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German Pages 266 [268] Year 2006
Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit
Herausgegeben von Günther Lottes und Iwan D'Aprile
Hofkultur und • · aufgeklärte Öffentlichkeit Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext Herausgegeben von Günther Lottes und Iwan D'Aprile
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stadt Potsdam, Potsdam 2010 GmbH.
Abbildung auf dem Einband: Detailaufnahme aus Schloss Sanssouci.
ISBN-10: 3-05-004179-X ISBN-13: 978-3-05-004179-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.
Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Satz: Iwan D'Aprile, Potsdam Druck: MB Medienhaus Berlin GmbH, Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung
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I. POTSDAM IM KONTEXT EUROPÄISCHER HÖFE
Versailles und Potsdam Günther Lottes Hof und Heer Das Preußenbild der französischen Diplomatie zurZeit Ludwigs XV. (1715-1774) Sven Externbrink Die höfische Gesellschaft unterwegs Residenzkultur im Spiegel handschriftlicher Reisetagebücher des 18. Jahrhunderts Joachim Rees Lumieres fran9aises ou rayonnement europeen de la France? Zur Situation der zeitgenössischen französischen Skulptur an den deutschen Höfen des 18. Jahrhunderts Christoph Frank Les Historiens Francais, la Noblesse et la Cour de France (1650-1789) Chantal Grell
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II. HOF UND STADT
Friedrich II. und die Berliner Aufklärung Ursula Goldenbaum
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INHALT
Maupertuis und die Leibniztradition an der Berliner Akademie Hartmut Hecht
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Hof und Stadt in Lessings Minna von Barnhelm Iwan-Michelangelo D 'Aprile
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Die Muse von Weimar Vom Philosophenhof zur Musenstadt der deutschen Klassik Robert Charlier
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III. DIE INTELLIGENZ AM HOF
Höfische Rhetorik und aufklärerische Rationalität Zwei Modelle menschlicher Kommunikation Thomas Gil
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Glück im Unglück Leibniz am Grab der Königin Sophie Charlotte Uwe Steiner
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Zu Gast in Königs Wusterhausen Das Tagebuch des J.A. Freylinghausen vom 4.-10. September 1727 Heinz-Dieter Kittsteiner
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Herr Maschine im Jenseits von Gut und Böse La Mettrie in Potsdam Ursula Pia Jauch
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Ignacy Krasicki - ein heiterer Pole am preußischen Hof. Agnieszka Pufelska
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Personenregister
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Einleitung
Zu keiner Zeit hat Potsdam auf die europäische Kultur einen größeren Einfluss ausgeübt als im 18. Jahrhundert, als Friedrich, der Philosophenkönig, den Absolutismus und die Aufklärung miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Seit dem Beginn des 18. Jahrhundert setzten der Aufstieg der Bürgertums in Verbindung mit den neuen Ideen der Aufklärung das höfische Monopol immer stärker unter Druck. Friedrich nahm die Herausforderung an und wollte als König und Bürger der Leserepublik, als Herrscher und Intellektueller, Macht und Geist zueinander fuhren. Der Hof in Potsdam, die Residenz am Rande der Metropole, wurde zum Ort dieses komplexen und spannungsreichen Rollenspiels, in dem die alte Welt der ererbten Herren und die neue Welt der kritischen Bürger ihre Grenzen ausloteten. Das geschah unter den Augen Europas. Denn Friedrich hatte dem Experiment Potsdam von Anfang an einen europäischen Rahmen gegeben. In Potsdam traf sich und auf Potsdam blickte die aufgeklärte Intelligenz aus ganz Europa. Die deutschen Aufklärer betrachteten das Rollenspiel vor den Toren Berlins dagegen skeptischer, weil sie der kulturellen Konstellation misstrauten und der europäische Hof quer lag zu dem großen Ziel einer deutschen Nationalkultur, für die der Philosoph von Sans-Souci so wenig Sinn zeigte. In dem vorliegenden Band sollen unterschiedlichen Aspekte dieser Blütezeit der Potsdamer Hofkultur beleuchtet werden. Die Beiträge sind dazu in drei Bereiche gegliedert: (1) In einer ersten Abteilung wird der Potsdamer Hof innerhalb des europäischen Hofsystems kontextualisiert. Zentral steht dabei naturgemäß der Vergleich mit Frankreich, stellt dieses doch im 18. Jahrhundert das Muster jeder Hofkultur dar. Nach einem das Feld absteckenden Beitrag von Günther Lottes, werden in den Beiträgen aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen verschiedene Aspekte der europäischen Hofkultur behandelt. Sven Externbrink zeigt am Beispiel der Diplomatiegeschichte, wie der preußische Hof in den französischen Gesandtenberichten dargestellt wird. Wie Hofkultur im Spiegel von Reisetagebüchern erscheint, untersucht Joachim Rees. Um den konkreten Kultur- und Wissenstransfer zwischen den unterschiedlichen Höfen aus der Sicht der Kunstgeschichte geht es in dem Beitrag von Christoph Frank: er untersucht, wie und welche Entwicklungen auf dem Gebiet der Plastik in Deutschland aus Frankreich übernommen werden. Abgerundet wird diese Sektion durch einen Forschungsbericht von
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EINLEITUNG
Chantal Grell zum Stand der internationalen Hofkulturforschung, der zur Grundlage weiterer Forschung und Lektüre dient. (2) In der zweiten Sektion wird das Spannungsverhältnis Hof und Stadt thematisiert, das sich in Preußen durch die Beziehung Potsdam (Hof) und Berlin (Verwaltungsstadt) durchaus vergleichbar zu dem Verhältnis zwischen Versailles und Paris in Frankreich gestaltet. Grundlegend behandelt Ursula Goldenbaum die problematischen Beziehungen zwischen dem bedeutendsten preußischen Aufklärer, Friedrich II. und den unterschiedlichen städtischen Aufklärungsbewegungen in Berlin (bürgerliche Aufklärung, französisch-hugenottische Aufklärung, jüdische Aufklärung), in denen sich bereits der Charakter der Stadt als multiethnischer und ständeübergreifender Öffentlichkeitsraum manifestiert. Ein ähnliches Spannungsverhältnis besteht zwischen dem wissenschaftlichen Autonomieanspruch der Berliner Akademie der Wissenschaften und dem Anspruch Friedrichs, auch die Wissenschaftspolitik des Landes zu bestimmen (Hartmut Hecht). Am Beispiel einer fiktionalen Quelle, Gotthold Ephraim Lessings Drama Minna von Barnhelm, zeigt Iwan D'Aprile, daß das Spannungsverhältnis zwischen Hof und Stadt als zweier unterschiedlicher Gesellschaftsräume und Kommunikationsfelder durchaus bereits in den zeitgenössischen Diskursen problematisiert wird. Und Robert Charlier zeichnet die historische Entwicklung vom Philosophenhof in Potsdam zur „Musenstadt der deutschen Klassik" Weimar nach, wobei es sich hier natürlich eher um zwei unterschiedliche Modelle von Hofkultur handelt. (3) In der dritten Sektion wird an unterschiedlichen Fallbeispielen die Rolle der aufgeklärten Intelligenz an Brandenburgisch-Preußischen Höfen thematisiert, die ja immer eine einflußreiche Rolle in Anspruch genommen, aber auch tatsächlich gespielt hat. Auch dieser Sektion steht ein einführender Artikel voran, in dem in methodologischer Absicht zwei verschiedene Rationalitätsformen, „höfische Rhetorik" und „aufgeklärte Rationalität", analysiert werden: Thomas Gil demonstriert dies am Beispiel von Balthasar Gracians Handorakel, das in seiner französischen Übersetzung als Homme de cour zum wichtigsten Klassiker der europäischen Hofkultur wurde, sowie von Condorcets Theorie einer aufgeklärten Sozialwissenschaft. In einem literaturwissenschaftlichen Beitrag zeigt Uwe Steiner, daß Gottfried Wilhelm Leibniz am Preußischen Hof nicht nur als Historiograph und Akademiereformer reüssieren wollte, sondern sich auch als Dichter am Grab von Königin Sophie Charlotte hervorgetan hat. Heinz-Dieter Kittsteiner stellt an Hand von Johannes Anastasius Freylinghausens Tagebuch die schwierige Position eines pietistischen Intellektuellen im rauen Klima des Hofes des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. dar. Daß der Potsdamer Hof nicht nur als miltärisches oder organisatorisches Vorbild galt, sondern durchaus ein europäisches Zentrum des Humors und der Ironie, ist ein Aspekt, der bislang unterbelichtet war. Ursula Pia Jauch und Agnieszka Pufelska zeigen in ihren Beiträgen, daß der Potsdamer Hof sowohl für französische (La Mettrie) als auch für polnische (Ignacy Krasicki) Autoren das Feld war, auf dem sie - unter aktiver Beförderung durch Friedrich - ihre humoristische und aufgeklärte Religionskritik am freiesten äußern konnten.
EINLEITUNG
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Dieser ganz zentrale Aspekt der Potsdamer Hofkultur im 18. Jahrhundert, die Aufklärung durch humoristische Distanzierung von Traditionen, kommt auch in der Darstellung des Satyrs im Schloß Sanssouci zum Ausdruck, den wir als Titelbild des vorliegenden Bandes gewählt haben. Der Band geht zurück auf eine Internationale Konferenz, die vom 24.-26. Feburar 2005 Forschungszentrum Europäische Aufklärung Potsdam e.V. durchgeführt wurde. Für seine auf der Konferenz vorgetragenen, an anderem Ort erschienenen, Perspektiven zum Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. danken wir dem Direktor des Geheimen Staatsarchives - Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Dr. Jürgen Kloosterhuis. Sowohl die Konferenz als auch die Drucklagung dieses Bandes wurde von der Stadt Potsdam (Potsdam2010 GmbH) großzügig gefördert. Dafür danken wir der Stadt und den zuständigen Referenten Miriam Weber und Moritz van Dülmen. Johanna Dauner vom Forschungszentrum Europäische Aufklärung danken wir für die Lektüre des Manuskripts und die Erstellung des Registers.
