeines schwarzafrikanischen Stammes.“ (Améry 2005, 154–155) Und dennoch gibt sich Améry überzeugt, dass die Existenz des Staates Israel für alle Juden der Welt eine existentielle und unersetzbare Sicherheit und Beruhigung darstelle: Jeder Jude hat durch das Bestehen dieses Staates eine neue Identität gewonnen, und zwar auch dann, wenn er sich überhaupt nicht als wesentlich jüdisch bestimmt fühlt. […] Er weiß, […] daß, wenn immer es ihm, wo immer an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, daß er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigender Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigstenfalls unter deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann. (Améry 2005, 156)

Améry will denen nicht widersprechen, die behaupten, „es sei die Ansiedlung der heimatlosen Juden in Palästina ein großes historisches Unrecht gewesen, eine ganz böse und niederträchtige List der Geschichte“ (Améry 2005, 156). Er gibt aber zu bedenken, „daß es kaum ein Staatengebilde gibt, das nicht irgendeinem Unrecht sein Bestehen verdankt“ (Améry 2005, 156), und er erklärt resolut, „daß die Zerstörung dieses Lands [Israel], die ausgesprochen oder nicht – auf dem Programm sowohl der arabischen Staaten als auch der palästinensischen Widerständler steht,

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ein noch viel schändlicheres Unrecht heraufführen würde.“ (Améry 2005, 156) In den Worten der heutigen Debatten gesprochen: Israel ist für den atheistischen Juden Améry keine imperialistische Siedlerkolonie und wenn die USA Israel unterstützen, so hat „Israel die einzige Hand ergriffen, die sich ihm hilfreich entgegenstreckte“ (Améry 2005, 157) und Israel „ist nicht mitverantwortlich für alle politischmilitärischen Taten und Untaten dieses Lands [der USA].“ (Améry 2005, 158) Israel ist also für Améry ein Refugium für die Juden der ganzen Welt, die überall mit einem mörderischen Antisemitismus rechnen müssen, und es ist eine Gründung von Menschen, denen überall auf der Welt mit Diskriminierung und Tod gedroht wurde. Dass Israel die Palästinenser unterdrückt und damit seinerseits zu einem repressiven Staat wird, das wird von Améry ausdrücklich beklagt; die Existenz Israels ist aber gerade im Blick auf die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus unverzichtbar: „Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, daß er bei der Veranstaltung eines ÜberAuschwitz mitwirkt, oder er steuert bewußt auf dieses Über-Auschwitz hin.“ (Améry 2005, 158) In dem Essay Der neue Antisemitismus aus dem Jahre 1976 konzediert Améry mit deutlichen Worten, dass die ‚linke‘ Kritik an Israel in mancher Hinsicht fundiert erscheine: Haben denn nicht in Palästina die Juden ein Volk, das arabisch-palästinensische, von seinem angestammten Grund und Boden vertrieben? Sind sie nicht namentlich in den durch Krieg erworbenen Gebieten eine brutale Besatzungsmacht, vergleichbar den Nazis, die sich zwischen 1940 und 1945 Europa aneigneten? Sind die Israelis nicht Vorposten des Weltimperialismus? Läuft ihre Staats- und Volksidee nicht auf neue und immer neue kriegerische Eroberungen hinaus? Ist der Kampf gegen Israel nicht Teil der allgemeinen guten fortschrittlichen Sache, wie es die nationalen Befreiungskämpfe der Algerier oder der indonesischen Völker waren? (Améry 2005, 162)

Während Améry die einzelnen Aspekte dieses Blicks auf Israel kritisch und differenziert einordnet, bleibt er doch überzeugt, dass es einen – wie er es nennt – neuen und jetzt linken Antisemitismus gebe, der sich allenfalls als Anti-Zionismus tarne: „[…] der Anti-Zionismus ist nichts als die Aktualisierung des alten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je. […] Neu ist […] das beschämende Faktum, dass der als Anti-Zionismus sich bezeichnende Antisemitismus in einem politischen Lager ist, in dem man antisemitische Affekte kaum erwartet hätte: im linken.“ (Améry 2005, 158, 163) Und Améry wiederholt seine Aussage von 1973, mit der er die unverzichtbare Funktion der Existenz Israels für alle Juden der Welt bekräftigt: „Seit der Staat Israel besteht, haben die Juden für alle Fälle ein virtuelles Asyl.“ (Améry 2005, 166) Dabei verweist Améry darauf, dass zum Beispiel die meisten der amerikanischen Juden gar nicht in Israel

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leben wollten, aber dennoch die Existenz Israels als unverzichtbar ansähen: „Worauf es ihnen allen ankommt, das ist die Möglichkeit, die Virtualität der Obdachfindung: wer jemals als Heimatloser durch die Welt irrte, wird dies verstehen können.“ (Améry 2005, 166) Man müsse von der aufgeklärten Linken verlangen können, „daß sie Verständnis aufbringe für die Lage einer seit zwei Jahrtausenden erniedrigten Menschengemeinschaft.“ (Améry 2005, 167) In einer Rede, die Améry 1976 anlässlich der Woche der Brüderlichkeit gehalten hat, erörtert er eine andere Frage, die im Kontext der postkolonialen Perspektive und im Blick auf die multidirektionale Erinnerung auch bedenkenswert erscheint. Er kritisiert nämlich, dass die „neue Linke“ sich kaum für die Verbrechen interessiert, die von vermeintlich fortschrittlichen Regimen und Führern der damals so genannten Dritten Welt ausgingen: Schon sind wir Zeugen, wie die sich als „links“ verstehenden politischen Gruppen kein Wort verlieren, wenn ein abscheulicher Despot und Paranoiker in Uganda sich abscheulicher Morde schuldig macht; wie sie nicht protestieren, wenn der absolute Herrscher Libyens Gesetze erläßt, nach denen ehebrecherische Frauen gesteinigt werden. […] Die Gewalthaber Libyens und Iraks, wo gelegentlich auch Kommunisten in den Kerker geworfen werden, nennt sie [die „neue Linke“] hartnäckig „progressistisch“. Israel aber, kein Musterstaat, gewiß nicht, aber doch ein Gemeinwesen, wo Opposition, auch anti-nationale, sich regen darf, ist in der linken Mythologie ein „reaktionäres“ Land. […] Es ist das politische Hexeneinmaleins. (Améry 2005, 190–191)

In einer aus heutiger Sicht bemerkenswerten Klarheit formuliert Améry dann: Ich glaube allen Ernstes, daß die Linke sich am israelischen, id est: am jüdischen Problem neu zu definieren hat. Steht sie noch für die humanistischen Werte? Ja oder nein? Ist ihr der Begriff Demokratie noch etwas, das mit allgemeinem Wahlrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit, mit den immerhin seit der Französischen Revolution nicht ungekannten „droits de l’homme“ etwas zu schaffen hat? Ist Nationalismus ihr immer noch, was er stets war, ein aus Vertrotztheit geborener politischer Irrtum? Oder ist er vielleicht überall dort genehm, wo er im Zeichen der Gewaltherrschaft sich gegen Juden richtet, und unrecht, sobald, reaktiv, die Juden ihrerseits unter unerträglicher Pression in seine Falle gehen? (Améry 2005, 192)

Die Gegenposition zu Améry vertrat in einer überraschenden Analogie zu den aktuellen postkolonialen Diskussionen der deutsch-schwedische Maler, Dramatiker und Romancier Peter Weiss. Als Jude, der durch die Flucht ins Exil als junger Mann der Vernichtung durch die Shoah entging, entwickelte er massive Schuldgefühle und das Bedürfnis, die aus seiner Sicht problematische Passivität des Exilanten zu überwinden und für die Praxis nach Auschwitz Konsequenzen zu ziehen. Als er im Dezember 1964 das Konzentrationslager Auschwitz besucht hatte, verfasste er den eindrücklichen Text Meine Ortschaft, in dem er das berüchtigte Todeslager als den Ort bezeichnete, für den er eigentlich bestimmt gewesen sei. Entscheidend in unserem Kontext ist aber, dass Weiss am Ende seines Essays feststellte: „es ist noch

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nicht zuende“ (Weiss 1968, 124), wobei diese Aussage auf die Kontinuität von NSEliten in der Bundesrepublik Deutschland bezogen werden kann, vor allem aber auch darauf, dass Weiss bereit war, dafür zu kämpfen, dass ähnliche Situationen von Unterdrückung, Gewalt und Mord nicht wieder vorkommen sollten. Und Weiss zog aus dieser Konstellation den Schluss, sich für ein anti-kolonialistisches Engagement als Konsequenz aus der gefühlten Passivität angesichts der Shoah einzusetzen. Impulse des Marxismus konnten dabei zu einer problematischen weitgehenden Identifizierung von Nationalsozialismus und Kapitalismus verleiten. Das Auschwitz-Drama Die Ermittlung war von diesem Blick auf die Shoah bestimmt, stellte die Ermordung der Juden nicht ins Zentrum der Darstellung, sondern zeigte das Lager als eine radikale Manifestation kapitalistischer Theorie und Praxis. Und in den folgenden Jahren experimentierte Weiss mit Formen des engagierten politischen Theaters, bei denen er sich mit dem portugiesischen Kolonialismus in Afrika (Gesang vom lusitanischen Popanz, 1966) und dem Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam (Viet Nam Diskurs, 1967) befasste. Mit dem großen Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975–1981) korrigierte Weiss diese einseitige Position und fand eindringliche Bilder für die Einzigartigkeit der Shoah, wobei er diese gleichzeitig in eine universale Geschichte der Unterdrückung integrierte (Pergamon, Angkor Wat, französischer Kolonialismus, spanischer Bürgerkrieg usw.). In unserem Zusammenhang ist ein Artikel von großer Bedeutung, den Peter Weiss am 17. Juni 1967 für die schwedische Zeitung Alftonbladet als Reaktion auf Israels Vorgehen im sogenannten Sechstagekrieg verfasste. Hier finden sich Argumentationsmuster, die heute noch die kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels bestimmen und die Spannung zwischen einer anti-imperialistischen Perspektive und einer Nähe zu Israel demonstrieren. Weiss’ Darstellung mündet in einer Fundamentalkritik an der Position Israels im Nahen Osten, ohne dass er wie Améry Israels Rolle als Zuflucht für die Überlebenden der Shoah in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Weiss kritisiert zunächst die Kooperation des israelischen Verteidigungsministers Moshe Dayan mit den US-amerikanischen Streitkräften in Vietnam, betont aber gleichzeitig seine anfängliche Distanz gegenüber einer eindimensionalen Kritik an Israel: In den sozialistischen Ländern hat man betont, daß Israel in seinem Kampf gegen die arabischen Staaten den Interessen des Imperialismus dient. Wir, die wir mit großer Sympathie die Aufbauarbeit in Israel verfolgt haben und die wir uns mit der Forderung nach der absoluten Lebensberechtigung des Staates Israel solidarisch fühlen, haben uns diese Auffassung nicht ganz zu eigen machen wollen. (Weiss 1971, 71)

Weiss geht also hier zunächst von der Voraussetzung aus, die Améry in den Jahren nach 1967 immer mehr ins Zentrum seiner Überlegungen stellte und die das Existenzrecht Israels ohne Einschränkungen verteidigte. Der Verlauf des Sechstage-

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krieges hat aber, wie die Fortsetzung von Weiss’ Artikel zeigt, zwar nicht die Verteidigung des Existenzrechts Israels in Frage gestellt, sehr wohl aber eine solidarische Haltung zu dem Umgang der Israelis mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarn: Es wird indessen immer deutlicher, daß Israel nicht nur um sein Leben kämpfte, sondern daß seine Regierung und sein Militär die Mentalität eines Herrenvolkes gegenüber dem arabischen Volk angenommen haben. Die Kräfte in Israel, die für ein friedliches Zusammenleben zwischen Israelis und Arabern arbeiteten, sind gegenwärtig aus dem Spiel. Die israelische Bevölkerung ist einer aggressiven militärischen Politik verfallen, welche die friedliche Entwicklung im Mittleren Osten bedroht. Das Erbe der englischen Kolonialwelt, geschürt durch die Gegensätze zwischen Arabern und Juden, wird noch immer am Leben erhalten und benutzt, um einen Angriff als Verteidigung zu tarnen. (Weiss 1971, 71)

Aus heutiger postkolonialer Perspektive erkennen wir, dass Weiss zwar einerseits die Solidarität mit Israel als dem Staat der Juden betont, dass er aber andererseits aufgrund der politischen und militärischen Praxis Israels den Staat der Juden als Erben des europäischen Kolonialismus ansieht. Dabei geht es für Weiss auch um die Frage, welche Lehren aus der Shoah zu ziehen sind: So wie wir gegen den Genocidhaß der Vereinigten Arabischen Republik gegen Israel reagiert haben, so mußten wir auch auf Israels Vormarsch auf arabisches Gebiet reagieren. Wir hörten Ben Gurion sagen, daß er es für das Beste hielte, wenn alle Araber Israel verließen. Nach den furchtbaren Erfahrungen, denen die Juden selbst vor fünfundzwanzig Jahren ausgesetzt waren, müßte dieser Standpunkt ganz verworfen werden. (Weiss 1971, 71–72)

Weiss nähert sich damit einer Position, die von Améry vehement kritisiert wurde, weil sie Israels Vorgehen wie das aller anderen Staaten bewertet und die besondere Rolle des Staates der Juden aus dem Blick nimmt. Während Améry darauf verwies, dass jenseits aller harten Kritik an der konkreten Politik Israels die Solidarität mit dem Staat der Juden essenziell bleibe und Positionen, die sich vorbehaltlos mit den arabischen Feinden Israels solidarisierten, einem neuen Antisemitismus gleichkämen, stellt Weiss die aggressiven Tendenzen Israels in den Vordergrund und kommt aus einer „anti-imperialistischen“ Perspektive zu einer eindeutigen Positionierung gegen Israel. Auf der anderen Seite zögert Weiss nicht, das Vorgehen der USA gegen Vietnam mit den Praktiken der Nationalsozialisten in Verbindung zu bringen. In seinem umstrittenen Aufsatz Vietnam! (erschienen in Dagens Nyheter am 2. August 1966) verweist er vor allem auf den Einsatz von Giftgas und erkennt Anzeichen eines Genozids gegen die vietnamesische Zivilbevölkerung. Weiss schreibt:

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Seit 1965 benutzen die amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten offiziell Tränen- und Brechgase in täglicher Routine. Großangriffe in Gasmasken werden gegen den gelähmten Feind geführt. Höhlen, Tunnelanlagen, Schutzkeller werden mit Gas ausgeräuchert. Neue effektive Methoden zur Gasausschleuderung werden von amerikanischen Produzenten angeboten. Die Gebrauchsanweisungen entsprechen dem Erfindungsgeist, den deutsche Fabrikanten einmal der Errichtung von Vergasungs- und Verbrennungskammern widmeten. (Weiss 1971, 60)

Weiss spitzt seine Kritik zu, indem er einem jüdischen Protagonisten auf Seiten des US-Militärs vorwirft, eine ähnliche Praxis wie die der Nationalsozialisten gegenüber den Juden zu propagieren. Über die Äußerungen der Brigadegenerals Jaquard Rothschild schreibt Weiss: „Wenn Rothschild, der seinem Namen nach zu denen gehört, die von Hitler zur Vernichtung verurteilt wurden, jetzt in einem schrecklichen Kreislauf der Geschichte ein anderes Volk dem Genocide ausliefern will, so macht er sich zum Sprecher für eine Tendenz, die sich gegenwärtig im rapiden Ansteigen befindet.“ (Weiss 1971, 61) Die Positionen Amérys und Weiss’ stehen prototypisch für eine unversöhnliche Kontroverse zwischen politisch engagierten Juden und sie betreffen auch das Verhältnis zwischen anti-imperialistischem (heute postkolonialem) Engagement und der Position zu Israel. Man erkennt, dass der heutige Streit in keiner Weise neu ist und sich in den 1960er und 1970er Jahren schon in sehr zugespitzter Form manifestierte. Bezeichnenderweise kam es zu keinem direkten Gespräch zwischen Améry und Weiss und diese Sprachlosigkeit beherrscht auch heute noch paradoxerweise die lautstarken Diskussionen um Postkolonialismus und Antisemitismus.

6 Einsprüche aus Lateinamerika und Afrika: Kolonialismus und Sklaverei als „dunkle Seiten der westlichen Moderne“ Als Einspruch gegen das von Dan Diner repräsentativ formulierte Verständnis der Shoah als „Zivilisationsbruch“ können dekoloniale und postkoloniale Positionen verstanden werden, die betonen, dass die westliche Moderne seit der Conquista, der Kolonialisierung und Ausplünderung Amerikas, und seit dem Sklavenhandel und dem Kolonialismus in Afrika Facetten der Unmenschlichkeit und des Völkermordes zeugte, welche Diners Rede vom „Zivilisationsbruch“ zumindest relativieren. Aus lateinamerikanischer Perspektive formuliert Walter D. Mignolo eine Kritik des Kolonialismus und der europäischen „Modernität“ aus lateinamerikanischer Perspektive (vgl. Mignolo 2011 und Mignolo 2019), wobei er – durchaus in Übereinstimmung mit Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung – bei der Anthropologie und Metaphysik der Aufklärung ansetzt und die dualistische Perspektive

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Descartes’ auf Seele/Geist und Körper und die damit verbundene rationalistische Unterdrückung der Leiblichkeit als Basis einer inhumanen Praxis ausmacht. „Indios“ und „Neger“ konnten beherrscht und im Extremfall vernichtet werden, weil sie in den Augen der Europäer nur Natur, aber keine Kultur verkörperten und keine Herrschaft der Seele über den Körper im Sinne der westlichen „Moderne“ praktizierten. Die „Erfindung der Rasse“ setzte, so Mignolo, mit dem Aufkommen der Moderne ein und als Angehörige der niederen Rassen gelten diejenigen, die den Körper nicht kontrollierten wie die „Weißen“ und die Herrschaft über die „niederen Rassen“ wurde legitimiert durch deren vermeintliche anthropologische Minderwertigkeit. Es lässt sich auch eine Kolonialisierung der Zeit feststellen, indem die teleologische Geschichtsphilosophie und die mit ihr verbundene Interpretation anderer Kulturen als „frühere“ und damit primitive, als Vorstufen des Europäischen die Suprematie der Europäer legitimieren sollte. Auch die Ausbeutung der Natur (ebenfalls als „res“ im Sinne Descartes’) zählt zu diesen dunklen Seiten der Moderne lange vor Auschwitz. Aus afrikanischer postkolonialer Perspektive argumentiert Achille Mbembe in seiner Kritik der schwarzen Vernunft (2017), dass sich die Entwicklung des globalen Kapitalismus aus dem transatlantischen Sklavenhandel ergeben habe und dass Aufklärung und Moderne Europa als Zentrum der Welt definierten und mit der Konstituierung der Figur des „Negers“ als eines menschlichen Objekts dem Humanitätsideal der Moderne und Aufklärung in der Praxis immer schon widersprachen. Zwar wurde, so Mbembe, in Europa Kritik an der Sklaverei und der Diskriminierung der Schwarzen geübt, aber dies verhinderte nicht die Erzeugung einer Kategorie des „Subalternen“, der als Pendant des Europäers/Amerikaners der oder die Unterlegene der Weltordnung war (und ist). Im Prozess des „Schwarzwerdens der Welt“ entstand ein System der Unterdrückung und der Ungleichheit auch in der gegenwärtigen postkolonialen Welt. In der Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Gedächtnis der Shoah und dem Gedächtnis des Kolonialismus verweist Mbembe darauf, dass die Kategorie des „Negers“ als Grundlage der neuzeitlichen Weltordnung verstanden werden und dass somit Rassismus als deren Basis gelten kann. Insofern kann mit Arendt, Césaire und Mbembe argumentiert werden, dass der antisemitische Rassismus eine Entwicklung darstellt, die zeitlich auf den kolonialen Rassismus folgt und in diesem einen wichtigen Vorläufer hat.

7 Postkoloniale Studien und Israel-Diskurse Die Frage nach dem Verhältnis von NS-Gedächtnis und Gedächtnis des Kolonialismus erscheint in der gegenwärtigen postmigrantischen Gesellschaft von elementarer Bedeutung. Dabei kommt es innerhalb der deutschen Gesellschaft wie auch

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international zu kontroversen Diskussionen um die Stellung Israels in der Geschichte und in der Gegenwart, wobei auch das Verhältnis von Zionismus und Kolonialismus diskutiert wird. War und ist Israel eine Siedlerkolonie? „Aus palästinensischer Sicht waren und sind die jüdischen Einwanderer Kolonisten. Aus jüdischer Sicht war Palästina und dann Israel vor 1967 vor allem eine Zuflucht für Flüchtlinge“ (Friedländer 2022, 26), erklärt Saul Friedländer, der dennoch jede grundsätzliche Kritik an Israel zurückweist. Dagegen formuliert Judith Butler in ihrem Essay Am Scheideweg (2015) eine Fundamentalkritik des Zionismus; das Projekt des Staates Israel sei von Anfang an mit der Unterdrückung der Palästinenser verbunden gewesen, woraus sich die Notwendigkeit einer Relativierung jüdisch-israelischer Souveränität ergebe. Der israelische Philosoph Omri Boehm erklärt in seiner Schrift Israel – eine Utopie (2020), die von vielen privilegierte ZweiStaaten-Lösung würde die Unterdrückung der Palästinenser zementieren; Boehm sieht die Notwendigkeit einer Föderation mit gleichberechtigten Palästinensern und Israelis, wobei man mit Rothberg und Boehm von der Notwendigkeit einer multidirektionalen Erinnerung an Shoah und Nakba, der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Wohngebieten 1947, sprechen könnte, auch wenn die Einzigartigkeit der Shoah nicht in Frage gestellt werden sollte. Ausgewogen diskutiert Micha Brumlik die hier aufgeworfenen Fragen in seinem Essay Postkolonialer Antisemitismus? (2021). Er übt Kritik an der BDS-Resolution des deutschen Bundestages, die deren Israelkritik als Antisemitismus wertet, und er unterstreicht die Berechtigung der Kritik an Israels Besatzungspolitik. Auch die Kritik Achille Mbembes an der israelischen Besatzung, die diese als exemplarische Biopolitik im Rahmen der Unterdrückung des Globalen Südens auffasst, sei teilweise nachvollziehbar, teilweise übertrieben. Die Gründung des Staates Israel und der Krieg 1947 mit der Nakba bedürfen nach Brumlik einer differenzierten Bewertung und die jüdische Besiedlung Palästinas sieht Brumlik ganz im Sinne Amérys als Folge von Antisemitismus und Shoah. Brumlik bezweifelt, dass sich der Zionismus und eine Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern ausschlössen, und er unterstreicht die Notwendigkeit einer Berücksichtigung des Gedächtnisses der Nakba.

8 Zusammenfassung Wir haben die These Dan Diners ausführlich gewürdigt, der erklärt, dass der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz auf die säkulare Kultur des Westens bezogen sei, und der daraus eine unaufhebbare Gegenläufigkeit von NS-Gedächtnis und Gedächtnis des Kolonialismus ableitet. Demgegenüber steht der produktive Impetus Rothbergs, der Gedächtnis nicht als „Nullsummenspiel“ sehen will, sondern einen gegenseiti-

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gen Bezug und sogar eine gegenseitige Stärkung etwa des NS-Gedächtnisses und des Gedächtnisses des Kolonialismus zu erkennen meint. Wir haben gesehen, dass die These von der „Präzedenzlosigkeit“ und „Einmaligkeit“ der Shoah mit Auffassungen kollidiert, die in Konzepten der Sklaverei und des Kolonialismus („Indio“, „Neger“) Analogien und Differenzen zu den späteren Entwicklungen sehen, die zur Shoah führten. Rothberg hat verwiesen auf Bezüge zwischen Imperialismus und Kolonialrassismus auf der einen und NS-Rassismus auf der anderen Seite, die von Arendt und Césaire in sehr verschiedener Weise aufgezeigt wurden. Paul Gilroy hat gezeigt, dass Juden und Afroamerikaner die Erfahrung der Diaspora teilen, sodass Bezüge zwischen dem Gedächtnis der Sklaverei und dem NS-Gedächtnis hergestellt werden können. Walter Mignolo unterstreicht im Denken der Dekolonisation, dass die Abwertung außereuropäischer Völker als Grundlage der Moderne und des frühen Kolonialismus verstanden werden könne. Mignolo möchte in dem dekolonialen Denken auch der Spiritualität der indigenen Kulturen eine neue Bedeutung zuschreiben und er fordert insofern eine Selbstkritik der europäischen Moderne auch in deren einseitiger Betonung des säkularen Denkens – wobei sich hier eine interessante Diskussion mit der Säkularitäts-These von Dan Diner ergeben könnte. Mbembe sieht in der Konstruktion des „Negers“ ein konstitutives Moment der europäischen Moderne, die insofern aufgrund ihres grundlegenden Rassismus nicht im positiven Sinne als „Zivilisation“ begriffen werden könne. Insgesamt sollte festgehalten werden, dass der scheinbar unversöhnliche Streit zwischen dem NS-Gedächtnis und dem Gedächtnis des Kolonialismus nicht überdecken dürfte, dass es beiden Seiten um eine Überwindung unmenschlicher Strukturen und Praktiken geht und dass beide Parteien Rassismus, Unterdrückung und illegitime Gewalt überwinden wollen. Bei allen Differenzen sollte dieser gemeinsame Impetus im Vordergrund stehen und die Disputanten sollten den Geist gegenseitiger Verdächtigungen überwinden. Hierzu soll dieser Aufsatz einen bescheidenen Beitrag leisten. Es muss möglich sein, in einem dialektischen Denkprozess das „Ereignis Auschwitz“ (Diner) in seiner Einmaligkeit zu begreifen und gleichzeitig dem Leiden der Opfer von Sklaverei, Kolonialismus und Genoziden von Armenien bis Ruanda den Respekt zu erweisen, dessen sie bedürfen.

„Multidirektionale Erinnerung“ oder „Gegenläufige Gedächtnisse“?

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Die Gewalt multidirektional und postkolonial lesen Zur Relevanz politisch-ethischer Fragen in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von Gewaltgeschichten

1 Einleitung Im postkolonial-globalen Zeitalter erlebt man weltweit neue Formen der kollektiven Erinnerung, die integrale Teile politischer Verhandlungen sind. Die zu konstatierende Pluralisierung der Erinnerung ermöglicht einen neuartigen Zugang zu Gedächtnis und Geschichte. So ist etwa die Erinnerung an den Holocaust mit einer Vielfalt von Bedeutungen und Diskurszusammenhängen verbunden. Denn dieses Ereignis wird oft in Zusammenhang mit Kolonialismus, Rassismus und Unterdrückung so reflektiert, dass es „einem globalen Konsens des allgemeinen Mitgefühls“ gerecht wird (Sznaider 2022, 195). In der letzten Zeit avancierte vor allem in Deutschland die Erinnerung an die Kolonisation zu einem wichtigen Element, welches zusätzlich zu der sich bereits etablierten Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit das deutsche politische Selbstverständnis prägt. „Die zentrale Rolle, die der Nationalsozialismus und der Holocaust […] in der Erinnerungskultur einnahmen, hat“ nämlich, so Sebastian Conrad, lange Zeit dazu beigetragen, die koloniale Erfahrung weiter in den Hintergrund zu drängen. Da es überdies nur eine geringe Migration aus den ehemaligen Kolonien nach Deutschland gegeben hatte, lebten hier keine einflussreichen Gruppen, die die Anerkennung der kolonialen Vergangenheit einfordern konnten. (Conrad 2019, 11)

Mittlerweile haben in Deutschland als einer „postmigrantischen Gesellschaft“ (vgl. Foroutan 2019) koloniale Themen aufgrund der heutigen globalen Migration und Verflechtung Konjunktur. Weil die EinwanderInnen, darunter auch Menschen aus den ehemaligen Kolonien, die deutsche politische Kultur bereichern, muss diese sich so erweitern, dass sich jene neuen MitbürgerInnen „mit ihrem Erbe und gegebenenfalls auch ihrer Leidensgeschichte darin wiedererkennen können.“ (Habermas 2022, 12) Denn mit ihrer Einbürgerung akzeptieren diese Menschen auch das geschichtliche, von Kolonisation und Holocaust geprägte Erbe Deutschlands und machen es zu einem bedeutenden Teil ihrer Geschichte. Zudem bringen sie https://doi.org/10.1515/9783111181530-006

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auch ihre Erinnerungen mit, die zu einem wichtigen Bestandteil des deutschen Erinnerungsgehalts werden. Dies impliziert eine doppelte Forderung: sowohl die ImmigrantInnen als auch Deutschland müssen sich öffnen für „fremde“ (Gewalt‐) Geschichten. Demnach geht die neue Orientierung der bisher zentral von der Auseinandersetzung mit Auschwitz geprägten deutschen Erinnerungskultur notwendigerweise mit einem neuen Selbstverständnis des immer heterogener werdenden Landes einher. Die neue Erinnerungskultur räumt verschiedenen (Leidens‐)Geschichten einen wichtigen Platz ein und ermöglicht einen umfassenden Blick darauf. Nicht von ungefähr ist der Holocaust auch in Deutschland inzwischen Gegenstand vergleichender Gewalt- und Genozidforschung, die sich zur Aufgabe macht, „die Komplexität organisierter Gewalt zu erforschen, durch Vergleiche einzuordnen, nach Entwicklungsphasen, Systematiken und Mustern von Gewalt zu fragen, um am Ende Wege zu finden, ihr künftig vorzubeugen.“ (Steinbacher 2022, 56) Ein solcher Ansatz, der um das Verständnis von ‚verflochtenen Geschichten‘ bemüht ist, ist für viele Verfechter der Thesen von der weltgeschichtlichen Singularität und Präzedenzlosigkeit des Holocaust nicht unproblematisch. Denn die besondere jüdische Opfererfahrung schließt ihnen zufolge jede Form der Universalisierung aus. Das einzigartige Ereignis des Holocaust ließe sich demnach deutlich von anderen Völkermorden unterscheiden (näher zu dieser Debatte siehe Kühne 2013). Beide Tendenzen beziehen sich aber, so Natan Sznaider, auf historische Verantwortung und Schuld. […] [und] schließen sich […] nicht aus. Der Holocaust kann durchaus ein singuläres Ereignis sein und gleichzeitig mit anderen Ereignissen verglichen werden. Die Einzigartigkeit eines historischen Ereignisses kann ja nur durch Vergleich bestimmt werden. (Sznaider 2022, 185)

Durch den Vergleich lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen Ereignissen herausarbeiten, die ähnliche Ursprünge aufweisen. Zu den Ereignissen, mit denen der Holocaust häufig verglichen bzw. in Verbindung gebracht wird, ohne unbedingt dabei relativiert zu werden, zählen neben der Sklaverei und dem Sklavenhandel etwa die Kolonialverbrechen. Thomas Sandkühler, Angelika Epple, und Jürgen Zimmerer (2021) zufolge fungiert etwa die Untersuchung von Wurzeln der Nazi-Verbrechen, wie sie im deutschen Kolonialismus in Namibia sichtbar werden, als „postkoloniale Erneuerung einer verblassenden Erinnerung an den Holocaust“ (27). „Indem der deutsche Kolonialismus“, so heißt es weiter, „vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Holocaust thematisiert wird und die Verbindungslinien zu den sogenannten deutschen Schutzgebieten diskutiert werden, gewinnt der Holocaust neue Aktualität.“ (27; siehe hierzu auch Steinbacher 2015, 83–101) In den vorangegangenen zehn Jahren kehrt die längst ‚vergessene‘ oder verdrängte Kolonialepoche nicht nur in den ehemaligen Kolonien, sondern auch in

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Deutschland verstärkt in die Erinnerung zurück. Die im Sommer 2021 offiziell gewordene, wenn auch heute noch in Deutschland und in Namibia umstrittene politisch-ethische Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama (1904–1908) durch die Bundesrepublik Deutschland markiert eine ausschlaggebende Wende in dem globalen Akt der Erinnerung an die von den ehemaligen Kolonialmächten mit aller Brutalität verübten Kolonialverbrechen. Dieses Massaker genozidalen Ausmaßes zieht vermehrt Aufmerksamkeit auf sich und die Auseinandersetzung damit verschärft das Gedächtnis-Problem und ruft postkoloniale Reflexionen hervor, die Diskurse zu Holocaust und Kolonialismus verbinden. Daher verwundert es nicht, dass im Kontext der Holocaust-Erinnerung und in Zusammenhang mit der so genannten „‚kolonialistischen Wende‘ in den Holocaust-Studien“ (Sznaider 2022, 82) sich eine Tendenz zur Ko-Erinnerung (‚Co-memoration‘)¹ und zur ‚Globalisierung‘ der deutschen Gewaltgeschichte beobachten lässt. Die große Anzahl der in den letzten Jahren veröffentlichten Bücher und Sammelbände zum Gedächtnis des Holocaust, des Kolonialismus und anderer Massengewalttaten sowie zu der darüber kontrovers geführten Debatte² zeugt davon, wie bedeutsam die Auseinandersetzung mit dem noch virulenten Thema der Gewalt ist. Sie verstärkt auch das Interesse an dem Gegenstand. Eine solche Konzentration auf Gewalt scheint ein Indiz dafür zu sein, dass der Diskurs darüber mittlerweile global geworden ist. Die Gewaltthematik erfordert nicht zuletzt in einer heterogenen (Welt‐)Gesellschaft eine mehrdimensionale Reflexion und ruft wesentliche Fragen von Ethik, Politik und Verantwortung hervor. Wenn man vor diesem Hintergrund Gewaltgeschichten global betrachten möchte, ist es sinnvoll, multidirektional und postkolonial vorzugehen. Dabei ist der Rekurs auf jene (Gewalt‐)Theorien erforderlich, die dem umfassenden Gegenstandsbereich und dessen besonderer Komplexität gerecht werden. Zu diesen Theorien gehören Michael Rothbergs Theorie des multidirektionalen Erinnerns, aber auch Jacques Derridas Dekonstruktivismus. Es geht mir in diesem Beitrag zum einen darum zu zeigen, dass wichtige Grundlagen der multidirektionalen Erinne-

1 Mit diesem Begriff bezeichnen Daniela Henke und Tom Vanassche (2020, VIII) eine „kulturgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Tendenz der Gegenwart […], die sich innerhalb der memory studies in Rothbergs Thesen niedergeschlagen hat.“ Diese Tendenz verweise auf eine Denkstruktur, die in einem Zusammendenken historischer Ereignisse bestehe. 2 Vgl. etwa Zimmerer 2011; Bechhaus-Gerst und Zeller 2018; Klävers 2019; Conrad 2019; Terkessidis 2021; Friedländer et al. 2022; Sznaider 2022; Melber und Platt 2022. Zur Fortsetzung dieser Debatte in Zusammenhang mit der Achille Mbembe-Kontroverse vgl. Brumlik 2021.

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rungspraxis schon in Jacques Derridas Theorie zu finden sind,³ an die sich wiederum die postkolonialen Theorien anschließen. Das Theoriegebäude und die Schriften des französischen Philosophen fungieren in der Tat, wie gezeigt werden soll, als ein wichtiger Subtext, der immer wieder von Rothberg implizit aufgegriffen und erinnerungskulturell sowie erinnerungspolitisch neu formuliert bzw. im Hinblick auf die Entwicklung einer mehrperspektivischen Sicht auf Gewalt und Gewaltgeschichten weitergedacht wird. Diesen mehrdimensionalen Blick kann man also nur besser rekonstruieren und nachvollziehen, wenn man diesen Hintergrund erkundet. Mit diesem Verfahren soll ein anderer Zugang zur Theorie der multidirektionalen Erinnerung ermöglicht werden. Darüber hinaus soll bei diesem Rekonstruktionsprozess gezeigt werden, wie zentral die Kategorie der Ethik sowohl bei Derrida als auch bei Rothberg ist und inwiefern sie eine produktive Perspektive für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Erforschung von Gewalt(‐geschichten) eröffnen kann. Dies gilt besonders, weil postkolonial ausgerichtete literaturund kulturwissenschaftliche Reflexionen auch das Ethische und Politische in den Blick nehmen. Ausgehend von dem Postulat, dass der multidirektionale Blick einen postkolonialen Ansatz darstellt, soll dargelegt werden, wie beide produktiv aufeinander bezogen und analytisch nutzbar gemacht werden können. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: Wie lässt sich Gewalt sowohl in Derridas als auch in Rothbergs Theorie aus einem postkolonialen Blickpunkt heraus konzeptualisieren? Was ist eigentlich postkolonial in dem multidirektionalen Gedenken? Besteht das Postkoloniale lediglich in der Aufarbeitung (post‐)kolonialer Erinnerungskulturen sowie (post‐)kolonialer Situationen und Konstellationen oder ist es auch mit einer bestimmten Herangehensweise ans Gedenken verbunden? Welche komplexen Zusammenhänge lassen sich herstellen und welche Konsequenzen ergeben sich für eine sprachbewusste gesellschaftswirksame Gewaltforschung und im Hinblick auf die Gewaltprävention? Bevor diesen Fragen nachgegangen wird, erscheint es vorerst angebracht, Derridas Theorie vorzustellen, die, wie im Folgenden gezeigt wird, als eine dekonstruktive Ethik bezeichnet werden kann.

3 Rothberg (2021) selbst schreibt an einer Stelle seines Buches, dass Derridas Schriften ein produktives Feld für die Anwendung seiner Theorie und Methode darstellen (54). In Rothbergs Arbeit kommt aber Derrida argumentativ gar nicht zu Wort.

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2 Einige Anmerkungen zu Jacques Derridas dekonstruktiver Ethik Derridas philosophisches und literaturkritisches Denken hat in verschiedenen Forschungsfeldern wie u. a. der Bedeutungstheorie, der Ästhetik und vor allem den Literatur- und Kulturwissenschaften einen bedeutenden Einfluss gehabt (vgl. Niederberger und Wolf 2007, 7). Wenn man den Verständnisschlüssel seiner Arbeiten finden und nachforschen will, was seiner berühmten Theorie zugrunde liegt, muss man auf einige Aussagen des Philosophen zurückgreifen. Diese Aussagen, die in der Forschung nur selten in den Blick genommen werden, machen den Einfluss des Holocaust auf sein Denken deutlich. In einem in Jerusalem geführten Gespräch aus dem Jahr 1998 sagt Derrida: Die Shoah, oder der Holocaust hat unsere Erfahrung der Welt derart absolut beeinflusst, dass sie sich nicht ohne weiteres als separates Thema definieren lässt. […] Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass sich meine gesamte bisherige Arbeit im Namen der ‚Dekonstruktion‘ durch etwas wie ‚nach Auschwitz‘ reduzieren oder zusammenfassen lässt […]. Dies wäre weder korrekt noch seriös. Und doch glaube ich, dass diese Arbeit, die ich auf mich genommen habe oder die sich mir auferlegt hat, weder die gleiche Form noch die gleiche Dringlichkeit gehabt hätte, wenn die großen Themen westlicher Rationalität, westlicher Philosophie oder westlicher Metaphysik in Europa nicht derart in Frage gestellt worden wären, zunächst durch den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und dann spezifischer durch ein Ereignis wie den Holocaust. (Derrida 2006a, 114, 115.)

Auch Derridas biografische Besonderheiten können erklären, warum sein Denken vom Holocaust beeinflusst wurde. Er formuliert die zitierte Aussage nicht nur als Philosoph, sondern auch und besonders vor dem Hintergrund seiner damaligen Erfahrung antisemitischer Diskriminierungen in Frankreich. Und zwar als nordafrikanischer Jude aus der ehemaligen französischen Kolonie Algerien. Die damit verbundene doppelte Erfahrung der Ausgrenzung erklärt weiterhin, warum Derrida sich in seinen Schriften mit Fragen der Alterität und Fremdheit beschäftigt. Derrida zufolge haben der Totalitarismus und ganz besonders der „Zivilisationsbruch“⁴ Auschwitz die vermeintlich rationale Bestimmtheit der Welt und des menschlichen Verhaltens und Handelns, also die bisherigen Prämissen einer rational orientierten Gesellschaft und Menschheit, ins Schwanken gebracht. Zu den Charakteristiken des Totalitarismus gehört, wie der Philosoph betont, die Topologie der Vereinheitlichung, die Tendenz zur Homogenisierung und ‚Tilgung der Diffe4 Das ist laut Dan Diner (2022, 79) eine „von einer fundamentalen ontologischen Erschütterung“ hervorgerufene „anthropologische Krise“.

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renz‘ und des Differenten. Der rassistische Antisemitismus, aus dem der Holocaust hervorging, hing mit dem Aufstieg des Totalitarismus zusammen. Die Dekonstruktion als Post-Holocaust-Diskurs, das heißt als Reaktion auf den Holocaust als eine Ausgeburt der Moderne dezentriert alte holistische Identitätskonzepte und erschüttert eine ethnozentrische und nationalistische Vorstellung von Sprache, Identität und Kultur. Denn eine solche Vorstellung hat ständig zu hegemonialen Konflikten zwischen Kulturen und Nationen geführt und hat darüber hinaus rassistische Thesen zur Folge gehabt, die die wesentliche Voraussetzung für den Holocaust darstellten. Schon 1988 formuliert Derrida in seinem wenig bekannten Band Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel…, welcher sich mit den von dem jungen Paul de Man zwischen 1940 und 1942 in belgischen Zeitungen geschriebenen antisemitischen und dem Faschismus nahen Artikeln auseinandersetzt, den Sinn und Zweck der Dekonstruktion folgendermaßen: Läuterung, Säuberung, Totalisierung, Wiederaneignung, Homogenisierung, Objektivierung im Eiltempo, gutes Gewissen, Stereotypie und keine Lektüre, unmittelbare Politisierung oder Entpolitisierung (beides geht immer Hand in Hand), unmittelbare Historisierung (damit verhält es sich wie eben), unmittelbare ideologisierende Moralisierung (die Immoralität selbst) aller Texte und aller Probleme, Prozeß, Rechtsspruch,Verurteilung oder Freispruch im Eilverfahren, standrechtliche Hinrichtung oder Verklärung. Das ist es, was es zu dekonstruieren gilt, ich kann hier nur ein paar Anhaltspunkte in dem Feld geben, das den Arbeiten und Verantwortlichkeiten offensteht, die seit zwei Jahrzehnten Dekonstruktionen, im Plural, heißen. (Derrida 1988, 106, Herv. i. O.)

Davon ausgehend stellt Derrida zwei Regeln von Dekonstruktionen heraus, die eine politisch-ethische Grundlage aufweisen: 1) [D]ie Achtung für den anderen, d. h. die seines Rechtes auf Differenz in seinem Verhältnis zu den anderen, aber auch in seinem Verhältnis zu sich. […] [die] Achtung des Rechtes auf Geschichte, auf eine Verwandlung seiner selbst und seines Denkens, das sich nie zu Homogenem totalisieren oder reduzieren läßt (und die, die diese Reduktion vornehmen, geben der Zukunft ein sehr gravierendes ethisch-politisches Beispiel) 2) [D]a wir gerade über den totalitären, faschistischen, nazistischen, rassistischen, antisemitischen Diskurs reden, von all den Gesten, ob diskursiv oder nicht, die der Komplizenschaft mit ihm verdächtigt werden, möchte ich das Mögliche tun und natürlich die anderen dazu einladen, um zu vermeiden, im Spiegelbild, und wäre es virtuell, die Logik der derart inkriminierten Diskurse zu reproduzieren. (Derrida 1988, 103, 104, Herv. i. O.)

Die „Differenz“ ist für Derrida ein Recht, das dem Menschen anerkannt und aufrechterhalten werden muss. Mit „Recht auf Geschichte“ meint der Philosoph auch das Recht des Individuums auf die Artikulation seiner Geschichte oder seiner Erfahrung, besonders, wenn diese geschichtliche Erfahrung traumatisch ist. So kann man daraus lernen und vermeiden, dass die rassistische und antisemitische Dis-

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kurslogik, die dazu geführt hat, in der Zukunft reproduziert wird. Das ist für Derrida ein ethischer Impetus, der der Dekonstruktionstheorie inhärent ist. Derrida verfährt auch insofern mehrdimensional, als er unterschiedliche Gewaltgeschichten in den Blick nimmt und in Beziehung zueinander setzt. So schreibt er in seinem Essayband Das andere Kap in nahezu multidirektionaler Weise: [D]ie Verbrechen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fanatismus […] verbinden sich miteinander, sie verbinden sich indes auch – und durchaus nicht zufällig – mit dem Hauch, dem Atem, dem ‚Geist‘ des Versprechens selber. (Derrida 1992, 10)

Derrida reflektiert in seiner gewaltbewussten Theorie den Antisemitismus zusammen mit anderen Gewalttaten wie etwa den kolonial-rassistischen. Er stellt also insofern einen multidirektionalen Bezug zwischen unterschiedlichen Gewalttätigkeiten her, als er Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Formen von Verbrechen sieht, die die Gewaltausübung gemeinsam haben. Darüber hinaus hängen diese Verbrechen auch von ihren Ursachen her miteinander zusammen, denn sie haben ein identitäres Fundament. Derrida schreibt diesbezüglich: Hoffnung, Furcht und Zittern sind durchaus den Zeichen angemessen, die wir überall in Europa wahrnehmen. Gerade im Namen der Identität (kulturell definiert oder nicht) wird hier nun die schlimmste Gewalt entfesselt, ereignen sich die schlimmsten Gewalttätigkeiten; jene, die wir nur zu schnell erkennen, ohne ihr Wesen gedacht zu haben, die Verbrechen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fanatismus. (Derrida 1992, 10)

Derrida macht damit auf die Gefahren einer Instrumentalisierung von Kultur und Identität aufmerksam, die zu Diskriminierungen, Exklusionen und extremen Gewalttaten führen. So schafft die diskursive Konstruktion des Selben und des Anderen, des Freundes und des Feindes sehr oft freien Raum für Ausgrenzungen und Konflikte. Dadurch werden Verfolgung, Vertreibung, Inhaftierung und physische ‚Ausrottung‘ legitimiert (vgl. hierzu Fludernik 2003, 123). Derrida weist aber nicht nur auf die Gefahren eines Missbrauchs des Kulturund Identitätsbegriffs hin, sondern dekonstruiert diesen auch. Im Anschluss an die Interkulturalitäts- und postkolonialen Theorien, deren philosophische Grundlage seine Identitätstheorie bildet, stellt er fest: Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, ‚ich‘, ‚wir‘ oder ‚uns‘ sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie […] mit sich differiert [différence avec soi]. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst. (Derrida 1992, 12, 13, Herv. i. O.)

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Derrida geht es nicht um eine bloße Zurückweisung der Kultur- und Identitätsbegriffe, sondern um ihr verändertes Verständnis. Er macht deutlich, dass Kultur und Identität aus einer inneren Differenz bestehen. Sie sind weder stabil noch homogen, sondern nach wie vor dynamisch und heterogen. Dieser These schließt sich Stuart Hall an, der analog etwa zu Edward Said postuliert, dass nationale Kulturen und Identitäten „von tiefen inneren Spaltungen und Differenzen durchzogen“ seien, und dass „[a]lle modernen Nationen […] kulturell hybrid“ seien (Hall 1994, 207, 208, Herv. i. O.)⁵. Der Gedanke einer (R)Einheit des Selbst wird damit zugunsten eines Perspektivismus der Differenzen verabschiedet. Derrida zufolge muss die Begegnung zwischen dem Selbst und dem „radikalen Anderen“⁶ immer wieder von neuem stattfinden. Obwohl der Andere – genau sowie das Selbst – aufgrund seiner Andersheit nicht völlig erreicht oder erfasst werden kann (vgl. Derrida 1994, 331–445), muss er wahrgenommen werden. Für Derrida ist (kulturelle) Identität mit einer ethisch-politischen Verantwortung verbunden. Im Mittelpunkt dieser Verantwortung steht der Andere: Die Möglichkeitsbedingung dieser Sache, der Verantwortung, ist eine bestimmte Erfahrung der Möglichkeit des Unmöglichen: Sie ist die Probe, der uns die Aporie unterzieht, die Erfahrung der Aporie, von der aus man die einzig mögliche Erfindung erfinden kann, die unmögliche Erfindung. […] Freilich bleibt die Frage immer noch berechtigt: Wie denn eine Moral oder eine Politik aussehen sollte, die Verantwortung einzig an der Regel des Unmöglichen mißt, so, als würde man den Bereich des Ethischen und der Politik verlassen, begnügte man sich damit, das Mögliche zu tun – so, als müßte man sich, um wahrhaft Verantwortung zu tragen, darauf beschränken, unmögliche, undurchführbare, unanwendbare Entscheidungen zu treffen. (Derrida 1992, 33, 36, Herv. i. O.)

Die Identität besteht Derrida zufolge in dem Aushalten von Antinomien, also in der scheinbar paradoxen Erfahrung des Anderen als dem Unmöglichen, das heißt als Grenze, Ausschluss, aber auch als Voraussetzung oder „Chance des Möglichen“ (vgl. Derrida 2003, 41), also des Selbst. Dabei differiert sich die Identität mit sich selbst,

5 Auch für Edward Said (1994, 30): „Alle Kulturen sind, zum Teil aufgrund ihres Herrschaftscharakters, ineinander verstrickt; keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nichtmonolitisch.“ 6 Vgl. zu diesem Konzept Emmanuel Levinas, mit dem Derrida sich übrigens fortlaufend und intensiv auseinandersetzt (siehe Derrida 1972, 121–235). Nach Levinas zeichnet sich der Andere durch eine absolute Andersheit aus. Weil er nie ganz präsent und ein unerreichbares Ziel ist, löst er in dem Ich eine nie endende Begierde aus und wird so nach wie vor als Spur erkennbar: „Im Begehren richtet sich das Ich auf den Anderen […]. Statt mich zu ergänzen und zu befriedigen, zieht mich die Begegnung zum Anderen in eine Konstellation. […] Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst; sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt.“ (Levinas 1983, 219, 220).

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indem sie sich selbst und dem Anderen gegenüber gerecht ist – deswegen prägt Derrida den Begriff „Différance“⁷. Die Präsenz des Anderen ist also Bedingung für die Möglichkeit der Selbstbildung. Sie ist auch wichtige Voraussetzung für die Unmöglichkeit einer ‚reinen‘ mit sich selbst direkt identischen und stabilen Subjektivität. Zur Frage der kulturellen Identität schreibt Derrida Folgendes: Keine kulturelle Identität stellt sich als der undurchlässige Leib oder Körper eines Idioms dar, im Gegenteil: jede erscheint immer als die unersetzbare Einschreibung des Universellen in das Singuläre, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des Menschen. Regelmäßig stoßen wir auf den Diskurs der Verantwortung, Zeugnis abzulegen vom Universellen. Jedesmal ist die Beispielhaftigkeit des Beispiels einzigartig. Deshalb bildet sie eine Reihe und nimmt die Gestalt eines Gesetzes an. (Derrida 1992, 54, Herv. i. O.)

So gesehen ist kulturelle Identität offen für Interaktionen mit Fremdem und für Transformationen. Sie besteht in einer Einverleibung des Differenten. Deshalb besteht sie aus disparaten Elementen und kann nicht einheitlich sein. Das gilt nach Derrida auch für die Frage der nationalen und kulturellen Identität Europas.⁸ Wenn die Nation, die im Grunde genommen eine „imagined community“ (Anderson 1991) ist, essentialistisch mit binären Kategorien von „Wir“ und „Anderen“ definiert wird, dann wird sie zum Nährboden für Rassismus, exklusive Nationalismen und essentialistisch-politische Imaginationen jeglicher Art. Die in den obigen Zitaten hervorgehobenen Kategorien der ‚Einschreibung‘ und der ‚Verantwortung‘ sind für Derrida von eminenter Relevanz. Damit artikuliert der Philosoph im Sinne Emmanuel Levinas’ die dialogisch-ethische Dimension seiner Theorie. Für Levinas ist die Begegnung mit dem Anderen die Konstitutionsbedingung von Subjektivität. Die 7 Durch diesen Neologismus fasst Derrida Identität als formales „Spiel der Differenzen“ („jeu des différences“) auf. Kein Element lässt sich als selbstpräsent oder auf sich selbst beziehend, sondern als auf andere Elemente verweisend konzipieren, die durch ihre Spuren erkennbar sind (vgl. Derrida 1972a, 37, 38). Différance bedeutet einerseits „Verschiedensein“, Abstand, Spatialisierung: „ne pas être identique, être autre, discernable, etc.“ Andererseits bedeutet es Aufschiebung, Suspendierung bzw. „Temporalisierung“: „l’action de remettre à plus tard, de tenir compte, de tenir le compte du temps et des forces dans une opération qui implique un calcul économique, un détour, un délai, un retard, une réserve, une représentation.“ (Derrida 1972b, 8) Im Sinne der différance gibt es kein (identisches) Zentrum der Kultur und Identität, sondern diese Entitäten sind durch die Erfahrung der Differenzen an sich dezentriert. 8 Bezogen auf die nationale und kulturelle Identität Europas schreibt Derrida, dass sie die Infragestellung der Idee einer vereinheitlichenden Hegemonie voraussetze: „Sie kann und darf sich nicht einer Zerstreuung überantworten, die eine Unzahl nichtiger Provinzen hervorbringt, eine Vielzahl fest verorteter Idiome und eine Reihe kleinlicher Nationalismen, die, von Eifersucht erfüllt, sich nicht ineinander überführen, wechselseitig übersetzen lassen. […] [Sie] kann und darf […] nicht die Kapitale einer vereinheitlichenden Autorität hinnehmen, die durch transeuropäische Kulturapparate […] Kontrolle ausübt und Gleichförmigkeit herstellt.“ (Derrida 1992, 31, 32).

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radikale Andersheit des Anderen mache seine ethische Bedeutung aus. So liegt Levinas’ Ethik-Begriff das Verhältnis von Ich und Anderem bzw. die Verantwortung des Ich für den Anderen zugrunde: Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich. Der Andere, der im Bewußtsein diese ethische Bewegung hervorruft und der das gute Gewissen der Koinzidenz des Selben mit sich selbst durcheinanderbringt, bringt einen Zuwachs mit sich, der der Intentionalität nicht entspricht. Dies ist das Begehren: von einem anderen Feuer verzehrt werden als dem des Bedürfnisses, das die Sättigung löscht. (Levinas 1983, 225)

Allein die Anwesenheit des Anderen stellt Levinas zufolge eine „Aufforderung zur Antwort“ dar: „Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewusst, so als handele es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit oder Diakonie.“ (Levinas 1983, 224) Die ethische Verantwortung für den Anderen, zu der das Ich aufgefordert werde, ermögliche eine Transformation des Selbst, welches fortan imstande sei, „über das hinauszudenken, was es selbst ist.“ (Levinas 1983, 225) Geht man von dem Postulat der Einverleibung des Eigenen in dem Anderen aus; bedenkt man also, dass der Andere schon in dem Eigenen zu finden ist, so kann das Eigene dem Anderen nur schwer schaden, ohne sich selbst zu schaden. Wenn Identität nach Derrida nicht mehr als innerer Kern begriffen wird, sondern als Differenz, das heißt als in Relation zu dem Anderen befindlich, so erscheint nicht mehr die Frage nach dem ‚Wahren‘, sondern die nach der Adäquatheit oder nach der Verantwortung und nach der Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung für die Identitätsbildung. Für Derrida besteht nämlich die Aufgabe der Identität und der Kultur darin, „das Gefühl [der] […] Solidarität durchzusetzen.“ (Derrida 1992, 39, Herv. i. O.) Vor diesem Hintergrund stellt Derrida ein Verhältnis von Dekonstruktivismus zur Gerechtigkeit her und entwickelt ein dekonstruktives Ethik- und Gerechtigkeitsmodell, das den herkömmlichen Modellen eine Absage erteilt. Diese Gerechtigkeitsvorstellung ist aufgrund ihres bejahenden Wesens, irreduktibel, aufgrund ihrer Forderung nach einer Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft oder ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens. Man kann darin also einen Wahn erkennen, ja sie des Wahns anklagen. (Derrida 1991, 52)

Derridas Gerechtigkeitsbegriff steht einem gängigen Konzept von Gerechtigkeit entgegen, das Dietmar Wetzel wie folgt vorstellt:

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Obwohl Gerechtigkeit ihrer Intention gemäß immer Gerechtigkeit für das Andere (die Armen, die Unterdrückten, die Frauen) zu sein beanspruchte, hat sie – schon theoretisch und im Begriff – versagt. […] Weil sie zum Maßstab nur die Gleichheit und die Reziprozität, sei es die sprachlich-ethnische, sei es die des männlich-menschlichen Subjekts, gemacht hat […]. Damit hat Gerechtigkeit oder genauer gesagt, haben Philosophen, Politiker und religiöse Führer mit ihr das Andere auf das Selbe reduziert, die ethnischen Minderheiten ausgegrenzt bzw. zu einem Beitritt in die Rechts- und Glaubensgemeinschaft gezwungen. Einem solchen, zumindest einseitigen Denken gilt es, ein alternatives, von der Alterität konzipiertes Denken der Gerechtigkeit entgegen zu halten. (Wetzel 2003, 265)

Derridas Gerechtigkeitskonzept bildet die Alternative, auf die Wetzel anspielt. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit ist insofern aporetisch, als es besagt: Gerechtigkeit gegenüber sich selbst setzt die Gerechtigkeit gegenüber anderen, also Anerkennung des Anderen voraus. Die Wahrnehmung und die Anerkennung des Anderen und der fremden Erfahrung ist unerlässliche Bedingung für die Wahrnehmung des Selbst und der eigenen Erfahrung. Sich gegenüber sich selbst und dem Anderen gerecht zu verhalten, läuft aber – analog zur Frage der Verantwortung – gleichzeitig darauf hinaus, eine ‚unmöglich-mögliche‘ Gerechtigkeit zu denken. Es geht also um die Frage der „Ethik als Un-Möglichkeit der Beziehung zum anderen“ (Wetzel 2003, 266). Diese Ethik bildet aber die Vorbedingung der Möglichkeit von Gerechtigkeit. Für Derrida erweist sich die Gerechtigkeit gegenüber dem das Selbst konstituierenden Anderen im Endeffekt als Gerechtigkeit gegenüber sich selbst. Man findet zu sich selbst, indem man sich dem Anderen öffnet und ihn internalisiert. Derrida formuliert diesbezüglich wichtige Pflichten, die sich wie folgt resümieren lassen: [Die] Pflicht [sich dem Differenten] hin zu öffnen […], nicht nur den Fremden aufzunehmen, um ihn einzugliedern, sondern auch, ihn aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen […]. [Die] Pflicht […] ‚theoretisch und praktisch‘ unermüdlich einen totalitären Dogmatismus zu kritisieren […]. [Die] Pflicht […] die Tugend dieser Kritik, die Tugend dieser Idee der Kritik, die Tugend der kritischen Tradition zu pflegen, sie allerdings auch, jenseits der Kritik und der Frage, zum Gegenstand einer dekonstruktiven Genealogie zu machen, die ihr Wesen denkt und über sie hinausgeht, ohne sie aufs Spiel zu setzen. […] [Die] Pflicht […] die Differenz, das Idiom, die Minderheit und die Singularität zu achten, allerdings auch […] den Widerstand gegen Rassismus, Nationalismus und Fremdenhaß. […] [Die] Pflicht […], alles zu tolerieren und zu respektieren, was sich nicht der Autorität der Vernunft fügt. Dabei kann es sich etwa um den Glauben, um verschiedene Glaubensformen handeln. Oder auch um Gestalten des Denkens, die fragend vorgehen […], ohne darum bereits unvernünftig zu sein oder gar dem Irrationalismus zu verfallen. (Derrida 1992, 56–58, Herv. i. O.)

Die Einhaltung dieser Pflichten kann dazu beitragen, Gewalttätigkeiten in der Gesellschaft zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist Identität wohlgemerkt für Derrida Differenz und ist insofern mit Verantwortung verbunden, als der Selbe sich

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in engem Verhältnis zum Anderen definieren lässt. Jörg Zirfas ist völlig zuzustimmen, wenn er in diesem Zusammenhang schreibt, dass die „Ethik der Differenz“ bei Derrida die „Ontologie der Identität“ ablöse. Denn (kulturelle) Identität formiere sich „in der Antwort auf den Anderen und in der Verantwortung vor dem Anderen.“ (Zirfas 2010, 250, 251, Herv. i. O.) Von daher sind die Kategorien der Einschreibung, der Differenz und der Verantwortung bei Derrida als ethische Kategorien anzusehen. Sie ermöglichen eine produktive Interaktion und einen fruchtbaren Dialog zwischen Eigenem und Fremdem und tragen zur Gestaltung einer besonderen Form von Solidarität und Gerechtigkeit bei. In diesem Zusammenhang verfolgt die Dekonstruktion, so Zirfas (2010, 243), eine politisch-ethische Praxis, welche dem Anderen gerecht wird. Es geht um die Ethik als eine Praxis der Differenz. Derridas Ausführungen zur Identität lassen überhaupt eines deutlich werden: Die Vorstellung von ‚reinen‘ Kulturen und Identitäten erweist sich als irrig, denn so etwas gibt es nicht und hat es nie gegeben. In Derridas Infragestellung essentialistisch-rassistischer Annahmen; in der politisch-ethischen Ausrichtung seiner Theorie, also in seiner Entwicklung einer dekonstruktiven Ethik, die jeglichen Binarismus im Verständnis von Identität sprengt und in die Bildung einer spezifischen Form von Gerechtigkeit mündet, zeigen sich Punkte, auf die sich die postkolonialen Theorien ganz wesentlich stützen. Dieser ethisch-dekonstruktivistische Gestus ist auch ein privilegiertes Verfahren in Michael Rothbergs Theorie der multidirektionalen Erinnerung.

3 Die multidirektionale Erinnerungsperspektive als ein ‚Postkolonialer Blick‘ auf Gewalt Wenn man die postkoloniale Perspektive in Zusammenhang mit Gewaltdiskursen durchdenkt, so kann auch der Erinnerung ein ausschlaggebender Platz eingeräumt werden. Michael Rothbergs einflussreiche Theorie ist in diesem Zusammenhang mit einzubeziehen. In seinem 2009 erschienenen (vgl. Rothberg 2009) und 2021 ins Deutsche übersetzten Buch zur multidirektionalen Erinnerung ⁹ stellt der amerikanische Gedächtnisforscher das Paradigma des multidirektionalen Erinnerns als

9 Vgl. Rothberg 2021. Mit dieser deutschen Version wird im Folgenden gearbeitet, denn sie beinhaltet einleitende Ausführungen mit einem Interview von Felix Axster und Jana König mit Rothberg, in dem der Autor die Motive seines Buches verdeutlicht und auch aktuelle bundesdeutsche Debatten etwa über Mbembe, über Rassismus und Kolonialismus anschneidet bzw. fortsetzt. Diese Fassung enthält auch einen Epilog mit weiterführenden Reflexionen zu Rothbergs Theorie. Das Buch wird im Folgenden mit der Abkürzung ME zitiert.

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eine Form des Erinnerns vor, die verschiedene Gewalterfahrungen bzw. historische Ereignisse und Kontexte im öffentlichen Raum in Beziehung zueinander setzt und eine strukturelle Verbindung zwischen ihnen ans Licht bringt. Im Gegensatz zur kompetitiven Erinnerung („Erinnerungskonkurrenz“ [ME, 25–32]), die exklusiv bzw. destruktiv ist und die eine hegemoniale Denkstruktur bildet, indem sie nach einer binären „Nullsummenspiel“-Logik funktioniert und ein ‚kulturelles Eigentum‘ beansprucht, fasst das multidirektionale Gedenken die Erinnerung als Dynamik auf und hilft auch, diese zu erfassen. Sie basiert auf einem dialogischen Prozess, der es ermöglicht, dass Erinnerungskulturen sich durch gegenseitige Akzeptanz, durch Aneignungen, Wiederholungen, und Konfrontationen aufeinander stützen. Rothberg zufolge macht die multidirektionale Erinnerung aufmerksam auf die dynamischen Transfers zwischen unterschiedlichen Orten und Zeiten […], zu denen es beim Akt des Gedenkens kommt. […] [Sie] postuliert, dass kollektive Erinnerung von exkludierenden Versionen kultureller Identität teilweise getrennt ist, und erkennt an, dass Gedenken sich über verschiedene räumliche, zeitliche und kulturelle Punkte hinweg vollzieht, diese aber zugleich verbindet. (ME, 36, 37)

Es handelt sich also um ein dialogisch-inklusives Modell des Gedenkens, in dem Erinnerungsdiskurse interagieren und sich in permanenter Ambivalenz von Ort und Zeit gegenseitig bestärken und ergänzen. Bei der Verbindung des Gedächtnisses des Holocaust mit dem Wissen um das Schicksal anderer Völker während des Sklavenhandels, der Kolonialherrschaft und mit dem Prozess der Dekolonisierung macht das Modell des multidirektionalen Erinnerns das Gedenken nicht zuletzt im aktuellen globalen Migrationskontext zu einem ‚transnationalen‘ und globalen Phänomen.¹⁰ Es eröffnet den Horizont für die „Möglichkeit einer von Koexistenz und Dialog, von Inklusion und gegenseitiger Anerkennung geprägten globalen und multikulturellen Erinnerungskultur und -forschung.“ (Henke und Vanassche 2020, VII) So gesehen erfolgt die Erinnerung an rassistische Gewalt aus heutiger Sicht aus verschiedenen Richtungen und Blickfeldern, wobei auch die Gewalterfahrungen der Kolonisation mitberücksichtigt werden, was zu einer Solidarität unter den Opfern und zur Empathie gegenüber den (Schreckens‐)Erfahrungen Anderer führen soll. Kennzeichnend für Rothbergs Theorie ist also ihre Multiperspektivität in der Betrachtung von Gewalterfahrungen. Neben der Erinnerungsfrage reflektiert der 10 Aleida Assmann (2016) hat in diesem Zusammenhang das Konzept des „Dialogischen Erinnerns“ vorgeschlagen, das es erlauben würde, „die Grenzen der Nationen durch eine transnationale Perspektive zu überschreiten“ (200). Diese transnationale Perspektive des Gedächtnisses sei für Deutschland als eine von Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen geprägte Migrationsgesellschaft geeignet und würde auch eine „Identifikation mit den jüdischen Opfern“ ermöglichen (130).

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Literaturwissenschaftler auch die Frage der Identität, gerade im Sinne Derridas. In seinem multidirektionalen Ansatz postuliert er statt einer exklusiven eine inklusivere Gedenkkultur, die eine Pluralisierung des Gedenkens sowie eine Universalisierung von Erfahrungen impliziert und spätere Generationen in die Erinnerung einbinden soll. Er schreibt in nahezu postkolonialer Manier: [Ich] lehne […] die Vorstellung ab, Identitäten und Erinnerungen seien rein und authentisch – dass es also ein „Wir“ und ein „Ihr“ gäbe, durch das sich sozusagen schwarze und jüdische Identität beziehungsweise ein schwarzes und jüdisches Verhältnis zur Vergangenheit definitiv unterscheiden würden. Ich weise beide Positionen zurück, weil ich zwei Annahmen ablehne, die der einen wie der anderen zugrunde liegen: dass es eine direkte Verbindung von Erinnerung und Identität gibt und nur solche Erinnerungen und Identitäten möglich sind, die Elemente von Alterität und Formen der Gemeinsamkeit mit anderen ausschließen. Unser Verhältnis zur Vergangenheit bestimmt teilweise, wer wir in der Gegenwart sind, allerdings nie eindeutig oder unmittelbar und nie ohne unerwartete oder sogar unerwünschte Konsequenzen, die uns mit jenen verbinden, die wir als Andere ansehen. Bezieht man sich ausdrücklich auf die produktive interkulturelle Dynamik multidirektionaler Erinnerung, wie in vielen der in diesem Buch verhandelten Fälle, können neue Solidaritätsformen und neue Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen. (ME, 29)

Genauso wie Derrida postuliert Rothberg, dass dem Anderen eine ausschlaggebende Funktion in jeder Identitätsbildung zukommt. Erinnerungen und Identitäten sind für ihn nie statisch oder ein für alle Mal gegeben, sondern dynamisch und im Wandel begriffen. Subjekte bzw. Gruppen artikulieren zwar ihre Positionen, aber diese Positionen beziehen sich immer dialogisch aufeinander und verflechten sich ständig – Derrida würde hier von einer Einschreibung oder Einverleibung der unterschiedlichen Positionen sprechen. Das Gleiche gilt für Gruppenerinnerungen, die an keinen festen Ort gebunden sind und die sich gegenseitig beeinflußen. Auch die öffentlichen Räume werden in dieser Hinsicht von den Menschen und Gruppen diskursiv immer neu gestaltet und unterliegen einer permanenten Transformation. Wenn Rothberg die Idee einer „reinen“ und „authentischen“ Identität sowie eines unmittelbaren Zusammenhangs von Erinnerung und Identität an den Pranger stellt, so greift er postmoderne bzw. postkoloniale theoretische Grundannahmen wieder auf, um damit das Zugehörigkeitskonzept als Fiktion zu entlarven (vgl. allgemein etwa Appiah 2019). Mit dieser ‚anti-identitären‘ Orientierung seines Gedankens dekonstruiert er einen starren, die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart stets prägenden Erinnerungs- und Identitätsbegriff, also die sehr oft identitätspolitisch verwendete Idee von Erinnerungen und Identitäten als einem ‚ethnischen Eigentum‘; eine Vorstellung, die gerade mit einem den nationalsozialistischen Verbrechen zugrundeliegenden Volksverständnis zusammenhängt. Damit eröffnet er einen neuen universalistischen Blickwinkel, der immerhin historische Besonderheiten, also spezifische Gewalterfahrungen integrieren kann. Wenn

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Rothberg zudem die „interkulturelle Dynamik“ des multidirektionalen Erinnerns postuliert und wenn er die mehrdimensionale Erinnerung als eine Erinnerung auffasst, „die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist“ (ME, 27), stützt sich der Literaturwissenschaftler wiederum auf eine Grundthese der interkulturellen und postkolonialen Literaturwissenschaft, die auf Dialog, Austausch, aber auch auf Differenz ausgerichtet ist. Erinnerungen aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten können also in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, ohne dass die Unterschiede verwischt werden. Die Multidirektionalität schafft also im Sinne Homi Bhabhas (2000, 38, 39) jenen „Zwischenraum“, das heißt jenen Raum der hybriden Gestaltung von Erinnerungspraktiken und von Identitäten. In diesem Raum der komplexen Überlappung werden Erinnerung und Identität verhandelt und neu konstituiert. Daraus entsteht das, was man als eine interkulturell-postkoloniale bzw. hybride Erinnerungs- und Identitätsform bezeichnen könnte. Das hängt mit dem als postkolonial zu verstehenden Programm von Rothbergs Theorie zusammen, nämlich: „die Geschichte der Holocaust-Erinnerung als eine fortlaufende dialogische Interaktion mit Geschichten und Erinnerungen an Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Dekolonialisierung neu zu erzählen“ und auf diese Weise, „die deutsche Erinnerung und Verantwortung für den Holocaust [nicht] auszulöschen, sondern sie mit der Erinnerung an andere einschneidende Episoden der nationalen und transnationalen Geschichte [wie den deutschen Kolonialismus, S.Y.] zu ergänzen.“ (ME, 16, 22) Der Holocaust wird so unter anderen Voraussetzungen neu betrachtet und perspektiviert. Die Multidirektionalität hat also insofern mit Postkolonialität zu tun, als sie vergangene Gewaltkonstellationen im Hinblick auf die Zukunft überdenkt, rekodifiziert und somit mit herkömmlichen Gedenkformen bricht. Die postkoloniale Erkenntnisperspektive auf Gewalt und Gewaltgeschichten ermöglicht ein relationales Verständnis dieser Phänomene. Sie schärft das Bewusstsein für Alternativen, stellt Selbstverständliches in Frage und macht es möglich, Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Diese Perspektive erlaubt es also, toposbehaftete Erinnerungsdiskurse zu sprengen und die Möglichkeit einer produktiven Rückschau darauf zu erproben. Sie dient dazu, „de[n] in weiten Teilen der Gedächtnisforschung noch vorherrschende[n] methodologischen Nationalismus“ (Erll 2011, 63) zu relativieren. Wie Alfonso de Toro in Bezug auf Postkolonialität anmerkt: Die Postkolonialität als postmoderne Perspektive ist charakterisiert durch ein dekonstruktionistisches (im Sinne einer kritisch-kreativen Reflexion), intertextuelles und interkulturelles Handeln und Denken, durch ein die Geschichte re-kodifizierendes Denken (das die Geschichte dezentriert), durch ein heterogenes oder hybrides, subjektives Denken, das von radikaler Besonderheit, radikaler Verschiedenartigkeit geprägt und demzufolge universell ist. Postkolonialität schließt nicht aus, sondern bezieht die Multidimensionalität, d. h. die Interaktion

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verschiedener kodierter Erkenntnisreihen […] ein […]. Die Postkolonialität in ihrem postmodernen Kontext initiiert und begründet, weder polarisiert sie, noch ist sie militant. (de Toro 2014, 24)

Diese Erkenntnis kann für die multidirektionale Perspektive geltend gemacht werden. Die bereits von einer dekonstruktiven Ethik bemängelte binäre Logik des Ich/Wir-Andere bzw. des Entweder-Oder wird bei Rothberg intertextuell in Zusammenhang mit Erinnerung und Geschichte durch die hybride Logik des SowohlAls-auch ersetzt, die von einer globalen Perspektive ausgeht. Hauptziel dieser hybriden Logik ist hier ein schon von Derrida erklärter, noch verstärkter universaler und multidirektionaler Kampf gegen alle Formen von Rassismus (etwa den Antisemitismus) und exklusivem Nationalismus. Die Multidirektionalität ermöglicht nicht allein die Re- und Dekonstruktion allgemeiner Wissens- und Denkformen, die Identitätspolitiken zugrunde liegen und in einen problematischen Erinnerungs-Kampf sowie in eine damit einhergehende Hierarchisierung menschlicher Leiden münden (ME, 36). Sie schafft auch einen universalistischen (Diskurs‐)Raum, aus dem neue Formen und „Visionen der Solidarität und Gerechtigkeit“ entstehen können und müssen (ME, 357), und in dem Fragen nach individueller und kollektiver Verantwortung sowie nach politischethischem Handeln unter die Lupe genommen, gar das kollektive Gedächtnis neu verhandelt, neu ausgerichtet und neu konfiguriert werden (müssen). Von daher fungiert multidirectional memory im Sinne Rothbergs nicht als bloße deskriptive, sondern vor allem in ihrem normativen Anliegen als heuristische und „zutiefst ethische Kategorie“ (Erll 2011, 60). Das, was Rothberg „neue Vision der Solidarität und Gerechtigkeit“ nennt, hängt meiner Ansicht nach mit Derridas dekonstruktivem Gerechtigkeitskonzept zusammen. Und das, was Derrida zu der Frage der kulturellen Identität schreibt, kann auf diesen Kontext übertragen werden. Für ihn, das sei hier wiederholt, erscheint jede Kultur „immer als die unersetzbare Einschreibung des Universellen in das Singuläre, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des Menschen.“ Weiter heißt es: „Jedesmal ist die Beispielhaftigkeit des Beispiels einzigartig. Deshalb bildet sie eine Reihe und nimmt die Gestalt eines Gesetzes an.“ (Derrida 1992, 54, Herv. i. O.) Erinnerungskulturell übertragen und multidirektional umformuliert heißt das: In der Erinnerung sind mehrere Geschichten und damit auch das Allgemeine und das Besondere gleichzeitig vorhanden. Und die Wahrnehmung und Anerkennung der Anderen, also der fremden (Gewalt‐)Erfahrung ist ein wichtiges Moment für die Anerkennung der eigenen Erfahrung der Gewalt, die auch die fremde Erfahrung in den Blick nimmt oder nehmen muss. Das multiperspektivische Gedenken als transdisziplinäre Erinnerungs- und Identitätstheorie, die dekonstruktiv und postkolonial verfährt, setzt also eine Öffnung hin zu dem Anderen und zu anderen

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Erfahrungen voraus. Bei dieser Öffnung schreibt sich die auch verborgene fremde Erfahrung in die eigene ein. Dies impliziert, dass das Selbst immer aus dem Anderen, also aus einer inneren Differenz besteht. Bei Rothberg heißt es entschieden und unmissverständlich: Erinnerungen sind kein Eigentum von Gruppen – und Gruppen „gehören“ auch nicht ihren Erinnerungen. Vielmehr verlaufen die Grenzen von Erinnerung und Identität zickzackförmig: Was zunächst wie mein Eigentum aussieht, erweist sich oft als geborgt oder einer anderen, auf den ersten Blick fremden oder fernen Geschichte entnommen und den eigenen Zwecken angepasst. (ME, 30, Herv. von mir, S.Y.)

Erinnerungen gehören also allen und zugleich niemandem. Rothberg knüpft implizit an Alison Landberg an, die in ihrem Buch Prosthetic Memory einen Zusammenhang zwischen Erinnerungskultur und Massenmedien herausstellt.¹¹ Für Landberg entspringen massenmedial verbreitete Erinnerungen nicht der eigenen Erfahrung, sondern oszillieren zwischen eigener und fremder Erinnerung. Dies verleihe den kulturellen Erinnerungen einen auch von Rothberg hervorgehobenen ethischen Wert: „[…] memories prosthetic […] help condition how a person thinks about the world and might be instrumental in articulating an ethical relation to the other.“ (Landberg 2004, 21) Wie Landberg setzt sich Rothberg der Tendenz entgegen, die die Erfahrungswelt des Holocaust als ausschließliches ‚Eigentum‘ der unmittelbar Beteiligten oder einer bestimmten Wir-Gruppe betrachtet. In der weiter oben zitierten Aussage räumt er der anderen bzw. der fremden Geschichte und Erfahrung einen wichtigen Platz in der Konstitution der eigenen Geschichte ein. Darüber hinaus hebt er die Verantwortung des Ich für den Anderen hervor, wenn er jenen Erinnerungs- und Identitätsformen das Wort redet, „die Elemente von Alterität und Formen der Gemeinsamkeit mit anderen“ einschließen (ME, 29). Dieser Sinn für Verantwortung und Solidarität spielt auch, wie schon gesehen, bei Derrida eine ausschlaggebende Rolle. Vor diesem Hintergrund wäre es m. E. nicht abwegig, wenn man die Multidirektionalität als eine ethisch fundierte Theorie der Alterität und der Differenz betrachten würde. In ihren Mittelpunkt rückt nämlich eine auch implizit formulierte „Verpflichtung zur Annäherung“ und eine „Verstrickung der Verantwortlichkeit“ (Levinas 1992, 29) in Form einer fruchtbaren Interaktion von ‚Ich‘ und ‚Anderem‘ bzw. von eigener und fremder Erfahrung. Gezeigt wird in Rothbergs

11 Die Medien Fernsehen und Film haben Landberg zufolge zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine andere Form der transkulturellen Erinnerung hervorgebracht. Das Prosthetic Memory, wie Landberg diese neue Erinnerungsform nennt, postuliert, dass „cultural memories no longer have exclusive owners; they do not ‚naturally‘ belong to anyone. The technologies of memory developed during the twentieth century therefore made it increasingly possible for people to take on memories of events not ‚naturally‘ their own.“ (Landberg 2004, 18).