Die Herausgeber, Potsdam im Januar 2006
Potsdam im Kontext europäischer Höfe
Versailles und Potsdam Günther Lottes
I. Aus heutiger Sicht scheint der Vergleich der beiden Symbolorte des monarchischen Europa, Versailles und Potsdam, nicht unangemessen: Versailles, die Residenz am Rande der Metropole Paris, Potsdam die Residenz am Rande der Metropole Berlin beides zugleich nationale Erinnerungsorte und Touristenattraktionen, die kunsthistorisch so problemlos als Vergangenheit annehmbar scheinen und doch historisch vielfach gebrochen sind. Denn - d a s soll hier nicht unterschlagen werden - mit beiden Ortsnamen verbinden sich Schlüsselereignisse der europäischen und der deutsch-französischen Geschichte. Versailles 1919 wird zum Synonym fur einen gescheiterten Versuch der Neuordnung Europas nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Potsdam steht mit der Potsdamer Konferenz für die Debellatio Nazi-Deutschlands und den Anfang vom Ende der Anti-Hitler-Koalition.Versailles und Potsdam sind in beiden Fällen freilich nur beliebige Schauplätze mit geringer Zeichenwirkung. Versailles ist im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zudem vor allem ein deutscher Symbolort, der Glanz und Elend des Nationalstaats von oben dokumentiert. Historische Größen ipso iure, nämlich sowohl zeitspezifische Erscheinungsformen des monarchischen Prinzips als auch Gestaltungsmächte der europäischen Kulturgeschichte, sind Versailles und Potsdam dagegen nur im 17. und 18. Jahrhundert. Aber auch vor diesem Horizont ist Vorsicht geboten. Schon der Vergleich, den wir eben - gleichsam vom Augenschein der Gegenwart ausgehend - angestellt haben, ist einer, der zwar aus unserer heutigen Sicht einleuchtend erscheint, einem Reisenden des 18. Jahrhunderts aber reichlich überzogen erschienen wäre. Anders als Paris war die Stadt Berlin im 17. und auch im 18. Jahrhundert weder eine Metropole noch eine politische Größe. Paris und Berlin waren vielmehr soweit voneinander entfernt wie Frankreich und Preußen, wenn nicht weiter. Die Distanz zwischen Versailles und Potsdam war dagegen, obschon sie von den Zeitgenossen durchaus kommentiert wurde, geringer. Beide wurden als Zentren der europäischen Hofkultur wahrgenommen, als Zentren je eigener Art, wie wir gleich noch und sicherlich auch im weiteren Verlauf unseres Kolloquiums sehen werden. Die Konstellation Metropole und Residenz, die auf den ersten Blick zum Vergleich einlädt, ist in beiden Fällen eine durchaus unterschiedliche: In Frankreich
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wächst die Residenzstadt Versailles für etwas mehr als ein Jahrhundert als Souveränitätsort der Adelsmonarchie des Ancien Regime aus der Hauptstadt Paris heraus. Ihr Schicksal ist besiegelt, als das Volk von Paris den König im Oktober 1789 triumphierend in die Hauptstadt Paris heimholt und wenig später auch die Nationalversammlung, die seit der Eröffnung der Generalstände im Mai in Versailles getagt hat, ihren Sitz nach Paris verlegt. Berlin dagegen wächst sehr viel später, mit wachsender Geschwindigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in die Rolle von Hauptstadt und Metropole hinein, zu einem Zeitpunkt, als Potsdam seine politisch-kulturelle Bedeutung schon nahezu verloren hat und einerseits zur Garnisonsstadt und andererseits zu einem gleichsam privaten und nicht unbedingt privilegierten Rückzugsort der Dynastie geworden ist. Die Gegenüberstellung, die ich zum Thema meines Vortrags gemacht habe, zielt dagegen auf den Hof als Zentrum der europäischen Kulturgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert, der aus den Residenzstädten in der Tat Kulturhauptstädte werden ließ, Kulturhauptstädte nicht nur im weiteren, sondern auch im engeren Sinn des Begriffs Hauptstadt, weil Kultur im Wettstreit der europäischen Machtzentren mehr denn je zuvor politische Bedeutung hatte. 1 In diesem Sinne war Potsdam schon einmal eine Kulturhauptstadt Europas in einem ganz realhistorischen Sinn, die Kulturhauptstadt eines im europäischen Maßstab kleinen und nicht eben reichen Königreichs zwar, dafür aber eine Kulturhauptstadt, die für sich in Anspruch nehmen konnte, das Versailler Modell Ludwigs XIV. den Herausforderungen der Aufklärungsepoche anzupassen und der historischen Option eines „despotisme eclaire" eine Repräsentationsform zu geben. Ich möchte Ihnen diese These im folgenden in drei Schritten nahe bringen. Zunächst möchte ich das Versailler Modell in seiner Bedeutung für Frankreich und Europa erläutern. Danach will ich der Frage nachgehen, ob und inwieweit das Modell des Hofes mit der Kulturbewegung der Aufklärung kompatibel war, um schließlich das Potsdamer Modell als das gescheiterte und vielleicht auch zum Scheitern verurteilte Modell einer höfischen Aufklärung vorzustellen, das im monarchischen Europa der Aufklärungsepoche gleichwohl als historische Option ernst genommen wurde. Seit dem 16. Jahrhundert stand Europa im Zeichen eines Konzentrationsprozesses der politischen Macht, den wir als die Entstehung des modernen Staates zu beschreiben gewohnt sind. Sein Signum war die Herausbildung eines Monopols der legitimen Gewalt, für das sich schon bei den Zeitgenossen der Begriff der Souveränität durch1
Vgl. Günther Lottes, Im Banne Frankreichs. Zur Entstehung der französischen Kulturhegemonie und ihren Auswirkungen auf Preußen im 18. Jahrhundert, in: Iwan D'Aprile, Martin Disselkamp, Claudia Sedlarz (Hg.), Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik" 1785-1815, Hannover-Laatzen 2005, 35-50. Der Begriff der Kulturhauptstadt im vorliegenden Text stellte natürlich eine Anspielung auf Potsdams Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2 0 1 0 dar, zu welcher dieses Kolloquium ein selbst-reflexiver Beitrag zu sein beabsichtigte. Bekanntlich ist diese Bewerbung nicht erfolgreich gewesen. An der Tatsache, dass Potsdam tatsächlich eine Kulturhauptstadt Europas gewesen ist und - nebenbei bemerkt - diesen Anspruch auch weiterhin zu Recht täglich erhebt, ändert dies nichts. Ich habe die seinerzeit gewählten Begriffe deswegen nicht verändert.
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setzte. Die altadeligen Herrschaftseliten wurden für den Verlust der Möglichkeiten herrschaftlicher Selbstbestimmung mit sozialer Privilegierung als der gleichsam zivilen Erscheinungsform herrschaftlicher Gewalt entschädigt und verschmolzen mit den Diensteliten des neuen Staates zu der das Ancien Regime in Europa prägenden Kaste des Adels. Der Aufbau des Monopols der legitimen Gewalt war zwar in der Regel das Werk eines Fürsten oder kam doch einem Fürsten und seiner Dynastie zugute. Doch in einer ganzen Reihe von Fällen von den europäischen Stadtrepubliken inner- und außerhalb des Reiches über die Republik der Niederlande bis zur 1688 etablierten parlamentarischen Monarchie in England setzten sich auch korporative Lösungen durch, in denen die Ausübung des Monopols einem Institutionengefüge und einem geregelten Verfahren der Entscheidungsfindung überantwortet war. Ja die Entscheidung zwischen diesen beiden Varianten war vielerorts in Europa das große Thema der verfassungsgeschichtlichen Konflikte des 17. Jahrhunderts. Für die europäische Raumordnung wurde entscheidend, dass dieser Prozess der Monopolisierung der legitimen Gewalt polyzentrisch verlief. Die Machtstrukturen Europas bauten sich gleichsam von unten in Kumulations- und Unterwerfungsprozessen auf. So entstand ein System der Konkurrenz zwischen nach innen und außen souveränen Machtzentren unterschiedlicher Stärke, deren Miteinander sich zwischen Unterwerfungsabsicht und Behauptungswillen auspendelte. 2 In den Fürstenstaaten wurden Idee und Anspruch der Souveränität personalisiert. Der staatsrechtlich abstrakte und der konkret körperliche Souverän fielen zusammen. 3 Diese Konstellation forderte dem Fürsten eine Herrschaftskompetenz ab, über die er nur selten verfugte. Statt dessen bildete sich um seinen Alleinherrschaftsanspruch eine eigene politische Kultur heraus, die zum einen von dem fortwährenden Ringen um abgeleitete Autorität und den Abstufungen der Auftragsherrschaft und zum anderen von einem Herrscherkult geprägt war, der den Souveränitätsanspruch des frühmodernen Staates durch die Inszenierung des Herrschers gegenüber den Untertanen und gegenüber anderen Souveränen dokumentierte. Die Bühne dieser Inszenierung war der Hof, der den Herrscher in einen exklusiven Raum entrückte und den Zugang zu ihm streng reglementierte. Ludwig XIV. hat diesen Effekt eingedenk seiner Erfahrungen in den Souveränitätskämpfen zur Zeit der Fronde durch die Verlegung der Herrschaftszentrale aus Paris nach Versailles besonders hervorgehoben. Diese Entscheidung signalisierte nicht einfach nur die herausgehobene Stellung des Monarchen über allen politischen Kräften
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Ausführlicher zu diesem Modell der Formationsgeschichte Europas Günther Lottes, Staat, Nation, Region. Zu drei Prinzipien der Formationsgeschichte Europas, in: ders. (Hg.), Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Heidelberg 1992, S. 10-43; Günther Lottes, Formationsprinzipien der europäischen Geschichte, in: Dieter Holtmann, Peter Riemer (Hg.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, Münster 2001, 129152. Über die Tradition der Idee der doppelten Körperlichkeit des Königs vgl. Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies, Princeton 1957.
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des Landes, sondern formulierte eine neue Souveränitätsdoktrin. Danach lag der wahre Ort der Souveränität in der Person des Monarchen, für die ein spezieller Ort gefunden werden musste. So entstand die Residenz als ein säkularisiertes Heiligtum um ein neues königliches Schloss als Souveränitätstempel, der den Herrscher entrückte, ihn über die Gesellschaft erhob und zum irdischen Gott machte. Die Residenz wurde zur civitias principis außerhalb der Hauptstadt des Königreichs, weit entfernt von den Hotels der Hochadeligen, die ihre Machtzentralen nach Paris verlagert hatten, vom Justizpalast, von dem aus die Gerichte die Machtfülle des Monarchen einzuhegen versuchten, von der Pariser Stadtbevölkerung, derer sich in den Machtspielen der Großen niemand sicher sein konnte. Nirgendwo wird deutlicher, dass Macht und Rang der hohen Würdenträger des Landes nunmehr vom König abgeleitet und zugewiesen waren, als in der Raumherrschaft, die Ludwig XIV. in Versailles durch die Differenzierung der Raumzuweisung und durch die Ausfüllung des Raumes im Zeremoniell ausübte. 4 Das Leben in der Fürstenstadt war ganz auf den Fürsten ausgerichtet, die Stadt auf den Schlosskomplex, das Schloss auf die königlichen Gemächer, diese wiederum auf den Körper des Souveräns. Die Gebäude, deren Ausstattung und die Rituale des Lebens in ihnen bildeten eine Einheit, in der politische und ästhetische Aussagen miteinander verschmolzen. Die Bewohner der civitas principis sollten ein sozialer Kosmos für sich sein, der von dem Prinzip der Nähe und Ferne vom Herrscher strukturiert wurde. Norbert Elias' Darstellung der höfischen Disziplinierung des Adels, mag, so suggestiv sie ist, die Funktionsweise der höfischen Gesellschaft allzu modellhaft und formalisiert beschreiben. Die Richtung seiner Beobachtungen aber stimmt. Der Fürst trachtete das soziale Kapital in der Hofgesellschaft zu monopolisieren und die unabhängig von ihm existierenden Kapitalien unter seine Kontrolle zu bringen. Natürlich blieb ein Montmorency ein Montmorency, ein St. Simon ein St. Simon. Aber dieser Rang allein verschaffte ihm in der höfischen Gesellschaft keinen unbedingten Vorrang mehr. Gunst oder Missgunst des Königs waren die Faktoren, die den Ausschlag gaben. Neben das über die Genealogie tradierte trat das vom Souverän neue geschaffene Rangkapital. Es stellte eine Art zweiter Währung dar, die freilich in der Residenz mehr galt als draußen im Land. Es ist kein Zufall, dass der Tanz und das Spiel Schlüsseltechniken der höfischen Selbstdarstellung sind. Wie in einem nie endenden Tanz um den König inszenierte sich die höfische Gesellschaft in immer neuen Konfigurationen und Bewegungsabläufen, die vor allem die Anerkennung von Rang signalisierten. Wie im Spiel das Glück
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Vgl. hierzu immer noch grundlegend Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmastdt und Neuwied 21975 sowie Jürgen Freiherr von Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus, Stuttgart 1973. Ferner Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit, München 1995 und Klaus Malettke, Chantal Grell (Hg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit, Münster 2001.