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Theorie, wie mit diesen fremden Erfahrungen umgegangen wird bzw. werden muss. Die Wechselbeziehung von Eigenem und Fremdem entspricht der von Derrida entworfenen ‚Ethik der Differenz‘. Derridas ethisches Konzept der Einschreibung stellt zusammen mit dem bereits erwähnten Konzept der Verantwortung auch eine zentrale Kategorie einer multidirektional ausgerichteten Erinnerung dar; einer Erinnerung also, die „das Singuläre“, das heißt die eigene (Gewalt‐)Erfahrung insofern universalisiert, als sie die Einbindung anderer Erfahrungsräume berücksichtigt. Damit führt multidirektionale Erinnerung zu der „Bildung neuer gemeinschaftlicher und politischer Identitäten“ (ME, 36), das heißt eines transnationalen Bewusstseins und einer allgemeinen solidarischen (Opfer‐)Identität. Das bedeutet in Rothbergs Verständnis, dass die Erinnerung an ein Verbrechen die Artikulation anderer Verbrechen und die Erinnerung an andere Opfergruppen nicht aus-, sondern einschließen kann und muss. Sie stelle kein Hemmnis und keine Gefahr für andere Geschichten dar, die de facto aus der öffentlichen Sphäre ausgelöscht sein würden (ME, 11). In seiner ‚Ethik der Differenz‘ legt auch Derrida besonderen Wert auf die „Achtung des Rechtes [der Menschen, S.Y.] auf Geschichte“ und auf Differenz (Derrida 1988, 103). Rothberg geht einen Schritt weiter und stellt die These auf, dass die Artikulation anderer Opfergeschichten erst durch den Holocaust ermöglicht worden sei, nämlich gleichzeitig um seine „‚Singularität‘ im Vergleich zu anderen von Menschen verübten Gräueltaten“ zu erklären (ME, 31). So lasse sich die Einzigartigkeit des Holocaust durch seinen Vergleich mit anderen Ereignissen bestimmen. Rothbergs multidirektionale Erinnerungspraxis stellt vor diesem Hintergrund einen spezifischen Erinnerungsdiskurs dar. Als eine besondere Art des Gedenkens und des Sprechens über Gewalttätigkeiten stellt sie nicht nur die Produktivität der Erinnerung zur Schau, sondern bringt auch die Relevanz der ihr zugrundeliegenden Methode des komparativen Nachdenkens ans Licht. Sie postuliert zwar das Spezifische des Holocaust, zieht aber gleichzeitig Parallelen zwischen ihm und anderen Verbrechen etwa der Kolonisation: Um eine wirkliche ‚Integration‘ der Erinnerungskulturen zu erreichen, wird es sicherlich eine gewisse Lockerung der Verengungen geben müssen, die mit Holocaustvergleichen verbunden sind. Aber vergleichen muss nicht zu einer Relativierung oder zum Verzicht historischer Verantwortung führen. (ME, 23)

Das Modalverb „müssen“ im Zitat lässt erkennen, dass damit ein ethischer Imperativ formuliert wird, der der Multidirektionalitätstheorie zugrundeliegt. Gerade durch dieses Konzept des Vergleichs als ethischem Impetus hat Rothberg heftige Kritik auf sich gezogen. Einer seiner entschiedenen Widersacher, Thomas Schmid,

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schreibt in einem als Erwiderung auf Rothberg und Jürgen Zimmerer (2021) veröffentlichten Zeitungsartikel bezüglich der ‚Ethik des Vergleichs‘: Das mag NGOs und Aktivisten beflügeln, mit Erkenntnis hat es aber nichts zu tun. Der Vergleich braucht keine Ethik, sondern einen scharfen, sezierenden Blick. Und er soll nicht Solidarität, sondern Erkenntnis ermöglichen. Was dann die Zivilgesellschaft damit macht, ist deren Sache, nicht mehr die der Wissenschaft. Weil Rothberg und Zimmerer auf beiden Hochzeiten, der der Wissenschaft und der des Aktivismus, tanzen wollen, beschädigen sie das Handwerk des Erkennens. (Schmid 2021)

Schmid zufolge hat also der Vergleich nichts mit Ethik als einem normativen Konzept zu tun. Aus Rothbergs Perspektive ist aber das Gegenteil gültig. Bei allen Kontroversen der Akteure um die ethische Komponente des Vergleichens ist eines deutlich: Das Pochen Rothbergs und Zimmerers auf eine Ethik des Vergleichens mag zwar auch politisch fundiert sein. Es ist aber nicht mit dem Ziel verbunden, die Singularität des Holocaust zu relativieren, sondern zu zeigen, dass diese, wie bereits erwähnt, nur aus einem Vergleichsakt resultieren kann, der eine moralisch eingeforderte Pflicht und eine ethische Verantwortung in einem globalen Kontext darstellt. Wie weiter oben ausgeführt, macht gerade die Verantwortung für den Anderen, die Emmanuel Levinas zufolge eine ethische Aufgabe darstellt, aus dem Ich ein ethisches Subjekt. Das Konzept der multidirektionalen Erinnerung ist ein verantwortungsbeladenes, denn es zeigt, wie die Erinnerung als ein individueller und kollektiver Akt im globalen Zeitalter gestaltet und orientiert wird und bestimmt ebenfalls, wie sie erfolgen muss. Wenn Rothberg behauptet, dass Erinnerung multidirektional zu sein und Fremdes einzubeziehen habe, dann verweist er auf die Notwendigkeit, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen und den Begriff der Erinnerung verantwortungsvoll zu verwenden. Die von ihm postulierte Verbindungslinie zwischen Kolonisation und Holocaust nimmt seiner Ansicht nach der Einzigartigkeit des Holocaust nichts. Er unterscheidet deutlich zwischen einer „falschen“ bzw. problematischen multidirektionalen Erinnerung, die die Unterschiede verkennt oder vertuscht und einer „positiven“ multidirektionalen Erinnerung, die die Unterschiede hervorhebt und eine differenzierte Betrachtungsweise entwickelt (ME, 11–13). Das Spezifische des Holocaust besteht nämlich in der Intention der Täter, dem Ausmaß der Gewalt, der logisch-rationalen Planung seiner Durchführung und den dabei eingesetzten Mitteln. Wie Habermas mit Recht betont, ist das Besondere am Holocaust die „[v]erstörende, scheinbar grundlose und [w]illkürliche […] antisemitische Radikalität der ausnahmslosen Auslöschung aller Angehörigen einer pseudowissenschaftlich aussortierten und gefürchteten ‚Rasse‘“, wobei sich dieser Angriff „gar nicht nach außen gegen Fremde richtete, sondern gegen innere Feinde.“ (Habermas 2022, 11) Bei dem Vergleichen geht es Rothberg nicht um ein Gleichsetzen, sondern um ein ‚Relationieren‘. In diesem Zusammenhang erscheint

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das Vergleichen, soweit es die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewaltgeschichten nicht nivelliert, im Sinne etwa der interkulturellen Komparatistik als Akt der „Herausbildung von Interdependenzen, Überlappungen und Übergängen […] in einem umfassenden Strukturzusammenhang.“ (Yousefi und Braun 2011, 69) Es fungiert als ein ethisch motivierter Akt der Solidarität mit Anderen, welcher einen Kommunikationsraum zwischen unterschiedlichen Erfahrungen ermöglicht. Das Ethische besteht in diesem Zusammenhang gerade in dem differenzierenden Vergleichsverfahren, welches die Unterscheidungsmerkmale zwar in den Blick nimmt, aber durch die Analogiesetzung eine „differenzierte Solidarität“ (ME, 12) erreichen soll. Denn „Solidarität erfordert keine Identifikationen, die die realen materiellen Unterschiede der Standorte und Erfahrungen auslöschen.“ (ME, 13) Der differenzierende Blick erkennt also gleichzeitig die Analogien zwischen den an sich unterschiedlichen und trotzdem als miteinander verwoben dargestellten Gewaltgeschichten. In der Tat spielen im Kontext des Holocaust und des Kolonialismus die Mechanismen der Selbst- und Fremd- bzw. Feindkonstruktion eine wichtige Rolle. Die Herrschaft bzw. die physische, aber auch „epistemische, strukturelle und symbolische Gewalt“ (Kuss 2018, 205) sowie deren Legitimierung durch bestimmte Wissensordnungen und Repräsentationssysteme stellen das entscheidende Element und das Tertium Comparationis dar. Obwohl Derridas Dekonstruktionstheorie von Rothberg nur einmal erwähnt wird, enthält sie durch ihre ethisch-kritische Dimension wichtige Elemente, die für die Theorie der Multidirektionalität bzw. für die „multidirektionale Ethik“ (ME, 48) grundlegend sind. Genauso wie bei Derrida manifestiert sich der dem multidirektionalen Ansatz zugrundeliegende ethische Aspekt bei Rothberg durch die Methode des Vergleichs. So verweist die „nuancierte Ethik des Vergleiches“ (ME, 11) auf einen Aspekt der ‚Ethik der Differenz‘. Für beide Autoren sind Relation, Offenheit, Anerkennung, Differenz, Verantwortung und Gerechtigkeit universale Konzepte und Prinzipien, die eingehalten werden müssen. Sie fungieren als Denkkategorien für das Verhältnis zu Anderen und sind Grundvoraussetzungen einer Ethik im Sinne Levinas’. Sie stellen also Kategorien dar, anhand derer ethische Prinzipien sich ausarbeiten lassen. So stellt der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus in Rothbergs sowie in Derridas Theorie einen universellen Kampf dar, der geführt werden muss. Man kann in Zusammenhang mit der multidirektionalen Erinnerung von einer alternativen Lesart der Gewaltgeschichten sprechen, die dekonstruktivistisch verfährt, indem sie mit gängigen binären Formen der Erinnerung an Gräueltaten bricht, dem Erinnerungsparadigma eine neue Dimension verleiht und eine neue, zeit-räumlich verschiedene Konstellationen verbindende Form des Erinnerns in Erwägung zieht. Solche binären Gegensätze sind gefährlich, denn sie schaffen eine Hierarchie des Leids und können so zu weiteren Konflikten unter Opfergruppen

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führen. Rothberg schreibt: „Erinnerungen sind mobil, Geschichten ineinander verschränkt. […] Der einzige Weg nach vorn ist der der Verstrickungen von Erinnerungen.“ (ME, 358) Die Multidirektionalität eröffnet analog zu Derridas Postulat der „Einschreibung des Universellen in das Singuläre“ (1992, 54, Herv. i. O.) bzw. der Einverleibung des Anderen neue Wege und Anschauungen der Gerechtigkeit. „Erinnerung“, so Rothberg, „[ist] Ansporn für unerwartete Empathie und Solidarität. Tatsächlich ist multidirektionale Erinnerung oft die Grundlage dafür, dass Menschen Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln und in die Tat umsetzen.“ (ME, 20; auch 46) Aufgrund dieses politisch-ethischen Denkens und der damit einhergehenden Solidarität und „transnationalen, komparativen Gerechtigkeit“ (ME, 49) stellt die mehrdimensionale Erinnerung auch einen „postkolonialen Blick“¹² auf Gewaltgeschichten dar. Es handelt sich bei diesem Blick um eine Sehweise der Empathie, des Verstehenwollens und der transnationalen Anerkennung der Menschenrechte. […] Der postkoloniale Blick ermöglicht […] nicht nur eine bestimmte ethische Position von Schriftstellern, er ist auch bezeichnend für eine inter- und transdisziplinär ausgerichtete Theoriebildung und Interpretation innerhalb der Literaturwissenschaft. (Lützeler 2009, 17, 18)

Mit diesem Blick werden ethische Werte dargestellt, die im Rahmen postkolonialer Literaturwissenschaft kritisch diskutiert werden können. Die ethische Position entsteht vor allem aus einer Aufmerksamkeit bzw. einer Sensibilität für den Anderen und für die Erfahrungen Anderer. Es geht also um eine anspruchsvolle und wegweisende Grundeinstellung zum Umgang mit dem Anderen. Dank des ethisch orientierten multidirektionalen Ansatzes kann man, wie Rothberg schreibt, „einen ‚neuen Rahmen für Gerechtigkeit und Solidarität in einer globalisierten Welt‘“ entwickeln (ME, 46). Die globalisierte Welt ist aber auch eine Welt neuer Gewalttaten und Konflikte, die analysiert werden müssen. „Politische Konflikte zu verstehen erfordert es“, so Rothberg, „die Verflechtungen von Erinnerungen im Kraftfeld des öffentlichen Raums zu verstehen.“ (ME, 358) Meines Erachtens setzt aber dieses Verstehen auch voraus, dass man die Ursachen dieser Konflikte ermittelt und analysiert. Nur so können weitere Konflikte in der Zukunft vermieden werden. Und nur so kann auch der universelle Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus effizient sein. Diese Ursachen sind unter anderem in der Sprache und

12 In seinem gleichnamigen Buch entwickelt Paul Michael Lützeler dieses Konzept in Anlehnung an allgemeine Denkmodelle der postkolonialen Theorien. Der postkoloniale Blick erkennt ihm zufolge hybride Kulturen und Identitäten an. Dadurch könne ein Dialog mit dem Anderen eingeleitet werden, in dem Differenzen anerkannt und akzeptiert werden. So schließen sich Eigenes und Fremdes nicht aus, sondern stehen in Wechselbeziehung zueinander und werden als ineinander verflochten erkannt (siehe ausführlich zum Konzept Lützeler 1997).

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deren Verwendung zu finden. Die Vermeidung von Konflikten erfordert somit einen kritischen Umgang mit Sprache.

4 Ethik der Dekonstruktion und Gewaltforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft Der vorliegende Teil des Beitrags widmet sich der für den multidirektionalen und postkolonialen Ansatz zentralen Frage der dekonstruktiven Ethik in Zusammenhang mit der Gewaltforschung. Bevor die Tragweite dieser Frage für eine literaturund kulturwissenschaftliche Erforschung der Gewalt(‐geschichten) verdeutlicht wird und bevor dargelegt wird, inwiefern die dekonstruktiv und ethisch orientierte Theorie der Multidirektionalität in ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Anwendung zur Gewaltprävention beitragen kann, wird der Zusammenhang von Sprache und Gewalt kurz erörtert.

4.1 Gewalt und Sprache In der letzten Zeit haben neue literatur-, kultur- und sozialwissenschaftliche Studien zur Gewalt deren Zusammenhang mit der Sprache aufgezeigt (vgl. u. a. Krämer und Koch 2010; Corbineau-Hoffmann und Nicklas 2000). Mit Sprache wurde dabei vor allem ein Diskurs im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault gemeint. Seit Foucault ist nämlich angenommen, dass der Sprache bzw. dem Diskurs eine Funktion als Medium des Wissens sowie einer konstruierten Wahrheit und der Macht zukommt (vgl. Foucault 1981, 115–127; Foucault 1991, 10–17). Als Diskurs produziert die Sprache Wissen, das zeit-räumlich, über Generationen und Kulturen hinweg weitergegeben wird und lange weiterwirkt. Foucault zufolge ist die Sprache der Ort der Strukturierung der Vorstellungskraft, der Ort der Definition von „Selbst“/„Wir“ oder „Anderem“, also der Ort der Konstruktion sozialer Identitäten und der Rechtfertigung der Art der Beziehung, die zwischen diesen Identitäten aufrechterhalten werden soll. Die Sprache erzählt nicht nur über die Realität, sondern trägt als Medium auch dazu bei, die Realität zu schaffen, aufrechtzuerhalten und zu festigen. Weil sie mit Macht gekoppelt ist, dient sie dazu, die Gewalt aus einer diskursiv geschaffenen Realität heraus zu legitimieren. So gesehen ist die Sprache der Gewalt gesellschaftlich konstruiert und mit Wissen verbunden. Jedoch dient der Sprachgebrauch nicht nur der Vorbereitung von Gewalttätigkeiten, sondern kann auch an sich schon eine Manifestation von Gewalt sein.

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Die Sprache als Instrument des Denkens ist mit diesem eng verzahnt und in dem Wechselverhältnis beider werden Wörter produziert, die ihrerseits Handlungen steuern (vgl. Yousefi 2018, 37). So ist die Gewalt als eine Folge von versprachlichten hegemonialen Denkstrukturen zu verstehen. Derrida zufolge bringt die Sprache immer Gewalt hervor und ist sogar Gewalt par excellence. Eine gewaltlose Sprache „würde nichts de-terminieren, nichts nennen und dem Anderen nichts bieten; sie wäre nicht Geschichte und zeigte nichts.“ Sie wäre eine Sprache, „die dem Verbum sein, das heißt jeder Prädikation, entsagen würde. […] Es gibt aber keinen Satz, der nicht bestimmte, der sich demnach nicht der Gewalt des Begriffs bediente. Die Gewalt tritt mit der Artikulation in Erscheinung.“ (Derrida 1972c, 225, 226, Herv. i. O.) In Derridas Entlarvung und Infragestellung der Sprache als Mittel zur Gewaltausübung ist ein postkolonialer Gestus deutlich. Denn die postkolonialen Denker postulieren, dass „jedes Repräsentationsregime ein Machtregime“ darstellt (Hall 1994b, 30) und sind vor allem um die Erforschung der epistemischen, strukturellen und symbolischen Gewalt bemüht (vgl. Kuss 2021, 205). Als Medium der Gewalt wird die Sprache vor allem „in totalitären Systemen […] als Mittel realer Machtausübung in einem einseitigen Über-Unterordnungsverhältnis“ verwendet (vgl. Fix 2000, 20, 21). Kennzeichnend für die Funktionsweise und die innere Dynamik der Sprache ist, dass sie durch ihre ordnungsstiftende Kraft Gewalt nicht nur beschreiben, versprechen, ankündigen oder ausüben, sondern auch dazu beitragen kann, sie zu verhindern (vgl. Krämer 2010, 21). Die Sprache produziert also zwar immer eine gewalttätige symbolische Ordnung, aber beinhaltet zugleich die Möglichkeit zu einem intersubjektiven oder interkulturellen Dialog, der zur Lösung von physischer oder politischer Gewalt und zu einer friedlichen Koexistenz beitragen kann.

4.2 Multidirektionalität als kritischer Ansatz für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Analyse von Gewaltgeschichten Die Literatur ist der Ort par excellence, wo das gewaltsame Potenzial der Sprache sehr oft dargestellt wird. Denn darin werden Inklusions- und Exklusionsmechanismen zur Darstellung gebracht und Gewaltformen inszeniert (vgl. CorbineauHoffmann und Nicklas 2000, 10). Auch Kulturstereotypen und gesellschaftliche Praktiken, in denen die Gewalt sprachlich konstituiert wird, finden Eingang in die Literatur und sind darin „als Topoi greifbar und in der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Möglichkeiten der Artikulation angeeignet und transformiert.“ (Koch 2010, 15, 16) So zum Beispiel in den postkolonialen Literaturen, in der Holo-

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caust- und Exilliteratur sowie in der Kolonialliteratur als Modus und Medium kolonialer Machtausübung. In diesen Literaturen werden Wahrheit und Wissen durch Sprache produziert und Formen der Macht gezeigt. Literatur kann aber auch der Ort sein, wo Gegendiskurse zur Gewalt artikuliert und alternative Sprachkonstruktionen dargestellt werden. Dort können andere diskursive Möglichkeiten des Umgangs mit der Realität erprobt werden und die Aufmerksamkeit kann auf das schöpferische Potenzial und auf neue gesellschaftliche Möglichkeiten der Sprache gelenkt werden. Literarische Texte können also Situationen darstellen, in denen die Sprache die Gewalt nicht nur auslöst, sondern auch verhindert, indem sie die Gewaltsprache bzw. die „Haßrede“ (vgl. Butler 2006) durch eine humanere ersetzt und damit andere Wirkungen erzielt. Vor diesem Hintergrund kann Literatur durch ihr imaginatives und subversives Potenzial sowie durch ihr Konzeptualiserungsvermögen eine „Drohung für die totalitäre Sprache und Herrschaft“ (Metz 2010, 216) sein. Dies kann sie tun, indem sie ethische Fragen ex- oder implizit thematisiert und zu bestimmten Rezeptionseinstellungen bewegt. So kann Literatur wichtige Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem in ihr thematisierten Gewaltphänomen geben. Als ethisch-politisches Problem ist Gewalt auch Gegenstand einer ethisch sensiblen postkolonialen Literaturwissenschaft. Diese Wissenschaft vermag es, kritisch über Sprache nachzudenken und die Sprache der Gewalt, also die Gewaltdiskurse zu untersuchen, wie sie sich in Vergangenheit, Gegenwart und an verschiedenen Orten konstituieren und wie sie sich in der Literatur als kulturellem Ausdruck manifestieren. Die Erforschung von Gewalt und Gewaltgeschichten setzt eine Auseinandersetzung mit ihren Ursachen und diskursiven Grundlagen voraus. Eine ethisch und kritisch orientierte literaturwissenschaftliche Praxis kann ihren Teil zu der Gewaltforschung beisteuern, indem sie literarisch dargestellte unterschiedliche Aspekte und Formen von Gewalt analysiert, deren Entstehungsfaktoren und -bedingungen rekonstruiert und Annahmen und Axiome darlegt, die sie begünstigen. Dabei handelt es sich beispielsweise um historische, politische, strukturelle und individuelle Gewalt, wie sie von der Literatur in deren pluralen Möglichkeiten thematisiert werden kann. Zudem kann die postkoloniale Literaturwissenschaft (auch verborgene) Formen sprachlicher Gewalt offenlegen, eine andere Sprachpraxis vorschlagen sowie andere Formen und Möglichkeiten individuellen Handelns und gesellschaftlicher Diskurse entwerfen. Sie kann also auf die Notwendigkeit der Förderung einer sprachgebundenen Ethik hinweisen. Es ist in der Tat davon auszugehen, dass manchen Gewaltgeschichten ein diskursiver Rahmen zugrunde liegt, innerhalb dessen sie gedacht, konzipiert und vorbereitet werden, bevor sie durchgeführt werden. Die diskursive Gewalt ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass der sprachlich konstruierte ‚Andere‘ unterworfen oder im Extremfall zum Opfer wird. Eine diskursanalytische und dekonstruktivistische

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Herangehensweise ist hier insofern erforderlich, als es darauf ankommt, den die Gewalt hervorbringenden Diskurs, seine Funktionsweise sowie die Art des Wissens, das er produziert, zu untersuchen. Es geht auch darum, diesen Diskurs als Strategie der Macht- und Gewaltausübung zu entlarven. Damit verbunden ist jedoch die Gefahr, dass eine „Form der Analyse […] von Begriffen und Bedeutungen“ entsteht, „um etwas von neuem zu bestärken und zu rekonstruieren.“ (Derrida 2006b, 21) Derridas weiter oben dargestelltes ethisch fundiertes dekonstruktives Verfahren kann verhindern, dass die rassistische und antisemitische Diskurslogik, die Konflikte und Gewalttätigkeiten ermöglichen, sich in Zukunft wiederholt. Das bedeutet auch in Derridas Verständnis: aus den Erfahrungen von Unterdrückung und Erniedrigung lernen. Als eine literaturwissenschaftliche und postkoloniale Analysekategorie ermöglicht die Multidirektionalität eine kritische Erforschung des Gewaltphänomens. Bei der Untersuchung der Ursachen von Gewaltgeschichten kann durch diese Kategorie gezeigt werden, wie etwa in literarischen Texten hegemoniale Denkstrukturen und diskriminierende Diskurspraktiken inszeniert werden, die zu Gewalt und Konflikten führen (können). Die sprachlichen Strategien, die diskursive Gewalt beinhalten und durch die die Gewalt oft legitimiert ist, können aufgedeckt werden. Diese Strategien können bewertet und so dekonstruiert werden, dass eine neue ethisch fundierte Sprache entworfen wird. Als eine Form postkolonialer Lektüre von Gewaltgeschichten stellt der multidirektionale Ansatz Binaritäten und Hierarchisierungen infrage, die sich in Form kompetitiver Erinnerungsdiskurse artikulieren und Ausschreitungen herbeiführen können. Indem er sich den verwobenen Erinnerungs- und Identitätskonfigurationen zuwendet, dient dieser Ansatz der Analyse und Dekonstruktion häufig kursierender Gewalt- und Erinnerungsdiskurse. Auf literarische Texte angewendet vermag also die multidirektionale Vorgehensweise zu zeigen, wie in solchen Werken, die Gewaltgeschichten verarbeiten, die Ereignisse zusammengedacht und zusammengebracht werden. Dabei kann erkundet werden, wie und zu welchem Zweck Zusammenhänge hergestellt werden. Es kann auch untersucht werden, ob dabei systematisch genug vorgegangen bzw. ob zwischen den verschiedenen Gewalttaten differenziert wird, um ethisch nicht vertretbare Amalgame zu vermeiden. Eine multidirektional-postkoloniale Perspektive könnte somit eine umfassende und differenzierende Analyse von Gewaltgeschichten ermöglichen und zu deren besserem Verständnis dienen.¹³ Au-

13 In einem Artikel zu Ruth Klüger habe ich bereits unter Rückgriff auf den Begriff „Inter(kon) textualität“ das multidirektionale Verfahren und Schreiben in den autobiografischen Texten dieser Holocaust-Überlebenden herausgearbeitet (vgl. Yowa 2017). Auch diese Texte der Autorin, die an

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ßerdem postuliert der multidirektionale Ansatz, dass die Erfahrung des Holocaust analog zu den Gewalterfahrungen der Kolonisation die Konstruktion einer hybriden Erinnerungsform impliziert, die darauf abzielt, jegliche Form der Hierarchisierung menschlicher Leiden zu unterminieren und eine kollektive und solidarische Opferidentität zu bilden. Durch den multidirektionalen Ansatz könnten neue Formen der Kollektivität sowie ein globales solidarisches Engagement für alle Drangsalierten, Unterdrückten und Gequälten entstehen. Vor diesem Hintergrund würde die Anprangerung des Rassismus und des Antisemitismus als Ursachen und Manifestationsformen von Gewalt einseitig erscheinen, solange sie nicht Teil eines umfassenden Ansatzes wäre, der darauf abzielen würde, das Ausmaß des Rassismus und des Antisemitismus als Praktiken und Herrschaftskategorien wahrzunehmen und sie in allen ihren Erscheinungsformen und in allen Strukturen des menschlichen Denkens und Lebens zu bekämpfen. Nur so könnten auch alle bzw. neue Formen des Antisemitismus und Rassismus in der Zukunft global bekämpft werden und eine „Kultur des Friedens“ (Wintersteiner 2001) entstehen, die auf Empathie, Perspektivenwechsel und Verständnis für den Anderen und für fremde Erfahrungen gründet. In diesem globalen Kampf besteht die politisch-ethische Verantwortung, die mit einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewaltgeschichten verbunden ist.

5 Schlussbemerkung Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen kann gesagt werden, dass Rothbergs und Derridas Theorien ein postkoloniales Denken als ein ethisch-dialogisches Denken zugrundeliegt. Beide entwickeln einen Diskurs, der dazu beiträgt, globale Menschenrechte zu fördern. Mit ihrer ausgesprochen postkolonialen Perspektive können die Gewalt allgemein sowie Gewaltgeschichten neu gelesen, gedacht, konzeptualisiert und kontextualisiert werden. Durch ihre Diskursstruktur wird nämlich die Gewalt, wie sie sich in bestimmten Teilen der Welt manifestiert, in einem größeren globalen Zusammenhang betrachtet und als ein globales Phänomen angesehen, das die Weltgesellschaft betrifft. Als solches erfordert sie eine globale politisch-ethische Verantwortung der Menschen ungeachtet ihrer Kultur oder Provenienz. Durch die „Erinnerungen an den Kampf um Menschenrechte oder deren Verletzung“ macht die Multidirektionalität als ein Denken der Zusammenhänge und des In-Beziehung-Setzens die Welt als „Leidenszusammenhang“ er-

einigen Stellen die Methode des differenzierenden Vergleichs reflektieren, können als Subtexte zu Rothbergs Theorie gelten (vgl. etwa Klüger 1992; 2001).

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fahrbar (Sznaider 2022, 191) und führt zu einer kritischen Reflexion der Ursachen, Funktionsweisen der Gewaltgeschichten sowie der Zukunftsmöglichkeiten, die geboten werden. Sie stellt einen performativen Begriff dar, mit dem Zukunftsideale entworfen werden. Die postmoderne bzw. die interkulturell-postkoloniale Konstellation, welche mit Diversität und Interrelation umzugehen versteht, fungiert als Voraussetzung für eine multidirektionale Wahrnehmung von Gewalttätigkeiten. Daraus ergeben sich wichtige Impulse für literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen. Weil der Sprachgebrauch als Nährboden für Gewalttaten und als Gewaltform fungieren und weil die Hasssprache nur zu Diskriminierungen, Ausgrenzungen und im Extremfall zur Ermordung der für andersartig Gehaltenen führen kann, sollte eine literatur- und kulturwissenschaftliche Analyse der Gewalt sprachkritisch ausgerichtet sein. Indem sie sich dem Themenkomplex Gewalt, Erinnerung und Identität öffnen, können die Literatur- und Kulturwissenschaften auf die Veränderungen, die sich im Bereich der Erinnerungskultur vollziehen sowie auf Hindernisse für Fairness, Gerechtigkeit, Ethik und freie Selbstverwirklichung des Menschen aufmerksam machen. Aufgrund seiner Positionierung jenseits jeglicher Identitätspolitik und Erinnerungskonkurrenz sowie des ihm zugrundeliegenden dekonstruktiven Gestus und postkolonialen Blicks ist der multidirektionale Ansatz kritisch und ethisch orientiert. In dieser Hinsicht ist er im Kern anti-essentialistich und seine Grundprämissen sind demnach anti-rassistisch und anti-antisemitisch. Der postkoloniale Blick widersetzt sich nämlich gefährlichen starren Polarisierungen und weist auf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit hin, hybride (Erinnerungs‐)Konstellationen, Erinnerungsformen und -räume zu entwerfen. Es wäre demnach nicht unproblematisch, in Zusammenhang mit der multidirektional-postkolonialen Perspektive auf Gewaltgeschichten von einem neuen bzw. „postkolonialen Antisemitismus“¹⁴ zu sprechen. Das Postkoloniale und Multidirektionale in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse der Gewalt besteht überhaupt in einer dekonstruktiven Ethik, wie sie bei Derrida und Rothberg zur Darstellung kommt. Die multidirektionale Perspektive auf Gewalt geht also davon aus, dass die Gewalt eine sprachliche Grundlage hat. Sie versucht dann, die der Gewalt zugrundeliegenden sprachlich erzeugten Annahmen zu re- und dekonstruieren. Bei dieser Rekonstruktion wird gleichzeitig das Verbindende der Gewalttaten erkundet und es wird gezeigt, wie man aus der Geschichte lernen und die Lehren verallgemeinern kann. Im Hinblick auf die Förderung einer ‚Ethik der Solidarität‘ zielt die Multidirektionalität darauf

14 Vgl. dazu Micha Brumliks 2021 erschienenes gleichnamiges Buch, das Bezug auf die gegen Achille Mbembe und den Postkolonialismus oft vorgebrachte Kritik nimmt

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ab, alle Formen von Antisemistismus, Rassismus und Unterdrückung überall dort anzugreifen, wo sie auf der Welt vorkommen. Adornos ethischer Imperativ Nie Wieder (Adorno 1966, 356) wäre somit sinnleer, wenn diese Phänomene nicht global, das heißt in allen Bereichen menschlicher Existenz bekämpft würden. Dieser neue ‚kategorische Imperativ‘ muss demnach erweitert werden, damit er im Dienste der sozialen und menschlichen Gerechtigkeit steht. Nur so können sich die Menschen als ethisch verantwortliche (Rechts‐)Subjekte konstruieren und behaupten. Es kann aber bei dem in dem multidirektionalen Ansatz postulierten moralischen Anspruch auf Solidarität nicht einfach darum gehen, ein Ereignis wie den Holocaust in die globale Gewaltgeschichte einzubinden und die strukturellen Analogien zu ermitteln, sondern auch darum, seine Spezifik herauszuarbeiten, also das Allgemeine und das Partikulare gemeinsam zu reflektieren. Der Unterschied zwischen Antisemitismus und kolonialem Rassismus muss also gleichzeitig in den Blick genommen werden. Von der multidirektional-postkolonialen Perspektive ausgehend kann m. E. eine „neue Politik der Menschheit“ entworfen werden, die sich gegen die Grundlagen einer „Politik der Feindschaft“ erhebt, welche Achille Mbembe (2017) zufolge zu einem Kennzeichen unseres globalen Zeitalters geworden ist und sich fortwährend rekonfiguriert. Eine solche Politik der Humanität zielt auf ein „gewaltloses Verhältnis zum […] Anderen, zum Fremden“ (vgl. Derrida 1972c, 127) ab und kann zur Utopie einer friedlichen Welt, also zur Friedenssicherung weltweit beitragen. Sie ist besonders in einer Zeit zunehmender geopolitischer Zerwürfnisse und angesichts gegenwärtiger und künftiger Herausforderungen erforderlich.

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Monika Albrecht

Erinnerungspolitische Transformationen und koloniale Gewalt Aus der Perspektive von Critical Post-Colonial Studies

1 Einleitung In den letzten Jahrzehnten hat sich die Wahrnehmung der europäischen Expansion und des Kolonialismus in vielen Teilen der Welt verändert, und zwar sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Öffentlichkeit (Bechhaus-Gerst und Zeller 2018, 12).¹ Sozialdarwinistische Ideen, die im Kolonialismus eine Art Bereicherung „der stärkeren, besseren Rasse, auf Kosten der schwächeren“ sehen (Peters 1886)² – wie es der berüchtigte Carl Peters noch Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen Kontext ausdrückte –, sind ohnehin längst nicht mehr mehrheitsfähig. Wie weit sie es konkret jemals waren, wäre zu hinterfragen. Jedenfalls hat August Bebel als Parlamentarier für die Sozialdemokratie in seiner berühmten Reichstagsrede 1889 eben dieses Vorgehen, „auf Grund größerer Mittel gegenüber einer schwächeren Bevölkerung sich auf alle mögliche Weise zu bereichern“, scharf kritisiert, das „Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz“ genannt und darauf bestanden, dass die „Interessen“ der Kolonialadvokaten „mit den Interessen des deutschen Volks gar nichts zu tun haben“ (Bebel 1889).³ Auch der Rückhalt dieser Aussagen in der damaligen Bevölkerung wäre genauer auszuleuchten. Heute kann es jedoch fast als Allgemeinwissen gelten, dass auch scheinbar menschenfreundliche Ideen der Kolonialzeit, wie etwa die zivilisatorische Mission, in vielen Fällen der Rechtfertigung kolonialer Ausbeutung dienten. Das Unrecht der kolonialen Vergangenheit wird demgegenüber kaum noch ernsthaft bestritten. Anlässlich von Verfilmungen der Kolonialzeit für das deutsche Fernsehen, um eins 1 Im Hinblick auf das Britische Empire vgl. Wiener 2013; zu England und Frankreich mit Seitenblicken auf andere Europäische Länder wie Belgien und Deutschland vgl. Howe 2010. 2 Carl Peters 1886 in Kolonial-Politische Correspondenz; zitiert nach Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB), https://ghdi.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=1871&langu age=german (27. Mai 2022). 3 August Bebel: Reichstagsrede gegen die Kolonialpolitik in Deutsch-Ostafrika (26. Januar 1889); zitiert nach Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB), https://germanhistorydocs.ghidc.org/docpage.cfm?docpage_id=2879&language=german (27. Mai 2022). https://doi.org/10.1515/9783111181530-007

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von vielen Beispielen zu nennen, schrieb ein Rezensent im Januar 2007 in der Frankfurter Rundschau: „Wer mag schon heute noch ernsthaft bezweifeln, dass Kolonialismus verbrecherisch war?“ (Freitag 2007).⁴ Dirk Göttsche hat daher schon vor zehn Jahren – den von Paul Michael Lützeler eingeführten Begriff des „postkolonialen Blicks“ (Lützeler 1996, 222) weiterdenkend – von einer „Normalisierung“ dieses Blicks gesprochen (Göttsche 2012, 185), womit unter anderem gemeint ist, dass in akademischen, künstlerischen und öffentlichen Diskursen eine inzwischen eher kritische und vor allem selbstkritische Sicht auf den Kolonialismus vorherrscht.Vor diesem Hintergrund könnten nunmehr Fragen wie die ins Zentrum rücken, wie sich die post-koloniale⁵ Situation auf dieser Grundlage noch verbessern ließe und vor allem, wie es von hier aus in welche Zukunft weitergehen kann. Das ist eine Möglichkeit, den Zustand der gegenwärtigen post-kolonialen Erinnerungskultur zu beschreiben – eine, die an historischer Genauigkeit interessiert ist und im status quo auch den Fortschritt gegenüber früheren Jahrzehnten betont. Es ist jedoch noch eine andere Art Narrativ im Umlauf, das eben diesen Fortschritt ausblendet und sozusagen performativ⁶ immer wieder die Idee in den Raum stellt, dass es nun an der Zeit sei, den Kolonialismus aufzuarbeiten.⁷ Auch aus der Forschung kommen Beiträge zur diesem Narrativ, und manche gehen – wie kürzlich in der Einleitung eines Special Issue 2021 zur Mbembe-Kontroverse im Journal of Genocide Research – noch einen Schritt weiter und sprechen von „the growing co-

4 Eins von vielen neueren Beispielen in diesem Sinne ist der Artikel von Ijoma Mangold im Kontext der Causa Mbembe (Mangold 2020). 5 Einigung über die Schreibweisen „post-kolonial“ bzw. „postkolonial“ gibt es nicht und, anders als in den Anfängen der Postkolonialen Studien, inzwischen auch kaum noch Reflexionen darüber. Mit der Schreibweise „postkolonial“ wird hier auf das in dem vorliegenden Aufsatz kritisierte, postkoloniale Wissensregime verwiesen, „post-kolonial“ dagegen schließt an die früher, vor Beginn der postkolonialen Studien, gebräuchliche chronologische Bedeutung an („nach dem Kolonialismus“), ohne dabei koloniale Kontinuitäten in Abrede zu stellen. 6 In den 1990er Jahren haben Judith Butler und andere ein Potential der Sprache in den Vordergrund gestellt, das sich performativ, durch ständige Wiederholung und mit der Zeit entfaltet, und sprachen von „the reiterative and citational practice by which discourse produces the effects that it names“ (Butler 1993, 2). 7 Prominent der Artikel von Dirk Moses mit dem Titel „Gedenkt endlich auch der Opfer kolonialer Gräueltaten!“ (Moses 2021a). Zu den zahlreichen Beispielen solcher Statements der letzten Zeit in Medien und Öffentlichkeit zählen auch die der Journalistin und Schriftstellerin Mithu Sanyal, etwa anlässlich einer an der Universität Münster veranstalteten Podiumsdiskussion im April 2021; vgl. „Wie viel Identitätspolitik braucht unsere Gesellschaft?“, https://www.uni-muenster.de/ZIT/Aktuelles/2021/po dium_wie_viel_identitaetspolitik_braucht_unsere_gesellschaft.html; https://www.youtube.com/watch? v=QEsnOdpZR5U (27. Mai 2022).

Erinnerungspolitische Transformationen und koloniale Gewalt

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lonial nostalgia in sections of the population“ (Capdepón und Moses 2021, 372).⁸ Die Frage nach dem Umgang mit der Kolonialvergangenheit muss also derzeit als umstritten bezeichnet werden, und zwar unter mindestens zwei verschiedenen Gesichtspunkten: Erstens wird das ‚kollektive Gedächtnis‘ des deutschen Kolonialismus in erinnerungspolitischen Debatten nach wie vor an unterschiedlichen Positionen zwischen Erinnern und Vergessen verortet, wobei, wie eben angedeutet, Anpassungen an den erinnerungspolitischen und -kulturellen Wandel nicht immer mit der jeweiligen Realität Schritt halten. Und zweitens neigen Parteien und Akteure eben dieser erinnerungspolitischen Debatte dazu, sich selektiv auf verschiedene Bereiche des Kolonialismus zu beziehen. In jüngster Zeit haben sich die Präferenzen deutlich auf koloniale Gewalt verschoben. Beide Aspekte sollen im Folgenden diskutiert werden – unter besonderer Berücksichtigung von Schwerpunktverlagerungen und vor dem Horizont jener erinnerungspolitischen Transformationen, die seit etwa zwei Jahrzehnten im Gange sind und mit der Causa Mbembe (Beyrodt 2020) im Frühjahr 2020 in einer „öffentlichen Inszenierung“ auch erstmals für ein breiteres Publikum sichtbar wurden (Sznaider 2022, 12). Zunächst jedoch einige grundlegende Erläuterungen zum Hintergrund meiner Vorgehensweise.

2 Critical Post-Colonial Studies Mein Beitrag ist aus der Perspektive von Critical Post-Colonial Studies ⁹ geschrieben (Albrecht 2023, 2021, 2020a, 2020b), womit jedoch keine neue Unterabteilung des 8 Ein Beleg hierfür wird nicht erbracht, die entsprechende Fußnote verweist nur auf Websites und Artikel, die dies ebenfalls nur behaupten (Capdepón und Moses 2021, 373; Fußnote 9). 9 Der englische Titel signalisiert eine Abgrenzung von ‚Kritiken‘ des Postkolonialismus im deutschsprachigen Raum, die den Rahmen von postkolonialen Prämissen, Denkmustern und Parametern realiter nicht verlassen. Einige wenige Forscher im anglophonen Raum wie Aijaz Ahmad (z. B. 1992), Russell Berman (z. B. 2011), Neil Lazarus (z. B. 2011) oder Vivek Chibber (z. B. 2013) stellen dagegen ebenfalls diese Prämissen und damit das postkoloniale Wissensregime als Ganzes in Frage. Der zuletzt Genannte ist vor allem deshalb besonders wichtig, weil er eine überzeugende Dekonstruktion der zentralen theoretischen Grundlagen von einflussreichen Studien wie Provincializing Europe (Chakrabarty 2000) vorgelegt hat, die sich tatsächlich als nicht haltbar erweisen, insbesondere die Behauptung, dass ‚europäische‘ Kategorien in der außereuropäischen Welt unangemessen sind (z. B. Chibber 2013, 108; vgl. Albrecht 2023, 2021). Im deutschsprachigen Raum wird Chibber jedoch, obwohl seine Studie Postcolonial Theory and the Specter of Capital (2013) inzwischen in Übersetzung vorliegt (2018), kaum zur Kenntnis genommen und wenn, dann schwerpunktmäßig aus der Perspektive von Gayatri Spivaks geringschätziger Rezension (Castro Varela und Dhawan 2020, 339–351), in der diese Chibbers Studie als „Little Britain Marxism“ abtut (Spivak 2014, 190) und damit die Aufmerksamkeit von der Brisanz seines Ansatzes ablenkt (vgl. dazu auch die Replik von Chibber 2014).

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breiten und inzwischen nicht mehr zu überschauenden Feldes der Postcolonial Studies gemeint ist. Mein konzeptionell-theoretischer Ausgangspunkt ist vielmehr die Ausweitung des geopolitischen Raums über den üblichen postkolonialen hinaus – etwa durch Einbezug des Osmanischen Reichs und des Sowjetischen Imperiums. Ein Plädoyer dafür, „Kolonisierungspraktiken innerhalb verschiedener Kontexte während und nach der europäisch-überseeischen Kolonialzeit einzubeziehen“, wird oft mit dem Hinweis auf zwei Risiken abgewehrt: Einmal der „Überstrapazierung des Konzepts“ Kolonialismus und andererseits der Universalisierung einer partikularen Perspektive (Castro Varela und Dhawan 2020, 298). Bei meinem Vorschlag zur Erweiterung der kolonialen Landkarte geht es jedoch gerade nicht darum, „die aus einer partikularen historischen und politischen Situation hervorgegangene Perspektive auf andere Kontexte zu übertragen“ und postkoloniale Ansätze damit um ihre „Erklärungsmächtigkeit“ zu bringen (Castro Varela und Dhawan 2020, 298; Herv. M.A.). Auch wenn das Ziel in der Tat eine Dekonstruktion dieser „Erklärungsmächtigkeit“ ist, geht es zunächst einmal umgekehrt darum, zu zeigen, dass und inwiefern es sich bei der postkolonialen um eine partikulare Perspektive handelt, die auf problematische Weise universalisiert wird. Denn postkoloniale Kritiker eint „a commitment to tell a more inclusive, more truly global story“ (Brennan 2013, 143) und sie versprechen „that the theoretical modes of Postcolonial Studies have the potential to chart the worldwide contemporary condition“ (Parry 2012, 341).¹⁰ Weist man diesen Anspruch zurück, dann verändert sich das konventionelle Verständnis des Postkolonialen und das Reduktionistische wirkmächtiger Denkfiguren des Postkolonialismus wird offenkundig. In diesem Sinne hat auch Andrea Polaschegg schon vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass der postkoloniale Ansatz – um eine dieser überschätzten Denkfiguren paradigmatisch zu illustrieren – mit der auf Gayatri Spivak zurückgehenden einseitigen Differenzzuschreibung (‚othering‘) nur „auf ein allgemeines Grundprinzip kultureller Identitätskonstitution gestoßen“ ist, das dann irrtümlich für „ein Spezifikum des Westens“ gehalten wurde (Polaschegg 2005, 38). Die Weichen hierfür hat Edward Saids Studie Orientalism (1978) mit der Gegenüberstellung von Orient und Okzident und der problematischen Behauptung gestellt, dass das „Wesen“ des Orientalismus („the essence of Orientalism“) die „unausrottbare Unterscheidung zwischen der Überlegenheit des Westens und der Unterlegenheit des Orients ist“ (Said 2009, 55; 1978, 42). Bis heute wird in postkolonialen Studien vernachlässigt, dass die andere Seite ebenfalls auf einem überlegenen Anderssein beharrt, „inverting the colonialist 10 Dass Prämissen dieser partikularen Perspektive in der Praxis postkolonialer Ansätze tatsächlich häufig auf andere Kontexte der sozialen und politischen Mikro- und Makroebenen übertragen und damit als solche universalisiert werden, haben auch andere bereits kritisiert (z. B. Osterhammel 2006, 25).

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contempt for indigenous cultures into a contempt for the culture of the colonizers“ (Narayan 1997, 402). Entgegen der Behauptung, dass es nur die westliche „logic of coloniality“ war, „that translated differences into values“ (Mignolo 2011, xxvii), bestanden Menschen auf beiden Seiten der kolonialen Kluft „on the ‚Otherness‘ of the other culture“ (Narayan 1997, 402). Das vielfach kritisierte „colonial understanding of difference as lack“ (Korteweg und Yurdakul 2020, 13; vgl. auch Chakrabarty 2008, 32) war offenkundig nur die eine Seite der kolonialen Situation, kulturelle Unterschiede und die eigene Überlegenheit werden auf beiden Seiten betont. Auch wenn die gegenseitige Zuschreibung ‚kolonialer Differenz‘ aus einer Machtposition heraus nicht die gleichen Implikationen und Auswirkungen hat wie aus einer Position der Machtlosigkeit, ist die Grundhaltung auf beiden Seiten die gleiche. Bei aller Vielfalt halten Postcolonial Studies jedoch bis heute an diesem von Said abgesteckten diskursiven Rahmen fest, der nicht nur im eben beschrieben Sinne einseitig ausgerichtet war, sondern vor allem auch den Grundstein dafür legte, dass Kolonialismus bis heute mit der europäischen Expansion und dem westlichen Kolonialismus gleichgesetzt wird – „as if colonies and empires had existed nowhere else“ (Berman 2011, 165). Solche reduktionistischen Grundannahmen führen unter anderem zu einer umgekehrten Teilung der Welt, die Frantz Fanons berühmte Definition der „kolonisierten Welt“ als einer „zweigeteilten“ (Fanon 1966, 29) lediglich aus der entgegengesetzten Perspektive reproduziert. In dieser postkolonialen Umkehrung besteht die Welt aus einem abgewerteten Westen und einem aufgewerteten Nicht-Westen. Und auch wenn beispielsweise „both Bhabha and Spivak seek to emphasize that the colonial cultural experience had mutually modifying effects“ (MacKenzie 1995, 11; vgl. auch Cooper und Stoler 1997, vii), und auch wenn versucht wurde, eben diese Zweiteilung aufzulockern, etwa durch Einbezug von „‚Hybridity‘ (Homi Bhabha) oder vermittelnder ‚contact zones‘ (Mary Louise Pratt)“ (Osterhammel 2015, 79; vgl. Bhabha 1994; Pratt 1992), ist die Abwertung der westlichen Welt in Postcolonial Studies immer präsent. Auch hierfür wurden die Grundlagen in Orientalism gelegt, nämlich mit der Idee, dass „Orientalismus“ seit der Antike (Said 2009, 71 ff.) tief in der westlichen Kultur verankert ist und den Kolonialismus damit nicht nur legitimieren half, sondern gleichsam hervorgebracht hat.¹¹ Vivek Chibber sieht eben darin das genuin Neue des Ansatzes von Saids Studie, dass er die traditionelle interessenbasierte Erklärung des Kolonialismus durch eine ersetzt hat, die die Ur-

11 Vgl. etwa: „Lediglich festzustellen, dass der Orientalismus die Kolonialherrschaft rechtfertigen sollte, hieße verkennen, in welchem Maße er diese nicht erst nachträglich, sondern auch schon vorbereitend legitimierte“ (Said 2009, 53).

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sache in der westlichen Kultur selbst sieht (Chibber 2019, 42, 39).¹² Diese Idee, dass Kolonialismus – wie Aijaz Ahmad kritisch anmerkt – seine Ursachen in einer Art „compulsive drive inherent in Europe’s unitary psyche“ habe (Ahmad 1992, 182; Herv. im Original), brachte in der Hochzeit des Postkolonialismus in den 1990er Jahren Tropen wie „colonialist mentality“ (Zantop 1997, 4, 14) hervor, die bis heute im Umlauf sind und inzwischen beispielsweise als Unterstellung eines „intrinsic impulse to genocide“ in der westlichen „collective soul“ (Owuor 2020) weitergeschrieben werden. Critical Post-Colonial Studies gehen dagegen davon aus, dass solche und andere Prämissen der Postcolonial Studies keiner Überprüfung standhalten. Critical Post-Colonial Studies stellen zunächst einmal fest, dass ein großer Teil der Welt und ein noch größerer Teil der Weltgeschichte in der eurozentristischen postkolonialen Masternarrative ausgeblendet werden (Salzman 2008, 244; vgl. auch Polaschegg 2005, 32). Von diesem Faktum ausgehend werden problematische Schwachstellen im Theoriegebäude postkolonialer Ansätze aufgezeigt und auf ihre Implikationen hin untersucht. Auf dieser Grundlage kann das postkoloniale Wissensregime¹³ als Ganzes in Frage gestellt werden. Kritik an postkolonialen Ansätzen und Prämissen wird jedoch oft missverstanden oder sogar als Verharmlosung des Kolonialismus wahrgenommen. Daher vorab eine weitere Klarstellung: Meine Kritik zielt nicht auf das weite historische Feld des Post-Kolonialen im Allgemeinen von anti-kolonialen Befreiungskämpfen bis zum immer noch notwendigen Widerstand gegen heutige neo-koloniale Ausbeutung. Meine Kritik will weder koloniales Unrecht relativieren noch die Existenz kolonialer und neokolonialer Diskurse in Frage stellen noch Machtverhältnisse 12 „Orientalism is [according to Said] not so much a product of circumstances, but something embedded deeply in Western culture. To push this argument, Said makes a distinction between latent and manifest Orientalism [in Said 1978, Kapitel 3 Teil 1, 201–225]. The latent components are its essential core, its basic moral and conceptual architecture, which have been in place since Homer and define it as discourse. Its manifest elements are what gives Orientalism its form in any particular era“ (Chibber 2019, 39; Herv. im Original). 13 Für den in der Wissensforschung und Wissenssoziologie noch relativ neuen Terminus „Wissensregime“ gibt es noch keine einheitliche Definition. Der Soziologe Peter Wehling versteht darunter „den strukturierten und (mehr oder weniger) stabilisierten Zusammenhang von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen des Umgangs mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen“ (Wehling 2007, 704). Das postkoloniale Wissensregime in diesem Sinne auf die „political, theoretical and institutional cross-currents“ seiner Entstehungs- und Blütezeit zurückzuführen (Kaiwar 2015, 4), „den Prozess“ der „Herausbildung und Stabilisierung“ sowie seine „Funktionsweise“, „Wirkungen“ und „Wandel“ zu untersuchen und damit seine „Kontingenz und Historizität“ sichtbar zu machen (Wehling 2007, 704), wird Aufgabe einer künftigen Wissenschaftsgeschichte sein. Eine kritische Analyse inzwischen „etablierter, scheinbar selbstverständlicher Regeln und Kriterien der Wissenserzeugung, -verwendung und -bewertung“ (ibid.) muss mit jenen Fragen beginnen, die ich in dem vorliegenden Aufsatz und anderen Veröffentlichungen stelle (vgl. bes. Albrecht 2021).

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herunterspielen. Sie zielt vielmehr auf weite Teile des postkolonialen Wissensregimes und seine normativen Kategorien, auf postkoloniale Ideologie also, auf ihren reduktionistischen diskursiven Rahmen und insbesondere auch auf die Auswirkungen dieses Regimes in Wissenschaft und Gesellschaft. Indem sie den Blick für die Notwendigkeit öffnet, den postkolonialen Ansätzen zugrunde liegende Prämissen zu überdenken, kann Kritik daran nicht zuletzt als Beitrag zu einer Art „Entdramatisierung“ (Bhatti 2015, 15; Koschorke 2015, 36) verstanden werden. Denn als zentrale post-koloniale Problematik steht die einer post-postkolonialen Zukunft im Raum – die konzeptionell-terminologisch jedoch mit einem zusätzlichen post- in der etablierten Doppelbedeutung von Chronologie und Kontinuität nicht zu fassen ist.¹⁴ Arif Dirlik hat die Fragen einer„present that is already, at least to this reviewer, ‚post-postcolonial‘“ und „Where Do We Go From Here?“ schon vor zwei Jahrzehnten angesprochen (Dirlik 2003, 424), und seitdem wird immer wieder über die Möglichkeiten des Post-Postkolonialen nachgedacht (vgl. z. B. Etim 2019; Göttsche 2017; Koschorke 2015). Andere dagegen vermeiden konkrete Hinweise auf die Zukunft offenbar mit Bedacht. So erwecken beispielsweise die unzähligen Aufrufe zur „Dekolonisierung“ von allem und jedem nicht selten den Eindruck, dass das geforderte Umdenken und die daraus abzuleitenden Maßnahmen niemals ausreichen werden – und vor allem, dass „Postkolonialismus“ nicht nur bis in alle Ewigkeit andauern wird, sondern auch fortbestehen soll.

3 Zwischen Erinnern und Vergessen: der deutsche Kolonialismus In einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 hat der Historiker Stephen Howe auf eine Denkfigur hingewiesen, die schon zu dieser Zeit weit verbreitet war, die Idee einer kolonialen oder postkolonialen ‚Amnesie‘, die er „a powerfully pervasive trope of the past few years“ nennt. Diese habe sich bei „both scholars and political commentators“ durchgesetzt und transportiere den Gedanken eines „widespread, in part willed or manufactured, oblivion concerning the imperial past“ (Howe 2010, 6).

14 Dirk Göttsche hat darauf hingewiesen, dass ein „chronological understanding of the ‚postcolonial‘ would have to accept that postcolonialism is a condition that can never end“ (Göttsche 2017, 120). Dies gilt gleichermaßen für ein postkoloniales Kontinuitätsverständnis, das von einem kollektiven psychischen Potenzial ‚des‘ Westens ausgeht, das koloniale Untaten hervorgebracht hat und in der Gegenwart fortsetzt.

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Sein Fokus liegt auf England und Frankreich, doch gilt dies auch für Deutschland,¹⁵ und auch hier wird diese Annahme bis heute von Forderungen nach einer Überwindung der Amnesie begleitet. Zwar sind relevante Themen schon seit langem Gegenstand öffentlicher Debatten – die zum Humboldt-Forum oder zur Rückgabe kolonialer Artefakte und menschlicher Überreste sind nur die jüngsten Varianten –, dennoch findet die „Metapher“ (Rothermund 2014, 65) einer kolonialen oder postkolonialen Amnesie bis heute im akademischen, journalistischen und aktivistischen Kontext Verwendung.¹⁶ Der Terminus „Amnesie“ ist der Individualpsychologie entlehnt und wird schon deshalb von vielen als problematisch betrachtet. Der Historiker Dietmar Rothermund hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass Menschen, die unter Amnesie leiden, ein starkes Interesse daran haben, ihre Erinnerung wiederzuerlangen, während diejenigen, die an ‚postkolonialer Amnesie‘ leiden – so zumindest die Logik im Gebrauch der Metapher –, diesen Wunsch gerade nicht verspüren (Rothermund 2014, 65). Auch ist Amnesie als medizinische oder psychologische Form der Gedächtnisstörung in der Regel unverschuldet – ein weiterer Aspekt, der sich gemäß der dieser Metapher inhärenten Logik einer Übertragung auf die post-koloniale Situation entzieht. Der von der Anthropologin Ann Laura Stoler geprägte Begriff der „Colonial Aphasia“ scheint demgegenüber dem Phänomen, das er beschreiben soll, besser gerecht zu werden – dem gleichzeitigen Wissen und Verdrängen der kolonialen Vergangenheit –, er stammt jedoch ebenfalls aus dem psychologisch-medizinischen Bereich und ist daher ähnlich problematisch (Stoler 2011; 2016, 122–170).¹⁷ Doch Kritik im Namen der Logik scheint im Fall der‚postkolonialen Amnesie‘ ohnehin ins Leere zu laufen. Diese Metapher kolonialer oder postkolonialer Amnesie ist letztendlich ein eingängiger politischer Slogan, der ohne Rücksicht auf Herleitung und Begründung des Begriffs mit anklagender Absicht in den jeweiligen Diskursraum gestellt wird. Und in diesem Kontext werden de facto normative Aussagen für gewöhnlich als Zustandsbeschreibungen ausgegeben.

15 Belege dafür, dass etwa die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich keine Zeit der (post‐) kolonialen Amnesie war, finden sich in Albrecht 2008, 34–138 und Albrecht 2010; vgl. genereller Bürger 2017. 16 Für die einen begann diese ‚Amnesie‘ nach dem Zweiten Weltkrieg und dauerte bis in die 1960er Jahre (Zantop 2001, 4), für andere dauerte sie etwa bis zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Herero und Nama im Jahr 2004. In der Einleitung zu dem Band Kein Platz an der Sonne hieß es entsprechend im Jahr 2014: „Die koloniale Amnesie der Deutschen scheint allmählich zu schwinden“ (Zimmerer 2013, 9). 17 Zudem bleibt die Übertragung von der Individualpsychologie auf den Bereich des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ in diesem Essay vage und abstrakt, während Passagen überzeugender sind, in denen tatsächlich von der „Aphasie“ von Individuen wie dem Historiker Pierre Nora und anderen die Rede ist.

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Wenn man koloniale Amnesie in diesem Sinne als politische Metapher versteht, wird deutlich, warum bis heute beispielsweise behauptet werden kann, dass Deutschland „believes itself largely untouched by Europe’s colonial heritage“ (ElTayeb 2020, 77). Hier wird nicht nur die jahrzehntelange Forschung ignoriert, sondern auch der Wandel im öffentlichen und politischen Diskurs über die deutsche Rolle im Kolonialismus. Tatsächlich gehörte die Aufarbeitung von Kolonialismus und deutscher Kolonialgeschichte inklusive der Herkunft von Kulturgütern aus dem kolonialen Erbe schon zur Zielvereinbarung im Koalitionsvertrag der alten Bundesregierung (CDU, CSU und SPD 2018) und ist auch jetzt wieder im Vertrag der Ampelkoalition festgeschrieben (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021) – und übrigens auch Teil der neuen EU-Africa Strategy vom Frühjahr 2021, die vorsieht „to establish a ‚memorial culture‘ which allows both continents to identify remnants of the colonial rule in current relations and negotiate appropriate measures to counteract them“ (European Parliament 2021).¹⁸ Und während bis heute behauptet wird, dass „the German government continues to dispute whether genocide was committed by Imperial German forces in Namibia in 1904–1905“ (Capdepón und Moses 2021, 372), erkennt eben diese deutsche Regierung, wenngleich ohne „Rechtsfolgen“, seit 2016 die Massaker an den Herero und Nama offiziell als Völkermord an (Deutscher Bundestag 2016). Auch die pauschale und oft wiederholte Unterstellung, dass die Deutschen ihre Kolonialgeschichte bislang nicht „aus dem Geschichtsunterricht kennen“ (Ziai 2016, 12), erweist sich als unzutreffend (Geiger 2021, 140).¹⁹ „Themen der Kolonialgeschichte sind“ im Gegenteil „in den meisten Lehrplänen der Bundesländer vorgegeben“ (Schweppenstette 2021, 183), und auch in deutschen und europäischen Schulbüchern finden sich längst Themenfelder wie Imperialismus, globale Verflechtungen und Erinnerung an den Kolonialismus (Fenske und Kuhn 2021). In einer neuen, von Henning Melber und Wolfgang Geiger herausgegebenen Studie zu Erinnerung und Geschichtsvermittlung (Kritik des deutschen Kolonialismus, 2021) wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Behauptung, der Kolonialismus sei „bislang kein Thema im Geschichtsunterricht“ (Geiger 2021, 140), nach wie vor performative Praxis ist (Geiger 2021, 140). Doch an der „convenient metaphor“ (Rothermund 2014, 65) einer kolonialen oder postkolonialen Amnesie kann nur festhalten, wer nicht zur Kenntnis nimmt, dass die – so der Historiker Sebastian Conrad im August-Heft 2021 der Zeitschrift Merkur – „breitgeführten Diskussionen“ der letzten 18 In welchem Maß solche Zielvereinbarungen und Strategien konkret umgesetzt werden, ist eine andere Frage. 19 In diesem Artikel weist Wolfgang Geiger darüber hinaus zu Recht auf einen weiteren Aspekt hin: „Dass (ehemalige) Schülerinnen und Schüler sich nicht daran [an das Thema Kolonialismus] erinnern, heißt noch nicht, dass es nicht behandelt wurde“ (Geiger 2021, 140).

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zehn, zwanzig Jahre „die öffentliche Wahrnehmung von Deutschlands und Europas kolonialer Vergangenheit und die Sensibilität im Umgang mit diesen Themen bereits grundlegend verändert [haben]“ (Conrad 2021, 12).²⁰ Doch es besteht Grund zu der Annahme, dass die politische Metapher ‚postkoloniale Amnesie‘ weiterhin im Umlauf bleibt – und dass die Frage daher gar nicht erst aufkommt, geschweige denn ernsthaft diskutiert wird, wann und wie genau ein zufriedenstellender Zustand post-kolonialer Erinnerungskultur erreicht sein könnte. Dagegen wäre einerseits an Steven Pinkers Einsicht zu erinnern, dass „Learning about human progress is not an exercise in optimism, cheerishness, or looking on the bright side; it’s a matter of accuracy, of understanding the world as it really is“ (Pinker 2018, 34). Andererseits bieten sich die klassischen Fragen der Memory Studies als leistungsstarke methodische Instrumente an, um von der Einsicht zu einer kritischen Einschätzung eben dieser Realität zu gelangen: „who wants whom to remember what, and why“ und „who wants whom to forget what, and why“ (Burke 1997, 56, 57). Ein sinnvoller Alternativvorschlag zu der politischen Metapher ‚postkolonialer Amnesie‘ kam vor einiger Zeit aus den Geschichtswissenschaften. Vor dem Hintergrund einer vergleichenden Studie über Erinnerungskulturen in post-imperialen Ländern wurde zur Beschreibung des Umgangs mit der Kolonialvergangenheit das Konzept „Verschwörung des Schweigens“ vorgeschlagen (Rothermund 2015, 14). Damit ist beispielweise Schweigen gemeint, das „may be due to a feeling of shame or discomfort, an unwillingness to articulate repentance for deeds which one may not have done but which one had tolerated“ (Rothermund 2014, 65). Als „the very opposite of amnesia“ (Rothermund 2014, 65) hat dieses Konzept den Vorteil, dass es frei ist von medizinischen und individualpsychologischen Konnotationen. Die Wahl des Terminus „Verschwörung“ scheint allerdings insofern zunächst einmal ebenfalls nicht glücklich, als er eine bewusste Vereinbarung über das „Schweigen“ suggeriert. Genau das ist jedoch nicht gemeint, der Begriff basiert vielmehr auf einer spezifischen Idee des „Schweigens“, die der Historiker Jay Winter in die Debatte einbrachte: „Silence is a space where nobody speaks what everybody knows“ (Winter 2009, 34).²¹ Während der Begriff ‚postkoloniale Amnesie‘, auf Gruppen oder

20 Vgl. auch: „Die immer wieder aufflackernde Raubkunst-Debatte – etwa um die sogenannten Benin-Bronzen – und die Diskussionen um die Bestückung des Berliner Humboldt-Forums finden öffentliche Resonanz in einem Maße, das in eine neue Richtung weist. […] Erinnerungspolitisch ist also einiges in Bewegung“ (Frei 2022, 46 f.). Ein aktueller Überblick über den tatsächlichen Forschungsstand mit Fokus auf die Zeit seit der deutschen Einheit findet sich bei Bach 2019. Christiane Bürger (2017, 9) spricht ebenfalls von einer„Konjunktur“ der deutschen Kolonialgeschichte nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit, Medienlandschaft und Politik. 21 Zum Phänomen des Schweigens in Gewaltzusammenhängen der Kolonialzeit vgl. Price 2018, bes. 38–40.

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Nationen angewandt, die vage Vorstellung eines ‚kollektiven Unbewussten‘ evoziert,²² ist das Konzept des „Schweigens“ in diesem spezifischen Sinne in vielerlei Hinsicht besser geeignet, gesellschaftliche Realitäten zu veranschaulichen. Anders als postkoloniale Studien in der Said-Nachfolge unterstellt das Konzept des „Schweigens“ diesen Gruppen oder Nationen gerade kein unbewusstes psychisches Potenzial, sondern geht von mehr oder weniger freier Entscheidung für das Schweigen aus,²³ das dann beispielsweise auf Motivationen hin untersucht werden kann. Jay Winters Einsicht, dass nicht nur Gesellschaften mit problematischen Vergangenheiten („a past that is unsavory or destructive“), sondern alle Gesellschaften solche Räume des Schweigens haben (Winter 2009, 34), rückt die Thematik zudem in den notwendigen breiteren Horizont und könnte dazu beitragen, die Diskussion um das deutsche Kolonialgedächtnis weniger ideologisch zu führen. Dazu ein Beispiel aus dem Kontext der deutschen Nachkriegszeit, die Befürwortern des Amnesie-Konzepts zufolge in besonderem Maße von Prozessen des Vergessens befallen sein soll. Die Rezeption der Erzählung Weltreise auf deutsche Art von Alfred Andersch mag als anekdotischer Beleg dafür dienen, dass Jay Winters Konzept des „Schweigens“ auf die frühe Nachkriegszeit übertragbar ist. Die Erzählung wurde in der Juni-Ausgabe 1949 der Frankfurter Hefte veröffentlicht und kurz zuvor auf der Frühjahrstagung der Gruppe 47 vorgestellt. Doch weder die Rezensenten noch die Teilnehmer der Tagung fanden es besonders bemerkenswert, dass es darin um den deutschen Kolonialismus in China und Afrika ging. Tatsächlich wurde hier nur zum Gegenstand von Literatur, was damals im „Zeitalter des untergehenden Kolonialismus“ (N.N. 1961, 64), wie es das Nachrichtenmagazin Der Spiegel später nennen sollte, in Winters Sinn „jeder wusste“. Ob sich aufgrund solcher, bei den damaligen Schriftstellern zu beobachtenden Unaufgeregtheiten im Umgang mit dem Thema auch Schlüsse auf die Beschaffenheit des Schweigens in der Nachkriegszeit ziehen lassen, muss jedoch derzeit Spekulation bleiben.

22 Diese Vorstellung taucht tatsächlich in einem Beitrag aus der Hochzeit der Postcolonial Studies in diesem Kontext auf; dieser oszilliert in der Einleitung zwischen „colonialist imagination and mentality“ und „Germany’s collective imagination“, „political unconscious“ und „‚political unconsciousness‘ of a nation“, um schließlich explizit die Idee eines „collective unconsciousness“ in die Debatte einzubringen (Zantop 1997, 3–4, 12). 23 Mehr oder weniger freier Entscheidung, da Schweigen auch ein Bereich ist „which is socially regulated, socially constructed, socially preserved, and socially destroyed“ (Winter 2009, 34).

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4 Schwerpunktverschiebung zum Thema „koloniale Gewalt“ In jüngster Zeit ist insbesondere im öffentlichen Diskurs, aber auch in Teilen der Geschichtswissenschaften ein Trend zu beobachten, der unter Beibehaltung der politischen Metapher ‚postkolonialer Amnesie‘ nunmehr selektiv koloniale Gewalt als den entscheidenden Aspekt des Kolonialismus in den Mittelpunkt stellt.²⁴ Vor dem Aufkommen und dem Erfolg der Postcolonial Studies herrschte dagegen eine Sicht auf Imperialismus und Kolonialismus vor, die breiter und vielschichtiger war, oder – wie es in dem Call für die Konferenz Colonial Capitalism in Action: The New Social and Economic History of German Colonialism heißt, die im Mai 2021 stattfand und das Ziel verfolgte, zu eben dieser breiteren Perspektive zurückzukehren: „Until well into the 1980s, economic history was an integral part of German colonial historiography, but it then declined as a significant focus of historical research“ (Neill et al. 2020). Die Sozial- und Kulturwissenschaften, die das Feld seit den 1980er Jahren beherrschen – so der Call weiter –, konzentrieren sich eher auf andere Aspekte, wobei „colonial violence“ inzwischen das herausragende Interessengebiet ausmacht (Neill et al. 2020). In der Zeit davor gehörte beispielsweise Benita Parry zu denen, die einen auch generelleren „postcolonialist shift away from historical processes“ immer wieder kritisierten (Parry 2004, 75). Tatsächlich scheinen viele heute vergessen zu haben oder ihrerseits „Schweigen“ darüber zu bevorzugen, dass es vor allem die Aussicht auf finanzielle oder andere materielle Gewinne war, die das Streben nach kolonialem Besitz auslöste. Koloniale Gewalt – heute „typically taken to reflect the assumption of imperial arrogance“ (Price 2018, 30) – ist in dieser Sicht jedoch etwa als „Folge der relativen Schwäche imperialer Präsenz“ (Walter 2012, 4) zu betrachten, und „a subjective sense of vulnerability and weakness on the part of the perpetrators“ als „essential for such violence to occur“ (Price 2018, 30). Die Einschätzung, dass koloniale Gewalt in Forschung und erinnerungspolitischen Diskursen bis vor kurzem zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, mag jedoch zunächst einmal zutreffen. Mit Blick auf die britische Geschichtsschreibung²⁵ bei-

24 Ein Gegenbeispiel für die Geschichtswissenschaften im deutschsprachigen Raum ist die vom Historischen Seminar der Universität Leipzig organisierte Tagung Kolonialismus – Imperialismus – Dekolonisation: Mitteleuropa im globalen Kontext, die an drei Konferenztagen (17.–19. Juni 2022) nur einen Vortrag enthält, der „Koloniale Gewalt“ im Titel hat; vgl.: Kolonialismus – Imperialismus – Dekolonisation: Mitteleuropa im globalen Kontext. In: H-Soz-Kult, 02. Juni 2022, www.hsozkult.de/ event/id/event-118359 (25. Februar 2023). 25 Eine Zunahme der Forschung zur kolonialen Gewalt ist unter anderem auch im französischen Kontext zu beobachten, wo etwa die Zeitschrift Historical Reflections dem Thema „Colonial Vio-

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spielsweise bemerkte der Historiker Richard Price vor nicht allzu langer Zeit, es sei „an odd but telling fact that until very recently the question of colonial violence has not figured much in the narratives of the British Empire“ (Price 2018, 25). Die Behauptung von Forschern und Kritikern, das Arbeitsfeld ihrer Wahl sei nicht oder zumindest nicht ausreichend bearbeitet, ist allerdings auch ein Topos in den Geisteswissenschaften. In diesem Kontext kommt die Frage der Angemessenheit gewöhnlich nicht zur Sprache. Doch was konkret meint zu wenig Aufmerksamkeit? Was die Frage der kolonialen Gewalt anbelangt, so scheint inzwischen umgekehrt die Sorge vor übergroßer und unangemessener Aufmerksamkeit zu wachsen. In der Studie Violence, Colonialism and Empire in the Modern World von 2018 wurde zum Beispiel darauf hingewiesen, dass „our contemporary understanding of violence as an essential element of all modern empires has produced a sense that imperialism and violence are virtual synonyms“ (Dwyer und Nettelbeck 2018, 2). Ganz ähnlich hat der Historiker Jock McCulloch schon vor längerer Zeit die Beobachtung formuliert, dass „within political discourse, imperialism has been almost a synonym for violence“ (McCulloch 2007, 220). Einigkeit herrscht generell darüber, dass Gewalt „an essential element in the management of all modern empires“ war (McCulloch 2007, 220); die Tatsache hingegen, dass Gewalt, Unterdrückung und Gräueltaten heute in Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte die Hauptrolle spielen, wird häufig als Perspektivenverkürzung betrachtet (Howe 2010, 2). Vom postkolonialen Wissensregime weitgehend unbeeinflusste Forscher beklagen zudem eine weitere Art der „Sichtverengung“ (Walter 2012, 7), die sich in Teilen des akademischen, besonders jedoch im erinnerungspolitischen Diskurs findet: die Vorstellung, „dass Kolonialkrieg ist, wenn Horden mit Speeren bewaffneter Afrikaner von Maschinengewehren niedergemetzelt werden“ (Walter 2012, 6). Auch Interpretationsangebote postkolonialer Diskurse zur Motivation der kolonialen Gewalt tragen aus dieser kritischen Sicht nicht zu ihrem Verständnis bei. Auf gängige Vorstellungen wie „night side“ (Mbembe 2017, 55) oder „darker side of Western modernity“ (Mignolo 2011, xxvii) anspielend, schreibt beispielsweise der Historiker Richard Price: „Obviously, we can see them [episodes of colonial violence] as the dark underside of empire, as reflecting its racial orderings and ideology. But the relationship of violence to the ideologies of empire is more complicated“ (Price 2018, 29).²⁶ In diesem Sinne zieht auch der Historiker Dierk Walter den Schluss: „Die öffentliche Wahrnehmung und die historische Forschung haben hier viele Strohmänner auflence“ im Jahr 2010 eine Sondernummer gewidmet hat (Kalman 2010) – zwei Jahre bevor etwa mit der Ausgabe Juni/Juli 2012 der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 ein deutschsprachiges Themenheft „Koloniale Gewalt“ vorlag. 26 Beispielweise schlägt er vor: „I think that this violence was as much prior to and constitutive of racial ideology rather than just following from it“ (Price 2018, 29; Herv. im Original).

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gebaut, die dem Verständnis des Stellenwertes der Gewalt für die europäische Expansion hinderlich sind“ (Walter 2012, 6). Einige Beobachtungen können die Schwerpunktverschiebung von einer tendenziell ganzheitlichen Betrachtung des Kolonialismus zur heutigen Verengung auf seine Gewaltgeschichte illustrieren: Die deutsche erinnerungspolitische Debatte zum Kolonialismus ist seit einiger Zeit deutlich von den Kriegen in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1904 bis 1908 dominiert. Entsprechend zeigt das Cover-Foto eines 2018 erschienenen Bandes mit dem Titel Deutschland postkolonial (Bechhaus-Gerst und Zeller 2018) zeitgenössische Vertreterinnen und Vertreter der Herereo und Nama anlässlich einer Veranstaltung zum Thema „Restorative Justice after Genocide“. Titelbilder und Inhalt früherer Sammlungen zum post-kolonialen Deutschland wie etwa die ersten Spurensuchen in Berlin oder in Hamburg – Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche (Heyen und Zeller 2002) und Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika – eine Spurensuche in Hamburg (Möhle 1999) – entsprachen dagegen noch dem damaligen breiteren Verständnis des Kolonialismus. Analoge Beobachtungen lassen sich auch für die sprachliche Konstruktion post-kolonialer Realitäten anstellen. Die Schwerpunktverschiebung zum Thema koloniale Gewalt ist zum Beispiel auch in der Zirkulation eingängiger Metaphern mit entsprechenden Konnotationen abzulesen, wie etwa Walter Mignolos Terminus „colonial wound“ (Mignolo 2000, 37 u. ö.) oder Dipesh Chakrabartys Begriff einer „historical wound“ (Chakrabarty 2007, 77 u. ö.), der sich im Wesentlichen ebenfalls auf den Kolonialismus bezieht. Was heute als normal gilt, stellte sich vor dem Aufkommen der Postcolonial Studies noch anders dar. Im Jahr 1984 beispielsweise – anlässlich des hundertsten Jahrestages der Kongo-Konferenz von 1884 und des offiziellen Beginns des deutschen Kolonialismus – strahlte der NDR eine einstündige Dokumentation aus, die den Titel trug Wie Europa sich einen Kontinent besorgte (NDR 1984). Dieser Film ist eines von vielen Beispielen aus einer Zeit,²⁷ in der Kolonialismus noch nicht als eine einzige lange Reihe von Gewalttaten betrachtet wurde. Er deckte im Gegenteil ein breites Spektrum von Themen ab, von denen viele in heutigen postkolonial dominierten Debatten kaum noch eine Rolle spielen. In dieser Dokumentation, in der auch Afrikaner ausführlich zu Wort kamen, geht es beispielsweise um die Suche nach Ressourcen, um Eisenbahn- und Straßenbauprojekte, um Abenteurer (wie Henry Morton Stanley) und Forschungsexpeditionen, wobei ausgebeutete Arbeits27 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wir hatten eine Dora in Südwest. Kolonialer Frauenbund (WDR 1991); Kolonialwaren: Kakao, Kaffee, Bananen (WDR 1992); Wo China noch deutsch ist. Bilder aus der ehemaligen Kolonie Tsingtau (NDR 1994); Auf den Spuren eines Kolonialdenkmals (NDR 1994); Heimat in der Wüste. Deutscher Alltag in Namibia (NDR 1996); Ich bin ein Herero-Deutscher. Deutsche Spuren in Afrika (ORF/3Sat 1997).

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kräfte vor Ort nicht verschwiegen werden. Ohne den entscheidenden Beitrag afrikanischer Sklavenjäger zu beschönigen (wie das heute oft der Fall ist), thematisiert der Film auch den vorkolonialen Sklavenhandel. Und neben der Berliner Kongokonferenz als Anlass der Dokumentation geht es um Völkerschauen, um Debatten über Rassenmischung und sexuellen Missbrauch, um die sogenannte zivilisatorische Mission und noch viele andere Themen. Koloniale Gewalt und anderes Unrecht werden nicht bagatellisiert. Der Film stellt im Gegenteil explizit fest, dass Kolonialismus oft „gewalttätige Begegnung mit unserer Kultur“ (NDR 1984) bedeutete und betont, dass das hundertjährige Jubiläum kein Grund zur Freude ist. Ein weiteres Beispiel für eine umfassende Darstellung des Kolonialismus – im Gegensatz zu den heute so oft reduktionistischen – ist die dreiteilige Verfilmung von Uwe Timms Roman Morenga (1978) über den Krieg in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, die im selben Jahr 1984 wie die Dokumentation ausgestrahlt wurde (WDR 1984). Obwohl diese Filme, wie auch der Roman, auf dem sie basieren, die Geschichte der Herero- und Nama-Kriege und des Genozids erzählen und damit prädestiniert dafür sind, koloniale Gewalt darzustellen, wird diese in den größeren Kontext eingebettet, in dem sie stattfand. Uwe Timms Roman ging 1978, noch unbeeinflusst von dem postkolonialen Wissensregime, offenbar davon aus, dass koloniale Gewalt selbst in Kriegszeiten wohl anders zu denken ist, als es die jüngste postkoloniale Hinwendung dazu suggeriert. Noch unter einem anderen Aspekt wird der Art und Weise widersprochen, wie postkolonial geprägte Diskurse koloniale Gewalt konstruieren und damit erinnerungspolitisch zu konsolidieren versuchen. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat der Philosoph und Kulturtheoretiker Aijaz Ahmad – selbst ein Nachkomme von Kolonisierten – die Richtung kritisiert, die die Postcolonial Studies zu dieser Zeit bereits einschlugen. Er betonte vor allem, dass „Colonialism is now held responsible not only for its own cruelties but, conveniently enough, for ours too“ (Ahmad 1992, 196, 197). Tatsächlich hat der doppelte Standard der Postkolonialen Studien (Albrecht 2012) dazu geführt, dass die Gewalt der Kolonisatoren inzwischen gründlich dokumentiert ist, während Gewalt der Kolonisierten in postkolonialen Diskursen entweder ganz ausgeklammert oder fast ausschließlich kolonialen Bedingungen zugeschrieben wird. Oder, mit einem Zitat des Historikers Martin Wiener: „Violence has […] been traced more generally to Western colonial incursions, with the violence reported by explorers, missionaries, and early traders reinterpreted as either their projection of their own violent behavior or the result of their activities in altering these societies“ (Wiener 2013, 17). Diese reduktionistische Perspektive wird häufig auch auf Ereignisse der nach-kolonialen Zeit übertragen. Wie etwa der Historiker Stephen Howe kritisiert, wird heute oft behauptet, „that even ‚indigenous‘, postcolonial mass murders in Africa have invariably been the product of a settler-native dialectic and a colonial legacy“ (Howe 2010, 14). Tatsächlich heißt es

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etwa bei Paul Tiyambe Zeleza: „There is hardly any zone of conflict in contemporary Africa that cannot trace its sordid violence to colonial history“ (Zeleza 2008, 1).²⁸ Postkoloniale Geschichtsschreiber neigen in der Tat dazu, etwa die afrikanische Vergangenheit umzuschreiben, insbesondere dadurch, dass sie „have emphasized the comparative peaceableness of precolonial African village communities“ (Wiener 2013, 17). Auch diese Sichtweise blieb jedoch nicht unangefochten. Zahlreiche Historiker kritisieren mittlerweile die postkoloniale Mystifizierung der vorkolonialen Zeit als friedliebend und die Darstellung der vorkolonialen Gesellschaften als „pristine“ (Peterson 2007, 488). In seinem Aufsatz „The Idea of ‚Colonial Legacy‘ and the Historiography of Empire“ hat beispielsweise Martin Wiener darauf hingewiesen, dass „the authoritarianism, violence, tribalism, and religious, caste, and racial distinctions that have been attributed to colonialism’s influence are being increasingly documented before European conquest, in both Africa and in South Asia“ (Wiener 2013, 20). Der Historiker Helmut Bley vertritt in seiner neuen Geschichte Afrikas eine ähnliche Position; er weist zudem darauf hin, dass die Überbetonung kolonialer Gewalt in der gegenwärtigen ideologischen Rezeption „den Blick auf die Realitäten der kolonialen Situation [verstellt], in der die Handlungsmöglichkeiten der afrikanischen Gesellschaften mehr Raum hatten, als [gegenwärtig von vielen] angenommen wird“ (Bley 2021, 2). Ohne Gewalt zu bagatellisieren, die der Kolonialismus im 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit sich brachte, zeigen also die Ergebnisse der jüngsten historischen Forschung, dass „colonial rule in the day-to-day sense relied much more on negotiation and collaboration between the colonial state and African groups than the image of boundless colonial violence allows“ (Young 2019, 330).