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so blieb bei Hof die Gunst des Monarchen ein allzeit wandel- und nie vollkommen berechenbarer Faktor. 5 Indes diente der Hof nicht nur als Ort der Inszenierung der Souveränität nach innen, sondern auch und mehr noch der Souveränitätsdarstellung nach außen. Versailles signalisierte den europäischen Anspruch des Sonnenkönigs sowohl direkt wie im Falle der Escalier des Ambassadeurs als auch indirekt durch eine Prachtentfaltung in den Bauwerken, Kunstgegenständen und Festinszenierungen, welche den übrigen Fürsten Europas den herausgehobenen Rang und den hegemonialen Anspruch Ludwigs vor Augen führen sollte.6 Das Versailler Modell der Inszenierung der Souveränität machte Schule in Europa und stürzte dessen Fürsten, die großen ebenso wie die kleinen, in einen kostenintensiven Statuswettkampf, der kulturelle Leistung als ein Indiz politischer Stärke wertete. Ob Literatur, Theater und Wissenschaft, Malerei, bildende Kunst und Festkultur oder Architektur, Gartenbau und Prozellanherstellung - dies alles bekam einen Zeichenwert, welcher den Rang eines Zentrums gegenüber den anderen Zentren festlegte und gesellschaftliche Stärke signalisierte. Wem es gelang, in diesem Konkurrenzgeschäft modell- und stilbildend zu wirken, der erwarb damit zwar keine unmittelbare politische Macht. Kulturelle Dominanz ließ sich nicht in einem Verhältnis eins zu eins in politische Stärke umsetzen. Aber sie markierte Einflusssphären und signalisierte Orientierungen, die bei der Entscheidung zwischen verschiedenen politischen Optionen eine Rolle spielen mochten. 7 Frankreichs kulturelle Ausstrahlung reichte denn auch zumindest zu Zeiten des Ancien Regime - weit über seinen politischen Einflussbereich hinaus. 8 Dabei kam es letztlich gar nicht darauf an, ob ein Fürst dieser Anziehungskraft erlag oder nicht. Entscheidend war, dass Frankreich zumindest für eine Zeit lang die Regeln vorgab, nach denen das Spiel der Status- und Machtkonkurrenz in Europa gespielt wurde. Wer sich gegenüber Frankreich behaupten wollte, der tat dies entweder indem er mitzuhalten suchte oder aber auf den genannten Feldern einen eigenen Stil entwickelte,
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Günther Lottes, Die Zähmung des Menschen durch Drill und Dressur, in Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien, Köln 1998, 221-240, bes. 230ff.
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Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt 1993; Etienne Francois, Der Hof Ludwigs XIV., in: August Buck, Georg Kaufmann, Blake Lee Spahr, Conrad Wiedemann, (Hg.), Europäische Hopfkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Hamburg 1981, S. 725-734.
Vgl. Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Versuch einer Typologie, Tübingen 1993 und besonders Hubert Ch. Ehalt,
Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundeert, Wien 1980. Louis Reau, L'Europe francaise au siecle des lumieres, Paris 1938; Martin Fontius, Jean Mondot, (Hg.), Französische Kultur - Außlärung in Preußen, Berlin, 2001. Vgl. jetzt auch für die kulturellen Gegenströmungen: Jens Häseler, Albert Meier (Hg.), Gallophobie im 18. Jahrhundert, Berlin 2005.
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der Distanz zu Frankreich zum Ausdruck brachte und den eigenen politischen Satelliten symbolische Orientierungshilfe leistete. Das galt auch und gerade für Preußen, wo zunächst Friedrich I. die Herausforderung der Politik des demonstrativen politischen Konsums annahm und sich bemühte, sein neu kreiertes Königtum angemessen in Szene zu setzen, während Friedrich Wilhelm I. die Statuskonkurrenz gezielt und ganz unelegant, ja in mancher Hinsicht leicht pathologisch verweigerte, weil er erkannte, dass sein Land der Doppelbelastung von höfischer Repräsentation und militärischer Präsenz nicht gewachsen sein würde. 9 Zu solcher Selbstgenügsamkeit hatten freilich nur wenige Fürsten den Mut. Noch der geringste deutsche Duodezfürst blickte fasziniert auf das Souveränitätsspektakel jenseits des Rheins. Und selbst in den Republiken und Quasi-Republiken Europas, deren Verfassungsstruktur eine auf die Erhöhung eines Zentrums hinauslaufende Kulturpolitik gar nicht zuließ, gab es Surrogatformen des höfischen Souveränitätstheaters, die um so schneller aufgegeben wurden, je mehr der französische Druck auf die Außendarstellung der europäischen Mächte nachließ. 10 Die Kosten fur die Hofhaltung waren es, die den Hof auf lange Sicht zu einem Ferment der Delegitimation des Ancien Regime werden ließen. Genau das nämlich, was den Hof für die Spitzen der Adels- und Privilegiengesellschaft des Ancien Regime so attraktiv machte, die Exklusivität des demonstrativen Konsums, eine Exklusivität, die sich offensiv und aggressiv sichtbar machte, ließ ihn in den Augen der steuerpflichtigen Bevölkerung zum Stein des Anstosses werden. Dabei lagen die Ausgaben für die Hofhaltung tatsächlich deutlich unter denen fur das Militär oder den Zinsdienst der Staatsschulden. Für das Frankreich des Jahres 1788 sind der Zinsdienst mit 49,3%, die Militärausgaben mit 26,3% und die Aufwendungen für den Hof mit nur 6% veranschlagt worden." Aber diese 6% kamen eben nur dem Fürsten und seiner Entourage zugute, einer kleinen Clique privilegierter Konsumenten, die auf Kosten der Allgemeinheit lebten, dabei einerseits ganz unter sich blieben, andererseits aber ihren lasterhaften 9
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Peter-Michael Hahn, Die Hoflialtung der Hohenzollern. Der Kampf um Anerkennung, in: Patrick Bahners, Gerd Roellecke (Hg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, 73-89. Grundlegend die Arbeiten von Wolfgang Neugebauer, Hof und politisches System in BtrandenburgPreußen. Das 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Zeitschrift für vergleichende preußische Landesgeschichte 46 (2000), 139-169 sowie ders., Vom höfischen Absolutismus zum fallweisen Prunk. Kontinuitäten und Qualitäten in der Geschichte des preußischen Hofes im 18. Jahrhundert, in: Malettke, Grell, (wie Anm 4), 113-124. Wichtig außerdem Johannes Kunisch, Hofkultur und höfische Gesellschaft in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus, in: Buck u.a. (wie Anm. 6), 735-744 sowie Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur Selbstdarstellung des brandenburgischen Hopfes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte 7/65 (1997), S. 145-176. Olaf Mörke, .Stadtholder' oder ,Staetholder'. Die Funktion des Hauses Oranien und seines Hofes in der politischen Kultur der Republik der Vereinigten Niederlande im 17. Jahrhundert, Münster 1997; R. O. Bucholz, The Augustan Court. Queen Anne and the Decline of Court Culture, Stanford 1993. S. Pierre Goubert, L'ancien regime. 2 Bde. Paris 1973, Bd. 2: Les pouvoirs, S. 136ff. in einer Längsschnittbetrachtung.
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Luxus offen zur Schau stellten. Die Hof-, Adels- und Luxuskritik des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte es deshalb leicht, in ganz Europa eine antiaristokratische Stimmungslage zu nähren, die den nüchtern vernünftigen, tugendhaften, seinen gesellschaftlichen Wert stets unter Beweis stellenden Bürger als Gegenbild hervorbrachte. Zwar wird man rückschauend feststellen können, dass die fürstliche Konsumkonkurrenz dem kulturellen Erbe des Kontinents zugute gekommen ist. Doch ist nicht zu verkennen, dass selbst die größeren und reicheren Staaten ganz zu schweigen von den deutschen Kleinstaaten von der Doppelbelastung durch Krieg und Kunst finanziell überfordert und an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit getrieben worden sind.12
II. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verlor das barocke Souveränitätstheater, das die Majestät des Fürsten mit gewaltigem Aufwand inszeniert hatte, dann aber an Überzeugungskraft. Vor allem ging der sakrale Charakter des Königtums bzw. Fürstentums allenthalben in Europa mehr und mehr verloren. Man denke an die preußische Königskrönung von 1701, das Ende der Stuart-Dynastie in England und die pragmatische Territorialpolitik des Friedens von Utrecht. Zum Teil ist dies sicherlich auf konkrete politische Umstände zurückzuführen. In Frankreich folgte auf den Tod Ludwigs XIV. eine Regence, die der bedingungslosen Ausrichtung des politischen und kulturellen Lebens auf den Monarchen ein Ende setzte und die Adelskaste ihrer Genusssucht überließ. Ludwig XV. sollte zwar, nachdem er volljährig geworden war, sowohl zur Alleinherrschaft als auch nach Versailles, nicht aber zur aggressiven Selbstdarstellung seines Großvaters zurückkehren. In Preußen verweigerte sich Friedrich Wilhelm I. dem höfischen Prinzip in einer nachgerade pathologischen Weise und mühte sich, seine Souveränität durch Selbstherrschaft zu füllen. Ganz unabhängig von diesen Einzelfällen sorgte der pragmatische Umgang, welchen die internationale Politik mit Thronansprüchen zu pflegen begann, für einen ernüchternden Blick auf spätbarocken Glanz. Wesentlich problematischer war jedoch, dass die Strategien der kulturellen Dominanz, auf die der höfische Absolutismus gesetzt hatte, zunehmend ins Leere stießen, weil sich die Konsumenten, der Gegenstandsbereich und die Medien des Kulturgeschehens veränderten. Seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Ausweitung und Verselbständigung des Lesepublikums, die neue kulturelle Standards setzte und die bisherige Elitenkultur Schritt für Schritt und in den verschiedenen Kul-
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Quantifizierende Urteile sind freilich schwierig, weil sich die Frage nach der Notwendigkeit und Gewichtung einzelner Kostenarten und der Kategorie der Leistungsfähigkeit stellt. Immerhin stehen der 6-prozentigen Belastung des Staatshaushaltes in Frankreich in Deutschland Verhältnisse gegenüber, bei denen die Belastung aqn 50% heranreichte. Vgl. die differenzierte Betrachtung bei Bauer, Höfische Gesellschaft, 126ff.