5 Koloniale Gewalt im Kontext erinnerungspolitischer Transformationen Dieser Überblick führt zum einen zu der Frage nach den Interessen, die hinter der spezifisch postkolonialen Art der Zusammenführung von Kolonialismus und Erinnerung stehen, und zum anderen nach Diskursen im Umfeld dieser postkolonialen Erinnerungspolitik. Denn vor diesem Hintergrund liegt der Gedanke nahe, dass die verstärkte oder ausschließliche Hinwendung zum Thema koloniale Gewalt nicht zufällig zeitgleich mit der Verschiebung der deutschen Erinnerungskultur in den Rahmen einer transnationalen Erinnerungsgemeinschaft erfolgte. Bei solchen erinnerungspolitischen Transformationen wird die globale Dimension von Erinne28 Wiener (2013, 17–18, und Fußnote 42) führt zahlreiche ähnliche Statements an.

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rungskulturen in den Vordergrund gestellt; im postkolonialen Kontext geht dies jedoch darüber hinaus oft mit einer „Einebnung von Unterschieden“ (Vukadinović 2019) zwischen Holocaust und Kolonialismus einher. Diese begann lange vor der Causa Mbembe des Frühjahrs 2020 und ist bereits mit dem Stichwort Decolonizing Auschwitz (Klävers 2019) bezeichnet worden. „Ziel ist“ hierbei, so der Historiker Norbert Frei, „die Etablierung neuer Regeln:²⁹ Der Holocaust soll in seinen ‚historischen Kontext‘ gestellt, sprich: er soll gegenüber anderen Genoziden relativiert werden. Zugleich soll der Antisemitismus als bloße Unterform eines ubiquitären Rassismus verstanden werden“ (Frei 2022, 47). Befürworter dieser besonderen Art der Kontextualisierung fordern eine „Enttabuisierung des Vergleichs“ (Zimmerer und Rothberg 2021, 59), nehmen damit jedoch auf ein zumindest in der Forschung überholtes „Singularitätsverständnis“ Bezug.³⁰ Ob es in der Öffentlichkeit in dem Ausmaß existiert, wie manche ohne Beleg behaupten,³¹ sei dahingestellt. Kritiker weisen jedenfalls regelmäßig darauf hin, dass die These von der Präzedenzlosigkeit des Holocaust den Vergleich nicht ausschließt, dass sich im Gegenteil „Singularität überhaupt erst im Vergleich erweisen“ kann (Leggewie 2020). In dieser Debatte geht es also nicht um „das Gespenst des Vergleichs“ (Rothberg 2020a), sondern um

29 In den Kontext der Etablierung neuer Regeln gehört auch die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit (https://www.gg53weltoffenheit.org/) – initiiert und unterzeichnet von den Leiterinnen und Leitern zahlreicher deutscher Kulturinstitutionen wie dem Haus der Kulturen der Welt, dem Goethe-Institut, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, dem Einstein Forum Potsdam, der Kulturstiftung des Bundes und der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, um nur einige zu nennen –, die sich als Gegenentwurf zu dem BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages versteht, der am 17. Mai 2019 von CDU/CSU, SPD, FDP und großen Teilen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892). Ein weiterer Versuch der Etablierung neuer Regeln ist die sogenannte Jerusalem Declaration on Antisemitism (https://jeru salemdeclaration.org/), die den Initiatorinnen und Initiatoren zufolge als Antwort auf die Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (https://www.holo caustremembrance.com/resources/working-definitions-charters/working-definition-antisemitism) zu verstehen ist (vgl. die Überblicksdiskussion bei Sigel 2022). 30 Vgl. z. B. Kreienbaum 2019. Steffen Klävers fasst in seinem Schlusskapitel zusammen: „Es leuchtet […] nicht unmittelbar ein, aus welchen Gründen Zimmerer, Moses und Rothberg jeweils von einer Variante der Singularitätsthese ausgehen, die mehr als 40 Jahre alt und mittlerweile durch neuere Forschungsansätze ergänzt und erweitert worden ist – und zwar in einer Art und Weise, die wissenschaftlich schwer zu wiederlegen ist“ (Klävers 2019, 222 f.). In dem Band Ein Verbrechen ohne Namen: Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust bemerkt Sybille Steinbacher dazu lakonisch: „Wenn es von postkolonialer Seite jetzt fordernd heißt, ‚Enttabuisiert den Vergleich!‘, dann geht das ins Leere. Es gibt schlichtweg kein Vergleichstabu“ (Steinbach 2022, 64). 31 Beispielsweise Dirk Moses, der unterstellt, dass es „für viele“ in „der Bundesrepublik“ „als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben“ gelte, den Holocaust „mit anderen Genoziden zu vergleichen“ (Moses 2021b).

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Fragen der Angemessenheit oder Unangemessenheit von Vergleichen.³² Und für viele scheint es in erster Linie darum zu gehen, „die Gründung des Staates Israel als koloniale Landnahme zu beschreiben“ (Friedländer 2022, 25)³³ und Israel damit als Beispiel für den real existierenden Kolonialismus der Gegenwart zu positionieren. In diesem Kontext ist zunächst einmal bemerkenswert, dass Israelkritik in dem weiten Feld der postkolonialen Ansätze lange Zeit bei weitem nicht so präsent war, wie es aus heutiger Sicht erscheint. Die Verbindung des Zionismus mit „colonial and racist dynamics“ ist erst eine Entwicklung des 21. Jahrhunderts (Moore-Gilbert 2018, 16). In der Zeit, in der Postcolonial Studies „expanded exponentially in the 1980s and 1990s“, war das Thema Israel „almost invisible“; noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnte man von „(non‐)relationship between postcolonial studies and Palestine/Israel“ sprechen, gefolgt von „continuing avoidance“ (Moore-Gilbert 2018, 10, 11). Dies ist insofern erstaunlich, als die Grundlagen für die heutige Bewertung „Israels als Kolonialprojekt“ (Cheema und Mendel 2020)³⁴ und Siedlerkolonie bereits früh von Edward Said gelegt wurden. In seiner ein Jahr nach Orientalism erschienenen Studie The Question of Palestine (1979) entwickelte er schon alle „Argumente, die bis heute in Umlauf sind“ (Sznaider 2022, 143).³⁵ Und wie heute Judith

32 Die Kritik an Achille Mbembe leitete sich nicht zuletzt aus der Unangemessenheit seiner Vergleiche ab, unter anderem des Vergleichs der Palästinenserpolitik Israels mit der Apartheid Südafrikas. Den „Geist des Apartheitsbegriffs“ hat in diesem Zusammenhang jedoch nicht erst Mbembe, sondern vor ihm schon Edward Said „aus der Flasche“ gelassen (Sznaider 2022, 146); vgl. etwa seine Behauptung: „that the relationship between Israelis and Arabs is not a fact of nature but the result of a specific, continuing process of dispossession, displacement, and colonial de facto apartheid“ (Said 1979, 37). „Das Apartheidregime Südafrikas, das erst 1994 endete, galt als rassistisches und daher nicht legitimes Regime. Der Vergleich mit Israel sieht Israel dann konsequenterweise auch als rassistisch und nicht legitim“ (Sznaider 2022, 20). 33 Saul Friedländer stellt u. a. auch richtig: „Die Kolonialherren Palästinas waren das Osmanische Reich und nach dem Ersten Weltkrieg England. Postkoloniale Theoretiker spielen die Tatsache herunter, dass die meisten Einwanderer im Osmanischen Reich Flüchtlinge waren, die vor dem Antisemitismus in Europa flohen“ (Friedländer 2022, 25). Edward Said scheint die Chronologie anders zu sehen, wenn er schreibt, dass „for the Palestinians there were the legacy of Ottoman rule, then Zionist colonialism, then British mandatory authority (after World War I)“ (Said 1979, 12; vgl. dagegen ibid. 19, 52 f., 117, etc.). 34 Saba-Nur Cheema und Meron Mendel fassen in Ihrem Beitrag zur Mbembe-Debatte die postkoloniale Position gegenüber Israel zusammen: „Allen diesen Forschern ist gemein, dass sie die Gründung Israels als Kolonialprojekt bewerten – und oft mindestens Verständnis für Selbstmordattentate zeigen“. Vgl. auch Edward Said, der von „colonization of Palestine by the Zionist movement“ spricht (Said 1979, 144). 35 Beispielweise „Antizionismus ist kein Antisemitismus, die Erinnerung an den Holocaust dient der israelischen Seite und nimmt so viel Raum ein, dass das Leiden der Palästinenser dahinter verschwindet“ (Sznaider 2022, 145); weitere Argumente werden detailliert bei Sznaider 2022, 140–159 diskutiert.

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Butler und mit denselben politischen Implikationen³⁶ wollte auch er „das Exil und die Zerstreuung als authentisch jüdische Erfahrung begreifen“ (Sznaider 2022, 145). Dass Kritik an der Politik oder der Existenz Israels erst heute zum postkolonialen Mainstream geworden ist, mag zum einen daran liegen, dass es den Postcolonial Studies in der Gründungsphase zunächst einmal darum ging, alle Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit der europäischen Expansion zu lenken. „Postcolonial studies“, das gilt als ihr großes Verdienst, „has brought before a large and transcontinental public the place of colonialism in world history“ (Cooper 2005, 401). Ein weiterer Faktor für das Desinteresse der Postcolonial Studies an Israel könnte der Einfluss des indischen Subaltern Studies Collective und in der Folge die Dominanz von Mitgliedern dieser Gruppe wie Gayatri Spivak und anderen wie Homi Bhabha in eben dieser Gründungsphase sein, für die Edward Saids Auseinandersetzung mit Palästina weniger attraktiv war als seine Orientalismus-Kritik.³⁷ Was auch immer die Gründe für das späte Aufkommen der Israel-Kritik sein mögen, heute können postkoloniale Perspektiven als „one weight against any objective treatment of the Jewish state“ bezeichnet werden (Sicher 2011, 1). In dem relativ neuen Diskursfeld um transnationale Erinnerungsgemeinschaften wird oft davon ausgegangen, dass sich „Fragen der historischen Vergleichbarkeit“ heute „vor dem Horizont postkolonialer Perspektiven neu“ stellen (Assmann et al. 2022). Von dieser Prämisse ausgehend lassen sich jedoch unterschiedliche Wege einschlagen. Wer eine „Ethik des Vergleichs“ fordert (Zimmerer und Rothberg 2021, 59),³⁸ ignoriert, dass Fragen der Angemessenheit oder Unan-

36 Butler sieht in der Erfahrung der Diaspora die ethische Verpflichtung der Juden zum Zusammenleben mit Menschen, die anders sind als sie selbst, konkret mit den Palästinensern (nicht nur in) der Diaspora. In Zusammenhang mit ihrer Forderung nach „a single state, one that would eradicate all forms of discrimination on the basis of ethnicity, race, and religion“ (Butler 2012, 208) verstehen Kritiker ihre Theorie der diasporischen Identität der Juden jedoch als Plädoyer für eine de-facto Auflösung der jüdischen Souveränität (vgl u.v.a. Nelson 2019, bes. 68–116). 37 Aijaz Ahmad hat in diesem Kontext eine weitere Begründung angeboten: Orientalism habe sich für Wissenschaftler mit kolonialen Vorfahren als „perfect narrative“ erwiesen, denn andere Ansätze zum Kolonialismus „were useless“, da die in dieser Zeit noch davon ausgingen, „that the majority of the populations in Africa and Asia certainly suffered from colonialism but that there were also those who benefited from it“. Die neue Generation der postkolonialen Kritiker der frühen Phase kam jedoch selbst „from those other families, those other classes, which had been the beneficiaries“ (Ahmad 1992, 196). Bis heute findet in der oben skizzierten postkolonialen Sicht keine Auseinandersetzung mit Kollaboration und Nutznießern statt. 38 In dem Aufsatz „From Gaza to Warsaw: Mapping Multidirectional Memory“ heißt es bereits: „it becomes imperative to develop an ethics of comparison that can distinguish politically productive forms of memory from those that lead to competition, appropriation, or trivialization“ (Rothberg 2011, 525) – was implizit darauf hinweist, dass das multidirectional memory-Konzept deskriptiv ist und als solches keinem ethischen Imperativ folgt. In diesem Sinne war multidirectional memory

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gemessenheit – der Vergleich braucht ja keine Ethik³⁹ – ohnehin im Zentrum der Debatte stehen, nimmt für sich selbst jedoch in Anspruch, ethisch begründete und daher angemessene Vergleiche anzubieten. Angemessenheit wiederum kann nur über Vergleichbarkeit geltend gemacht werden – und in dieser Hinsicht können derzeit tatsächlich Versuche der diskursiven Aufstellung und performativen Etablierung vermeintlicher Angemessenheit beobachtet werden, und zwar unter anderem auf dem Weg der Einebnung von Unterschieden in beide Richtungen: als Hochstufen von Kolonialismus und Rassismus auf der Scala der schrecklichen Verbrechen bei gleichzeitigem Herabstufen von Holocaust und Antisemitismus. Diese Einschätzung sollte nicht als Komplexitätsreduktion verstanden werden; vermeintlich komplexe Argumentationen werden im Gegenteil auf jene einfachen Denkmuster hin befragt, die ihnen zugrunde liegen. Ein oft wiederholtes Argument ist in diesem Kontext, die Erinnerung an den Holocaust sei so übermächtig, dass das Leiden der Kolonisierten und der Palästinenser dahinter verschwindet. Dagegen hat beispielweise der Soziologe und Historiker John Torpey bereits einige Jahre vor dem Erscheinen von Multidirectional Memory darauf hingewiesen, dass dieses Argument kaum haltbar ist: „Because of its prominence as a model for all politics concerned with coming to terms with the past, the Holocaust has given a major boost to other such projects, helping to make them more successful than they would otherwise have been“ (Torpey 2006, 9).⁴⁰ Wird dagegen die Idee konsolidiert, dass die Erinnerung an den Holocaust alle anderen Untaten der Geschichte verdrängt,⁴¹ dann steht dahinter die Behauptung der Unangemessenheit und es handelt sich um eine Strategie im Kontext seiner Herabstufung, die im nächsten Schritt dazu führt, dass er mit „dem Begriff des Genozids normalisiert wird“ (Klävers 2019, 221). Der Holocaust kann dann performativ immer wieder als „Völkermord an den europäischen Juden“ und „Völkermord der Nazis“ bezeichnet oder sogar als „Leid der Juden unter der Naziherrschaft“ (Rothberg

beispielweise auch bei der Gestaltung des Banners „People’s Justice“ am Werk, das wegen seiner antisemitischen Zeichnungen den Skandal der documenta 2022 auslöste (vgl. dazu Albrecht 2022). 39 In seiner Replik auf die Forderung von Zimmerer und Rothberg nach einer „Ethik des Vergleichs“ hat Thomas Schmid richtiggestellt: „Der Vergleich braucht keine Ethik, sondern einen scharfen, sezierenden Blick. Und er soll nicht Solidarität, sondern Erkenntnis ermöglichen“ (Schmid 2021, 50). 40 Vgl. in Multidirectional Memory: „My argument is […] that the Holocaust has enabled the articulation of other histories of victimization“ (Rothberg 2009, 6). 41 Entgegen der Behauptung, dass Erinnerung kein „zero-sum struggle over scarce resources“ ist (Rothberg 2009, 3), wird auch in Multidirectional Memory die Idee propagiert, dass „undue stress on the singularity of the Holocaust at the expense of its similarities with other events can block recognition of past as well as present genocides“ (Rothberg 2009, 10).

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2020a) verharmlost werden.⁴² Sowohl die Historikerin Sybille Steinbacher als auch der Soziologe Natan Sznaider haben kürzlich die Aufmerksamkeit auf diese Argumentationsweise gelenkt und deutlich gemacht, warum der Holocaust „nichts besonderes sein [darf ]“, nämlich „weil sich dann – und erst dann – die Legitimität des jüdischen Staates in Frage stellen lässt“ (Steinbacher 2022, 68). „Mit dem Begriff des ‚Völkermords‘ wird […] eine der Legitimationsberechtigungen für die Existenz Israels, der Holocaust, verallgemeinert“ (Sznaider 2022, 171). Das Herabstufen von Holocaust und Antisemitismus im Kontext der Einebnung von Unterschieden richtet sich also immer auch „gegen Israel, das stellvertretend gemeint ist, wenn es um den Topos von der Einzigartigkeit des Holocaust geht“ (Steinbacher 2022, 66). Vor diesem Hintergrund ist es nicht abwegig darauf hinzuweisen, dass zu den Mechanismen auf der anderen Seite – dem Hochstufen von Kolonialismus und Rassismus auf der Scala schrecklicher Verbrechen – in den letzten Jahren auch die oben dargelegte Schwerpunktverschiebung zu kolonialer Gewalt gehört. Dies ist nicht als Verabredung auf eine bewusste Strategie mit dem Ziel der Einebnung von Unterschieden zu verstehen, sondern in dem Sinne, dass sich die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Gewalt im kolonialen Kontext – was immer die Ursachen dafür waren⁴³ – perfekt in den eben skizzierten Kontext postkolonialer erinnerungspolitischer Transformationen einfügt. Mit der Vorstellung von Kolonialismus beispielsweise als Ausbeutung von Ressourcen und Menschen lässt sich die Angemessenheit des Vergleichs von Kolonialismus und Holocaust nicht geltend machen; wenn Kolonialismus dagegen eine einzige lange Reihe von Gewalttaten und Völkermorden in den ehemaligen Kolonien ist, kommt man diesem Ziel näher. Dabei gerät jedoch nicht zuletzt aus dem Blick, dass dieses „postkolonialistische Erinnerungsmodell […] eine radikale Vereinnahmung der jüdischen Katastrophe [ist], die sich aber gleichzeitig als fortschrittlich und frei von ethnischen Bindungen versteht“ (Sznaider 2022, 191). Offenkundig geht es also in der erinnerungspolitischen Debatte „weniger um die wissenschaftliche Legitimität des Vergleichs“ (Sznaider 2020) als – weitab von Fragen verantwortlicher Wissenschaft⁴⁴ – um den „Kampf um Deutungshoheit“

42 Steffen Klävers hat die Gründe für die Präzedenzlosigkeit des Holocaust im Überblick dargestellt. Kurz zusammengefasst wird mit der Behauptung, der Holocaust sei nur ein Völkermord unter vielen, „the core of the Holocaust“ (Dan Michman) ausgeblendet (Klävers 2019, 221, 222). 43 Aus einem umgekehrten Blickwinkel ließe sich auch argumentieren, dass die ‚Entdeckung‘ des Holocaust durch Postkoloniale Ansätze nach der Jahrtausendwende den Blick auf den Kolonialismus und entsprechend die Beschäftigung damit verändert hat. 44 Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat diesen Gedanken jedoch in die Mbembe-Debatte eingebracht: „Statt nach dem Anschlag von Halle [dem Versuch eines Massenmordes an Juden am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag] unisono

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(Schwarz-Friesel 2020) und „die Konkurrenz der Narrative“ (Sznaider 2020).⁴⁵ Um die Problematik der beiden sich gegenseitig ausschließenden Narrative zu fassen und den Memory Studies und der Erinnerungspolitik in dem neuen Kontext erinnerungspolitischer Transformationen ein tragfähiges Instrument in die Hand zu geben, hat Nathan Sznaider das Konzept der „Fluchtpunktperspektiven des Erinnerns“ als überzeugenden neuen Ansatz vorgestellt (Sznaider 2022, 162 u. ö.). In der erinnerungspolitischen Debatte um Holocaust und Kolonialismus ist dagegen in letzter Zeit, um Kritiker als vermeintliche „Gegner einer globalen Perspektive der Geschichtsschreibung zu brandmarken“ (Schmid 2021, 50), von einer „selbst verordnete[n] Provinzialität“ der deutschen Erinnerungskultur die Rede (Zimmerer und Rothberg 2021, 59). Tritt man nochmals einen Schritt zurück und nimmt eine tatsächlich „globale Perspektive“ ein, dann kommen jedoch noch andere Akteure in den Blick, die großes Interesse an der Kontrolle der post-kolonialen Narrative haben.

judeophobe Äußerungen im Gewand der ‚Kritik an Israel‘ zu verurteilen, statt Wissenschaftlern, die mit kruden Analogien und Topoi des Antisemitismus den jüdischen Staat dämonisieren, klare Grenzen für ihre Verantwortungslosigkeit im Umgang mit solchen Sprachstrukturen aufzuzeigen, erheben sich Stimmen, die diese Rhetorik verteidigen, ja sogar gutheißen. […] Doch selbst 10.000 Unterschriften können die Tatsache nicht leugnen, dass Mbembe auf verantwortungslose Weise Texte mit klassischen Topoi der Judenfeindschaft verfasst hat. […] Diese Stimmen, gerade weil sie aus der Bildungselite kommen, behindern den effektiven Kampf gegen den erstarkenden Judenhass auf eine besonders schädliche Weise, denn ihnen schlägt nicht gleich der Verdacht des tumben Judenhasses entgegen wie Rechtsradikalen oder Populisten (die – nota bene – exakt das Gleiche fordern)“ (Schwarz-Friesel 2020). 45 Die erinnerungspolitische Debatte um Holocaust und Kolonialismus kann in dem vorliegenden Aufsatz nicht in ihrer gesamten Breite diskutiert werden. Sehr hilfreich ist m. E. Nathan Sznaiders Perspektivierung der Problematik: „Es gibt zwei große moralische Narrative des 20. Jahrhunderts. Israel und die Juden befinden sich im Brennspiegel von beiden. Das eine ist der Holocaust und in historischer Konsequenz, dass Israel der Garant ihrer Sicherheit sei, eine Sicherheit, die in Europa vernichtet wurde. Hier dient die Gründung des Staates Israel in der Tat als Erlösung im wahrsten und tiefsten religiösen Sinne des Wortes. Aber es gibt auch ein anderes moralisches Narrativ des 20. Jahrhunderts, wo der Holocaust keine zentrale Rolle spielt. Hier stehen die Grausamkeiten des Westens gegen die Welt, die außerhalb des Westens steht, im Vordergrund. Nicht Holocaust, sondern Kolonialismus sind in diesem Narrativ die semantischen Markierungen. In diesem Narrativ sind Israelis weiße Siedler, der Staat Israel eine Siedlergesellschaft, die die eingeborene nichtweiße Bevölkerung unterwirft. Gerade im Nahostkonflikt überschneiden sich diese Narrative. Und das tragische ist natürlich, dass beide richtig sein können, ein Widerspruch der schwer auszuhalten ist“ (Sznaider 2020).

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6 Ausblick auf eine Zukunft nach dem Postkolonialismus Im Zuge weltweiter Machtverschiebungen stellen neue global player mit eigenen geopolitischen Visionen derzeit nicht nur Europas Platz in der globalen Ordnung in Frage – einer Ordnung, die von einigen als „increasingly non-European and post western“ (Fisher Onar und Nicolaïdis 2013, 297) betrachtet wird –, sondern diese Akteure versuchen auch, ihre Interessen und Strategien im post-kolonialen Afrika durchzusetzen. Dazu gehören der Zugang zu Märkten und natürlichen Ressourcen – „China und andere Global Player [liegen] im erneuten globalen Kampf um afrikanische Ressourcen um Nasenlängen vorn“ (Kohnert 2021, 2) – und nicht zuletzt die diplomatische Unterstützung durch afrikanische Staaten bei den Vereinten Nationen (Paczyńska 2020, 2). Der sogenannte „China effect“ ist auf allen Ebenen spürbar, sei es bezüglich der „Colonial Patterns in the Growing Africa and China Interaction“ (Maswana 2015) oder im Hinblick darauf, dass Afrika selbst „is using burgeoning relations with China to increase its power and demand equality“ (Hodzi 2021, 257). Diese neuen globalen Akteure, zu denen neben China auch Russland, Indien, die Türkei und Saudi-Arabien gehören, nutzen nicht zuletzt Europas koloniale Vergangenheit, um ihre Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent in ein besseres Licht zu rücken, wobei Verweise auf ‚den‘ europäischen Kolonialismus nicht zuletzt vom eigenen neokolonialen Vorgehen ablenken sollen. Kritik am europäischen Kolonialismus dient diesen Akteuren also als politisches Instrument, um afrikanischen Partnern in Wirtschaft, Politik und Kultur ein geschöntes Bild ihrer eigenen Normen und Werte zu vermitteln, die angeblich frei von imperialen Ambitionen und kolonialem Ballast sind (Morozov 2015). Vor diesem Hintergrund erscheinen die Mbembe-Debatte und was inzwischen als „Historikerstreit 2.0“ bezeichnet wird (z. B. Martini 2022) selbst „provinziell“ und eurozentrisch. Denn in der Konsequenz bedeuten diese globalen post-kolonialen Narrative, dass die von der westlichen Welt selbst artikulierte und gerechtfertigte Kritik am Kolonialismus neuen globalen Akteuren in die Hände spielt⁴⁶ – und

46 Auf welche Weise ‚der‘ Westen und China von afrikanischen Akteuren gegeneinander ausgespielt werden können, ließ sich am Beispiel der Keynote Speech von Yvonne Adhiambo Owuor bei der Konferenz Colonialism as Shared History beobachten. Während Owuor zufolge eine „more human future“ in Afrika sehr wahrscheinlich „under and through the China-originated BRI [Belt & Road-Initiative]“ stattfinden wird – ihrer Ansicht nach „compelling in its vision“ –, soll ‚der‘ Westen die in 400 Jahren aufgehäufte Schuld genüber Afrika finanziell abtragen, um anschließend – „let nobody confuse this settling of outstanding accounts with reparations“ – zusätzlich über Entschädigungszahlungen nachzudenken (Owuor 2020). Vgl. zu einer kritischen Einschätzung des chinesi-

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insbesondere postkoloniale Gruppierungen liefern diesen global players rhetorische Munition gegen ‚den‘ Westen. Soll sich jemals die „relevance of postcolonial studies for our understanding of today’s world“ (Quayson 2012, 359) erweisen, dann müsste es angesichts dieses Dilemmas eine vornehmliche Aufgabe sein, über die negativen Folgen bestimmter normativer postkolonialer Annahmen in der globalen politischen Realität nachzudenken. Das Ziel wäre ein neues post-koloniales Narrativ, das eine gemeinsame und geteilte, ungerechte und ungleiche Geschichte des Kolonialismus nicht ausblendet, sich aber von einer postkolonialen Ideologie verabschiedet, die nicht nur an sich reduktionistisch ist, sondern auch kompatibel mit den neokolonialen Bestrebungen etwa Chinas. Hier kommt auch die Frage nach dem Ende des Postkolonialismus ins Spiel. Im eurozentristischen postkolonialen Kontext ist der Blick derzeit auf Versäumnisse im Umgang mit den Hinterlassenschaften des Kolonialismus gerichtet, die Frage nach einer post-kolonialen Zukunft steht offenbar nicht zur Debatte. Auch die Bedingungen für eine mögliche Überwindung ‚postkolonialer Amnesie‘ sind meines Wissens bislang noch kein Thema gewesen. Der Politikwissenschaftler Jonathan Bach hat 2019 in einem Aufsatz zur Auseinandersetzung mit dem Humboldt-Forum in der Zeitschrift German Politics and Society die Möglichkeit angedacht, dass eine klare Antwort auf diese Frage, wann ist es genug? von vielen gar nicht erwünscht ist. Er weist darauf hin, dass viele Wissenschaftler und Aktivisten im Gegenteil daran interessiert zu sein scheinen, westliche Schuld und Verpflichtungen auf unbestimmte Zeit in die Zukunft hinein als „default position“ festzuschreiben (Bach 2019, 64) – woran auch China und andere global players großes Interesse haben dürften. Meist herrscht stillschweigende Übereinkunft darüber; andere wie der in letzter Zeit vielzitierte Achille Mbembe sprechen offen aus, dass seiner Ansicht nach die Rollen für alle Zeit festgelegt sind – beispielsweise, wenn er in einem Interview von 2018 sagte: „Europa hat uns Dinge genommen, die es niemals wird zurückgeben können“ (Mbembe 2018; Herv. M.A.).⁴⁷ Russel Berman hat schon vor über zehn Jahren von einem „epistemological dead end“ des postkolonialen Paradigmas gesprochen (Berman 2011, 173); das

schen Engagements in Afrika u.v.a. Abele 2018, beispielsweise: „Die Unterstützung von Infrastrukturprojekten, aber auch das Engagement chinesischer Unternehmen vor Ort wird als Win-win-Situation für beide Seiten dargestellt. Kritische Stimmen innerhalb und außerhalb Afrikas bezweifeln hingegen, dass die Vorhaben zu einem nachhaltigen Wachstum beitragen und verweisen auf die Gefahr der Schuldenfalle für einige Länder“. 47 Im französischen Original: „La vérité est que l’Europe nous a pris des choses qu’elle ne pourra jamais restituer“ (Mbembe 2018). – Unklar ist, wie es auf diese Weise gelingen könnte, die ‚Welt zu reparieren‘ („Die Welt Reparieren“ war der Titel eines Beitrags von Achille Mbembe in Die Zeit vom April 2020).

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postkoloniale „Schweigen“ zu vielen wichtigen Fragen (nicht nur, aber auch) im globalen Kontext lässt daran denken, dass inzwischen auch ein politisches „dead end“ erreicht ist und das Interesse an einer postkolonialen „default position“ daher noch wachsen dürfte. Demgegenüber wären jedoch nicht nur globale neokoloniale Interessenlagen in den postkolonialen Horizont aufzunehmen, es müsste auch ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass es auf beiden Seiten der ehemaligen kolonialen Trennlinie Akteure und Gruppen gibt, die an der „realistischen Utopie“ (Seel 2001, 752)⁴⁸ einer Zukunft nach dem Postkolonialismus nicht interessiert sind. In dieser Hinsicht könnte sich Beifall für diejenigen, die postkoloniale Emotionen schüren – wie es zum Beispiel im westeuropäischen Kulturestablishment in letzter Zeit üblich geworden ist –, als eines der Hindernisse auf dem Weg zu einer Zukunft nach dem Postkolonialismus erweisen. Tatsächlich ist immer wieder zu beobachten, dass der Kulturbetrieb nicht nur stillhält, sondern applaudiert, wenn die Tür vor einer solchen Zukunft zugeschlagen wird – wie etwa von der kenianischen Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor anlässlich ihrer Keynote Speech bei der International Conference: Colonialism as Shared History im Oktober 2020. Ganz gleich, was diese Autorin dem westlichen Publikum vorwarf – seien es emotionalisierte Schuldzuweisungen wie die, dass es „a Mount Everest of debt to the African continent“ gebe oder essentialistische Zuschreibungen wie die oben zitierte Idee, in der „collective sould“ ‚des‘ Westens sei ein „intrinsic impulse to genocide“ (Owuor 2020) –, niemand stellte kritische Fragen zu ihrem, mit Timothy Brennans Begriff, „Othering of Europe“ (Brennan 2014, 68).⁴⁹ Im Gegenteil. Der Vortrag wurde zwar als provokant empfunden, aber insgesamt sehr gut aufgenommen. Auf Deutschlandfunk Kultur nannte ihn ein Radiomoderator sogar enthusiastisch „diese so starke Eröffnungsrede“ und „diese scharfe, irgendwie tolle auch, Keynote Speech mit dieser scharfen Kritik“ (Aguigah 2020). Bei derselben Konferenz Colonialism as Shared History fand jedoch zuletzt eine Podiumsdiskussion statt, bei der neben einer der Veranstalterinnen der Konferenz, Ulrike Lindner, und verschiedenen Gästen auch der Literatur- und Kulturwissenschaftler Albert Gouaffo von Kamerun 48 In Anlehnung an John Rawls hat der Philosoph Martin Seel, dritte Generation Frankfurter Schule, das Konzept einer „realistischen Utopie“ dahingehend beschrieben, dass „ihrem Anspruch nach keine unmögliche, sondern lediglich eine weithin für unmöglich gehaltene Möglichkeit“ ist (Seel 2001, 752; Herv. im Original). 49 Man könnte auch darauf hinweisen, dass die in dieser Rede zum Ausdruck kommende Position – in Verbindung mit zahlreichen essentialistischen Zuschreibungen wie „an intrinsic impulse to genocide, to necrophilia, to inhumanity“, dem „will to violence, will to annihilate masses, will to genocide“, oder, an anderer Stelle, „its will to murder, its compromise with intrinsic and moral evil“ (Owuor 2020) – die Kriterien für die Basis-Definition von Rassismus erfüllt: Ablehnung und Verunglimpfung von Menschen allein aufgrund ihrer (in diesem Fall: weißen) Hautfarbe und auf dieser Basis pauschale Generalisierungen.

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aus zugeschaltet war. In einem seiner Statements sprach er das Konferenzthema des letzten Tages an, die Frage nach der „Shared Future“ und nach konkreten Visionen für diese Zukunft. Um aus der „Sackgasse“, in der wir uns befinden, herauszukommen, so argumentierte er, müssen wir „sachlich und ganz ernst“ darüber sprechen, „ob diese Konfrontation weitergeht – oder nicht“, und „wie wir weitermachen wollen“ (Gouaffo 2020). Diese Frage ist wahrscheinlich die erste, mit der eine Zukunft nach dem Postkolonialismus beginnen kann.

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Jean Bertrand Miguoué

Sklavenhandel, Erzählungen und (post‐) koloniale Weltgestaltung Perspektiven der Germanistik und der Afrikanistik

1 Einleitung Sklavenhandel und Sklaverei gehören zu den am wenigsten untersuchten und oft verschwiegenen Tragödien der Menschheit (vgl. Banikina Zeba 2011; Haußmann 2019, 182–186; Kuhn und Ziegler 2019, 186–210). Grund dafür ist einigen Historikern zufolge, trotz der relativ hohen Anzahl von quantitativen Arbeiten zu diesem Thema, dass es an Fakten zum Einblick in die innere Realität des Sklavenhandels und der Sklaverei fehlt (vgl. Hahn 2020; Hahn 2003; Mann 2009, 9). Aber konstitutiv für die Geschichte und das Gedächtnis des Sklavenhandels und der Sklaverei sind nicht nur beobachtbare Fakten, sondern auch subjektive Vorstellungen, imaginative, sprachliche und diskursive Praktiken, innere Einstellungen, Gefühle und Emotionen, die nicht direkt beobachtbar, sondern eher indirekt narrativ darstellbar und interpretativ rekonstruierbar sind. Dass man sich weigert, diese historisch wichtigen Fragen zu besprechen, genügt nicht, um die damit verbundenen heuristischen, moralischen und ideologischen Probleme verschwinden zu lassen. Rassismus und Versklavung verschwinden deswegen nicht aus dem Alltag und aus dem öffentlichen Leben, weil sowohl auf Seiten der Opfer als auch der Täter Sorgen bestehen, sie zu besprechen oder als Verbrechen tatsächlich anzuerkennen. In vielen Fällen werden sie genau deswegen gestärkt, weil es an historischem Bewusstsein über diese Frage fehlt. Die Deutung von Narrativen und Neonarrativen des Sklavenhandels und der Sklaverei sind grundlegend für ein Selbst- und Weltverständnis in der Gegenwart. Dass sich Historiker mit dieser Frage befassen und es für ihre exklusive Aufgabe halten, diesem Phänomen Sinn zu geben (vgl. Jobs 2016; Maihofer und Thioub 2019), ist selbstverständlich. Aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem historischen Prozess setzt Wissensproduktion aus unterschiedlichen Wissensbereichen voraus, die zusammenwirken müssen. Anders als historisch-philosophische sind philologisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven zur umstrittenen Frage des Sklavenhandels und deren Implikationen in einer globalisierten Welt nicht immer hörbar genug gemacht worden. Doch Text- und Sprachwissenschaften haben den Vorteil, sich mit Textproduktionen und deren sinngebenden Praktiken zu befassen https://doi.org/10.1515/9783111181530-008

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(Hall 2003, 6). Da der Prozess der Sinngebung und Deutung dieser historischen Wirklichkeit nicht aufhört und weil Texte und Sprache auch Rahmen der Produktion von diskriminierenden Praktiken sind (vgl. Bourdieu 1994; Barthes 1984; Foucault 1991), erweist es sich als besonders wichtig, ihre diskursive und machtstrukturierende Kraft sichtbar zu machen. Wenn von dem Gedächtnis des Sklavenhandels und des Kolonialismus die Rede ist, so sind nicht nur historische Fakten und Prozesse wichtig, sondern auch Imagination, imaginative Geographien, individuelle Biographien, Repräsentationen, Präfigurationen, Figurationen und Refigurationen wie sie in Texten und künstlerischen Produktionen dargestellt werden. Die vorliegende Studie befasst sich mit Afrikaimaginationen, die mit der historischen Erfahrung des Sklavenhandels und der Sklaverei verbunden sind, und zeigt dabei, wieweit Narrationen über erzwungene Migration von versklavten Menschen aus Afrika zur Konstitution des Welt- und Selbstverständnisses einer schwarzen Diaspora führte und was für kulturelle Austausche dadurch ermöglicht wurden. Sie befasst sich auch mit textuellen, intellektuellen und museographischen Spuren des Sklavenhandels und der Sklaverei in der deutschen bzw. europäischen Literaturund Kulturgeschichte und zeigt dabei, wieweit Perspektiven der Germanistik und der Afrikanistik für die kulturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Untersuchung des komplexen Gegenstands Sklavenhandel fruchtbar gemacht werden können.

2 Sklavenhandel, Kolonialismus und Narrative der ‚Erfindung Afrikas‘ In seinem vielzitierten Buch The Invention of Africa (1988) systematisiert Valentin Mudimbe Thesen zur „Erfindung Afrikas“ in der Geschichte der diversen geistigen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Kontakte des Kontinents mit der außerafrikanischen Welt (Mudimbe 1988), die er bereits ansatzweise in seinem Buch L’Odeur du père (1982, 12–13) schon skizziert hatte. Sich auf Michel Foucaults Ausführungen zu Wissen, Diskurs und Macht sowie auf Edward Saids Darstellung von Orientalismus als Rahmen der diskursiven Erfindung des Orients durch Europa und den Okzident stützend (Mudimbe 1988, 198), postuliert Mudimbe, dass Afrika zumindest ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine diskursive und imaginative Erfindung Europas ist. Aber Afrika ist auch grundsätzlich Produkt einer europäischen politischen Imagination gewesen, die zumindest seit den Entdeckungsfahrten (Sonderegger 2019), aber in der Regel seit der griechischen Antike existiert (Bernal 1991) und deren Rolle darin besteht, Afrika und das Afrikanische aus der eigenen Diskursposition zu bestimmen und zu funktionalisieren. Aber Afrikakonstruktio-

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nen sind nicht ausschließlich Produkte europäischer Imagination gewesen. Eine Auseinandersetzung mit den Austauschen zwischen Afrika, Arabien und Asien macht auch eine andere Dimension dieser Afrikaimagination und -konstruktion deutlich. Afrika entsteht auch als Produkt der arabischen transregionalen Welterkundung, deren Folge intensive kulturelle und Handelsaustausche mit Subsahara-Afrika sind. Austausche mit den Königreichen West- und Ostafrikas sind historisch dokumentiert (El Fasi 1998; Tamsir Niane 1984), die auch in der Form der Islamisierung eines großen Teils des Kontinents verstanden werden können. Eine Ausdrucksform und Folge dieser merkantilen Austausche war der arabische Sklavenhandel, der den afrikanischen Kontinent nicht nur als Lieferant für Rohstoffe, sondern auch als Reservoir von Menschen-Waren (Broeck 2017, 224; Mbembe 2014, 31–33; N’diaye 2008) konzipierte. Die Sklavenhandelsrouten, die in diesem Rahmen gezeichnet wurden, prägten die Topographie des Kontinents und bestimmten langfristig seine transregionalen Kontakte. Die kulturelle Kartographie des Kontinents wurde dadurch nicht nur in der Form von Islamisierung, Sprachkontakten, und kultureller Hybridisierung neugestaltet, sondern auch von Grausamkeiten, unaufhörlicher Gewalt sowie Weiterbestehen einer Sklavenwirtschaft und -kultur, die als arabischer Sklavenhandel bekannt ist. Publikationen von Tidiane N’diaye (2008) und Ibrahima Thioub (2008) sowie Yusuf Fadl Hasan (1977) machen aus unterschiedlichen Perspektiven diese Neugestaltung einer kulturellen Topographie des afrikanischen Kontinents durch die arabische Welt deutlich. Aus den Ausführungen von Mudimbe wird auch deutlich, dass kulturelle und intellektuelle Produktionen aus Europa vor allem im Kontext des Kolonialismus mobilisiert wurden (Mudimbe 1988), um Wissen nicht nur über Europa und den Westen, sondern auch über Nichteuropäer zu produzieren. Diese intensive imaginative und intellektuelle Wissensproduktion über den Anderen sollte dabei helfen, diesen Anderen zu verorten, zu überwachen und zu kontrollieren (vgl. Mudimbe 1988; Foucault 1993). Mit der Entdeckung der Neuen Welt und dem Anfang des europäischen Kolonialismus in Übersee sowie dem Aufstieg einer globalen kapitalistischen Wirtschaft erwies es sich aus europäischer Perspektive als notwendig, im Prozess der Wissensproduktion die Stellung und Funktion anderer Erdteile in der neuen globalisierten Wirtschaft und im entstehenden globalen Prozess von Europa aus zu definieren (vgl. Wirz 1982, 518–537). Der Dreieckshandel, wie er konzipiert und operationalisiert wurde, kann wohl als Sinnbild dieser Selbst- und Weltvorstellung von Europa als imaginatives und diskursives Zentrum der Weltgeschichte (Chakrabarty 2010, 41–42) und einer Repräsentation anderer Weltregionen als funktionalisierte Globalperipherien, die nun im Dienst des Zentrums standen und erst in dieser asymmetrischen Interaktion mit dem metropolitanischen Zentrum Sinn haben konnten (vgl. Wallerstein 2019; Wirz 1982), gelten. In dieser globalen

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kapitalistischen Ordnung wurde Afrika als Lieferant von Sklaven für europäische Plantagen in Amerika und in der Karibik funktionalisiert, aber auch als Absatzmarkt für den Produktionsüberschuss der entstehenden europäischen Industrie (Textil, Alkohol, Tabak, Waffen), der gegen Sklaven an der Westafrikanischen Küste ausgetauscht wurde (Weber 2009, 51). Schon in dieser Frühphase des Kolonialismus wurde die Abhängigkeit des afrikanischen Kontinents – zumindest der damaligen afrikanischen Elite an der westafrikanischen Küste – festgesetzt, da diese Elite strukturell in Sklavenjäger und -händler umgewandelt wurde. Dass die gegen Sklaven ausgetauschten Waren von einer besonders schlechten Qualität und praktisch wertlos waren, zeigt zur Genüge, wie rentabel die Sklavenwirtschaft für Europa war und wie wichtig Afrika als Konsumraum für die europäische Industrie und als Lieferant für eine fast kostenlose und rechtlose Arbeitskraft für die europäische Plantagenwirtschaft in der Karibik und in Amerika wurde (vgl. Wirz 1982; Wirz 2000, 75–91; Manning 1990; Eckert und Sonderegger 2010). In diesem globalen Machtspiel wurde Afrika als Konsumraum und Sklavenhandelsstelle funktionalisiert, aber auch der Afrikaner und das Afrikanische wurden in dieser globalen Konstellation neu definiert. Der Rückgriff auf Rassenhierarchien (vgl. Las Casas 1951; Las Casas 1966; Gobineau 1853; Linné 1835–1856; Gumplowitz 1883), religiöse Erklärungsmuster (vgl. Viotti da Costa 1985, 41–61; Cannon und Edge 2008, 127–134), Philosophie und Kulturgeschichte (vgl. Graneß und Kleingeld 2020; Hentges 1999; Zeuske 2020; Kimmerle 1993, 303–325; Mabe 2021, 122–125) sowie Literatur und vor allem Reiseliteratur als Rahmen der Erfindung des Afrikanischen mit Konstanten wie Wildheit, Grausamkeit und Kannibalismus wurde mobilisiert (Grossklaus 2017), um eine Verwandlung von Afrikanern in gewöhnlichen Waren zu fundieren und zu legitimieren. Diese Entmenschlichung des Afrikaners sollte das Schicksal von Schwarzen weltweit dauerhaft prägen. Rationalistische Denkmuster und Aufklärungsansprüche auf Vermenschlichung eines rückständigen sowie geschichts- und kulturlosen Zweigs der Menschheit bzw. der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing 1780) überhaupt wurden als Grundlagen einer Zivilisierungsmission in der Übersee vorgestellt, die vor allem in Afrika, in Amerika und in der Karibik als Ausrottung ganzer Stämme, gezwungenes Exil ganzer Völker, systematische Besiedlung neuer Territorien und gewalttätiger Umgang mit ‚niederen‘ Volksgruppen, Aneignung und Plünderung von Ressourcen aus diesen Regionen zugunsten von Europa erlebt wurde. Dass Afrika in diesem Prozess, wenn auch unvorbereitet, zu einem wichtigen Pol einer globalisierten Welt und einer europäisierten kapitalistischen Wirtschaft wurde, kann nicht geleugnet werden. Die bereits erwähnte subalterne Stellung im kolonial-imperialistischen Weltsystem (vgl. Wallerstein 1974; Wallerstein 1980; Wallerstein 1989) bedeutet nicht, dass die Afrikaner selbst als organisierte Gesellschaften keine Rolle in diesem Prozess spielten

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(Thioub 2008). Sklavenhandel war keineswegs ausschließlich Sache der Hautfarbe, sondern eher der wirtschaftlichen Interessen.

2.1 Afrika als Experimentraum des atlantischen Dreieckshandels In der Frühphase des Sklavenhandels wurde deutlich, wie Sklavenhandel zum Strukturwandel von lokalen afrikanischen wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen führte und wie in vielen Fällen die afrikanische politische und wirtschaftliche Elite die portugiesische Nachfrage an Sklaven auszunutzen wusste, um ihre lokalen Machtpositionen zu konsolidieren. In dieser Frühphase wurde der Sklavenhandel zunächst auf dem afrikanischen Kontinent in dem Dreieck zwischen Elmina Castle (Goldküste), São Tomé und dem Königreich Kongo betrieben (vgl. Vogt 1973, 453–467). Folgende Beobachtungen können zu dieser Phase gemacht werden: Es gab einen Versuch, von politischen Mächten an der westafrikanischen Küste, ihre politischen Interessen durch Anpassung an die neue ökonomische Situation und durch eigene Kollaboration mit den portugiesischen Sklavenhändlern zu bewahren. Anders als im arabischen Sklavenhandel, bei dem Sklavenhandelskarawanen bis hin ins Innere Afrikas drangen, waren portugiesische Sklavenhändler an der westafrikanischen Küste angesiedelt und ließen ihre afrikanischen Handelspartner Sklaven und Gold aus den entfernten Gegenden holen. Die Destabilisierung des Inneren des afrikanischen Kontinents durch Stammesfehden und permanente gewalttätige Konflikte garantierte für diese Küstenmächte eine permanente Verfügbarkeit von ‚Menschen-Waren‘, die an der Küste gegen wertlose und billige Produkte der europäischen Industrie ausgetauscht werden konnten (vgl. Boxell 2019). So entwickelte sich in diesem Zusammenhang eine hybride Versklavungskultur, die durch Bekehrung zum Christentum, Namensänderung, Gründung einer Mestizengesellschaft charakterisiert war, so wie sie im Königreich Kongo (vgl. Heywood 2020, 1–22), bei den Signaren in Goré im Senegal (vgl. Sokhna Gueye 2017), später bei den Ashanti an der Goldküste (vgl. Appiah 2007; Shinnie 2005, 25–42) beobachtet werden konnten. Diese lokalen Akteure waren zum Teil auch global players in dem Sinne, dass viele von ihnen in den europäischen Metropolen etabliert waren oder zwischen Afrika und Europa pendelten. Im spezifischen Fall von Kongo ließ sich der König taufen (vgl. Heywood 2009, 1–22). Er übernahm den portugiesischen Namen Alfonso und ließ das Christentum zur offiziellen Religion des Königreichs werden. Aus der katholischen Perspektive waren Versklavung und Sklavenhandel, wie sie von Papst Nikolaus V. im Romanus Pontifex begründet wurde, gegen Wilde, Ungläubige und Gegner des Christentums gerichtet, die aufgejagt, gefangen, und ewig versklavt werden sollten (Nicholas V. 1455). Die Bekehrung zum Christentum

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signalisiert den Versuch, zur Gruppe der Mächtigen zu gehören und dabei Spielraum in der neuen lukrativen Sklavenwirtschaft zu haben. Sklavenhandel war deswegen Rahmen eines intensiven logistischen, kulturellen und wirtschaftlichen Wissenstransfers zwischen europäischen Sklavenhändlern und der lokalen Elite an der westafrikanischen Küste (vgl. Thioub 2008). Der Widerstand gegen den Sklavenhandel, wie man ihn im Inneren des Kontinents beobachten konnte, war deswegen auch Widerstand gegen die kapitalistische Ordnung des Sklavenhandels und die autokratische Macht von Küstenmächten. Plantagenexperimente, wie sie in São Tomé durchgeführt wurden, machen nicht nur die Verbindung von Sklavenhandel und Zuckerrohr deutlich, sondern auch die Entstehung einer hierarchisierten Sklavengesellschaft, bestehend aus Sklaven aus West- und Zentralafrika (vgl. Zeuske 2010, 177–187; Tomàs 2002, 399). Diese Verwandlung von São Tomé in eine Sklaveninsel funktionierte als Experiment, das dann auf den ganzen Atlantik erweitert wurde. Der Sklavenhandel im Dreieck Elmina, São Tomé und Kongo und viel später Angola inspirierte den Dreieckshandel zwischen der westafrikanischen Küste, Amerika bzw. der Karibik und Europa. Die Festigung der subalternen Stellung Afrikas in einer globalen Wirtschaft sowie eine Gestaltung der afrikanischen Elite als Handlanger eines globalen Handels mit eigener lokaler Agenda können als Folgen dieser Verwandlung betrachtet werden. Machtverhältnisse im aktuellen Afrika können nicht anders als Fortsetzung dieser doppelten Agenda der afrikanischen Elite verstanden werden (vgl. Thioub 2020). Fast vier Jahrhunderte lang wurde diese koloniale Erfindung und Gestaltung der politischen, geopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Stellung von Subsahara-Afrika weitergetrieben. Zu den lokalen Betreibern der lukrativen, in den lokalen Traditionen verankerten und manchmal kulturell legitimierten Sklavenwirtschaft kamen globale Akteure aus der internationalisierten und modernisierten kapitalistischen Sklavenwirtschaft hinzu. Nach der Frühphase des portugiesisch dominierten Sklavenhandels wurde diese internationalisierte Wirtschaft zu einem stark gesamteuropäisch kontrollierten Projekt. Neue europäische Akteure wie England, Frankreich, die Niederlande, Schweden usw., welche durch die Gründung von etablierten, finanziell und technisch-logistisch gestützten Sklavenhandelsfirmen eine immer wichtigere Rolle in einer nun westeuropäisch kontrollierten Versklavungswirtschaft zwischen Afrika, Amerika und der Karibik spielten, wurden immer auffälliger (vgl. Dos Santos Arnold 2018, 421–429; Van der Heyden 2001; Weber 2009, 37–67; Pavillon 2017). Die Versklavungswirtschaft war in dieser zweiten Phase ein gesamteuropäisches Unternehmen nicht nur in dem Sinne, dass die Profite aus dem Sklavenhandel transnational investiert wurden, sondern auch weil zu diesem Zeitpunkt transnationale Unternehmen gegründet wurden, in denen Akteure aus anderen, wenig sichtbaren europäischen Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz

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Anteil hatten und die Versklavungswirtschaft auszunutzen wussten, um ihre entstehende Industrie zu fördern (vgl. Denzer 2005; Roth 2017, 436–456; Stettler et al. 2004; David et al. 2005).

2.2 Sklavenhandel, Nativismus und Rückkehr Die Intensivierung der Plantagen- und Sklavenwirtschaft in Amerika und in der Karibik führte in der schwarzen Diaspora zu einer rückwirkenden imaginativen Gestaltung von Afrika als Ursprungsland und als Ausgangs- und Mittelpunkt ihrer eigenen Weltimagination (vgl. Césaire 1955; Césaire 1947; Césaire 1967; Hall 1994, 26– 42; Elkins 1972, 63–77). Politische und kulturelle Bewegungen von schwarzen Afrikanern, die im Kontext des Sklavenhandels und der Versklavung entstanden, verstanden die Befreiung von der Sklaverei zunächst als Rückkehr nach Afrika, das als Hort des Schwarz-Seins und schwarzer Kulturen gedeutet wurde. Die Rückkehr nach Afrika stand im Mittelpunkt der Emanzipationsbewegungen von Schwarzen seit der Frühphase des atlantischen Sklavenhandels. Rückkehrende befreite Sklaven aus Lateinamerika, besonders aus Brasilien, besiedelten die ganze westafrikanische Küste von Angola bis Senegal und trugen nicht nur zur kulturellen Erneuerung dieser Region bei, sondern sie selber etablierte sich als Mitglieder der lokalen Oberschicht und als Sklavenhändler und profilierten sich als wichtige Akteure in der atlantischen Sklavenwirtschaft. Ein erneuter kultureller Hybridisierungsprozess fand damit an der westafrikanischen Küste statt, die noch heute in der Namensgebung in Ländern wie Angola, Nigeria, Ghana, Benin, Togo und Senegal spürbar ist (vgl. Amos 2001, 293–314; Seibert 2012). Eine andere Welle dieser Rückkehrbewegung ging von Nordamerika aus. Die von den USA und England organisierte Rückkehr von befreiten Sklaven nach Westafrika führte zur Gründung bzw. Neugestaltung von Territorien wie Sierra Leone (vgl. African Institution 1812, 86–91; Scanla 2016, 1085–1113) und Liberia (vgl. Van Silke 2011, 107–134; Akpan 1973, 217–236; Everill 2013), in denen die befreiten Sklaven aus Amerika angesiedelt wurden und dort in einem langen Prozess des friedlichen und kriegerischen, kulturellen und politischen Austausches mit der indigenen afrikanischen Bevölkerung standen. Die kolonialen und fast hegemonialen Bestrebungen der befreiten Sklaven aus Amerika führten zu einer tiefen Spaltung in den betroffenen Territorien, deren Folgen in der gegenwärtigen afrikanischen Geschichte noch spürbar sind (vgl. Bowen Jones, 1997; Christensen 2008; Engwicht 2016; Murphy 2003). Am Beispiel des langjährigen Konflikts zwischen indigenen afrikanischen Stämmen und Nachkommen von ehemaligen Sklaven, der von Anfang der 1990er Jahre bis Mitte der 2000er Jahre in Liberia und Sierra Leone tausende Tote als Folge hatte, kann deutlich veranschaulicht werden, wie tiefgrei-

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fend diese rückwirkenden Folgen des Sklavenhandels in der Vergangenheit waren und in der Gegenwart immer noch sind. Die Afrikaimagination wurde in Amerika und in der Karibik von künstlerischen und intellektuellen Produktionen genährt, die das Ideal einer imaginativen, spirituellen oder wirklichen Rückkehr nach Afrika als existentiellem und kulturellem Horizont darstellte. Publikationen von W.E.B. Du Bois (vgl. Du Bois 1963; Du Bois 1923; Contee 1972; Provenzo und Abaka 2012), Markus Garvey (vgl. Rogers 1955; Kroubo Dagnini 2008; Lawler und Davenport 2009), René Maran (vgl. Kesteloot 2012, 43–53; Dewitte 2005), Leon Gontran Damas (vgl. Warner 1998) und vielen anderen sahen aus unterschiedlichen Perspektiven in der Rückkehr nach Afrika bzw. in der Konstitution und Förderung eines panafrikanischen kulturellen Horizontes die notwendige Grundlage einer Bindung der schwarzen Diaspora zur afrikanischen Weltvorstellung. Dass Markus Garvey beispielsweise in der Reggea-Musik und in der Rastafari-Philosophie und -Religion gefeiert wird, ist eng mit diesen AfrikaProjektionen verbunden (vgl. Tafari 1980; Onyebadi 2017; Davis 2021; Sonderegger 2010). In einem nativistischen Gestus wurde und wird Afrika in vieler Hinsicht als Projektionsraum und Ursprungsort eines transatlantischen und transarealen schwarzen Bewusstseins imaginiert. Literarisches Bindeglied dieser transatlantischen Afrikaimagination ist etwa Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die von Senghor und Césaire gegründete Bewegung der Négritude, die das Schwarz-Sein im kolonialen und im postsklavischen Kontext als das Verbindende zwischen Afrika und seiner Diaspora vor allem in der Karibik und in Amerika imaginierte (vgl. Simo 2017, 191–194; Hall 1994; Césaire 1966). Aber auch afroamerikanische und afrokaribische musikalische Produktionen wie Salsa, Reggea, Jazz, Zouk, Gospel, Negro spirituals usw. zeugen von dieser imaginativen Bindung zu einem geistig und künstlerisch erfundenen Afrika. Diese kulturelle, spirituelle und intellektuelle Bindung zu Afrika wie sie in Schriften, Tönen und Rhythmen ausgedrückt wird, hat in der Gegenwart immer noch Sinn angesichts des zunehmenden, mit dem Sklavenhandel verbundenen Tourismus in Westafrika. In diesem neuen Kontext wird Afrika als Erinnerungsraum und Pilgerort für tausende von Nachfahren von afrikanischen Sklaven aus der Karibik und Amerika umfunktioniert. Bimbia (Kamerun), Goré (Senegal), Ouidah (Benin), Axim Manso, Sandaga (Ghana) sowie die vielen Festungen an der westafrikanischen Küste gelten heute als wichtige Erinnerungs- und Pilgerorte der Sklavenhandelsrouten in Westafrika (vgl. Ciarca 2008; Goussanou 2018; Araujo 2018; Kankpeyeng 2009; Schramm 2005). Die gegenwärtig in Amerika und in der Karibik durchgeführten DNA-Tests führen immer mehr Schwarzamerikaner zu ihren Ursprüngen in Afrika zurück. (Vgl. Abel 2018; Duster 2011) Wenn diese Wiederentdeckung nicht zwingend als Rückkehr verstanden werden soll, gründet sie doch auf einer Afrikaimagination als Ausgangspunkt und

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als Grunderklärungsrahmen der eigenen globalen und transarealen Geschichte in der Karibik und in Amerika.

2.3 Sklavenhandel und Diaspora: Afrika in der atlantischen Welt Neben dieser nativistischen Vorstellung und Erfindung von Afrika, von der Karibik und Amerika aus, wird auch deutlich, welche Funktion Afrika für die Entstehung einer transatlantischen Kultur übernommen hat. Die Intensivierung der Sklavenwirtschaft trug nicht nur zur Entvölkerung und Destabilisierung des Inneren Afrikas bei, sondern zur Konstitution einer immer größeren und komplexeren afrikanischen, wenn auch subalternen Diaspora in Amerika und in der Karibik. Diese rechtlose afrikanische Diaspora funktionierte im erzwungenen Exil als Spiegelbild der Lage auf dem afrikanischen Kontinent und als Agent der Erfindung und Mitgestaltung einer Kultur, die im Sinne von Edouard Glissant (2008, 81–89) als kreolisch und im Sinne von Stuart Hall (1994) als hybrid bezeichnet wird, bestehend sowohl aus der zirkulierenden Energie europäischer, afrikanischer und indigener karibischer und amerikanischer Kulturen. Die Rolle Afrikas in der Gestaltung einer hybriden, kreolischen und synkretistischen Kultur der Neuen Welt und der Welt überhaupt kann in diesem Zusammenhang nicht bezweifelt werden. In seinem Buch The Black Atlantic macht Gilroy (2006) die Fruchtbarkeit afrikanischer Kulturen bei der Gestaltung einer Weltkultur deutlich. Thesen einer afropolitanischen Weltsicht, wie sie von Achille Mbembe (2014; 2020) formuliert werden oder Imaginationen einer afrotopischen Weltvorstellung, wie man sie beim Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr oder bei Schriftstellerinnen wie Ngozie Adichie (vgl. Sarr 2016; Tetteh-Basta 2018; Ori Eke und Njoku 2020) finden kann oder eher afropäische, wie man sie bei der Schriftstellerin Léonora Miano (vgl. Laurent 2011) rekonstruieren kann, sind Beweise für dieses Streben nach einer Gestaltung globaler (Macht)Verhältnisse von Afrika und von der weltweit angesiedelten afrikanischen Diaspora aus. Angesichts dieser Kernbedeutung von Afrika und der afrikanischen Diaspora für die Entstehung einer atlantischen und Weltkultur kann die meist angenommene Marginalität Afrikas revidiert werden. Gleichzeitig wird auch deutlich, wie kontinentale afrikanische Kulturen wiederum durch atlantische transkulturelle Innovationen neugestaltet wurde und immer noch werden. Literatur, Musik, Religion, Denkformen und Lebensweisen in Afrika wurden in den letzten Jahrzehnten durch neugestaltete hybride Kulturen der afrikanischen Diaspora in vieler Hinsicht transformiert. Von der transatlantischen literarischen Bewegung der Négritude war bereits die Rede. Aber man könnte auch

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die kontinentale Wirkung von afrokaribischen und afroamerikanischen Rhythmen wie Salsa, Zouk, Reggea oder Jazz erwähnen, die auf den Kontinent als Rumba, Afrozouk (vgl. Kroubo Dagnini 2016; Chohen 2022), Afroreggea (vgl. Chude-Sokei 2011; Kroubo Dagnini 2010), Afrojazz (Collins 1987; Vincent und Lindsey 2017) oder Afrobeat (vgl. Stewart 2013) rezipiert wurden. Besonders im Fall der kongolesischen Rumba kann die afrokaribische bzw. afroamerikanische Musik wohl als Grundlage für die Gestaltung einer modernen Musik betrachtet werden, die in Kongo entstand und die eine Wirkung in ganz Afrika und in der afrikanischen Diaspora hatte. Diese Musik begleitete und legitimierte antikoloniale Emanzipationsbewegungen in Westund Zentralafrika (vgl. White 2002; Raibaud 2010; Dugrand 2016; White 2011; Guibault 1994). Charakteristisch für diese rückwirkenden kulturellen Transformationen sind auch die durch die afrikanische Diaspora in Lateinamerika und in der Karibik inspirierten synkretistischen Formen des christlichen Glaubens, die auf dem Kontinent einen Aufschwung erleben. Aber auch intensive Austausche zwischen Afrika und der Karibik bzw. Lateinamerika zeigen deutlich, wie wichtig andere synkretistische Glaubensformen wie Candomblé, Voodoo, oder Rastafari auf beiden Seiten des Atlantiks wechselseitig beeinflusst und transformiert wurden (vgl. Hofbauer 2008). Auch die Lebensweise der schwarzamerikanischen und karibischen Jugend kann in der Gegenwart als Vorbild für die kontinentale afrikanische Jugend nicht geleugnet werden. Das Schönheitsideal der schwarzen Diaspora erweist sich inzwischen auch als Muster für Jugendliche in Afrika (vgl. Rosenberg 2002).

3 Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte: Barometer von Sklaverei und Sklavenhandel 3.1 Sklavenhandel und Erinnerungskultur der selektiven Amnesie Auch im deutschen Sprachraum scheint die Verdrängung des Sklavenhandels und der damit verbundenen Überseegeschichte noch in Denk- und Diskursformen verankert zu sein. Wenn Länder wie Portugal, Spanien, Frankreich, England und die Niederlande zum Zeitpunkt des atlantischen Sklavenhandels koloniale Besitztümer in Übersee hatten und eine erkennbare Sklavenhandels- und Kolonialpolitik trieben, hatten andere europäische Länder wie die deutschen Staaten, die Schweiz und die Habsburger Monarchie oft eher eine verdeckte Sklavenhandels- und Kolonialpolitik. Doch transatlantischer Sklavenhandel war genauso wie Kolonialismus ein gesamteuropäisches Phänomen, bei dem transnationale Mechanismen der Zu-

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sammenarbeit besonders in Sachen Handel und Investitionen in ganz Europa im Gang gesetzt wurden (vgl. Zeuske 2013; Zeuske 2015; Eckert 2012; Weber 2009; Weber 2014). So konnten auch Nationen, die keinen direkten Anteil an der Kolonisation der Übersee hatten, trotzdem als sekundäre Beteiligte am Kolonialprozess mitwirken. Dies gilt für Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz, die wiederum im Prozess des Übersee-Handels unterschiedlich beteiligt waren. Zwar gab es in diesen Ländern keine erkennbare staatlich geführte Sklavenhandelspolitik. Aber deutsche, habsburgische und Schweizer Unternehmen, Soldaten, Kaufleute und Missionare waren auf unterschiedlichen Ebenen an diesem Prozess beteiligt. Leinen-, Baumwoll- und Textilunternehmen, die im ganzen mitteleuropäischen Raum verstreut waren, spielten eine Schlüsselrolle in Dreieckshandel und bei der Produktion von Tauschwaren. Andere direkt am atlantischen Sklavenhandel beteiligten Firmen arbeiten im Auftrag von spanischen, portugiesischen, englischen und französischen Unternehmen oder sie waren an britischen, französischen, spanischen oder portugiesischen Sklavenhandelsmetropolen angesiedelt, so dass man sie nur selten als deutsche, Schweizer oder habsburgische Firmen ansah. Aber vor allem im Fall von Deutschland wurden Unternehmen gegründet, die nicht nur am Verschleppen von Sklaven von Afrika nach Amerika und der Karibik beteiligt waren, sondern auch Großplantagen in der Neuen Welt besaßen, in denen verfrachtete Menschen aus Afrika versklavt und als rechtlose Arbeitskraft gebraucht wurden (Weber 2009). Bestimmte Regionen/Königreiche wie Brandenburg hatten etablierte Besitztümer in Übersee sowie eine für diesen makabren Handel mit Menschen geeignete Flotte und Logistik. Deutsche Metropolen wie Hamburg (Altona)¹, Bremen, Augsburg u. a. sind für ihre Beteiligung am Sklavenhandel und am Kolonialismus bekannt. In diesen Städten, die wohl als Erinnerungsorte des transatlantischen (Sklaven)Handels fungieren können, wird die Stadtgeschichte und -topographie durch bestimmte damals am Sklavenhandel beteiligten Handelsunternehmen und -familien geprägt. Selbst wenn ein zunehmendes postkoloniales Bewusstsein zur Hinterfragung von Kolonialismus und Sklavenhandel in Deutschland festzustellen ist, bleiben Sklavenhändler und -halter wie die Schimmelmann in Hamburg, die Welser und Fugger sowie die Rehlingen und Höchstter in Augsburg, die Escher in Zürich, die Burkhardt in Basel, die Viatis und Peller in Nürnberg Stadtikonen, die den öffentlichen Raum und die Stadttopographie prägen. Damit wird zunächst deutlich, dass Stadttopographie, Sozial- und Kulturgeschichte in diesen Städten ohne Rückgriff auf den atlantischen Sklavenhandel unvollständig bleiben würden. Dass solche Biographien

1 Hamburg und Altona waren verschiedene Städte und Altona war lange Zeit dänisch. Aber aus der Perspektive der Gegenwart ist Altona Teil von Hamburg.

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auch in Österreich rekonstruiert werden können, ist sehr wahrscheinlich (vgl. Denzer 2005; Roth 2017; Weber 2014; Stettler und Haenger 2004; David et al. 2005). Wie Familienbiographien aus der Perspektive der Gegenwart imaginiert, gestaltet und in kulturellen und künstlerischen Produktionen anschaulich gemacht werden; wie dabei die traditionelle Stadttopographie, -ikonographie und -toponymie neu gestaltet und zur Dezentrierung der Stadtgeschichte sowie zu einer Relektüre des transatlantischen Sklavenhandels führen kann, wird noch nicht genügend wissenschaftlich untersucht. Tatsächlich stellt Augsburg eine Illustration der kontroversen Stellung des Sklavenhandels in der deutschen und mitteleuropäischen Erinnerungskultur dar. Der museologische Streit, der im letzten Jahrzehnt stattfand, ist eine Konfrontation von gegensätzlichen Formen der Erinnerung an den Sklavenhandel. Der 2014 eröffnete Fugger- und Welsererlebnismuseum der Stadt Augsburg hatte jahrelang das Tätergedächtnis dargestellt in perfekter Ignoranz und Verdrängung der Opfer dieser makabren Wirtschaft, von der die Welser und Fugger sowie viele andere Handelsfamilien im deutschen Sprachraum unschätzbare Profite gezogen hatten (vgl. Weber 2014, 8–9); und dies selbst wenn postkolonialistische Motivationen dem Museumprojekt zugrunde lagen. Erst seit kurzem (2020) wird versucht, auch in diesem Museum ein kolonialistisches Weltbild und eine „einseitige Geschichtsschreibung“ in Frage zu stellen und Spuren des Kolonialismus in dieser Stadt zu rekonstruieren. Auf der Webseite des Museums kann man zurzeit folgende Überlegungen zur Neugestaltung des Programms lesen: Auf wessen Kosten entstand der enorme Reichtum der Fugger und Welser? Diese Frage möchte das Museum stärker in den Fokus rücken. Sei es die Ausbeutung der Ausburger Weberinnen und Weber, der Tiroler Bergleute oder der Strafgefangenen in Almadén: Jakob Fugger handelte als privilegierter Kaufmann in einer Zeit, in der Menschen nicht als frei und gleich galten. Die Welser finanzierten die Eroberung ihres „Lehens“ in Venezuela mit dem Verkauf von Lizenzen für den Sklavenhandel und erregten bei ihren Zeitgenossen damit kaum Widerstand. Trotzdem und gerade deshalb müssen wir heutzutage genau hinsehen: Wie funktioniert Kapitalismus? Wem nützt er, wem schadet er? Welche direkten und indirekten Auswirkungen haben die damaligen Eroberungen der Europäer auf die Gegenwart und die globale Gemeinschaft? (Anon. [2022])²

Unter dem Motto „jede Geschichte hat zwei Seiten…mindestens“ will das Museum zwar aus einer Täterperspektive auch die Verwicklungen beider Augsburger Kaufleute in den atlantischen Sklavenhandel sowie die Exzesse eines kapitalistischen Weltbilds der Neuzeit zur Diskussion stellen.

2 https://www.fugger-und-welser-museum.de/ ( 5. September 2022).

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Nach langen postkolonial gestützten Demonstrationen und Protesten wurde nicht nur das Veranstaltungsangebot des Fugger- und Welsermuseums immer mehr transregional und global erweitert, sondern auch die Opferperspektive sowie die Schattenseiten einer Beteiligung von Ausburger Handelsgesellschaften an der Sklaverei im 16. Jahrhundert wurden durch Einführung einer digitalen Tour für Jugendliche „auf der Spur des Sklaven Perico“ inszeniert. Aber wie die Historiker Ina Hagen-Jeske, Philipp Bernhard und Claas Henschel in einer gemeinsamen Publikation zu diesem Ereignis feststellen, handelt es sich dabei um eine Manipulation, bei der Kolonialrevisionismus und Verharmlosung der Beteiligung der Augsburger Kaufleute an „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ betrieben wird (HagenJeske, Bernhardt und Henschel 2022). Anstatt die Opferperspektive darzustellen, produziert das Fugger- und Welser-Museum ein enthistorisiertes und künstliches Bild eines Opfers, das nicht ernst genommen werden kann. Dieses Ablenkungsmanöver führt dazu, dass die Opferperspektive nur eine kontrollierte Variante des Tätergedächtnisses bleibt. Die Geschichte des Subalternen bleibt, wie Dipesh Chakrabarty (2010) zu Recht schreibt, in der Geschichte des Täters gefangen. Der Täter vermag es dadurch, die Opfer- und die Täterperspektive zu artikulieren, ohne sich dabei Mühe zu geben, die Stimme und die Erfahrung der Opfer zu rekonstruieren. Über die Opfer wird weiter in perfekter Ignoranz ihrer Erlebnisse und Erfahrungen weitergeschrieben (Chakrabarty 2010, 42–46). Dass die App für die digitale Sklave-Perico-Tour nach scharfer Kritik abgeschafft wurde, ist ein Beweis dafür, dass ein kolonialistisches Weltbild Ausstellungen des Museums bestimmt. Es bleibt immer noch eine museographische und kulturgeschichtliche Herausforderung, eine differenzierte und polyperspektivische Versklavungsgeschichte zu schreiben und deren Artefakten auszustellen (vgl. Augsburg Postkolonial 2020). Die umstrittene Existenz beider Erinnerungsräume in der Stadt Augsburg illustriert genau die verdrängte, doch zentrale Stellung des Sklavenhandels für Geschichtsschreibung und kulturelle Entwicklungen nicht nur in Augsburg, sondern auch in vielen anderen deutschen und mitteleuropäischen Städten und Regionen (Westfalen, Rheinland, Schwaben, Böhmen, Sachsen, Schlesien, Preußen, den hansischen Regionen usw.). Ein weiteres Beispiel der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte über die Beteiligung von Stadt, Bürgern und Unternehmen am atlantischen Sklavenhandel stellt der eidgenössische Kanton Zürich dar. Eine von der Stadt Zürich im Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie zur Beteiligung von Stadt und Bürgern am atlantischen Sklavenhandel (vgl. Brengard et al. 2020) macht deutlich, wie tiefgreifend dieser menschenrechtswidrige Handel in dieser Stadt verankert war und ist. Die Stadt Zürich war am Sklavenhandel und an der Versklavung durch direkte Investitionen in Sklavenhandelsunternehmen und durch die Zinskommission Leu & Co, die staatliche und private Gelder in Sklaverei und Sklavenhandel investierte, be-

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teiligt. Durch den Kauf von Anleihen und die Vergabe von Krediten in den dänischen Antillen konnte Zürich riesige Profite machen. Aber aus dem Bericht von Brengard et al. (2020) wird auch deutlich, dass die Zürcher Baumwoll- und Textilindustrie als Lieferant von Tauschwaren an der durch Sklaverei und Sklavenhandel geförderten Plantagenwirtschaft und beim Ankauf von Sklaven in Afrika beteiligt war. Ein wichtiger Betreiber dieses schwarzen Geschäfts in Zürich war die Familie Escher, die Plantagen in der Karibik besaß, in denen Sklaven ausgenutzt wurden und die an der Baumwohlindustrie beteiligt war (vgl. Haenger 2016; Stettler et al. 2004). In der Schweiz bildet Zürich keine Ausnahme, ähnliche Berichte wurden über Städte wie Bern und Basel verfasst, in denen anschaulich gemacht wurde, wieweit die Schweiz als Staat an Sklaverei und Sklavenhandel beteiligt war und wieviel Profit aus diesem Handel kam (vgl. Kuhn und Ziegler 2009; David et al. 2005; Koller 2017; Pavillon 2017).

3.2 Spuren des Sklavenhandels in der deutschen und europäischen Literatur Die europäische Literatur und die deutschsprachige Literatur im Besonderen können wohl als Barometer nicht nur einer intensiven europäischen Auswanderung und Besiedlung der Neuen Welt, sondern auch der Zwangsverschleppung und der Versklavung von Schwarzafrikanern in Amerika und in der Karibik gelesen werden. In diversen paraliterarischen und fiktionalen Texten werden die Besiedlung Amerikas und der Karibik sowie die Konstruktion von Machtverhältnissen zwischen freiwilligen Auswanderern, Zwangsverschleppten und versklavten Afrikanern rekonstruiert. Besonders fruchtbare Rassen- und Machttopographien in Amerika und in der Karibik findet man in Reiseberichten (vgl. Brenner 1990). Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) kann wohl als Klassiker dieser literarischen Erkundung einer Besiedlung der Neuen Welt und der ‚weißen Flecken‘ auf der Weltkarte gelesen werden. Dieses Allegorisieren einer Besiedlung der Neuen Welt macht schon Macht- und Rassenverhältnisse im Kontext der europäischen Erkundung der Neuen Welt deutlich. Johann Heinrich Campes′ deutsche Rezeption und Adaptation dieses Textes (Robinson der Jüngere, 1779) breitet im deutschen Sprachraum die Idee einer kolonialen gewalttätigen und räuberischen Begegnung mit den Anderen aus. Auch Johann Karl Wezel liefert 1779/80 eine andere Fassung von Robinson Crusoe (vgl. Dunker 2017, 245; Gallien, 2019; Mcinelly, 2003; Dankwa, 2021) Diese vielfältigen Fassungen zeigen genau, wieweit die Robinson-Weltvorstellung die europäische Imagination von Machtverhältnissen im kolonialen Raum signalisieren.

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Viele Texte der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts dokumentieren nicht nur imaginative und dokumentarische, sondern Reiseerfahrungen in der Neuen Welt, die wohl als Experimentierraum für das europäische koloniale Gedankengut und für den damit verbundenen Diskurs angesehen werden (Dunker 2017, 245). Texte dieser Literatur stellen auch kritische Blickpunkte zur kolonialistischen Weltsicht dar, indem sie die Exzesse der Versklavung sowie des Kolonialismus imaginativ beschreiben. Dieser menschenrechtlich-aufklärerische Anspruch ist vor allem in der abolitionistischen Literatur lesbar. Dazu zählen abolitionistische Stücke von August von Kotzebue, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein Bild von der Versklavung von Afrikanern in Amerika ästhetisch vermitteln und gleichzeitig die transnationale Debatte über eine Emanzipation von Sklaven weiterführen (vgl. Oduro-Opuni 2019). Vor allem im neunzehnten Jahrhundert steht die außereuropäische Kolonialwelt im Mittelpunkt von literarischen Produktionen. Aber einige Autoren vermögen es in ihren Texten, Kolonialgeschichte in Verbindung mit der Versklavungsgeschichte und dem Handel von Sklaven aus Afrika in Amerika und in der Karibik zu bringen. In Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo spielt die Handlung in einer ehemaligen französischen Inselkolonie, die sich durch Widerstand und Kampf gegen die französische Armee als erste freie von schwarzen Sklaven bevölkerte Republik, vom Joch der Sklaverei befreien konnte. Dargestellt werden in diesem Text zur haitianischen Revolution Rassenverhältnisse, die in Haiti im Zuge des Sklavenhandels und der Sklaverei entstanden sind. Aus einer europäischen Perspektive interessiert den Autor eher die „Farbensemiotik“ (Dunker 2017, 246). Dieser Text lässt sich hier als Medium der Darstellung eines Gedächtnisses des Sklavenhandels und der Sklaverei sowie der Gewalt, die beide Prozesse bei Individuen und Gruppen hervorrufen, lesen. Heinrich von Kleist rekonstruiert das komplexe Bestreben von versklavten Menschen und zeigt, wie hybride Phänomene im Zuge oder als Folge der Versklavung von Schwarzen entstehen und konsequent als Mittel im Befreiungskampf eingesetzt werden. Götz Großklaus beschreibt genau Sinn und Zweck solcher Auseinandersetzung mit der europäischen und deutschen Literatur in Zusammenhang mit Kolonialismus und Sklavenhandel: Gezeigt werden kann, dass weltweit verbreitete literarische Texte (Defoe, Cooper, u. a.) massiv dazu beigetragen haben, die koloniale Weltsicht zu ‚normalisieren‘, Versklavung und Vernichtung niederer Rassen zu legitimieren, die Doktrin der Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ in den Köpfen zu verankern. (Grossklaus 2017, 246)

Weitere literarische Produktionen zu Sklaverei und Versklavung in Amerika und der Karibik findet man in drei Latein-Amerika Gedichten von Heinrich Heine, die koloniale Verhältnisse in der Neuen Welt rekonstruieren. In Vitzliputzli (1851/52)

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wird der gewalttätige Kontakt zwischen spanischen Kolonisatoren und den aztekisch-mexikanischen Truppen geschildert. Dieses Gedicht kann auch als ironische Darstellung des ‚kolonialen Spektakels‘ gelesen werden (Grossklaus 2017, 114). In der Bimini-Ballade (1853/54) inspiriert sich Heine an der Reiseliteratur über Kolumbus’ Entdeckung von Amerika. Das Gedicht stellt die gewalttätige Eroberung entdeckter und erkundeter Territorien durch die europäischen Kolonisatoren dar. Aber genau der dritte Text von Heine ist im Zusammenhang mit der Thematik des Sklavenhandels und der Sklaverei besonders relevant. Es handelt sich um Das Sklavenschiff (1853/54). Dieses Gedicht befasst sich mit dem Transport, dem Verkauf und der Versklavung von Menschen afrikanischer Herkunft in Amerika. In diesem Gedicht, in dem nur europäische Herren und Sklavenhalter/-händler sprachfähig sind, werden schwarze Sklaven als Waren-Menschen, als „Objekt (kaufmännischer) Kalkulationen und (medizinischer) Inspektion“ (Grossklaus 2017, 123) beschrieben. Horrorszenen des Abwerfens von schwarzen Körpern als Ernährung für Haifische werden genau so dargestellt wie Vergewaltigung von schwarzen Sklavinnen. Auch hier wird deutlich, wie Sklaven an Bord Gegenstand eines erzwungenen Spektakels werden (Grossklaus, 2017, 124).

3.3 Sklavenhandel und ‚Spektakel des Anderen‘ im deutschen Sprachraum Europa war vor allem seit dem Mittelalter Abnehmer von schwarzen Sklaven, darunter auch Kinder, die der europäischen Aristokratie verkauft oder als Geschenke gegeben wurden. Woher diese ‚Menschen-Waren‘ und menschlichen Geschenke kamen, über welche Wege und unter welchen Umständen sie an den europäischen Höfen landeten, wurde wegen einer allgemeinen euphorischen Stimmung selten hinterfragt. Als Geschenke oder als Waren waren die in Europa importierten und funktionalisierten Schwarzen oder Mohren Produkte der arabischen und osmanischen Sklavenwirtschaft. Erst viel später konnten Europäer selbst schwarze Sklaven aus Afrika und der Karibik nach Hause zurückbringen. Die in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte zelebrierten und romantisierten „edlen Mohren“ können leider nicht außerhalb der Koordinaten des makabren arabischen Sklavenhandels genau erfasst werden (vgl. Mallinckrodt 2018, 45–46; Hielscher 2021). In ganz Europa und Russland hatten die sogenannten Mohren, wenn auch als Subalterne eine soziale Existenz und Sichtbarkeit. Spuren ihrer Existenz können bis in die Gegenwart in der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte rekonstruiert werden (vgl. Riesche 2007). Die Bedeutung dieser Sklaven für das europäische Selbstbild und die europäische Kultur wird am Beispiel berühmter Ikonen wie Anton Wilhelm Amo und Angelo Soliman genau erforscht.

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Die Überlappung des arabischen und des transatlantischen Handels führte in Europa nicht nur zu einer Negativierung des ‚Negerbildes‘, sondern auch zu einer kolonialen Dämonisierung des arabischen Sklavenhandels. Neuere Entwicklungen im Zusammenhang mit dieser europäischen Erfahrung des arabischen Sklavenhandels sind in der relativ hohen Anzahl von literarischen Publikationen zur Lebensgeschichte von Alexander Puschkin (Russland) aber auch von Angelo Soliman oder auch Wilhelm Anton Amo in deutschen Sprachraum sichtbar. 2011 wurde eine Ausstellung des Wien Museums dem tragischen Schicksal des Sklaven und Mohren Soliman gewidmet und anschließend wurde eine Schlüsselpublikation mit dem sehr evokativen Titel Angelo Soliman: ein Afrikaner in Wien (Blom und Kos 2011) dieser Ausstellung gewidmet. 2016 hatte der ungarische Schriftsteller Gergerly Péterfy mit seinem Roman Der ausgestopfte Barbar (2016) versucht, das ungewöhnliche Leben und tragische Ende von Soliman narrativ zu rekonstruieren. Zwei Jahre später setzte sich der Film Angelo (Schleinzer 2018) mit diesem Thema erneut auseinander. Zuletzt ist 2020 der Roman Keiner von euch (Mitterer 2020) erschienen, der sich mit den Metamorphosen des Sklaven und Mohren Soliman in der österreichischen Gesellschaft befasst. Untersuchungen zu diesem Thema machen deutlich, dass Literarisierungen der Lebensgeschichte von Angelo Soliman in Europa eine lange Geschichte haben. Robert Musil, Fritz Herzmanovsky Orlando, Ludwig Fels und Illya Trojanow haben sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen literarischen Mitteln mit diesem Thema auseinandergesetzt (Matzer 2020). Diese obsessive literarische Genealogie des Mohren in der europäischen Kulturgeschichte macht deutlich, dass die europäische Erfahrung des arabischen Sklavenhandels Spuren hinterlassen und in Europa bestimmend für das Fremdbild bleibt. Dass andere Mohren von europäischen Reisenden im Kontext der europäischen kolonialen Expansion und des atlantischen Sklavenhandels nach Europa importiert wurden, sollte hier nicht geleugnet werden.

4 Schluss Aspekte der deutschen und mitteleuropäischen Kulturgeschichte sollten von einer Germanistik produktiv gemacht werden, die postkoloniale und interkulturelle Ansprüche hat. Eine Auseinandersetzung mit Sklaverei und Sklavenhandel macht nicht nur die Weltgeschichte europäischer Nationen, sondern auch afropolitanische und transareale Aspekte der afrikanischen Geschichte deutlich. Mit Blick auf den Sklavenhandel als globales Phänomen, welches die kulturelle Weltkartographie durchaus verändert und neugestaltet hat, wird deutlich, dass disziplinäre Verflechtungen von Germanistik und Afrikanistik sowie Amerikanistik und Arabistik nicht vermieden werden können. Sklavenhandel stellt deswegen genauso wie Ko-

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lonialismus einen Forschungsgegenstand dar, der nicht ausschließlich als Sache von Historikern betrachtet werden kann, sondern eher als ein komplexer Gegenstand, bei dessen Behandlung trans- und interdisziplinäre Vorgehensweisen erforderlich sind. Die Auseinandersetzung mit dem Trauma des Sklavenhandels sowie mit den damit verbundenen kulturellen Verflechtungen sowohl im atlantischen als auch im arabischen und im indischen Raum sollte den Dialog zwischen Europa- und Afrikastudien stärken. Das Wissen der Afrikanisten über das historische und kulturelle Schicksal von Afrikanern und von der afrikanischen Diaspora in Amerika und in der Karibik, kann erst dann vollständig sein, wenn man die Perspektive der Hauptbetreiber des Sklavenhandels in Europa und im arabischen Raum mitberücksichtigt. Germanistik und Afrikanistik begegnen sich dann, nicht nur um die Kolonialgeschichte Deutschlands, sowie die Besiedlung der Neuen Welt zu erkunden, sondern auch um Transformationen afrikanischer und deutscher Kulturen im Zuge des Exports und Verschleppens von Sklaven aus Afrika zu analysieren.

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III Erinnerungskultur und didaktische Perspektiven der postkolonialen Germanistik

Anja Ballis

Holocaust, Kolonialismus und Massengewalt im Deutschunterricht Perspektiven für Lehren und Lernen in einer postmigrantischen Gesellschaft

1 Zu Beginn – Irritationen im Unterricht In einer sechsten Klasse im Süden Deutschlands ereignet sich eine Szene, die mich nachhaltig beschäftigt. Im Folgenden lege ich diese Szene frei, weil sich in ihr Situationen an Schulen in Deutschland widerspiegeln, über die wenig außerhalb des Klassenzimmers bekannt wird. Sie tauchen beiläufig auf, können nicht vertieft werden, hinterlassen aber ein Fragezeichen bei Lehrkräften, die oft – mit schlechtem Gewissen – zum „Alltagsgeschäft“ übergehen. Der tiefer liegende Konflikt bleibt „unbearbeitet“ und folgenlos für einen möglichen Lernprozess. Die Situation spielt sich in einem Deutschunterricht der Unterstufe ab. Hier lernen Schüler:innen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, die auch in unterschiedlicher Weise der deutschen Sprache mächtig sind. Die Situation in der Klasse ist von einem Kommen und Gehen geprägt: Während des Schuljahres verlassen Kinder, oft überraschend für die Lehrkraft, die Schulgemeinschaft; aber auch Neuankömmlinge sind zu verzeichnen, die in Zeiten von Migration aus verschiedenen Teilen der Welt nach Süddeutschland gelangen. Zeit und Energie verwendet die Lehrkraft darauf, dass sich die Schüler:innen kennenlernen, dass sie gemeinsam miteinander in den Austausch kommen und mit Regeln vertraut gemacht werden, um den Alltag zu bewältigen. In einer Deutschstunde ist die Klasse in verschiedenen Gruppen mit fachlichen Themen befasst. In einer Gruppe lernen Schüler:innen, die kaum Deutsch sprechen, mit Materialien eines Schulbuchverlages aus dem Feld des Zweitsprachelernens. Die Schüler:innen haben die Aufgabe, ihre Sprachen einzelnen Flaggen zuzuordnen. Abgesehen davon, dass in vielen Teilen der Welt, Sprache und Nation nicht identisch sind, entzieht sich ein Schüler der Aufgabenstellung. Die israelische Fahne streicht er mit dicken Strichen durch. Die Lehrkraft, viel im Klassenzimmer unterwegs, registriert diese Szene und stutzt einen Moment: Soll sie mit dem Jungen sprechen? Woher mag er kommen? Syrien? Kann er eigentlich verstehen, was sie meint? Gab es nicht vor Kurzem judenfeindliche Äußerungen in der Klasse? Holocaust und NS-Zeit sind ja eigentlich noch kein Thema im Lehrplan, oder? Und ist nicht das Problem körperlicher Gewalt https://doi.org/10.1515/9783111181530-009

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Anja Ballis

aktuell dringlicher? Die Lehrkraft entscheidet sich gegen ein Eingreifen, löst sich aus ihrer Starre und wendet sich anderen Gruppen zu.

2 Diskurslinien – Aktuelle Debatten in Öffentlichkeit und Wissenschaft Die Handlung des Schülers fordert das Staatsverständnis der Bundesrepublik im Umgang mit dem Staat Israel heraus. Es ist erklärtes Ziel der deutschen Staatsräson, das Existenzrecht des Staates Israel anzuerkennen. Hochrangige Politiker:innen haben sich seit Gründung der Bundesrepublik dazu bekannt und bekräftigen die Solidarität Deutschlands mit dem Staat im Nahen Osten – nicht nur bei Staatsbesuchen und anlässlich von Gedenktagen (https://www.juedische-allgemeine.de/poli tik/die-sicherheit-des-juedischen-staates-ist-deutsche-staatsraeson/). Dabei wird regelmäßig eine Verbindungslinie gezogen, die ihren Ursprung in der Verantwortung Deutschlands während der NS-Zeit hat. Der systematische Mord an den Juden während des Holocaust bringt bis heute eine besondere Verantwortung des deutschen Staates mit sich, die Erinnerung an die historischen Ereignisse wachzuhalten, für ihre Aufarbeitung einzutreten und sich gegen Antisemitismus zu engagieren (Neiman 2021, 26). Ein eindrückliches Beispiel für diese Verbindungslinie ist der 27. Januar, der Gedenktag der Befreiung Auschwitz’. Jährlich versammeln sich die Abgeordneten des deutschen Bundestages zu einer Feierstunde, bei der – im Haus der Volksvertretung – Überlebende bislang eine Rede halten und persönliche Erinnerungen mit öffentlichem Gedenken verbunden werden. Feierstunde und Reden werden übertragen und sorgfältig dokumentiert, eine Berichterstattung in den Medien sorgt für weitere Aufmerksamkeit. Es ist ein deutliches Zeichen, dass die Repräsentant:innen des deutschen Staates sich mit diesem Teil deutscher Geschichte befassen, den Geschichten Überlebender zuhören und Raum für Erinnerung und Gedenken geben.¹ Anknüpfend an die Überlegungen Theodor W. Adornos, der den Holocaust als einen Kulturbruch konturiert hat (Andressen et al. 2019), ist die Debatte um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust seit vielen Jahren von der Singularitätsthese bestimmt. Die Vernichtung der europäischen Juden während der NS-Herrschaft wird als beispiellos und damit auch als nicht vergleichbar mit anderen Genoziden und Verbrechen angesehen. Damit einher geht eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen der (Kollektiv)Schuld und Verantwortung. Eine solche Auffassung hat auch die Vermittlungsarbeit an schulischen und außerschulischen 1 https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2022/20220126-879202 (30. Oktober 2022).

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Einrichtungen geprägt (Kultusministerkonferenz 2014). Dennoch sind insbesondere seit den 1990er Jahren zunehmend Stimmen zu vernehmen, die – eingedenk der Genozide in Ruanda und Srebrenica – Zweifel an der Singularitätsthese anmelden und vergleichend Strukturen von Gewalt zu erfassen suchen. Diese sollten es ermöglichen, Gewalt, Massaker und Verbrechen an der Menschheit mit Hilfe eines „Warnsystems“ zu verhindern.² Gerade um diese Nicht-Vergleichbarkeit entspinnt sich aktuell eine Auseinandersetzung in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Dies mag zum einen darin begründet liegen, dass Zeitzeug:innen nur noch vereinzelt über ihre Erinnerungen erzählen können. Seit den 1960er Jahren sind sie zu öffentlichen Figuren geworden, die als Mahner:innen und Ratgeber:innen aufgetreten sind (Wieviorka 2006, 89, 90). An dem Ende der unmittelbaren Zeitzeug:innenschaft lässt sich die sich vergrößernde zeitliche Distanz zu Holocaust und NS-Verbrechen ablesen, die nunmehr als Teil von Geschichte, im Kontinuum der Zeit, aufzufassen sind. Zum anderen wird diese Debatte von postkolonialen Diskurslinien beeinflusst, die seit einigen Jahren stärker zu vernehmen sind. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr im Frühjahr 2020 der Streit um Achille Mbembe, den Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, ausgelöst hat. Klein sprach sich gegen die Einladung des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale in Bochum aus, da er dem aus Kamerun stammenden, in Südafrika lehrenden Historiker und Politikwissenschaftler eine Relativierung des Holocaust vorwarf. Des Weiteren wurde der Wissenschaftler, der 2015 mit dem Geschwister-Scholl-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet wurde, kritisiert, da er das Existenzrecht Israels infrage stellt. Auf diesen Vorstoß schloss sich ein „Feuilletonkrieg“ an, bei dem sich die Akteur:innen wechselseitig des Antisemitismus und Rassismus bezichtigten (Eckert 2020; Becker 2021). Staatsräson traf auf Wissenschaft und Kunst, die – so ein Blick auf die Debatte – von unterschiedlichen Standpunkten ausgehen und mit unterschiedlichen Traditionen der Erinnerungskultur verbunden sind. Ein zentraler Dreh- und Angelpunkt dieses Konfliktes, wie auch weiterer Auseinandersetzungen, ist – wie bereits erwähnt – die Singularitätsthese, die den Holocaust als einzigartig und präzedenzlos betrachtet (Klävers 2019, 17). Vertreter: innen dieses Standpunktes ziehen drei Argumentationslinien heran: Zum einen wird immer wieder Technik und Industrialisierung erwähnt, die sich in dem Lager „Auschwitz-Birkenau“ zu unaussprechlichem Leid verdichtet haben. Zum anderen wird eine Intention als essentiell erachtet, die auf die Vernichtung von Personengruppen abzielt. Und schließlich werden die menschenfeindlichen Aktionen mit

2 https://www.genocidewatch.com/ (30. Oktober 2022).

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Ideologie verknüpft, die Vernichtung und Erlösung gleichermaßen umschließen (Klävers 2019, 34). Zunehmend wird an solchen Überlegungen Zweifel angemeldet. Die Studie Von Windhuk nach Auschwitz (2011) von Jürgen Zimmerer ist dafür ein Beispiel. Einer historischen Kontinuitätsthese folgend stellt der Autor Verbindungen zwischen Kolonialismus und Nationalismus her, die eng aufeinander zu beziehen sind. Zimmerer betrachtet Kolonialismus und Nationalismus als Phänomene extremer Gewalttätigkeit, die nicht einer Relativierung, sondern einem Verständnis beider Phänomene Vorschub leisteten (Zimmerer 2011, 35–38). Seine Überlegungen kreisen u. a. um den Raum, der als frei zu gestaltend sowohl im Kolonialismus als auch zur Zeit des Nationalsozialismus verstanden wurde. Mit dieser Vorstellung ging eine Entrechtung der Ureinwohner einher, die im Interesse der Kolonialherren „eingesetzt“ werden konnten. Dies umschloss sowohl Zwangsarbeit als auch willkürliche Umsiedlung der Bevölkerung; auch für die nationalsozialistische Wirtschaft wurden Zwangsarbeiter in allen besetzten Ländern rekrutiert und nach Deutschland verschleppt (Zimmerer 2011, 154–155). Für Zimmerer ist die radikale Konsequenz einer solchen auf Raum – wie auch „Rasse“ – beruhenden Eroberungs- und Siedlungspolitik der Genozid, worunter er die Ermordung von Menschen, die als Feinde, als überflüssig oder als Hindernis für die eigene Entwicklung erachtet werden, versteht (Zimmerer 2011, 156). Auch wenn Zimmerer in seinem Argumentationsgang Unterschiede zwischen beiden Genoziden konstatiert, wie beispielsweise den Grad staatlicher Einmischung, so bereitet das genozidale Denken des Kolonialismus eine positive Sicht auf „Entdeckung“, Eroberung, Erschließung und Besiedelung der Welt vor, wie es sich in der NS-Zeit wiederfindet: Zugleich hilft die Ähnlichkeit zum Kolonialismus zu verstehen, warum die Vertreibung und Umsiedlung von Juden und Slawen und in letzter Konsequenz deren Ermordung vielleicht gar nicht als Tabubruch wahrgenommen wurde. Zumindest bot die Kolonialgeschichte im Sinne der Selbstexkulpation der Täter die Gelegenheit, sich über das Ungeheuerliche der eigenen Taten hinwegzusetzen. (Zimmerer 2011, 171)

Ein weiterer Vertreter, der von Kontinuitäten zwischen Holocaust und Kolonialismus ausgeht, ist A. Dirk Moses. Wenngleich seine Argumentation im Vergleich zu Zimmerer einen anderen Schwerpunkt aufweist – Moses spricht von einem „subalternen Genozid“ in Bezug auf den Holocaust –, eint beide Forscher die Auffassung von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Kolonialismus und Antisemitismus. Kritiker monieren, dass beide die Unterschiede zwischen kolonialem Rassismus und Antisemitismus nicht ausreichend reflektierten (Klävers 2019, 130, 131). Einer breiteren Öffentlichkeit ist A. Dirk Moses im Kontext des „Historikerstreits 2.0“ bekannt geworden, in Anspielung auf die Auseinandersetzung um das Verhältnis von nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen aus dem Jahr

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1986. Im Mai 2021 verfasste er den online verfügbaren Text „Der Katechismus der Deutschen“; darin führt er seine These aus, dass der Glaube an die Singularität des Holocaust eine wichtige Rolle spiele, „andere historische Verbrechen auszublenden“, worunter auch koloniale Gewalttaten zu verstehen sind.³ Seine Überlegungen intensivierten die Debatte in den deutschsprachigen Feuilletons, die um mögliche Zusammenhänge von Kolonialismus und Nationalsozialismus, um die Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit des Holocaust sowie um seinen Platz in der Erinnerung der Deutschen drehte. Neben dem Vergleich von Strukturen von Genoziden werden auch Fragen zur Verflechtung von Holocaust und Kolonialgeschichte gestellt (Klävers 2019, 42). Dafür hat sich seit einigen Jahren die Metapher der „entangled histories“ herausgebildet (Randeria 2002; Barad 2007). Darunter wird das Bemühen verstanden, strukturelle Überschneidungen zwischen Geschichten und gemeinsame Vergangenheiten nachzuweisen, die Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten von Kollektiven zum Gegenstand haben. Im deutschsprachigen Bereich prägt jüngst Daniela Henke das Konzept der Ko-Erinnerung, um zu erfassen, „was erinnert wird, auch wer gemeinsam erinnert, wer sich auf wen mit welchen Motiven bezieht (Henke 2020, 14). Inzwischen haben sich die Ansätze ausdifferenziert, die oft als postkolonial deklariert werden können. Sie eint die Vorstellung, Zusammenhänge der Weltgeschichte zu thematisieren und gemeinsame Bezugsobjekte zu wählen, zwischen denen ein zeitlicher und räumlicher Abstand liegt. Solchermaßen können europäische und außereuropäische Welt aufeinander bezogen werden (Henke 2020, 10); es gehört zu postkolonialen Vorstellungen, nicht nur die Grenzziehung zwischen kolonisierenden und kolonisierten Akteur:innen zu überdenken, sondern auch nach Wechselbeziehungen und Austauschverhältnissen zu fragen; der Kolonialismus war mit der Befreiung der Unabhängigkeitserklärung der jeweiligen Staaten noch nicht beendet (Conrad 2012). In diesem Zusammenhang ist Michael Rothbergs Studie Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken in Zeiten der Dekolonialisierung zu nennen, die 2009 in englischer und 2021 in deutscher Sprache erschienen ist. Der Historiker nimmt den Gedanken des „Entanglement“ auf, um Erinnerungskonkurrenz, die er als „Nullsummenspiel“ und einen „Kampf“ um knappe Ressourcen sieht, durch neue Konzeptionen kollektiver Erinnerung zu ersetzen. Er schlägt vor, „dass wir Erinnerung als multidirektional verstehen: als Erinnerung, die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist“ (Rothberg 2021, 27). Rothberg spricht sich für einen Paradigmenwechsel von der Einzigartigkeit zur Multidirektionalität aus. In den letzten Jahr-

3 https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ (30. Oktober 2022).

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zehnten sei der Holocaust in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt, v. a. in Europa, Israel und Nordamerika. Dort wurde und wird der Holocaust als singulär verstanden, oft auch als Ereignis sui generis. Allerdings regt(e) sich immer wieder ein gewisser Widerspruch gegen solche Vorstellungen, insbesondere von Intellektuellen, die sich mit Geschichten von Indigenen, Minderheiten und Kolonialismus befass(t)en. Vergleichen – so der Tenor – ist von einem Gleichsetzen zu unterscheiden. Vielmehr mag es helfen, von Unähnlichkeit bzw. Heterogenität als Normalzustand auszugehen. Kritiker:innen der Singularitätsthese sprechen sich dafür aus, die Besonderheiten des „Nazi-Genozids“ zu verstehen, aber weisen darauf hin, dass es „intellektuell und politisch gefährlich sei, diesen Genozid von anderen Geschichten kollektiver Gewalt – oder gar von Geschichte als solcher – zu trennen. Das Gefährliche am Diskurs über die Einzigartigkeit des Holocaust sei, dass er das Potenzial habe, eine Hierarchie des Leids zu schaffen […]“ (Rothberg 2021, 33). Trotz aller Verschiedenheit eint – so Rothberg – Vertreter:innen und Kritiker:innen der Singularitätsthese die Überzeugung, den Holocaust nicht in den Kontext von Erinnerungskonkurrenz zu rücken und solchermaßen an einem „Nullsummenspiel“ der Erinnerung mitzuwirken. Indem Befürworter:innen der Einzigartigkeit des Holocaust Vergleiche und Analogiebildungen ablehnen, tragen sie der Auffassung Rechnung, dass andernfalls Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen würden. Kritiker:innen der Singularitätsthese wiederum machen darauf aufmerksam, dass die Erinnerung an den Holocaust von der Auseinandersetzung mit anderen historischen Gewaltverbrechen ablenke (Rothberg 2021, 34). Um sich aus den Denkmustern der Erinnerungskonkurrenz zu befreien, schlägt Rothberg einen dynamischen Blick auf unterschiedliche Orte und Zeiten vor, zu denen es beim Akt des Gedenkens kommt. Mutidirektionale Erinnerung versteht er als Beitrag, den Prozess des Erinnerns in den Blick zu nehmen, an dem gesellschaftliche, politische und physische Kräfte am Werk seien (Rothberg 2021, 42). Kollektive Erinnerungen erlangten erst durch Verschränkung mit anderen kollektiven Erinnerungen an Bedeutung (Klävers 2019, 169). Von solchen Vorstellungen grenzt sich Natan Sznaider, ein in Israel lebender Soziologe, in seiner Studie Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus (2022) ab. Im Titel ist bereits die Programmatik des Bandes aufgehoben, da der Verfasser die Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus auf parallelen Linien sieht, die sich auf verschiedene Fluchtpunkte zubewegen. Diese stehen nicht in einem Austauschverhältnis, sondern sie treffen sich lediglich in der Wahrnehmung des Beobachters: „Gemeinsame Beschreibungen von Holocaust und Kolonialismus sind daher möglich, können so artikuliert werden, um Zusammenhänge im Bewusstsein herzustellen, die tatsächlich existieren oder auch nicht. Kausalitäten können hier nur deklariert, aber nicht bewiesen werden.“ (Sznaider 2022, 163) Diese Auffassung leitet sich aus Sznaiders Verständnis des

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Holocaust ab. Dieser wird v. a. in Verbindung mit Fragen zu Antisemitismus und Israel gebracht; Debatten, die sich mit historischen Kontinuitäten zwischen Kolonialismus sowie Krieg und den Siedlungsplänen der Nationalsozialisten befassen, thematisiert er hingegen nicht (Kreienbaum 2022). Sznaiders Argumentation ist in der Auffassung grundgelegt, dass eine kolonialistische Perspektive auf den Holocaust diesen in einen anderen Geschichtszusammenhang rücke; dieser werde „nicht mehr aus Sicht der jüdischen Geschichte und des Antisemitismus, sondern aus dem scheinbar größeren globalen historischen Zusammenhang der Übel der Moderne und des Westens“ (Sznaider 2022, 163) verstanden. Daraus ergebe sich der Schluss, dass auch das jüdisch-zionistischen Projekt als kolonialistisch aufgefasst werde. Folgerichtig werde entlang einer solchen Argumentation das Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt (Sznaider 2022, 163): Es ist daher für die Kritiker Israels wichtig, die Vernichtung der europäischen Juden aus dem jüdischen Kontext zu reißen, das Ereignis zu universalisieren und in einer komplexen Geschichte des Kolonialismus selbst einzuarbeiten, während die Juden Israels auf die Besonderheit des Ereignisses für ihr Kollektiv bestehen müssen, um, wenn nötig, ihrer Gewaltausübung die notwendige Legitimation zu garantieren (Sznaider 2022, 166).

Sznaiders Perspektive bietet Einblicke in Interpretationen historischer Ereignisse sowie rekurriert auf gefühlte und tatsächliche Ängste, die die Diskurse um Holocaust und Kolonialismus in Israel prägen. Nichtsdestotrotz zeigt seine Argumentation, wie Konkurrenzen einen gemeinsamen Dialog erschweren und neue, veränderte Perspektiven ausblenden bzw. zum Schweigen bringen (Fricker 2007). Dass sich in Israel und Palästina inzwischen vielfältige Formen der Annäherungen finden, soll hier nicht verschwiegen werden. Im Sammelband Holocaust and Nakba (2018) führen Bashir Bashir und Amos Goldberg aus, dass – ausgehend von zwei Narrativen – eine Annäherung zwischen Israel und Palästina möglich ist, wenn ein verändertes Konzept und damit einhergehende „Syntax“ zur Anwendung käme. Sie nutzen dabei die Idee der multidirektionalen Erinnerung – für beide Narrative – und verschließen sich nicht gegenüber postkolonialen Perspektiven. Jedoch sind diese Perspektiven mit weiteren Kontexten und historischen Ereignissen zu verbinden. Sie aktualisieren das von Dominik LaCapra entwickelte Konzept „empathic unsettlement“ (LaCapra 2014, 77) und beziehen es auf die Situation in Israel. „Empathic unsettlement“ wird durch historische erlittene Traumata ausgelöst und in Narrativen fortgeschrieben, aber gleichzeitig geht damit ein Mitfühlen mit „den anderen“ einher: „The forms and consequences of the empathic unsettlement required to address traumatic events cannot be predictable or known. Its role is precisely this – to disrupt. It emanates from a fear of any type of closure, to which all political discourse aspires and which itself is a harbinger of fascist logic.“ (Bashir und Goldberg 2018, 6; LaCapra 2014, 77–78) Die Autoren treten für eine

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gemeinsame Thematisierung von Holocaust und Nakba ein, die lokal und global kontextualisiert wird und an einem durch Verunsicherung ausgelösten, ethisch verantwortlichen Miteinander interessiert ist. Dabei werden neue Wege des Denkens und des kreativen Problemlösens vonnöten sein, um tradierte Perspektiven und Paradigmen zu überwinden. Nur so kann es zwischen beiden Gruppen zu einer Versöhnung kommen (Bashir und Goldberg 2018). Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Debatten um Holocaust und Kolonialismus für die Bildungsarbeit ziehen? Zum einen lässt sich ein vielstimmiger Diskurs herausarbeiten, der in seiner lokalen und globalen Ausrichtung nicht einfach zu überblicken ist. Diese Vielstimmigkeit des Diskurses mag ein Ansatzpunkt für Lehrkräfte sein, nicht vorschnell oder moralisierend Äußerungen von Schüler:innen abzuqualifizieren bzw. durch Nicht-Reagieren zu ignorieren. Die Perspektiven auf Holocaust und auf weitere Formen von Massengewalt sind komplex, abhängig von kulturellen Hintergründen und daraus resultierender Narrative sowie geprägt von Praktiken der Vermittlung an (nicht‐)staatlichen Institutionen. Damit wird nicht einer Verharmlosung von Gewalt und einer Tolerierung von menschenfeindlichen Verhalten und Praktiken das Wort geredet; vielmehr wird nach Möglichkeiten des Austausches gesucht, der es möglich macht, die Perspektive des/der anderen nicht vorschnell „unhörbar“ zu machen – auch, wenn es schmerzhaft ist. In einer aktuellen Veröffentlichung geht Astrid Erll dem „impliziten kollektiven Gedächtnis“ nach, das handlungsleitend wirkt, aber Menschen nur selten bewusst ist. Was der Mehrheit der Menschen nicht bewusst ist, kann für einige Beobachter:innen ganz offensichtlich sein: Kulturelle Stereotypen, tabuisierte Vergangenheiten, Gefühlsregime, unbewusste Meistererzählungen – für manche Menschen, etwa Neuankömmlinge in einer Gesellschaft oder kritische Beobachter:innen, fallen die täglichen Aktivierungen und Wirkungen des impliziten kollektiven Gedächtnisses sofort ins Auge (Erll 2022, 4). Diese Überlegungen sind insbesondere für postmigrantische Gesellschaften von Interesse, weisen sie doch Wege, das alltägliche Handeln und Urteilen zu hinterfragen. Daran anknüpfend ist es zum anderen ratsam, auch mit Blick auf eine diverse Schüler:innenschaft (Brüning 2018; Meilhammer und Matthes 2020), dem Ansatz der Multidirektionalität zu folgen. In ihren Studien konnten Elke Gryglewski (2013) und Rosa Fava (2015) nachweisen, dass in der heutigen Vermittlungsarbeit und der medialen Berichterstattung ein „Othering“ stattfindet. Migrant:innen werden nicht als Teil der Gesellschaft verstanden, sodass ihnen eine „eigene-andere-keine“ Form der Erinnerung an den Holocaust und NS-Verbrechen zugewiesen und zugestanden wird (Messerschmidt 2008, 54, 55). Eingedenk der von Bashir und Goldberg befürworteten Denkfigur „empathic unsettlement“ – in deutscher Übersetzung „empathischen Verstörung“ – sollten Überlegungen zu Trauma und Mitgefühl die Konzeption solcher Lehr- und Lernprozesse prägen, die kognitiv zu erschließen sind.

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Nach neuen Wegen der Vermittlung zu suchen, ist ein wichtiges Anliegen schulischer Bildung in einer postmigrantischen Gesellschaft, die Bezüge zum kolonialen „Erbe“ europäischer Nationen thematisiert. Allerdings ist für Bildungskonzepte relevant, weitere Gewaltverbrechen, die das Leben der Lernenden prägen, bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zuzulassen. Zu denken ist etwa an den Krieg in Bosnien-Herzegowina und an syrische Flüchtende. Mit welchen Texten und weiteren Medien Multidirektionalität, Verstörung und Empathie im Deutschunterricht thematisiert werden, gilt es im Folgenden näher auszuloten.

3 Verschränkungen – Interview mit einer Zeitzeug:in, ein Heldinnenepos und deutsche „Schutztruppen“ in Afrika Im Sommer 2022 konnte ich – gemeinsam mit Kolleg:innen – die Holocaust-Überlebende Dr. Agnes Kaposi in London besuchen. Agnes Kaposi ist eine in Ungarn geborene britische Ingenieurin, Pädagogin und Autorin. Sie wurde 1932 als Kind – Ágnes Kristóf – ungarisch-jüdischer und sozialistischer Eltern in Debrecen geboren. Nachdem die Verhältnisse für die Eltern dort schwierig geworden waren, übersiedelte die Familie 1937 nach Budapest, wo beide Elternteile eine Anstellung fanden (Kaposi 2020, 32). Im Laufe der 1940er Jahre verschlechterte sich die Situation für jüdische Menschen in Ungarn; die Familie wurde in das Ghetto von Debrecen deportiert; anschließend kam die Familie nach Bisamberg (Österreich), wo Agnes zu Zwangsarbeit auf einem Bauernhof verpflichtet wurde. Nach der Befreiung kehrte Agnes mit ihren Eltern nach Ungarn zurück, wo eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufgebaut wurde. Obwohl es ihr verwehrt blieb, Meteorologie zu studieren, konnte sie stattdessen ein Studium der Elektrotechnik/ Elektronik an der Technischen Universität Budapest aufnehmen und im Jahr 1951 abschließen. In den folgenden Jahren unterstützte sie den Aufbau der ungarischen Fernsehinfrastruktur. Sie heiratete ihren Schulfreund Janos Kaposi im Jahr 1952 (Kaposi 2020, 242). Nach dem Aufstand von 1956 gegen die kommunistische Herrschaft floh sie gemeinsam mit ihrem Mann nach England. In ihren Erinnerungen schreibt sie dazu: „Even if we had been able to set aside our memory of Hungary’s fascist past, we would have suspicion of the Communist regime which accused and convicted people of non-existent crimes, in a country where people could disappear without a trace.“ (Kaposi 2020, 250) Sie erhielt eine Arbeitserlaubnis, um in England als Industrieforscherin in der Telekommunikations- und Computerindustrie zu arbeiten. Ihren Eltern war es möglich 1957 Ungarn verlassen. Agnes Kaposi und ihr Mann haben zwei Töchter. Im Jahr 1971 promovierte sie im Bereich des compu-

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tergestützten Designs. Sie ist die dritte Frau, die zum Fellow der Royal Academy of Engineering gewählt wurde.⁴ Wie bereits an diesem kurzen Überblick von Agnes Kaposi deutlich wird, hat sie in ihrem Leben verschiedene Formen totalitärer Herrschaft kennengelernt. Bezeichnend ist der Titel ihrer Biographie Yellow Star – Red Star, womit sie auf die Ausgrenzung in nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft anspielt. Für sie und ihren Mann war es undenkbar, in einem Staat zu leben und Kinder großzuziehen, der ein Leben in Frieden und Freiheit verhinderte. Diese Erinnerungen an ihre „zweifache Verfolgung“ betont sie auch im Interview, das wir im Sommer 2022 mit ihr führen konnten. Die Verknüpfung ihrer Erfahrungen prägt auch ihre Tätigkeit als Zeitzeugin. Regelmäßig ist sie zu Gast in Synagogen, Universitäten und Schulklassen, um – in der Regel – über ihre Erlebnisse während des Holocaust zu erzählen. Sie geht dieser Tätigkeit mit Enthusiasmus und Engagement nach, bedauert jedoch, dass immer wieder der Holocaust im Zentrum des Interesses steht. In Bezug auf aktuelle Zeitzeug:innenprojekte äußert sie im Gespräch, dass auch diese auf ihre Erinnerungen zwischen 1933 und 1945 fokussierten: „There are differences and even similarities between different types of dictators […] The Holocaust period is unfortunately not unique in history and these things are repeated and I think it would be useful to bring us up-to-date.“ (Interview 14. Juli 2022) Agnes Kaposi spricht sich gegen die Singularität des Holocaust aus und aktualisiert ihre Erfahrungen im Spiegel ihrer Zuhörer:innenschaft. Sie ist davon überzeugt, dass ihre Persönlichkeit und ihre Einstellungen ebenso von den Erfahrungen des Holocaust und Stalinismus geprägt sind wie von ihrem Leben in Großbritannien. Selbstbewusst verweist sie auf ihr 90-jähriges Leben, das ihr verschiedene Zugänge zu ihrem Publikum gewährt. Gerade mit Blick auf Schüler:innen, die in öffentlichen Schulen in sozialen Brennpunkten unterrichtet werden, erzählt sie nicht nur von ihren Erlebnissen während der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa. Vielmehr geht sie auf ihren Erfolg als Frau im Ingenieurswesen ein und macht v. a. Schülerinnen Mut, sich auch für naturwissenschaftliche Fächer zu interessieren. Aufschlussreich ist darüber hinaus, wie sie die Fragen der Schüler:innen, die oft ein „poor English“ sprechen, deutet und kontextualisiert. Ein 13-jähriger asiatisch aussehender Junge fragte sie während eines Besuchs, woher man wusste, dass ihre Familie jüdisch war. Agnes Kaposi schildert im Folgenden, welche Gedanken sie hinter dieser Frage vermutet: So, I looked at this lovely child with his white teeth and his brown face and I asked myself: “Can I answer what he really is asking or is that going to be offensive?” And I then thought he is trusting me with his question so I must trust him with the answer. So, I answered: “You

4 https://agneskaposi.com/ (30. Oktober 2022).

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really ask me how did they know that I am Jewish although I was as white as they? Is that what you are asking?” And he said “yes”. So, one can answer properly: They could have picked you out at once since your face is brown. In my case, they gave me the yellow star; otherwise they might have missed me being a Jew. Now, you know why my book is called Yellow Star– Red Star. The yellow star branded us. (Interview 14. Juli 2022)

Agnes Kaposi blickt „hinter“ die Frage des Jungen und scheut sich nicht, Erfahrungen von Ausgrenzung heute mit ihrer Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen. Diese Haltung ist möglich, weil sie die Erinnerungen ihres 90-jährigen Lebens als miteinander verbunden sieht; Nähe und Distanz prägen ihre Erinnerungen, die wiederum Positionierungen zu den Fragen und Anliegen ihres Publikums ermöglichen. Die reflektierte Auseinandersetzung mit ihrer Biographie, die sie auf die Interessen und Fragen ihrer Zuhörer:innen anzupassen vermag, sichern Erinnerungen an den Holocaust – neben der Thematisierung weiterer Gewaltexzesse und Unterdrückungen – Relevanz und Platz in postmigrantischen Klassenzimmern. Agnes Kaposis Perspektive ist aus ihrer Biographie und einem Interview entwickelt worden. Ein biographischer Zugang wird mit Annette. Ein Heldinnenepos fortgeführt, aber – wie im Untertitel bereits anklingt – in stärkerem Maße literarisiert. In ihrem 2020 erschienenen und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Epos erzählt Anne Weber das Leben von Anne Beaumanoir. Bis dato ist das Leben der französischen Widerstandskämpferin in Deutschland wenig bekannt gewesen. Zwar erschienen unlängst die beiden Bände ihrer Autobiographie in deutscher Sprache – Lernen für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956 (2019) und Kampf für Freiheit. Algerien 1954 bis 1965 (2020). Jedoch wurde die Geschichte der Widerstandskämpferin Anne, die im Epos zur Annette wird, in Deutschland durch den Text von Anne Weber populärer. Anne Beaumanoir wurde 1923 in der Bretagne geboren. Während des Zweiten Weltkriegs unterstützte sie die Résistance und trat in die kommunistische Partei ein; nach 1945 war sie als Ärztin tätig und engagierte sich seit den 1950er Jahren für die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich. Bis zum Ende ihres Lebens hat sie in Vorträgen und Workshops ihre Geschichte erzählt, um für eine bessere und gerechtere Welt zu werben. Ihr Leben ist vielfach mit Ereignissen und ihren jeweiligen Bewertungen verbunden: Während des Zweiten Weltkriegs ging sie in den Untergrund und arbeitete dort für die Résistance; sie rettete zwei jüdische Kinder, was ihr die Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern“ von Yad Vashem einbrachte. 1959 wurde sie in Frankreich zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, da sie – gemeinsam mit ihrem Ehemann – während des Algerienkriegs die dortige Nationale Befreiungsfront unterstützte. Schließlich verließ sie Frankreich – und ihre gesicherte Existenz und Familie –, um in Algerien eine fortschrittliche medizinische Infrastruktur aufzubauen. Auch hier

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gestalteten sich die politischen Ereignisse unsicher und gefährlich; 1965 floh sie aus dem Land, um einer Verhaftung nach einem Putsch zu entgehen; da sie in Frankreich strafrechtlich gesucht wurde, übersiedelte sie nach Genf in der Schweiz, wo sie wieder als Ärztin arbeitete. Später wurde es ihr ermöglicht, in die Bretagne zurückzukehren, wo sie im März 2022 verstarb.⁵ In freien Versen lässt Anne Weber die Figur zu Beginn des Epos „zur Welt kommen“: „Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will, / ist sie zugleich noch ungeboren. Heute, / da sie fünfundneunzig ist, kommt sie / auf diesem weißen Blatt zur Welt – /.“ (Weber 2020, 5) Seit der Antike bezeichnet das Epos eine breit angelegte Versdichtung, die von Göttern oder Helden erzählt (Sander 2018, 88). In Annette wird die Heldin Anne Beaumanoir eingeführt, die an wichtigen Ereignissen der Weltgeschichte persönliche Entscheidungen trifft und aktiv handelt. Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen belegen, dass die Figur nach dem „richtigen Weg“ sucht, sich anrühren lässt von der Not der Menschen, jedoch – in der jeweiligen Situation – in der Regel Kritik und Bestrafung für ihr Tun erfährt. Die Rettung der zwei jüdischen Kinder, die die Kommunist:innen Annette mit ihrem Gefährten Roland bewerkstelligen, wird im Epos wie folgt kommentiert: Was aber wird in diesen Tagen / in Paris aus Roland und Annette? Sie sind in der Partei / und die ist unerbittlich streng. Sie werden nicht nur / nicht gelobt, geschweige denn belohnt für ihre Tapferkeit, / sondern bestraft und quasi zwangsversetzt. Rettend / haben sie sich und andre in Gefahr gebracht. Ihre / Bereitschaft zur Aufopferung ist so gesehen nichts / als Widerstand gegen den Widerstand und gegen dessen / strenge Disziplin. (Weber 2020, 53)

Solch verstörende Bewertungen von Handlungen durchziehen den gesamten Text. Während des Algerienkrieges wird Annette im Widerstand aktiv und kämpft für die Unabhängigkeit der Kolonie von Frankreich. Dennoch kommen ihr, inhaftiert in einem Gefängnis, Zweifel: „Eingesperrt mit Algerierinnen merkt Annette, / dass sie für ein Land kämpft, von dem sie / keine Ahnung hat. Das heißt, sie setzt ein nicht / für ein Land, sondern für Ideen, Gleichheit / Selbstbestimmung. Geht das überhaupt?“ (Weber 2020, 133) Annette entscheidet sich dennoch für die Unterstützung der algerischen Unabhängkeitsbewegung FLN und flieht aus Frankreich, wo ihr Haus von der Polizei umstellt ist und sie wie eine Verbrecherin bewacht wird. Sie verlässt ihren Mann und ihre drei Kinder. In Tunis angekommen, werden wieder verstörende Fragen gestellt, die von historischen und politischen Ereignissen und ihren Resonanzen in Annette handeln: Was brachte sie damals dazu, den FLN / zu unterstützen? Waren es nicht Berichte, wonach die / französische Armee ihre Gefangenen folterte, wie die / Gestapo gerade noch die Angehörigen

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Beaumanoir (30. Oktober 2022).

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der / Résistance gefoltert hatte? Jetzt merkt sie: Beim FLN / wird auch gefoltert. Keiner kämpft nur für / Unabhängigkeit, es kämpfen all auch um Macht. (Weber 2020, 147)

Im Epos kehrt Annette schließlich an einen Ort in die Bretagne zurück, an dem sie während des Zweiten Weltkrieges keine Denunziation erlebt hat (Weber 2020, 204). Ihr Heldinnentum liegt in dem Umstand begründet, dass sie sich von der Not der Menschen anrühren lässt und nach Wegen sucht, die Situation der Menschen zu verbessern. Dabei ist ihr Handeln – aus unserer heutigen Perspektive – als mutig und vorbildlich zu werten; jedoch ist es für die Lesenden eine verstörende Erfahrung zu „erlesen“, wie sehr die jeweiligen Zeitläufte Einfluss auf die Interpretation der menschlichen Handlungen nehmen. In der Verbindung und Zusammenschau von NS-Unrecht, Kolonialismus und Gewaltstrukturen entfaltet sich – verdichtet im Epos – die Stärke der Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Ihr erzähltes Leben auf die Zeit in der Résistance zu verkürzen, würde ihr nicht gerecht werden. Der literarische Text bietet die Möglichkeit, ihre vielfältigen Erfahrungen in verschiedenen Ländern und politischen Systemen zu einem Einstehen für Freiheit und Gerechtigkeit sowie für das Erkennen der Notwendigkeit von Ungehorsam zu verschränken: „im Inneren ist sie gerade. So / gerade wie ein Mensch in dieser Welt nur / sein und leben kann. Mit ihrem Auto / fährt sie Tausende von Kilometern / […] zu Schulen, in denen sie den Kindern was erzählt von Ungehorsam. Bald ist sie / sechsundneunzig Jahre alt.“ (Weber 2020, 204). Abschließend soll der Roman Nachleben von Adbulrazak Gurnah auf sein didaktisches Potenzial befragt werden, wenn es um „entangled histories“ im literarischen Gewande geht. Der Roman erschien 2022 in deutscher Sprache und befasst sich mit den langanhaltenden Wirkungen von Geschichte auf das Leben der Menschen. Der in Canterbury lebendende und aus Sansibar stammende Autor, der 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden ist, macht die Entfremdung und Entwurzelung von Afrikaner:innen durch die doppelte Erfahrung von Kolonialismus und Migration zum Thema. Erzählt wird die Geschichte des heutigen Tansania im 20. Jahrhundert, wo sich arabische, deutsche und britische Fremdherrschaft feindlich gegenüberstehen. Aus der Perspektive der Afrikaner:innen werden die Folgen des Stellvertreterkriegs in einer ostafrikanischen Küstenstand im Gefolge des Ersten Weltkrieges zwischen deutscher und britischer Herrschaft erzählt. Weite Teile der Handlung drehen sich um Ilyas und Hamza, zwei Ostafrikaner, die sich in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika als sogenannte Askari anwerben lassen. Es handelt sich um einheimische „Hilfssoldaten“ für die „Schutztruppe“, wie die Kolonialarmee der Deutschen genannt wurde. Afrikaner verdingten sich – freiwillig oder zwangsweise – für die koloniale Macht (Löffler 2022). Die Handlungsstränge um die beiden Männer werden durch Afiya verbunden, Ilyas jüngere Schwester. Sie wird später mit Hamza eine glückliche Ehe führen

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und ihren Sohn nach dem Bruder Ilyas nennen. Der Bruder ist ihr Beschützer und Vorbild, den sie schmerzlich vermisst und nicht vergessen möchte. Hamza und Ilyas machen unterschiedliche Erfahrungen mit der deutschen Herrschaft, die von Gewalt und Willkür bis hin zu Förderung und Wohlwollen reicht. Beide haben die deutsche Sprache gelernt, da sie Deutschen begegnet sind – mit unterschiedlichen Motivationen für ein solches Engagement. Während Hamza auf Afiya trifft und in der Küstenstadt sesshaft wird, ist lange Zeit das Schicksal des für die Askari kämpfenden Ilyas unbekannt. Der Roman handelt über weite Teile vom Leben in Tansania während des 20. Jahrhunderts, einschließlich der Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1961. Detailliert wird kulturelles Leben und gelebter Alltag mit historischen und politischen Ereignissen verwoben, wobei auch die Geschehnisse im Umkreis des Zweiten Weltkrieges am Horizont aufscheinen. Erinnerungen an ihren Bruder spielen für Afiya eine wichtige Rolle und verbinden die Handlungsstränge. Schließlich wird ihr Sohn sich im Jahr 1963 auf den Weg nach Deutschland machen, wo er u. a. in Archiven und Bibliotheken über den Verbleib seines Onkels recherchiert (Gurnah 2022, 368). Am Ende des Romans wird Ilyas Geschichte, von seinem Verschwinden im Jahr 1917 bis zu seinem Tod im Konzentrationslager Sachsenhausen im Jahr 1942, auf drei Seiten zusammengefasst (Gurnah 2022, 377–380): Im Jahr 1917 wurde Ilyas verletzt und er geriet in Kriegsgefangenschaft; nach Ende des Ersten Weltkrieges waren die Askari auf sich selbst gestellt; die Spur des Onkels verliert sich, bis er 1929 wieder auftaucht; mit einem Schiff kommt er nach Deutschland und nennt sich Elias Essen. Er lebt in Hamburg und tritt als Sänger in Varietés auf: „auf der Bühne [trug] er Armeeuniform der Askari, samt Tarbusch und kaiserlichen Reichsadler.“ (Gurnah 2022, 378) Im Jahr 1933 heiratete er eine Deutsche, mit der er drei Kinder hatte, und marschierte beim Reichskolonialbund mit, einer nationalsozialistischen Organisation zur Rückgewinnung der Kolonien: „Die Nazis sehnten sich nach den Kolonien, und Onkel Ilyas sehnte sich nach den Deutschen, also marschierte er bei ihnen mit, trug der Fahne der Schutzgruppe und sang auf der Bühne Nazi-Lieder.“ (Gurnah 2022, 378–379) Explizit hebt der Neffe hervor: „Lebensraum bedeutet für die Nazis nicht nur die Ukraine und Polen; in ihrem Traum kamen auch die Hügel, Täler und Ebenen am Fuß jenes schneebedeckten Bergs in Afrika vor.“ (Gurnah 2022, 379) Im Jahr 1938 lebt der Onkel in Berlin, wo er wegen eines Verstoßes gegen die „Nürnberger Rassengesetze“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht wird: „sein einziger Sohn Paul, benannt nach dem General im OstafrikaKrieg, folgte ihm freiwillig dorthin“ (Gurnah 2022, 379). Beide verstarben dort im Jahr 1942. Der Roman endet mit einem Kommentar des Neffen: „Jemand hat Onkel Ilyas so sehr geliebt, dass er ihm ins Konzentrationslager und in den sicheren Tod gefolgt ist, nur um ihm Gesellschaft zu leisten“ (Gurnah 2022, 380).

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Dieser Bericht, recherchiert von einem Tansanier in Deutschland, bietet Einblicke in Verflechtungen zwischen NS-Terror und Kolonialismus, sich widerspiegelnd im Titel Nachleben. Aus der Sicht eines Verwandten wird die Geschichte des Onkels im Kreis der Familie erzählt und – aus geographischer Ferne und mit zeitlicher Distanz – ein Blick in das nationalsozialistische Deutschland gerichtet. In der jüngst erschienenen Darstellung Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918–1945 verweist der Historiker Michael Wildt auf Schicksale von Schwarzen im Nationalsozialismus, mit einigen Ähnlichkeiten zur Gurnahs Erzählung (Wildt 2022, 215). Bezüglich des didaktischen Potenzials kann der Roman vom Ende her erschlossen werden: Ausgehend von dem recherchierten Bericht kann über die lang anhaltenden Folgen des Kolonialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgedacht werden. Inwieweit darüber hinaus der gesamte Roman Eingang in den schulischen Unterricht finden wird, ist in Zeiten der Lektüre von Textauszügen eher in Zweifel zu ziehen. Allerdings bietet der skizzierte Romanausschnitt eine Fülle von Themen und Anregungen, die noch mit Fragen zum Autor verknüpften werden können. Im deutschen Sprachraum werden bislang Gurnahs Romane eher zögerlich rezipiert. Dies ist zum einen überraschend, weil der Autor eine wichtige Stimme der Gegenwartsliteratur darstellt. Zum anderen könnte es wiederum ein Hinweis darauf sein, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte von der Aufarbeitung von Holocaust und NS-Verbrechen verdeckt worden ist.

4 Revisited – Fünf Thesen zum Umgang mit Holocaust und weiteren Formen von Massengewalt im Deutschunterricht Wenn ich heute die Fünf Thesen zum Umgang mit dem Holocaust im Deutschunterricht aus dem Jahr 2013 lese (Ballis 2013), dann bedürfen diese vor dem Hintergrund der Veränderungen in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte sowie der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einer Aktualisierung. Dieser Wandel spiegelt sich auch in jüngst veröffentlichten Texten, die ihren Weg in das Klassenzimmer einer postmigrantischen Gesellschaft finden und die Bezüge zu der dort vorfindliche Diversität und Vielfalt der Schüler:innenschaft herstellen können. Daher unternehme ich an dieser Stelle den Versuch, die Thesen des Jahres 2013 zu kommentieren und anzupassen. Dabei ermöglicht mir die Wiederbegegnung mit Themen und Fragestellungen, Kontinuitäten und Veränderungen deutlich zu akzentuieren. Einleitend stelle ich die Frage, die bereits im Jahr 2001 von der Holo-

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caust Task Force in Stockholm in den Mittelpunkt gerückt wurde: „Why, What and How to Teach about the Holocaust?“⁶ Als einen Zugang wählte ich im Jahr 2013 die Mehrstimmigkeit, um Perspektiven von Überlebenden und Rezipient:innen in der pädagogischen Arbeit systematisch und unter Berücksichtigung der Zeitlichkeit aufeinander zu beziehen (Ballis 2013, 80). Diese Mehrstimmigkeit möchte ich um die Stimmen von Menschen erweitern, die – im Sinne der Multidirektionalität – Massengewalt erlebt und erlitten haben. Darunter wird das bewusste und vorsätzliche Töten von Menschen verstanden, die ethnischen, politischen, religiösen Gruppen usw. angehören (Aafreedi und Singh 2020, 4). In einer solchen Begriffsbestimmung sind Genozide ebenso gefasst (Rabinbach 2009, 44, 45) wie die Verbrechen während des Holocaust. „Massengewalt“ als ein zentrales Merkmal der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts zu verstehen, richtet das Augenmerk auf die Auseinandersetzung mit Verbrechen, die sag- und hörbar gemacht werden, Eingang in das (implizite) kollektive Gedächtnis finden, oft mit anderen Gewaltverbrechen verknüpft sind sowie von der Frage nach der Gültigkeit universeller Menschenrechte durchzogen werden (Robel 2013, 19; 28; Steinbacher 2022, 40). Ein solches Verständnis schließt eine Auseinandersetzung mit Täter:innenschaft ein. Des Weiteren sticht mir im Nachgang die bewusste Bezugnahme auf empirische Forschung ins Auge, die bis heute ein Desiderat in der fachdidaktischen Forschung darstellt. Noch immer wird eher normativ darüber nachgedacht, was getan werden sollte, und weniger, was aufgrund empirischer Forschung geraten ist zu tun. In inhaltlicher und sprachlicher Anlehnung an die Thesen des Jahres 2013 formuliere ich fünf Aktualisierungen für das Jahr 2023.

4.1 Die Auseinandersetzung mit Holocaust und mit weiteren Formen von Massengewalt erfolgt nicht nur mittels autobiografisch akzentuierter Medien In der fachdidaktischen Literatur herrscht bezüglich der Vermittlung des Holocaust Konsens darüber, dass sich Lernende mit Dokumentationen biografischer Lebenswege auseinandersetzen, was fiktionalisierte Biografien in variantenreicher medialer Gestalt ausdrücklich miteinschließt (Feuchert und Plien 2021). Hatte ich im Jahr 2013 noch über das Zusammenspiel von Fakt und Fiktion im Spiegel von Texten und Medien Holocaust-Überlebender nachgedacht, so trete ich jetzt für eine Erweiterung ein. Etliche Studien belegen, dass Jugendliche auch nach den Täter: 6 https://www.holocaustremembrance.com/resources/educational-materials/summary-why-whatand-how-teach-about-holocaust (30. Oktober 2022).

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innen fragen und diese Leerstelle in der Vermittlung beklagen (Ulbricht 2018; Eckerlein 2021). Opfer und Täter:in sind nicht ohne einander zu denken – bekannt geworden in der Reihung „Täter, Opfer, Mitläufer“. Diese Reihung wird in jüngerer Zeit durch Überlegungen zu Komplizenschaft spezifiziert, einer Haltung, die Menschen entweder in den Widerstand treibt oder zu Mitläufer:innen werden lässt (Miahi 2022, 13).Vorstellungen von Komplizenschaft könnten für den recherchierten Bericht in Adbulrazak Gurnahs Nachleben einen Deutungshorizont entwickeln helfen, der eindeutige Zuordnungen von Tätern, Opfern und Mitläufern im Spiegel von Komplizenschaft transzendiert. Damit einher geht eine bewusste Hinwendung zu (literarischen) Texten, die die Grenzen von Fakt und Fiktion verwischen. Texte können, aber müssen keine „autobiographischen Splitter“ (Ballis 2013, 82) enthalten, sondern nehmen Praktiken des Handelns in den Blick, die zwischen Widerstand und Ungehorsam sowie Anpassung und Machtausübung changieren.

4.2 In der Wahl der Medien für den Unterricht ist die „Mehrstimmigkeit“ der Schüler:innen zu berücksichtigen Im Jahr 2013 habe ich diese These auf die Überlieferung der Medien bezogen und mich für einen Medienverbund ausgesprochen. Im Sinne einer intermedialen Lektüre werden Texte von Holocaust-Überlebenden aufeinander bezogen und Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert. Ein Beispiel hierfür ist das Gespräch zwischen Jorge Semprún und Eli Wiesel – Schweigen ist unmöglich –, in dem sie sich über ihre Erlebnisse in Auschwitz austauschen und Jorge Semprún das Gespräch wie folgt beginnt: „In einer Passage deiner Mémoires […] meinst du […], wir hätten nicht dieselbe Erfahrung des Lagers gemacht, wir hätten nicht dasselbe Lager erlebt. Das ist absolut richtig.“ (Semprún und Wiesel 2012, 7) Will man von Unterschieden ausgehend Genozide zum Gegenstand von Lernprozessen machen, so bietet die Plattform des Visual History Archives der USC Shoah Foundation einen Zugang zu Interviews von Menschen, die u. a. den Holocaust, den Genozid in Ruanda, Kambodscha und Sudan, sowie Bosnien-Herzegowina, Armenien und Nanjing erleiden mussten.⁷ An dieser Stelle möchte ich nicht auf die Vor- und Nachteile eines solches Archivs eingehen, das eine gewisse Standardisierung der Interviews und ihrer Überlieferung nach sich zieht (Shenker 2015, 5). Vielmehr verweise ich ausgehend von der Vielfalt und Fülle an Medien darauf, dass sich die Wahl der Medien in Lehr- und Lernkontexten an der Diversität der Schüler:innenschaft orientieren sollte. Ihre Herkünfte und die damit einhergehenden Fragehaltungen

7 https://sfi.usc.edu/what-we-do/collections

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gilt es mit mehrsprachigen und multiperspektivischen Medien zu bearbeiten. In Erinnerung möchte ich noch einmal den arabisch aussehenden Jungen vom Beginn dieses Textes rufen, der Vorbehalte gegenüber Israel – nonverbal, aber bestimmt – zum Ausdruck bringt. Im Sinne einer empathischen Verstörung – „empathic unsettlement“ – wäre es wichtig, die Ursache seiner Vorbehalte zu ergründen (Arnold 2021). Es könnten Medien in verschiedenen Sprachen präsentiert werden, die Verwunderung und Mitgefühl bei Lernenden auszulösen vermögen, um das ihnen bekannte Narrativ um weitere Narrative zu erweitern. In postmigrantischen Gesellschaften ist ein multiperspektiver Blick auf Ereignisse sowie eine tolerante Haltung gegenüber Unbekanntem unerlässlich, um miteinander zu kommunizieren sowie einander verstehen zu lernen – so kann Implizites zu Explizitem werden.

4.3 Die inhaltliche Aufbereitung der Medien fokussiert auf Verschränkungen von Erinnerungen In der fachdidaktischen Forschung ist unbestritten, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust auch um einen ethischen Referenzpunkt zu oszillieren habe. Bis heute prägt das von Adorno geforderte Diktum, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno 1971, 92), pädagogische Konzepte und wissenschaftliche Diskurse. Im Jahr 2013 hob ich die ethische Dimension hervor und betonte, dass die Beschäftigung mit dem Thema bei Lernenden und Lehrenden keine affektive Abwehr hervorrufen und nicht von einem Imperativ des Erinnerns geprägt sein sollte sowie „vorgefasste moralische Urteile in Verbindung mit dem erhobenen Zeigefinger und dem Gestus der Erinnerung“ zu vermeiden wären (Ballis 2013, 84). Selbstredend besitzen solche Schwerpunkte noch heute Relevanz; allerdings möchte ich für Lehr- und Lernprozesse die Verschränkungen von Erinnerungen, wie von Michael Rothberg formuliert, stärken. Zum einen wird es dadurch möglich, totalitäre Erfahrungen zu betrachten, wie sich diese am Leben von Dr. Agnes Kaposi – und vieler anderer Überlebender nicht nur des Holocaust – exemplifizieren lassen. Zum anderen eröffnet eine Auseinandersetzung mit der Singularitätsthese, ohne einer Verharmlosung von Leid während der NS-Herrschaft das Wort zu reden, die Nutzung des Vergleichs als Analyseinstrument (Steinbacher 2022, 38). Damit können erlittenes Unrecht und erlebte Traumata – ebenso wie ihre langanhaltende Wirkung – einen Platz in der Vermittlung von Geschichte und im Leben der Lernenden finden. Die Vorstellung der Verschränkung von Erinnerungen schließt ihre generationelle Weitergabe mit ein. Wiederholt wird auf Harald Welzers Studie Opa war ein kein Nazi (2002) verwiesen, wenn es um eine nicht unproblematische Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrem „Familienerbe“ geht. Keineswegs möchte

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ich Täter:innen von Gewalt entschuldigen, aber durchaus problematisieren, welche Diskurse sich nur bedingt oder nicht entfalten konnten und können. Menschen, die in Familien mit Schweigen über ausgeübte und erlittene Gewalt und Verbrechen aufwachsen, tragen oft „Gefühlserbschaften“ in sich. Es wird nicht über Unrecht gesprochen, aber dennoch wird das Erlebte, aber Nicht-Gesagte weitergegeben und von der nachfolgenden Generation erspürt (Moré 2007). Ein Beispiel für das langanhaltende Nachwirken verschwiegener Gewalt kann in der Insta-Story His name is my name erkundet werden:⁸ Eine junge Frau wird mit den nationalsozialistischen Taten ihres Urgroßvaters konfrontiert, dem sie in Geschichtsbüchern und Familienalben begegnet. Verschränkt und verbunden durch den gemeinsamen Namen, berühren sich die Lebensläufe verschiedener Generationen.

4.4 Die vermittelten Narrative lösen idealerweise kritikfähiges Staunen bei Lernenden aus Im Jahr 2013 bin ich von der subjektiven Bedeutsamkeit des Themas ausgegangen, das emotionale und kognitive Elemente umschließt und in Mitgefühl und Kritikfähigkeit der Lernenden mündet (Ballis 2013, 85). Diese Perspektive möchte ich zehn Jahre später präzisieren, indem ich Überlegungen von Juliane Köster weiterführe. Sie konstatiert bei der Rezeption von Holocaust-Literatur die Notwendigkeit „schmerzhafter Irritationen“: der Text müsse Schmerzmomente bereitstellen, ohne die Leser:innen zu überwältigen, sie vielmehr zu Perspektivwechsel und -übernahme herausfordern. Diese emotionale Positionierung der Rezipient:innen sieht Köster als ersten Schritt auf dem Weg zu einer reflektierten Haltung (Köster 2008, 121). Den von Köster verwendeten Begriff der Irritation möchte ich durch den des Staunens ersetzen, der ein verstehensprüfendes Moment enthält, das Produktivität und Scheitern in sich trägt (Pavlik 2022, 104–105). Die Beschäftigung mit verschränkten Gewalterfahrungen, die Vergangenheit und Gegenwart medial in vielfältiger Weise umschließen, fordert Schüler:innen der Sekundarstufe zu kritikfähigem Staunen heraus. Für die Primarstufe sprechen Iris Kruse und Julian Kanning von staunendem Erschrecken (Kanning und Kruse 2020). Schüler:innen lassen sich anrühren von persönlichen Erlebnissen und privaten Verhältnissen sowie faszinieren vom Überlebenswillen und vom „Bösen“ in der Welt. Sie offenbaren ein Erstaunen über Unerwartetes (Heimböckel und Weinberg 2014, 132), insbesondere in der inhaltlichen Akzentuierung fremder, aber aufeinander bezogener Erinnerungen; das Staunen über das Verstehen und Nicht-Verstehen jenseits des Alltäg-

8 https://www.instagram.com/hisnamemyname/ (30. Oktober 2022).

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lichen geht einher mit einem Infragestellen des eigenen Standpunktes und tradierter Narrative (Mian 2019; Pavlik 2022): „Narrative beginnen mit Worten und werden von Symbolen verstärkt, die oft das Gedenken an die Toten implizieren. […] Narrative werden durch die Erziehung vermittelt. Was lehrt man Kinder zu erinnern und was zu vergessen?“ (Neiman 2020, 125) Ein solcher Ansatz umschließt die Bereitschaft zur medialen Kritikfähigkeit (Lederer 2014, 313, 314) mit Emanzipation als Ziel von Erziehung (Heyl 2010, 94), die Verpflichtung der Subjekte zur Selbstreflexion sowie einer gemeinschaftlichen Annahme gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen im Spiegel historischer Ereignisse.

4.5 Nicht auf alle Fragen kann eine Antwort gefunden werden, wenn Holocaust und weitere Formen von Massengewalt zum Gegenstand von Lehren und Lernen werden Die Initiierung von Prozessen des Lehrens und Lernens ü ber den Holocaust funktioniert nach Mechanismen, die explizit nicht von einer Synchronisation von Lehren und Lernen ausgehen kö nnen: In einigen Studien weisen Schü ler(innen) wiederholt darauf hin, dass sie nicht genau festlegen kö nnen, zu welchem Zeitpunkt ihnen Erkenntnisse zugewachsen sind. Des Weiteren bringen sie zum Ausdruck, dass die schulische Auseinandersetzung mit dem Holocaust viele Fragen offen ließe und unweigerlich weiteres Lernen nach sich zö ge. (Ballis 2013, 87)

Dieser Eingangspassage stimme ich bis heute zu, jedoch wird der Beschäftigung mit Holocaust – sofern zielführend und erkenntnisleitend – die Auseinandersetzung mit weiteren Gewaltverbrechen hinzugefügt. Näher ausführen möchte ich den im Zitat aufscheinenden Hinweis der Lernenden, dass viele Fragen offenbleiben und zu weiterem Lernen anregen. Die Bereitschaft, Fragen zu stellen, sowie Erkundungen von Fraglichem scheinen hier durch. Fragen sind ein zentrales Element der Erkenntnisgewinnung: Sie tragen zur Ordnung der Welt bei und werden gestellt, wenn etwas fraglich wird: „Auch wer fragt, unterscheidet also. Fragen werden gestellt, wie Urteile gefällt werden. Sie entwachsen dem Fraglosen nicht wie Blüten, die sich entfalten. Fragliches sondert sich ab vom Fraglosen […]“ (Waldenfels 2016, 23) Dass Fragen von Schüler:innen in unterrichtlichen Kontexten kaum eine Rolle spielen, wird in der fachdidaktischen und pädagogischen Literatur wiederholt moniert (Brinkmann 2019). Dass Schüler:innenfragen Fragliches enthalten und didaktische Wirksamkeit in der Auseinandersetzung mit schwieriger Geschichte erlangen können, zeigen Iris Kruse und ich in verschiedenen Projekten in der Primarund Sekundarstufe (Kruse und Kanning i.E; Ballis et al. 2021; Ballis 2021). Aufgrund

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unserer empirischen Studien kommen wir zu dem Schluss, dass die Fragen bzw. das Fragen leitmotivisch eine Beschäftigung mit Holocaust sowie eine Thematisierung weiterer Formen von Massengewalt nicht nur im Deutschunterricht prägen sollten. Eine fragende Haltung setzt das Subjekt in das Verhältnis zur Welt. Sich in das Verhältnis zur Welt zu setzen, bedeutet im Kontext aktuell geführter Debatten um Holocaust, Kolonialismus und weiterer Gewaltverbrechen, einerseits eine Perspektive zu berücksichtigen, die nach ihren Zusammenhängen fragt. Andererseits sind persönliche und generationelle Verschränkungen bei der Beschäftigung mit Kapiteln schwieriger Geschichte zu erörtern. Fragliches auszuhalten und nicht auf alle evozierten Fragen eine Antwort zu haben, mag eine „Anfechtung“ für professionsbezogene Selbstkonzepte von Lehrenden sein. Im Verbund mit Lehrkräften und Schüler:innen sowie weiteren Vermittler:innen an Museen und Gedenkstätten diese Herausforderung anzunehmen sowie multidirektionale und mehrsprachige Konzepte und Modelle zu entwickeln, ist ein erinnerungskulturell relevantes Anliegen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen.

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Holocaust, Kolonialismus und Massengewalt im Deutschunterricht

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Anja Ballis

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Sonstiges Interview mit Agnes Kaposi, 14. Juli 2022.

Gesa Singer

Dekolonisierende Didaktik Umgang mit Krisen und Umbrüchen am Beispiel Südafrikas

1 Herausforderungen an Postkoloniale Studien Als Ausgangspunkt für Postkoloniale Studien kann ein emanzipatorischer Impetus angenommen werden, der auf der Wahrnehmung und Kritik sozialer Ungerechtigkeiten beruht, die sich historisch und politisch auf den Imperialismus und die Kolonialbestrebungen des Westens zurückführen lassen: Postcolonial studies designates a critical theory that explores the heterogeneous effects of Western colonialism and its neocolonial legacies, as they manifest, for instance, within unequal global power realtions of Eurocentric knowledge systems, various forms of racism and corresponding notions of cultural difference. (Neumann 2020, 173)

Während der Weg der Forschung über die Orientalismuskritik von Said (1978, 1994), der sich methodisch auf Foucaults Diskursanalyse bezog, über die literaturkritische Arbeit ‚The Empire Writes Back‘ von Ashcroft el al., hin zur Hybriditätsperspektive von Bhabha (1994) führte, die breit rezipiert wurden, ist zwar festzustellen, dass deren Ansätze zur Einzelfallanalyse literarischer Werke hinzugezogen, aber kaum auf didaktische Konzepte übertragen werden. Laut den Herausgebern des Handbuchs Postkolonialismus und Literatur ist „[…] seit der Jahrtausendwende eine Vertiefung, Diversifizierung und multidisziplinäre Ausfaltung festzustellen, die die Lebendigkeit postkolonialer Theorie und Forschung nachhaltig belegt.“ (Göttsche et al. 2017, VII). Trotz der großen Reichweite Postkolonialer Studien in akademischen Kreisen Europas, die sich etwa an der Vielfalt von Konferenzen, einiger maßgeblicher Werke, der Anzahl an Zitierungen sowie der Prägung relevanter Diskurse ablesen lässt, sind didaktische Praktiken, die aus ihnen hervorgehen würden, zum heutigen Zeitpunkt weiterhin ein Desiderat, und darüber hinaus ist manchen Beiträgen eine gewisse Neigung zur Selbstreferentialität und ein zuweilen erratischer Duktus nicht abzusprechen. Wobei der Gegenstand Postkolonialer Studien, auch wenn dieser im Verlauf der Entwicklung dieser Disziplin zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen geführt hat, inzwischen weitgehend unbestritten und nach wie vor relevant ist: „In der Bewertung erscheint Kolonialismus heute kaum mehr umstritten: Wer würde die Besetzung

https://doi.org/10.1515/9783111181530-010

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Gesa Singer

anderer Länder und die Unterdrückung von Menschen schon gutheißen?“ (Terkessidis 2019, 189). Mithin wirkt der postkoloniale Ansatz, der einmal die Befreiung von Diskriminierung in globalen Kontexten zum Ausgangspunkt hatte, innerhalb Europas zuweilen als exklusiver (‚woke‘) Konsensdiskurs in Teilen der weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich gegen Inferiorisierung aussprechen, aber nicht näher von dem Themenkomplex betroffen sind. Davon ausgenommen erscheint der Afro-deutsche Diskurs, der sich als Spezialfall der Interkulturalitäts- und Migrationsdebatte lesen lässt, und dessen historische Implikationen andererseits nur marginal rezipiert werden (El-Tayeb 2001)¹, oder der sich auf sprachliche und rassistische Diskriminierung spezialisiert. (Nduka-Agwu und Sutherland 2013). Im postkolonialen Diskurs Afrikas wiederum wurden und werden hingegen eher das essayistische Werk von Autoren wie Fanon (1968), Ngũgĩ wa Thiong’o und Mudimbe (1988) wahrgenommen, die ihrerseits die Dominanz kolonialer Sprachen kritisieren, sowie die Festschreibung Afrikas als das ‚Andere‘. Festzustellen ist jedoch mit Conrad: […] die lange Zeit übliche binäre Optik in der Geschichtsschreibung, die von einem grundsätzlichen Gegensatz von Kolonisierenden und Kolonisierten ausging: Die europäische Expansion, so diese Logik, führte zu einer irreversiblen Veränderung indigener Gesellschaften, die wahlweise positiv (Kulturmission und Modernisierung) oder negativ (Unterdrückung und Ausbeutung) gedeutet werden konnte. Europa habe mithin die Welt radikal verändert, ohne selbst im Kern davon betroffen worden zu sein. Diese Sichtweise, so argumentierte die postkoloniale Kritik, habe aber die zahlreichen Wechselverhältnisse und Austauschbeziehungen zwischen den beiden Polen übersehen oder sogar unsichtbar gemacht. (Conrad 2012, 8)

So argumentiert Neumann entsprechend (2020, 192): „To do justice to the variety of global relations and cross-cultural connections that impact contemporary literatures, it is imperative that postcolonial studies loosens its close ties with Northern and Anglophone academia, which certainly has heightened concerns with centerperiphery-relations.“ Während die Theoriebildung teils ideologische bzw. utopische Züge trägt, ist jedoch auch feststellbar, dass die Betroffenen, zumal auf dem afrikanischen Kontinent, sich gegen eine gewisse Paternalisierung und Einverleibung ‚ihres‘ Themenkomplexes durch Repräsentanten des sogenannten „westlichen Wissenregimes“ verwehren, wobei auch rassismuskritische Argumente eine Rolle spielen. Trotz der Berücksichtigung und Thematisierung von ‚Critical Whiteness‘²

1 Vgl. im Bereich der Literatur: Massaquoi 1999. 2 Rösch (2017, 165) zufolge „[…] setzt sich kritische Weißseinsforschung von der Idee der ‚Farbenblindheit‘ ab und spricht stattdessen von ‚Weßseinsverleugnung‘ […], wenn diese Perspektive aus-

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scheint die Zuschreibung von essentialistischen und identitären Merkmalen unausweichlich, und man bewegt sich in einer Endlosschleife von Versuchen, Kategorien von ‚Anderssein‘ aufzubrechen, wobei man sich wiederum ebensolcher Kategorien bedient. Was auf der Ebene der Theorien als kritikwürdige sozialpolitische Praxis anerkannt wurde, findet nur zaghaft und allmählich Eingang in die ‚Laborsituation‘ (Laurien 2006) der pädagogischen Anwendung und didaktischen Umsetzung. Jenseits identitärer Zuschreibungen scheint der diskriminierungsbewusste Ansatz des Anti-Bias fruchtbar zu sein, der, aus den USA stammend, in Südafrikas Erwachsenenbildung weiterentwickelt wurde, und auch in einige Projekte pädagogischer Arbeit innerhalb Deutschlands durch eine Auseinandersetzung mit eigener Diskriminierungserfahrung sowie eine kritische Hinterfragung von Machtgefällen und Privilegien eingeflossen ist (Rösch 2017, 165). Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass „[…] diskriminierungsfreie Interaktion und Kommunikation als pädagogisches Ziel benannt wird und Übungen zu dessen Erreichung entwickelt werden.“ (Rösch 2017, 166) Ähnlich genießt der befreiungspädagogische eklektische Ansatz von Freire (1970) im Globalen Süden weiterhin und wieder einmal mehr Anerkennung als in Europa. Mit anderen Worten: Post-kolonial erschöpft sich nicht in einem zeitlichen ‚danach‘, beschreibt nicht einfach die Situation nach dem formalen Ende kolonialer Herrschaft. Postkoloniale Kritik zielt auch – das ist die zweite Bedeutung des post – auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses. (Conrad 2012, 7.)

Dabei geht es m. E. auch darum, die Erfahrung von Andersartigkeit nicht als Exotismus zu werten: „Unter Exotismus versteht man erstens eine Denkfigur, die in der Faszination und Abgrenzung gegenüber einem Fremden besteht, das man nicht näher kennen lernen will (es soll vielmehr als Exotisches erhalten bleiben).“ (Hofmann und Patrut 2015, 47) Während das Beharren auf Interkulturalität die Neigung in sich trägt, Kulturen als fest und unverrückbar anzusehen und dadurch die Effekte von essentialistischer Selbst- und Fremdzuschreibung und somit Prozesse des ‚Othering‘ verstärkt, welche zu Ablehnung, destruktiven Missverständnissen und Aggression führen können, enthält der postkoloniale Ansatz vielmehr die Wahrnehmung von Komplexität und auch Widersprüchlichkeit sozialer Vorgänge: While interculturalists usually view culture as homogeneous and stable, as something to be attached to a coherent group of symbols and meanings, postcolonialists accentuate the frag-

geblendet wird. Es geht also nicht um eine Markierung von Menschen als schwarz oder weiß, sondern um eine Auseinandersetzung mit Rassismus aus einer Weißseinsperspektive.“

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mented character of culture: culture is a battleground, where different people compete for power, where communities of resistance emerge. (Kalscheuer 2013, 181)

Der postkoloniale Blick soll demnach nicht allein darin resultieren, dass sich Europa seiner kolonialen Schuld bewusst wird, sondern muss ebenso Stimmen aus dem heutigen Afrika und seiner eigenen Komplexheit zulassen. „So genügt es nicht – nach einer Bemerkung Nadine Gordimers – von der Welt auf Afrika zu blicken; vielmehr ist es erforderlich, von Afrika aus auf die Welt zu blicken.“ (BachmannMedick 2004, 263)

2 #RhodesMustfall als Impuls für dekolonisierende Bildung in Südfrika und darüber hinaus? Die #RhodesMustfall-Bewegung, die 2015 in der Studierendenschaft³ in Kapstadt ihren Anfang nahm, erhob nicht nur Vorwürfe gegen das koloniale Erbe, das sich ins Gesicht der Stadt eingeschrieben hat, indem sie die Demontage der Cecil RhodesStatue forderte, sondern äußerte auch Kritik am gängigen westlich-europäisch geprägten Curriculum und forderte die Dekolonisierung des südafrikanischen Bildungssystems, vor allem im Hochschulsektor. Im Verlauf der Proteste, die sich auch um Studiengebühren und die Forderung nach freier Bildung drehten, entwickelten sich Forderungen nach Transformation der Universitäten sowie nach einem Afrikaorientierten Curriculum, das sich vom Erbe des Kolonialismus und der Apartheid lösen und die Werte und Wissensbereiche besonders der schwarzen Bevölkerung wertschätzen solle. Insofern äußerte sich die Bewegung vor allem anti-imperialistisch und antirassistisch, und übte auch einen starken Einfluss auf nachfolgende Bewegungen in Europa wie Rhodes Must Fall Oxford aus: Rhodes Must Fall Oxford was one of the first protest movements in the global north inspired by the events in Cape Town. Starting in the Fall of 2015, a group of students set out to ‚decolonise the space, the curriculum, and the institutional memory at, and to fight intersectional oppression within, Oxford‘ (RMF Oxford, n.p.). The protests at Oxford followed on the feet of the UK’s National Student Union’s campaign, ‚Why is my curriculum so white?‘, which in the fall of 2014 demanded that institutions ‚minimise Euro-centric bias in curriculum design, content and delivery‘ (studentsunionucl.org). The demands for decolonization both in South Africa and in

3 Rhodes Must Fall describes itself as „a collective movement of students and staff members mobilising for direct action against the reality of institutional racism at the University of Cape Town.“ https://en.wikipedia.org/wiki/Rhodes_Must_Fall (19. April 2023).

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the UK are triggered by an increasingly diverse student body that takes issue with the centurylong lack of representation of some histories and some systems of knowledge in the curriculum as well as the continued influence of colonial pasts shaping university life inside and outside of the classroom. Notably, these movements make an explicit distinction between decolonization and diversity and are particularly critical of their institutions’ efforts toward diversification. (Criser und Malakaj 2020, 6)

Eine Reihe von Forschungsarbeiten sowie eine die Gesellschaft spaltende öffentliche Debatte waren die Folge, und eine Veränderung des akademischen Klimas, die bis heute spürbar ist.