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tursektoren mit unterschiedlicher Geschwindigkeit marginalisierte. Hand in Hand damit ging die Herausbildung einer literarisch-publizistischen Öffentlichkeit und eines Kunstmarktes, welcher den Kulturproduzenten eine neue Freiheit, nämlich die Freiheit vom Mäzen, und eine neue Abhängigkeit, nämlich die Abhängigkeit vom Publikumsgeschmack, bescherte. Gewiss, die Pension eines Fürsten war noch immer eine willkommene Absicherung. Auch der Anerkennung durch den Hof rühmte man sich noch gern. Und natürlich blieb der Hof als Konsument von Kultur, gleichsam als Großkunde auf dem neuen kulturellen Markt, bedeutsam. Andererseits waren die Vergünstigungen des alten Typs nunmehr tendenziell verzichtbar. Wirklicher Erfolg war Publikums-, war Markterfolg. In Frankreich und in gewisser Weise auch in Preußen steht für diesen Umbruch mit all seinen chronologischen Überlagerungen und Umwegen Voltaire mit seiner Biographie. Er begann seine Laufbahn noch unter den Auspizien des höfischen Dominanzanspruchs und war gekränkt darüber, dass der Hof ihm die kalte Schulter zeigt. Zur Kultfigur aber machte ihn das Publikum, der neue Herr über Literatur und Kunst, der seine Günstlinge nicht durch Pensionen, sondern durch Tantiemen reich machte. Voltaire war für das Publikum des 18. Jahrhunderts zwar eine virtuelle Persönlichkeit ganz so wie Ludwig XV. oder Ludwig XVI es außerhalb Versailles waren, jedoch mit einer ganz anderen medialen Präsenz. Deshalb wurde seine Rückkehr nach Paris aus dem Exil in Ferney, einem Ort, dessen Abgeschiedenheit für die Ortslosigkeit des neuen Marktes steht, zu einem Triumph, zur Inkarnation einer Legende, welche den König der Philosophen noch einmal in Szene setzte. Dagegen geriet Ludwigs XVI. Rückkehr aus Versailles in seine Hauptstadt zum Zwangsakt, zu einem Beschämungs- und Enthüllungsritual, dem weitere öffentliche Demütigungen und schließlich Prozess und Hinrichtung folgen sollten. 13 Diese Zuspitzungen dürfen natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Protagonisten ihre kulturhistorischen Rollen in vielfältiger Brechung spielten. Voltaires Auftreten in Potsdam und seine Beziehung zu Friedrich II. sind hierfür ein gutes Beispiel. Sie brachten Voltaires lebensgeschichtlich begründete Ambivalenz gegenüber dem Milieu des Hofes in immer neuen Schattierungen zum Ausdruck. Auf der einen Seite war Friedrich Voltaires Ersatzkönig, der ihm die Gunst und die Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, die ihm der französische Hof verweigerte. Voltaire trug dem sogar in seinem Verhalten Rechnung. Er gab in Berlin nicht nur den Starphilosophen, sondern eben auch den Höfling, der aus seiner Stellung gierigen Vorteil zu ziehen suchte. 14 Umge-
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Ausführlich zu den Konfrontationen zwischen Menge und König im Frankreich der Revolution George Rude, The Crowd in the French Revolution, Oxford 1959, speziell zum Marsch nach Versailles, 6 Iff. Vgl. Christiane Mervaud, Voltaire et Frederic: une dramaturgie des Lumieres 1736-1778, Oxford 1985; Jens Häseler, Friedrich II. von Preußen - oder wieviel Wissenschaft verträgt höfische Kultur?, in: Brunhilde Wehinger (Hg.), Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte, Berlin 2005, S. 73-82, außerdem ders., Voltaire vu par Formey et ses amis ou elements d'une historie de la reception de Voltaire en Prusse, in: Voltaire et ses combats. Actes
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kehrt begegnete Friedrich dem Star der französischen Aufklärung als Leser, als ein begeisterter Leser der neuen Literatur, welche die Welt durch ihre neuen Perspektiven so unendlich viel aufregender gemacht hat.15 Er wollte Teil des Publikums sein, das in Voltaire einen seiner Leiträsonneure erblickt und an seiner Tabulosigkeit Gefallen fand. Auf der anderen Seite vergaß keiner von beiden, weder Voltaire noch Friedrich, von woher sie aufgebrochen waren und wohin sie letztlich gehörten. Und keiner von beiden verzieh dem anderen die Grenzüberschreitungen in dem Rollenspiel, in dem sie sich begegneten. 16 Die Begegnung des Philosophenkönigs mit dem König der Philosophen war indes in ihrer Personalisierung der aufeinandertreffenden kulturellen Formationen eine außergewöhnliche, ja in gewisser Weise artifizielle Konstellation, als habe ein Dramatiker die Feder geführt. Im Regelfall stand die Konfrontation zwischen dem Hof als der Bühne des fürstlichen Souveränitätsanspruchs und dem Publikum als der Präkonfiguration eines neuen Souveräns, der 1789 sein Recht einfordern sollte, im Zeichen der unterschiedlichen institutionellen und inhaltlichen Fundamente, von denen aus diese beiden kulturellen Akteure operierten. Für den Hof stellte sich die Frage, wie sich das Ziel der kulturellen Dominanz als eines zentralen Bestandteils der Strategie der gesellschaftlichen Umsetzung der fürstlichen Souveränität unter den neuen Bedingungen erreichen ließ, die sich rasant gegen die Gestaltungsmöglichkeiten des Hofes entwickelten. Waren die klassischen Mittel, mit denen der Hof einer breiteren Öffentlichkeit publizistisch vermittelt worden war, die Beschreibungen von Hoffesten in offiziellen Publikationen, die Kupferstiche von Staatsgemälden, die Erinnerungsmedaillen an große Ereignisse überhaupt noch zeitgemäß? Trugen Sie dem Informationsbedürfnis des Publikums Rechnung und waren sie vor allem geeignet, dem Negativimage entgegenzuarbeiten, das der Hof als Arkanraum des Inner Circle der Privilegiengesellschaft des Ancien Regime aufbaute und das sich in immer neuen Gerüchten entlud? 17 Umgekehrt wusste das Publikum mit dem Hof als kulturellem Akteur schon deswegen wenig anzufangen, weil dieser, so sehr er sich der Macht der sich herausbildenden Öffentlichkeit auch bewusst sein mochte, eben doch nicht öffnen konnte und wollte.
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du Colloque international Oxford-Paris, hg. von Ulla Kölving und Christiane Mervaud. Oxford 1997, 969-975. Von eher buch- und verlagsgeschichtlichem Interesse dagegen Martin Fontius, Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G.C. Walther veröffentlichten Werke Voltaires, Berlin 1966. Vgl. generell Martin Fontius (Hg.), Friedrich II. und die europäische Aufklärung, Berlin 1998. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Korrespondenz Friedrichs mit Voltaire vgl. Brunhilde Wehinger, Literatur und Politik. Zur literarischen Korrespondenz Friedrich IL, in: Fontius, Friedrich IL (wie Anm. 15), 61-72 sowie die deutsche Ausgabe der Briefe Hans Pleschinski, (Hg.), Voltaire - Friedrich der Große. Briefwechsel., München 2 1995. Helmuth Kiesel, „Bei Hof, bei Holl". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979. Zur Wirkungsweise von Gerüchten in diesem Zusammenhang: Hans-Jürgen Lüsebrink, Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten von Kriminalitätsdarstellung im Zeitalter der Aufklärung, München, Wien 1983, 78ff.
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Vielleicht war diese Flucht in den Arkanraum aber auch eine ganz berechtigte und weise Strategie des Selbstschutzes. Zum einen war das Bild der inhaltlichen Leere und moralischen Verderbtheit, das die tugendsame Bürgeröffentlichkeit von der höfischen Welt zeichnete, ja tatsächlich nicht so weit entfernt von dem, was sich an den meisten Höfen abspielte. Zum anderen waren viele der spezifisch höfischen Kulturmaterien und Kulturtechniken vom Tanz bis zum Feuerwerk, von der Skulptur bis zum Gartenbau, vom Laienspiel bis zur Musikdarbietung schwer zu verbreitende Formen der künstlerischen Gestaltung. Hofkultur und Bürgerkultur standen so gesehen in einem doppelten, sowohl formalen wie inhaltichen, Gegensatz. 18 Gerade deshalb reagierte das Publikum in Deutschland, soweit es den Fürsten als Garanten der gesellschaftlichen Ordnung namentlich nach 1789 nicht aufgeben wollte oder konnte, so begeistert auf die Idee des Musenhofes, der die Ansprüche des Fürsten auf die kulturelle Inszenierung seiner Maiestas und die Ansprüche des Publikums auf kulturelle Leistung und Leitung zusammenführte. Die Weichenstellung für die Erfolgsgeschichte von Weimar als einem virtuellen Nationaldenkmal geht auf diese Spannungslage zurück. Denn Weimar gab eine ideale Bühne für die Aussöhnung von Fürstentum und Nationalkultur ab, für die bürgerlichen und liberalen Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts, die den WeimarMythos schmiedeten, um so akzeptabler, weil die Rollen auf dieser Bühne ganz in ihrem Sinne und gegen die Erwartungen, welche der Ort weckte, verteilt waren: Denn die Kulturheroen waren bürgerlich und der Fürst unheroisch besetzt, nicht nur politisch bedeutungslos, was ihn für liberale Gesinnungen besonders annehmbar machte, sondern im ganzen letztlich nur ein Konsument von Kultur unter anderen, ein Mitglied des Publikums, ein Kulturbürger unter anderen. 19
III. Das französische Königtum und der französische Hof haben sich der Aufklärung nur widerwillig, zaghaft und voller Vorbehalte geöffnet und den Versailler Hof damit, ganz abgesehen von den eben genannten Problemen, von der kulturellen Entwicklung abgekoppelt. Nicht dass die französische Aufklärung die Monarchie grundsätzlich abgelehnt hätte. Mancher Aufklärer hätte sich gerne im Licht königlicher Gunst gesonnt und sich in den Dienst eines „despotisme eclaire" gestellt. Doch die beiden Bourbonen, die der Monarchie des 18. Jahrhunderts Gesicht gaben, blieben ungeachtet ihres Lebenswandels 18
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Zur Problematik von höfischer Repräsentation und Öffentlichkeit grundsätzlich Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, dessen Eingehen auf die mediengeschichtlichen Aspekte zur Zeit der VerÖffentlichkeit durchaus Pioniercharakter besaß. Außerdem Stollberg-Rlinger (wie Anm. 9). Vgl. Robert Charlier, Der Berliner Mythos von Weimar. Aus der Werkstatt der Klassikermacher des 19. und 20. Jahrhunderts, in: D'Aprile, Disselkamp, Sedlarz, Tableau de Berlin (wie Anm. 1), 393408.