3 Ansätze dekolonisierender Bildung: antirassistisch, postmigrantisch, postkolonial Ansätze dekolonisierender Bildung können sich verschiedener Konzepte und Ansätze bedienen, wie z. B. des Antirassismus, Postmigrantischer Ansätze (vgl Foroutan 2018; El-Mafaalani 2018), Postkolonialer Ansätze. „Gefordert ist eine Abkehr von Universalismen und ein Überarbeiten der eurozentrischen ‚Landkarten‘, in denen die Leitlinien für interkulturellen Transfer noch vom Austausch zwischen voneinander abgegrenzten Nationalstaaten markiert sind.“ (Bachmann-Medick 2004, 263) Insbesondere die postmigrantische Perspektive kann dabei wesentliche Impulse für Südafrika als Einwanderungsland leisten, das sich in weiten Teilen der öffentlichen Wahrnehmung – jenseits populistischer Polemik – noch nicht differenziert mit dem Thema Migration auseinandergesetzt hat. Unter den Bedingungen von Migration, globalen Netzwerken und transnationaler Zusammenarbeit sind dagegen neue Formationen in den Blick zu nehmen, welche die gewohnten kulturellen Unterteilungen und Einheiten verschieben, überlagern, in Frage stellen, auflösen. Die ökonomischen Globalisierungsprozesse fordern – zumal in der postkolonialen Situation die Existenz kultureller Bezugssysteme auf dem Spiel steht – die differenzierenden kulturellen Selbstdarstellungs- und Überzeugungsleistungen von (literarischen) Texten verstärkt heraus. (Bachmann-Medick 2004, 263)

Bei der Beschäftigung mit Literaturen ist der Begriff der Differenz als konstruiert aufzufassen: Die postkoloniale Debatte hat dabei den dekonstruktivistischen Begriff der Differenz nachdrücklich mit historischer Erfahrungswirklichkeit aufgeladen: Die dekonstruktivistische Abkehr von fixer, referentieller Bedeutung, von festumgrenzten organischen Kultureinheiten zugunsten von Prozessen; die Abwendung vom Identischen hin zum Andersartigen und Verschiedenen sind wichtige Denkansätze auch für die Konzeptualisierung und Untersuchung von

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interkulturellen Transfers, von kulturellen Konfrontationen und Übersetzungsvorgängen. (Bachmann-Medick 2004, 268–269)

4 Didaktische Ansätze im Fach Deutsch im südlichen Afrika Für didaktische Ansätze im Fach Deutsch im Südlichen Afrika müssen vielschichtige Kontexte interkultureller und multikultureller Kommunikation berücksichtigt werden, zumal „Deutsch als privilegierte Minderheitensprache“ (Laurien 2006, 442) nur für einen vergleichsweise kleinen Kreis an Studierenden nachhaltig wirken kann, was u. a. mit der institutionellen Situation sowie der Geschichte des Faches Deutsch im südlichen Afrika zusammenhängt (vgl. Singer 2022). Bis heute ist den Programmen eine Ausrichtung der Lehre (und Forschung) an Literaturwissenschaft als Königsdisziplin abzulesen, welche historisch gewachsen ist: […] Dieser literarische Schwerpunktbereich kann nicht darauf fokussiert sein, südafrikanischen Studierenden Deutschland zu erklären, sondern sollte eine kritische Auseinandersetzung fördern. (Singer 2022, 232)

Die Vermittlung von Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache muss daher Hand in Hand mit einem Bewusstsein für die Vielsprachigkeit insbesondere des Landes Südafrika einhergehen. Für die Ausgangslage ist folgende Feststellung von Laurien (2006, 439) weiterhin zutreffend: Südafrikaner sprechen viele Sprachen und kommen aus vielen unterschiedlichen kulturellen Bezügen. Die eine südafrikanische Kultur wird es auch in Zukunft nicht geben, und sie wird auch nicht angestrebt. Südafrikaner, die während der Apartheidszeit in voneinander abgeschotteten sozialen und ‚rassischen‘ Gruppen leben mußten, sind dabei zu lernen, sich in einer Vielsprachigkeit und Multikulturalität kompetent zu bewegen, die weder eurozentrisch noch afrikanisch sein wird.

Mehrsprachigkeit ist mithin in der Kultur des Landes mit seinen elf ⁴ Nationalsprachen angelegt und ein alltägliches Phänomen, wobei das Vorherrschen von Englisch und Afrikaans als Bildungssprachen nicht nur im Kontext von Fremdsprachenunterricht immer wieder problematisiert wird. Dekolonisierender Fremdsprachenunterricht muss sich Criser und Malakaj zufolge grundsätzlich den Normen und For-

4 In addition, South African Sign Language was recognised as the twelfth official language of South Africa by the National Assembly on 3 May 2023.

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derungen des Marktes entziehen, indem standardisierte nationale Interessen aufgebrochen werden: Imagining how this can be accomplished within Foreign Language Education is immediately challenging given that the field has been historically entwined with nationalists and ethnonationalist projects and therefore often remains implicated in the corporate interests of „neocolonial globalism,“ which is why it continuously fails to meet the „language and cultural needs of the people subsumed under the euphemism of ‚national interest‘“ (Macedo 2019, 15). The persistent influences of neoliberal forces are currently resurfacing within Foreign Language Education through an „add-on“ mentality toward language study that instrumentalizes and reduces languages to „mere resources used not for their cultural value, but for their exchange value“ (Kramsch 2019, 50). Decolonizing foreign language education then means – among other things – resisting market pressures and corporate thinking that limit language study to its applicability in the workforce. Most importantly, decolonization must target the curriculum first by weakening the „traditional link between standard languages and national cultures“ (Kramsch 2019, 50) through the uncoupling of languages from their colonial states […]. (Criser und Malakaj 2020, 7)

4.1 Curriculum und Kanon Während sich die Diskussion um eine Dekolonisierung der Bildung in Südafrika inzwischen – neben einer oft radikal veränderten Stellenbesetzungspolitik – vor allem in einer intensiven Revision des Curriculums erschöpft, kulminieren die Bestrebungen, die akademische Bildung zu dekolonisieren, häufig in einer Debatte um den Kanon, also die Auswahl an Texten und Literaturen, mit denen Studierende sich beschäftigen sollten. Koloniale Themen können m. E. zwar eine Komponente der Literaturauswahl darstellen, dekolonisierende Bildung ist aber nicht so sehr vom Curriculum abhängig, sondern davon, WIE dieses präsentiert, kontextualisiert und diskutiert wird. Viele Studien haben sich exemplarisch Autoren gewidmet, und sie als ‚interkulturell‘ sensibilisierte Schriftsteller dargestellt. Dabei hat man entweder vermeintlich erinnerungsträchtige Autoren wie den eben erwähnten Uwe Timm privilegiert oder die Aufmerksamkeit auf vermutlich typische Schwerpunktthemen des deutschen Kolonialismus – Völkermord in Namibia fokussierte […] Jedoch [G.S.] […] der deutschsprachige ‚postkoloniale Blick‘ kann sich nicht auf die deutsche Kolonialvergangenheit beschränken. (Kpao Saré 2012, 13–14)

Es sollte vielmehr darum gehen, Fiktionalität zu erkunden und auch in Abgrenzung von Faktualität beschreiben zu lernen, wobei Literatur ein ästhetisches Erfahrungsobjekt und nicht bloßer Lerngegenstand ist. Hierbei werden Bedeutungsvarianten und Interpretationsspielräume erkundet, die mit Angeboten zur Übersetzung sowie auch dem eigenen Erproben von Übersetzungen einhergehen. Übersetzen wird

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dabei als transkulturelle Kulturtechnik erkannt und kann verschiedene Deutungsweisen und Korrektheit vs. Angemessenheit besser evaluieren helfen. Für einen Perspektivwechsel ist es notwendig, nicht nur Inhalte zu vermitteln, sondern auch vorgefundene Gegebenheiten einzubinden, zu diskutieren, Vergleichbarkeit, Übertragbarkeit, Verstehen und Missverstehen zu prüfen. Geeignete Kombinationen von literarischem Kanon und zeitgenössischer Literatur sind in einer zukunftsweisenden sowie historisch umfassenden Germanistik wesentlich. „Der ‚Kanon‘ ist eines der zentralen Themen der interkulturellen wie der postkolonialen Studien. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach Kriterien im Rahmen eines evaluativen Umgangs mit Literatur.“ (Uerlings 2017, 105). Wesentlicher als die eigentliche Auswahl des geeigneten Stoffes ist es, ein Bewusstsein für die Kontextualisierung und Verfasstheit von Literatur zu schaffen und dabei den Dialog anzuregen sowie bei Studierenden ein Fragebedürfnis zu wecken. Dies kann besonders in der Projektarbeit gelingen, wie folgende Projekte während der vergangenen Semester an der German Section UCT gezeigt haben: Online Gespräch-Interview mit DaF/DaZ-Studierenden der Universitäten Flensburg und Kiel; Aktive Teilhabe an Komponenten des Unterrichts; Übersetzungsprojekt Darstellendes Spiel/Szenische Lesung, Podiumsdiskussionen, Fachvortrag, kreative Gestaltungsräume im Rahmen kultureller Veranstaltungen. Wesentlich für die gelingende Arbeit ist dabei eine gewisse Zugänglichkeit, Offenheit und Gesprächsbereitschaft der Dozierenden, die nicht in der Rolle agieren, ‚letzte Wahrheiten‘ zu vermitteln, sondern Plausibilitäten und Konsensfähgkeit von strittigen Fragen und Ergebnissen gemeinsam erproben, u. a. auch durch das Erarbeiten von Argumentationstechniken. Die Aufgabe der Lehrenden besteht darin, Wissen zu vermitteln und zur Eigeninitiative anzuregen, ohne paternalistisch zu agieren (vgl. Grobbelaar 2017). Dazu gehört es ebenfalls, Kreatives Schreiben in das Unterrichtsgeschehen zu inkludieren, und darauf zu achten, dass es nicht Mittel zum Zweck oder eine isolierte Aktivität bleibt, sondern an das übrige Unterrichtsgeschehen angebunden wird. Gleiches gilt für das Verfassen von Portfolios der Studierenden, das sie zu einem Reflexionsprozess über ihre individuelle Progression anregen soll. Es geht also nicht nur um die ‚Aneignung‘ eines vermeintlich fremden Sprach- und Kulturraumes: „Die Anforderungen an den fremdsprachlichen Unterricht mit Literatur müßten also wie folgt definiert werden: Der Unterricht muß den Lerner befähigen, vor allem sprachliche und interkulturelle Hürden mit Hilfe dieses Handwerkzeuges überwinden zu lernen.“ (Meliss 1993, 161) Dies kann in einem zeitgemäßen didaktischen Projekt nicht mehr nur die klassische Herangehensweise an Literatur als übergeordnetes Ziel bedeuten: Dieses übergeordnete Ziel läßt sich in folgende Teilziele auffächern: – Ausgewählte literarische Texte einiger bekannter SchriftstellerInnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kennenlernen; – wesentliche Aspekte von Inhalt und Formsprache deutschsprachiger Ge-

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genwartsliteratur erkennen lernen; – Einblicke in Lebensgefühl und Lebensweise im gegenwärtigen deutschsprachigen Kulturraum gewinnen; – Analysen-, Fremdverstehens- und Interpretationskompetenz aufbauen; – ästhetisches Empfinden fördern und differenzieren; – vergleichend unter Rückgriff auf Erfahrungen mit Literatur der Heimatkultur/-en interkulturelle Dimensionen von Literatur (Ähnlichkeiten/Unterschiede) erfassen; – interkulturelles Lernen fördern; – über einen literarischen Text auf Deutsch sprechen lernen; – das eigene fremdsprachliche Ausdrucksvermögen durch den Umgang mit deutscher literarischer Sprache erweitern und vertiefen […]. Um den Literaturunterricht jedoch nicht als reine „Erlebnisdidaktik“ (Pfeiffer 2003, 199) durchzuführen, ist auf ein angemessenes Maß an Analyse- und Interpretationsarbeit zu achten. Dabei sollte nach einer zunächst eher identifikatorischen Lese- und Kommunikationshaltung allmählich eine distanzierte und kritische ästhetische Reflexionskompetenz aufgebaut werden. (Tütken 2006, 58)

Vielmehr geht es darüber hinaus um eine individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung von stereotypen Zuschreibungen, die sowohl Lehrende wie Lernende umfasst.

4.2 Diskursive Arbeit mit Literatur Die Arbeit mit zeitgenössischer Literatur und vor allem mit Texten, in denen das Interkulturelle, Migrantische als besonders virulent erscheint, kann im Sinne einer dekolonisierenden Didaktik vielversprechend und fruchtbar sein. „To experience transdifference means to be confronted with at least two divergent systems of belonging that cannot be reconciled. The construction of a relatively stable identity is impossible.“ (Kalscheuer 2013, 186). Die Kategorie der Identifikation spielt bei solcher Lektüre durchaus eine Rolle: Aufgrund der gesellschaftlichen Probleme in Südafrika, die geschichtlicher wie auch manchmal kultureller Art sind und häufig eine Auswirkung auf die jungen Menschen im Lande haben, bietet die Auseinandersetzung mit Literatur in einer Fremdsprache eventuell einen Freiraum, um Themen zu diskutieren, die vielleicht in der Familie oder auch im größeren kulturellen Raum noch tabuisiert sind. (Thorpe 2014, 36)

Diese Kategorie der Identifikation sollte im Sinne einer holistischen, facettenreichen Beschäftigung mit Literaturen unterscheidlicher Provenienz, die idealiter darüber hinaus auch ‚klassische‘ Kategorien wie Epochen-, Gattungs- und Genrefragen in einer angemessenen Konzeption von ‚Literaturgeschichte‘ diskursiv mit in den Blick nimmt, allerdings auch nicht überbewertet werden. „Statt die Figuren der Migrationsliteratur nur als (trans‐)migrierte zu sehen, sollten sie vielmehr auch in ihrem Verhalten als Individuum, Familien- und Mitmensch sowie BürgerIn innerhalb sozialer, regionaler und (inter)nationaler Kollektive analysiert werden.“

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(Laudenberg 2016, 242)⁵ Die frühere Annahme von statischen, voneinander scharf abgegrenzten Kulturräumen, in denen feste Identitäten verankert seien, haben sich als unhaltbar erwiesen. „Sie fordert Gegenmodelle heraus, wie sie etwa im Feld der Literatur zur Ausgestaltung kommen: die Annahme und Anerkennung von vielschichtigen Mischungs- und Überlappungsräumen zwischen Kulturen, die das Konzept einer Interaktionsoffenheit kultureller Differenzen verlangen.“ (Bachmann-Medick 2004, 263) Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: ‒ Nicht die Sprache kommt zuerst und dann die Literatur, sondern beide können einander ergänzen; ‒ Normative Literaturdidaktik ist in einer komplexen globalisierten und pluralen Welt nicht hinreichend; ‒ Weltwissen, historisches Kontextverständnis und Subjektiviät müssen erfahrbar sein und gehen mit kommunikativem Sprachunterricht einher; ‒ Studierende als Subjekte, die zum Unterrichtsgeschehen beitragen (empowerment); ‒ Sie werden ermutigt, selbst Bezüge herzustellen, indem Dialog ermöglicht wird; ‒ Didaktischer Ansatz und Kommunikation: inklusiv und interkulturell/postmigrantisch, postkolonial, Hegemonien offenlegend und diskutierend; ‒ Bewusstmachen eigenkultureller Prägung und stereotyper Wahrnehmungen; ‒ Die Frage nach der Unterrichtssprache umfasst auch das Thema Mehrsprachigkeit. „Lernen, als kritischer Umgang mit den eigenen Vorurteilsstrukturen, wurde als eine Möglichkeit definiert, mit der Welt in Beziehung zu treten, ohne einem Mythos der absoluten Erkenntnis zu verfallen.“ (Schröder 2020, 78)⁶ Und dazu zählt nicht zuletzt die Bewusstmachung konstruktivistischer Praktiken: „Lernen verpflichtet uns jedoch, eine Position zu wählen, die einen möglichen Anfang der Systematisierung bei gleichzeitiger Dekonstruktion markiert.“ (Schröder, 78) Postmigrantische und Postkoloniale Ansätze haben das Augenmerk auf historisch entstandene gesellschaftliche und strukturelle Hegemonien gerichtet, die es im Sinne einer Auflösung von Machtasymmetrien sowie zur Erreichung von mehr Mitsprache und Mitgestaltungsmöglichkeiten für marginalisierte Gruppen auszulösen gilt.

5 In Laudenbergs Analyse, die sich für inter-, trans- und synkulturelle Zugänge ausspricht, spielen indessen postmigrantische Aspekte keine Rolle. 6 Vgl.: „Der Mensch lernt – Lernen ist universell – andere, konkret: Eltern, Erzieher*innen, Lehrkräfte, leiten den Menschen in seiner frühen Entwicklung an, sind aber gleichzeitig ein Konglomerat kultureller Einflüsse, denen der Lernende vom Zeitpunkt seiner Geburt an ausgesetzt ist.“ (Schröder 2020, 61)

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4.4 Kommunikation und Empowerment Anstatt einer identifikatorischen Lese- und Kommunikationshaltung sollte von Anfang an eine distanzierte und kritische ästhetische Reflexionskompetenz entwickelt werden, die als transkulturell beschrieben werden kann: „I would prefer the term transcultural communication, for it better fits the ‚moving through and across cultural systems‘, which is to be observed everywhere – even if it is influenced by existing power relations, which do not lose their relevance.“ (Kalscheuer 2013, 187). Viel mehr Bedeutung, als gemeinhin angenommen wird, gewinnt dabei die Art und Weise, wie im Unterricht kommuniziert wird. „Der Umstand, dass Lehrkräfte die Kommunikation von Fachinhalten mit einer überzeugenden Kommunikation ihres Lehreranspruchs beglaubigen müssen, ist für sich genommen schon ein anspruchsvolles und subtiles Unterfangen.“ (Lilienthal 2020, 382) Dies gilt umso mehr, je mehr die Studierenden selbst zu aktiven Subjekten des Unterrichtsgeschehens werden sollen: In der Vermittlung von Fachinhalten bzw. Kompetenzen wird der Lehrperson eine systematische Verschränkung von Initiative und Zurückhaltung abverlangt: Einerseits ist es ihr institutionell aufgetragen, einen bestimmten Stoff verbindlich darzureichen, andererseits weiß sie um die psychologisch-pädagogische und damit auch kommunikationstechnische Notwendigkeit, das eigene Einwirken so unaufdringlich wie möglich zu gestalten, damit idealiter ein freies selbsttragendes Interesse am Unterricht entsteht. (Lilienthal 2020, 382)

Die Partizipation an weiten Teilen des Unterrichtsgeschehens als ‚Diskurspartizipation‘ (Zabel 2022) stellt somit eine der wesentlichen Komponenten dekolonisierender Bildung dar. Während ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Teilhabe‘ im deutschen Sprachraum Begriffe sind, die eng mit den Persönlichkeitsrechten verbunden sind, ist der Begriff Empowerment im afrikanischen Kontext unter dem Einfluss der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung eher von dem Impetus geprägt, sich von den Beschränkungen durch die vorherrschende weiße Bevölkerung zu befreien und dadurch Selbstwirksamkeit zu erfahren. Empowerment, Selbstbestimmung und Teilhabe sind ursprünglich politisch konnotierte Begriffe. Teilhabe etwa wird im politischen Kontext zumeist als „politische Teilhabe“ oder „politische Partizipation“ verstanden, Selbstbestimmung wird eng verknüpft mit Artikel 2 des Grundgesetzes – dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Alle drei Begriffe sind in Zusammenhang mit den Ansprüchen und den Befreiungsbemühungen marginalisierter Gruppen und Minderheiten entstanden und haben von dort aus die Zielsetzungen pädagogischer, insbesondere sonderpädagogischer Arbeit beeinflusst, wo sie auch als Leitprinzipien für die Umsetzung von Inklusion unverzichtbar geworden sind. Der politische Ursprung und

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die politische Dimension, die diesen Begriffen innewohnen, dürfen jedoch nicht aus dem Blick geraten. (Lindmeier und Meyer 2020, 38) Im Zuge der gegenseitigen Beeinflussung von Bürgerrechts- und Frauenbewegung – die nur bedingt nationalen Grenzen unterlagen – kam es im pädagogischen Sektor zu einer Neugewichtung: „Nach der Übernahme des Empowerment-Konzepts in die pädagogische Arbeit kam es zu einer schwerwiegenden Verschiebung der Begriffsbedeutung: Nicht mehr die eigene politische Arbeit selbst sollte die Betroffenen stärken, sondern zielgeleitetes pädagogisches Bemühen.“ (Lindmeier und Meyer 2020, 39) Empowermernt, heute ein zentraler Begriff im didaktischen Selbstverständnis einiger südafrikanischer Universitäten, wird wiederum als politisch unterlegtes Konzept verstanden, Studierende (und dabei vor allem benachteiligte Gruppen) im Lernprozess zu Selbstwirksamkeit und Teilhabe zu befähigen. Mitunter ist darunter allerdings auch schlicht das Fitmachen für den Arbeitsmarkt zu verstehen. Therefore students are equally responsible to shape the quality of their learning experiences. Empowered students have the ability to make informed and correct choices with regard to institutions and programmes, but they can also play a positive role in promoting and enhancing the quality of education processes and outcomes. Learner involvement, engagement and empowerment. (Venter 2006)

5 Ausblick: Professionalisierung Während im tertiären Bildungsbereich Südafrikas im Sinne der ‚Transformation‘ seit einigen Jahren vor allem schwarze Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden sollen, gibt es auch kritische Stimmen: Almost two decades ago, in a paper on related matters, I had drawn attention to the fact that in post-colonial Africa the Africanization or localization (as it is sometimes called) of positions which were previously held by colonial personnel does not in itself necessarily translate as outstanding progress. It must be remembered that Africanization wherever it has been pursued on this continent is a policy which mainly affects the fortunes of the elites. Be that as it may, in as far as it is defined by the ascendency of previously deprived groups and interests, it represents progress; but limited progress which needs to be recognized for what it is. My argument in 1999 had been that; Africanization is a must, if South Africa is to developmentally move forward. A facilitatory principle for Africanization in South Africa is the policy of Affirmative Action. This latter principle is necessary to redress the deliberately constructed historical imbalances of the past, which were purposely built into the development of South African society, by the white minority government. Coloureds and Indians should be integrally included in the implementation of Affirmative Action. This policy would need to be implemented until a demographically representative balance is achieved in the country. Herein

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lies the connection between Africanization and Affirmative Action. But Africanization in itself is not necessarily a policy which ensures societal development. Needless to say progress, that is, the emancipation and the development of mass society is not achieved by the mere replacement of white faces by black ones. If this was the case development would have come to Africa soon after the end of colonialism, a half century ago. (Prah 2017, 2)

Südafrika ist ein Land, das neben dem historischen Erbe, das auch mit der Born Free-Generation noch nicht überwunden ist,⁷ und in dem die Rede von der ‚Rainbow Nation‘ vielfach massive gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit bloß zu beschönigen scheint, im alltäglichen Umgang mit Krisen und einer ganzen Reihe von Katastrophen offenbar erprobt ist. Aufgrund von Misswirtschaft sind Stromausfälle inzwischen an der Tagesordnung, in einigen Gegenden finden regelmäßig Anschläge auf die ohnehin schwache Infrastruktur statt – von der hohen Kriminalitätsrate und ‚Gangsterism‘ ganz zu schweigen. Darüber hinaus haben die globalen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie weitere Opfer gefordert und das Land, in dem es kein tragfähiges Gesundheitssystem gibt, weiter geschwächt. Die Duldsamkeit und Anpassungsfähigkeit vieler Südafrikaner sowie der unzähligen Migranten, die sich hier ein besseres Leben aufbauen wollen, ist allerdings ebenfalls bemerkenswert.⁸ Zum Überleben des Faches Deutsch hat in den vergangenen Jahren Carlotta von Maltzan u. a. folgende Überlegung angestellt: Die Bildungslandschaft ist im Hinblick auf die Rolle, die den Fremdsprachen im Kontext der neuen Sprachenpolitik zugewiesen worden ist, unausgewogen und trotz begrüßenswerter Ansätze das allgemeine Bildungsniveau zu heben und allen Lernern gleiche Chancen zu bieten, widersprüchlich. Zwar sind in der Verfassung Sprachenpluralismus und transkulturelle Kommunikation als Werte festgeschrieben, doch besonders an Schulen werden durch die Vorschrift, zwei dieser Sprachen als Fächer zu belegen insbesondere die Amtssprachen gefördert, wobei in der Praxis vor allem Englisch eine Vorrangstellung einnimmt. (von Maltzan 2018, 212, 213)

Ingrid Laurien reflektierte mit Blick auf die Zukunft des Faches Deutsch ebenfalls über den Stellenwert von Mehrsprachigkeit des Landes: „Auch das Fach Deutsch kann nur überleben, wenn es eine Perspektive bietet, zumindest aber einen Aspekt der Orientierung in einer multikulturellen diversifizierten südafrikanischen Gesellschaft.“ (Laurien 2006, 442) Und umgekehrt können mittelfristig manche didaktisch-akademischen Entwicklungen in Südafrika auch als Modell für den Um7 South Africa’s Post Apartheid Generation (2014) – YouTube; What should South Africa do with its monuments to apartheid? – YouTube 8 Die kommende Tagung der GAS (Germanistik in Afrika Subsahara), die für März 2023 in Benin angesetzt ist, beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Thema Resilienz: ‚Werte, Herausforderungen und nachhaltige Resilienz im internationalen Kontext. Ein interkultureller Blickwechsel aus Afrika?‘

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gang mit Vielsprachigkeit, Multikulturalität und einer pluralen Gesellschaft in Europa dienen. Darüber hinaus wird auch in einer globalisierten Welt oftmals unterschätzt, welchen Einfluss Entwicklungen, die vermeintlich ‚nur‘ in Afrika stattfinden, wiederum auf die Kulturräume Europas und Amerikas haben können. Nach Criser und Malakaj (2020, 7) fordere das Bestreben nach mehr Diversifizierung und Dekolonisierung der akademischen Sphäre ein weitreichendes Engagement: „[…] a commitment to diversity and decolonization requires work toward making classrooms, offices, and conferences more equitable, just, and inclusive.“ Demnach gelte es nicht nur die Beschränkungen der akademischen Lehre und Forschung durchlässiger zu machen, sondern mit Neumann (2020, 192) auch das Konstrukt ‚postkolonial‘ fortwährend kritisch zu hinterfragen: „To overcome the constraints of the term ‚postcolonial‘ and to capture the polycentric networks in which postcolonial literatures are embedded, some scholars have called for a transcultural shift, which moves beyond the older models of West-rest relations.“ Von der Defizit- und Problembetrachtung hin zu einer Modellbeschreibung einzelner didaktischer Ansätze, Beobachtungen und Projekte⁹ zu gelangen, ist sicherlich nichts, was über Nacht geschehen kann, dennoch gilt: „Auch das Fach Deutsch als Fremdsprache in Deutschland könnte von Erfahrungen in Südafrika profitieren […].“ (Laurien 2006, 445) Der Gefahr, in seinen Deutungen von Stereotypen beherrscht zu werden, die – wenn auch unbeabsichtigt – von Essentialismus und Identitarismus beeinflusst sein können, kann m. E. nur entgangen werden, indem sich die beteiligten Subjekte der Komplexität und Mehrdimensionalität von Verständigungsprozessen öffnen, und dazu gehört vor allem auch die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Graden der Konstruiertheit und Vielschichtigkeit von Literatur, die zur Überwindung von eindimensionalen Zuschreibungen durch Reflektieren anregt. Bildung soll im Idealfall Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, Diskursfähigkeit und Weltbürgertum im emphatischen Sinne zum Ziel haben; Eigenschaften, die beim konstruktiven Umgang mit Krisen und Umbrüchen unabdingbar sind.

9 Kolleg*innen trafen sich am 16.–19.11. 2022 in einem Workshop zu Deutsch als Fremdsprache an Hochschulen im südlichen Afrika in Pretoria, woraus weitere praxisorientierte Forschungsprojekte hervorgegangen sind. Und an der German Section UCT wird 2023 ein Kolloquium zur dekolonisierenden Deutschdidaktik stattfinden.

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IV Postkoloniale Analyse literarischer (Kon‐)Figurationen und Reflexionen von Gewalt

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Der heuristische Vorteil der Marginalität Postkoloniale Perspektiven auf die europäischen Literaturen

1 Einleitung Im Rahmen der Literaturkritik in Europa scheint die postkoloniale Theorie in erster Linie eine theoretische Grundlage und Kategorien für die Konfiguration der aufstrebenden Literatur, die von Schriftstellern aus den ehemaligen Kolonien produziert wird, geliefert zu haben.¹ Tatsächlich bezieht sich der Begriff postkolonial hier auf ein Korpus, genauer auf die Gesamtheit der literarischen Produktion in europäischen Sprachen in den Ländern des Südens. Der postkoloniale Ansatz ermöglicht es somit, die bislang beobachteten Sackgassen in der Geschichte dieser Literaturen zu überwinden. In der Tat, so stellt Jean-Marc Moura (1998) fest, neigt diese Literaturgeschichte vor allem in Frankreich dazu, diese Literaturen als Verlängerung der europäischen Literaturen zu betrachten.² Die postkoloniale Theorie ermöglicht es, eine Methode zu entwickeln, die der Besonderheit der verschiedenen Literaturen Rechnung trägt, insbesondere was ihre anthropologische, soziologische und historische Verankerung betrifft. In dieser Hinsicht ermöglicht es die postkoloniale Kritik, die Literatur maghrebinischer oder schwarzafrikanischer Autoren als Ausdruck oder Konstruktion einer eigenen Identität zu untersuchen, die es zu erfassen gilt, damit der Text seine volle Bedeutung entfalten kann. Dieser Ansatz, der die postkoloniale Kritik auf ein bestimmtes Korpus beschränkt und sie zu einem kulturwissenschaftlichen Ansatz macht, entspricht sehr wohl einer Tendenz der Theorie, wie sie in den USA, Indien und Afrika entwickelt wurde. Die postkoloniale Theorie ist jedoch weit davon entfernt, monolithisch zu sein. Im Gegenteil zeichnet sie sich durch ihre Vielfalt aus. Gerade die Schriften jener als grundlegende Klassiker der postkolonialen Theorie geltenden Autoren weisen Elemente auf, die zeigen, dass dieser Ansatz anfangs einen ganz anderen Zweck verfolgte als heute. Bezieht man sich auf das Korpus, so wird etwa bei der Lektüre von Edward Saids Werken wie Orientalism (1979) und Culture and Imperialism (1993) deutlich, dass es dem Autor an erster 1 Dieser Beitrag ist die leicht überarbeitete und aktualisierte Version eines in Théorie continentales erschienenen Artikels (vgl. Simo 2014). 2 Vgl. „Postcolonialisme et comparatisme“, https://sflgc.org/bibliotheque/moura-jean-marc-postcolo nialisme-et-comparatisme/ (10. Dezember 2022) https://doi.org/10.1515/9783111181530-011

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Stelle um bestimmte Texte der europäischen Literatur geht. Dafür musste er Kritik einstecken. Doch diese Kritik beruht auf einem Missverständnis. Said und viele andere postkoloniale Kritiker sind in erster Linie Komparatisten, die nach einer Methode suchen, um europäische Texte zu lesen. Sie haben das gleiche Anliegen wie etwa Toni Morrison (1992), die nach einem Raster für die Lektüre der klassischen amerikanischen Literatur sucht.

2 Gründe für die Konstruktion eines nicht-europäischen und nicht-amerikanischen akademischen Blicks Warum geben sich diese Autoren nicht mit den vorherrschenden Ansätzen zufrieden? Zunächst einmal wegen einer doppelten Unmöglichkeit, die sie nicht immer klar formulieren, die aber deutlich wird, wenn man ihren Werdegang analysiert. Die erste Unmöglichkeit ergibt sich aus einem komplexen Beziehungsgeflecht, das eine Dynamik von Ein- und Ausschluss konstruiert, bei der Einschlusskriterien zwar formuliert werden, aber ständig Gegenstand einer Revision sind, die sie unwirksam macht. Alle diese postkolonialen Kritiker sind Professoren an amerikanischen Universitäten, aber sie sind nicht-amerikanischer oder nicht-europäischer Herkunft. Selbst wenn sie die Anforderungen für die Aufnahme in diese Kaste erfüllt haben, müssen sie immer wieder die Erfahrung machen, dass sie, anders als ihre Kollegen europäischer oder amerikanischer Herkunft, niemals vollständig Mitglied dieser Kaste sein werden. Sie bleiben besondere Mitglieder. Die Bemerkung, die der Schriftsteller Ludwig Börne 1832 in einem ganz anderen Zusammenhang machte, bringt dieses Wechselspiel der Beziehungen besser als jede Analyse zum Ausdruck: Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der Dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus. (Börne, zit n. Kwiet et al. 1985, 42)

Dieses Beziehungsspiel, das zunächst vom Blick der Umwelt auf den Fremden zeugt, ungeachtet der eigenen Strategie des Fremden, zeigt die Unmöglichkeit, sich im Kontext der Globalisierung einfach in einer neu zusammengesetzten Gemeinschaft aufzulösen, und zwar aufgrund von Identitätsreflexen, die bestimmte Individuen als andere, anders, fremd charakterisieren. Diese Konfiguration spiegelt ein Kräfteverhältnis wider und konstruiert einen Zwischenraum, in dem das Fremde, das

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ständig ein Unterscheidungsmerkmal behält, platziert und verwaltet wird. Dieses Unterscheidungsmerkmal ist Rasse, Kultur oder Herkunft. Stillschweigend oder explizit wird eine Europäität oder ein Amerikanität konstruiert, die die oben erwähnten postkolonialen Kritiker unvermeidlich ausschließt. Letztere werden als Angehörige einer ethnischen Gemeinschaft eingestuft. Werner Sollors (1995) hat eine sehr aufschlussreiche Analyse der Verwendung der Wörter „ethnisch“, „Ethnizität“, „Ethnie“ im amerikanischen Kontext vorgenommen. Er erwähnt das Wiederaufleben einer Bedeutung, die den etymologischen Gebrauch dieses Wortes prägte, insbesondere in Griechenland, wo es verwendet wurde, um unter der Vokabel ethnos, „den Nicht-Griechen“ zu bezeichnen. Im Englischen rutschen die Begriffe ethnic und ethnicity von der Bedeutung „nichtisraelitisch“ in der Übersetzung des Wortes ethnikos in der Bibel in die Bedeutung „nicht-christlich“. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird es zwar allgemein als Synonym für Rasse, Volk oder Nation verwendet, aber die englische Sprache behält die Bedeutung „nicht-christlich“ bei, die säkularisiert wird, um „das Andere“, „das Nicht-Standardisierte“ zu bedeuten, womit in Amerika derjenige gemeint ist, der nicht ganz amerikanisch ist. „Ethnisch“ wird daher für „nicht-amerikanisch“ verwendet. Akademiker, die insbesondere aus Indien, dem Nahen Osten und anderen Teilen der Welt kommen, werden dann für immer als ethnisch bezeichnet. Mir scheint, dass die Situation der Afrikaner etwas anders ist, da sie leicht mit der Gruppe der Schwarzen gleichgesetzt werden können, die später zu „African-American“ wird, einem Begriff, den die Schwarzen durchsetzen, um die ethnische Bezeichnung zu vermeiden, die sie tendenziell aus der Amerikanität ausschließen würde. Dieser Ausdruck („African-American“), der nach dem Vorbild von „ItalianAmerican“ gebildet wurde, gilt als Anspruch auf die Zugehörigkeit zu Amerika, dessen vielfältige Herkunft behauptet wird. Für einen Akademiker afrikanischer Abstammung ist die Bezeichnung „Black“ oder„African-American“ jedoch auch kein Status, der über die Debatte endgültig entscheidet. Er kann zwar als Amerikaner anerkannt werden, wird dann aber zu einem problematischen Amerikaner, der ein Stigma trägt und dadurch marginalisiert und an den Rand gedrängt wird. Die Unmöglichkeit, sich einfach in eine akademische Tradition einzufügen, resultiert auch aus dem, was Terry Eagleton (1990) die Ideologie des Ästhetizismus nennt, die trotz unterschiedlicher methodologischer Ausrichtungen immer noch die Grundlage für das Lesen literarischer Texte in der westlichen akademischen Welt bildet. Worin besteht diese Ideologie? Bourdieu hat sie im Vorwort zu seinem Buch Les Règles de l’art sehr gut analysiert. Wie er zeigt, wird die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen in einer bestimmten, nach wie vor vorherrschenden universitären Praxis in ein fetischisiertes Objekt verwandelt, das eine devotionale Haltung befiehlt und die Fähigkeit voraussetzt, eine unsagbare Erfahrung eines unsagbaren Objekts zu machen, das von einem individuum inef-

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fabile produziert wird. Das Lesen und Analysieren eines Textes ist demnach Teil einer außergewöhnlichen Erfahrung, die zur „Beweihräucherung und Zelebrierung der Klassiker, zum Kult der Altvorderen und der ‚Gabe der Toten‘“ beiträgt (Bourdieu 1992, 13). Ein solches Unterfangen erfordert, wie Gadamer vorschlägt, dass der Interpret sich selbst in einer Tradition und in einem Horizont verortet, deren unüberschreitbarer Ausdruck der Text ist (vgl. Gadamer 2010, v. a. 281–283). Interpretieren ist also eine exegetische Tätigkeit, die Bedeutungen erneuert und aktualisiert, die sich in einen Weg einschreiben, für den man sich verantwortlich fühlt. Von Literatur zu sprechen bedeutet, das Wesen einer Kultur neu zu definieren, die mal als spezifisch verstanden, mal als universell dargestellt wird, und so zwischen Besonderheit und Universalität eine Äquivalenzbeziehung herzustellen, die die Grenzen eines universellen Daseins andeutet, als dessen Maßstab man sich selbst sieht. Ein solcher Ansatz historisiert nur, um die Antizipationsfähigkeit von Vorfahren besser wahrnehmen zu lassen, die beanspruchen, schon lange vor den heutigen Lesern alles verstanden, alles vorausgesehen und alles gedacht zu haben. Die Vorfahren, deren Herkunft gefeiert wird, werden ein Grund zum Stolz, und diejenigen, die nicht ihre Nachkommen sind, werden aufgefordert, sie sich anzueignen, sie zu übernehmen, um neue Wurzeln und einen neuen historischen Werdegang zu konstituieren. Sich für diese Literatur zu interessieren, wenn man andere Vorfahren hat, wird zu einem Akt der Bekehrung, dessen Erfolg an der Fähigkeit gemessen wird, die devote Haltung einzunehmen, die auf eine intime Zugehörigkeit zu dieser Tradition verweist, sowie auf eine Fähigkeit, Zugang zu dieser Art von ästhetischer Erfahrung zu finden, die innerhalb des westlichen Kulturhorizonts das Vorrecht einer Elite bleibt. Es wird klar, wie unmöglich es für jemanden, der in einem Zwischenraum gefangen bleibt und nie einen Status der Innerlichkeit erreichen wird, ist, eine solche Bekehrung vorzunehmen. Sich zu einem solchen Vorgang zu bekennen, erweist sich nicht nur als unmöglich, sondern in vielerlei Hinsicht auch als problematisch. Das Angebot einer ansonsten unmöglich gemachten Assimilation anzunehmen, bleibt psychologisch schwer zu bewältigen. Es ist daher verständlich, dass Akademiker, insbesondere die aus der Dritten Welt, die doppelte Unmöglichkeit verspüren, sich in eine Welt einzufügen, die sich in erster Linie als männlich und weiß versteht, und dass sie eine Identitätspolitik entwickeln, selbst wenn sie sich in einer so zentralen Institution wie der Universität befinden. Stuart Hall spricht nicht nur in Bezug auf Akademiker, sondern auf Schwarze im Allgemeinen in einem englischen Umfeld von der Position am Rand der Gesellschaft als Folge einer Reihe von politischen und kulturellen Praktiken, die die Repräsentations- und Diskursräume der Gesellschaft regulieren, dominieren und normalisieren (vgl. Hall 1994, 16). Er analysiert die sich daraus ergebenden Konsequenzen, insbesondere auf der Ebene der ästhetischen Kategorien. Auch Gayatri Spivak betont die periphere Po-

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sition, in die sie von vornherein versetzt wird. Denn sie muss als Subalterne sprechen, d. h. eine Rolle einnehmen, die in der Regel vordefiniert ist, z. B. als indische Frau, Intellektuelle aus der Dritten Welt usw. (Spivak 1990, 68–70). Eine solche Erfahrung verstärkt das Gefühl, dass die Verhältnisse keineswegs von kolonialen Praktiken befreit wurden, sondern weiterhin von Reflexen und Vorstellungen geprägt sind, die sich im Laufe der Geschichte herauskristallisiert haben. Die Herausforderung, vor der der Akademiker somit steht, fasst der in Jamaika geborene Soziologe Stuart Hall, ein Vertreter der Cultural Studies, der seine gesamte Karriere in Großbritannien verbrachte, wie folgt zusammen: Wie können wir den unvermeidlichen Dialog mit dem Westen so gestalten, dass wir endlich diejenigen sind, die ihm ohne Terror und Gewalt einen Platz zuweisen? Wie können wir anerkennen, dass die Geschichte uns unweigerlich verändert hat, und gleichzeitig dem imperialistischen Blick des Westens widerstehen? (Hall 1994, 39) Spivak spricht von „epistemischer Gewalt“ (Spivak 1988), die die Trennlinien zwischen Zugehörigkeit und Andersartigkeit festlegt und naturalisiert, genauso wie sie imperialistische, orientalistische, exotisierende und anthropologische Diskurse strukturiert. Die postkoloniale Theorie hat sich zum Ziel gesetzt, sich all diesen Herausforderungen zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, versucht sie, eine Perspektive zu erarbeiten, von der aus man sprechen kann, d. h. einen Ort, von dem aus man die Kohärenz seines Blicks organisieren kann. Dies geschieht in erster Linie, um sich den vordefinierten Rollen zu entziehen, auf die die „epistemische Gewalt“ diesen Blick einzuengen versucht. Die Notwendigkeit der Positionierung ergibt sich aus der Ablehnung der peripheren Position und dem Willen, sich selbst als Zentrum zu begreifen, wie Spivak es ausdrückt (vgl. Spivak 1990, 41). Der postkoloniale Diskurs ist also ein Gegendiskurs, aber er ist nicht einfach eine Umkehrung der Begriffe des herrschenden Diskurses, wie es in nativistischen Diskursen wie dem der Négritude der Fall ist. Er zielt darauf ab, die Kategorien des herrschenden Diskurses zu transzendieren und neue begriffliche Werkzeuge zu entwickeln. Und diese Arbeit erfordert eine Dekonstruktion des herrschenden Diskurses mit dem Ziel, ihn zu historisieren und dabei zu zeigen, inwiefern er Teil eines allgemeinen Dispositivs der Unterwerfung und der Herrschaft ist. Zwar ist der postkoloniale Ansatz, wie bereits erwähnt, pluralistisch. Einige Versuche, eine Perspektive zu definieren, bleiben jedoch essentialistisch und nehmen die Archäologie eines permanenten und ahistorischen Selbst vor, das durch die entkulturierende und akkulturierende koloniale und imperiale Praxis bedroht sei. Die Wiederherstellung der Identität erscheint demnach in erster Linie als eine Anamnese, als Wiederbelebung des ehemals Dagewesenen. Die ausgereiftesten Positionen des postkolonialen Diskurses distanzieren sich jedoch von einem solchen Ansatz und betonen den Konstruktcharakter von Identität. Demzufolge ist Identi-

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tätsbildung Teil eines strategischen Ansatzes, der auf Herausforderungen reagiert, die sich aus der Geschichte ergeben.

3 Wesen und Funktion einer postkolonialen Identität Stuart Hall vertritt die Ansicht, dass die Begriffe Identität, Kultur und Ethnizität trotz ihrer traditionellen Konnotationen nach wie vor unverzichtbar sind. Man müsse sie allerdings modifizieren und manche problematischen Aspekte davon ausradieren, um sie verwenden zu können. Bis zur Entwicklung einer geeigneteren Sprache ist Stuart Hall der Ansicht, dass die bestehende Sprache dekonstruiert werden muss, um sie von den paradigmatischen Positionen zu befreien, die ihr üblicher Gebrauch und die von ihr konfigurierten theoretischen Konstruktionen herbeiführen. Da in der Sprache, die wir verwenden, bereits Bedeutungen sedimentiert sind, kann die intellektuelle Arbeit nicht darin bestehen, neue Begriffe zu erfinden, sondern vielmehr darin, die bereits vorhandenen Bedeutungen zu identifizieren und zu diskutieren. Um zu denken und zu handeln, sind wir gezwungen, uns im zeitgenössischen Sprachspiel zu positionieren, indem wir eine Haltung der konsequenten Subversion einnehmen. So zeichnet sich die postkoloniale Theorie dadurch aus, dass in ihrer Formulierung Spuren eines alten Diskurses und Elemente eines neu entstehenden Diskurses vorhanden sind. Jede neue Theorie entwickelt sich, indem sie das Erbe, das die verwendeten Konzepte bereits mit sich führen, mit aufnimmt (vgl. Hall 1999). Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Begriffe Kultur und Identität, die für das Unternehmen der Selbstdefinition und -positionierung unerlässlich sind, sondern auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel bei der Entwicklung einer neuen theoretischen Grundlage für das Lesen literarischer Texte. Homi K. Bhabha (2000, 34–36) vertritt in seiner Analyse der epistemologischen Hybridität den gleichen Ansatz. Stuart Hall übernimmt also die Begriffe Rasse, Kultur und Identität, lehnt aber deren essentialistische Konnotationen ab. Für ihn handelt es sich um diskursive Produktionen, um Konstruktionen des Geistes, die zwar Elemente aus der Geschichte verwenden, aber nicht mit einer bereits existierenden Realität verwechselt werden können. Die Selbstkonstruktion ist ein mehr oder weniger bewusster, mehr oder weniger systematischer Akt, der es ermöglicht, sich zu positionieren, sich zu definieren und den Schwindel des Chaos, des Unbestimmten, des Unscharfen und der Angst zu überwinden. Er ermöglicht es, sich selbst als kohärent und dauerhaft wahrzunehmen und eine Weltanschauung zu strukturieren.

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Identität ist weder so vollkommen transparent noch so unproblematisch, wie wir denken. Statt Identität als eine schon vollendete Tatsache zu begreifen, die erst danach durch neue kulturelle Praktiken repräsentiert wird, sollten wir uns vielleicht Identität als eine ‚Produktion‘ vorstellen, die niemals vollendet ist, sich immer in einem Prozess befindet und immer innerhalb – nicht außerhalb – der Repräsentation konstituiert wird. […] Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. […] Kulturelle Identitäten sind […] [k]ein Wesen, sondern eine Positionierung. Daher gibt es immer eine Identitätspolitik, eine Politik der Positionierung, für die es keine absolute Garantie eines unproblematischen, transzendentalen ‚Gesetzes des Ursprungs‘ gibt. (Hall 1994, 26, 30)

Die Konstruktion von Identität ist also ein performativer Akt, der darauf abzielt, auf andere kulturelle Praktiken zu reagieren und sich in einem dialogischen Kontext oder in einem dialektischen Prozess zu positionieren. Um über Europa zu sprechen, musste der postkoloniale Diskurs daher einen Äußerungsraum als Reaktion auf den Raum der Kolonialmetropole definieren. Dieser Äußerungsraum lehnt sich an eine topologische Identität an, die eine Exteriorität gegenüber der europäischen Kultur rekonstruiert und Marginalität in Zentralität verwandelt. Die Behinderung verwandelt sich so in einen Vorteil. Sich der europäischen Literatur von außen zu nähern, bietet die Möglichkeit, Bedeutungen zu entdecken, die die innere Praxis nicht wahrnimmt. Aber diese Äußerlichkeit, das muss noch einmal betont werden, ist nicht essentialistisch gemeint. Sie ist also nicht einfach dadurch gegeben, dass man anderswo geboren wurde. Sie definiert sich in einem Spiel der Beziehungen und bleibt auch von innen heraus zugänglich, wenn man sich die intellektuellen Mittel gibt, die europäische Literaturproduktion nicht von exegetischem Apriori aus zu betrachten, die in derselben Tradition stehen, sondern mit dem Willen zur Distanzierung und kritischen Hinterfragung. Dieser Blick von außen, dessen Möglichkeit auch von der interkulturellen Germanistik eines Alois Wierlacher (1985) postuliert wird, soll konsequent sein und wird ausgehend von der oben hervorgehobenen doppelten Unmöglichkeit, aber auch ausgehend von den strategischen Herausforderungen erprobt werden, die sich aus den internationalen Beziehungen ergeben, in denen sich eine aus der historischen imperialen Praxis und der Funktionsweise der daraus hervorgegangenen globalisierten Welt resultierende Asymmetrie zu naturalisieren droht. Wierlacher neutralisiert jedoch die reale Entstehung eines Blicks von außen: Er verwandelt die Möglichkeit dieses Blicks von außen in einen Moment eines pädagogischen Ansatzes, der der Innerlichkeit wieder eine privilegierte Position verleiht und aus der Äußerlichkeit einen einfachen exotischen Moment macht, der in eine kontrollierte Globalität integriert ist. Der postkoloniale Diskurs will im Gegensatz dazu radikal und zentral sein. Er will aufzeigen, dass die innere Lektüre in bestimmten Fällen und vor allem in Bezug auf bestimmte Texte Teil eines Mystifizierungsunterneh-

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mens sein kann und von einer Kollusion mit imperialistischen oder sogar rassistischen Praktiken zeugt. Wie organisiert sich diese Außenperspektive auf die europäische Literatur in der postkolonialen Kritik? Es lassen sich zwei Richtungen identifizieren. Die eine ist von Said beeinflusst und die andere von Bhabha geprägt.

4 Postkoloniale Kritik europäischer Texte: Der Impuls von Orientalism Der indische Literaturkritiker Pramid K. Nazar (2010) stellt fest, dass der Einfluss von Saids Buch Orientalism auf das moderne Denken mittlerweile mit Darwins Buch über die Entstehung der Arten, Karl Marx’ Kapital und Freuds Traumdeutung verglichen werden kann. Dieses Buch ist unbestreitbar das Gründungswerk der postkolonialen Studien weltweit. Um zu verstehen, worum es in diesem Text geht, ist es wichtig, sich auf Saids Ansatz zu beziehen, wie er rückblickend in mehreren Kapiteln von Culture and Imperialism entwickelt wird. Der Abstand zu Orientalism ermöglicht es ihm nicht nur, einige Missverständnisse, die bei der Rezeption aufgetreten sind, zu korrigieren, sondern auch seinen Ansatz theoretisch zu systematisieren. Es zeigt sich, dass Orientalism in erster Linie das Buch eines Professors für Literatur und insbesondere für vergleichende Literatur in den USA ist. Said stellt fest, dass sich die vergleichende Literatur historisch, aber auch im 20. Jahrhundert, in den USA und Europa durch das Bewusstsein legitimiert, dass eine globalisierte Welt entsteht, die eine zunehmende Interaktion zwischen den Literaturen der Welt hervorbringt. Diese Rhetorik entwickelt gleichzeitig explizit die Idee einer hierarchisch gegliederten Welt mit Europa und seiner lateinischen und christlichen Literatur als Zentrum. In der Lehre und Forschung zur Weltliteratur wird daher als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Europa und die Vereinigten Staaten das Zentrum der Welt bilden, nicht nur aufgrund ihrer politischen Position, sondern auch wegen ihrer Literaturen. Damit wird es möglich, eine Literaturgeschichte auf hegelianischer Grundlage zu entwickeln, d. h. auf der Grundlage teleologischer Überlegungen, die die Zentralität des Westens postulieren, der als logisches und unausweichliches Ergebnis der menschlichen Geschichte dargestellt wird. Die Literatur des Westens kann so auf einer transnationalen und universellen Grundlage untersucht und als etwas Transzendentes bewundert werden, das ein Beispiel für das Beste bietet, was man denken und schreiben kann. Said ist beeindruckt von der Homologie zwischen dieser Weltsicht und einer bestimmten Geschichtsschreibung, vor allem aber zwischen ihr und der kolonialen Geografie. Gleichzeitig wird ihm

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bewusst, dass die Literatur als Teil einer sogenannten kulturellen Sphäre behandelt wird, die nicht nur von der Alltagsrealität, sondern auch von der Geschichte klar getrennt ist und eine ästhetische Erfahrung zulässt, deren einziges Ziel die Freude an der intellektuellen Bereicherung ist. Was ist also mit der festgestellten Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zwischen der Vision eines hierarchischen Weltsystems, die sowohl der Kolonialgeografie als auch der Literaturgeschichtsschreibung zugrunde liegt, anzufangen? Said differenziert zwischen der Perspektive eines Beobachters im Westen, der die Möglichkeit hat, sich der Weltliteratur mit einer Art souveräner Distanz zu nähern, und der Perspektive eines in der Peripherie aufgewachsenen Beobachters, der den Widerstand gegen die westliche Hegemonie und die Kämpfe um ihre Befreiung miterlebt, die ein neues globales Bewusstsein schaffen. So erklärt sich Said die Tatsache, dass er selbst in der Lage ist, die epistemologische Beziehung zwischen bestimmten Diskursordnungen, insbesondere dem kolonialen Diskurs und dem Diskurs der vergleichenden Literaturkritik, zu erkennen, während seine westlichen Kollegen nicht in der Lage zu sein scheinen, eine solche offensichtliche Beziehung wahrzunehmen. Anstatt diese Beziehung zu ignorieren und sich dem vorherrschenden Ansatz seiner amerikanischen und europäischen Kollegen anzuschließen, beschloss er, sie zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen (Said 1993, 45–46). Dieses Bewusstsein wird nicht nur durch seine Biografie und seine Erfahrung gefördert, sondern auch durch die Begegnung mit bestimmten europäischen Autoren, die ihm Kategorien liefern, die er verfeinert und umwandelt, um seinen eigenen Ansatz zu organisieren. In Orientalism bezieht er sich auf Althusser und Foucault, in Culture and Imperialism jedoch vor allem auf Gramsci. Letzterer festigt sein räumliches Bewusstsein im Gegensatz zu Lukács, dessen Marxismus vor allem historisch bleibt. Gramsci hilft ihm auch, die Rolle des Intellektuellen im Prozess der Entstehung kultureller Formationen zu verstehen, ein Prozess, der immer langwierig ist und viele Jahre der Vorbereitung und des Handelns erfordert. Diese Vorstellung von der Rolle der intellektuellen Praxis im Prozess der Bildung und Festigung eines neuen Bewusstseins führt ihn dann dazu, literarische Schriften im Zusammenhang mit anderen intellektuellen Produktionen, insbesondere der Philosophie, Anthropologie, Geografie, Geschichte usw., zu untersuchen. Der Begriff der Hegemonie, der Teil dieses Bewusstseins von der Rolle der intellektuellen Praxis ist und den er auch bei Gramsci entdeckt, ermöglicht es ihm, eine Verbindung zwischen diskursiven Praktiken und der kolonialen Praxis von Herrschaft und Kontrolle herzustellen. Er gebraucht all diese Kategorien, um einen Ansatz zu entwi-

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ckeln, den er als kontrapunktisch ³ bezeichnet, ein Ausdruck, den er aus der Musik entlehnt und wie folgt erläutert: In the counterpoint of Western classical music, various themes play off one another, with only a provisional privilege being given to any particular one; yet in the resulting polyphony there is concert and order, an organized interplay that derives from the themes, not from a rigorous melodic or formal principle outside the work. (Said 1993, 51)

Said schlägt also eine Lesart literarischer Texte vor, insbesondere von Romanwerken, denen er eine relative Autonomie zugesteht, die er aber als Teil eines Ganzen, insbesondere der europäischen Kultur, behandelt. Dadurch wird es möglich, die Verbindungsstellen und den Dialog mit anderen nicht-literarischen Texten aufzuzeigen und so eine europäische Kulturgeschichte zu entwickeln, deren strukturierende Prinzipien, wiederkehrende Motive und zentrale Themen herausgearbeitet werden können. Die europäische Literatur des achtzehnten, aber auch des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts erscheint dann als durch und durch von dem geprägt, was Spivak eine „imperialistische Axiomatik“ (Spivak 1985, 246) nennt, die ihr den Großteil ihrer Themen, Motive und textuellen Perspektiven liefert. In Orientalism analysiert Said, wie der Westen eine Darstellung des Orients als sein Gegenbild entwickelt, ein Bild, auf dessen Grundlage er sein eigenes Selbstverständnis und damit die europäische Identität konstruiert. In Culture and Imperialism zeigt er, wie sich dieser Vorgang in Bezug auf andere Teile der Welt vollzieht. Said entwickelt nicht nur ein Konzept von Literatur als Mittel zur Darstellung, Formulierung und Naturalisierung eines historischen Bewusstseins, sondern zeichnet auch nach, wie sie Teil eines allgemeinen Herrschaftsunternehmens ist, wie es sich in der kolonialen Praxis konkret manifestiert. Seine Schüler, darunter Gauri Viswanathan, haben später gezeigt, wie Literatur im kolonialen Kontext, insbesondere in Indien, als Mittel zur Erziehung und Sozialisierung eines von der europäischen Kultur unterjochten Bewusstseins des kolonisierten Subjekts eingesetzt wird, dessen eigene Literatur ihm dann als Beweis für die intellektuelle Überlegenheit des Kolonialherren erscheint, da er zu erkennen lernt, dass es in seiner eigenen Kultur nichts Vergleichbares oder so Ausgearbeitetes und Erhabenes gibt (Viswanathan 1989). Die Literatur wird also als Beweis für die intellektuelle Überlegenheit des Kolonialherren angesehen. Lange bevor der Unterricht in englischer und europäischer Literatur in England als Studienobjekt eingeführt wurde, um das Volk in einer säkularen Perspektive zu erziehen und damit die Bibel zu ersetzen, wurde er zunächst in Indien erprobt, um junge Inder zu einer Hingabe an

3 Vgl. näher zu diesem Ansatz und seiner literaturwissenschaftlichen Produktivität Dunker 2008.

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die westliche Kultur zu erziehen, d.h. zu einer Zustimmung ihrer eigenen Umerziehung und Transformation. Diese kritische Annäherung an die europäische Literatur und ihren Gebrauch, die bewusst nicht exegetisch sein soll, trägt dazu bei, ihr jeden Anspruch zu nehmen, das Universelle und den Zustand des Menschen auszudrücken, und zeigt stattdessen, dass sie dazu beigetragen hat, den Riss in der menschlichen Gattung zu vergrößern, indem sie sich an einem Unternehmen der Kategorisierung und Hierarchisierung beteiligt hat.

4.1 Eine andere Lesart von Texten der klassischen europäischen Literatur Der von Said eingeleitete Ansatz wird als Orientierung für die Entwicklung zweier Modelle zur Analyse klassischer europäischer Texte dienen, die beide der Dekonstruktion zuzuordnen sind und die Spivak in ihrem berühmten Text Three Women’s Texts and a Critique of Imperialism (1985) untersucht. Das erste Modell besteht darin, den Gegensatz zwischen dem Text und der Biografie des Autors zu verwischen und beide als Schreibbühne zu behandeln, auf der das eine in das andere geschrieben wird. Das Leben, das sich der Autor konstruiert, d. h. das öffentliche Leben des Schriftstellers, wie er es inszeniert, wie er es über die Medien und durch seine öffentlichen Auftritte organisiert, kurzum das Bild, das er von seinem Leben liefert, ist eine Konstruktion im öffentlichen Raum, ebenso wie das Buch, das sich in dem entfaltet, was Spivak die ‚Welt der Veröffentlichung und des Vertriebs‘ nennt, d. h. das literarische Feld, wie es Bourdieu beschreibt. Spivak ist in Bezug auf dieses Modell nicht expliziter, aber wenn man sich auf eine Reihe von Studien bezieht, die von Said und anderen durchgeführt wurden, insbesondere zu Conrad oder Kipling, aber auch zu Camus (vgl. Said 1993, 132–133), kann man sagen, dass es hier darum geht, anhand von biografischen und historischen Elementen den sowohl literarischen als auch sozialen Kommunikationskontext zu rekonstruieren und zu zeigen, wie der literarische Text die Schemata und Anforderungen des Kontextes reproduziert und gleichzeitig dazu beiträgt, ihn zu beeinflussen und neu zu organisieren. Es ist ein Modell, das als solches nicht innovativ ist, auch wenn es den Schwerpunkt auf andere Machtverhältnisse und Probleme legt, die mit der Hervorhebung von Konzepten wie Geschlecht, Rasse, Identität und den auf dieser Grundlage aufgebauten asymmetrischen Beziehungen verbunden sind. Das zweite Modell der Herangehensweise, das Spivak in ihrem Text demonstriert, kann sehr wohl im Dienste des ersten, aber ebenso gut für sich selbst stehen. Es handelt sich um eine kritisch-dekonstruktivistische Lektüre, die sich aus-

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schließlich mit dem Text befasst und darin das identifiziert, was Spivak die „imperialistische Axiomatik“ nennt. Die drei Romane, die sie nach diesem Modell analysiert, sind: Jane Eyre (1848) von Charlotte Brontë, Wide Sargasso Sea (1966) von Jean Rhys und Frankenstein (1818) von Mary Shelley. Interessieren wir uns vor allem für ihre Analyse von Jane Eyre (vgl. Spivak 1985). Dieser Roman wird von angloamerikanischen Feministinnen gewöhnlich als heroische Analyse der Selbstbestimmung der Hauptheldin Jane betrachtet. Dadurch erlangt er eine universelle Bedeutung und wird zum Ort, an dem sich ein grundlegendes Anliegen und Streben der Menschheit manifestiert, von dem Jane nur eine Vertreterin ist. Die Literatur erscheint dann als der Ort, an dem der Marsch des Menschen in Richtung seiner Autonomie und seiner Befreiung von jeder Form der Herrschaft gefeiert wird. Spivak zeigt, dass diese Lesart die Figur der Bertha Mason ignoriert, die im Roman als in einem Zwischenraum zwischen Mensch und Tier angesiedelt dargestellt wird und daher als Janes monströser Doppelgänger erscheint. Wie es der Zufall will, ist Bertha Mason, die als die unergründliche und nicht fassbare Andersartigkeit dargestellt wird, diejenige, der der Status des Menschseins abgesprochen wird, eine weiße kreolische Jamaikanerin. Die Tatsache, dass in der vorherrschenden Kritik alle Aufmerksamkeit auf Jane gerichtet ist und Bertha Mason ignoriert wird, zeugt von der Kurzsichtigkeit dieser Kritik, die ihrerseits auf die Unempfindlichkeit gegenüber einem Subtext zurückzuführen ist, der nicht Gegenstand der Analyse ist, weil er zu einem Unbewussten gehört, das die Wahrnehmung der Kritiker selbst strukturiert. Spivak ihrerseits nimmt die Figur der Bertha Mason im Roman als Spur einer imperialistischen Logik wahr, die es ermöglicht, über das Menschliche zu sprechen, indem man sich auf sich selbst beschränkt und einen Teil der Menschheit in die unentschiedene Andersartigkeit zurückweist, die nur durch eine Arbeit der Bekehrung und Erhebung menschlich werden kann, eine Arbeit, die die koloniale Praxis übernimmt. Dadurch wird es auch möglich, Ungleichheit und Marginalisierung zu legitimieren. So gelingt es Spivak, durch eine unorthodoxe Lektüre von Texten, die angeblich mit der herrschenden Ideologie ihrer Zeit brechen und von der antizipatorischen und emanzipatorischen Fähigkeit der Literatur zeugen, eine Interpretation zu produzieren, die die stillschweigende Einmütigkeit über die imperialistische Vision selbst unter kritischen Interpreten belegt. Damit beweist sie den produktiven Charakter einer Perspektive, die in der Lage ist, das Unbewusste des Textes zu identifizieren, das sich der Einsicht eines innereuropäischen oder amerikanischen Ansatzes entzieht, auch wenn dieser noch so gut gemeint ist. Mehrere andere postkoloniale Studien bestätigen, dass ein Blick von außen auf die Werke klassischer europäischer Autoren Schichten und Bedeutungen aufdecken kann, deren Wahrnehmung eine weniger devote Haltung und ein viel stärkeres Bewusstsein mancher Probleme erfordert. Dies gilt für Chinua Achebe (1977) in seiner be-

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rühmten Lektüre von Joseph Conrads Kultbuch Heart of Darkness ebenso wie für Edward Said in seiner Lektüre von Jane Austens Roman Mansfield Park, für Toni Morrison (1992) in der Lektüre einiger Werke von Hemingway oder Henry James oder für mich selbst in der Analyse von Goethes Drama Iphigenie auf Tauris (vgl. Simo 2002). Diese Art der Lektüre basiert bewusst darauf, dass die Motive und Themen, die üblicherweise als zentral angesehen werden und um die herum die traditionelle und devote interne Kritik eine Interpretation organisiert, welche eine Intentionalität des Autors rekonstruiert, nicht bevorzugt werden. Anstatt das Werk symbolisch als Ort der Epiphanie zu lesen, d. h. der Manifestation einer transzendentalen Wahrheit, die das Genie des Autors in einem quasi-mystischen Moment zu konfigurieren vermag, in dem er die absolute Wahrheit über den Menschen und die Welt erblickt, konzentrieren sich postkoloniale Lesarten auf Themen, die im Allgemeinen marginalisiert werden, auf Motive, die der oft proklamierten Intentionalität widersprechen. Ebenso weisen sie auf bestimmte unausgesprochene Codes hin, die das Werk in die Geschichte einordnen. Die Literatur hört auf, rein und ätherisch zu sein, und enthüllt stattdessen die Spuren von normalerweise als widerwärtig geltenden Praktiken wie Hierarchisierung, Dominanz, Brutalität und Erniedrigung. Wie Said schreibt: Western cultural forms can be taken out of the autonomous enclosures in which they have been protected, and placed instead in the dynamic global environment created by imperialism, itself revised as an ongoing contest between north and south, metropolis and periphery, white and native. (Said 1993, 51)

4.2 Neuschreibung der Literaturgeschichte Diese Desakralisierung, die, das sei angemerkt, durchaus unter Beachtung des Talents und der kreativen Fähigkeit der Autoren erfolgt, hat nicht nur zu einer neuen Art und Weise geführt, bestimmte klassische Texte zu lesen, sondern auch zu einer neuen Geschichtsschreibung des intellektuellen Weges, den das Werk eines Schriftstellers darstellt. Inspiriert von der postkolonialen Kritik schlug beispielsweise der österreichische Romanist Fritz Peter Kirsch eine Erneuerung der Literaturgeschichte im Zeichen der Interkulturalität vor. Unter dem Titel Faut-il francophoniser l’histoire littéraire de l’Hexagone? entwirft er eine Neuschreibung von Victor Hugos Werdegang (vgl. Kirsch 2000, 33–34). Kirsch distanziert sich von der zeitgenössischen Hugo-Kritik, die sowohl in Europa als auch in Amerika praktiziert wird und Hugo auf weltfremde Höhen stellt, von wo aus man diesen großen Fluss des Schreibens beobachten kann, wie er auf das ‚Meer‘ der Weltliteratur zurollt (vgl.

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Kirsch 2000, 35). Kirsch ist der Ansicht, dass Hugo in seinem Jahrhundert und seiner Zeit lebt und schreibt und dass er in der Lage ist, die Welt zu verstehen und zu begreifen. Er weigert sich, ihn zum „scripteur génial“ zu stilisieren und beabsichtigt, „de l’installer allègrement dans son siècle et dans son histoire littéraire afin de mieux comprendre ce qui nous limite nous-mêmes dans notre hic et nunc.“ (Kirsch 2000, 35) Kirsch stellt also fest, dass die Unfähigkeit der europäischen und amerikanischen Literaturhistoriker, eine Perspektive zu finden, die es ermöglicht, den kolonialistischen Redner und den genialen Bildermacher zu einem lebendigen und kohärenten Ganzen zu verschmelzen, gerade darauf zurückzuführen ist, dass sie selbst in derselben Weltsicht wie Victor Hugo verhaftet bleiben (vgl. Kirsch 2000, 35). Kirsch distanziert sich von einer solchen Sichtweise dank seiner profunden Kenntnis der Literaturen der Minderheiten, insbesondere der okzitanischen Literatur in Frankreich mit dem Spiel der Beziehungen zwischen dem zivilisierenden und integrierenden Zentrum und den Peripherien, die Widerstand leisten oder sich akkulturieren. Seine Kenntnisse der maghrebinischen und schwarzafrikanischen Literaturen sowie der antikolonialen Debatte ermöglichen es ihm auch, die Literatur Hugos, aber auch die gesamte französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts mit der Distanz eines Said zu lesen, ohne jedoch dieselbe Perspektive einzunehmen. Er versucht, die Literaturgeschichte als „projet collectif émanant d’une élite prenant la parole au nom d’un peuple“ (Kirsch 2000, 36) zu betrachten. Es handelt sich um einen Ansatz, der üblicherweise bei der Kritik der sogenannten „kleinen“, „frankophonen“ usw. Literaturen angewandt wird. Die Literaturgeschichte Frankreichs als Bestandteil der Literaturgeschichte der Frankophonie darzustellen bedeutet, sie in ihrer Beziehung zur imperialistischen Realität und mit denselben konzeptuellen Mitteln zu schreiben, die zur Erklärung der frankophonen Literatur verwendet werden. Es geht also darum, die übliche methodologische Dichotomie zu überwinden, die darin besteht, zwei unterschiedliche Leseraster zu entwickeln, die einerseits auf die Literatur Frankreichs und andererseits auf die Literaturen der ehemals von Frankreich kolonisierten Länder angewendet werden. Wie János Riesz (1983, 9), ein weiterer deutscher Romanist und Komparatist, ist Kirsch der Ansicht, dass die europäischen Literaturen das „produit d’un continent de colonisateurs“ (Kirsch 2000, 36) sind. Es geht nicht darum, sich in oberflächlichen Polemiken zu verstricken, sondern ins Herz der Inspiration und des Schaffens Hugos vorzudringen und dessen zentralen Kern zu erkennen: die Antithese zwischen Zivilisation und Natur. Mit dieser Feststellung steht Kirsch im Einklang mit den üblichen Hugo-Forschung, doch er weicht von ihnen ab, wenn er diese Gegensätzlichkeit mit der kolonialistischen Auffassung in Verbindung bringt: Dans tous les textes hugoliens, avec des modalités différentes, il est vrai, la nature „sauvage“ (à la fois abîme et mystère cosmique) surgit pour manifester sa puissance d’anankè avant de se

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faire vaincre matériellement ou moralement par la lumière émanant de la civilisation qui, grâce à cette victoire, se trouve renforcée dans son essence une et indivisible. (Kirsch 2000, 42)

Dieser „eurocentrisme de Prométhée“ wurzelt laut Kirsch „dans les zones les plus intimes d’une culture dominante, là où les périphéries de la production et de la réception littéraire se trouvent englobés dans l’unité à la fois mouvante et stable d’une conscience nationale élaborée au cours des siècles sans subir d’ébranlement définitif“ (Kirsch 2000, 42). Diese ‚normalisierende Vision von Mensch und Welt‘, die Hugo dazu veranlasst, von einem Zentrum der Zivilisation, das aus Europa mit Frankreich als Herzstück besteht, und einer barbarischen Peripherie, die zur Assimilation aufgerufen ist, auszugehen, stellt somit das zentrale Motiv der französischen Literatur dar. Kirsch hält dies zumindest für eine Hypothese, die literaturgeschichtliche Forschungen, die sich mit dem Zeitraum von der Romantik über die Konzeption des ‚l’art pour l’art‘ bis hin zum Symbolismus befassen, verifizieren oder neu formulieren könnten. All diesen von Said inspirierten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einer Kohärenz des Textes oder der Inspiration, wie sie sich in einer internen oder innereuropäischen und amerikanischen Interpretation zeigt, eine andere Textkohärenz entgegensetzen, die seine Einbettung in ein kollektives und historisches Projekt offenbart. Den Text zu lesen bedeutet also, seine Beziehung zur Ideologie und zum kolonialen Faktum zu identifizieren.

5 Kohärenz und Inkohärenz des Textes Bhabhas Ansatz ist etwas anders. Zwar liest er den Text weiterhin in Bezug auf einen kolonialen Subtext, aber er sucht nicht mehr nach der Kohärenz des Textes, sondern vielmehr nach seinen Inkohärenzen, Brüchen und Widersprüchen. Er betont die Momente der Ambivalenz und sogar der Subversion der Ideologie von innen. Dazu schlägt er eine, wie er es nennt, alternative Lesart von Said vor (vgl. Bhabha 2000, 104–106). Bei Said stellt er eine Tendenz fest, ein Archiv des kolonialen Diskurses aufzubauen, das auf eine Intentionalität verweist, die ihrerseits in das eingeschrieben ist, was Foucault ein Dispositiv nennt. Letzteres bestehe aus einer Interaktion zwischen Macht und Wissen. Es ist dieses Archiv, das Said als „latenten Orientalismus“ bezeichnet. Andererseits spricht Said von einem manifesten Orientalismus und bezeugt damit, dass sich der latente Orientalismus im Text in unterschiedlichen Formen manifestiert. Bhabha stellt fest, dass Said sich weigert, diese Differenzierung zu Ende zu denken, obwohl Teile seines Buches klar erkennen lassen, dass es sowohl Übereinstimmung als auch Dissonanz geben kann zwischen diesem Arsenal von essentialisierenden Vorstellungen, Schriften und Ideen

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auf der einen Seite und seiner diskursiven Formulierung, die historisch-strategischen Überlegungen gehorcht auf der anderen, die sie somit in eine Diachronie einbettet. Ausgehend davon und insbesondere auf der Grundlage der Schriften von Frantz Fanon postuliert Bhabha die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit, den kolonialen Diskurs als Ort vielfältiger Überzeugungen zu lesen, in dem eine Beziehung, aber auch eine Spannung zwischen Einbildungskraft, Macht und Verlangen zum Ausdruck kommt. So kann man die ganze Ambivalenz sowie den polymorphen Charakter selbst von Stereotypen verstehen. So ist der Schwarze der wilde Kannibale, aber auch der gehorsame und treue Diener, er ist die Verkörperung einer zügellosen Sexualität, aber auch so unschuldig wie ein Kind, er hat einen Hang zum Mystizismus, ist aber auch primitiv und einfältig, was nicht ausschließt, dass er auch ein großer Manipulator der sozialen Kräfte, ein begabter und gefährlicher Lügner ist. Durch Stereotypen manifestieren sich also sowohl eine Besessenheit von Verallgemeinerungen als auch eine schwankende Differenzierung. Die Konstruktionen der kolonisierenden oder kolonisierten Subjekte zeugen von derselben Ambivalenz zwischen Teleologie und Ahistorizität, zwischen dem zu zivilisierenden Neger und dem Neger, der sich nicht ändern kann, zwischen einer normativen Ideologie der Verbesserung, die von der schweren Last des weißen Mannes zeugt, und einer Naturalisierung der Rassenhierarchie und der Diskriminierung. Angesichts dieser Vielzahl von Intentionalitäten ist Bhabha der Ansicht, dass die Bedeutung des postkolonialen Diskurses als theoretische und kulturelle Intervention nicht darin bestehen kann, den kolonialen Diskurs anzugreifen, um seine Unbegründetheit aufzuzeigen, sondern vielmehr darin, die Produktivität der kolonialen Macht durch die Rekonstruktion ihres Wahrheitssystems zu verstehen zu versuchen. Das Ziel besteht also nicht darin, ihre Darstellungen einer normativen Bewertung zu unterziehen, sondern einerseits ihre ‚Ökonomie‘ und die Grenzlinien zu untersuchen, die eine Andersartigkeit konstruieren, und andererseits die Überschreitung dieser Grenzlinien. Auf dieser Grundlage begründet Bhabha eine andere Art der Lektüre von literarischen Texten, aber auch von europäischen und amerikanischen Filmen, die nicht einfach nur denunziert, sondern Ambivalenzen und Widersprüche sowohl auf der Seite der Kolonialherren als auch der Kolonisierten analysiert. Dieser Ansatz hat Studien inspiriert, die zeigen, dass nicht alle Texte der klassischen europäischen Literatur als rassistisch zu betrachten sind oder zumindest, dass diese Texte widersprüchliche oder komplexe Perspektiven bieten.

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6 Fazit Unabhängig von ihrem Ansatz sind postkoloniale Analysen der europäischen Literatur Teil einer intellektuellen Hinterfragung der Globalisierung, die sich in einem Kontext entwickelt, in dem die Peripherie des Weltsystems versucht, eine Position zu entwickeln, von der aus sie die Welt verstehen und sich einem epistemologischen Imperialismus der Metropole entziehen kann. Diese Position, die aus dem Druck bestimmter wirtschaftlicher, kultureller und politischer Praktiken der Metropole und der existenziellen Angst, die das Leben in der Peripherie mit sich bringt, resultiert, formuliert sich als eine privilegierte Perspektive, die die Chance einer Entzauberung und einer Befreiung von den unbewussten konzeptuellen Wahrnehmungs- und Beschreibungsrahmen bietet, die die imperiale Geschichte konstituiert hat. Die Erfahrung der Marginalität erscheint dann als ein Vorteil.

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Elke Sturm-Trigonakis

Inszenierungen der Gewalt in Bernd Jaumanns Namibia-Kriminalromanen 1 Einleitung In einem Aufsatz mit dem Titel „Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert“ von 2021 konstatiert der Historiker Sebastian Conrad, dass etwa seit der Jahrtausendwende zum „Erinnerungsregime“ um den Holocaust ein weiteres getreten ist, nämlich die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialherrschaft und besonders dem Genozid an den Nama und Herero durch deutsche ‚Schutztruppen‘ im heutigen Namibia 1904. Als Grund für die „Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes“ sieht er den „veränderten Erfahrungshaushalt in der globalisierten Gegenwart“ (Conrad 2021, 5), bedingt durch „die grundlegenden und strukturellen Veränderungen, die mit Globalisierung und digitalisierter Wissensökonomie einhergehen“ (Conrad 2021, 17; vgl. auch Sznaider 2022). Die dieser veränderten Wahrnehmung der deutschen Vergangenheit zugrunde liegenden gesellschaftlichen Gegebenheiten lassen sich unter anderem im Format der deutschen Afrika-Krimis auffinden, die in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. Julia Augart hat sie bereits 2013 in einem Aufsatz als „Krimis deutscher Autoren, die auf dem afrikanischen Kontinent spielen oder auch afrikanische Charaktere präsentieren“ definiert (Augart 2013, 43) und dargelegt, dass die Gattung erstmals in den 1970er Jahren erscheint, dann ab der Mitte der 1990er allmählich an Fahrt aufnimmt und seit der Jahrtausendwende kontinuierliche Zuwächse aufweist. Über der Hälfte aller bekannten deutschen Afrika-Krimis sind im Zeitraum zwischen 2010 und 2014 erschienen, Tendenz steigend (vgl. Augart 2016, 85). Damit ist offensichtlich, dass es sowohl ein schriftstellerisches Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit afrikanischen Themen als auch ein entsprechendes Interesse des Publikums gibt, die mit dem geopolitischen und wirtschaftlichen Interesse der Merkel-Ära an Afrika und der dadurch erhöhten Medienpräsenz dieses Kontinents korrespondieren (vgl. Melber 2019 und insbes. Mehler 2019 sowie Kappel 2019). Vor dem Hintergrund der afrikanisch-deutschen Verflechtungen versteht sich der vorliegende Beitrag als kultur- und literaturwissenschaftlicher Baustein zur weiteren Konturierung des Subgenre „Afrika-Krimi“ in Augarts Sinn. Diese Schärfung soll durch das Hinzufügen einer bisher meines Wissens kaum fokussierten Thematik geleistet werden, nämlich den Formen der Gewalt in dieser Textsorte, konkret vorgestellt an den drei Namibia-Romanen von Bernd Jaumann, Die Stunde https://doi.org/10.1515/9783111181530-012

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des Schakals (2010), Steinland (2012) und Der lange Schatten (2015). Dies scheint zunächst banal, denn erstens ist Gewalt der Gattung Kriminalroman ohnehin eingeschrieben und zweitens ruft Afrika bei einer deutschsprachigen Leserschaft ein ganzes Reservoir an Gewaltbildern von blutigen Kämpfen wie Bürgerkriegen oder verhungernden Kindern auf. Dennoch wird sich zeigen, dass Jaumanns Texte gerade nicht derartige Klischees bedienen, sondern vielmehr die enorme Komplexität sowohl der Gewaltformen im Namibia der Gegenwart als auch derer Ursachen literarisch inszenieren und damit wichtige Aufklärungsarbeit leisten. Quer zu ‚klassischen‘ Gewaltäußerungen aus sozialen, rassistischen oder sexistischen Motiven heraus zeigen die Romane Gewalt zwar erwartungsgemäß auch als Prolongierung kolonialer Unterdrückungsmechanismen in die postkoloniale Gegenwart, veranschaulichen jedoch darüber hinaus, dass es interethnische Gewalt auch innerhalb der schwarzen namibischen Bevölkerung gibt oder Rassismus gegenüber der weißen Bevölkerung existiert. Damit werden eindeutige Opfer-Täter-Schemata hinterfragt und neben spannender Unterhaltung ein vielschichtiges Bild der namibischen Gesellschaft und ihrer komplexen Beziehungen mit Deutschland gezeichnet. Konsequenterweise befasst sich dieser Beitrag als theoretische Grundlage zunächst mit Formen von Gewalt, woraus sich dann eine Klassifizierung der fiktionalen Gewalt in Jaumanns Texten ergibt. Diese könnten ein Modell für die differentia specifica der Subgattung ‚Afrika-Krimi‘ bilden. Zu guter Letzt noch eine kurze Einführung in die Werke. Bernd Jaumann, geboren 1957, hat selbst von 2006 bis 2012 in Namibia gelebt und verfügt über eine fundierte Kenntnis der dortigen Lebensumstände, die sich in seinen Romanen in präzisen Ortsbeschreibungen und detaillierten Passagen zu Geschichte, Politik und Kultur des Landes niederschlägt. Sein erster Namibia-Roman, Die Stunde des Schakals (2010), wurde 2011 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und ist – wie auch die beiden anderen Texte – auf den ersten Blick am ehesten der Untergattung Politthriller zuzuordnen. In diesem Roman rollt Jaumann die Geschichte des Mordes an dem weißen Apartheid-Gegner und Rechtsanwalt Anton Lubowski durch südafrikanische Geheimagenten wieder auf und verwebt die Fakten mit einer spannenden Story, bei der seine Protagonistin, die schwarze Kriminalinspektorin Clemencia Garises, eingeführt wird. Sie untersucht auch in Steinland den vermeintlichen Mord am Farmer Gregor Rodenstein durch eine Diebesbande junger, arbeitsloser, schwarzer Namibier, zu denen neben anderen Clemencias Bruder Melvin gehört; der Mord stellt sich letztlich als Selbstmord des Farmers angesichts der drohenden Zwangsenteignung seiner Güter heraus und thematisiert die noch immer enormen Einkommensasymmetrien zugunsten der weißen Bevölkerung Namibias. Der letzte Roman schließlich, Der lange Schatten, greift die Restitutionsdebatte auf, noch bevor diese in Deutschland zum prominenten Medienereignis wurde. Clemencia Garises hat mittlerweile den Polizeidienst frustriert quittiert und

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versucht als Inhaberin einer Sicherheitsfirma die vermeintlich entführte Frau des deutschen Botschafters zu finden, während in einem zweiten Handlungsstrang ihr Freund, der weiße Journalist Claus Tiedtke, die Reise einer Delegation der Herero zur Rückführung von afrikanischen Schädeln aus der Berliner Charité begleitet, die von einer Grabschändung und einem Attentat überschattet wird. Alle Romane zeichnen sich durch einen Mix von gut recherchierten Fakten und überzeugenden Fiktionen aus und inszenieren, wie es dem Genre inhärent ist, Gewalt in verschiedenen Formen. Daher soll im nächsten Kapitel dieses Beitrags ein notwendigerweise kurzer Blick auf die Theorie der Gewalt geworfen werden.

2 Gewalt – ein Annäherungsversuch „In der Geschichte ist immer Gewalt – und immer das Streben nach Frieden“, hält Karl Heinz Metz (2010, 7) in seiner Geschichte der Gewalt fest, in der er Krieg, Revolution und Terror als Urformen der Gewalt in der neueren Geschichte Europas ausbreitet. Grundsätzlich wird in der Wissenschaft seit Johan Galtung (1969; vgl. Chojnacki 2019) zwischen zwei Formen von Gewalt unterschieden: Zum einen die personelle/personale Gewalt, die von einem Täter ausgeht und sich in physischer oder psychischer Gewalt gegenüber einem unterlegenen Opfer äußert, zum zweiten die strukturelle Gewalt, die von Kollektiven aufgrund von gesellschaftlichen Bedingungen wie Machtasymmetrien, ungleich verteilten Ressourcen etc. gegenüber Individuen oder anderen Kollektiven ausgeübt wird. Dieser Begriff wurde wegen seiner Unschärfe in der Vergangenheit häufig kritisiert, doch ist seine Relevanz unbestreitbar und gewinnt durch zusätzliche Feinjustierung. Hier wäre natürlich in erster Linie Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt zu nennen, mit dem er die Frage zu beantworten versuchte, warum gesellschaftliche Ungleichheiten bis hin zu manifesten Unterdrückungsmechanismen als gegeben und unvermeidbar angesehen werden (vgl. Moebius und Nungesser 2018, 120). Bourdieu zufolge beruht diese Akzeptanz von Machtasymmetrien auf der Sozialisation durch herrschaftsstabilisierende Wahrnehmungs- und Weltdeutungsmuster, welche die zu Grunde liegenden Herrschaftsmechanismen verdecken und unsichtbar werden lassen (vgl. Moebius und Nungesser 2018, 121–23), so dass letztlich „die Beherrschten zu ihrer eigenen Unterwerfung aktiv beitragen“ (Moebius und Nungesser 2018, 123). Diese Art der Gewaltausübung ist umso effektiver, je mehr sie sich vom „Sichtbaren ins Unsichtbare“ begibt und in digitalisierter Form quasi systemisch wird, wie ByungChul Han in seiner Topologie der Gewalt (2017) herausgearbeitet hat (vgl. Han 2017, 7–9, auch Mbembe 2020, 23–24). Von besonderem Interesse für die Literaturwissenschaft ist der ebenfalls schon von Galtung geprägte Begriff der kulturellen Gewalt, „oftmals gleichgesetzt mit

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symbolischer Gewalt, die, erstens, eine in sprachliche und nicht-sprachliche Zeichensysteme eingelagerte gewaltförmige Machtausübung, zweitens, eine explizite und intendierte sprachliche Verletzung in Gestalt von hate speech und, drittens, eine exklusiv literarische Form ästhetischer Gewalt im Sinne einer in das literarische Sprechen eingelagerten oder gegen die systemische und strukturelle Verfasstheit von Sprache gerichtete[n] Destruktion“ darstellt, wie Hania Siebenpfeiffer (2013, 341) definiert. Neben dieser kulturellen oder symbolischen Gewalt differenziert Siebenpfeiffer des Weiteren zwischen erstens „physische[r] Gewalt als zumeist personelle, unmittelbare, gewalttätige Handlungen gegen Menschen“, zweitens „psychische[r] Gewalt als im weitesten Sinn seelisch emotionale[r] Verletzung“, drittens „strukturelle[r], einschließlich institutionalisierte[r] Gewalt in Form von dauerhaften, transpersonellen Unterwerfungsverhältnissen, die den systemischen Herrschaftsstrukturen inhärent sind“ und schließlich „ritualisierte[r] Gewalt, die gewaltförmige Handlungen (re)inszeniert, wobei zumeist keine körperliche Schädigung erfolgt bzw. diese nicht intendiert ist“ (Siebenpfeiffer 2013, 340–41). Siebenpfeiffer hebt bei der Aufzählung literaturtheoretischer Konzepte zur Analyse literarischer Gewalt hervor, dass insbesondere diskursanalytische Ansätze im Anschluss an Michel Foucaults Überwachen und Strafen (2008) die Fähigkeit der Literatur herausarbeiten, „die Gewalt diskursiver Ordnungen nicht nur zu repräsentieren, sondern sie sprachlich so zu elaborieren, dass die verborgenen Ambivalenzen, Widersprüche und Kontrafakturen der diskursiven Gewaltförmigkeit in der literarischen Textur sichtbar werden“ (Siebenpfeiffer 2013, 344). Bei Jaumanns Romanen ist eine der Textsorte mehrfach eingeschriebene Gewaltaffinität zu erwarten. Zum einen ist die literarisierte Gewalt für den Kriminalroman „genrekonstitutiv“ (Siebenpfeiffer 2013, 341), zum anderen spielen die drei Texte in ungewöhnlichen, weil mehrfach postkolonialen Kontexten, erlangte Namibia doch erst 1990 nach fast dreißigjährigem Kampf seine Unabhängigkeit, nachdem es zwischen 1890 und 1918 die erste deutsche Kolonie geworden war und 1904 den Genozid an Herero und Nama durch deutsche ‚Schutztruppen‘ erlebt hatte; ab 1921 stand es unter dem Mandat Südafrikas und musste dessen rassistische Homeland- und Apartheid-Politik erdulden (vgl. Namibia 2020). Aufgrund dieser doppelten Unterdrückungsgeschichte bedarf das oben angeführte allgemeine Schema zu Arten von Gewalt einer Feinjustierung, um es für die in Jaumanns Texten ausgebreiteten Friktionen anwendbar zu machen, und so schlage ich zunächst folgende Kategorisierung vor: 1. Physische Gewalt als kriminelle Gewalt – das Movens des Krimigenres, 2. Strukturelle oder institutionelle Gewalt, die in Jaumanns Krimis zumeist von der Polizei oder anderen staatlichen Organen ausgeht,

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Kulturelle Gewalt als rassistisch oder ideologisch motivierte Aggression, die sich von verbal bis tätlich äußern kann; hierher gehören auch repressive Familienstrukturen mit psychischer oder physischer Gewaltausübung.

Für alle diese Gewaltkategorien können, wie im Folgenden erkennbar wird, historische, also koloniale oder postkoloniale Verwerfungen verantwortlich zeichnen, die sich als Konstante durch alle drei Romane ziehen.

2 Formen der Gewalt in den Namibia-Kriminalromanen Bernd Jaumanns 2.1 Kriminelle Gewalt Jaumanns Namibia-Krimis werden im Untertitel als „Thriller“ im Fall der Stunde des Schakals bzw. als „Kriminalroman“ in den beiden übrigen Texten bezeichnet; die beiden ersten Romane könnten auch als Polizeiromane mit einer Kommissarin als Protagonistin klassifiziert werden, doch wechselt diese Hauptfigur im letzten Roman, Der lange Schatten, als Betreiberin einer Sicherheitsfirma ins private Fach, repräsentiert folglich nicht mehr das staatliche Gewaltmonopol und der Text wäre eher unter dem Begriff des Detektivromans zu fassen. Wie die meisten qualitativ anspruchsvollen Krimis sind jedoch auch Jaumanns Texte nicht eindeutig zu kategorisieren: Julia Augart hat in einem Aufsatz zur Stunde des Schakals überzeugend herausgearbeitet, dass dieser Text mit seiner hartgesottenen Protagonistin, den rasanten Action-Szenen und der nicht wiederhergestellten Ordnung am Ende zunächst dem hard-boiled-Typ nahesteht, der das Verbrechen als eine gesellschaftlich bedingte, systemimmanente Struktur präsentiert (vgl. Nusser 1992, 128). Sein Hauptcharakteristikum jedoch ist – wie in den übrigen Namibia-Krimis Jaumanns auch – die narrative Verflechtung von historischen Fakten und Fiktion; daher wird die Klassifizierung als historische Krimis Jaumanns Werken wohl am ehesten gerecht, da „die Ermittlung in der Gegenwart stattfindet, aber die Gründe oder Wurzeln in der historischen Vergangenheit liegen“ und „auf den gegenwärtigen Gesellschaftskontext und gleichzeitig auch auf den der Vergangenheit“ zurückgegriffen wird (Augart 2015, 123). In den Texten erscheint zum einen die kriminelle Gewalt im engeren Sinn, so etwa der Serienmörder im Schakal, der Mord am Farmer Rodenstein in Steinland und der Grabschänder und Polizisten- und Priestermörder Kaiphas im Langen Schatten, der dann bei seinem Attentatsversuch in Berlin während der Übergabe der Herero-Schädel von einer Einheit der deutschen Polizei erschossen wird. Dar-

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über hinaus wird Gewalt bezüglich bestimmter Segmente der namibischen Gesellschaft als quasi inhärent gezeichnet, so etwa den arbeitslosen jungen Männern um Clemencias Bruder Melvin, die dann auch geradezu selbstverständlich als potenzielle Mörder des Farmers Rodenstein gesucht werden. Diese Gewalt kondensiert sich in Windhoeks Katatura-Viertel, in dem Clemencia bei ihrer Familie wohnt; ihr Bruder Melvin, obgleich selbst Kleinkrimineller, bringt seinen Nichten und Neffen dort Selbstverteidigung bei, weil man sich im Zweifelsfall auf die Polizei nicht verlassen kann (vgl. Steinland, 64–65; vgl. Dorlin 2022). Der von schwarzen Namibiern bewohnte Stadtteil Katatura symbolisiert in allen drei Texten einen Raum, der je nach Perspektive als notorisch kriminell oder als nach eigenen Rechtsnormen funktionierend präsentiert wird. Gewalt ist allgegenwärtig, zunächst einmal gegen Fremde: „Ein weißer Tourist, der sich nach Katatura gewagt hatte, war nach Verlassen des Soweto Market zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. […] Ein ganz normaler Überfall, nichts weiter.“ (Steinland, 59) Doch richtet sich die Gewalt auch gegen die eigene Gruppe und die Bewohner Kataturas sind selbst krimineller Gewalt ausgesetzt, von Kindheit an; so greifen die Tanten Clemencias, die ein kirchlich finanziertes Kinderheim betreiben, zwei Minderjährige auf der Straße auf: „Der eine, etwa achtjährig, war von einem Geschäftsinhaber zum dritten Mal beim Klauen erwischt worden und hatte Rotz und Wasser geheult, weil ihm von den älteren Mitgliedern seiner Jugendgang bei Erfolglosigkeit Prügel drohten. Der andere war völlig verdreckt und abgerissen durch ein Rivier getorkelt. Ob er Klebstoff geschnüffelt, Tabletten oder sonst etwas genommen hatte, war aus ihm nicht herauszubekommen. Die Chorfrauen hätten noch ein paar Straßenkinder einsammeln können […].“ (Schatten, 187) Clemencias Bruder Melvin und seine Clique sind quasi automatisch tatverdächtig (vgl. z. B. Steinland 36, 42, 45), doch gerade am Beispiel Melvins wird immer wieder deutlich, dass dessen Kleinkriminalität vor allem darauf beruht, dass „es für einen wie Melvin keine Aussicht auf einen ehrlichen Job gab, mit dem man seinen Lebensunterhalt verdienen konnte“ (Steinland, 42). Und einen Teil seiner Beutezüge unternimmt Melvin auf Anstiftung des Ministers Shilongo, der damit von anderen Machenschaften abzulenken versucht (vgl. Steinland, 257), oder aber er versucht, seine Familienangehörigen zu beschützen, so, als er jemanden in einer Kneipe verprügelt, der seine elfjährige Nichte für Kinderprostitution anwerben will (vgl. Schakal, 60– 61). Ebenso handeln seine Tanten zwar strenggenommen illegal, als sie Melvin nach seiner Schussverletzung auf der Farm Steinland verstecken und versorgen, ebenso wie Clemencia, als sie ihren Bruder aufspürt und zum Arzt bringt, ohne ihn zu verhaften (vgl. Steinland, 256–58), doch wird im Text diese Art der Illegalität als konsequent umgesetzte familiäre oder nachbarschaftliche Unterstützung gehandelt, die sich durch das Fehlen schützender staatlicher Strukturen legitimiert. Denn schließlich handelt auch der zweifache Mörder und potenzielle Attentäter Kaiphas

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im Langen Schatten auf Befehl von oben und seine Tötung durch die deutsche Polizei zur Verhinderung des Attentats bei der Schädelübergabe-Zeremonie in Berlin wird billigend in Kauf genommen, ebenso wie auch die Kleinkriminellen Kausiku und Operi letztlich von ihren Auftraggebern hingerichtet werden (vgl. Steinland, 101, 208). Die Texte inszenieren, insgesamt gesehen, Katatura als einen Raum, in dem nur die Familie eine Art Schutz vor der allgegenwärtigen Gewalt aller gegen alle zu bieten vermag, und dies keineswegs immer, wie die Morde an Kausiku und Operi zeigen. Die Szene, in der Clemencias Tanten schnell und raffiniert Hunderte der während einer Verfolgungsjagd vom Laster gerollten Coca-Cola-Flaschen an sich bringen und Clemencia sie erfolglos zur Rückgabe zu überreden versucht, entwirft ein anschauliches Bild von der Kontroverse zwischen rechtsstaatlichem Anspruch und vom Überlebenszwang geprägter Realität mit ihrer alltäglichen Kleindelinquenz (vgl. Steinland, 52–55). Resigniert resümiert sie: Es ging ihr nicht ums Prinzip. Und nur in zweiter Linie um die Rückgabe des Diebesguts. Dazu würde sie ihre Tanten wohl nicht einmal bewegen können, wenn sie eine Einheit Uniformierter mit Handschellen anrücken ließe. Die Alten würden sich nicht mehr ändern, aber wenigstens die Kinder sollten vorgeführt bekommen, dass es auch andere Werte gab. Dass tatsächlich Leute in Katatura lebten, denen Recht und Unrecht etwas bedeuteten. Vielleicht ging es Clemencia doch ums Prinzip. (Steinland, 54)

Mit Textstellen dieser Art wird in Jaumanns Romanen das Dilemma zwischen den konträren Auffassungen von Normen und Rechten diskutiert. Dabei wird die Rezeption durchaus in eine eindeutige Richtung gelenkt: Die Kleinkriminalität wird in der Regel als relativ harmlos präsentiert und als dem Zwang geschuldet, die eigenen prekären Lebensumstände materiell ein wenig zu verbessern, während Kapitalverbrechen wie Mord oder Entführung vorzugsweise von machtgierigen und korrupten Eliten initiiert werden, die ihre Machenschaften von Handlangern ausführen lassen und zudem nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Es ist daher nur allzu logisch, dass Clemencia im dritten Roman, Der lange Schatten, den Polizeidienst quittiert und eine private Sicherheitsfirma gegründet hat, in der sie ihren Bruder Melvin und seine Freunde endlich legal beschäftigen kann. Dies bedeutet eine Kapitulation vor einem politischen System, in dem stets die Machthaber das Recht zu ihren Gunsten auslegen und die Gleichheit der Bürger in der Zivilgesellschaft nur auf dem Papier existiert. Andererseits bleibt sie jedoch auch in dieser neuen Position ihren rechtstaatlichen Prinzipen (weitgehend) treu. Dennoch, wie weiter unten noch deutlicher werden wird, zeichnen die Romane keine manichäischen Bilder, betonen hingegen die Uneindeutigkeit und schreiben gegen vereinfachte Zuweisungen nach Hautfarbe, Gesellschaftsschicht oder Beruf an: Die Protagonistin Clemencia ist aus Überzeugung dem Rechtsstaat verpflichtet,

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übertritt aber mehrmals das Gesetz, wenn es z. B. um ihren Bruder Melvin geht, was sie dann in tiefe innere Konflikte stürzt. Auch ihre Kollegen sind nicht durchweg positiv gezeichnete Repräsentanten des Rechtsstaates, üben sie doch rassistische und sexistische Gewalt aus wie Robinson oder sind als Polizisten illoyal wie Tjikundu (in Steinland). Auch die übrigen Figuren sind oft genug von derselben moralischen Ambivalenz wie Clemencias familiäres Umfeld in Katatura: die Frau des deutschen Botschafters in Windhoek, Mara Engels, inszeniert ihre eigene Entführung nicht nur aus falsch verstandener Solidarität, sondern letztlich aus dem egoistischen Motiv heraus, die Adoption des schwarzen Waisenjungen Samuel zu erpressen, und ihr verzweifelter Ehemann würde auch zu Folter greifen, um den Aufenthaltsort seiner Frau herauszubekommen (vgl. Schatten, 149), wodurch die rechtsstaatliche Fassade der Repräsentanz Deutschlands zum Einsturz gebracht wird. In der Figur des Journalisten Claus Tiedtke, des deutschstämmigen, blonden, weißen Namibiers, werden die inneren und äußeren Kulturkämpfe der namibischen Gesellschaft in einer Person kondensiert. Er versucht, die Trennungslinie zwischen Schwarz und Weiß zu überschreiten, indem er nicht nur eine Beziehung mit Clemencia beginnt, sondern ihr zuliebe sogar nach Katatura umzieht. Nachdem er sich begeistert und mit einer gewissen Naivität in seinem neuen Wohnort sozialisiert und vom afrikanischen Ubuntu als optimaler Philosophie des Zusammenlebens geschwärmt hat (vgl. Steinland, 55), steht er eines Abends in seiner völlig ausgeräumten Hütte, fassungslos und allein (vgl. Steinland, 219); doch, wie Clemencia im Nachhinein kommentiert, für einen wie ihn gibt es im Gegensatz zur schwarzen Einwohnerschaft Kataturas stets ein „Sicherheitsnetz, das ihm seine Herkunft und seine Vergangenheit“ bereithält und das ihn auffängt; er kann sagen: „Dann gehe ich eben wieder zurück in mein Weißenviertel mit den Alarmanlagen und den Zwölftausend-Volt-Sicherheitszäunen“ (Schatten, 185–86). An Claus, dem potenziellen Vermittler zwischen den konträren Welten, werden die entgegengesetzten Räume mit ihren Lebensbedingungen veranschaulicht und gezeigt, dass nicht nur die Ursachen, sondern auch die Auswirkungen von Kriminalität je nach Hautfarbe höchst unterschiedlich sein können: „Die Realität war eben so. Sie war nicht immer so einfach, wie Claus sich das vorstellte.“ (Schatten, 186), stellt Clemencia resigniert fest. Die gepflegten Viertel der Weißen Namibias sind demzufolge ein Raum, aus dem kriminelle Gewalt eigentlich ausgeschlossen ist. Daher wirkt der Auftakt zum ersten Roman Die Stunde des Schakals umso spektakulärer: Der Attentäter bereitet sich bei brütender Hitze auf den Mord an Abraham van Zyl vor, der sich im Garten seiner von einem hohen Zaun gesicherten Villa mit Swimmingpool mit seiner Tochter vergnügt. Wer die Macht hat, kann sich auch die Abschirmung von

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den Unbilden des Lebens leisten, ihm steht viel sicher umgrenzter Raum zur Verfügung: Bis zur Kreuzung war kein Mensch zu sehen, und das nicht nur, weil es brütend heiß war oder weil die Ursulastraße eine Sackgasse war. Hier im Windhoeker Stadtteil Ludwigsdorf ging man nicht auf die Straße. Man blieb in seinem eigenen kleinen Paradies, hinter hohen Mauern, die mit Stacheldraht bekränzt waren. Wer aus dem Haus musste, nahm den Wagen und vergewisserte sich, dass sich das Elektrotor hinter ihm schloss, bevor er sich entfernte. Ein Fußgänger war entweder ein Bettler oder ein Krimineller. (Schakal, 8)

Das Mordopfer stellt sich als einer der Attentäter im Dienst des südafrikanischen Civil Cooperation Bureau (CCB, gegründet 1986, vgl. Schakal, 45) heraus, die vor zwanzig Jahren den für die SWAPO tätigen weißen Rechtsanwalt Anton Lubowski ermordet hatten. Nach dem Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika war er in Namibia untergetaucht und hatte als ehrbarer weißer Bürger gelebt. Insofern stellt sich der mit einer Kalaschnikow an van Zyl verübte tödliche Anschlag als eine Tat heraus, die mit dem Befreiungskampf Namibias gegen das südafrikanische Apartheid-Regime bzw. mit dem CCB zu tun hat, das in dessen Auftrag mordete. Damit lenkt der Text von Beginn an die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die historischen Verflechtungen zwischen Namibia und dem Nachbarland Südafrika unter der Apartheid und legt Spuren, die erahnen lassen, dass in diesem Roman die Grenzen zwischen Opfern und Tätern nicht eindeutig zu ziehen sein werden. Dass diese Problematik an prominenter Stelle, nämlich gleich am Anfang des Textes, eingeführt wird, demonstriert wie schon im Fall Katatura, dass eindeutige Linien zwischen Recht und Unrecht im Fall Namibias kaum zu definieren sind. Neben per se gewaltaffinen Schauplätzen wie dem Schwarzen-Vorort Katatura und dem im Kontrast dazu extrem sicheren Villenviertel der Weißen oben gibt es noch einen weiteren Raum mit intrinsischer Gewaltbereitschaft, nämlich das weitläufige Land mit seinen Farmen. In Steinland wird die Problematik der Enteignungen von seit der Kolonisierung in weißem Besitz befindlichen Farmen thematisiert; der Text beginnt mit dem vermeintlichen Mord an dem weißen Farmer Rodenstein, der sich am Ende als Selbstmord entpuppt. Im Lauf der Handlung wird exemplarisch die gesamte Familiengeschichte der Rodensteins erzählt, in kursiv vom übrigen Text abgesetzten Episoden zu allen drei Generationen, von Johann Rodenstein, der 1904 als Unteroffizier der kaiserlichen ‚Schutztruppe‘ nach Namibia gekommen war und gegen die Nama und die Herero gekämpft hatte (vgl. Steinland, 11–13), bis hin zu Gregor Rodenstein, der sich nach Erhalt der Verkaufsaufforderung mit seinem Gewehr in der Wüste erschießt (vgl. Steinland, 61, 270–272). Für seine Frau Elsa und die übrigen Farmer, die just in jener Nacht des Suizids in die Wüste eilen, weil die dort aufgestellten Solaranlagen der Farm angeblich von einer Bande junger Schwarzer geraubt werden, bietet sich die willkommene Gelegenheit, den

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Selbstmord als Mord zu inszenieren und Gregor Rodenstein als Opfer von gedungenen Mördern darzustellen, die auf höchsten Befehl aus Regierungskreisen handelten, weil sich einer von ihnen, der Minister Shilongo, das Farmland aneignen wollte (vgl. Steinland, 272–275). Die Farmer sind ebenso wie Elsa Rodenstein der Ansicht, dass dieser Selbstmord eigentlich ein Mord ist, „ein besonders perfider Mord, weil die Mörder im Windhoeker Ministerium nicht einmal den Mumm hatten, selbst den Finger krumm zu machen“, so die einhellige Meinung (Steinland, 272). Die Gruppe der Farmer erscheint als ein Beispiel für „Gewaltkulturen, also Gesellschaften mit einer langen Tradition (Kontinuität) von Gewalt, die sich über alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt (Ubiquität), in denen statt eines staatlichen Gewaltmonopols eine Vielfalt von Gewaltakteuren existiert (Pluralität) und in denen illegale Gewalt als gewöhnliches soziales Phänomen angesehen wird (Normalität)“. In derartigen Gewaltkulturen „stärkt die Faktizität der Gewalt ihrerseits deren Akzeptanz (Legimität). Staatliche Straflosigkeit fördert wiederum gewaltförmige Selbstorganisation aller Interessengruppen und lässt die Homizid-Raten in die Höhe schnellen“, konstatiert Scheerer (Scheerer 2013, 145). Die in Steinland entworfene Farmergesellschaft trägt nahezu alle Züge einer derartigen Gewaltgesellschaft, denn nicht nur liegen ihre Anfänge in gewaltsamer Kolonisierung und Vertreibung der ansässigen namibischen Bevölkerung mit anschließender Unterdrückung der schwarzen Einwohner des Landes, sie sehen es als nunmehr ‚verfolgte‘ weiße Minderheit offenbar auch als ihr gutes Recht an, die Verteidigung ihres Landes gegen Räuber selbst in die Hand zu nehmen, zumal der Polizeiapparat in ihren Augen ineffektiv und ihnen gegenüber zudem rassistisch ist (vgl. Steinland, 18, 272). Doch nicht nur die Geschichte dieser Farmen ist von Beginn an von Gewalt gezeichnet, es ist auch das Land selbst, dem Gewalt eingeschrieben ist und das Gegengewalt als Überlebensstrategie fast schon natürlich herausfordert: Namibia bedeutet „[e]ndlose wüste Weiten, die das Sterben natürlicher als das Leben erscheinen“ lassen (Steinland, 14), eine „Halbwüste […] aus vertrocknetem Fleisch und Knochen“ (Steinland, 189), in der jederzeit eine hochgiftige Puffotter lauert (vgl. Steinland, 178–179) und selbst der tote Gregor Rodenstein vor den Schakalen geschützt werden muss (Steinland, 274). In Stunde des Schakals wird explizit das mehrfache Töten des Rächers des Lubowski-Mordes mit dem Überlebenskampf in der Natur gleichgesetzt: „Und doch ging das Morden da draußen weiter. Das Fressen und Gefressenwerden, das Jagen und Gejagtwerden.“ (Schakal, 172) Schon allein auf Grund der feindlichen Natur gehört also, scheint der Roman zu insinuieren, die Ausübung von Gewalt gegen natürliche Gefahren zum Alltag; von dieser ist es vermeintlich nur ein kleiner Schritt zu einer habituellen Gewaltausübung gegen alle Nicht-Weißen, wie sie unter kolonialen Verhältnissen herrschte und wie sie

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offensichtlich ins nachkoloniale Namibia prolongiert worden ist. Doch diese Lesart entspricht nur der Oberflächenstruktur der Texte, denn wie im folgenden Teil dieses Beitrags zu sehen sein wird, lässt sich die kriminelle Gewalt keinesfalls von der feindlichen Natur herleiten, sondern resultiert eher aus den defizitären oder als ungerecht wahrgenommenen rechtsstaatlichen Strukturen unter den SWAPO-Regierungen, die es nicht vermocht haben, ein konsensfähiges staatliches Gewaltmonopol zu etablieren.

2.2 Strukturelle Gewalt Neben der genrebedingten kriminellen Gewalt zeichnen alle drei Romane ein eindrückliches Bild von der den staatlichen Institutionen inhärenten, also systemischen Gewaltbereitschaft, in der die asymmetrischen Machtverhältnisse innerhalb der namibischen Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Jaumanns erster Namibia-Roman, Die Stunde des Schakals von 2010, greift die Ereignisse um das Attentat an dem südafrikanischen, aber seit 1978 in Namibia tätigen Rechtsanwalt Anton Lubowski (geboren 1953) auf und thematisiert den privaten Rachefeldzug des Richters Fourie, der nicht akzeptiert, dass die damaligen Mörder Lubowskis straffrei ausgingen, weil der Prozess verschleppt und schließlich niedergeschlagen wurde; er setzt Lucas Elago auf die damals beteiligten Männer an, der kurz vor dem Krebstod steht und mit seinen Taten die Zukunft seiner Kinder sichern will. Die Opfer der Mordserie sind also zugleich Täter, am anschaulichsten personifiziert in Donald Acheson, der in den Weiten der namibischen Wüste als Jäger untergetaucht ist und nun von Clemencia und ihren Leuten vor dem herannahenden Killer gewarnt wird (vgl. Schakal, 153–156). Angesichts der Bedrohung verwandelt sich Acheson trotz seiner etwa siebzig Jahre plötzlich in einen energiegeladenen, viel jünger erscheinenden Mann: Was bei anderen Angst und Lähmung hervorrufen würde, forderte Acheson nur heraus. Er konnte es nicht erwarten, dem Killer mit dem Gewehr in der Hand gegenüberzutreten. Er oder ich, das war die Frage, die zählte, das war das Einzige, was ihm am Leben schmeckte. Töten oder getötet werden, darauf lief bei ihm alles hinaus. So einfach war das, war es immer gewesen. Als Söldner, als Folterknecht, als Killer. Und je größer das Risiko war, desto größer war auch die Befriedigung. Politik hatte ihn wahrscheinlich nie interessiert. Für das Apartheid-Regime hatte er nur gekämpft, weil es ihn mit dem beauftragte, was er sowieso am liebsten tat: zu morden. (Schakal, 158)

Damit entwirft der Text den Prototyp des eiskalten Schergen, der sich am Leiden anderer ergötzt und für guten Sold zu jeglicher Gewalt bereit ist. Auch sein frü-

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herer Kollege Abraham van Zyl, das erste Mordopfer, ist auf Fotos „breit grinsend in Uniform“ zu sehen, „mit geschultertem Gewehr über einem erlegten Gamsbock“ oder „im Kreis bierseliger Kameraden“ (Schakal, 44); seine Frau verteidigt ihn als einen Mann, der durch seine Mitarbeit beim südafrikanischen CCB „in den achtziger Jahren im Auftrag der Regierung sein Land verteidigt [habe]“ und argumentiert, dass er und seinesgleichen nicht im Unrecht gewesen sein könnten, nur weil sie den Krieg gegen den Kommunismus verloren hätten (vgl. Schakal, 43). Die Gegenposition wird von Clemencia Garises selbst vertreten, deren Mutter durch einen Querschläger getötet worden war, als eine südafrikanische Einheit auf der Suche nach SWAPO-Terroristen ihr Viertel Katatura durchsucht hatte; Clemencia war damals vier Jahre alt gewesen. Als sie dann wegen der Mordserie zum CCB recherchiert, erweist sich diese Einheit als eine „Mörderbande, deren Hauptziel die Beseitigung von Anti-Apartheids-Aktivisten war“ (Schakal, 44) und die vor nichts zurückschreckte, auch nicht vor „Hinrichtungen auf offener Straße“ oder „Bombenattentate[n] auf ANC-Kindergärten“ (Schakal, 45). Damit zeichnet sich schon von Beginn des Romans an Clemencias Dilemma ab, nämlich, dass sie und ihre Kollegen einen Killer suchen müssen, der eigentlich nur Menschen tötet, die Folter, Mord und weitere furchtbare Taten auf dem Gewissen haben, dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen wurden, weil das Rechtssystem dies weder in Südafrika noch in Namibia zuließ. Dass es sich dabei nicht um einen ‚Ausrutscher‘ im Interesse einiger höher gestellter Persönlichkeiten handelte, sondern um gängige Praxis, verdeutlicht erzähltechnisch die kursiv abgesetzte Stimme des damaligen Richters Hendrik Fourie, der an mehreren Stellen im Roman die Ereignisse um den Mord an Lubowski und die damalige Atmosphäre aus seiner Perspektive, durchaus selbstkritisch, schildert. Für ihn war die Freilassung von Donald Acheson aus der Untersuchungshaft 1990 auf Druck der Staatsanwaltschaft „wahrscheinlich der größte Fehler“ seiner gesamten Laufbahn (Schakal, 69), doch trotz seiner und der Bemühungen der Familie Lubowski kam es nie zu einem Prozess, in Südafrika ebenso wenig wie in Namibia (vgl. Schakal, 71), weil vermutlich auf Grund der Verwicklung von hohen Polizeioffizieren sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft ein Interesse an der Vertuschung der ganzen Angelegenheit hatten. Fourie argumentiert, dass Lubowski im Grunde zwei Mal gestorben sei, einmal beim Attentat auf ihn im September 1989, ein zweites Mal durch die anschließende Gleichgültigkeit der Wahrheit gegenüber: Zunächst hatten alle die Gewalt satt, „die SWAPO und die Südafrikaner, Rassisten und Guerrillakämpfer, die um ihre Privilegien fürchtenden Weißen wie die an die Fleischtöpfe drängenden Schwarzen“ (Schakal, 225), und nun, zwanzig Jahre später? Fourie zieht ein desillusioniertes Fazit: Von Aufbruchstimmung ist keine Spur mehr, die Ideale sind verflogen. Ein paar Schwarze sind reich geworden, ein paar korrupt, die SWAPO verwaltet die Macht um ihrer selbst willen,

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verteilt Pöstchen und profitiert davon, dass die Opposition es auch nicht anders machen würde. Ein paar Weiße stänkern hinter vorgehaltener Hand wie früher, andere haben sich arrangiert, nehmen einen ehemals Benachteiligten in die Firmenleitung auf, spenden ab und zu Malstifte für AIDS-Waisen und bleiben ansonsten genauso unter sich wie die Schwarzen auch. (Schakal, 226)

Damit ist Lubowski – und alles, wofür er eintrat – ein zweites Mal beerdigt worden, und zwar unter dem schlechten Gewissen derer, die eine Chance auf einen politischen und gesellschaftlichen Neustart hatten und diese nicht nutzten: „Weil wir uns heute nicht eingestehen wollen, dass wir nichts daraus gemacht haben, muss über die Dramen von damals geschwiegen werden. Und so wurde Lubowski zum zweiten Mal zum Opfer.“ (Schakal, 227) Konsequenterweise greift Fourie am Ende zum letzten Mittel, indem er gesteht, den todkranken Killer Lucas Elago zu fünf Morden angestiftet zu haben, um auf diese Weise eine Wiederaufnahme des Prozesses um den Lubowski-Mord zu erzwingen; er wird also sowohl Angeklagter als auch Ankläger sein (vgl. Schakal, 300) und ein letztes Mal versuchen, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Stunde des Schakals ist letztlich ein Roman, der die flüchtigen Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Recht haben und Recht bekommen verhandelt und über die Legitimation des Einsatzes von Gewalt reflektiert. Der Text problematisiert dabei insbesondere die Rolle staatlicher Institutionen wie Polizei und Justiz, die in einer nachkolonialen Phase eigentlich die zur Befreiung von kolonialer Herrschaft entfesselten, gewaltsamen Kräfte einhegen sollte, dies jedoch in vielen Fällen nicht erreichen konnte oder gar nicht wollte. Steven Pinker spricht in diesem Zusammenhang von einer unseligen Verquickung von „wirtschaftliche[m] Nationalismus“ mit „romantische[m] Militarismus, der gewalttätige Revolutionen verherrlichte“ als typisches postkoloniales Übergangsphänomen (Pinker 2018, 466); er urteilt über diese spezifische Phase: Den altbackenen Institutionen des Zivilisationsprozesses – einer kompetenten Regierung und Polizei sowie einer zuverlässigen Infrastruktur für Wirtschaft und Handel – konnte niemand viel abgewinnen. Die Geschichte lässt aber darauf schließen, dass solche Institutionen für eine Verminderung der chronischen Gewalt notwendig sind, und die wiederum ist eine Voraussetzung für alle anderen gesellschaftlichen Errungenschaften. (Pinker 2018, 466)

Dadurch, dass Jaumann in seinen Roman keine eindeutigen Goodies-Badies-Dichotomien einbaut, sondern jegliche Schuldzuweisungen eher ambivalent bleiben, vermeidet er die Position des erhobenen Zeigefingers seitens des weißen Europäers mit mission civilisatrice; vielmehr macht der Text deutlich, dass herkömmliche Zuschreibungen von Schuld und Unschuld im Sinn der westlichen Rechtsauffassung im nachkolonialen Kontext Namibias nicht unbedingt anwendbar sind und zwingt

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die europäische Leserin damit zum Überdenken und Hinterfragen eigener Auffassungen von Recht und Unrecht und deren Exportierbarkeit auf andere – hier afrikanische – Gesellschaften. Des Weiteren lässt sich Die Stunde des Schakals als eine narrative Versuchsanordnung von verschiedenen Gewaltmechanismen seitens staatlicher Institutionen lesen: Der SWAPO-regierte Staat erscheint als unfähig, ein für alle Bürger Namibias gleichermaßen akzeptables Rechtssystem aufzubauen, weil er in den alten gewalttätigen Strukturen aus der Kolonialzeit verhaftet bleibt, auch wenn Täter und Opfer zum Teil die Rollen vertauscht haben. Diese Schwäche der staatlichen Strukturen führt zu Selbstjustiz im Fall Fourie bzw. seines Werkzeugs Lucas Elago und zu einem permanenten Zwiespalt bei der Ermittlerin Clemencia Garises, die einerseits versucht, mit dem gültigen Recht konforme Strukturen durchzusetzen, andererseits aber immer wieder aufs Neue an der eigenwilligen Interpretation von Recht z. B. in ihrer Familie oder auch bei der Polizei scheitert und letztlich selbst auf illegale Methoden zurückgreift. In Steinland wird der Leser mit einer ähnlichen Problematik konfrontiert. War schon in Die Stunde des Schakals die Rolle des Vorgesetzten Clemencias in der Serious Crime Unit und ehemaligen SWAPO-Kämpfers, Deputy Commissioner Ndangi Oshivelo, sehr unklar (vgl. Schakal, 128–130, 196–197), so erweist sich in Steinland das gesamte Kollegium um Clemencia als fragwürdig, voller Misstrauen untereinander und beim geringsten Anlass gewaltbereit. Detective Inspector Bill Robinson, Clemencias Mitarbeiter und hierarchisch Untergebener, schießt bei der Festnahme eines Verdächtigen auf einem belebten Markt in Windhoek wild um sich und verursacht ein Chaos unter den Marktbesuchern (vgl. Steinland, 41–43), malt gegenüber einem der Farmer genüsslich die Gewalt im Gefängnis aus, wo dieser bei Aussageverweigerung landen wird (vgl. Steinland, 203), und er erzählt seinem Vorgesetzten Oshivelo, dass Clemencias Bruder Melvin mit den beiden erschossenen Kleinkriminellen Operi Zeraua und Tobias Kausiku befreundet gewesen ist und sich in der Nacht, als der Farmer Rodenstein unweit seiner Farm durch einen Schuss umkam, unmittelbar am Tatort aufgehalten hat (vgl. Steinland, 223–224). Er misstraut seiner Vorgesetzten Garises und nicht ganz zu Unrecht, denn als er sie zu einem Verhör zu Oshivelo bringen soll, flüchtet sie (vgl. Steinland, 243) und kümmert sich dann um ihren Bruder Melvin, der bei der Schießerei in der Nähe von Rodensteins Farm Steinland verletzt worden ist (Steinland, 251–254) – ohne ihn zu verhaften, wie sie von Amts wegen eigentlich müsste. Clemencia wiederum erscheinen die Anschuldigungen des angeblich entführten Sohnes des toten Farmers, Thomas Rodenstein, und seiner Mutter, dass Robinson von „mächtige[n] SWAPO-Bosse[n]“ bestochen worden sei, um eine Falschaussage zu machen, vorübergehend durchaus plausibel (vgl. Steinland, 185–186); derartige Korruption scheint also systemimmanent zu sein. Ihr anderer Mitarbeiter Tjikundu hingegen stellt sich dann letztlich als das Leck in der Einheit heraus (vgl.

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Steinland, 230) und hat zudem für den Minister Shilongo, der sich nach der Enteignung die Farm Steinland angeeignet hätte, die von diesem angeheuerten Kriminellen erschossen und alle Spuren beseitigt (vgl. Steinland, 302). Nachdem Clemencia zwei unbequeme Nächte in der Untersuchungshaft verbracht hat, ohne einen Haftprüfungstermin zu bekommen, holt Robinson sie am Morgen heraus und verkündet ihr, dass sie ab sofort frei sei, und zwar mit folgender Begründung: Ich meine, was hast du denn schon gemacht außer Beweismittel zu unterschlagen, die Akte deines Bruders verschwinden zu lassen, Verdächtige zu begünstigen, dich der Festnahme zu widersetzen? Na ja, Oshivelo und der Staatsanwalt und was weiß ich noch wer sind sich jedenfalls einig, dass die Anschuldigungen gegen dich haltlos sind. (Steinland, 298–299)

Deputy Commissioner Ndangi Oshivelo hält also letztlich seine Hand schützend über Clemencia, obwohl sie sich nicht korrekt verhalten hat und obwohl es zunächst so ausgesehen hat, als ob er gegen sie eingestellt sei, weil er auf Grund seiner früheren „Tätigkeit für die interne SWAPO-Aufklärung“ qua officio hinter jedem einen potenziellen Verräter vermutet (vgl. Steinland, 204). Diese Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens bei der Polizei fungiert als Abbild der Verhältnisse in den staatlichen Institutionen im Allgemeinen, und so verwundert es kaum, dass sich am Ende alle Beteiligten als käuflich erweisen und der wahre Hergang der Ereignisse unter den Teppich gekehrt wird; lediglich der korrupte Minister Shilongo wird zum Rücktritt gezwungen, wovon seinerseits der Staatssekretär Kawanyama profitiert, der nun Shilongo beerbt und zum Minister for Lands and Resettlement ernannt wird (Steinland, 304). Der Journalist Claus Tiedtke liefert im Gegenzug zu Clemencias Freilassung in der Zeitung die offizielle Version, und Clemencia stellt verbittert fest: „Alle hatten sich zurückpfeifen lassen, alle hatten ihre Haut und darüber hinaus so viel gerettet, dass sie damit leben konnten. Nur die Wahrheit war auf der Strecke geblieben“ (Steinland, 305). Damit reiht sich der Roman in die zahlreichen Krimis ein, in denen zwar der oder die Täter am Ende entlarvt werden, aber straffrei ausgehen und die Gerechtigkeit nicht zum Zug kommt. Stattdessen zielt der Text in eine andere Richtung, nämlich auf die Entlarvung der Drahtzieher in höheren Kreisen, welche Angehörige niedrigerer sozialer Schichten als Werkzeuge für ihre eigenen kriminellen Handlungen missbrauchen – wie es oben auch schon im Fall des Ex-Richters Fourie dargelegt worden ist. In Steinland geht es jedoch nicht um die Wahrheit und um Rache, sondern um die Korruption der Regierenden, die institutionelle Gewalt hervorbringt und prolongiert. Im dritten Roman Der lange Schatten spielt die Handlung abwechselnd in Deutschland und Namibia: Der erste Handlungsstrang setzt mit einer Grabschändung in Freiburg im Breisgau ein und der Protagonist Kaiphas Riruako reist dann

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nach Berlin weiter, um dort den in Freiburg ausgegrabenen Schädel unter die dort zu übergebenden Schädel von Herero aus der Charité zu schmuggeln, welche die eigens dafür angereiste Herero-Delegation nach Namibia zurückführen wird. Der zweite Handlungsstrang ist stets mit „Windhoek“ überschrieben und zeigt zunächst Clemencia Garises in ihrer neuen Funktion als Leiterin einer privaten Sicherheitsfirma, die ihren Bruder und eine Reihe seiner Freunde angestellt hat, diese nun schult und ihnen eine berufliche Perspektive zu bieten versucht. Derzeit ist sie verantwortlich für die Unversehrtheit der Gattin des deutschen Botschafters, Mara Engels, die Samuel, ein Kind aus dem Waisenhaus von Clemencias Tanten Miki und Selma, adoptieren möchte und zugleich die Urenkelin des Rassenhygienikers Eugen Fischer ist, der zu ‚Forschungszwecken‘ Schädel aus Namibia nach Deutschland gebracht hatte (vgl. Schatten, 86) und dessen Grab in Freiburg gerade von Kaiphas Riruako verwüstet worden ist. Beide Handlungsstränge werden also zunächst durch Maras Vorfahren Fischer zusammengeführt; an diesem Punkt setzt dann die Gegenwart ein, in der Botschafter Engels von der Entführung seiner Frau und Samuels erfährt. Er begreift auch, dass die Entführer bei der feierlichen Rückkehr der Schädel eine offizielle Entschuldigung für den 1904 von den Deutschen begangenen Völkermord an den Herero verlangen, um Mara und Samuel freizulassen (vgl. Schatten, 88–91). Wie auch schon bei den anderen Romanen bildet kriminelle Gewalt nur das oberflächliche Movens der Geschichte: Kaiphas tötet zwar bei seiner Tour durch Deutschland erst in Frankfurt einen Polizisten (vgl. Schatten, 59) und dann in Berlin einen Priester (vgl. Schatten, 168), bei dem er Unterkunft gefunden hat. Um ein vermeintliches Attentat bei der Übergabezeremonie in Berlin zu verhindern, erschießt eine Polizeieinheit schließlich Kaiphas in „putative[r] Notwehr“ (Schatten, 243), obwohl dieser nur einen Schädel in die Menge schleudern wollte. Mit zunehmendem Fortschreiten der Handlung stellt sich dann jedoch heraus, dass Kaiphas lediglich ein Werkzeug für die Interessen der Mächtigen darstellt, ein Herero, der unter falschem Namen eingereist ist und von einer unbekannten Stimme telefonische Anweisungen erhält, in deren Auftrag er als „Krieger“ in Deutschland die Verbrechen an seinen Herero-Ahnen rächen soll (vgl. z. B. Schatten, 220). Was auf den ersten Blick wie kriminelle Gewalt erscheint, erweist sich letztlich als sorgfältig geplante Aktion des Ministers Kawanyama, der eine Spaltung Namibias befürchtet, wenn die Herero von Deutschland Reparationszahlungen erhalten würden und damit einen Vorteil gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen des Landes hätten; es handelt sich um die schillernde Persönlichkeit des SWAPO-Establishments aus den beiden vorangegangenen Romanen, „derselbe Kawanyama, der schon in der Vergangenheit bewiesen hatte, dass er für das Wohl Namibias notfalls über Leichen ging. Der Kawanyama, mit dem Clemencia selbst noch eine Rechnung offen hatte. Dessen Unangreifbarkeit sie letztlich dazu bewogen hatte, aus dem

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Polizeidienst auszuscheiden.“ (Schatten, 216) Doch auch das hehre Ziel der Einheit Namibias ist nur vorgeschoben, denn Gewinner der ganzen Aktion ist letztlich die von Ovambo dominierte SWAPO-Regierung, während die Herero sowohl in Namibia selbst als auch international als „Entführer, Mörder und Leichenschänder“ erscheinen (Schatten, 258). Kaiphas ist also das eigentliche Opfer, dessen Tod von Minister Kawanyama einkalkuliert worden ist, so dass es keine Zeugen mehr geben würde, sowie – tragischerweise ein weiteres Mal – das gesamte Volk der Herero, dessen Vergeltungsansprüche gegenüber Deutschland von den eigenen Landsleuten auf Jahre hinaus unmöglich gemacht worden sind. Mit seinem Selbstmord, der wie ein Mord an ihm durch den deutschen Botschafter Engels aussieht, treibt Kawanyama selbst noch im letzten Moment seines Lebens das von ihm angezettelte Komplott auf die Spitze (vgl. Schatten, 274–275). Allerdings gelingt es ihm nicht, den Botschafter als Mörder dastehen zu lassen; vielmehr stellt sich heraus, dass sein Ministerkollege Desmond Haufiku der deutschen Polizei in Frankfurt den Tipp gegeben hat, Kaiphas zu kontrollieren (vgl. Schatten, 309) und so die folgenden Ereignisse ausgelöst hat. Kawanyama ist ihm zu ehrgeizig geworden und so setzt er all seine Intelligenz daran, diesen zu diskreditieren. Mit Botschafter Engels handelt er eine zufriedenstellende Version aus, der zufolge Kawanyama unter Depressionen gelitten und deshalb Suizid begangen hat (vgl. Schatten, 289–291). Und letztlich stellt sich auch die Entführung Maras als von ihr selbst inszenierter fake heraus, der ihren Mann dazu zwingen sollte, sich auf die ihrer Meinung nach richtige Seite der Geschichte zu stellen, sich offiziell für die Morde an den Herero unter dem deutschen Kolonialregime zu entschuldigen und Reparationszahlungen in Aussicht zu stellen. Damit würde sie sich einerseits von der von ihrem Urgroßvater Eugen Fischer begangenen Schuld reinwaschen und sich andererseits, so ihre Hoffnung, dafür qualifizieren, als Ausländerin entgegen den namibischen Gesetzen den Waisenjungen Samuel adoptieren zu können (vgl. Schatten, 295). In diesem dritten Text Jaumanns wird anschaulich der Zusammenhang zwischen Gewalt, Macht und Ressourcen durchgespielt, wobei letztere „im Kontext von Gewalt, oft, wenn auch nicht immer, miteinander verknüpft“ sind, wie Michaela Christ und Christian Gudehus darlegen (Gudehus und Christ 2013, 7). Ihnen zufolge lebt Macht von ihrer Potenzialität zur Gewalt und „Streben nach bzw. Sicherung von Macht, also von Kontrolle, [ist] potenziell mit Gewalt verknüpft“ (Gudehus und Christ 2013, 6, vgl. auch 4). Dieser Mechanismus ist im Langen Schatten mittels der Figuren der Minister Kawanyama und Haufiku in Szene gesetzt. Dabei ist das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt ein reziprokes: Sie haben die Macht, also greifen sie zur Gewalt, durch Ausübung von Gewalt vergrößert sich potenziell ihre Macht. Um Praktiken der Gewalt durchzusetzen, werden Ressourcen benötigt, in Form von Geld, Waffen oder Personal, und diese stehen den beiden Ministern qua Amt zur Verfügung, so dass sie letztlich ihren persönlichen Ehrgeiz durch Rückgriff

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auf institutionelle Gewalt zu befriedigen versuchen, im Fall von Haufiku erfolgreich, im Fall von Kawanyama nicht. Auch Mara Engels, die Frau des deutschen Botschafters, scheitert in ihren Bestrebungen, obwohl sie sowohl über Ressourcen wie auch über Macht verfügt; die namibischen Gesetze zur Adoption und die Interessen der nationalen Eliten stehen den ihren entgegen und hindern sie an der Durchsetzung ihrer Ziele, so wohltätig diese in ihren Augen auch sein mögen. Die ehemalige Inspektorin Clemencia Garises wiederum, als Repräsentantin der staatlichen Kontrollmacht zur Gewaltausübung befugt, hat ihre Machtposition freiwillig aufgegeben, weil sie erkannt hat, dass sie auch in dieser offiziellen Funktion toxische Machtausübung durch Gewaltpraktiken seitens staatlicher Institutionen oder sozialer Strukturen nicht aufdecken und der Justiz übergeben kann. Daher lautet das Fazit aus dem Ende der drei Romane im Kontext der strukturellen Gewalt: Zwar wird dem Whodunit? der Gattung Genüge getan und die Wahrheit ans Licht gebracht, doch die Täter werden nicht vom Gesetz zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen wird mehr oder weniger einvernehmlich unter allen Beteiligten eine Version für die Öffentlichkeit ausgehandelt, mit der alle weiterzuleben vermögen. Nach westlich-europäischem Rechtsempfinden könnte man dies als Un-happy End lesen, weil die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt und sich alle außer Clemencia mit einer offensichtlichen Lüge zufriedengeben. Man könnte diese unbefriedigenden Auflösungen der Kriminalfälle jedoch auch als Anstoß zum Überdenken dieser Position auffassen, als eine Möglichkeit, trotz aller gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, trotz massiver wirtschaftlicher Asymmetrien in von hoher Gewaltbereitschaft gekennzeichneten nachkolonialen Gesellschaften einen Modus vivendi zu schaffen, der, wenn schon keine Gerechtigkeit, zumindest eine Perspektive für das weitere Zusammenleben eröffnet. Allerdings lenken die Texte mit der Protagonistin Clemencia Garises, die ja explizit für Rechtstaatlichkeit und good governance kämpft und im dritten Buch kapituliert, die Rezeption in Richtung einer Kritik an Gewaltausübung durch Institutionen oder andere gesellschaftliche Strukturen, wodurch die Lektüre letztlich von Ambivalenz geprägt bleibt.

2.3 Kulturelle/symbolische/rassistische/sexuell codierte Gewalt Auf den vorangehenden Seiten dürfte bereits die Heterogenität sowohl der Gewaltpraktiken selbst als auch der dafür verantwortlichen Triggermechanismen offenkundig geworden sein, und im Grunde könnten einige der im Folgenden analysierten Gewaltformen in das vorherige Kapitel unter der Rubrik der strukturellen Gewalt eingereiht werden. Die bewusst unscharfe Überschrift dieses Kapi-

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tels verweist jedoch darauf, dass systembedingte Gewaltformen innerhalb der Strategie der Texte weitere Dimensionen aufzeigen, welche einen ausführlicheren Blick rechtfertigen. Dass sie in der Regel das Resultat von spezifischen ethnischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in Namibia (und nicht nur dort) sind, versteht sich von selbst, beantwortet aber noch nicht die Frage, welche kulturellen Codes jeweils aktualisiert und welche Semantiken hinter den einzelnen Gewaltinszenierungen aufgerufen werden (vgl. Geier 2013, 266–267), und darum soll es nun gehen. Vor allem rassistisch aufgeladene Formen physischer oder psychischer Gewalt spielen erwartungsgemäß eine prominente Rolle, deshalb sollen diese zunächst im Fokus dieser Betrachtungen stehen. In allen drei Romanen wird auf eine lange Reihe von interethnischen Konflikten referiert. Diese reichen zum einen zurück in vorkoloniale Zeiten, für welche Stephen Pinker nach Breckes Conflict Catalog für Subsahara- und Südafrika von 1400 bis 1938 die Zahl von 586 bewaffneten Auseinandersetzungen ansetzt, mit zum Teil verheerenden Folgen für die Bevölkerung (vgl. Pinker 2018, 444–445); im Langen Schatten bilden demgemäß, wie oben dargelegt worden ist, innerafrikanische, ethnische Konflikte zwischen Ovambo und Herero den Auslöser für die Mordserie und den Attentatsversuch. Zum zweiten ist es natürlich die grundsätzlich jeglicher „kolonialen Situation“ (Osterhammel 2009, 30) inhärente Gewalt, welche die Farmbesitzer in Steinland agieren lässt, als ob Namibia noch ihr Eigentum wäre und sie das Recht auf „Gewalt als signifikantes Mittel der kolonialen Herrschaftssicherung“ innehätten (Klose 2008, 251; vgl. auch Osterhammel 2009, 30–32 und Eckert 2006, 68–72). Der Weg in die Unabhängigkeit war ebenfalls fast in jedem Fall von Gewalt begleitet, gerechtfertigt nicht nur von Vordenkern der Dekolonisation wie Frantz Fanon in seinem berühmten Buch von 1961 Les Damnés de la terre; in der Stunde des Schakals bilden Vorgänge während der Dekolonisierungskriege Namibias das Movens für den Rachefeldzug an den ehemaligen Kämpfern auf Seiten des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die „kolonialen Wurzeln nachkolonialer Gewalt“, so der Titel eines Aufsatzes von Frank Schubert zum Fall Uganda, sich auch in Jaumanns Namibia-Entwürfen nachweisen lassen. Dabei ließen sich, Schubert zufolge, aus einer nachkolonialen Situation zwar „keine historischen Unvermeidbarkeiten oder Zwangläufigkeiten ableiten, die letztlich zu Bürgerkriegen führen müssten“, das koloniale Erbe jedoch, das sich in Uganda etwa in „Ethnofunktionalismus und ethnischen Hierarchisierungen“ niedergeschlagen hat und für „politische Instabilität und Gewalt“ verantwortlich zeichnet (Schubert 2008, 294), wird auch in den drei Kriminalromanen Jaumanns thematisiert und löst Morde und andere Verbrechen aus: Ist es in Stunde des Schakals die ungesühnte Verfolgung von SWAPO-Aktivisten durch das von Südafrika gesteuerte CCB, so sind es in Steinland die ungleichen Besitzverhältnisse in Namibia zu Ungunsten der schwarzen Mehrheitsbevölkerung und im Langen Schatten die

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ethnisch basierten, internen Machtkämpfe innerhalb der SWAPO-Regierung und die teilweise noch immer unaufgearbeitete historische Verflechtungsgeschichte Namibias und Deutschlands. Wenn auch in keinem der Romane ein Mord aus explizit rassistischen Gründen geschieht, so bildet Rassismus mit realer oder angenommener rassistischer Diskriminierung doch wie der basso continuo für ein barockes Musikstück das permanent anwesende Begleitmoment des Plots. Dabei finden sich alle Variationen physischer und psychischer Gewalt, direkt oder als Machtspiel, ausgeübt von Einzelnen gegen Einzelne, als unorganisierte, eher spontane Kollektivgewalt, von Kollektiven organisierte Gewalt oder schließlich von Staatsorganen systematisch angewandte Gewalt (vgl. Bergmann 2013, 62–63). So ist sich Clemencia bei der Befragung der Ehefrau des ermordeten van Zyl in Stunde des Schakals darüber im Klaren, dass diese sie belügt: Mevrou van Zyl log, zumindest verschwieg sie etwas Entscheidendes. Und sie würde es auch weiterhin verschweigen, denn sie hatte Clemencia gewogen und für zu leicht befunden. Für zu jung, zu unerfahren, einer wenig vertrauenswürdigen Polizei und der falschen Rasse zugehörig. (Schakal, 18)

An dieser Stelle wird durch die niederländische Anredeformel „mevrou“ direkt auf die burische und damit weiße Herkunft der Witwe van Zyl angespielt, für die es undenkbar ist, einer schwarzen weiblichen Polizistin zu vertrauen; die Polizei als Staatsorgan in einem überwiegend von Schwarzen regierten Namibia ist für sie ohnehin fragwürdig. Clemencia ist sich dieser Konstellation sehr wohl bewusst, sie hasst den „kaum verhüllten Rassismus der Weißen“ (Schakal, 20). Ihr weißer Kollege Bill Robinson hingegen ist davon überzeugt, dass er als Weißer gegenüber den Schwarzen bei der Polizei ohnehin stets benachteiligt sei (vgl. Steinland, 35) und „[n]achdem Clemencia ihm in der Mordkommission vor die Nase gesetzt worden war, hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen und sich über den neuen Rassismus zu beschweren, der einem Weißen wie ihm keine seinen Fähigkeiten entsprechende Karriere ermöglichte“ (Schatten, 121). Rassistisch getönte Gewalt unter Individuen ist, so zeigt sich in allen drei Texten, kaum je nur Privatsache, sie ist stets auch ethnisch, häufig auch sexistisch unterlegt, ferner spielt die sozio-ökonomische Position nicht selten eine wichtige Rolle. Am Duo Clemencia – Robinson zeigen die Texte Jaumanns zwar einerseits auf, dass offener Rassismus im Namibia der Gegenwart durchaus ein Tabu darstellt, dass vermeintliche oder reale Diskriminierungsphänomene jedoch unterschwellig wie ein Gift weiterhin die Gesellschaft spalten und aus unterschiedlichen Gründen von allen sozialen Akteuren gespeist und am Leben erhalten werden. Dadurch, dass diese rassistische Grundkonstellation hinter den Fakten stets mitgedacht werden

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muss, verkompliziert sich die Wahrheitssuche enorm; dies offenbart sich in Szenen wie jener, in der das Ermittlerduo Tobias Kausikus Freundin Emmy zu dem offensichtlich neu erworbenen Wohlstand des Paares befragt: „Mein Friseurladen läuft ganz gut.“ Robinson lachte, als habe er gerade einen besonders guten Witz gehört. Ob er auch gelacht hätte, wenn statt dieser Emmy eine Frau seiner eigenen Hautfarbe vor ihm gesessen hätte? Nein, dann hätte er gar nicht so gefragt. Das wirklich Schlimme daran war, dass Robinsons Reaktion nicht nur von schlecht verstecktem Rassismus zeugte. In der Sache hatte er wohl recht. Man konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der plötzliche Wohlstand im Hause Kausiku nicht mit legalen Mitteln zustande gekommen war. (Steinland, 30)

Diese Textstelle inszeniert aus personaler Perspektive Clemencias Überlegungen anlässlich dieser Zeugenvernehmung und reflektiert über die Schwierigkeit, in der komplexen Gemengelage von Rassismus und Gegenrassismus die Fakten herauszufiltern, zumal, wenn diese auch noch der eigenen Überzeugung entgegenstehen. Auf einer individuellen Ebene scheint jeder zu wissen, woran er ist; konsequenterweise wird z. B. Robinson und kein schwarzer Kollege zur Witwe Elsa Rodenstein auf die Farm Steinland geschickt, um „die Kommunikation“ zu erleichtern, wie sie vermutet (Steinland, 145) – das heißt, man weiß um die rassistischen Vorurteile, akzeptiert deren Existenz und bedient sich ihrer sogar, um bestimmte Ziele zu erreichen. Das alltägliche Zusammenleben der Menschen in Namibia erweist sich damit als ein kontinuierliches Aushandeln von Positionen im gesellschaftlichen Gefüge, wobei in den Texten positive und negative Zuschreibungen bezüglich Charakter und Aktionen der einzelnen namibischen Ethnien einigermaßen gleichmäßig verteilt sind: Die Texte schreiben in ihrer Gesamtstrategie eher gegen SchwarzWeiß-Manichäismus an, weil sie stets beide Seiten zu Wort kommen lassen, von der individuellen bis zur kollektiven Ebene. So singen die Kinder in Miki Selmas Waisenhaus das SWAPO-Kampflied „Mambulu djeimo mo Namibia – Buren, geht raus aus Namibia“ (Schatten 21), aber Miki Matilda würde einer Verbindung ihrer Nichte Clemencia mit dem blonden Claus Tiedtke durchaus zustimmen, denn „Weiße sind auch Menschen. Unter denen gibt es genauso anständige Leute und Schurken wie bei uns“, so ihr schlagendes Argument (Schakal, 97). Die Farmer hingegen werden als eine Gruppe inszeniert, die angesichts der existentiellen Bedrohung durch Enteignungen ihres Landes durchaus gewaltbereit sind, auch wenn die „Wagenburgmentalität“ im vergleichsweise friedlichen und leidlich rechtsstaatlichen Namibia auf Clemencia „ein klein wenig lächerlich“ wirkt (Steinland, 73). Folglich kommt es zu einer gewalttätigen Straßenschlacht zwischen Farmern und SWAPOAktivisten (vgl. Steinland, 132–139), bei der Clemencia von einem Stein am Kopf verletzt wird (vgl. Steinland, 140) und die zu nichts führen wird außer zu weiterer

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Konfrontation: „Nichts wäre geklärt, nichts gelöst, nur der gegenseitige Hass würde multipliziert werden“ wie der Text aus der personalen Erzählperspektive Clemencias konstatiert (Steinland, 134). Auch in Kollektiven ist rassistische Diskriminierung anderer Kollektive an der Tagesordnung, sei diese physisch oder psychisch. So ist häufig vom Misstrauen gegenüber der Polizei die Rede, wie im obigen Textbeispiel über die Ansichten der Mevrou van Zyl, der Witwe des ermordeten ehemaligen CCB-Kämpfers aus Stunde des Schakals. Wie berechtigt dies ist, zeigt Clemencias Vermutung bei der Benachrichtigung vom Mord, dass sie „überhaupt nur informiert [worden sei], weil ihre älteren Kollegen am Sonntagabend keine Lust verspürten, irgendwo die Leiche eines Weißen einzusammeln“ (Schakal, 11) – wäre die Reaktion bei einem ermordeten Schwarzen anders ausgefallen? so die unausgesprochene Frage an dieser Stelle. Auch die Farmer sind angesichts der Untätigkeit und Ineffektivität der örtlichen Polizei wütend und bereit, die ihnen durch Wilderei und Töten von Vieh entstandenen Schäden mit der Waffe in der Hand selbst zu verfolgen (vgl. Steinland, 71–72) und vermuten – wie sich am Ende herausstellt, zu Recht – das Ministry for Resettlement als Drahtzieher hinter den Überfällen (vgl. Steinland, 70–73). Sie sind empört über die offensichtlich rassistisch bedingte Diskriminierung ihrer Berufsgruppe und daher nur allzu bereit, die Schuld am vermeintlichen Mord an Gregor Rodenstein – der ja eigentlich ein Selbstmord ist – den jungen schwarzen Kleinkriminellen um Clemencias Bruder Melvin in die Schuhe zu schieben. Clemencia selbst wiederum misstraut den Farmern ebenso wie ihr ebenfalls schwarzer Kollege Tjikundu – erneut zu Recht, allerdings auch aus einem persönlichen Motiv, nämlich, um ihren Bruder Melvin zu beschützen. Jedoch ist sie sich über diesen Interessenkonflikt im Klaren und hadert mit sich selbst: Clemencia dachte, dass sie sich trotz ihrer Vorsätze alles andere als professionell und unparteiisch benommen hatte. Bei der Einvernahme von Frau Rodenstein und den Nachbarn war es ihr keineswegs um die Wahrheit gegangen. Sie hatte sich einzig darum bemüht, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern und Widersprüche zu provozieren. Dass sie Melvins Foto dem Großteil der Farmer nicht gezeigt hatte, war völlig untragbar. (Steinland, 75)

Im Gegensatz zu Clemencia, die sich gemeinsam mit ihrem Freund, dem Journalisten Claus Tiedtke, um eine gewisse Objektivität bei den Fakten und eine Vermeidung diskriminierenden Verhaltens bemüht, bleiben die meisten übrigen Figuren den rassistischen Verhaltensmustern verhaftet. Und gerade die Weißen, die sonst auf Rechtsstaatlichkeit und Gesetzestreue pochen, wollen „das Blut spritzen sehen“, wenn einem von ihnen etwas geschieht, und ein Mord an einem Weißen macht Schlagzeilen, während die tägliche Kriminalität in den Townships unbemerkt vonstattengeht und sich niemand dafür interessiert, dass die „Gefahr, umgebracht zu werden, für einen Schwarzen immer noch zehnmal größer“ ist

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(Schakal, 19, auch 18). Auch der deutsche Botschafter Engels würde nicht davor zurückschrecken, die beiden Männer, die ihm gefolgt sind, zu foltern, um den Aufenthaltsort seiner entführten Frau Mara herauszubekommen (vgl. Schatten, 149), was Clemencia nicht wirklich verwundert: Die Vertreter des hochentwickelten Europas waren eben auch nicht besser als die Machthaber Afrikas. Europäer mochten die Menschenrechte zum ersten Mal formuliert haben, doch unbestritten herrschten sie dort auch nur in Sonntagsreden oder wenn man sie vom Rest der Welt einforderte. (Schatten, 150–151)

Auch die Botschaftergattin Mara gehört zu den Figuren, die sich selbst für einen guten Menschen halten, will sie doch mit der Adoption des stummen Waisenjungen Samuel das durch ihren Vorfahren begangene Unrecht wiedergutmachen. Um dies zu erreichen, hat sie sich von dem für Adoptionsverfahren zuständigen Beamten Tjitjiku dazu überreden lassen, ihren Mann zum Versprechen von deutschen Reparationszahlungen wegen des Genozids an den Herero zu bewegen und zu diesem Zweck ihre eigene Entführung vorgetäuscht (vgl. Schatten, 301). Doch genau so wenig wie dieser gewaltsame Akt zum Erfolg geführt hat, genau so wenig ist auch Kaiphas’ Versuch, den Schädel des Rassenhygienikers Fischer symbolisch nach Namibia zu entführen, geglückt, und der Text erteilt beiden Akten von kulturell motivierter Gewalt eine klare Absage: „Nein, so verständlich die jeweilige Motivation sein mochte, auf diese Weise konnte man nicht mit Schuld umgehen. So durfte man nicht mit Menschen umspringen, weder mit lebenden noch mit toten.“ (Schatten, 307) Eine andere kulturelle Gewalt seitens der Weißen stellt die Landnahme und Neubenennung des Landes dar, so wie es die Vorfahren des toten Gregor Rodenstein unternommen haben. Kausiku versucht beim Verhör, seine Anwesenheit auf dem Gebiet der Farm Steinland damit zu rechtfertigen, dass es Land seiner Ahnen sei, ehemals Okangava geheißen hatte und von den Weißen gestohlen worden sei (vgl. Steinland, 46). Im Anschluss daran wechselt der Text dann in die kursiv abgesetzte Erzählung der Geschichte der Rodensteins in Namibia und beschreibt den Akt der Landnahme durch die neuen Benennungen, die rasch die eigentlichen Landschaftsund Ortsbezeichnungen der Herero, Nama oder Damara verdrängten: Viel Phantasie hatte Johann Rodenstein bei seiner Namensgebung nicht aufgewendet. Die erste Assoziation, die ihm bei der Betrachtung der Bergumrisse kam, schien gut genug. Dennoch war der Taufakt genau so wichtig wie der bei den eigenen Kindern. Erst durch ihn erlangten die Berge Individualität. Sie wurden zu etwas Eigenem und gleichzeitig zu Rodensteins Besitz. Auch wenn er sie nicht aufgetürmt hatte, waren sie doch so etwas wie seine Geschöpfe, denn sie kündeten davon, dass er sich die Macht genommen hatte, ihnen mit den Namen Identitäten überzustülpen, die sie – wie seine Kinder – nie mehr würden abstreifen können. (Steinland, 49)

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Seit Christoph Columbus’ feierlicher Inbesitznahme des später Amerika genannten Kontinents haben derartige Akte der Neubenennung in kolonialen Kontexten weltweit tausendfach stattgefunden und ihr Sinn ist jedes Mal derselbe: Eine semantische Umdeutung des Bestehenden bei gleichzeitiger Machtdemonstration (vgl. hierzu Dunker/Stolz/Warnke 2017). Sie stehen zumeist am Anfang einer gewaltsamen, durch entsprechende Staatsorgane der kolonisierenden Macht abgesegneten Aneignung von Land und Menschen unter gleichzeitiger Missachtung und Annullierung bestehender geographischer und sozialer Strukturen und Kontexte. Besonders in Steinland bildet diese Problematik um den Landbesitz das Movens der Geschichte: Die jungen Männer aus Katatura um Clemencias Bruder Melvin sind eigentlich zur Farm Steinland gefahren, um bei Vollmond der Ahnen von Tobias Kausikus zu gedenken, was sich selbst für Clemencia „einfach falsch“ anhört und bei ihrem weißen Kollegen Robinson nur Hohn hervorruft; sie bieten sich aufgrund ihrer Herkunft geradezu dafür an, dass die Farmer, die im selben Moment fassungslos um den toten Gregor Rodenstein stehen, ihnen einen Mord anhängen und damit den Selbstmord Rodensteins in einen rassistisch motivierten Mord oder Raubmord verwandeln (vgl. Steinland, 46–48). Clemencias Vater fasst einmal zusammen: „Zuhause ist, wo deine Toten liegen“ (Steinland, 190); die Rodensteins sind sich dessen durchaus bewusst und verweigern einem bei ihnen angestellten Damara nach dessen Tod ein Grab auf dem Farmgelände, um keine späteren Ansprüche entstehen zu lassen (vgl. Steinland, 59–60), während Gregor Rodensteins Frau auf dem felsigen Gelände der Farm ihrem toten Mann eigenhändig sein Grab aushebt, „tief unter der Oberfläche des Lands, das ihr und ihm Heimat gewesen war“ (Steinland, 269). Im Langen Schatten wird die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Landbesitzes erneut am Ort der Totenruhe festgemacht, indem der durch den Ovambo-Minister Kawanyama gesteuerte Herero Kaiphas einerseits den Schädel des Ethnologen Fischer in Freiburg ausgräbt, um ihn nach Namibia zu ‚entführen‘, andererseits die Berliner Charité die zu ‚Forschungszwecken‘ im neunzehnten Jahrhundert entwendeten Schädel namibischer Bevölkerungsgruppen offiziell zurückgibt. Letztlich werden in beiden Fällen Akte der Gewalt als Folge von staatlicher Machtausübung inszeniert, die jedoch von Personen wie dem Staatssekretär und späteren Minister Kawanyama repräsentiert wird, der in beiden Fällen das Wohl Namibias über alles stellt und für seine persönliche Karriere und die Durchsetzung seiner Version der SWAPO-Weltanschauung über Leichen geht; selbst sein Selbstmord am Ende des Langen Schattens dient noch diesem Ziel. Die Präsentation verschiedener Formen von Gewalt, wie in der Kapitelüberschrift angedeutet, ließe sich fortsetzen; so ist Clemencia in allen drei Texten der mehr oder minder sanften Gewalt ihrer Tanten ausgesetzt, die sie entweder z. B. um Geld oder Handy erleichtern oder sie mit Hilfe eines Liebeszaubers verheiraten wollen (vgl. Schakal, 207), insgesamt aber durchweg kaum Respekt vor Clemencias

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Privatsphäre und ihren beruflichen Verpflichtungen haben. Als Folge dieser familiären Repression denkt Clemencia bei vielen ihrer Überlegungen oder Handlungen die potenzielle Reaktion ihrer Tanten automatisch mit (vgl. z. B. Schakal, 132–133); dadurch entwirft der Text einen Dialog zwischen der um Objektivität und Unabhängigkeit ringenden jungen Ermittlerin und den Verhaltensnormen ihrer gesellschaftlichen Schicht, die sich einerseits durch ihre schwarze Hautfarbe, andererseits durch ihren sozialen Status als BewohnerInnen der berüchtigten Township Katatura definiert. Zum Alltag in Katatura gehören Drogen, Diebstahl, Kinderprostitution und häusliche Gewalt (vgl. z. B. Schakal, 60–65), Formen von allgegenwärtiger Gewalt, die jedoch nur ausnahmsweise narrativ ausgebreitet, in der Regel stattdessen nur als allseits bekannte Fakten erwähnt werden. Obwohl die Romane für ein deutschsprachiges Publikum geschrieben sind, scheint die Strategie hinter diesem erzählerischen Vorgehen zu sein, jeglichen Armuts-Voyeurismus eines gutsituierten Lesepublikums im Norden gegenüber den schwierigen Lebensbedingungen in einem schwarzen Viertel Windhoeks peinlichst zu vermeiden und zwar Denkanstöße zu geben, aber die Rezeption so zu lenken, dass die RepräsentantInnen aller in den Texten auftretenden ethnischen Gruppen gleichermaßen positiv und negativ konnotiert sind. Folglich erlaubt auch der Wechsel Clemencias vom staatlichen Polizeidienst zur Gründung einer eigenen Sicherheitsfirma kontroverse Lesarten: In diesem Schritt spiegelt sich die Kapitulation vor der den staatlichen Organen inhärenten Gewaltbereitschaft, dem alltäglichen Rassismus in beide Richtungen und der Einsicht in die Unmöglichkeit, in einem derart korrupten System wie der Polizei und darüber hinaus der Politik jemals Gerechtigkeit schaffen zu können und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Andererseits drückt dieser Schritt Clemencias Bestreben nach Unabhängigkeit aus und Ihren Willen, zumindest in ihrer unmittelbaren Umgebung die Verhältnisse zum Besseren zu verändern, indem sie ihrem Bruder Melvin und seinen Freunden Arbeitsplätze und damit eine würdige Perspektive für die Zukunft bietet; damit eröffnet der dritte Roman Der lange Schatten ein Fenster auf ein Happy End. Mit diesem ‚Sowohl-Als-Auch‘ ist bereits ein teilweises Fazit formuliert, das nun abschließend systematisiert werden soll.

3 Fazit: Gewalt im Plural als Fundament des Afrika-Krimis Die Namibia-Krimis von Bernhard Jaumann zeichnen „die Gegenwart [Namibias] als Vexierbild der Vergangenheit“ (Augart 2015, 148), indem sie jeweils das „historische Verbrechen mit fiktiven Verbrechen in der Gegenwart [mischen], wobei die

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Lösung des zweiten auch die des ersten bereithält“ oder zumindest offenlegt (Augart 2015, 148). Diese Multiperspektivität ist nicht nur der narrativen Strategie mit ihren unterschiedlichen Erzählsträngen und -perspektiven eingeschrieben, sondern offenbart sich auch und insbesondere in der genreinhärenten Präsentation von Gewalt in ihren diversen Spielarten. Bei der Analyse der Texte hat sich gezeigt, dass Jaumann zwar die für das Krimi-Genre konstitutive kriminelle Gewalt inszeniert und ein klassisches Verbrechenspanorama mit Morden, Entführungen, Bedrohungen, Erpressungen und Verfolgungsjagden ausbreitet, zugleich aber offenbart sich bei genauerem Hinsehen, dass diese Gewaltformen in den meisten Fällen als Spätfolge früherer Gewalt zu lesen sind. Folglich sind die Romane in erster Linie als Geschichtskrimis zu klassifizieren, bei denen die fiktive Gewalt der Gegenwart als Konsequenz oder Spätfolge historischer Gewalt der Vergangenheit wahrzunehmen ist: So entpuppen sich die Opfer der Mordserie in der Stunde des Schakals als ehemalige Angehörige des von Südafrika gesteuerten Killerkommandos, das den weißen SWAPO-Rechtsanwalt Anton Lubowski 1989, kurz vor der Erlangung der Unabhängigkeit Namibias, hinrichtete, Auftraggeber ist der Richter Fourie, der damals die bereits in Untersuchungshaft befindlichen Attentäter freilassen musste. Im Roman Steinland wird die blutige Geschichte der Kolonisierung Namibias durch die deutsche Farmersfamilie Rodenstein aufgerollt, die bis in die Gegenwart zu Gewalt und Gegengewalt führt, seitens der militanten Farmer, die ihren Besitz verteidigen, ebenso wie seitens korrupter Regierungsmitglieder, die sich die Farmen aneignen wollen und auch vor Morden an ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe nicht zurückschrecken. Im dritten Roman schließlich wird die Restitutionsdiskussion afrikanischer Raubkunst und Leichenteile ‚zu Forschungszwecken‘ verhandelt und Der lange Schatten des Titels von den um 1900 nach Deutschland verbrachten Herero-Schädeln bis in die Gegenwart verfolgt, als im Gegenzug der junge Herero Kaiphas den Schädel des Wissenschaftlers Fischer in Freiburg ausgräbt und nach Namibia entführen will, wobei er zwei Morde begeht und ein Attentat in Berlin in letzter Sekunde verhindert wird. Randall Collins geht in seiner umfangreichen Studie zur Dynamik der Gewalt auf der individuellen Ebene davon aus, dass Gewalt in erster Linie situationsbedingt entsteht und erst in zweiter Linie durch soziale, ethnische oder kulturelle Parameter in Gang gesetzt wird. Dabei hält er als „historisches Muster“ fest, dass „die Fähigkeit zur Gewalt mit dem Grad der sozialen Organisation gewachsen ist. Gewalt ist nicht ursprünglich, und Zivilisation zähmt sie nicht“, wie er betont (Collins 2011, 50). Jaumanns Texte scheinen diese Auffassung geradezu idealtypisch zu illustrieren, zeigen sie doch, wie die in den vermeintlich ‚zivilisierenden‘ Kolonialisierungsprozessen in Namibia ausgeübte Gewalt von der während der blutigen Dekolonisierungskriege abgelöst wird und schließlich in eine latent oder offen gewaltbereite postkoloniale Gesellschaft mündet, in der schon Kinder Selbstvertei-

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digung üben, um als Subjekte handlungsfähig zu bleiben (vgl. Steinland, 65 und Dorlin 2022, 19). Dass die Strategie der Texte Täter und Opfer aus verschiedenen Gruppen auftreten lässt, Weiße ebenso wie Schwarze, Namibier ebenso wie Deutsche, Ovambo ebenso wie Herero oder Damara, verweist auf die komplexe gesellschaftskritische Intention der Romane, die eben gerade nicht in einer SchwarzWeiß-Dichotomie oder ökonomisch bedingten Machtasymmetrie mündet, sondern zeigt, dass Gewalt in vielerlei Formen von allen gesellschaftlichen Gruppen ausgeübt wird, auf jeden Fall aber verurteilenswert ist, weil sie in der Regel weitere Gewalt nach sich zieht. Damit zeichnen die Romane ein realistisches Bild des gegenwärtigen Namibia mit detaillierten Rückgriffen auf die Vergangenheit und leisten im Format des Kriminalromans einen Beitrag zur Aufarbeitung der shared history zwischen Namibia und Deutschland.