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dem Selbstverständnis des roi tres chretien und des premier gentilhomme du royaume verhaftet. Sie konnten sich weder die Religions- und Kirchenkritik der Aufklärer noch die Forderung nach dem Abbau der Privilegiengesellschaft zu eigen machen. Der Verlust der kulturellen Definitionsmacht, welcher demjenigen der politischen Definitionsmacht vorausging, war zwar auch, aber nicht allein mediengeschichtlich bedingt. Den Aufklärern gelang es letztlich nie, ihr Streben nach der Ausrottung der Vorurteile und der Unterwerfung alles tradierten Wissens und aller gesellschaftlichen Verhältnisse unter den Begründungszwang der Vernünftigkeit und der Nützlichkeit zu relativieren und die Monarchie davon auszunehmen. Je weiter das Jahrhundert fortschritt, desto brüchiger wurden die Schutzmauern des alten Denkens, hinter denen die Monarchie Zuflucht gesucht hatte. Die Aufklärer hatten schlicht die spannenderen und provozierenderen Themen, präsentierten sich witzig statt gravitätisch, kultivierten den Habitus der Kritik, vermitteinten den Reiz des Tabubruchs. Zwar fehlte es nicht an Exponenten des Ancien Regime, die für die Aufbruchstimmung und das Lebensgefiihl der neuen Zeit und des neuen Denkens empfanglich waren. Aber sie pflegten die Widersprüche, in welche sie diese Offenheit verwickelte, mit Ironie und Zynismus zu bewältigen. Dies blieb weder unbemerkt noch ungerügt. Der libertine Roman der Spätaufklärung platzierte die Grenzgänger zwischen Privilegiengesellschaft und aufgeklärter Öffentlichkeit mit Vorliebe im Boudoir. 20 Andere europäische Monarchien - allen voran die preußische - entwickelten dagegen deutlich weniger Berührungsängste gegenüber der Aufklärung und unterlagen in ihren kulturellen Optionen auch nicht den Zwängen, denen die französische Monarchie unterworfen war. So stand der preußische Hof in einer ganz anderen funktionalen Tradition als der französische. Der fürstliche Hof war religions- und kirchenpolitisch ungebundener, als protestantischer Hof gegenüber vielen Denkansätzen der Aufklärung offener, als reformierter Hof im Lande ohnehin isoliert. Er hatte nie als Disziplinierungsinstrument für den brandenburgisch-preußischen Adel dienen müssen, was nicht heißt, dass der Adel in Brandenburg-Preußen und namentlich im friderizianischen Staat nicht massiv und ohne irgendwelche Zweifel an der Berechtigung dieses Kurses privilegiert wurde. Indes verfugte keine der Familien aus dem Territorialadel auch nur ansatzweise über ein Rangkapital, das dem den Kurfürsten/Königs gleichgekommen wäre. 21 Potsdam war auch nicht Residenz geworden, weil Berlin und seine Bevölkerung ähnlich wie Paris ein politischer Faktor gewesen wären. Berlin wuchs auch im brandenburgischpreußischen Gesamtstaat erst noch in seine hauptstädtische Rolle hinein. Als Fried20
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Jean-Pierre Dubost, Eros und Vernunft. Literatur der Libertinage,
Frankfurt 1988.
Wolfgang Neugebauer, Der Adel in Preußen im 18. Jahrhundert, in: Ronald Asch (Hg.), Der europäische Adel im Ancien Regime: von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600-1789), Köln, Wien 2001, 49-76. Vgl. auch, wenngleich mit späterem zeitlichen Fokus Klaus Vetter, Kurmärkischer Adel und preußische Reformen, Weimar 1979 sowie Ralf Pröve, Bernd Kölling, Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999.
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rich II. sich nach dem repräsentationskargen Intermezzo des Soldatenkönigs wieder einem inszenierungsfreudigeren Herrschaftsstil zuwandte, konnte er dies unter ganz anderen Voraussetzungen tun. Er hielt dabei zwar an der Frankreichorientierung seines Großvaters und vieler Reichsfürsten fest, wandte sich - ganz Konsument der französischen Kultur - aber nicht dem matt gewordenen Glanz Versailles', sondern gleichsam dem kulturellen Marktfuhrer, nämlich der aufgeklärten Intelligenz zu, deren Schriften ganz Europa elektrisiert hatten. 22 Er unternahm es, in seiner Person und in der Gestaltung seines Umfelds die Fusion einer absterbenden kulturellen Institution mit einem neuen kulturellen Produktions- und Distributionsprinzip, die Symbiose von monarchischer Autokratie und aufgeklärter Herrschaftsausübung zu verwirklichen, die das A n d en Regime im - freilich trügerischen - Glanz intellektueller Modernität erscheinen lassen konnte. 23 So wurde Potsdam mit Sans, Souci; und nach dem Siebenjährigen Krieg auch dem Neuen Palais zu einem brandenburgisch-preußischen Versailles, das die Göttin der Vernunft durch die Gittertore einließ und in ihrem Zeichen eine internationale Hofgesellschaft versammelte, in der die in der Welt der Aufklärer gültige Statuswährung zumindest als Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Die französischen Aufklärer, die Friedrich an seinem Hof versammelte, haben diese Geste wohl honoriert. Sie stilisierten ihn zum roi philosophe, zur Personifikation eines Modells, das sich in Frankreich unter der Herrschaft der unintellektuellen Bourbonen nicht würde realisieren lassen, und kompensierten damit ihre eigene Eitelkeit, die unter dem Ausschluss von der Macht litt. In der Tat hatte die aufgeklärte Intelligenz in Frankreich nur sehr kurzfristig in den 1770er Jahren und sehr bedingt Zugriff zu den Schalthebeln der Macht. Friedrich aber gab ihnen, noch dazu als einer der ihren, die Aufmerksamkeit, die ihnen in ihrem Heimatland versagt blieb. Ein König des alten Europa machte sich, so schien es wenigstens, gemein mit den Königen der öffentlichen Meinung, auf deren Urteile und Argumente ganz Europa blickte. Aber, so fragt man sich und so fragten sich auch einige Zeitgenossen, tat Friedrich II. das wirklich? Ging es ihm nicht in Wahrheit darum, den Homunculus des aufgeklärten Höflings zu schaffen, mit dem er sein Spiel treiben konnte, ein Spiel, das seine herausgehobene Stellung nur noch eindeutiger demonstrierte und so sein Rangkapital nur noch wirkungsvoller zur Geltung brachte? War Friedrich nicht drauf und dran, den Adels des Geistes, als den sich die aufgeklärte Intelligenz ausgab, in einer ganz ähnlichen Weise zu domestizieren wie einst Ludwig XIV. den Feudaladel des alten Frankreich? Partizipierten die französischen Aufklärer wirklich an der Macht, wenn dies denn in dem Königreich der Landstriche am Rande Europas erstrebenswert war? Oder behielt Friedrich sich dieses Arkanum nicht doch vor? Ich will versuchen, diese Fragen von zwei Seiten her anzugehen,
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Vgl. hierzu zur ersten Orientierung Fontius (wie Anm. 15) sowie Wehinger (wie Anm. 14). Vgl. auch Günther Lottes, Court Culture in Transition, in: Niall O' Ciosäin, Explaining Change in Cultural History, Dublin 2005, 98-119.
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einmal mit der Frage nach Friedrichs aufgeklärten Höflingen und dann mit der Frage nach der Kommunikationspraxis am Potsdamer Hof. Friedrichs Vorstellung vom aufgeklärten Höfling blieb ein Widerspruch in sich. Voltaire hielt es nicht lange an Friedrichs Hof, so hoch die Erwartungen auch gewesen waren, die diese beiden Könige in den jeweils anderen gesetzt hatten und so gern sie auch miteinander ausgekommen wären. 24 Friedrich kam weder mit Voltaires ironischer Handhabung der Situation noch mit seinem magistralen Gestus zurecht, der dem König zu verstehen gab, dass er unter den Heroen des literarisch-publizistischen Marktes bestenfalls Proband war. Umgekehrt wollte Voltaire sich nicht damit abfinden, dass es den Höfling eben nicht ohne den König gibt, und es um so schwerer ist, mit einem König auszukommen, der sich - und das nicht einmal zu Unrecht - als Intellektueller fühlt. Aber hinter den Schwierigkeiten, die Voltaire und Friedrich miteinander hatten, steckten nicht nur persönliche Eigen- und Eitelkeiten. Sie lagen, wie andere von Friedrich umworbene Größen sehr wohl sahen, in den Widersprüchen der Rolle, die sie im Umfeld des Königs hätten spielen müssen. D'Alembert verließ Potsdam schnell und beließ es bei einem Briefwechsel, in dem er die Kommunikationshoheit besaß, weil es der König war, der zur Feder des Philosophen greifen musste. 25 Auch Diderot mied Potsdam. Als er 1774 aus St. Petersburg vom Hofe Katharinas nach Paris zurückreiste, ließ er sich, ohnehin desillusioniert über die Wirkungsmöglichkeiten, welche ein Hof ihm und der Sache der Vernunft bieten konnte, von Friedrich zu keinem Besuch überreden. Es bestehe eben doch, notierte er in seinen Principe de Politiques des Souverains, ein großer Unterschied zwischen der Welterklärung und dem Kartenspiel als Zeitvertreib. 26 Im ganzen musste sich Friedrich mit der zweiten Garnitur der französischen Aufklärer genügen, einem d'Argens, einem Maupertuis, einem LaMettrie - große Namen gewiss, aber eben nicht vom Rang eines Voltaire, d'Alembert oder Diderot. Der Marquis d'Argens und Maupertuis waren sich wohl bewusst, dass sie in Potsdam und Berlin eine Rolle spielten, die ihnen in Frankreich niemand zugestanden hätte. La Mettrie dagegen litt unter der Abhängigkeit, in die er sich begeben hatte, und fühlte sich als intellektueller Hofnarr eines Spötters.27
24
Vgl. Mervaud (wie Anm. 14). Im übrigen als Quelle Friedrich der Große und sein Hof. Persönliche Erinnerungen an einen 20-jährigen Aufenthalt von Dieudonne Thiebault. Vollständiger und kommentierter Nachdruck von 1804, hg. v. Wieland Giebel, Berlin 2005.
25
Brunhilde Wehinger, Geist und Macht. Zum Briefivechsel von Preußen,
zwischen d'Alembert
in: Günter Berger, Franziska Sick (Hg.), Französisch-deutscher
und Friedrich
II.
Kulturtransfer
im
Ancien Regime, Tübingen 2002, 241-261 .sowie dies., Der Köng und der philosophe. Anmerkungen zum literarisch-philosophischen Briefwechsel Friedrichs II., in ZRGG 2 (2004), 110-123. 26
27
Arthur M. Wilson, Diderot, Oxford 1972, Kap. 45 (Return to the West), bes. 649ff.
Friedrich Nicolai,: Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren. Nebst Berichtigung einiger schon gedruckten Anekdoten, Erstes Heft, Berlin und Stettin, 1788, 18. Vgl. auch Julien Offray de la Mettrie, Philosophie und Politik. Erstmals aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Bernd A. Laska. 1987.
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Von ähnlichen Widersprüchen war die Kommunikationskultur des aufgeklärten Hofes gekennzeichnet. Noch mehr als das Recht im Staat stand die Kultur des Arguments im Rahmen des aufgeklärten Hofes unter dem Vorbehalt des Machtspruchs, der die Gewichte radikal veränderte. Die aufgeklärten Gesprächsteilsnehmer konnten sich natürlich damit trösten, dass die Machtsprüche im Rahmen der aufgeklärten Überzeugungen des Königs erfolgen und nach Möglichkeit vernünftig eingekleidet würden. Gerade fur das weite Feld der Religionskritik war dies natürlich von erheblicher Bedeutung. Gleichwohl blieb aufgeklärte Gespräch damit sowohl in jeder konkreten Gesprächssituation als auch auf der abstrakten Ebene der publizierten Diskurse durch die Unverbindlichkeit des Spiels relativiert. Es konnte nicht ausbleiben, dass das Wissen um diese Regeln des Spiels, in welcher Weise auch immer, in die Gesprächshaltungen der Beteiligten einfloss. Wer mit dem König sprach, der sprach eben nicht frei, der kam nicht ohne Vernunftgründe aus, konnte sich aber auch nicht auf das Gewicht von Vernunftgründen verlassen, weil jeglicher Konsensus nur ein für den König akzeptabler Konsensus sein konnte. Das galt selbst dann, wenn der König eine radikale Meinung wie die La Mettries schützte und gegen satirische Bemerkungen über den Homme machine mit den Mittel der Zensur vorging. Man darf die Offenheit für die rationale Durchdringung der Welt, die mit Friedrich in seinem Königreich einkehrte, sicherlich nicht unterschätzen. Auf die Vernunftentscheidungen des Königs erstreckte sie sich freilich nur, soweit der König dies zuließ. Die deutschen Aufklärer überzeugte Friedrich mit diesem Modell der Öffnung des Hofes für die Aufklärung nicht - vielleicht weniger weil die Widersprüche zwischen Friedrichs programmatischen Aussagen als Aufklärer und seinem Handeln als König sehr wohl registriert und gegen ihn ins Feld geführt wurden, vielleicht auch nicht, weil die deutschen Aufklärer sich den Widersprüchen der Rolle des aufgeklärten Höflings nicht aussetzen wollten, aber sicherlich aus dem sehr wohl verständlichen Grund, dass der König die Chancen, die mit seiner Offenheit für die Aufklärung verbunden waren, Chancen in einem durchaus materiellen Sinn, an die auf dem literarisch-publizistischen Markt ohnehin dominanten Konkurrenten von jenseits den Rheins vergab. In der Tat entwickelte Friedrich weder für die Eigenständigkeit und das Eigengewicht der deutschen Aufklärung noch für die Leistungen der deutschen Aufklärung großen Sinn.28 So sehr man Friedrichs Bekenntnis zur Aufklärung schätzte, so sehr enttäuschte seine kompromisslose Frankophilie. Friedrichs Themen waren nicht die der deutschen Aufklärung, die mit der voltairianischen Kirchenfeindlichkeit des Königs nichts anzufangen wusste. Noch verletzender war Friedrichs Missachtung der Keime einer deutschen Nationalliteratur, auf welche die deutsche Aufklärung als Instrument der Erziehung des bürgerlichen Publikums und des Aufbaus einer Nationalkultur auf eigensprachlicher 28
Friedrich II., König von Preußen und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, Texte und Dokumente, (Hg.) v. Horst Steinmetz, Stuttgart 1985. Eberhard Lämmert, Friedrich der Große und die deutsche Literatur, in: Wehinger (wie Anm. 14), 13-21 sowie Friedrich Gundolf, Friedrichs des Großen Schrift über die deutsche Literatur, hg. von Elisabeth Gundolf, Zürich 1985.
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Grundlage so große Hoffnung setzte.29 Friedrich Absage an das barbarische Deutsche wurde als Hochverrat an der literarisch-publizistischen Intelligenz Deutschlands empfunden. Nicht zu Unrecht, mussten sie doch das Publikum und den Markt, der ihre Lebenschancen garantieren und erweitern sollte, überhaupt erst schaffen. 30 Auf diese Grundstimmung nahm Lessing in den viel zitierten Brief an Nicolai Bezug, in dem er Friedrichs Experiment unbarmherzig als eitles und zynisches Theater entlarvte. Die Berliner Freiheit beschränke sich ja doch nur darauf, Sottisen über die Religion zu produzieren. Wenn wirklich Feriheit eingefordert werde, würde sich heraustellen, dass Preußen das sklavischste Land in Europa sei.31 In Friedrichs Hinwendung zu Frankreich verbirgt vor dem Hintergrund dieser Absage an die Urteilskraft und das Urteilsrecht eines deutschen Publikums eine neuerliche Begründung seines Anspruchs auf monarchische Autokratie. Friedrich war so gesehen philosophe im Hinblick auf bestimmte Meinungen und Themen, jedoch nicht im Hinblick auf die Bereitschaft, sich dem Meinungsmarkt zu stellen. Immerhin ging es in seinem Fall ja auch nicht mehr um die Verantwortung von Argumentation in der Debatte über philosophische Fragen, sondern um die Verantwortlichkeit der Macht selbst.
29
S. Conrad Wiedemann, „Deusche Klassik und nationale Identiät". Eine Revision der SonderwegsFrage, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik 30
im Vergleich, Stuttgart, Weimar 1993, 541-569.
Vgl. Hellmuth Kiesel, Paul Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977 sowie Hans H. Gerth,
Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976. 31
G. E. Lessing, Brief an Friedrich Nicolai, 25. August 1769, in: ders., Werke und Briefe in Bänden, hg. v. Wilfried Barner, Conrad Wiedemann u. a., Band 11/1, Brief Nr. 501, S. 622 f.
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Hof und Heer* Das Preußenbild der französischen Diplomatie zur Zeit Ludwigs XV. (1715-1774) Sven Externbrink
I. In seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe von Ernest Lavisses Studie über die „Jugend Friedrichs des Großen" ermahnt der Übersetzer Friedrich von Oppeln-Bronikowski, seine Leser, bei der Lektüre des Buches Vorsicht walten zu lassen: „Es darf freilich nicht unbetont bleiben, daß Lavisse bei allem Streben nach geschichtlicher Objektivität nie ganz vergessen kann, daß diese zwei Herrscher [Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große] die Schöpfer einer Macht waren, die Frankreich bei Roßbach, Leipzig und Sedan niederwarf. Allzu unbedenklich hat er aus trüben Quellen geschöpft, wie die Gesandtschaftsberichte, denen nebst vielen Wertvollen nicht selten Lüge und Klatsch anhaften." 1 Oppeln-Bronikowski dachte dabei möglicherweise an jene Passagen des Buches, in denen Lavisse, gestützt auf die Berichte der französischen Diplomaten, ein differenziertes, wenngleich wenig schmeichelhaftes Charakterbild König Friedrich Wilhelms I. zeichnete. 2 Vor allem der Gesandte Rottembourg hatte über Jahre die Entwicklung des
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Geringfügig erweiterter Text des Vortrage auf der internationalen Tagung des Forschungszentrums Europäische Aufklärung, Potsdam, im Rahmen der Bewerbung der Stadt als Kulturhauptstadt Europas 2010: „Potsdam im 18. Jahrhundert zwischen europäischer Hofkultur und aufgeklärter Öffentlichkeit", 23.-25. Februar 2005. Ich danke herzlich Jörg Ulbert, Lorient, fur die Überlassung einer Kopie seiner Exzerpte der Correspondance politique Prusse der Jahre 1713-1728. Alle Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, stammen vom Verfasser. Bei den Zitaten aus französischen Manuskripten wurde der Buchstabenbefund übernommen, die Akzentsetzung modernisiert. Abkürzungen: AAE = Archives du Ministere des Affaires etrangeres, Paris, CP = Correspondance politique, MD = Memoires et Documents. Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Vorwort des Übersetzers, in: Ernest Lavisse, Die Jugend Friedrichs des Grossen, 1712-1733, Berlin 1919 [ND Braunschweig 1997], IV. Biographische Notiz zu Friedrich von Oppeln-Bronikowski (1873-1936) in: Walther Killy, Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, 12 Bde., München 1995-2000, Bd. 7, 497. Lavisse, Jugend (wie Anm.l), 66-70 („Gewalttaten, Wahnsinn und Despotismus"). Über Lavisses Friedrich-Biographie siehe: Beate Gödde-Baumanns, Deutsche Geschichte in französischer Sicht. Die französische Historiographie von 1871 bis 1918 über die Geschichte Deutschlands und die deutsch-französischen Beziehungen, Wiesbaden 1971, 75-76, 114-119.