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Prisma Sansibar Zur Modellierung regionaler Konfliktgeschichte in globalen Zusammenhängen bei Abdulrazak Gurnah und in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

1 Einleitung Die Romane des in Sansibar geborenen afrikanischen und britischen Autors und Literaturwissenschaftlers Abdulrazak Gurnah (*1948), Träger des Literaturnobelpreises 2021, leisten einen wichtigen englischsprachigen Beitrag zur kritischen Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte und ihre bis heute nachwirkenden Folgen – so namentlich in Paradise (1994) und Afterlives (2020). Darüber hinaus reflektieren sie auf autobiographischer Folie, oft anhand sansibarischer bzw. ostafrikanischer Migranten in Großbritannien, immer wieder die traumatische Gewalterfahrung der Revolution von 1964 in dem gerade erst in die Unabhängigkeit entlassenen multiethnischen Inselstaat mit seinen mehrschichtigen transkulturellen und globalen Bezügen: im jahrhundertealten Interaktionsraum Indischer Ozean, der in den erzählten Familiengeschichten durch die Kolonialzeit und die Revolution bis in die Gegenwart ausstrahlt; als Sitz des arabischen Sultanats von Oman und Sansibar mit seinem bis nach Zentralafrika hineinreichenden Handels- und Machtgefüge; als Brennpunkt deutscher und britischer Kolonialpolitik bzw. (nach 1964) des globalen Kalten Krieges, sowie im Horizont der neuen Verschaltung erlebter Gewaltgeschichten aus aller Welt im Gefolge postkolonialer Migration. In Romanen wie Memory of Departure (1987), Admiring Silence (1996), By the Sea (2001) und Gravel Heart (2017) modelliert Gurnah diese komplexe regionale Konfliktgeschichte in transnationalen und globalen Zusammenhängen, die von seinen Protagonisten, deren Angehörigen und den Begegnungen in der britischen Diaspora repräsentiert und miteinander vernetzt werden. Dabei stellt Gurnahs differenzierte postkoloniale Erinnerungspoetik geläufige politisch-historische Narrative (z. B. kolonialer, panafrikanischer oder postkolonialer Herkunft) ebenso in Frage wie jene populären exotistischen und inter- bzw. transkulturellen Projektionen, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gern mit Sansibar und seiner Geschichte verbunden werden. Der Aufsatz soll daher einschlägige deutschsprachige Texte – wie Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006), Hans Christoph Buchs Sansibar Blues (2008), Nicole C.Vosselers Sterne über Sansibar (2010), Micaela Jarys Sehnsucht https://doi.org/10.1515/9783111181530-013

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nach Sansibar (2012), Lukas Hartmanns Abschied von Sansibar (2013), Wolf-Ulrich Cropps Wie ich die Prinzessin von Sansibar suchte und dabei mal kurz am Kilimandscharo vorbeikam (2016) und Cornelia Engels Im Schatten der Vanille (2021) – vergleichend auf der kritischen Folie von Gurnahs prismatischer Darstellung der regionalen Konfliktgeschichte Sansibars in ihren weiteren, teils globalen Kontexten analysieren.

2 Überlagerungen: Kolonialismus und Indischer Ozean Mit wenigen Ausnahmen tendieren deutschsprachige Romane über Sansibar und sein historisches Hinterland in Ostafrika dazu, diesen multiethnischen, multilingualen und multikulturellen Raum mit seiner Einbindung in den jahrhundertealten Interaktionsraum Indischer Ozean (vgl. Desai 2013, Alpers 2014, Karugia 2017) zu idealisieren – entweder exotistisch als ein hybrides afrikanisch-orientalisches Faszinosum oder kosmopolitisch als Verwirklichung heutiger Ideale interkulturellen Zusammenlebens mit quasi-globalen Bezügen (vgl. Göttsche 2017). Um nur einige Beispiele zu nennen: In Micaela Jarys „Liebeserklärung“ an die Insel – so das Nachwort (Jary 2011, 441) –, dem 1888 spielenden historischen Roman Sehnsucht nach Sansibar, steht die Insel für alle drei Protagonistinnen – starke selbstbestimmte Frauenfiguren, mit denen sich heutige Leserinnen identifizieren können – für eine ‚bezaubernde und geheimnisvolle‘ „Verheißung“ (23) am Schnittpunkt von Afrika und Orient; sie wird (den Kolonialfantasien der Zeit entsprechend) als „Ort der ersehnten Freiheit“ (24) imaginiert, die im Deutschen Reich nicht zu erreichen ist, und zeigt sich nach Ankunft als ein buntes und faszinierendes „Völkergemisch“ (154) vor der Folie der alten „Handelsbeziehungen zwischen Indien, Arabien und Ostafrika“ (173). Zwar stirbt eine der Frauen an Malaria, eine andere wird auf die sozialen Kehrseiten des Sultanats aufmerksam, auf „Armut und Krankheit, Kriminalität und Gewalt“ „der in die Freiheit entlassenen Sklaven“ (239), und der sog. ‚Araber-Aufstand‘ von 1888 gegen die deutsche Kolonialisierung wird zumindest gestreift. Der einleitende exotistische Sansibar-Diskurs wird aber nicht wirklich in Frage gestellt; die Enttäuschungen und Widerstände (etwa in der Bekämpfung der Cholera) werden von den Figuren eher als Herausforderungen begriffen, so dass der Roman geradezu in einen kolonial-nostalgischen Ton verfällt. Der erste Teil von Cornelia Engels „Sansibar-Saga“, Im Schatten der Vanille, rekapituliert historisch-thematisch und diskursgeschichtlich weithin dasselbe Terrain, auch wenn er die „Kontraste“ (Engel 2021, 32) seines orientalistisch-kolonialen Settings stärker ausspielt. Gestützt auf entsprechende Motive in Emily Ruetes Me-

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moiren einer arabischen Prinzessin (1886), die auch Engel einleitend verarbeitet, evoziert Nicole C. Vosseler in ihrem biographisch-historischen Roman Sterne über Sansibar ebenfalls den exotistischen und multikulturellen Sansibar-Diskurs. In Wolf-Ulrich Cropps romanhafter Reisereportage aus der Gegenwart, Wie ich die Prinzessin von Sansibar suchte, die ebenfalls von Emily Ruete ausgeht, wird zwar ausführlich und auch kritisch an die deutsche Kolonialzeit, an die Geschichte des Sultanats Sansibar bis zur Revolution von 1964, an Sklavenhandel und antikolonialen Widerstand erinnert, und auch die sozialen Probleme des heutigen Ostafrika spielen eine Rolle. Trotz selbstironischer Distanzierungsgesten von der exotistischen „Sehnsucht Afrika“ (Cropp 2016, 12) und dem touristischen Klischee einer „afroarabischen Welt aus ‚Tausendundeine[r] Nacht‘“ (149) figuriert Sansibar aber weiterhin als „Trauminsel“ (115), die mit ihrem „Mix aus Arabern, Indern, Afrikanern und Europäern“ „Multikulti auf engstem Raum. Kosmopolitisches Nebeneinander“ bietet (150). In inhaltlicher Abwandlung des Buchtitels des Historikers und einstigen deutschen Botschafters in Tansania, Heinz Schneppen – Sansibar und die Deutschen. Eine besonderes Verhältnis (2003) –, kann man also wohl tatsächlich von einem besonderen deutschen Sansibar-Mythos sprechen, in dem sich historische Ostafrika-Klischees (vgl. Göttsche 2017) noch einmal verdichten. Abdulrazak Gurnah verfährt sowohl in seinen historischen Romanen wie in seinen Migrationsromanen, deren erzählte Geschichten von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart reichen, erheblich vorsichtiger – wie übrigens auch einige anspruchsvollere deutsche Romane wie Trojanows Der Weltensammler, H.C. Buchs Sansibar Blues oder Hartmanns Abschied von Sansibar: bei Trojanow durch die Einschaltung indigener kontrapunktischer Gegenstimmen gegen den kolonialen ‚Entdecker‘ Richard Burton, wobei die ironische Brechung im ostafrikanischen Teil des Romans noch dadurch verdoppelt wird, dass sein Publikum in Sansibar dem alten Gegenerzähler Sidi Mubarak Bombay, einem bis Indien, Zentralafrika und Kairo weit herumgekommenen einstigen Sklaven, kaum noch zuhört oder glaubt (vgl. Göttsche 2013, 202–206); bei Buch durch die metafiktionale Arbeit mit historischen Stimmen aus Sansibar (s. u.); bei Hartmann durch die Erlebnis- und Erinnerungsperspektiven von Emily Ruetes Kindern, die kulturell „zwischen den Welten“ und politisch „zwischen den Fronten“ stehen (Hartmann 2013, 47 und 16). Bei Gurnah treten indigene Stimmen und Erfahrungen ganz in den Vordergrund: Gegen retrospektive Idealisierungen des vorkolonialen Afrika und gegen essentialistische und nationalistische Formen postkolonialer Identitätspolitik stellen seine Romane Sansibar und die von der Swahili-Kultur geprägten Gesellschaften Ostafrikas als ebenso heterogen und von sozialen und Machtkonflikten gekennzeichnet dar wie die kosmopolitische Welt des Indischen Ozeans als ganze und auch das von postkolonialer Migration geprägte Großbritannien der weiteren Gegenwart. In den Worten von Tina Steiner und Maria Olaussen:

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Gurnah offers stories that imagine ‚Africa‘ and indeed ‚Britain‘ [und Deutschland und Österreich, könnten wir mit Blick auf Afterlives und By the Sea ergänzen, D.G.] as inter-cultural and inter-linguistic spaces of geopolitical proximity and possible affiliation. His stories cautiously celebrate alternative social encounters, but these are always under threat by exploitative economic relations masked by violent identity politics […]. (Steiner und Olaussen 2013, 2)

Befreiende kulturelle Grenzüberschreitungen und kosmopolitische Potentiale reiben sich mit den harschen materiellen Bedingungen und sozioökonomischen Praktiken in allen dargestellten Gesellschaften (vgl. Berman 2013, 54), und dazu gehören wesentlich Formen der Ausbeutung, Machtpolitik und Gewalt, die die Entfaltungs-, Handlungsund Widerstandsmöglichkeiten der Figuren und ihrer unmittelbaren sozialen Umfelder wesentlich mitbestimmen. Entsprechend ambivalent ist auch die Einbettung und partielle Relativierung der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika in dem viel älteren Universum des Indischen Ozeans in den mit der deutschen Kolonialgeschichte befassten Romanen Paradise und Afterlives (vgl. Göttsche 2023). Dass die deutsche Kolonialherrschaft in Ostafrika in Paradise ganz am Rande des Bildungsromans des jungen Swahili Yusuf, durch dessen Geschichte Gurnah die ostafrikanische Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs dort darstellt, zu bleiben scheint, unterstreicht die zentrale Bedeutung, welche die sozioökonomischen Strukuren des Indischen Ozeans für die SwahiliGesellschaft weiterhin besitzen. Diese Welt ist aber alles andere als konfliktfrei: Yusuf wird von seinem Vater als Sicherheit für unbezahlte Handelsschulden an den reichen arabischen Händler Aziz in einer ungenannten ostafrikanischen Hafenstadt geradezu verpfändet, so dass er – wie einer seiner Mentoren bemerkt (Gurnah 1994, 89) – in sklavenähnlichen Verhältnissen aufwächst. Aus ihnen bricht der nun etwa 18jährige erst am Ende des Romans aus, indem er sich 1914 als Askari der deutschen Kolonialarmee anschließt. Dieser verzweifelte Schritt von einer Form der Gewalt zu einer anderen veranschaulicht symbolisch die Ausbeutung und auch den psychischen Druck, denen er in seinen Teenagerjahren bei Aziz ausgesetzt war. Eine ganze Reihe von Parallelfiguren unterstreicht die sozioökonomische Gewalt, mit der die swahili-arabische Elite der ostafrikanischen Küstenstädte mit ihrem Karawanenhandel bis nach Zentralafrika sowie ihre indischen Financiers über andere Bevölkerungsgruppen herrschen und sie rücksichtslos ausbeuten. Nicht zufällig zieht der Roman direkte Parallelen zwischen Aziz als Karawanenherr im afrikanischen Inneren und den europäischen Kolonialherren: Beide bewegen sich mit dem Gestus absoluter Überlegenheit über die schwarzafrikanische Bevölkerung und bedienen sich, gestützt auf einen Apparat von Untergebenen, zur Durchsetzung ihrer Ziele rücksichtsloser Gewalt. Zum Anderen aber wird das auf den Karawanenhandel gegründete sozioökonomische System der Küstenstädte in einer von der deutschen Kolonialherrschaft ausgelösten tiefen Krise gezeigt, für die

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symbolisch das Scheitern von Azizʼ letzter und größter Expedition steht. Über die Macht- und Handelsstrukturen des Indischen Ozeans, die gleichwohl fortbestehen, legt sich die ganz anders ausgerichtete geopolitische Infrastruktur der europäischen Kolonialmächte. Nur das Einschreiten des deutschen Militärs verhindert die völlige Vernichtung von Azizʼ Karawane, während in der Konkurrenz um die natürlichen Resourcen des Landes die Deutschen die traditionellen Händler zunehmend verdrängen. In den Worten eines hellsichtigen afrikanischen Lokalfürsten: „Your caravan trade is finished […]. The Europeans and the Indians will take everything now.“ (Gurnah 1994, 176) Die deutsche Kolonialherrschaft ist also trotz der Fokussierung auf die Binnenstrukturen der Swahili-Gesellschaft in Paradise alles andere als marginal. In Afterlives vertieft Gurnah diese Analyse der komplexen Überlagerung der alten Infrastruktur des Indischen Ozeans durch die europäische Kolonialherrschaft. Zugleich schlägt er hier einen großen historischen Bogen von der deutschen Kolonialzeit über den Ersten Weltkrieg in Ostafrika und die anschließende britische Kolonialherrschaft bis in die 1960er Jahre, in denen der Sohn von Yusuf (der nun Hamza heißt) in Westdeutschland das post-imperiale Schicksal seines Onkels Ilyas recherchiert. Dieser war nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland emigriert, hatte dort vergeblich Anerkennung als einstiger Askari gesucht, eine Deutsche geheiratet, und wurde dann – zusammen mit seinem afrodeutschen Sohn – im Konzentrationslager Sachsenhausen von den Nazis ermordet (sein Schicksal erinnert an den historischen Fall von Mahjub bin Adam Mohamed, vgl. Bechhaus-Gerst 2007). Afterlives verbindet also einen historischen Roman aus der deutschen Kolonialzeit mit einer Postmemory-Perspektive, die konzeptionell eher in den 1990er als in den 1960er Jahren zu erwarten wäre; er verknüpft zugleich im Sinne von Michael Rothbergs Begriff „multidirectional memory“ (Rothberg 2009) die kritische Erinnerung an die Kolonialzeit mit jener an den Holocaust und die Leidensgeschichte Schwarzer Menschen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich (vgl. Göttsche 2023). Der zweite Teil von Afterlives, der Yusuf/Hamzas Erlebnisse als Askari im Ersten Weltkrieg zum Gegenstand hat, zeigt drastisch die Brutalität der deutschen Kolonialarmee, die Erosion kolonialer Moral und das Scheitern des Krieges, den Yusuf/Hamza schwer verletzt überlebt. Im dritten und vierten Teil, die in derselben Küstenstadt wie zuvor Paradise, nun aber in den 1920er bis 1950er Jahren spielen, wird die weitergehende Transformation der sozioökonomischen Infrastruktur unter britischer Kolonialherrschaft erkennbar. In der Nachfolge von Aziz sind es nun die Händler bzw. Unternehmer Amur Biashara und sein Sohn Nassor, in deren Firma und Schicksal die Erosion der alten Handelsbeziehungen mit Arabien, Indien und Südostasien sichtbar wird. Im Zuge von Industrialisierung und kolonialer Entwicklung treten professionalisierte Produktionsweisen, einheimische Produkte

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(z. B. die Fertigung von Büromöbeln für die Kolonialverwaltung), moderne Logistik (z. B. motorisierte Handelsboote), kapitalistische Konzernbildung und neue Karrieremöglichkeiten an die Stelle der alten Handelsstrukturen. Die britische Kolonialherrschaft zwingt die Swahili-Gesellschaft also dazu, noch konsequenter als unter der deutschen Herrschaft von der Welt des Indischen Ozeans auf eine anglozentrische Form kolonialer Globalisierung umzustellen bzw. sich mit dieser auseinanderzusetzen. Trotz dieser ökonomischen Umorientierung bleibt die Welt des Indischen Ozeans jedoch auch in Gurnahs Migrationsromanen, die in und nach der sansibarischen Revolution von 1964 spielen, von Bedeutung und grundiert die dargestellten postkolonialen Lebensläufe stärker als die nun schon länger zurückliegende deutsche Kolonialzeit. In Memory of Departure bricht der etwa 18jährige Protagonist aus der Zukunftslosigkeit seiner Existenz im nachrevolutionären Sansibar aus, indem er als ungelernter Arzthelfer auf einem mutmaßlich britischen Handelsschiff anheuert, das über Bombay und Madras nach Singapur unterwegs ist. In Gravel Heart erzählt der Vater des nach England ausgewanderten Protagonisten diesem bei seinem Besuch in Sansibar nach langen Jahren der Abwesenheit, wie er einst im gleichen Alter nach Schulabschluss während der Revolution in Sansibar geblieben war, statt mit dem Rest seiner Familie nach Dubai zu fliehen, später aber seinem eigenen Vater, einem Korangelehrten und Lehrer, nach Kuala Lumpur folgte, um Abstand von den traumatischen Familienkatastrophen zu gewinnen. Erst nach dem Tod seiner Frau, der Mutter des Protagonisten, kehrt er nach Sansibar zurück. Die latenten Ähnlichkeiten zwischen den Migrationsgeschichten von Vater und Sohn rücken Sansibar in Gravel Heart so in einen geographisch-kulturellen Spannungsraum, der von Malaysia bis Großbritannien reicht, die Karten des Indischen Ozeans und des britischen Empire also gewissermaßen übereinanderlegt. In By the Sea ist der familiäre Konflikt, den die beiden gegensätzlichen und doch komplementären (nicht zufällig weitläufig miteinander verwandten) Protagonisten in der britischen Diaspora aufarbeiten, noch enger mit der alten Handelswelt des Indischen Ozeans verknüpft: Die Darstellung Sansibars als einer von weit zurückreichenden sozialen Konflikten geprägten Gesellschaft verdichtet sich hier in dem Erbschaftsstreit um ein Wohnhaus, das sich ursprünglich dem Reichtum eines arabischen Vorfahren, eines Kaufmanns und Schiffsbesitzers verdankt, sowie in den Langzeitfolgen eines Hypothekenkredits, den der Vater des jüngeren Protagonisten bei einem (mit dem älteren Protagonisten befreundeten) persischen Händler aus Bahrain aufnimmt, dessen Vater und Großvater ihrerseits bis nach Thailand und Malaysia Handel getrieben haben. Erst in England gelingt in der Abgleichung der unterschiedlichen Perspektiven und Familiennarrative der beiden Protagonisten eine ausgewogenere Bewertung dieses Streits, die zugleich vor Augen führt, wie sehr Wirklichkeit und Wahrheit soziale Konstruktionen sind, die von

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persönlichen wie soziopolitischen Befangenheiten, Ambitionen und Erfahrungen geprägt werden. By the Sea ist auf poetologischer Ebene daher geradezu ein Roman über die Macht von Erinnerungen, gegensätzlichen Erinnerungsnarrativen, Fehlerinnerungen, Vergessen und Verschweigen – die zweite Hälfte des Romans ist „Silences“ überschrieben, eines von Gurnahs wiederkehrenden Themen –, gegen die der Roman dialogische Erinnerungsarbeit und die auch heilende Kraft des Erzählens setzt. Nicht nur durch diese Erinnerungsarbeit, sondern auch historisch ist By the Sea als Erinnerungsroman angelegt, der sansibarische Geschichte mit ihren globalen Bezügen im Spiegel miteinander verflochtener Familiengeschichten reflektiert. Der ältere der beiden alternierenden Ich-Erzähler, der etwa 65jährige Saleh Omar, der sich als politischer Flüchtling und Asylbewerber in England Mitte der 1990er Jahre jedoch Rajab Shaaban nennt (irritierenderweise also den Namen des Vaters des jüngeren der beiden Ich-Erzähler usurpiert, der seit seiner Ausreise aus Sansibar als 17jähriger Student 1966 jedoch den Namen Latif Mahmud angenommen hat), dieser Saleh Omar beleuchtet gleich zu Beginn expositionsartig die Geschichte des Indischen Ozeans in ihrer Relevanz für Sansibar und die von der Swahili-Kultur geprägte ostafrikanische Küste „from Southern Somalia to Sofala, at the northern end of what has become known as the Mozambique Channel“ (Gurnah 2002, 14–15). Exemplarisch für die „at least a thousand years“ (14) alte Interaktion zwischen Ostafrika, Arabien, Indien, Südostasien und China wird die Familiengeschichte des befreundeten persischen Händlers Hussein erzählt, mit der Aufstieg und Niedergang von Omars eigenem Handelshaus in Verbindung stehen. Einerseits brachte der Monsunhandel kulturellen Austausch mit sich: They [intrepid traders and sailors, most of them barbarous and poor no doubt] brought with them their goods and their God and their way of looking at the world, their stories and their songs and prayers, and just a glimpse of the learning which was the jewel of their endeavours. (Gurnah 2022, 15)

Andererseits sei die Welt des Indischen Ozeans nicht minder materialistisch und rücksichtslos gewesen als andere Herrschaftssysteme: „they brought their hungers and greeds, their fantasies and lies and hatred“ – bis hin zum Sklavenhandel und einem in heutiger Sicht rassistischen Überlegenheitsanspruch gegenüber der schwarzafrikanischen Bevölkerung des ostafrikanischen Binnenlandes, aber auch gegenüber Teilen der eigenen multi-ethnischen Gesellschaft Sansibars (Gurnah 2022, 15). Der Kosmopolitismus des Indischen Ozeans ist bei Gurnah durchweg von materiellen Interessen und Ausbeutung grundiert; Inter- und Transkulturalität können die sozialen und politischen Bruchlinien der dargestellten Gesellschaften nicht verdecken. Der Indische Ozean wird also als eine komplexe Konfliktwelt ei-

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gener Art dargestellt, die historisch dann zunächst durch die arabische Herrschaft („the Omanis“; Gurnah 2022, 15), später durch die überlegene Konkurrenz der europäischen Kolonialmächte unter Druck gerät, bevor nach der Revolution von 1964 in Sansibar die neuen Machthaber den Monsunhandel endgültig verbieten (vgl. Gurnah 2022, 16). Als letztes Relikt dieser Welt – die erste Romanhälfte trägt den symbolischen Titel „Relics“ – nimmt Omar ein Töpfchen Weihrauch aus Südostasien mit nach England, das bei der Einreise jedoch beschlagnahmt wird. Stattdessen bleibt der lange Schatten des Familienkonflikts als Resultat der Verflechtung Sansibars in der Welt des Indischen Ozeans, die so auch die zwei unterschiedlichen Formen postkolonialer Migration grundiert, die der Roman miteinander in einen Dialog bringt. Dass Gurnahs Romane also die Idealisierung Sansibars und Ostafrikas als exotisch-orientalischer und/oder interkulturell harmonischer Räume in vielen deutschsprachigen Romanen konterkarieren, zeigt sich auch in der humoristischbeiläufigen Erledigung eines Hauptthemas der deutschen Sansibar-Literatur: der Geschichte Emily Ruetes, geborener Prinzessin Sayyida Salme (Salama) bint Said von Oman und Sansibar (1844–1924), die dem Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete über Aden nach Deutschland folgte und nach dessen frühem Tod infolge eines Straßenbahnunfalls v. a. durch ihre Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886) und ihre posthumen Briefe nach der Heimat (1999) bekannt wurde (vgl. van Donzel 1993). Als sensationsträchtige koloniale Skandalgeschichte einerseits, durch ihren Einsatz für Dialog und Verständigung zwischen dem Deutschen Reich und der multikulturellen islamischen Welt ihrer Herkunft andererseits ist sie geradezu zu einer historischen Symbolfigur für aktuelle Vorstellungen von Interund Transkulturalität geworden. Biographisch-historische Romane wie Vosselers Sterne über Sansibar und Hartmanns Abschied von Sansibar befassen sich ausführlich mit ihr; in Romanen wie Rolf Ackermanns Die weiße Jägerin (2005) und Cropps Wie ich die Prinzessin von Sansibar suchte spielt sie eine wichtige Rolle und H. C. Buch fiktionalisiert in Sansibar Blues Teile ihrer Memoiren, indem er ihr – neben drei weiteren Stimmen – eine der vier Stimmen widmet, in denen der Roman Geschichte und Gegenwart Sansibars mit besonderem Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte polyphon aufarbeitet. Sowohl stilistisch wie inhaltlich wird deutlich, dass Buch in Ruete eine historische Vorwegnahme gegenwärtiger Auffassungen zum Verhältnis von Islam und westlicher Welt sowie aktueller Faszinationen mit transkulturellen Lebensläufen und interkultureller Erfahrung sieht (vgl. Göttsche 2013, 210–227). Cropp spricht in seiner Reisereportage ausdrücklich von Emily Ruetes „verblüffende[r] Aktualität“ (Cropp 2016, 12) und zieht eine Linie von ihrem transkulturellen Leben im Kolonialzeitalter zur Gegenwart, indem er seine wichtigste sansibarische Reisebekanntschaft, eine mit einem christlichen Engländer verheiratete islamische Sansibarin, geradezu als Ruetes Wiedergängerin darstellt

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(Cropp 2016, 247) und über ähnliche rassistische Anfeindungen klagen lässt wie Ruete sie erleben musste (Cropp 2016, 284). Ist Emily Ruete in der deutschen Literatur also geradezu zu einem Mythos geworden, kommentiert Gurnah diese historische Skandalfigur aus der Geschichte des islamischen Sansibar mit lakonisch-ironischer Beiläufigkeit: Bei seiner Rückkehr aus England wird der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans Admiring Silence nach mehr als zwanzig Jahren Abwesenheit auf der Fahrt vom Flughafen nach Stone Town durch den Palast von Ruetes Großneffen Sultan Ali bin Humud an den Skandal um die Prinzessin „Salma“ erinnert und bemerkt: „She had the good sense to write a bestselling autobiography, though, which Ali bin Humud did not“ (Gurnah 2021b, 120). Die ironische Distanzierung veranschaulicht die soziale Kluft zwischen dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Migranten auf Heimatbesuch und der Prinzessin aus der einstigen Elite des Sultanats, mit anderen Worten schieben sich soziale Differenzen über den politisch prominenteren Konflikt zwischen islamischer und westlicher Welt. Zugleich allerdings irrt sich der Protagonist trotz vermeintlich klarer Erinnerung („clarity of memory“; Gurnah 2021b, 117) gleich mehrfach, macht den Hamburger Kaufmann zu einem Diplomaten aus Berlin und gibt seinen Namen falsch als „Reuter“ wieder, so dass der Text auch seinen eigenen Erzähler auf einer zweiten Ebene nochmals ironisch relativiert: Dem IchErzähler wird nicht bewusst, dass zwischen seiner eigenen Emigrationsgeschichte und der historischen von Sayyida Salme bint Said alias Emily Ruete durchaus Parallelen bestehen, die der Roman – über den Kopf seines Protagonisten hinweg – auf diese Weise andeutet (zumal Ruete wie Gurnahs Protagonist in dem Versuch gescheitert ist, später nach Sansibar zurückzukehren) (vgl. Göttsche 2022). Die erzählte Migrationsgeschichte aus der Zeit nach der Revolution von Sansibar erhält durch den intertextuellen Verweis also historische Tiefenschärfe.

3 Brüche: Die Revolution von 1964 als Trauma und Erinnerungsthema Nur einen Monat nach der Unabhängigkeit Sansibars von Großbritannien am 12. Dezember 1963 stürzte die Revolution vom 12. Januar 1964 die von der Zanzibar National Party geführte gewählte Regierung, damit zugleich das Sultanat und brachte nach einer Phase extremer Gewalt, politischer Massaker und interner Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Gruppen eine Revolutionsregierung unter Führung von Abeid Amani Karume und seiner Afro-Shirazi Party an die Macht, die sich von sozialistischen Staaten wie der Sowjetunion, China und der DDR unterstützen ließ, wodurch Sansibar zu einem Brennpunkt des globalen Kalten Krie-

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ges wurde. Zugleich beendete die Union mit Tanganyika im April 1964 die eigentliche Unabhängigkeit. (Spielraum und Grenzen der verbleibenden Autonomie Sansibars sind in Gurnahs Migrationsromanen ein wiederkehrendes Nebenmotiv.) „Sansibar wurde zum ersten Land der Dritten Welt, das die DDR anerkannte“ (Schneppen 2003, 514), während Julius Nyereres Regierung des vereinigten Tansania Beziehungen zu beiden deutschen Staaten unterhielt. Hintergründe, Verlauf und Bewertung der Revolution bleiben geschichtspolitisch umstritten. Der Historiker Manfred Loimeier fasst die heutige Einschätzung wie folgt zusammen: Political violence and the struggle for revolutionary control became intertwined with scoresettling and racialized retribution, creating an ideological script that increasingly interpreted the revolution in racialist terms – as an “African” uprising directed against Arab and Indian oppressors. (Loimeier 2018, 47)

Loimeier fährt fort: „the revolutionary and post-revolutionary killings became the foundation of a national trauma that has continued to trouble Zanzibar to this day“ (54). Eine Folge der Massaker, des politischen Terrors und der anhaltenden Repression war die Auswanderung großer Teile der Bevölkerungsgruppen mit arabischen, indischen oder komorischen Wurzeln sowie dissidenter schwarzafrikanischer Bürger. Zugleich hat die restriktive Geschichtspolitik des Regimes bis in die 1980er Jahre, als Lockerungen neue Spielräume für öffentlichen Diskurs ermöglichten, die Aufarbeitung dieses gewaltsamen historischen Bruchs verzögert. Der 50. Jahrestag der Revolution markierte daher 2014 einen Höhepunkt der geschichtspolitischen Kontroversen um ihre Erinnerung, wobei Loimeier zwischen einem nationalistischen Narrativ (die Revolution als Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft), einem sozialistischen (die Revolution als anti-imperialistischer Klassenkampf ), einem ethnisierenden (englisch: „racialist“; die Revolution als Rebellion der ‚afrikanischen‘ gegen die ‚arabische und indische‘ Bevölkerung) sowie zwei neueren Narrativen unterscheidet: die Revolution als Bürgerkrieg oder als ein von außen gesteuerter Coup (Loimeier 2018, 58–59). Zugleich haben die Brüche in der offiziellen sansibarischen Geschichtspolitik sowie die Existenz einer verzweigten sansibarischen Diaspora zu einer „multiplicity of unofficial scripts about the revolution“ geführt, die „underground or behind closed doors“ weiter zirkulierten und die Frage nach der ‚richtigen‘ Erinnerung des historischen Traumas offen hielten (Bissell and Fouéré 2018, 19). Die Herausgeber des entsprechenden Bandes zum Thema „Remembering the Revolution in Zanzibar“ weisen ergänzend auf einen Aspekt hin, den Gurnah v. a. in seinen Romanen Admiring Silence und By the Sea betont: Die Revolution hat Sansibar von der weiteren Welt des Indischen Ozeans und den entsprechenden Bin-

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dungen „by extensive migration, the monsoon trade, long-lasting social networks, and religious ties“ abgeschnitten (Bissell und Fouéré 2018, 6). Stattdessen wurde die Insel stärker als früher auf das tansanische Festland ausgerichtet und zu einem Brennpunkt von „global debates about socialism and Cold War rivalries, African nationalism and pan-Africanism, and the politics of decolonization“ (Bissell und Fouéré 2018, 6). So geriet Sansibar, vormals am Schnittpunkt von europäischer Kolonialherrschaft und der Infrastruktur des Indischen Ozeans, zum Prisma politisch-ideologischer Weltkonflikte im Zeichen des Kalten Krieges und postkolonialer Globalisierung. Während Afterlives, Gurnahs Roman zur deutschen Kolonialgeschichte und ihren Folgen, vor diesem historischen Bruch einhält, bildet er in praktisch allen seinen Migrationsromanen eine entscheidende historische Folie der dargestellten Lebensläufe, Lebensbrüche und Traumata. Schon in Memory of Departure steht das Sansibar der Revolutionsjahre für den jugendlichen Protagonisten im Zeichen von alltäglicher Not, Hoffnungslosigkeit und Repression – z. B. werden den Abiturienten ihre Abiturnoten vorenthalten, um ausländische Universitätsbewerbungen zu verhindern, und nur der zwangsweise Freiwilligendienst für das neue Regime ermöglicht halbwegs sinnvolle Tätigkeiten –, so dass er sich nur durch die Flucht in die Seefahrt zu retten weiß, denn das erhoffte Studium in Großbritannien oder den USA ist politisch unmöglich und nicht finanzierbar. In By the Sea nutzt sein gleichaltriges Gegenüber Latif Mahmud zwar Sansibars neue sozialistische Netzwerke für ein Stipendium zum Studium der Zahnmedizin in der DDR, flieht dann aber mit seinem ostdeutschen Briefpartner in den Westen und gelangt auf diesem Umweg als Flüchtling nach England, wo er in der erzählten Gegenwart (wie sein Autor) als Hochschullehrer für englische Literatur arbeitet. Noch deutlicher ist die Zerstörung der alten Swahili-Gesellschaft im Falle des zwanzig Jahre älteren Saleh Omar: Schon die politischen Unruhen in den Jahren vor der Revolution zerstören sein erfolgreiches Möbelgeschäft; die Verbindung von politischem Terror und familiären Intrigen führt nach der Revolution dann 1967 zu seiner Enteignung und Inhaftierung in politischen Lagern, aus denen er erst 1979 heimkehren kann, nur um verspätet vom Tod sowohl seiner Frau wie seiner Tochter zu erfahren. Die Familienkonflikte um die umstrittene Hauserbschaft und politische Korruption – ein Hauptthema von Gurnahs Kritik an Sansibars sozialistischen Regierungen seit 1964 – zwingen ihn Mitte der 1990er Jahre ebenfalls zur Flucht nach Großbritannien. In Admiring Silence, dessen Ich-Erzähler von Anfang an als ein besonders vehementer, allerdings auch von Verzweiflung und Selbsthass zerrissener, oft sarkastischer Kritiker von Kolonialismus, Rassismus, Sklaverei und anderen Unterdrückungsformen auftritt, stellen sich Sansibars Unabhängigkeit als eine Groteske und die Revolution als eine Orgie der Gewalt, Niedertracht und völligen Gesetzlo-

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sigkeit dar: „murder, expulsion, detention, rape, you name it. Weeks and weeks of it, months, years, some of it“ (Gurnah 2021b, 77). Es zeigt sich in diesem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, dass das scheinbar kosmopolitische Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Sansibar eine vom osmanischen Sultanat und von der britischen Kolonialmacht abgesicherte fragile Ordnung war, eine sozial durchaus wirksame politische Fiktion, deren Bruchlinien in der Revolution dann jedoch zur Katastrophe führen: Arab African Indian Comorian: we lived alongside each other, quarrelled and sometimes intermarried. Civilized, that’s what we were. We liked to be described like that, and we described ourselves like that. In reality, we were nowhere near we, but us in our separate yards, locked in our historical ghettoes, self-forgiving and seething with intolerances, with racisms and with resentments. (Gurnah 2021b, 74)

Neben der Korruptionskritik ist diese Kritik an rassistischen Haltungen innerhalb der ostafrikanischen (und anderen nicht-europäischen) Gesellschaften eines der Leitmotive von Gurnahs historischer Erinnerungsarbeit und ein wesentlicher Einspruch gegen essentialistische Narrative postkolonialer Provenienz (vgl. Falk 2020, 158). Das ethnisierende und politisch rassistische Überlegenheitsgefühl über die Schwarzafrikaner aus dem ostafrikanischen Hinterland – „the contempt with which everyone spoke about the barbarity of the savage in the interior“ (Gurnah 2021b, 74) – identifiziert der Roman zugleich als einen wesentlichen Ermöglichungsgrund der Revolutionsgewalt gegen Sansibaris, die von der schwarzen Bevölkerung als arabisch oder indisch wahrgenommen werden. Allerdings sind diese Ethnisierungen in Gurnahs Romanen regelmäßig Zuschreibungen, die angesichts der vielfältigen, über die ethnischen Grenzen hinweggehenden Familien- und Nachbarschaftsbezüge fragwürdig werden; rassistische Gewalt stellt sich als Resultat der Politisierung sozialer Konflikte und der persönlichen und politischen Sonderinteressen einzelner Akteure und Gruppen dar. Da sich der Stiefvater des Protagonisten und sein Umfeld in Admiring Silence für die in der Revolution unterlegenen Nationalisten eingesetzt hatte, werden sein Geschäft und seine Familie besonders hart von der politischen Repression nach der Revolution getroffen; sie ziehen sich auf „fantasies of redemption and escape“ zurück (Gurnah 2021b, 148). Der Protagonist, dem als Begleiter eines Stipendiaten als Jugendlicher tatsächlich die Flucht nach England gelingt, wo er später ebenfalls studiert und Lehrer wird, definiert daher „the postcolonial condition“ mit bitterer Verzweiflung als „going nowhere in particular“ (Gurnah 2021b, 149). Das groteskkomische Leitmotiv dieses postkolonialen Zustands der Hoffnungslosigkeit ist der Zusammenbruch des Strom-, Wasser- und Abwassernetzes seit der Revolution, symbolisch verdichtet in dem Motiv der verstopften und stinkenden Toiletten. Am Romanende schlägt der Erzähler einen ironischen kulturgeschichtlichen Bogen vom

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Beginn des europäischen Sklavenhandels zur Erfindung des Wasserklosetts (vgl. Gurnah 2021b, 234) und erwägt die Umschulung zum Klempner, um in Sansibar hygienische Entwicklungshilfe leisten zu können (vgl. Gurnah 2021b, 236). Seine kurzzeitige Rückkehr nach über zwanzig Jahren in England steht im Zeichen der Trauer über den Verfall seiner Herkunftswelt infolge der Misswirtschaft eines korrupten und ineffektiven Regimes, das – so die Analyse des Romans – nur mithilfe von Entwicklungshilfegeldern aus dem globalen Norden überlebt. Die Arbeit auf den Schiffen des Indischen Ozeans, mit der sein Stiefvater nach der Revolution noch die Mittel zur Wiederherstellung seines Geschäfts erwirtschaften konnte (vgl. 155), steht in der erzählten Gegenwart der 1980er Jahre nicht mehr zur Verfügung. Besonders ausführlich setzt sich Gurnah auch in Gravel Heart mit dem Trauma der Revolution von 1964 auseinander. Der mütterliche Großvater des Protagonisten Salim, der in Uganda und Edinburgh öffentliches Gesundheitswesen studiert und Kairo, Istanbul und Beirut bereist hatte, wird in der Revolution ermordet, da er sich auf der ‚falschen‘ politischen Seite für afrikanische Unabhängigkeit und Modernisierung eingesetzt hat (Gurnah 2018, 15–18). Salims väterlicher Großvater, Lehrer und Schulleiter an jener Schule in Sansibar, die auch sein Enkel später besucht, wird entlassen und nimmt neue Arbeit in Dubai, später in Kuala Lumpur an, während Salims zur Revolutionszeit erst 17jähriger Vater wegen seiner Liebe zu Salims künftiger Mutter allein zurück bleibt und sich mit dem Regime zu arrangieren sucht. In subtilerer Form holt jedoch auch ihn die Gewalt der Revolution ein, als seine Frau, um ihren lebenslustigen und egozentrischen Bruder vor langjähriger Haft und Folter wegen der angeblichen Vergewaltigung seiner (noch minderjährigen) späteren Frau zu bewahren, zur Geliebten eines mächtigen Ministers der neuen Regierung wird, was zum Zerbrechen ihrer Ehe und zur anhaltenden Traumatisierung von Salims Vater führt. Das fatale Zusammenspiel von Korruption und Moralverlust im Gefolge der Revolution ist ein Leitmotiv von Gurnahs Kritik des unabhängigen Tansania und Sansibar und wird immer wieder als Grund für die Erosion sozialer Ordnungen herausgestellt, zumal in dem kleinen Inselstaat privates Familienleben und Politik aufs Engste ineinandergreifen. Die Wege zur Macht sind ebenso kurz wie die zu ihrem Missbrauch. Über Einzelschicksale hinaus reflektiert Gravel Heart auch grundsätzlicher über die verheerenden Folgen der Revolution und des sich anschließenden, als willkürlich und korrupt dargestellten sozialistischen Regimes. Salims Familie „did not realise the violence of the victors“ und musste lernen, dass Grausamkeit weitere Gewalt gebiert („cruelty begets more cruelty“) und dass Worte Gräueltaten („atrocities“) auslösen können, die Salims Mutter in den Begriff „terror“ zusammenfasst (Gurnah 2018, 19–20). Im letzten Teil des Romans, in dem Salims Vater dessen Erinnerungsperspektive durch seine eigene Lebenserzählung ergänzt – ein charakteristisches Beispiel für Gurnahs Multiperspektivismus –, geht der Roman

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auch auf die Zäsur ein, welche die Revolution hinsichtlich von Sansibars Platz im historischen Universum des Indischen Ozeans bedeutet: Zwar besinnen sich viele der nun politisch verfolgten und persönlich bedrohten Sansibaris nach 1964 ihrer historischen Migrationshintergründe jenseits des Ozeans: As times became harder and the humiliations and dangers mounted, the search for work and a place of safety made many people remember that they were Arabs or Indians or Iranians, and they resuscitated connections they had allowed to wither. Some of these connections were works of the imagination and fantasies in the minds of people made desperate by need, but many were real if long-forgotten. That was how people lived, with relatives and acquaintances all along the shores of the ocean […]. (Gurnah 2018, 180)

Jedoch kommt diese Art der Auswanderung der Revolutionsregierung gerade recht, ermöglicht sie doch profitable Enteignungen, die Ausschaltung politischer Dissidenten und die Neuausrichtung der Insel auf das tansanische Festland: The government did not prohibit this frenzy. The politics of decolonisation could not tolerate these divided loyalties, and required commitment to nation and continent. […] To the government, this search for connections across the ocean demonstrated the underlying foreignness of these people and it waited patiently for their departure, stripping them of whatever it could in the meantime. (Gurnah 2018, 180)

Im geschichtspolitischen Erinnerungsdiskurs des Romans bewirkt die Revolution also die Dekolonisierung Sansibars als eine afrikanische Nation, die andere Bevölkerungsgruppen gewaltsam ausschließt oder marginalisiert und die Insel zugleich aus ihren alten Bindungen in der Welt des Indischen Ozeans herauslöst. Allerdings verzichtet Gurnahs Erzählen fast durchweg auf eine ethnische Kennzeichnung der Figuren nach dem Prinzip unterschiedlicher ‚Rassen‘. Stattdessen führt er vor, wie politische und soziale Differenzen ethnisierend politisiert werden, so dass der Rassendiskurs als Teil und Folge der Revolutionspolitik erscheint. Die ausgewählten Romane machen also deutlich, dass Gurnah in seiner literarischen Erinnerung an die Revolution von 1964 in Sansibar und an die sozialistischen Anfänge Tansanias keinem der geläufigen geschichtspolitischen Narrative bruchlos folgt, die Ereignisse jedoch durchweg als historisches Trauma darstellt, dem keiner seiner Protagonisten ausweichen kann. Insofern seine Hauptfiguren (wie der Autor selbst) überwiegend der arabischstämmigen Bevölkerungsgruppe oder multiethnischen Familien angehören und Opfer der Revolution werden, die Revolution sich zudem als katastrophale Implosion der traditionellen multi-ethnischen Gesellschaftsstruktur in Sansibar darstellt, spielen das ethnisierende und das Bürgerkriegsnarrativ in seiner Geschichtspoetik die größte Rolle.Von einem von außen gesteuerten Coup kann keine Rede sein; die sozialistische Ideologie des neuen Regimes erweist sich regelmäßig als zynische Fassade brutaler Machtinter-

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essen; und der britischen Kolonialherrschaft folgt lediglich eine noch willkürlichere Diktatur mit neuen internationalen Abhängigkeiten, so dass auch von einer nationalen Befreiung nicht gesprochen werden kann. Da die meisten deutschen Sansibar-Romane historische Romane sind, ist die Revolution von 1964 in der deutschsprachigen Afrikaliteratur nur ein marginales Thema. Cropps Reisereportage Wie ich die Prinzessin von Sansibar suchte widmet dieser traumatischen Geschichtszäsur ganze zweieinhalb Seiten, auf denen – wie für alle der bereisten Orte – ein knapper historischer Abriss geboten wird, der offensichtlich auf „den Bericht des polnischen Journalisten und Afrikakorrespondenten“ Ryszard Kapuściński (Afrikanisches Fieber, 2004; Cropp 2016, 127), einen prominenten Zeitzeugen, zurückgeht. Cropps historische Vignette verbindet den ethnisierenden Erinnerungsdiskurs mit sozialer Kritik: „[…] auf der Insel lebte die arabisch-indische Oberschicht mit Know-how und Besitz, daneben eine ziemlich verarmte afrikanische Bevölkerung. Diese ethnische Dichotomie barg politisches Dynamit.“ (Cropp 2016, 125–126) Er teilt mit Gurnah die Einschätzung des gewaltsamen Umbruchs als einer sozialen Katastrophe, notiert gleich zu Beginn der Passage, wie umstritten die Erinnerung an die Revolution weiterhin ist, und ‚hält sich‘ seinem lokalen Gesprächspartner gegenüber daher „zurück“ (Cropp 2016, 125). Dagegen stellt H. C. Buch die Revolution ins Zentrum eines der vier Stränge seines Romans Sansibar Blues, der – wie schon der Titel andeutet – in ähnlicher Weise mit dem Sansibar-Mythos bricht wie Gurnah. Dienen drei der vier Stimmen des metafiktionalen Romans – das Autor-Ich der Rahmenerzählung sowie die historischen Stimmen Emily Ruetes und des legendären Karawanenhändlers Hamed bin Mohammed alias Tippu Tip, in denen Buch jeweils deren eigene Publikationen zitiert und aktualisierend fiktionalisiert – dazu, einen historischen Bogen vom vorkolonialen Sansibar bis heute zu schlagen und darin vorzuführen, „daß und wie die koloniale Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt“ (Buch 2008, 224; vgl. Göttsche 2013, 206–220), so gehört die vierte Stimme einem fiktiven Ostdeutschen mit dem sprechenden Namen Hans Dampf, der im Haus des letzten deutschen Gouverneurs von Togo aufwuchs, in der DDR zum Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika promovierte, als erster „Geschäftsträger der Deutschen Demokratischen Republik“ gleich 1964 in die neue „Volkrepublik Sansibar“ (Buch 2008, 12) geschickt wird und später unerwünschterweise die Nichte des letzten Sultans heiratet. Er ermöglicht dem Roman so einen großen Bogen von der Kolonialzeit und ihrem Rassismus über die neokoloniale Machtpolitik des Kalten Krieges bis in eine multikulturell diversifizierte postkoloniale Gegenwart. Diese Figur wird bei seinem Aufenthalt im revolutionären Sansibar Zeuge der Machtkämpfe zwischen den unterschiedlichen Fraktionen, begegnet den verfeindeten Revolutionsführern John Okello und Abeid Karume (sowie Ryszard Kapuściński) und registriert noch nach seiner Abberufung die weitere politische Entwicklung bis zu Karumes Ermordung 1972.

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Buchs Kritik der Revolution steht jener Gurnahs in nichts nach, vielmehr übertreffen sein grotesk-komischer Humor und die popliterarische Pointierung der Revolutionsereignisse selbst den sarkastischen Humor von Gurnahs Erzähler in Admiring Silence. Buchs Hans Dampf nennt die Revolutionäre umstandslos „eine Gangsterbande“ (Buch 2008, 27), die „entlassene Polizisten und entlaufene Verbrecher“ (35) als vermeintliche „Ordnungshüter“ (36) auf die Straße schickt, offensichtlichen „Rassismus“ in ihrer Politik als „Klassenkampf“ verkauft (124) und insgesamt ein „Schreckensregime“ errichtet, dem „Tausende Sansibaris zum Opfer fielen, wobei die Staatssicherheit der DDR den panya (Ratten) genannten Polizeispitzeln das einschlägige Know-how lieferte“ (149). Diese letzte Wendung veranschaulicht jenen Aspekt der Revolutionsdarstellung, mit dem Buch über Gurnah hinausgeht, nämlich die Darstellung der sozialistischen ‚Bruderhilfe‘ der DDR gegenüber dem revolutionären Sansibar als neokolonial. Historische Differenzierung, sarkastischer Humor und groteske Zuspitzung dekonstruieren in Sansibar Blues auch durchweg – nicht nur in diesem Handlungsstrang – den exotistischen Mythos Sansibar: „Erzählen Sie mir keine Märchen aus Tausendundeiner Nacht.“ (Buch 2008, 39) Wie in Admiring Silence heißt es z. B., Stone Town „stink[e] immer noch zum Herzerweichen“ (Buch 2008, 30), und die Revolution sei Folge der„Ausbeutung“ der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit durch die arabische und indische Elite, wodurch Sansibar zu einem „Pulverfaß“ geworden sei (31). Ähnlich Gurnah betont Buch also die sozialen Hintergründe der Revolution gegenüber den ethnischen, und in deren Verlauf Korruption und Machtstreben gegenüber der offiziellen sozialistischen und dekolonialen Ideologie des neuen Regimes.

4 Respondenzen: Globale Gewaltgeschichte(n) im Spiegel der postkolonialen Diaspora Gurnahs Romane setzen sich im Spiegel ihrer transnationalen Lebenläufe nicht nur mit der deutschen und britischen Kolonialzeit in Afrika sowie der Geschichte Sansibars und der Swahili-Kultur in Ostafrika auseinander, sondern nehmen perspektivisch auch andere globale Gewaltgeschichte(n) in den Blick. Die Einbettung Sansibars und der ostafrikanischen Küstenstädte, aus denen die Figuren stammen, in der Welt des Indischen Ozeans sowie das zentrale Migrationsmotiv – die Auswanderung nach Großbritannien im Gefolge der Revolution von 1964 sowie deren Bedeutung für den Kalten Krieg – machen Sansibar in seinem Werk geradezu zu einem literarischen Prisma spezifischer Konstellationen von regionaler und globaler Konfliktgeschichte und entsprechend multivalenter Erinnerungsdiskurse seit der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts. Zugleich modelliert Gurnah die thema-

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tisierten sozialen und historischen Konflikte durch seine individualisierten Lebensgeschichten und vielstimmigen bzw. widersprüchlichen Familiengeschichten in solcher Weise, dass eingefahrene ideologische und historische Narrative unterlaufen und hinterfragt werden. Zur Dialogizität seines Erzählens (im Bachtinschen Sinne; vgl. Bakhtin 1981 und Samuelson 2012) gehört in diesem Zusammenhang auch die Einschaltung vielfältiger zusätzlicher Lebens- und Familiengeschichten, durch welche die erzählten konkreten Fiktionswelten in größere Kontexte (wie die alte Welt des Indischen Ozeans) eingebettet werden und die jeweiligen Hauptthemen (wie Kolonialzeit, Revolution, Migration) mit weiteren individualisierten Geschichtserfahrungen aus anderen Teilen der Welt in ein Respondenzverhältnis gebracht werden. Gurnahs postkoloniale Erinnerungspoetik weist auch hier Ähnlichkeiten mit Michael Rothbergs (2009) Konzept des multidirektionalen Gedächtnisses auf. Dass Afterlives mit der Erinnerung an den ostafrikanischen Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft beginnt und mit der Ermordung eines einstigen Askari im KZ Sachsenhausen endet, also ähnlich wie deutsche Romane seit Uwe Timms Morenga (1978) postkoloniale Erinnerung mit jener an die Verbrechen der Nazizeit und den Holocaust verknüpft, ist hierfür ein sprechendes Beispiel. Besonders die Erlebnisse der Protagonisten bei ihrer Auswanderung aus ihrer ostafrikanischen Heimat und ihre Begegnungen in einem Großbritannien, das in Gurnahs Romanen durch postkoloniale Einwanderung und ethnische sowie kulturelle Diversifizierung und Veränderung gekennzeichnet ist, geben Anlass zu entsprechenden Vignetten anderer Migrations- und Gewaltgeschichten. In By the Sea gilt dies beispielsweise für Latif Mahmuds Mitstudenten in der DDR, Ali aus Guinea, dessen Vater und Bruder Opfer der brutalen Herrschaft von Sékou Touré wurden, so dass sich Resonanzen mit der Revolution in Sansibar ergeben (vgl. Gurnah 2001, 120–121). Es gilt weiterhin für Elleke, die Mutter von Latifs ostdeutschem Brieffreund Jan, deren Erinnerungen als geborene Österreicherin aus dem Habsburger Reich die postkoloniale Migration nach Europa mit der kolonialen Auswanderung ihrer Familie in die britische Kolonie Kenia in der Zeit zwischen den Weltkriegen kontrastiert (und zugleich Respondenzen zwischen dem multikulturellen Indischen Ozean und dem Habsburger Vielvölkerreich herstellt, vgl. Göttsche 2022), sowie für Omars Flüchtlingsbetreuerin Rachel in England, deren Familiengeschichte das Schicksal der sephardischen Juden in Spanien in Erinnerung ruft (vgl. Gurnah 2001, 204). In Admiring Silence dient die Begegnung des Ich-Erzählers mit einer Britin ostafrikanisch-indischer Herkunft auf dem Rückflug von Sansibar nach London in ähnlicher Weise der Inbeziehungsetzung unterschiedlicher, aber vergleichbarer Migrationserfahrungen, wobei hier die ethnische Ausgrenzung postkolonialer Einwanderer in Großbritannien im Vordergrund steht. In Gravel Heart ist das

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Spektrum solcher historischer Vignetten in Gestalt von Figurengeschichten noch größer: Salim, der wiederum als 17jähriger Student nach England kommt, gegen den Willen seiner Familie vom Studium der Betriebswirtschaftslehre auf Literatur umstellt und schließlich in der Londoner Stadtverwaltung arbeitet, begegnet auf seinem Lebensweg anderen Studenten und Migranten aus Afrika (darunter einem ehemaligen Kindersoldaten aus Biafra und einem südafrikanischen ApartheidFlüchtling), lernt in seinem ostafrikanischen Vermieter (und dessen aus Jamaika stammender Frau) eine Art Ersatzvater kennen, verliert eine englische Freundin mit indischem Familienhintergrund wegen indischer und englischer Rassismen gegenüber Schwarzafrikanern und trifft eine Fülle weiterer Menschen, die seine eigenen Migrationserfahrungen sowie die Geschichte Sansibars in den weiteren Kontext der postkolonialen Minderheiten in Großbritannien und der Konfliktgeschichten ihrer jeweiligen Herkunftsländer stellen. Diese Einbettung sansibarischer Geschichte seit den Unabhängigkeitsbestrebungen am Ende der britischen Kolonialzeit in die globale Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wird in Gravel Heart durch eine Erzähltechnik unterstrichen, welche die erzählten Figurengeschichten regelmäßig mit der internationalen politischen Geschichte verschaltet, so mit dem Ende der Apartheid in Südafrika 1994, dem NATO-Einsatz in Bosnien 1995 und den islamistischen Terroranschlägen in New York vom 11. September 2001. Dieser Roman verfährt also ähnlich historiographisch wie sonst nur Afterlives. Dass dieser quasi-globale Horizont der britischen Diaspora sich wiederum der Kolonialgeschichte verdankt, deutet der Roman in Salims London-Bild humoristisch an: “The whole world ends up in London somehow,” I said. “The British never left anyone in peace and squeezed everything good out of everybody and took it home, and now a bedraggled lot of niggers and turks have come to share in it.” (Gurnah 2018, 251)

Die ethnische Diversifierung des einstigen imperialen Zentrums und die daraus entstehenden neuen sozio-politischen Zugehörigkeitskonflikte werden so als direkte Folge kolonialer Expansion und Ausbeutung interpretiert, die zugleich Menschen und Geschichten ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander in Beziehung setzen und so auch neue Begegnungs-, Solidarisierungs- und Ermutigungspotentiale stiften. Die Vorbereitung solcher Globalisierungseffekte in der Kolonialzeit thematisiert Gurnah z. B. auch in seiner Darstellung des Ersten Weltkriegs in Afrika in Afterlives als eines Krieges, an dem im Wortsinne die ganze Welt beteiligt war: Punjabis and Sikhs, Fantis and Akans and Hausas and Yorubas, Kongo and Luba, all mercenaries who fought the Europeans’ war for them, the Germans with their schutztruppe, the British with their King’s African Rifles and the Royal West African Frontier Force and their Indian troops, the Belgians with their Force Publique. In addition, there were South Af-

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ricans, Belgians and a crowd of other European volunteers who thought killing was an adventure and were happy to be at the service of the great machinery of conquest and empire. (Gurnah 2020, 88)

Gegen geläufige eurozentrische Narrative des Ersten Weltkriegs erinnert Gurnah also an dessen globale Reichweite – ein Thema, das erst in jüngerer Zeit auch die historische Forschung beschäftigt hat (vgl. Botchway und Kwarteng 2018). Eine so ambitionierte Form multidirektionaler postkolonialer Erinnerungsarbeit zu den globalen Resonanzen regionaler ostafrikanischer Geschichte ist in den deutschsprachigen Romanen zu Sansibar und Ostafrika nicht zu finden. Da der Erste Weltkrieg in Deutschland nicht als „The Great War“ erinnert wird, überrascht es auch nicht, dass er in den fraglichen Texten – mit Ausnahme von Alex Capusʼ Eine Frage der Zeit (2007) – kaum je eine Rolle spielt. Jene deutschen Sansibar-Romane, die sich von dem exotistischen und multikulturellen Mythos lösen, ihn kritisch beleuchten und historisch wie sozial genauer hinschauen, bestätigen wie Gurnahs Romane – und wie die Romane und Erzählungen von M. G. Vassanji, dem kanadischen Autor indisch-ostafrikanischer Herkunft, der in seinem mit der deutschen Kolonialzeit befassten Roman The Magic of Saida (2012) eine ähnliche, vom Indischen Ozean geprägte multiperspektivische postkoloniale Erinnerungspoetik entwirft (vgl. Göttsche 2020) – jedoch die Bedeutung Sansibars und des Interaktionsraums Indischer Ozean für ein differenzierteres, über atlantische Verhältnisse und einfache Antithesen hinausgehendes Verständnis von Kolonialgeschichte(n) und deren Auswirkungen in aktuellen regionalen und globalen Konflikten. Isabel Hofmeyr spricht in diesem Sinne vom Indischen Ozean als „The Complicating Sea“, da seine transkulturellen Netzwerke und „crosscutting diasporas“ binäre Oppositionen wie „colonizer versus colonized, white versus black“ unterlaufen (Hofmeyr 2012, 587), eine größere historische Tiefenschärfe erfordern als die atlantische Kolonialgeschichte und angesichts der vielschichtigen Verbindungen zwischen Afrika, Arabien und Asien methodologisch komplexere Interaktions- und Konfliktmodellierungen notwendig machten als in den Postcolonial Studies oft üblich (vgl. Hofmeyr 2012, 589). In Sansibar fänden sich die „Indian Ocean themes“ – „old trading diasporas, Muslim networks, slavery, waning British imperialism, Zanzibari independence and the African-Arab violence that followed it, Cold War politics, and international regulations of refugees“ – in besonderer Weise verdichtet vor („compacted in one island space“; Hofmeyr 2012, 589).

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Donata Weinbach

Eine Lektüre „gegen den Strich“ Darstellungsweisen in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss Wollen wir uns der Kunst, der Literatur annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich behandeln, das heißt, wir müssen alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsre eignen Ansprüche in sie hineinlegen. (Weiss 2016, 51)

1 Zur Einführung Innerhalb einer postkolonialen Positionsbestimmung der neueren deutschen Literaturwissenschaft wird immer wieder die Verspätung betont, mit der die literaturwissenschaftliche Reflexion von Kolonialismus und postkolonialen Themen in der deutschsprachigen Literatur dem anglophonen Raum hinterhereile. Das 2017 erschienene Handbuch Postkolonialismus und Literatur fungiert als Gegengewicht zu diesem Standpunkt und zeigt anhand eines breiten Analysespektrums auf, in welcher Hinsicht zunächst die Verkündung des „Endes der postkolonialen Theorie“ voreilig und fehlgeleitet sei (vgl. Göttsche et al. 2017, Vorwort) und auf welche Weise die Erschließung des Feldes deutschsprachiger Literatur mit dem Instrumentarium postkolonialer Theoriebildung einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen Literaturwissenschaft leisten kann. Das Feld der interkulturellen und postkolonialen Studien in Deutschland sehe insbesondere aus zwei Gründen anders aus als das des anglophonen oder frankophonen Raumes: zum einen wegen anderer Theorietraditionen (Hermeneutik, Benjamin, Kritische Theorie, phänomenologischer Fremdheitsforschung u. a.) und Methodenentscheidungen, zum anderen aufgrund der deutlichen Unterschiede zwischen der deutschen Kolonialgeschichte und jener anderer europäischer Mächte. (Uerlings 2017, 103)

Aus diesem Grund sei auch der Begriff von postkolonialer Literatur anders zu fassen, denn wenn man die Dauer der verhältnismäßig kurzen Kolonialgeschichte Deutschlands als Bedingung für die Entstehung postkolonialer Literatur nimmt¹, bleibt die Anzahl literarischer Texte überschaubar (vgl. Uerlings 2017, 103). Vorausgesetzt werden dabei „Texte von AutorInnen aus ehemaligen Kolonien des Landes

1 Uerlings verweist auf Sarah Lennox: „In the strict sense of the term, Germany is not rich in postcolonial literature, and this is a consequence of its brief colonial history“ (Lennox 2012, 620, zit. nach Uerlings 2017, 103). https://doi.org/10.1515/9783111181530-014

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[…], in dessen Sprache sie in postkolonialer Perspektive schreiben“ (Uerlings 2017, 103). Dass sich die Auseinandersetzung mit Postkolonialismus für die Germanistik nicht einfach in der Übernahme von Theoremen aus dem angelsächsischen und frankophonen Raum erschöpft, zeigt das Handbuch ebenfalls (vgl. Uerlings 2017, 103). Daher erscheine es angemessener, unter der Überschrift Postkolonialismus und deutsche Literatur „zunächst die gesamte Breite derjenigen Literatur in den Blick zu nehmen, die sich gegen ethnisierende Inferiorisierungen in Gegenwart und Geschichte Deutschlands (oder des deutschsprachigen Raums) wendet, und dann die (post‐)kolonialen Aspekte zu profilieren“ (Uerlings 2017, 103). Uerlings verweist auf tragende Begriffe wie den „postkoloniale[n] Blick“ (Lützeler 1997) oder auf Literaturen mit „postkolonialem Potential“ (vgl. Uerlings 2005, 31–35, zit. nach 2017, 104). Hier geht es um „Vermittlungen zwischen Geschichtsbewusstsein und Ästhetik auf dem Niveau postkolonialer Reflexionen“ (Uerlings 2017, 104). So wird bei einem postkolonial motivierten Rückblick auf die deutschsprachige Literatur der Nachkriegszeit eine beachtliche Dichte an postkolonialen Konstellationen und kolonialen Sujets deutlich.² Im Rahmen des vorliegenden Beitrags richtet sich der Blick auf die Ästhetik des Widerstands (1975/1978/1981) von Peter Weiss und fokussiert damit eine implizite Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus in einem literarischen Text der Nachkriegszeit. Für die Betrachtung des Romans von Peter Weiss möchte ich eine Annahme zugrunde legen: Der Roman Die Ästhetik des Widerstands enthält implizite Referenzen der antikolonialen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre in Deutschland, reicht allerdings im Gegensatz zu Weiss’ früheren Texten durch verschiedene Verfahren einer Lektüre „gegen den Strich“ darüber hinaus.

2 Peter Weiss’ antikoloniales Engagement Die Ästhetik des Widerstands erscheint in drei Bänden I 1975, II 1978, III 1981 und soll zunächst in ihrer Zeit verortet werden. Es mag irritieren, dass eine postkoloniale Perspektive auf das Spätwerk des Autors gerichtet ist und nicht etwa auf seine explizit antikolonialen bzw. antiimperialistischen Texte der 1960er Jahre, wie Viet Nam Diskurs (1968) oder Gesang vom Lusitanischen Popanz (1967). Die komplexe Komposition in der Ästhetik des Widerstands allerdings thematisiert insbesondere anhand der zentralen Medusa-Szene kritisch die Grenzen zwischen Europa bzw.

2 Vgl. dazu im Handbuch Postkolonialismus und Literatur auch die Artikel „56 Nachkriegszeit I (ca. 1945–1965)“ von Albrecht 2017, 275–281 und „57 Nachkriegszeit II (ca. 1965–1989)“ von Göttsche/ Albrecht/Dunker/Gerstner 2017, 282–296).

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Frankreich als Kolonialmacht und Afrika bzw. dem Senegal als Kolonie, die in den antikolonialen Texten der 1960er Jahre aufrechterhalten wurden und stellt dichotome Ordnungen in Frage. In der Mitte der 1960er Jahre lässt sich ein „Paradigmenwechsel im Verhältnis zum Kolonialismus“ beobachten, der symbolisch flankiert wird von Ereignissen auf editorisch-intellektueller und erinnerungspolitischer Ebene: Zur ersten zählen die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Frantz Fanons Les damnés de la terre [1961; Die Verdammten dieser Erde, 1966], sowie das Erscheinen der Themenhefte der linksintellektuellen Zeitschriften Das Argument und Kursbuch von 1965³ (vgl. Göttsche et al. 2017, 282). Erinnerungspolitisch lässt sich mit dem Sturz des Wissmann-Denkmals in Hamburg 1967 und 1968 eine Zäsur markieren – die symbolische Ehrung des Kolonialisten Hermann von Wissmann, der sich zahlreicher Verbrechen in Afrika schuldig gemacht hatte, sollte nicht länger toleriert werden (vgl. Göttsche et al. 2017, 282). In diesem Fahrwasser solidarisieren sich die intellektuellen Linken der späten 1960er Jahre mit dem Widerstand der Dritten Welt gegen Neokolonialismus und amerikanischen Imperialismus. Göttsche et al. weisen weiter darauf hin, dass „die Erprobung neuer selbstkritischer Modellierungen außereuropäischer Räume, Gesellschaften, Kulturen und interkultureller Begegnungen in bewusstem Bruch mit den rassistischen, exotistischen, und eurozentrischen Vorstellungs- und Repräsentationsmustern der Kolonialzeit“ stehen (2017, 283). In dieser Hinsicht bereite der antikoloniale Diskurs der 1960er bis 1980er Jahre den postkolonialen seit den 1990er Jahren unmittelbar vor (vgl. Göttsche et al. 283). Der zentrale Unterschied zwischen den beiden bestehe insbesondere in der Beibehaltung einer scharfen Entgegensetzung von Europa und Afrika seitens des antikolonialen Diskurses, während diese Grenzziehung mit dem Einsetzen postkolonialer Reflexionen immer weiter hinterfragt wird (vgl. Göttsche et al. 2017, 288). Im Werk des Autors Peter Weiss lässt sich in der Zeit der 1960er und 1970er Jahre eine signifikante Veränderung beobachten, die von einer Schaffenskrise herrührte. Dem Autor wird die Beziehung zwischen künstlerischer Tätigkeit und politischer Aktivität zum Problem (vgl. dazu beispielsweise Dunker 2002, Hofmann 1990, Krenzlin 1982). Im Jahr 1970 erleidet Weiss einen körperlichen Zusammenbruch, in dessen Folge er sein bisheriges literarisches Schaffen reflektiert und über die damit zusammenhängenden Grenzen und Sujets nachdenkt.⁴ Es geht ihm jetzt

3 In Kursbuch 2, August 1965 finden sich Texte abgedruckt von Frantz Fanon, Carlos Fuentes, Fidel Castro sowie der Essay von Hans Magnus Enzensberger Europäische Peripherie, der für die im Folgenden thematisierte, folgenreiche Kontroverse zwischen Weiss und Enzensberger sorgt. 4 Als Zäsur in diesem Prozess steht literarisch vor allem der Text Rekonvaleszenz, aus dem Nachlass 1991 veröffentlicht. In dem Text reflektiert der Autor seinen Zusammenbruch von 1970; Träumen und Halluzinationen wird darin eine besondere Bedeutung beigemessen. Er formuliert darin den

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um „die Einbeziehung der subjektiven Erschütterungen, Zweifel und Verunsicherungen in eine Konzeption der politisch wirksamen Literatur“ (Hofmann 1990, 17). Die genannten Dramentexte der 1960er Jahre zentrieren antikoloniale Befreiungsbewegungen und orientieren sich hingegen noch an „Formen des Agitpropund des Brecht-Theaters“ (Göttsche et al. 2017, 287). Mit der Arbeit an der Ästhetik des Widerstands versucht Weiss, die künstlerische Tätigkeit wieder mit der politischen zu versöhnen und nach ebenjener Ästhetik zu suchen, die ihm dies ermöglicht. Die Sonderstellung, die das Werk dabei einnimmt, wird vor allem dadurch bestimmt, „daß der Roman die Bilanz ästhetischer und politischer Erkenntnisse mehrerer Jahrzehnte zieht“ (Haiduk 1984, 315). Haiduk hebt in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Aspekte des Romangehalts hervor, die er aus Weiss’ Notizbüchern 1971–1980 ableitet: im „Widerstand gegen Unterdrückungsmechanismen, wie sie in ihrer brutalsten, faschistischen Form zum Ausdruck kommen“ (Weiss 1981, 419) sieht er „die Tradition der Dokumentarstücke von Die Ermittlung über den Gesang vom Lusitanischen Popanz bis zu Viet Nam Diskurs mit ihrer Faschismus- und Imperialismuskritik konsequent fortgesetzt“ (Haiduk 1984, 315). Als zweiten Aspekt hebt Haiduk den „Versuch zur Überwindung einer klassenbedingten Aussperrung von den ästhetischen Gütern“ (Weiss 1981, 419) hervor, worin er die Anknüpfung an frühere Werke wie dem Marat/Sade (1964), dem Popanz (1967) oder Trotzki im Exil (1971) sieht. Die Vereinigung früher stilbildender Wege und Abzweigungen räumt der Ästhetik des Widerstands eine besondere Position im Gesamtwerk des Autors ein: bereits 1974 hat Weiss im Kontext der Gegenüberstellung des Deutschlands „der sozialisierten Produktionsmittel“ und des Deutschlands „der privaten Marktwirtschaft“ geäußert, dass es sich bei der Ästhetik des Widerstands um sein „literarisches Hauptwerk“ handele, obwohl der erste Band noch nicht einmal abgeschlossen war (Weiss 1981, 639 sowie Haiduk 1984, 307⁵). Eine weitere Referenz, die die Rahmung des vorliegenden Untersuchungsgegenstands maßgeblich mitbestimmt, ist die Kontroverse zwischen Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss, in der es um die (Un‐)Möglichkeit einer Solidarität mit den Unterdrückten im kolonialen Befreiungskampf geht. Nachdem Enzensberger im Kursbuch 1965 seinen Essay mit dem Titel Europäische Peripherie veröffentlicht, meldet Weiss sich in einem Brief zu Wort, der im Folgejahr 1966 zusammen mit einer Antwort von Enzensberger im Kursbuch abgedruckt wird (vgl. 1966, S. 165–176). In dem Essay vertritt Enzensberger eine Auffassung, „die damals das Verdienst für sich beVersuch einer „Selbstverständigung und Neuorientierung“ (Cohen 1992, 166) und legt noch einmal ausführlich dar, wie sich seine Position gegenüber Enzensberger hinsichtlich des Engagements für die Dritte Welt verhält (vgl. Weiss 1991, 191). Auf die Kontroverse Mitte der 1960er Jahre zwischen den beiden Autoren wird im Folgenden noch Bezug genommen. 5 Ihm verdanke ich den Hinweis auf das Zitat.

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anspruchen konnte, vom Kalten Krieg der Weißen ab- und auf die Probleme der nichtweißen Menschen der ‚dritten Welt‘ hinzulenken“ (Cohen 1992, 165). Solidarität mit den Einwohnern der kolonisierten Länder sei unmöglich, da die Vorstellungskraft nicht ausreiche, sich in deren Wirklichkeit hineinzuversetzen (vgl. Enzensberger 1965, 170 f und Cohen 1992, 165). Weiss unterstreicht das Bestreben Enzensbergers, führende Figuren in den Mittelpunkt zu rücken, „die gegenwärtig um ihre Befreiung kämpfen“ (Weiss 1971, 35). Doch kritisiert er die von Enzensberger vorgenommene Trennung zwischen seiner Welt und deren Welt und seine selbstverständliche Zuordnung zu einer „Reichen Welt“, die zur Folge habe, dass eine Solidarität mit den Befreiungskämpfern kolonisierter Länder unmöglich sei (vgl. Weiss 1971, 35). In dieser simplifizierten Gegenüberstellung sieht Weiss eine „Wirklichkeitsfälschung“, bei der maßgebliche Details wie der Gegensatz zwischen der westdeutschen und der sowjetischen Politik außer Acht gelassen werden (Weiss 1971, 37). Die zentrale Differenz in der Argumentation scheint darin zu bestehen, dass Weiss vor dem Hintergrund einer marxistischen Weltrevolution für Solidarität mit den unterdrückten Arbeitern der Dritten Welt plädiert und daher konkrete wirtschaftliche und politische Zusammenhänge sowie die faktische wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonialstaaten anführt. Hier deutet sich an, dass die Kritik von Weiss nicht in einem engen Sinne antikolonial motiviert ist, sondern sich in einem größeren Rahmen bewegt und er antiimperial argumentiert. Die von Enzensberger dargelegte Dichotomie, eine zwischen Armen und Reichen und seine Zuordnung zu der Reichen Welt erwecke den Anschein einer Solidarität mit den Unterdrückern, gegen die sich zu richten die eigentliche Aufgabe sei (vgl. Weiss 1971, 36). Einer derartigen Dichotomisierung hafte „etwas Passives und Fatalistisches an“, wenngleich Enzensberger die Terminologie nur als Arbeitshypothese aufstelle (Weiss 1971, 37). Trotzdem könne sie so, „wiederum nur denen nutzen, die die Klassenunterschiede aufrechterhalten wollen“ (Weiss 1971, 37). An die in Enzensbergers Essay formulierten drei Schlußfragen setzt Weiss eine vierte: Sind wir fähig, unsere Zweifel und unsere Vorsicht aufzugeben und uns zu gefährden, indem wir eindeutig aussprechen: Wir sind solidarisch mit den Unterdrückten und wir werden unsere Fähigkeiten als Autoren ausnützen, um sie in ihrem Kampf (der auch der unsere ist) zu unterstützen? (Weiss 1971, 44)

Enzensberger reagiert auf die Kritik mit einem von Ironie und Hohn geprägten Brief (vgl. Cohen 1992, 166): „Ich bitte euch, meine Herren, schaut in den Spiegel, ehe ihr den Mund aufmacht! Ist es wirklich ein schwarzer Grubenarbeiter, der da Schulter an Schulter mit euch an der Bar sitzt?“ (1966, 175). Er wirft Weiss eine „Doppelmoral“ (1966, 175) vor und weist dem Schreiben als Handlung eine untergeordnete, wenn nicht sogar scheinheilige Position zu. „Ist der Klassenkampf“, so fragt er, „ein

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Indianerspiel, die Solidarität ein Federschmuck für Intellektuelle?“ (1966, 176). Für Weiss’ Arbeit, in der er an dem Vorhaben festhält, sich selbst zu gefährden, resultiert aus diesen Reflexionen die Frage danach, wie die Aufgabe von Zweifeln und der eigenen Vorsicht ästhetisch umgesetzt werden kann – mit dem Ziel den Unterdrückten Solidarität zu bekunden und sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Der Roman Die Ästhetik des Widerstands kann unter anderem als der Versuch einer Antwort darauf verstanden werden.

3 Die Ästhetik des Widerstands Der Roman führt auf paradigmatische Weise vor, wie sich Kunst und Literatur emanzipatorisch denken lassen und auf welche Weise in der Kunst Unterdrückung, Gewalt und Funktionsmechanismen apersonaler Herrschaft in kapitalistischen Gesellschaften dargestellt werden können. Dabei folgt er der grundlegenden Idee, dass die Reflexionen zu Kunst und Literatur an die „unterdrückten Wünsche und Hoffnungen derer erinnern, die im Laufe der Geschichte zu den Verlierern zählten“, so Hofmann (2010, 1). In den drei Bänden beschreibt Weiss anhand des biographischen Einblicks in die Lebenswelt eines 1917 geborenen Arbeitersohns die Geschichte des linken Widerstands im Spanischen Bürgerkrieg und im Nationalsozialismus. Den Protagonisten und Ich-Erzähler führt es in der Zeit zwischen 1937 und 1945 von Berlin über Warnsdorf und über verschiedene Stationen in Spanien nach Paris und schließlich ins politische Exil nach Schweden, von wo aus er den Kampf gegen den Faschismus weiterführt. Der Roman endet mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Der Protagonist schließt seine Erzählung mit einer Konjunktivpassage, in der er „die Folgen des Kriegs prospektiv verlängert und als Bedingung seines Erzählens thematisiert“ (Beise 2002, 224). Die Entstehung des Romans fällt in eine Zeit, in der immer wieder auf „Verbindungen zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und jenen des Nationalsozialismus hingewiesen“ wurde „und wie schon in den 1960er Jahren ist die historische Perspektive stark von der Kritik neokolonialer Strukturen in der Gegenwart geprägt“ (Göttsche et al. 2017, 283). Es ist daher nicht überraschend, dass der Ästhetik des Widerstands neben der vordergründigen Erzählung der Biographie des Ich-Erzählers zwischen 1937 und 1945, dem antifaschistischen Kampf und seiner politischen Aktivitäten und Wirkweisen an verschiedenen Orten, die in dieser Zeit Zuflucht und Exil für den kommunistischen Widerstand waren, weitere, oftmals imaginierte Orte eingeschrieben werden und oftmals über die rezipierten Kunstwerke betreten werden.⁶ So gelangt

6 Butzer trennt eine horizontale und eine vertikale Erzählachse: Auf der ersten sind die biogra-

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auch die koloniale Wirklichkeit des frühen 19. Jahrhunderts in Gestalt des Kunstwerks Le Radeau de la Méduse (1819) von Théodore Géricault in den Roman. Auf diese Weise wird die zeittypische Kritik an Kolonialismus und westlichem Imperialismus hier sichtbar, korrespondiert aber zugleich mit dem Tertium, dass die Unterdrückten des Schiffbruchs der Medusa teilen mit den Figuren der textuellen Gegenwart des Romans. Die Betrachtung der kolonialen Situation Frankreichs vor dem Hintergrund der Medusa-Passage soll daher nicht das große Projekt des Romans in den Hintergrund treten lassen, das die Geschichte von Unterdrückung in der Menschheitsgeschichte zu erzählen sucht (und dabei immer wieder an ihre systematischen Grenzen stößt) sowie nach einer ästhetischen Form sucht, die dem politischen Widerstand Ausdruck verleiht. Die postkoloniale Perspektive dieses Beitrags ist gerichtet auf ein zentrales literarisches Verfahren, der Lektüre „gegen den Strich“, die an zweierlei erinnert: zum einen an den ihm sehr nah stehenden Aufruf von Walter Benjamin, die „Geschichte gegen den Strich zu bürsten“, wie es in der VII. Geschichtsphilosophischen These formuliert wird, sowie an das „contrapunctual reading“ von Edward Said, der mit seinem Lektüreverfahren zeigt, wie man Literatur begegnet, „in der das Koloniale bestenfalls marginal zu sein scheint – und wie man zeigen kann, dass es das gerade nicht ist“ (Dunker 2008b). Auf das diese Bilder vereinende Tertium wird im Folgenden noch eingegangen, allerdings geht es insbesondere darum, zu verstehen, was eine Lektüre „gegen den Strich“ bei Peter Weiss bedeuten kann.

3.1 „Gegen den Strich“ Den Auftakt des Romans bildet eine dezidierte Betrachtung des Pergamonaltars in Berlin, in dessen handlungsstiftender Reflexion über Kunst im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung eine der Hauptfiguren des ersten Bandes, Hans Coppi, die eingangs zitierten Zeilen äußert. In dem Zitat wird aufgerufen zu einem Verfahren „gegen den Strich“, das als notwendige Bedingung dargestellt wird, um sich der Kunst und der Literatur annehmen zu können. Alle Vorrechte, die mit Kunst und Literatur verbunden seien, müssten ausgeschaltet werden und es sei die Aufgabe der Rezipienten, ihre eigenen Ansprüche in sie hineinzulegen. Von der Figur Heilmann wird dieser Anspruch noch erweitert:

phischen Stationen des Ich-Erzählers angesiedelt, auf der zweiten „ist die Geschichte der Städte und Länder angesiedelt, die die Ich-Figur durchläuft (dazu gehört auch die Zeit, die in den Kunstwerken aufgespeichert ist und die von den Figuren bei deren Betrachtung vergegenwärtigt wird)“ (Butzer 1998, 160).