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Soldatenkönigs verfolgen können und die Tobsuchtsanfalle des alle und jeden prügelnden König detailliert beschrieben. Der französische Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten, Morville, brachte, Rottembourgs Depeschen bilanzierend, das Verhalten des Soldatenkönigs mit krankhaftem Wahnsinn in Verbindung: „Die Beweise der geistigen Verwirrung des Königs von Preußen nehmen täglich derart zu, Monsieur, daß man nicht mehr voraussagen kann, was man von ihm in politischen Fragen zu erwarten hat. Wir können für den Fortgang der politischen Geschäfte nur hoffen, daß diese Verwirrtheit sich in Sprunghaftigkeit und Unsicherheit verwandelt, und daß dieser Fürst niemals ernsthaft für jemanden Partei ergreifen wird."3 Wer Rottembourgs Berichte wie auch die Äußerung seines Vorgesetzten als üble Nachrede oder „Lüge und Klatsch" betrachtet, übersieht, daß sich in ihnen zentrale Aspekte frühneuzeitlicher Gesandtentätigkeit widerspiegeln. Dringendste Aufgabe des Diplomaten war die Information seiner Auftraggeber über alles, was am fremden Hof vorging: „Und in dem Maße, in dem sich der Gesandte einen Eindruck vom Staat und vom Hofe verschafft, an dem er sich befindet, soll er darüber in seinen Depeschen Rechenschaft ablegen, und zwar über die Auffassungen derjenigen, die dort den größten Einfluß haben und über die Minister, mit denen er verhandelt: über ihre Verbindungen, ihre Leidenschaften und ihre Interessen. Er soll sich bemühen, dies in einer so klaren und ihnen ähnelnden Art darzustellen, daß der Fürst oder der Minister, der seine Depeschen erhält, die Angelegenheit über die er unterrichtet wird, so genau kennt, als ob er selbst vor Ort sei."4 Und genau an diese Anweisung, die dem Traktat De la maniere de negocier avec les souverains seines Zeitgenossen Francois de Callieres entstammt, hielt sich Rottembourg. Er beschrieb in allen Einzelheiten nicht nur die politischen Reformen, die Fixierung des Soldatenkönigs auf alles Militärische und die Konflikte mit dem Kronprinzen, sondern auch die „Geistesverfassung" des wichtigsten Mannes in Preußen. Rottem-
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„Les preuves du derangement d'esprit du Roy de Prasse se multiplient tous les jours, Monsieur, au point que Ton ne peut plus prevoir ce qu'il peut y avoir d'attendre de sa part sur les affaires politiques. Tout ce que l'on peut esperer de mieux est que comme sur les affaires generates, ce derangement parroist tourner en agitations et en incertitudes, au moins ce prince ne prendra jamais serieusement parti pour personne." Brief von Außenminister Morville an Rottembourg, 16. Januar 1727, zit. bei: Jörg Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Organs (1715-1723), Berlin 2004, 233, Anm. 130, über Conrad-Alexandre de Rottembourg (16841735), Gesandter in Preußen 1714-1720 und 1725 bis 1728, ebd., 453-455. „Et ä mesure qu'il [der Gesandte, S.E.] s'instruit de l'Etat et de la Cour et des affaires oü il se trouve; il doit en faire le recit par ses depeches, y marquer la situation des esprits de ceux qui y ont le principal credit et des Ministres avec qui il traite, leurs attachemens, leur passions, et leurs interets, s'etudier ä les representer d'une maniere si claire et si ressemblante, que le Prince ou le Ministre qui re9oit ses depeches puisse connoitre aussi distinctement Γ etat des choses dont il lui rend compte, que s'il etoit lui meme sur les lieux." Francois de Callieres, De la maniere de negocier avec les souverains, Amsterdam 1716, 191.
D A S PREUßENBILD DER FRANZÖSISCHEN DIPLOMATIE ZUR ZEIT LUDWIGS X V .
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bourg und seine „Diplomaten-Kollegen" erfüllten ihre Pflicht, wenn sie beispielsweise Friedrich Wilhelm I. als einfach und Pomp verschmähend, als „mißtrauisch, indiskret, rücksichtslos, wankelmütig und unentschlossen", als „einen beschränkten Geist", mit „wenig Urteilsvermögen" beschrieben. 5 Dies war kein Klatsch, sondern gründete auf ihren Erlebnissen und Beobachtungen aus nächster Nähe. Und Morville zog die Schlüsse, die sich daraus ergaben. Er hoffte, daß der Monarch weiterhin auf den Einsatz seines militärischen Potentials verzichten und es nicht zu Gunsten einer „Partei" einsetzen würde. Angesichts der Verpflichtung der Diplomaten zur peniblen Beschreibung jedweder Begebenheiten eignen sich ihre Depeschen und Relationen hervorragend zur Analyse der frühneuzeitlichen Fürstenhöfe. 6 In Ihnen finden wir zeitgenössische Wahrnehmungen des Systems der Regierungs- und Repräsentationsinstrumente, die so charakteristisch für den Hof der Frühen Neuzeit waren. 7 Das Modell, an dem sich die europäischen Fürstenhöfe seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts orientierten, war natürlich die höfische Gesellschaft im Versailles des Sonnenkönigs. Der perfekt inszenierte Herrschaftsanspruch Ludwigs XIV. wurde gerade von jenen Fürsten aufgegriffen, die - wie Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg nach Standeserhöhung strebten bzw. ihrem neugewonnen Status als Monarch ausdrücklich Geltung verschaffen wollten. Insbesondere der erste Preußenkönig lehnte sich sehr eng an das französische Vorbild an, sei es im Ausbau der „Residenzlandschaft" in und um Berlin, sei es in der Kopie ludovizianischer Kunstpatronage, die auf die Instrumentalisierung der Künste zur Herrscherverehrung abzielte. 8 Doch während im 18. Jahrhundert in Deutschland, in den Worten Friedrichs des Großen, noch „der jüngste Sohn des jüngsten Sohnes einer abgetheilten Linie" sich einbilde „so etwas zu seyn als Ludwig XIV.", der sein „Versailles bauet" 9 , nahm die Entwicklung der höfischen Repräsentation in Brandenburg-Preußen einen anderen Weg. Zwar pflegten Friedrich Wilhelm I. und vor allem sein Sohn Friedrich II. den Ausbau der brandenburgischen Residenzlandschaft durch die Fortsetzung älterer Bauvorhaben oder durch repräsentative Neubauten wie Sanssouci und das den Großmachtanspruch Preußens versinnbildlichende Neue Palais in Potsdam, doch ein wesentliches Merkmal
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Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 232. Auf die Bedeutung der Gesandtenberichte für die Beschreibung der Höfe ein kurzer Hinweis bei: Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit, München 1995, 86. Zur Definition des Hofes siehe ebd., 6-10. Vgl. Thomas Kirchner, Kunst im Dienst des Fürsten. Der Transfer eines kunstpolitischen Konzepts von Paris nach Berlin, in: Uwe Fleckner, Martin Schieder, Michael F. Zimmermann (Hg.), Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Regime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaethgens zum 60. Geburtstag, Bd. 1: Inszenierung der Dynastien, Köln 2000, 67-83. Nie. Machiavel von der Regierungskunst eines Fürsten; Anti-Machiavel oder Versuch einer Kritik, mit Herrn Amelots historischen und politischen Anmerkungen [...], Frankfurt, Leipzig 1745 [ND 2. Aufl. Dortmund 1982], 268.
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der höfischen Kultur, wie sie auch Versailles weiterhin auszeichnete, die Konzentration von Regierung und Repräsentation an einem Ort, entfiel. 10 Der Hof als politisches Zentrum verlor an Bedeutung, es setzte zuerst eine schrittweise, unter Friedrich dem Großen dann immer deutlichere „Entpolitisierung des preußischen Hofes" ein. Damit ist, so Wolfgang Neugebauer, jene vom Soldatenkönig eingeleitete und von seinem Sohn übernommene Praxis gemeint, „daß sich der Monarch und sein unmittelbarer Arbeitsstab aus dem höfischen Kontext zu lösen begann. Die Radikalität, in der dies im Preußen des 18. Jahrhunderts geschah, ist ein Spezifikum im Vergleich zu den Strukturen von Hof- und Regierungsapparat in Österreich oder auch Kursachsen [...] Der Monarch zog sich aus den Ratsgremien und aus dem persönlichen Kontakt mit (hofnahen) Amtsträgern zurück in sein Arbeitsgemach, eben das Kabinett. Der Verkehr wurde ein schriftlicher, gefuhrt mit dem unzeremoniös-knappen Instrument der Kabinettsorder oder des Kabinettsdekrets." 11 Zwar blieben die Höfe erhalten und insbesondere die der Königinnen entwickelten einen gewissen Glanz, doch wer Karriere in Preußen machen wollte, war dort fehl am Platz. Unter Friedrich II. steigerte sich die „politische Einflußlosigkeit" der Berliner Höfe (Geschwister, Königin, Königmutter), und sie wurde eindrucksvoll sichtbar am Vorabend des Siebenjährigen Krieges, dessen Vorbereitung in Berlin weitgehend unbemerkt blieb.12 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie der Prozeß der „Entpolitisierung" von den Diplomaten wahrgenommen wurde, die von Berufs wegen über ein besonderes Gespür für die „höfischen Figurationen" (N. Elias) verfugten. Ausgehend von repräsentativen Äußerungen gilt es, die Perzeption von Hof, Regierung und Staat in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen durch die französische Diplomatie zu skizzieren. Dabei wird auch zu untersuchen sein, ob und wie das, was Oppeln-Bronikowski als „Lüge und Klatsch" bezeichnet, in das Preußenbild der französischen Außenpolitik einfließt.
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Insbesondere die Architektur von Sanssouci verkörpert diesen Verzicht auf höfische Repräsentation nach dem Vorbild des Versailler Schlosses. Der König wollte nicht mehr „als zeremonielles Zentrum des Staates operieren [...] Die Ablösung der prestigeträchtigen Zeremonialfluchten der Großvätergeneration durch Räume, die auf Gartenniveau dem ungezwungenen gesellschaftlichen Beisammensein gewidmet waren, wie z.B. Speiseräume, Musik- und Bilderzimmer, sowie die programmatische Bereitstellung einfacher Unterkünfte im Kernschloß von Sanssouci sollten Friedrichs Lebensstil widerspiegeln." Stephan Hoppe, Was ist Barock?, Darmstadt 2003, 49. Wolfgang Neugebauer, Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen: das 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch fir die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46 (2000), 139-169, 149-150. Ebd., 158.
D A S P R E U ß E N B I L D DER FRANZÖSISCHEN D I P L O M A T I E ZUR Z E I T L U D W I G S X V .