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Um zu uns selbst zu kommen, sagte Heilmann, haben wir uns nicht nur die Kultur, sondern auch die gesamte Forschung neu zu schaffen, indem wir sie in Beziehung stellen zu dem, was uns betrifft. Wir haben Allbekanntes über die Form unsres Planeten und dessen Lage im Weltraum ausgesprochen, aber für uns hat es mit diesen einfachen Kenntnissen was Absonderliches auf sich. Wenn wir äußern, daß die Erde rund ist und sich um sich selbst dreht, dann bestätigen wir damit, daß es Besitzende und Besitzlose gibt. Nennen wir Grundsätze der physikalischen Ordnungen, so hängt daran die Arbeitsteilung in Ausübende und Eintreiber, die so alt ist wie die Wissenschaft. (Weiss 2016, 51)

Die von Heilmann vorgenommene Erweiterung bezieht sich auf eine grundlegende Kritik an den „bestehenden Regeln der sozialen Verhältnisse“ (Weiss 2016, 51), die nicht zu verstehen ist als ein radikales Infragestellen aller Forschung, sondern als das Kultivieren einer Fähigkeit, sich selbst und die eigene Geschichte dazu anders in Bezug zu setzen: „Erst wenn wir bei der Vorstellung, daß wir uns auf einer rotierenden Kugel befinden, alle damit verbundnen Selbstverständlichkeiten vergessen, läßt sich die Ungeheuerlichkeit verstehen, die unser Denken bestimmt“ (Weiss 2016, 51). Aus diesem Gespräch allein wird noch nicht deutlich, was genau Coppis Imperativ bedeutet, worum es sich bei einer Lektüre „gegen den Strich“ handelt und warum Weiss seiner Figur Coppi diesen Aufruf in den Mund legt.⁷ Dies kann vor dem Hintergrund der VII. Geschichtsphilosophischen These von Benjamin besser verstanden werden. Hier heißt es: Es [das Kunstwerk, D.W.] dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten (Benjamin 1980, 696).

Die Existenz des Kunstwerks ist also nicht nur seinem Erfinder zu verdanken, sondern auch der „namenlosen Fron“ seiner Zeitgenossen, die vom Prozess der Kultur ausgeschlossen sind. Es ist vor allem dieser Ausschluss bzw. die Namenlosigkeit der Zeitgenossen, ja ihre Tilgung, durch die aus dem Dokument der Kultur zugleich eines der Barbarei gemacht wird. Bezogen auf den Prozess der Überlieferung, der beharrlich die namenlose Fron ihrer Unsichtbarkeit überlässt, ist auch dieser nicht frei von Barbarei, weil im Prozess der Überlieferung das Dokument

7 Der Aufruf ist aus dem historischen Kontext heraus auch angelehnt an die Tradition von Arbeiterbildungsvereinen, deren Programm für die Figuren in der Ästhetik des Widerstands eine wichtige Rolle spielt.

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der Kultur vom einen an den anderen übergeht und dieser Übergang von Herrschaft bestimmt wird. Der historische Materialist rücke aus diesem Grund ab von dieser Form der Überlieferung und betrachte es hingegen als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Diese Aussagen Benjamins und ihre willkürlichen Überschneidungen mit Coppis Äußerung und in gewisser Hinsicht darüber hinausweisender Konstellationen im Roman müssen tiefergehend betrachtet und aus dem Ganzen heraus erläutert werden. Benjamins geschichtsphilosophische Thesen von 1940⁸ lassen sich verstehen als eine grundlegende Kritik am bürgerlichen Geschichtsverständnis. Erst die erlöste Menschheit kann über ihre Vergangenheit frei verfügen, bis dahin aber bleibt die Geschichtsschreibung eine Geschichtsschreibung der Sieger (vgl. Benjamin 1980, 694). Im Kontext der Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts, die nicht nur die Katastrophe implizieren, dass der Faschismus nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie in Deutschland gesiegt hatte, „sondern durch diplomatische Übereinkunft im Hitler-StalinPakt, über seinen bis dahin zuverlässigsten Feind, den Kommunismus“ erscheinen alle politischen Kräfte besiegt, „die nach dem damaligen marxistischen Verständnis den Fortschritt der Menschheit zum Sozialismus zu verbürgen schienen“ (Mensching 1975, 170). Benjamins Thesen negieren den Fortschritt als eine der geschichtlichen Realität unmittelbar innewohnende Tendenz. Der wahre Fortschritt ist nicht der in der Geschichte sich erstreckende Weg der Menschheit zur Freiheit, sondern die Erlösung der Menschheit von Geschichte überhaupt. (Mensching 1975, 171)

Denn die Annahme, „die reale Geschichte sei selbst der automatische Prozeß dorthin, bedeutet, daß die Welt an sich vernünftig sei und damit notwendig die Rechtfertigung all seiner Opfer“ (Mensching 1975, 171). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Weiss die geschichtsphilosophischen Thesen einfach literarisiert, allerdings lassen sich immer wieder wesentliche Gemeinsamkeiten aufzeigen.⁹ Im Rahmen dieses Beitrags wird demnach vor allem auf die Überschneidung der Motivation geblickt, die sich hinter der Formulierung „gegen den Strich“ verbirgt. Wenn das Kunstwerk selbst und sein Prozess der Überlieferung beide gleichermaßen Dokumente der Kultur und der

8 Erstveröffentlichung Los Angeles posthum in Zeitschrift für Sozialforschumg, Sonderausg. W.B. zum Gedächtnis. Erstausgabe in Schriften, Bd. 1, Hg. T.W. Adorno und Gretel Adorno, 494–506, vgl. Berger und Städtler 2012, 50. In diesem Beitrag zitiert nach Benjamin 1980. 9 Ersteres wird z. B. vertreten von Klaus Jochem 1984, Weiss’ Beziehung zu Benjamins Geschichtsauffassung wird außerdem behandelt von Rainer Koch 1990 und Alexander Honold 1992. Ersteren Hinweis verdanke ich Butzer 1998, 171.

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Barbarei sind, gilt es zu fragen, wie diese Dokumente „gegen den Strich“ zu behandeln sind und ob ein solches Verfahren die Geschichte der Namenlosen tatsächlich sichtbar machen kann? Als Problem bleibt bestehen, dass insofern Geschichte begriffen wird als eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, die historische Folgen zeitigen, ein Ausbruch aus dem Kontinuum der Herrschaft folgenlos für die Tradition bleibt (vgl. Städtler 2019, 25). Umso wichtiger wird hier das literarische Werk, das einer Geschichtsschreibung nicht verpflichtet, sich an der Collage einer Tradition der Unterdrückten ¹⁰ versuchen kann – wie sich dies in der Ästhetik des Widerstands zeigt.

3.2 Literarische Verfahren Die literarischen Verfahren, die im Folgenden betrachtet werden, folgen der von Coppi geforderten Lektüre „gegen den Strich“ und anhand ihrer Betrachtung wird ersichtlich, was damit methodisch gemeint sein könnte. Trotzdem bleiben die aus dem Roman heraus entwickelten Verfahren textimmanent, das bedeutet die Figuren in dem Roman erarbeiten für sich gültige Methoden innerhalb ihrer textuellen Realität: Sie behandeln die Kunst gegen den Strich und zeigen Leerstellen auf, die dadurch sichtbar gemacht werden. Eine Isolation ihrer Methode vom Roman, sofern dies überhaupt möglich wäre, könnte nur eingeschränkt erfolgen. Vor dem Hintergrund eines Instrumentariums postkolonialer Theoriebildung kann jedoch verwiesen werden auf das Verfahren der kontrapunktischen Lektüre nach Edward Said, das hinsichtlich seiner Relektüren an das erinnert, was die Figuren für sich fordern. Auf die sich in einem Tertium des Widerständigen und gegen die bestehende Ordnung vereinenden Gemeinsamkeiten zwischen einer Lektüre „gegen den Strich“ und dem kontrapunktischen Lesen nach Said verweist unter anderem Hofmann: Mit seinem Modell der kontrapunktischen Lektüre habe Said „im Sinne

10 Siehe zur ambivalenten Verwendung dieser Formulierung die kritische Einordnung von Städtler 2019, 26: „[D]ie Unterdrückten der Epochen stehen noch weniger in einem Traditionszusammenhang miteinander als die Herrschenden […].“ Von einer Tradition der Unterdrückten zu sprechen, mag daher aus theoretischer Sicht falsch sein, allerdings wird im Roman anhand von Kunst und Literatur das Tertium geteilter Unterdrückung und geteilter Auflehnung sichtbar gemacht, die sich gegen ihre eigene Unsichtbarkeit in der Überlieferung wendet. Die Figuren einer Geschichte „der Unterdrückten aller Zeiten“ (vgl. erneut Beise 2002, 227) teilen lediglich ihr Leid miteinander und systematisch betrachtet erlischt ihre Existenz mit ihrem gescheiterten Widerstand in der Vergangenheit. Es ist also zu fragen: Was bleibt? Die einzige Möglichkeit des Ausbruchs aus dem Kontinuum der Herrschaft liegt in der „an einem Begriff der Geschichte als anachronistisch herzustellendem Zusammenhang gebrochene[n] Darstellung“, in der die Opfer der Unterdrückung exponiert werden (vgl. Städtler 2019, 25).

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von Benjamins Lesen „gegen den Strich“ ein Widerstandspotential der Literatur erfasst“, mit der er die schematische Kritik am europäischen Diskurs zu überwinden sucht (2008a). Auch im Handbuch Postkolonialismus und Literatur verweisen Göttsche et al. auf die variierte Maxime Saids, die auf Benjamin – „cum grano salis“ – zurückgehe in dem Sinne, dass ein Dokument der Kultur zugleich als eines der Barbarei zu verstehen sei (vgl. 2017, 101). Said hat anhand der Romane von Jane Austen, Joseph Conrad, Rudyard Kipling u. a. die „hohe Bedeutung“ kultureller Schöpfungen „bei der Herausbildung imperialer Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen“ herausgearbeitet (Dunker 2008a, 14). Gisela Febel verweist auf zahlreiche Beispiele einer Operationalisierbarkeit anhand der paradigmatischen Lektüren Saids in der interkulturellen Germanistik und der postkolonial orientierten Philosophie (Febel 2012, 230). Die Verwandtschaft zwischen jener Weiss’schen Lektüre „gegen den Strich“, dem Benjamin’schen „gegen den Strich bürsten“ und einer kontrapunktischen Lektüre lässt sich im Rahmen dieses Beitrags nicht erschöpfend diskutieren, und sicher teilen die Verfahren kein kohärentes Konzept, doch sie verwenden auch nicht zufällig eine ähnliche Metapher: das Tertium erscheint zunächst in dem Bestreben, sich gegen eine bestehende Ordnung zu richten. Die einzelnen Verfahren im Roman die dem großen Prinzip einer Lektüre „gegen den Strich“ folgen – so meine These –, lassen sich gliedern in 1) Leerstellen: Sehen, was nicht ist, 2) Inversionen und 3) Augenblick. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Sujet des Schiffbruchs der Medusa in der Ästhetik des Widerstands zum Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Bands. Hier wird der Protagonist mit der kolonialen Wirklichkeit des Jahres 1816 konfrontiert, in der er seine eigene Situation gespiegelt findet. Ein Verfahren „gegen den Strich“ ist vor diesem Hintergrund aus zweierlei Perspektiven zu betrachten: Zum einen sind die Gemeinsamkeiten mit Benjamins „gegen den Strich“ aufzuzeigen, aber auch ihre Unterschiede, aus denen heraus die Figuren ihre eigene Programmatik formulieren. Benjamins Begriff von Geschichte entspricht dabei nicht einfach Weiss’ zugrunde gelegtem Kunstverständnis bzw. dem Verständnis einer Geschichtsschreibung, die sich vom Prozess der Überlieferung von Dokumenten der Kultur unterscheidet. Zum anderen ist auf das Verfahren zu blicken, anhand dessen eine Lektüre „gegen den Strich“ nicht nur als Programm vorgeschlagen wird, sondern durch die verdichteten ästhetischen Reflexionen ausgewählter Kunstwerke im Roman auch vollzogen wird. Die Figuren setzen um, was sie fordern, indem sie in den Werken kontinuierlich auf hegemoniale Strukturen verweisen, indem sie Leerstellen sichtbar werden lassen und indem sie ihre eigene prekäre Situation anhand ausgewählter Kunstwerke sichtbar machen. Dabei kommt Géricaults Le Radeau de la Méduse (1819) eine besondere Bedeutung zu. Zuletzt ist noch der Frage Rechnung zu tragen, in welcher Hinsicht die Komposition der Szene um den Schiffbruch der Medusa die antikolonialen Texte

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der 1960er Jahre im Hinblick auf ihre Beurteilung des europäischen Kolonialismus übertrifft.

3.3 Leerstellen: Sehen, was nicht ist Den Auftakt des Romans bildet die oben angeführte Betrachtung des PergamonFrieses, der antiken Vision des Zeus-Palasts, den es in der Darstellung gegen den Ansturm der Giganten zu verteidigen gilt. In medias res wird der Erzählraum gefüllt mit den zu diesem Punkt noch nicht eingeführten Betrachtern, die von den sich aus dem Stein erhebenden Leibern umschlossen werden („Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein […]“, Weiss 2016, 9). „Der Satz organisiert so die Erfahrung einer ausweglosen Einkreisung, ohne ein Entkommen ins distanzierende Wissen […] zuzulassen“ (Brunner 1999, 159). Die drei Figuren, der Ich-Erzähler, Heilmann und Coppi, identifizieren sich in der Betrachtung mit den Kindern der Gaia, „der Dämonin der Erde“ (Weiss 2016, 13): „Sie hatte die Giganten, Titanen, Kyklopen und Erinnyen geboren. Dies war unser Geschlecht. Wir begutachteten die Geschichte der Irdischen“ (Weiss 2016, 13). Gaia, als „mythische Ahnin aller Erdgeborenen“ wird daher zum Ursprung einer Identifikation mit den in der Friesdarstellung Unterliegenden (vgl. Brunner 1999, 173). Gaia hat ihre Kinder geschickt, um die Herrschaft von Zeus zu brechen. Die drei Freunde lesen den Mythos auf ihre eigene Geschichte hin und deuten die überlieferten Konstellationen um. Sie rücken ins Zentrum jene „namenslose Fron“, die Unsichtbaren, die ihr Leben unter Peitschenhieben gelassen hatten, um jenes Denkmal zu errichten (fokussieren also in ihrem Rezeptionsprozess auch die Entstehung des Kunstwerks): Die Regenten aus der Dynastie der Attaliden ließen sich von ihren Bildhauermeistern das schnell Vergehende, von tausenden mit ihrem Leben Bezahlte, auf eine Ebene des zeitlos Bestehenden übertragen und damit ein Denkmal ihrer eignen Größe und Unsterblichkeit errichten. Aus der Unterwerfung der vom Norden eindringenden gallischen Völker war ein Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte geworden, und die Meißel und Hämmer der Steinmetze und ihrer Gesellen hatten das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt. (Weiss 2016, 11)

Es ist zum einen ihr Kampf, der ständige und der bevorstehende, den sie in dem Relief zu lesen suchen. Während die drei jungen Männer den Altar betrachten, wird ihnen deutlich, dass es innerhalb einer solchen Darstellung niemals allein das nur Sichtbare sein kann, das sich seinen Betrachtern zeigt. „Die Giganten, die Söhne der klagenden Ge, vor deren Oberkörper wir standen, hatten sich frevelnd gegen die Götter erhoben, andre Kämpfe aber, die über Pergamons Reich hingegangen waren, lagen unter dieser Darstellung verborgen“ (Weiss 2016, 11). Es geht dabei um das

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Verborgene, das in der Darstellung angelegt ist und von den Betrachtern sichtbar gemacht werden soll. Dies ist ihre Aufgabe bzw. die Aufgabe einer Lektüre „gegen den Strich“: zu sehen, was nicht ist. Insofern ist der Auftakt bereitet für das Hineinlesen der eigenen Ansprüche in die Kunst als wesentliche Bedingung für ihre Konstituierung, das den Erzähler im Fortgang des Romans beschäftigen wird. Hier nun setzt das weiter oben Zitierte an: Sein Dasein verdanke das Kunstwerk vor allem auch den Namenlosen, die es erschaffen haben. Dieses Faktum wird in dem Roman besonders deutlich anhand der Beschreibung des Pergamonaltars. Mit der Kunst verhalte es sich nämlich so, dass die „Eingeweihten, die Spezialisten“ von Kunst sprächen, ihre Harmonie der Bewegung priesen, das Ineinandergreifen der Gesten, „die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch“ (Weiss 2016, 12). Das Verlogene der Kunst sei, dass die Eingeweihten ihre Beschäftigung lediglich mit Muße und Genuss verbänden, weil sie darin so oft ihre privilegierten Positionen bestätigt sähen; die andere, wesentliche Seite sei aber, dass die Kunst für jene, die nicht eingeweiht wurden, auf zunächst körperlicher Ebene („Pranke im eignen Fleisch“) spürbar werde: die Schmach des Errichtens solcher Monumente, das Blut der Sklaven, das geflossen ist, bis das Kunstwerk errichtet war. In diesem Sinne erkannten sie die Betrachter in den Unterdrückten der Darstellungen wieder: „Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die andern“ (Weiss 2016, 12). Diese Betrachtung lässt den barbarischen Ursprung eines jeden Kunstwerks nach Benjamin anklingen. Der als wiederkehrende Identifikations- und Abgrenzungsfigur modellierte Herakles, als einzig Sterblicher, fehlt in der Darstellung des Altars. Herakles aber vermißten wir, den einzigen Sterblichen, der sich der Sage nach mit den Göttern im Kampf gegen die Giganten verbündet hatte, und wir suchten zwischen den eingemauerten Körpern, den Resten der Glieder, nach dem Sohn des Zeus und der Alkmene, dem irdischen Helfer, der durch Tapferkeit und ausdauernde Arbeit die Zeit der Bedrohungen beenden würde. Nur auf ein Namenszeichen von ihm stießen wir, und auf die Tatze eines Löwenfells, das er als Umhang getragen hatte, sonst zeugte nichts mehr von seinem Standort zwischen dem athletischen Leib des Zeus […] (Weiss 2016, 14).

An dieser Stelle wird das literarische Verfahren besonders deutlich, anhand dessen die Figuren auf eine Leerstelle verweisen, die es zu füllen gilt. Das Fehlen des Herakles ist auf der Plastik konkret, sogar sein Ort kann benannt werden, denn seine Präsenz auf dem Fries war gegeben, ist jedoch völlig zerstört worden. Von den Figuren wiederum erhält sein Fehlen eine Bedeutung. „Coppi nannte es ein Omen, daß grade er, der unsresgleichen war, fehlte, und daß wir uns nun selbst ein Bild dieses Fürsprechers des Handelns zu machen hatten“ (Weiss 2016, 14). Dunker

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weist darauf hin, dass die Identifikation mit der Figur des Herakles zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben ist. Sie sei „nicht im Pergamonaltar […] angelegt, sondern Heilmann entwickelt sie erst aus seinen Büchern, die seine Geschichte verzeichnen, ‚weg vom Privileg eines Bündnisses mit dem Olymp auf die Seite der Irdischen‘“ (vgl. Dunker 1994, 169 und Weiss 2016, 23). Denn der Sage nach hatte er sich „mit den Göttern im Kampf gegen die Giganten verbündet“ (Weiss 2016, 14). Herakles steht allmählich für die Verbindung von Widerstand und Kunst, und damit für die Gleichzeitigkeit der im Roman erzählten Geschichte der Klassenkämpfe und der Kunst (vgl. Kesting 1981). Die Betrachter unternehmen eine Neuordnung der kämpfenden Oppositionen und unterwerfen die Darstellung ihrer Sichtweise. In der Konjunktivpassage am Ende des Romans nimmt der Erzähler erneut Bezug auf den Pergamonaltar und ersetzt die fragmentierten, oftmals namenlosen Glieder durch ihm bekannte: „Ich würde mich vor den Fries begeben, auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten, Coppis Eltern und meine Eltern würde ich sehn im Geröll […].“ (Weiss 2016, 1195) Hier orientiert sich die Rezeption des Frieses nicht mehr am faktisch Sichtbaren, sondern transformiert die Figuren auf dem Fries, indem der Erzähler seine Eltern und Coppis Eltern konjunktivisch imaginiert. Doch wie er Vertraute aus seiner eigenen Biographie in der Darstellung des unerbittlichen Kampfes gegen die Herrschenden installiert, so sucht er auch nach einer Darstellung für ihr Scheitern im Widerstand. Die dezidiert beschriebene Verausgabung im Kampfgeschehen weicht ihrer Erschöpfung, in der sie „blind geworden vom langen Kampf“ nun plötzlich übereinander herfielen, „einander würgen und zerstampfen, wie sie oben, die schweren Waffen schleppend, einander überrollten und zerfleischten“ (Weiss 2016, 1196). Nur ein Platz im Gemenge, in dem alle übereinander herfielen, würde frei sein für eine Löwenpranke, die den eigentlichen Feind darstellte. Doch „solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehen, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen“ (Weiss 2016, 1196). Sie müssten selbst tätig werden, „dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den fruchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen konnten“ (Weiss 2016, 1196). Das Hineinlesen der eigenen Geschichte in das Relief bringt allein keine Genugtuung. Die Eltern erscheinen nicht auf dem Fries, um am Ende in der Gestalt künstlerischer Weihe nach einem langen Kampf Frieden zu finden, sondern als Bestandteil eines Archivs, das zum Handeln aufruft. Die Kunst erscheint vor diesem Hintergrund als ein unabdingbarer Bestandteil des Handelns. Das Relief bildet demnach in gewisser Hinsicht Rahmen für die große Erzählung. Die Figuren vollziehen an diesem Beispiel das, was sie sich selbst programmatisch vorgegeben haben: die Kunst und die Literatur „gegen den Strich“ zu behandeln. In diesem Beispiel tun sie dies anhand des Verfahrens der Leerstelle.

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3.4 Inversionen In der prominenten Medusa-Passage des Romans wird Bezug genommen auf das Gemälde von Théodore Géricault, Le Radeau de la Méduse, aus dem Jahre 1819. Bezogen auf die Havarie der französischen Fregatte Medusa unter der unsachgemäßen Führung des Kapitäns Hugues du Chaumareys, die sich im Jahr 1816 ereignete, thematisiert das Gemälde die Situation der 147 ausgesetzten Passagiere, die keinen Platz mehr in der zu gering bemessenen Anzahl der Rettungsboote fanden und 14 Tage lang auf dem offenen Meer trieben, bis 15 Überlebende von ihnen am 14. Juli 1816 von der Brigg Argus geborgen wurden. In dem Bericht zweier Überlebender, Jean Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard (1818),¹¹ sind die, sicher nicht ohne apologetischen Impetus zu lesenden, Details über die Meutereien und den Kannibalismus dokumentiert sowie die verbrecherische Entscheidung, das Floß von der Führung durch die Rettungsboote, mit denen es vertaut war, zu lösen und auf dem offenen Meer sich selbst zu überlassen. Die Grausamkeit dieser Tat ist zusammengefasst in zwei Wörtern, die der Offizier Pierre-André Reynaud für alle hörbar und sich als solche tief in die Geschichte dieser Havarie einschreibend, geäußert haben soll: „Abandonnons-les! – Verlassen wir sie!“ (Zeilinger 2005, 160) Im Roman wird mit dem Gemälde auch die Geschichte der Kolonisation im Senegal perspektiviert, die für den Ich-Erzähler zum Verständnis des Gemäldes notwendig erscheint. Anlass der Fahrt war die Sicherung der Kolonie, die als Rückgabe eines Teils der ehemals britisch besetzten Kolonie in Folge der napoleonischen Kriege erfolgen sollte. Bereits vier Jahrhunderte vor der Ausfahrt der französischen Flottenheinheit war Cadamsoto, der Venezianer im Auftrag Portugals, den Fluß im Senegalland hinaufgesegelt, die Portugiesen hatten ihre Faktoreien an der Küste etabliert, die Holländer lösten sie ab, und diese wurden von den Franzosen vertrieben, die im Delta die Stadt Saint Louis gründeten und zum Zentrum des Sklavenhandels machten. Fortan standen die Niederlassungen zwischen dem Cap Blanc und dem Gambia Strom abwechselnd unter französischer und englischer Hoheit, bis das Gebiet, durch die Pariser Verträge von Achtzehnhundert Fünfzehn, Frankreich überlassen wurde. Nach der langen Zeit der Kriege, der französischen Niederlage, der Verbannung Napoleons auf Sankt Helena, konnte Großbritannien, das fast alle verlangten Kolonien erhalten hatte, es sich leisten, Frankreich, bei der Installierung des achtzehnten Louis, die von Trockensteppen und Halbwüsten bedeckte Landspitze im äußersten Westen Afrikas zuzusprechen. Vom Kap der Guten Hoffnung aus die Bodenschätze des Südens erschließend, im Besitz der fruchtbaren Ufer des Gambia und des Hafens Bathurst, behielten die Engländer sich zudem das Recht vor, gemeinsam mit den Franzosen den Handel mit Kautschuk zu betreiben und durch eigne Forts und Umschlagstellen zu sichern. […] Insgesamt wurden vom Seefahrtsministerium dreihundertfünfundsechzig Menschen nach dem Senegal ausgeschickt, […] eine

11 Hier zitiert nach Corréard und Savigny 2005.

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Zahl, die sich, in Anbetracht der wachsenden Interessen Europas am afrikanischen Kontinent und in Erwartung weitrer Zwistigkeiten bei der Aufteilung der eroberten Areale, geringfügig ausnahm. Die Unternehmung, in ihrer improvisierten, fahrlässigen Art, entsprach der Lage, in der Frankreich sich befand, erdrückt von der Last der Kriegsschulden, die an die Bank von England zu zahlen waren, gleichzeitig von England und den Alliierten, in Besorgnis um das Wiederaufkommen revolutionärer Impulse, hergerichtet zu scheinbarer Stabilität. (Weiss 2016, 454–455)

Die präzise Beschreibung der kolonialen Wirklichkeit, aus der heraus die Fahrt in den Senegal unternommen wird, insbesondere der Handel mit Bodenschätzen infolge der Ausbeutung der Kolonien, verdeutlicht das Voranschreiten der europäischen Kolonisierung des afrikanischen Kontinents. Anhand des in den Roman intertextuell verwobenen Berichts von Corréard und Savigny imaginiert der Text einen Leser aus dem Jahr 1817, der anhand der Dokumentation über die Havarie der Medusa auf die beginnende Kolonisierung Afrikas blickt, auf Bestrebungen zur Wiedererrichtung des Sklavenhandels sowie die Kolonialverbrechen erahnt, die noch bevorstanden. Der Leser, „sah, wie sich hier die Epoche entfaltete, in der er lebte, aus Engstirnigkeit, Selbstsucht und Habgier sah er ein Imperium mit provinziellen Zügen emporwachsen, die Profiteure sah er, und deren Opfer“ (Weiss 2016, 455). In Bezug auf die Kontroverse mit Enzensberger kann die literarische Bezugnahme auf den Kolonialismus in Afrika auch als ästhetischer Versuch gelesen werden, die Fähigkeiten „als Autoren aus[zu]nützen, um sie [die um ihre Befreiung kämpfenden] in ihrem Kampf […] zu unterstützen“ (Weiss 1971, 44).¹² Der Maler Géricault erscheint in der eigenwilligen Erzählpassage um die Medusa-Havarie als Figur, während die Perspektive des Ich-Erzählers allmählich verschmilzt mit der des Malers, die wiederum verwoben wird mit der Perspektive der Floßinsassen.¹³ Die Betrachtung des Gemäldes im Roman findet zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten statt, an denen immer wieder neue Aspekte des großformatigen Bildes in den Fokus genommen werden. Auf dem Gemälde sind 18 Männer auf einem Floß zu sehen. Einige liegen leblos auf den Holzbrettern des Gefährts, andere sind in prägnanten Posen mit starkem Ausdruck in Szene gesetzt. Das Floß ist von Wasser umgeben, von der linken Bildseite her verdunkelt eine hohe Welle den vorderen Teil des Floßes. Am Horizont auf der rechten Bildseite weckt das weit

12 Den Aufruf in Weiss’ Brief an Enzensberger, Farbe zu bekennen, konkretisiert er in der Aufzählung von Statistiken, anhand derer er zeigt, „in welchem Maß die Infiltration der Großwirtschaft und der militärischen Interessen seines Staats in den unterdrückten Ländern fortgeschritten ist“ (Weiss 1971, 40–41). Enzensberger polemisiert dagegen: „Ich meine, daß es im Grunde zweierlei ist, ob einer in Angola in einer Grube stirbt, oder ob er eine Statistik über Grubenarbeiter von Angola liest. Ihr, meine Herren, studiert die Statistik. Ich auch.“ (Enzensberger 1966, 176). 13 Eine vertiefte Analyse der Erzählsituation findet sich u. a. bei Schulz 1986.

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entfernte Schiff, die Brigg Argus, die Aufmerksamkeit der vom Betrachter abgewandten Mehrheit der Insassen – auf die Wahl dieses Augenblicks und sein Potential „gegen den Strich“ gelesen zu werden, wird im folgenden Kapitel noch eingegangen. Die Gruppe, die sich der Brigg zuwendet, erhebt sich zu einer Pyramide, an deren Spitze ein Schwarzer steht und mit einem roten Stofffetzen als Fahne dem entfernten Schiff zuwinkt. Insgesamt erscheinen zwei Figuren in einem überaus präsenten Subjektstatus: zum einen der die Spitze der Pyramide bildende Schwarze, der vom Betrachter abgewandt mit muskulösem Torso sich erhebt, zum anderen der bärtige Mann in dem hervorgehobenen Bildausschnitt im Vordergrund. Diese beiden Figuren bilden jeweils einen eigenen Mittelpunkt innerhalb einer Hoffnungs- bzw. Verzweiflungsgruppe (wie Klaus Heinrich die beiden Gruppen differenziert, vgl. Heinrich 1995, 15–16). Aus historischer Sicht erscheint die Anordnung der Figuren irritierend. Albert Alhadeff geht diesem punctum präzise und in zwei profunden Analysen nach – im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts legte man sicherlich nicht seine Hoffnung in einen Mann dunkler Haut (vgl. Alhadeff 2002, 12 und Alhadeff 2020): But Géricault, as the Raft depicts, did place his hopes in a man of color, a black man, a “pariah”, as Charles Blanc was to state years later. Given the fact that most whites in Louis XVIII’s day considered blacks less than human – their place, it was widely believed, was somewhere below, in the hold of a slave ship […] how could Géricault have had the temerity to presume that a black man could serve as a focal point for his composition? How could he set him atop the pyramidal rise of his great canvas? Was he [color] blind? A man of dark skin in a pivatol role was unheard of. Not only was it provocative, it invited derision… and that it received in abundance! (Alhadeff 2002, 12)

Alhadeff stellt heraus, dass die Rolle des Sklavenhandels in der gesamten GéricaultForschung bislang quasi keine Rolle gespielt hat. Der große Skandal war stets die unsachgemäße Führung des Kapitäns Hugues de Chaumareys, der für das vermeidbare Auflaufen auf die Arguin-Sandbank verantwortlich gewesen war. Dabei gab es noch einen weiteren Skandal, der nicht etwa die Meutereien und den Kannibalismus auf dem Floß zum Gegenstand hatte, sondern bei dem Gouverneur Julien-Désiré Schmaltz die zentrale Rolle spielte, einem der kolonialen Hoffnungsträger unter den Passagieren der Medusa. Sein verbrecherisches Interesse am Sklavenhandel in Saint Louis verbarg er nicht, sondern praktizierte ihn „presqu‘ ouvertement“¹⁴ [fast unverhohlen], ohne die Debatten um seine Abschaffung auch nur anzuhören (vgl. Alhadeff 2002, 25). Géricault wusste vermutlich um diese Fakten, da er mit den beiden Verfassern des Berichts im Rahmen seiner Studien und 14 Das Zitat geht zurück auf die Notizen von Alexandre Corréard vom April 1819, zitiert nach Alhadeff 2002, 25.

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Recherchen viel Zeit verbrachte und sie auch portraitierte. Alhadeff geht davon aus, dass Géricault bewegt war von diesen und anderen Notizen Corréards (vgl. Alhadeff 2002, 26); vor allem aber müsse die Diskussion um den Sklavenhandel und die Rolle, die Schmaltz dabei spielte, bei den Auseinandersetzungen mit Géricaults Gemälde, auf dem dem Schwarzen eine Schlüsselrolle zukomme, entscheidend berücksichtigt werden (vgl. Alhadeff 2002, 27). Es ist ebenso Aufgabe jener Lektüre „gegen den Strich“ zu fragen, warum ausgerechnet der Schwarze auf einem Gemälde von 1819 von Géricault an die Spitze gestellt wird? Was repräsentiert die Figur bei Géricault, aus welchem Grund wird sie von Weiss auf diese Weise hervorgehoben? Der Ich-Erzähler ist ebenso gefesselt von der zeituntypischen Platzierung der Figur, bei der es sich um den historisch verbürgten schwarzen Kolonialsoldaten Jean-Charles handeln könnte. Der einzige, der sich ganz dem Außen stellte, der vor sich offnen Raum hatte, war der Dunkelhäutige, der Afrikaner, hier vibrierte auch der Umriß, die Linien der Schulter, der von hinten gesehenen Wange, des Haars standen im Begriff, in das Gewölk einzufließen, an ihrem äußersten, höchsten Punkt begann die Auflösung, die Verflüchtigung der Gruppe. (Weiss 2016, 480)

Die Spitze der Pyramide erscheint ihm als Punkt, der sich dem „offenen Raum“ stellt: Für ihn wird dabei erstens der Prozess einer Individuation gegenüber dem kollektiven Kampf repräsentiert. Die Orientierung des Individuums nach Außen ist Bedingung für seine Fortbewegung, die die Auflösung der Gruppe zur Folge hat. Diese Lesart ist maßgeblich verschränkt mit der Situation des Ich-Erzählers, der nach der Niederlage der Internationalen Brigaden in Spanien, politisch vorübergehend orientierungslos nach Ausdruck für seine Situation sucht und sie in dem Gemälde findet. Zweitens – und dies ist zentral für die Lektüre „gegen den Strich“ – vollzieht die literarische Darstellung eine Inversion, die schon im Gemälde angelegt wird: Die dem Ereignis zugrundeliegende Verteilung auf die Rettungsboote und das Floß wird vom Kapitän, den höheren Offizieren und einflussreichen Passagieren hierarchisch organisiert. Auf dem Floß befinden sich 147 Menschen, unter ihnen der Arzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Naturforscher Alexandre Corréard, die sich pflichtbewusst an die vor der Verteilung auf die Boote erstellte Einschiffungsliste hielten, die sonst keiner mehr beachtete. Außer ihnen waren es „120 Soldaten, die Landoffiziere mitgerechnet, 29 Mann Seeleute und Passagiere nebst einer Frau“ (Corréard und Savigny 2005, 38). Bei Weiss heißt es ergänzend dazu: „Von den etwa dreihundert Kolonialsoldaten und Siedlern an Bord konnten die Rettungsboote kaum die Hälfte fassen. Der Kapitän, die höheren Offiziere und einflußreichen Passagiere nahmen mit Gewalt Besitz von den Booten.“ (Weiss 2016, 425). Auf dem Floß erfolgt eine Neuordnung der kolonialen Hierarchie, die durch die Bildkomposition ersichtlich wird. Auf der Seite des bärtigen, weißen Mannes im

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Vordergrund dominieren Untergang und Hoffnungslosigkeit. Er starrt ins Leere und ist umgeben von Leichen. Eine von ihnen hält er umklammert, damit sie nicht ins Wasser fällt. In zurückhaltender Andeutung wird auf dieser Seite auch auf den Kannibalismus verwiesen, der auf dem Floß stattgefunden hat.¹⁵ Die Hoffnungsgruppe hingegen, vom Betrachter abgewandt, richtet ihren Blick auf das kommende Schiff. Unter ihnen bildet der schwarze Kolonialsoldat den höchsten Punkt, man könnte auch sagen, dass er als Anführer der Gruppe und damit höchster Repräsentant der Hoffnung, an der Spitze steht. Sein muskulöser Torso strotzt vor Kraft und erinnert in seiner physischen Präsenz und dem transitorischen Moment, der stillgestellt wurde, an das Herausbrechen aus dem Statuarischen des zweiten Laokoon-Sohns, vielleicht auch hier, „um denen, die ihm vielleicht zur Hilfe kommen, Bericht zu erstatten“ (Weiss 1968, 180–181). Das auf dem Floß vorherrschende Spannungsverhältnis zwischen Verzweiflung, Tod und Untergang auf der einen und Hoffnung, Leben und Rettung auf der anderen Seite wird korreliert mit den beiden einander entgegengesetzten Figuren, deren jeweilige Positionen, wenn sie der kolonialen Ordnung ihrer Zeit folgten, genau andersherum wären. Die auf dem Schiff geltende, koloniale Hierarchie wird in ihr Gegenteil verkehrt. Der Kolonialsoldat Jean-Charles verkörpert die denkbar höchste Form von Hoffnung innerhalb der Komposition. Doch erscheint Hoffnung im Text wie für Weiss typisch als eine Art konzessive Hoffnung: Sie verspricht keine Erlösung, erscheint aber trotzdem am Horizont. In diesem Sinne wird auch die Beschreibung des Kolonialsoldaten erweitert: Hier, wo das Transzendieren einsetzte, war das Körperliche gleichzeitig am stärksten skulptiert, der schwarze Kolonialsoldat Charles war der kräftigste der Schiffbrüchigen, er aber gehörte, laut Bericht, zu denen, die bald nach der Rettung durch die Argus in Saint Louis sterben würden. […].“ (Weiss 2016, 480)

Doch ist die Hoffnung der Figur genauso eingeschrieben wie ihre durch widrige Bedingungen herbeigeführte Folge. Als der Ich-Erzähler das Gemälde zum ersten Mal in einer Kunstzeitschrift abgedruckt sieht, befindet er sich noch in Spanien und steht kurz vor seiner Abreise nach Paris. Hinter ihm liegen die Gewalterfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg, neben ihm sein verwundeter Freund. Um zurückzukommen auf Alhadeffs Hervorhebung der Relevanz des Sklavenhandels ist auch auf die Stelle im Roman zu verweisen, in der dies noch einmal zum Tragen kommt. Sie lehnten und hingen aneinander, alles Widerstreitende, das sie auf dem Schiff zusammengeführt haben mochte, war vergangen, vergessen war das Ringen, der Hunger, der Durst,

15 Vgl. dazu u. a. Eitners Analyse von Vater und Sohn, Eitner 1972, 44.

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das Sterben auf hoher See, zwischen ihnen war eine Einheit entstanden, gestützt von der Hand eines jeden, gemeinsam würden sie jetzt untergehn oder gemeinsam überleben, und daß der Winkende, der Stärkste unter ihnen, ein Afrikaner war, vielleicht zum Verkauf als Sklave auf die Medusa verladen, ließ den Gedanken aufkommen an die Befreiung aller Unterdrückten. (Weiss 2016, 427).

Schon hier irritiert den Erzähler die Präsenz des Winkenden und er hebt die augenscheinliche Auffälligkeit hervor, dass „der Stärkste unter ihnen, ein Afrikaner war“, vielleicht als Sklave an Bord der Medusa. Es lässt sich festhalten, dass kraft dieser komplexen Inversion eine neue Ordnung entsteht, die eine andere Einheit denkbar werden lässt: Diese wiederum lässt „den Gedanken aufkommen […] an die Befreiung aller Unterdrückten“ (Weiss 2016, 427). Die Inversion ist ein Darstellungsmittel, das diese Neuordnung ermöglicht. Die Passagiere, die sich in die Rettungsboote geflüchtet hatten, erreichten einige Zeit später die zu übernehmende Kolonie. Weiss verdeutlicht in scharfem Ton und radikalen Bildern die Erbärmlichkeit, mit der die Franzosen an ihrem Ziel ankamen und scheint damit das wahre Gesicht der „weiße[n] Rasse“ zu evozieren: Wochen später erst traf der erbärmliche Haufen der im Norden an Land gestiegnen Kolonisatoren ein, unbewaffnet und fast ohne Kleider. Während Géricault sich das Dasein in Saint Louis vorstellte, zeichnete sich wieder das große Thema der Verworrenheit einer Epoche in dem gedachten Bild ab. Die weiße Rasse, gierig bis aufs Blut in sich zerstritten, kam angekrochen über die afrikanischen Gestade, hier und dort hatten Erobrer sich eingenistet, die Versprengten, nach dem Schiffbruch, schleppten ihre ausgemergelten Leiber durch den Sand, ihre Verseuchtheit hineintragend in die von den Jahrhunderten des Sklavenhandels erschütterte schwarze Kultur. (Weiss 2016, 481)

Auch hier ist die Inversion in der Ironie der Wirklichkeit angelegt und die Havarie der Medusa erscheint als allegorisches Scheitern der französischen Regierung.

3.5 Augenblick Noch einmal Bezug nehmend auf Benjamin, gehe es dem darum, „ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt“ (Benjamin 1980, 695). Die Gefahr drohe „sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern“ (Benjamin 1980, 695). Dabei ist die Gefahr auch ein möglicher Wendepunkt, von dem zu erzählen sich die Literatur verpflichtet, indem sie, anders als der Geschichtsschreiber, die Gefahr als Möglichkeit einer Zerschlagung der bestehenden Ordnung zentrieren kann, ohne sich dem Verstreichen des Augenblicks als Fortbestand der Herrschaft widmen zu müssen. Oder aber sie kann sich dem Fortbestand der Herrschaft widmen und

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vermag es aber, sie anhand ihrer literarischen Darstellung zu brechen. So oder so zeigt sich in der literarischen Darstellung die ästhetische Suche nach einer Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem, was einer Lektüre „gegen den Strich“ folgend in dem Konzept des Augenblicks gefasst wird. Zunächst lässt sich dies am Beispiel der Betrachtung des Pergamonaltars zeigen, auf die eingangs bereits Bezug genommen wurde. Der Ich-Erzähler beschreibt im Kontext der Pergamon-Betrachtung, wie er in all den voneinander isolierten Miniaturszenen einen besonderen Zeitpunkt sieht: Noch einmal wandten wir uns dem Relief zu, das in seinen Bändern überall die Sekunde aufzeigte, in der gewaltsame Veränderung bevorstand, den Augenblick, in dem die gesammelte Kraft die unabwendbare Folge ahnen läßt. Indem wir die Lanze unmittelbar vorm Wurf, die Keule vorm Niedersausen, den Anlauf vorm Sprung, das Ausholen vorm Aneinanderprallen sahn, wurde unser Blick von Figur zu Figur, von einer Situation zur nächsten getrieben, und im ganzen Umkreis begann der Stein zu vibrieren. (Weiss 2016, 14).

Der Fokus in dieser Szene liegt auf der Sekunde, in der eine Bewegung einen möglichen Wendepunkt innehat. Die Veränderung ist noch nicht eingetreten, aber sie steht unmittelbar bevor und wird durch die angehaltene Zeit als fortbestehende Möglichkeit archiviert. Der Text markiert die Spannung, die in diesem Augenblick liegt, an der Bewegung des Steins („begann der Stein zu vibrieren“). Auch in der Floß-Szene, auf die im vorigen Kapitel eingegangen wurde, vibrieren die Linien um den Schwarzen an der Spitze der Pyramide („Der einzige, der sich ganz dem Außen stellte, der vor sich offnen Raum hatte, war der Dunkelhäutige, der Afrikaner, hier vibrierte [meine Hervorhebung, D.W.] auch der Umriß, die Linien der Schulter“). Das Sichtbarwerden einer Bewegung lebloser Materie verweist deutlich auf die von Veränderung kündende Bewegung, die in diesem besonderen Augenblick liegt. In dieser Sekunde wird die Zeit angehalten, wodurch die geahnte oder erhoffte „unabwendbare Folge“ konserviert ist. So wird nicht ihr Ergebnis festgehalten, also etwa der Sieg oder die Niederlage im Kampf, sondern ihre Möglichkeit, als unabwendbare Folge einzutreten. Eine vergleichbare Konzeption dieses in Stein gegossenen Moments des Transitorischen findet sich in Weiss’ Betrachtung der LaokoonPlastik, auf die er in seiner programmatischen Rede Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache, die er anlässlich der Verleihung des Lessingpreises 1965 hält, Bezug nimmt. Weiss hebt darin die Spannung zwischen dem Statischen und dem Dynamischen hervor. Der Vater und sein jüngster Sohn seien nur noch „Monument über ihren eigenen Untergang“ (Weiss 1968, 180). Weiss blickt vor allem auf den älteren Sohn, der aus dem Statuarischen herausbricht, „um denen, die ihm vielleicht zur Hilfe kommen, Bericht zu erstatten“ (Weiss 1968, 180–181). Durch das Festhalten dieses bestimmten Augenblicks wird die Zeit in ihrer historischen Abfolge suspendiert.

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Eine weitere Szene, in der die Konzeption des Augenblicks deutlich hervortritt, kann anhand der Medusa-Passage aufgezeigt werden. Die lange Suche des Malers nach dem richtigen Augenblick ist historisch verbürgt und kunsthistorisch dokumentiert anhand der vielen erhaltenen Entwürfe, die Géricault angefertigt hat, bis er zur Endversion seines Bildes gelangte: „Géricault began by sketching several alternative moments of the disaster, a procedure which he had used in earlier projects“ (Eitner 1972, 23). Insgesamt lassen sich die Entwürfe in fünf Episoden gruppieren, zu denen er Skizzen angefertigt hat, bis er zur finalen Komposition gelangt ist: The episodes of Rescue, Mutiny, and Cannibalism belong together and constitute an early, experimental stage in the development, while the studies of the Hailing of the Approaching Rowing-boat and the Sighting of the Argus together form a later stage which leads directly to the final composition. (Eitner 1972, 24)

Von diesen fünf Episoden hat Géricault die meisten Skizzen zum Sichten der Argus angefertigt. Auf einigen Entwürfen erscheint sie wesentlich näher, auf anderen wurde sie versuchsweise weggelassen.¹⁶ Eitner merkt an, wie erstaunlich es ist, dass Géricault nicht erwogen hat, sich in seinen Studien dem Verrat des Kapitäns der Medusa und dem Kappen der Leine des Floßes zu widmen, obwohl dies die skandalösesten Ereignisse des Schiffbruchs gewesen seien (vgl. Eitner 1972, 24). Vor dem Hintergrund der Lesart dieses Beitrags lässt sich eine Erklärung dafür bei Weiss finden. Hier heißt es: Der vom Maler geschilderte Augenblick, da der Mast der rettenden Fregatte am Horizont auftauchte, war mit solcher Verzweiflung, solchem Aufruhr geladen, daß die Vertreter der bourbonischen Restauration ihn mit Recht als einen ersten Schritt zur Revolte gegen ihr Regime deuteten. (Weiss 2016, 426)

Im Jahre 1819 reicht der Maler sein Gemälde unter dem Titel Scène d‘un naufrage im Salon de Paris ein. Man kann spekulieren, dass es mit einem expliziten Verweis im Namen auf den ohnehin allerorten bekannten Skandal um den Schiffbruch der Fregatte Medusa nicht ausgestellt worden wäre. Doch war es sicherlich nicht nur das gewählte Sujet, sondern eben auch jener Augenblick, in dem die beschriebene Spannung lag, dass die Ordnung des Bestehenden bedroht sein könnte. In jedem Fall galt das Gemälde als politischer Skandal: 16 Es kann davon ausgegangen werden, dass einer der Gründe für die malerischen Experimente bei der Nähe und der Ferne des Schiffs auch die Annahme war, dass die Schiffbrüchigen auf dem Floß von calenture, einem starken Fieber befallen waren, bei dem oft gefährliche Halluzinationen auftraten. Vgl. dazu vor allem Alhadeff 2002, Kapitel 3.

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The loss of the government frigate, La Méduse, in 1816, and the abandonment of many of its crew on a makeshift raft, on which nearly all perished, had deeply shocked public opinion and provoked a political scandal. In three years since, the Government had done its best to draw a veil of silence over the event, but the Opposition had kept the memory of it alive. To mention the Medusa was to embarrass the monarchy; to make so conspicuous a display of the subject as Théodore Géricault had done in sending this painting to the Salon was to commit an act of provocation. (Eitner 1972, 5)

So findet die Suche des Malers nach dem richtigen Augenblick ihr Ende, als er sieht, welches Potential in dem ambivalenten Auftauchen der Brigg Argus am 17. Juli 1816 am Horizont liegt. Die noch lebenden Schiffbrüchigen sehen von dem im Bildvordergrund befindlichen Floß die rettende Fregatte. Doch nicht alle schenken ihr die gleiche Aufmerksamkeit. Die Bemannung zerfällt in zwei Gruppen, von denen die eine sich in Trauer über die Toten abgewandt hat, die andere bildet jene Pyramide, an deren Spitze der Afrikaner steht. In der Literarisierung des Malprozesses wird die Bedeutung des Augenblicks immer wieder betont: Die Lösung, nach der er [der Maler, D.W.] suchte, sah er in der Sekunde entstehen, in der, mit dem gellenden Schrei beim Erschienen der Brigg, die völlige Umstellung eintrat, und die Körper, die schon bereit waren, ihr Verderben hinzunehmen, noch einmal aufschnellten und zu einem Keil wurden gegen die Welt der Vernichtung. (Weiss 2016, 472)

In dieser Formulierung wird, wie auch bei der Betrachtung des Pergamonaltars, die „Sekunde“ betont, in der „die völlige Umstellung eintrat“. Oben handelt es sich um die Sekunde, in der „gewaltsame Veränderung bevorstand“ (Weiss 2016, 14). Die Körper, die ihr Verderben schon unmittelbar vor sich haben, schnellen auf und richten sich „gegen die Welt der Vernichtung“. Durch die Ambivalenz eines solchen Augenblicks drängt sich die Frage auf, um was für eine Rettung es sich hier eigentlich handele? Von fast 150 Schiffbrüchigen haben 15 mit grausamen Mitteln überlebt. Doch all dies ist in dem Moment, der sich in den beiden gezeigten Szenen auftut, sekundär. Der Maler und zuvor die Betrachter des Altars haben den Zeitpunkt ausfindig gemacht, in dem die Kontinuität der Zeit ersetzt wird durch eine radikale Gegenwart, die sich selbst diskontinuierlich zeigt. In diesem Zusammenhang ist die Darstellung von Weiss ganz nah bei Benjamins Verständnis einer Tradition, die als Diskontinuum gedacht werden kann.¹⁷ Es ist als drittes und letztes Verfahren der Lektüre „gegen den Strich“ die literarische Darstellung des Augenblicks hervorzuheben, die eine „Stillstellung der Zeit im Transitorischen“ (Dunker 1994, 30) erwirkt. Die Zerstörung ist erdrückend, der Kampf erscheint aussichtslos. Doch für die Figuren in der Ästhetik des Widerstands geht es darum, sich im Sinne 17 Vgl. hierzu Überlegungen von Dunker 1994, 37–42.

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einer konzessiven Hoffnung zu erheben. Im Verfahren des Augenblicks wird die Sekunde konserviert, die aus der Perspektive einer Lektüre „gegen den Strich“ die Möglichkeit einer Befreiung aus der Unterdrückung ästhetisch zum Ausdruck bringt: „Die Maler hatten eine Sekunde des Nochlebens der übermächtigen Zerstörung abgewonnen und in Zeitlosigkeit versetzt“ (Weiss 2016, 427–428).

4 Schluss Mit den drei vorgestellten literarischen Verfahren, der Leerstelle, der Inversion und dem Augenblick, ist eine für die Ästhetik des Widerstands paradigmatische Lektüre „gegen den Strich“ zu bezeichnen. Ihr Ziel ist es, Zeugnis abzulegen von den Besiegten und den verlorenen Kämpfen. Die Besonderheit, die sich aus dem Roman heraus ergibt, ist, dass Figuren zu jener Lektüre aufrufen und sie sogleich anhand der dichten Kunstbeschreibungen und Werke, die in diesem Beitrag mitnichten vollständig zur Sprache kommen konnten, vollziehen. Die Darstellungen erschöpfen sich dabei nicht in einer Kontrastierung, die die Besiegten anstelle der Unterdrücker ins Zentrum des Geschehens rückt. Die Verhältnisse werden nicht einfach in ihr Gegenteil verkehrt (also Unterlegene werden zu Herrschern, Unterdrückte werden zu Befreiten etc.), sondern es ist das Verfahren der Sichtbarmachung der Unsichtbaren konstitutiv. Es werden insbesondere ihr Fehlen und die Missachtung ihrer Funktion in der Geschichte markiert. Dies lässt sich nicht anders fassen als in der Konzentration auf das Visuelle, besonders prägnant an dem Punkt, an dem Herakles auf der Pergamon-Darstellung im Kampf der Giganten gegen die Götter fehlt. Auch die Auffälligkeit, dass die Szenen um die Medusa-Havarie, einschließlich der finalen Komposition, nicht ihre Verursacher dokumentieren, sondern nur ihre Opfer in unterschiedlichen Posen, zählt sicher zu diesen variierenden Besonderheiten. Die Unsichtbaren werden innerhalb des Rezeptionsprozesses am Kunstwerk sichtbar. Die Rezeption des Kunstwerks ermöglicht es dem Betrachter, seine, wie Coppi sagt, „eignen Ansprüche in sie hineinzulegen“. Die Barbarei, die dem Kunstwerk anhaftet, weil sie in seinem Entstehungsprozess schon steckt, wird nicht getilgt, sondern sichtbar gemacht. Der Betrachter des Gemäldes von Géricault erliegt einem Vexierspiel, das er selbst zu lösen hat: Tod und Hoffnung sind sichtbar und es wird zu seiner Aufgabe, den Augenblick zu erfassen, in dem sich jene „bebende, zähe, kühne Hoffnung“ auftut (Weiss 2016, 1194). Mit der Wahl des Sujets in der Ästhetik des Widerstands zum Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Bands wird der Protagonist mit der kolonialen Wirklichkeit des Jahres 1816 konfrontiert, in der er seine eigene Situation gespiegelt findet. Was nun unterscheidet die anti-

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kolonialen Texte der 1960er Jahre von dem kolonialen Sujet¹⁸ in der Ästhetik des Widerstands? In der Einführung wurde bereits auf einen inversen Umgang mit der kolonialen Dichotomie Europa versus Afrika hingewiesen. Peter Weiss konzipiert die Gegenüberstellung in der komplexen Medusa-Passage jedoch so vielschichtig, dass er die Konstellation nicht einfach in ihr Gegenteil verkehrt, sondern auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge aufmerksam macht: den Sklavenhandel, die Kolonialmacht Frankreich, den einsetzenden „Wettlauf um Afrika“, das sagenhafte Scheitern des Vorhabens. Dieses Vermächtnis literarischer Darstellungsweisen mag noch einmal zu einem Lesen „gegen den Strich“ antreiben und das Potential betonen, das Kunst und Literatur innewohnt, von Wirklichkeit zu erzählen. Vor allem aber ist es Freiheit, die in dem Moment liegt, die eigenen Ansprüche in die Kunst zu legen und sich womöglich selbst darin zu erkennen. „[Kunst, D.W.] nur darauf zurückzuführen, auf wessen Kosten sie entstand und für wen sie dagegen gemacht wurde, unterschlägt in ihr das Moment objektiver Freiheit, dessen subjektive Aneignung Bildung wäre“ (Bulthaup 1998, 253). Benjamin verzichtet in seinen Thesen auf eine „diskursive Explikation“ (Tiedemann 1975, 81).¹⁹ Das Zugrundeliegende an seinen Bildern übersteige, so Tiedemann, die „Sprache der Begriffe“, „es ist wesentlich Bild“, mit dem etwas ausgesagt werde, weil die Sprache nicht ausreiche (Tiedemann 1975, 82). Die Narration in der Ästhetik des Widerstands bedient sich der Ekphrasis, um der anhaltenden Nähe zum Visuellen beizukommen. Damit klingt im Roman an, was Benjamin für die Geschichte fordert. Doch soll anhand dieser Betrachtungen, die hinsichtlich ihrer Analyseaspekte weit über die Begrenzungen dieses Beitrags hinausreichen, noch einmal betont werden, dass Peter Weiss mit seinem Roman nicht das literarische Pendant zu Benjamins Geschichtsphilosophie liefert. Gleichwohl soll deutlich werden, was Hermann Schweppenhäuser in seiner Lesart von Benjamins Geschichtsthesen so ausdrückt: „Aber nichts, wollen Benjamins Reflexionen über den historischen Gegenstand bedeuten, ist unabgeschlossener als das Geschehene“ (1975, 7). Für den Autor Peter Weiss kann eine solche Philosophie und der Zugriff auf das Vergangene anregen zu einem Nachdenken über die Zeitstruktur seines Romans, über den Umgang mit Geschichte, über die Frage nach ästhetischen Verfahren, um die Unsichtbaren sichtbar zu machen; kurzum über eine Lektüre „gegen den Strich“. 18 Gemeint ist die Medusa-Passage, obwohl sich der koloniale Kontext darin nicht erschöpft. Hofmann beispielsweise widmet sich der Angkor Wat-Passage mit postkolonialer Perspektive (Hofmann 2008b). 19 Als Beispiel sei hier vor allem auf das Bild des Trümmerhaufens bei Benjamin verwiesen als ein Bild gegen das, was wir den Fortschritt nennen.

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Eine Lektüre „gegen den Strich“

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Donata Weinbach

Weiss, Peter. Rekonvaleszenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. Weiss, Peter. Notizbücher 1971–1980. Zweiter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. Weiss, Peter. „Brief an H.M. Enzensberger“. Rapporte 2. Ders. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971. 35–50. Weiss, Peter. „Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“. Rapporte. Ders. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968. 170–187. Zeilinger, Johannes. „Der Tod der Medusa“. Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Ein dokumentarischer Roman aus dem Jahr 1818. Berlin: Matthes und Seitz, 2005. 139–190.

Autor*innenverzeichnis Monika Albrecht, Prof., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Vechta (Sozialwissenschaften); Studium der Germanistik, Soziologie und Publizistik an der Universität Münster; Dr. phil. Münster 1989 („Die andere Seite“. Zur Bedeutung von Werk und Person Max Frischs in Ingeborg Bachmanns „Todesarten“); Habilitation Salzburg 2009 („Europa ist nicht die Welt“. (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit). Forschungsschwerpunkte: kritischer und vergleichender Postkolonialismus, Memory Studies und Erinnerungspolitik, Transkulturalität und Migration, Gender und Diversity sowie deutschsprachige Kultur und Literatur mit Schwerpunkt 20. bis 21. Jahrhundert. Publikationen in Auswahl: Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present (Hg. 2020); Europas südliche Ränder. Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer (Hg. 2020); Bachmann- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Mithg. 2020); „Critical Post-Colonial Studies: Opening Up the Post-Colonial to a Broader Geopolitical View“ (2021); Anthropogene Klima- und Umweltkrisen. Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities (Mithg. 2023). Email: [email protected] Anja Ballis, Prof., Lehrstuhlinhaberin Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, LMU München; Studium der Fächer Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Lehramt an Gymnasium; Promotion zum Dr. phil. an der LMU München (1999), Habilitation an der Universität Augsburg (2009); Gastwissenschaftlerin an der Western Washington University (2020). Forschungsschwerpunkte: Digitale Holocaust Education, XR Medien im Deutschunterricht, sozialwissenschaftliche Methoden in der Fachdidaktik Deutsch. Publikationen in Auswahl: Holocaust Education Revisited (Mithg. 2019); Tour Guides at Memorial Sites and Holocaust Museums. Empirical Studies in Europe, Israel, North America and South Africa (Hg. 2022); Astrid Lindgren und der Zweite Weltkrieg: Interdisziplinäre Annäherungen an Leben und Schreiben in Zeiten des Krieges (Mithg. 2023). Email: [email protected] Axel Dunker, Prof. für neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Bremen; Promotion 1993 in Bielefeld zu eschatologischen Kategorien in der Literatur zum Dritten Reich, Habilitation 2001 in Mainz über eine ‚Literatur im Schatten von Auschwitz‘; Gastprofessuren in Bielefeld und Wien. Forschungsschwerpunkte: Postkolonialismus, Literatur und Holocaust, Literatur nach 1945, Gegenwartsliteratur. Veröffentlichungen (Auswahl): Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts (2008); Handbuch Postkolonialismus und Literatur (Mithg. 2017); Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung (Mithg. 2017); Postkolonialität denken. Spektren germanistischer Forschung in Togo (Mithg. 2017); Arno Schmidt Handbuch (Mithg. 2023). Email: [email protected] Dirk Göttsche, Emeritus Professor of German, University of Nottingham (UK); Dr. phil. Münster 1986 (Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, 1987), Habilitation Münster 1999 (Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, 2001). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. Jahrhunderts, europäischer Realismus, Karl Gutzkow, Wilhelm Raabe, österreichische Moderne, Ingeborg Bachmann, Kleine Prosa, postkoloniale und interkulturelle Literaturwissenschaft, Zeit, Erinnerung und Geschichtspolitik in der Literatur. Bücher in Aushttps://doi.org/10.1515/9783111181530-015

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Autor*innenverzeichnis

wahl: Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature (2013); Handbuch Postkolonialismus und Literatur (Mithg. 2017); Memory and Postcolonial Studies. Synergies and New Directions (Hg. 2019); Landscapes of Realism. Rethinking Literary Realism in Comparatives Perspectives, Bd. 1: Mapping Realism (Mithg. 2021). Email: [email protected] Michael Hofmann, Prof. für neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn, geboren 1957; Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie an den Universitäten Bonn und Poitiers, Promotion 1990 zu Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, Habilitation 1997 zu Christoph Martin Wielands Versepen, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Bonn, Nancy, Lüttich. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Weimarer Klassik, Literatur nach Auschwitz, interkulturelle Literaturwissenschaft, kritische Literaturdidaktik. Herausgeber des Peter Weiss Jahrbuchs und des Jahrbuchs Türkisch-deutsche Studien. Veröffentlichungen (Auswahl): Interkulturelle Literaturwissenschaft (2006); Afrika-Diskurse in der deutschen Literatur und Kultur (Mithg. 2011); Einführung in die interkulturelle Literatur (Mithg. 2015); Revolte und Tradition. Perspektiven deutsch-maghrebinischer Germanistik (Mithg. 2019). Email: [email protected] Linda Maeding, Dr. phil., Senior Lecturer in Deutscher Philologie an der Universität Complutense in Madrid. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen mit einem DFG-Projekt zu Utopie und Gemeinschaft (2019–2023); Promotion in Komparatistik und Germanistik, Mainz/Barcelona (2011); Forschungsinteressen: Exilliteraturen, Diaspora-Studien, Literaturtheorie, postkoloniale Germanistik. Publikationen (Auswahl): Peter Szondi. Stellungnahmen zur literarischen Hermeneutik (Mithg. 2022); Textures of Diaspora and (Post‐)Digitality: A Cultural Studies Approach. In: Journal of Global Diaspora and Media, 3/2022). E-Mail: [email protected] Jean Bertrand Miguoué, Associate Professor für deutsche Literatur und Kultur, Universität Yaoundé I (Kamerun); Forscher und Leiter der Forschungsgruppe Europäische und afrikanische Raumtexturen in Literatur, Medien und Kultur am Zentrum für Deutsch-Afrikanische Wissenschaftskooperation (DAW-Zentrum) Universität Yaoundé I; Studium der Germanistik, Politologie, Anglistik, Romanistik und DaF-Didaktik an der Universität Dschang, an der Universität Yaoundé I und an der Ecole Normale Supérieure (Yaoundé); Dr. phil. Universität Innsbruck (Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien). Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur und Raumgestaltung, interkulturelle und postkoloniale Literaturwissenschaft, Gedächtnis des Sklavenhandels, Literatur aus Österreich, Literaturtheorie. Publikationen in Auswahl: Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien (2012); Postkoloniale Blickpunkte. Betrachtungen der Interkulturalität in Literatur, Film und Sprache Leipziger Universitätsverlag (Mithg. 2017). Email: [email protected] Swen Schulte Eickholt, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik der Universität Paderborn (seit 2015). Promotion zum Dr. phil. an der Universität Paderborn (2014) mit einer Studie zum Verhältnis von Literatur und Religion bei Novalis und Orhan Pamuk. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Verhältnis von Religion und Literatur, Deutsche Gegenwartsliteratur, (Neue) Weltliteratur, Interkulturelle und Postkoloniale Germanistik, Literaturtheorie. Publikationen in Auswahl: Religiosität und Literatur in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ und Orhan Pamuks „Das Neue Leben“ (2015); Navid Kermani (Mithg. 2019); (mit Andreas Schwen-

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gel) Unzuverlässiges Erzählen in der Heterodiegese in Daniel Kehlmanns historischem Roman „Tyll“. In: Zeitschrift für Germanistik (31); 1/2021. Email: [email protected] David Simo, Emeritierter Professor für deutsche Literatur und Kultur und ehemaliger Leiter der Germanistikabteilung an der Universität Yaoundé I (Kamerun); Reimer Lüst Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung und Leiter des Zentrums für Deutsch-Afrikanische Wissenschaftskooperation (Universität Yaoundé I); Studium der Germanistik, Komparatistik und Politikwissenschaft an den Universitäten Abidjan, Metz und Saarbrücken; Promotion zum Dr. phil. an der Universität Metz 1979 (Littérature en période de conflit. Stratégies des écrivains allemands antinational socialistes et des écrivains africains anticolonialistes), Habilitation an der Universität Hannover 1991 (Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes, 1993). Forschungsschwerpunkte: Literaturund Kulturtheorien, Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft, Ideengeschichte und Theorien der Konflikte, interkulturelle Kommunikationen und postkoloniale Theorien. Publikationen in Auswahl: Erinnerung an die Kolonisation in Afrika und in Europa: Impetus, Motivation und Modus. In: Nazan Gültekin-Karakoç/Roger Fornoff (Hg.): Beruf(ung) DaF/DaZ. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Uwe Koreik (2022, 109–124); Vorraussetzungen und Möglichkeiten der Germanistik in Afrika. In: Philomène Atyamé/Soulemanou Pepouna/Serge Yowa (Hg.): Weite Horizonte. Nr. 1. Deutsch in Kamerun, in Afrika und auf einer globalisierten Welt: Bestandsaufnahme und Perspektiven im 21. Jahrhundert (2022, 285–296); Formen und Funktionen des Gedächtnisses der Kolonisation. Das Humboldt Forum und das postkoloniale Deutschland. In: Thomas Sandkühler/Angelika Epple/Jürgen Zimmerer (Hg.): Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit (2021, 282–299); Migration, Imagination und Literatur. Diskursanalytische und postkoloniale Ansätze. In: Bertin Nyemb/Serge Yowa (Hg.): Praxis interkultureller Germanistik in Forschung und Lehre. Aktuelle Tendenzen und Perspektiven im postkolonialen Afrika (2019, 23–49). Email: [email protected] Gesa Singer, Dr. phil., Senior Lecturer und Abteilungsleiterin der German Section, School of Languages and Literatures, UCT University of Cape Town, Südafrika (seit 2019); Studium der Germanistik und Pädagogik (Magister) an der Georg-August-Universität Göttingen; Promotion 2005 an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; DaF-Lehrende (seit 2001); DAAD-Lektorin an der Aristoteles Universität Thessaloniki (2007–2011); Akademische Rätin an der Abteilung für Germanistik der Europa Universität Flensburg (WS 2015/16-WS 2016/17); ehemalige Dozentin am Institut für Interkulturelle Kommunikation Göttingen; laufendes Habilitationsprojekt zur Dekolonisierenden Literaturdidaktik. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Didaktik von Deutsch als Fremdsprache, Interkulturelle Germanistik (Schwerpunkte: Reise, Exil, Migration, Dekolonisierung). Publikationen in Auswahl: Ansätze zur Interkulturalität und Dekolonisierung der Germanistik im südlichen Afrika. In: Strosetzki, Christoph (Hg.): 200 Jahre Nationalphilologien. Von der Romantik zur Globalisierung. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft (2022, 223–234); Autorreflexion und Herausgeberfiktion: inszenierte Autorschaft bei Özdamar und Khider. In: Gansel, Carsten/Lehnen, Katrin/Oswalt, Vadim (Hg.): Schreiben, Text und Autorschaft II – Zur Thematisierung, Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in ausgewählten Medien und historischen Selbstzeugnissen (2021, 209–222); Internationalisierung der Germanistik durch interkulturelle Didaktik. In: Colin, Nicole/Parr, Rolf/Teissier, Catherine/Umlauf, Joachim (Hg.): „Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft?“ Synchron Publishers (2020, 43–49). Email: [email protected]

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Autor*innenverzeichnis

Elke I. Sturm-Trigonakis, Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles-Universität Thessaloniki/Griechenland und Koordinatorin des Mittelmeer-Südeuropa-Germanistik Netzwerks (MSEG); Studium der Spanischen Literaturwissenschaft, Portugiesischen und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Karl-Ruprechts-Universität Heidelberg/Deutschland; Promotion 1993 in Heidelberg mit einer Arbeit zum Stadtroman in Barcelona 1944–1988; seit 2001 Komparatistin in Thessaloniki. Forschungsschwerpunkte: (Neue) Weltliteratur, Postkoloniale Literatur- und Kulturwissenschaft, pikaresker Roman, Kriminalliteratur, Wissenssysteme. Publikationen in Auswahl: Global playing in der Literatur: Ein Versuch über die Neue Weltliteratur (2007); Comparative Cultural Studies and the New Weltliteratur (2013); Το πικαρικό μυθιστόρημα. Εισαγωγή σε ένα αειφόρο λογοτεχνικό είδος [Der pikareske Roman. Einführung in ein nachhaltiges Genre] (2019); World Literature and the Postcolonial. Narratives of (Neo)Colonization in a Globalized World (Hg., 2020). Email: [email protected] Donata Weinbach, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Literaturdidaktik an der Technischen Universität Braunschweig; Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Klassische Philologie und Erziehungswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal; DAAD-Sprachassistenz an der University of Cape Town; Promotion 2023 an der Universität Bremen zur Figur der Anthropophagie in ästhetischen Bearbeitungen der Havarie der Medusa. Forschungsschwerpunkte: Peter Weiss, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, Ethnologie und Literatur, Theorien der Anthropophagie, Theorien der Gabe, Sprach-/Literaturdidaktik, Postkoloniale Germanistik. Publikationen in Auswahl: Der Hunger, zu sehen. Kannibalistische Einverleibung in Franzobels „Floß der Medusa“ (2017). In: Iris Meinen/Nils Lehnert (Hgg.): Öffnung, Schließung, Übertritte. Körperbilder in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2021, 225–239); Jenseits von Mond und Magen. Herrndorfs Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007) oder eine Kannibalismus-Poetik. In: Matthias Lorenz (Hg.): „Germanistenscheiß“. Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs (2018, 303–322); Appetit auf Afrika – stereotype Bedeutungszuschreibung am Beispiel von Chakalaka und Joe’s Beerhouse. In: Kellermeier-Rehbein/Birte, Matthias Schulz/ Doris Stolberg (Hgg.): Sprache und (Post)Kolonialismus. Linguistische und interdisziplinäre Aspekte (2018, 265–279); Schenken als soziale Praxis – Perspektiven auf zeremonielle Tauschhandlungen im Kontext von Eheschließungen in Sambia. In: Maria Anna Kreienbaum u. a. (Hg.): Sambia – 72 Volksgruppen bilden einen Staat. Einblicke in eine postkoloniale Gesellschaft (2017, 35–60). Email: [email protected] Serge Yowa, Dr. phil., Senior Lecturer für deutsche Literatur und Kultur, Universität Yaoundé I (Kamerun); Forscher am Zentrum für Deutsch-Afrikanische Wissenschaftskooperation (DAW-Zentrum) Universität Yaoundé I; Georg Forster-Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung; Studium der Germanistik, Psychologie, Soziologie und DaF-Didaktik an der Ecole Normale Supérieure und an der Universität Yaoundé I; Promotion zum Dr. phil. an der Universität Paderborn 2014 (Autobiografie der Shoah am Beispiel von Fred Wander und Ruth Klüger). Forschungsschwerpunkte: Autobiografie und Gedächtnisforschung, Interkulturelle und Postkoloniale Literaturwissenschaft, Konflikttheorien, Literaturdidaktik, (Migrations‐)Literatur und Raum. Publikationen in Auswahl: Eine Poetik des Widerstands. Exil, Sprache und Identitätsproblematik bei Fred Wander und Ruth Klüger (2014); Praxis interkultureller Germanistik in Forschung und Lehre. Aktuelle Tendenzen und Perspektiven im postkolonialen Afrika. (Mithg. 2019); Weite Horizonte. Deutsch in Kamerun, in Afrika und auf einer globalisierten Welt: Bestandsaufnahme und Perspektiven im 21. Jahrhundert (Mithg. 2022). Email: [email protected]

Autor*innenverzeichnis

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Cornelia zierau, Dr. phil., Oberstudienrätin im Hochschuldienst mit Schwerpunkt Literaturdidaktik an der Universität Paderborn; Studium der Germanistik und Philosophie an der Georg August Universität Göttingen; Dr. phil. Göttingen 2007 (Aspekte kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Differenzen in deutschsprachiger Migrationsliteratur am Beispiel von Emine Sevgi Özdamar). Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik, interkulturelle und diversitätsorientierte Literaturwissenschaft und -didaktik, literarische Mehrsprachigkeit, sprachsensibler Literaturunterricht. Publikationen in Auswahl: Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen … Aspekte kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Differenzen in deutschsprachiger Migrationsliteratur (2009), DaZ Sekundarstufe. Konzepte und Materialien, Heft 3/2017: Literatur und Sprache (Hg.), Türkisch-Deutsche Studien Jahrbuch 2020: Wertorientierungen (Mithg. 2022) Email: [email protected]

Register Achebe, Chinua 248 Adorno, Theodor W. 82, 84, 93, 126, 194, 210, 313 Albrecht, Monika 2, 5, 131, 133, 136, 138, 145, 150, 306 Améry, Jean 82, 88–93, 95 Anderson, Benedict 107 Appiah, Kwame Anthony 1, 23, 112, 169 Ashcroft, Bill 217 Assmann, Aleida 40, 41, 111, 149 Assmann, Jan 40 Bachmann-Medick, Doris 3, 13–17, 20 f., 23, 26 f., 32, 220–222, 226 Bakhtin, Michail M. 299 Barthes, Roland 166 Bauman, Zygmunt 14–17 Bechhaus-Gerst, Marianne 1, 101, 131, 144, 287 Beck, Ulrich 36, 38–40, 42, 46, 53 f., 61, 195 Benjamin, Walter 47, 305, 311–313, 315, 317, 324, 327, 329 Bergmann, Werner 274 Bhabha, Homi K. 7, 16, 43, 113, 135, 149, 217, 242, 244, 251 f. Blum-Barth, Natalia 18 f., 21 Blumentrath, Hendrik 15 Boa, Elizabeth 21 Bourdieu, Pierre 50, 166, 239 f., 247, 257 Brenner, Peter J. 178 Bronfen, Elisabeth 15 f. Brumlik, Michael 95, 101, 125 Buch, Hans-Christoph 4, 8, 23, 81, 102, 110, 112, 115, 119, 125, 166, 173, 239, 244, 247, 251, 272 f., 283, 285, 290, 297 f. Butler, Judith 95, 122, 132, 149 Castro Varela, Maria do Mar 133 f. Césaire, Aimé 81, 83, 94, 96, 171 f. Conrad, Sebastian 8, 75, 81, 83 f., 99, 101, 139 f., 197, 218 f., 247, 249, 255, 315 Corbineau-Hoffmann, Angelika 120 f.

https://doi.org/10.1515/9783111181530-016

Derrida, Jacques 5, 40, 101–110, 112, 114–116, 118 f., 121, 123–126 Diner, Dan 81 f., 85–87, 93, 95 f., 103 Domin, Hilde 4, 62 f., 66–71, 75 Du Bois, W.E.B. 172 Dunker, Axel 2, 9, 178 f., 246, 278, 306 f., 311, 315, 317 f., 327 Dürbeck, Gabriele 2 Eckert, Andreas 168, 175, 195, 273 Enzensberger, Hans Magnus 307–309, 320 Erll, Astrid 113 f., 200 Ette, Ottmar 36, 41, 43, 57 Fanon, Frantz 135, 218, 252, 273, 307 Febel, Gisela 2, 315 Flusser, Vilém 4, 63, 65 f., 71–75 Foroutan, Naika 4, 36 f., 46, 57, 99, 221 Foucault, Michel 40, 120, 166 f., 217, 245, 251, 258 Friedländer, Saul 95, 101, 148 Gadamer, Hans-Georg 69 f., 240 Galtung, Johan 257 Geier, Andrea 273 Gilroy, Paul 81–84, 96, 173 Glissant, Edouard 173 Göttsche, Dirk 2, 7 f., 132, 137, 217, 283–287, 290 f., 297, 299, 301, 305–308, 310, 315 Großklaus, Götz 179 Gudehus, Christian 271 Gurnah, Abdulrazak 8, 205–207, 209, 283–301 Habermas, Jürgen 99, 117 Hall, Stuart 15, 106, 121, 151, 166, 171–173, 240– 243 Henke, Daniela 101, 111, 197 Hofmann, Michael 2, 4, 9, 13 f., 16 f., 31, 81, 219, 307 f., 310, 314, 329 Jaumann, Bernd 7 f., 255 f., 258 f., 261, 265, 267, 271, 273 f., 279 f.

340

Register

Kermani, Navid 48, 55 Klävers, Steffen 101, 147, 150 f., 195–198 Klüger, Ruth 123 f. Krämer, Sybille 120 f. Kreutzer, Leo 4, 36, 41–43, 57 f. Kuhn, Konrad 139, 165, 178 Kühne, Thomas 100 Kuss, Susanne 118, 121 Lacan, Jacques 16, 30 Landberg, Alison 115 Las Casas, Bartholomé de 168 Laudenberg, Beate 226 Lennox, Sara 305 Leskovec, Andrea 2 Levinas, Emmanuel 106–108, 115, 117 f. Lützeler, Paul Michael 119, 132, 306 Massaquoi, Hans-Jürgen 218 Mbembe, Achille 82, 84, 94–96, 101, 110, 125 f., 132 f., 143, 147 f., 151–154, 167, 173, 195, 257 Mecklenburg, Norbert 2, 27 Mehler, Andreas 255 Melber, Henning 101, 139, 255 Messerschmidt, Astrid 200 Metz, Karl Heinz 122, 257 Mignolo, Walter D. 82, 93 f., 96, 135, 143 f. Morrison, Toni 84, 238, 249 Moses, A. Dirk 132 f., 139, 147, 196 Moura, Jean-Marc 237 Mudimbe, Valentin-Yves 166 f., 218 N 141, 167 Neumann, Birgit 217 f., 230 Ngũgĩ wa Thiong’o 218 Oltmer, Jochen 35 Osterhammel, Jürgen 134 f., 273 Özdamar, Emine Sevgi 3, 13 f., 18–26, 28–32 Patrut, Iulia-Karin 2, 13, 31, 219 Pinker, Steven 140, 267, 273

Riesz, János 250 Rösch, Heidi 19, 21, 218 f. Rothberg, Michael 4 f., 36, 39, 81–83, 85 f., 95 f., 101 f., 110–119, 124 f., 147, 149 f., 152, 197 f., 210, 287, 299 Said, Edward 2, 7 f., 106, 134–136, 141, 148 f., 166, 217, 237 f., 244–247, 249–251, 290 f., 311, 314 f. Schmeling, Manfred 18 Schwarz, Egon 65 f., 84, 94, 151 f., 168, 171 f., 179 f., 207, 239 f., 252, 262 f., 266 f., 274–276, 281, 287, 321 f., 325 Semprún, Jorge 209 Simo, David 2, 7, 15, 172, 237, 249 Spivak, Gayatri Chakravorti 7, 133–135, 149, 240 f., 246–248 Steinbacher, Sybille 85, 100, 147, 151, 208, 210 Sznaider, Natan 99–101, 125, 133, 148 f., 151 f., 198 f., 255 Terkessidis, Mark 101, 218 Timm, Uwe 145, 223, 299 Trojanow, Ilija 8, 181, 283, 285 Uerlings, Herbert

2, 224, 305 f.

Wagner-Egelhaaf, Martina 16 Weber, Klaus 168, 170, 175 f., 203–205 Weiss, Peter 82, 88, 90–93, 305–313, 315–318, 320, 322–329 Welzer, Harald 210 Wierlacher, Alois 243 Yousefi, Hamid

118, 121

Zantop, Susanne M. 136, 138, 141 Zeller, Joachim 1, 101, 131, 144 Zeuske, Michael 168, 170, 175 Zimmerer, Jürgen 100 f., 117, 138, 147, 149 f., 152, 196 Zirfas, Jörg 110