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II. Auch wenn Frankreich die preußische Königswürde erst im Frieden von Utrecht anerkannte, waren die politischen Kontakte zwischen Versailles und Berlin nach 1700 nie vollständig abgerissen. 13 Dazu hatte das Kurfürstentum seit den 1680er Jahren eine zu bedeutende Position als mittlere Macht im europäischen Staatensystem gewonnen. Noch vor dem endgültigen Friedensschluß zwischen dem Reich und Frankreich in Baden, dem auch Friedrich Wilhelm I. als Reichsfürst beitrat, hatten Versailles und Berlin wieder mit der Aufnahme diplomatischer Kontakte begonnen. 14 Frankreichs Interesse, mit Preußen in engere Beziehungen zu treten, rührte vor allem daher, daß der traditionelle Bündnispartner im Ostseeraum, Schweden, erheblich an Macht verloren hatte und die dorthin gezahlten Subsidien den leeren französischen Staatshaushalt zusätzlich belasteten. Preußen erschien Versailles als ein geeigneter Ersatz.15 Frankreichs Belange in Preußen vertrat zwischen 1714 und 1720 sowie von 1725 bis 1727 Conrad-Alexandre de Rottembourg (1684-1735), dessen Vorfahren aus Brandenburg stammten und der eigentlich, nach dem Ausscheiden aus dem französischen Militärdienst, beschlossen hatte, in preußische Dienste zu treten. Nachdem ihn Friedrich Wilhelm I. 1714 nach Versailles zu Gesprächen mit dem französischen Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten, Colbert de Torcy, gesandt hatte, beauftragte ihn dieser wiederum mit der interimistischen Wahrnehmung der französischen Interessen in Berlin. Als Torcy jedoch niemanden fand, der bereit gewesen wäre, den Posten in Brandenburg zu übernehmen, wurde Rottembourg zum außerordentlichen Gesandten Frankreichs ernannt. Dies war durchaus eine kluge Entscheidung, denn Rottembourg sprach deutsch und verfügte bereits über gute Kontakte an den Berliner Hof und in die Regierungskreise.' 6 Nebenbei sei angemerkt, daß Rottembourg Förderer des Malers Jean-Simeon Chardin war und daß sein Neffe und Erbe, Rudolphe-Frederic (17101751) in preußische Dienste trat und Friedrich den Großen bei der Erweiterung seiner Gemäldesammlung beriet.17 13
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Vgl. die Bemerkungen hierzu bei: Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 196-199; Ernst Opgenoorth, Zur französischen Sicht auf die preußische Rangerhöhung, in: Heide Barmeyer (Hg.), Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, Frankfurt (etc.) 2002, 143-153, 144-151. Siehe auch: Linda Frey, Franco-Prussian Relations 1701-1706, in: Proceedings of the Annual Meeting of the Western Society for French History 3 (1975), 94-106; Linda und Marsha Frey, Le Roi-Soleil et le singe, Louis XIV and Frederick I.Franco-Prussian Relations 1707-1713, in: Proceedings of the Annual Meeting of the Western Society for French History 6 (1978), 14-21. Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 197. Ebd., 203. Ebd., 199-200. Pierre Rosenberg, „ Vits avec beaucoup de plaisir". Chardin und Deutschland, in: Uwe Fleckner, Martin Schieder, Michael F. Zimmermann (Hg.), Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche
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Die fundamentale Zäsur, die der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. (25. Februar 1713) bedeutete, war der französischen Regierung schon vor dem Beginn der Berichterstattung Rottembourgs eindringlich geschildert worden. Der französische Resident in Kopenhagen, Poussin, der Preußen als Sekretär des französischen Gesandten Rebenac in den 1680er Jahren kennengelernt hatte und sich alter Kontakte sowie der Auskünfte des preußischen Vertreters am dänischen Hof bediente, deutete bereits früh einschneidende Maßnahmen des Nachfolgers an: Der neue Kurfürst sei Feind jeglichen Prunkes und werde wohl, anstatt abzurüsten, soweit es die finanziellen Mittel gestatten, den Aufbau einer großen Armee vorantreiben. Knapp drei Wochen nach dem Regierungswechsel schrieb Poussin: „Dieser Fürst wird an allen Ecken und Enden sparen wollen [...] Es ist bereits eine große Reform am Berliner Hof durchgeführt worden. Die Mehrzahl der Pensionen sind gestrichen und die Gehälter der Minister sowie der Hof- und Kanzleibeamten um mehr als die Hälfte gekürzt worden. Die bislang 24 Kammerherren und die etwa ebenso zahlreichen Kammerjunker sind auf jeweils sechs reduziert worden. Durch diese Reform, Monseigneur, die auf alle Bereiche ausgedehnt werden soll, sowie die Streichung der Hoftafeln und allem anderen Überflüssigem will der Fürst die Finanzen sanieren und seine Armee auf 50 000 selbst im Frieden zu unterhaltene Mann aufstocken. Er meint sich damit mehr Ansehen verschaffen zu können, als durch Pomp und Pracht." 18 Poussin war die Relation zwischen öffentlicher Zurschaustellung höfischen Prunkes und überregionaler Reputation bewußt, und er erkannte, daß Friedrich Wilhelm I. neue Wege zur Steigerung der Achtung seines Staates gehen wollte. Dabei verzichte der nur dem Militär zugetane König, so Poussin, in seiner Mißachtung der Wissenschaften, der Künste, der Manufakturen und des Handels auf alles, was einem Staat zum Glänze oder
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Kunst vom Ancien Regime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaethgens zum 60. Geburtstag, Bd. 1: Inszenierung der Dynastien, Köln 2000, 194-208, 194-200. Erstaunlicherweise erwähnt Rosenberg Rottembourgs Berliner Jahre nicht. „Ce prince voudra epargner sur tout [...]. II s'est dejä fait une grande reforme ä la cour de Berlin. La pluspart des pensions ont ete retranchees, et les apointemens des ministres et des officiers de la cour et de la chancellerie diminuez de plus de moitie. Les chambellans qui etoient au nombre de vingt quatre, et les gentilhommes de chambre, ä peu prez de meme nombre, sont les uns et les autres reduits ä six. Par cette reforme, Monseigneur, qui doit etre generale, et par le retranchement des tables de la cour et des autres superfluitez, le nouveau prince veut retablir ses finances et augmenter ses troupes jusqu'ä cinquante mille hommes qu'il entretiendra meme durant la paix, croyant par-lä se rendre plus considerable que par la pompe et la magnificence." Depesche Poussins vom 14. März 1713 an Torcy, Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 230 (Übersetzung von Ulbert). Über die hier beschriebenen Maßnahmen ausfuhrlich: Ernst Hinrichs, Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms /., in: Ders. Friedrich Wilhelm I. König in Preußen, Bd. 1, ND Darmstadt 1968,719-766, 727-738.
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zur Blüte gereichen könne. Es habe den Anschein, er wolle aus allen Untertanen Soldaten machen. 19 Im Mittelpunkt der Berichte Rottembourgs standen die Persönlichkeit Friedrich Wilhelms I. und der von ihm verfolgte Umbau des preußischen Staatswesens zu einem Militärstaat. Höfische Intrigen, Hofleben oder höfische Feste kamen darin kaum vor, sie fanden ja auch nicht statt. Betonten die Gesandten immer wieder die Mißachtung des Soldatenkönigs für das höfische Zeremoniell 20 , so hat es den Anschein, daß seine Vorliebe für die Paraden der Garderegimenter und der „Langen Kerls" höfischen Prunk und Lustbarkeiten ersetzte: „Dieser Fürst kennt keine andere Freude, als die, seinen Truppen zuzusehen" schrieb Rottembourg 1716.21 Nachdem Frankreich mit Preußen 1716 eine Allianz geschlossen hatte22, hielt sich Rottembourg mit scharfen Kommentaren zurück, gab diese Zurückhaltung aber während seiner zweiten Mission und nach dem Auslaufen des Bündnisses auf. Jetzt schilderte er die oben erwähnten Gewaltausbrüche des Königs, die Morville zu dem Ergebnis kommen ließen, daß ein geistesgestörter König mit dieser Militärmacht eine Gefahr für den Frieden darstellen könnte. Dies bestätigte auch der Nachfolger Rottembourgs, Michel, der aber zugleich auf die wachsende militärische Macht Preußens hinwies. 23 Über all dem Kopfschütteln angesichts eines scheinbar verrückten Monarchen übersah man aber nicht dessen Leistung als innerer Reformer. Man darf daher nicht folgern, daß das ins Groteske gesteigerte Bild Friedrich Wilhelms I. zu einer Fehlperzeption des Machtpotentials Brandenburg-Preußens durch die französische Diplomatie gefuhrt hat.
III. Die Verbundenheit Friedrichs des Großen mit der französischen Kultur der Lumieres und ihren Protagonisten korrespondierte nicht mit einer ähnlichen Symbiose auf politischer Ebene. 24 Den Einmarsch in Schlesien 1740 betrachtete man in Versailles mit einer 19
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Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 231, Anm. 124: „N'estimant que le gens de guerre, il meprise egalement les sciences, les arts, les manufactures, le commerce et tout ce qui peut ou polir un Etat ou le rendre florissant. II semble qu'il voudroit faire des soldats de tous ses sujets." Ebd., 232, Anm. 128. Ebd., 252, Anm. 216. "
Uber das Bündnis von 1716 siehe: Klaus Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einßuß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der frühen Neuzeit, Marburg 1994, 350-356; vgl. auch Ders., Friedrich Wilhelm I. und Frankreich. An- und Einsichten in ein Verhältnis, in: Friedrich Beck, Julius H. Schoeps (Hg.), Der Friedrich Wilhelm I. in seiner Zeit, Potsdam 2003, 271-313. 23 Soldatenkönig. Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 253. 24 „Le Roi de Prasse aime les ouvrages d'Esprit de la France et sa langue [...] mais il ne faut pas conclure de lä qu'il aime la France", so der sardische Gesandte in Dresden Marquis d'Aigueblanche über Friedrich II. 1752, Johannes Schultze, Ein Bericht des sardinischen Gesand-
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Mischung aus Empörung und heimlicher Bewunderung angesichts der Zielstrebigkeit des jungen Königs.25 Zwar verbündete sich Frankreich 1741 mit dem Preußenkönig, doch erwies sich dieser in den Augen der Franzosen nicht als zuverlässiger Partner.26 Gleichwohl blieb die französisch-preußische Entente auch über den Aachener Frieden hinaus bestehen. Für Preußen und fur Friedrich begann 1748 eine kurze Epoche eines latent gefährdeten, gleichwohl idyllischen Friedens.27 Betrachten wir nun, wie die französischen Gesandten über diese Epoche berichtet haben. Nach der Abberufung des Marquis de Valory, der Frankreichs Gesandter in Preußen während des Österreichischen Erbfolgkrieges war, traf am 22. März 1750 der irischstämmige Offizier Richard Talbot, Graf Tyrconnel in Potsdam ein. Tyrconnel hatte am Aufstand des Stuartprätendenten teilgenommen und schied im Range eines marechal de camp aus der Armee aus, um seine neue Aufgabe zu übernehmen.28 Die Bewunderung seines Vorgängers Valory für den Preußenkönig teilte er nicht, was mit ein Grund für seine Berufung war.29
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ten in Dresden Marquis d'Aigueblanche über König Friedrich II. und seinen Staat 1752, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte 54 (1943), 139-147, 145. Ausfuhrlich dargestellt wird die Perception Preußens unter Friedrich dem Großen durch die französische Diplomatie in meiner Marburger Habilitationsschrift Von Friedrich dem Großen zu Maria Theresia. Deutschlandbild und Entscheidungsprozesse in der Außenpolitik Frankreichs im Siebenjährigen Krieg (1755-1763), erscheint Berlin 2006. „Enfin il a execute son projet avec une celerite incroyable, il a compris les avantages qu'il trouvoit ä prevenir tout le monde parce que personne ne voudroit le croire, il a senti que Γ Europe depuis quelque tems est accoutumee ä des demarches trop reguliere pour ajouter foy ä la sienne, et il a si vite est si distinctement connu la constitution des affaires de l'Europe qu'il a bien vü qu'il ne pouvoit pas manquer d'ailleurs dans la conjoncture presente, quelque revolte qu'on puisse etre contre son procede." AAE MD Prusse 2, fol. 164r-187r. Der Titel des Memorandums - „Anecdotes sur le roi de Prusse" - ist irreführend: Zwar enthält das Schriftstück (entstanden ca. 1740-1742) - zahlreiche Anekdoten, der zweite Teil besteht aus einer ausführlichen Diskussion über den Nutzen einer preußisch-französischen Allianz. Zum Österreichischen Erbfolgekrieg zuletzt: Matthew Smith Anderson, The War of the Austrian Succession 1740-1748, London, New York 1995; Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785, Paderborn usw. 1997, 303-318. Dargestellt bei Reinhold Koser, Vom Berliner Hofe um 1750, in: Hohenzollern-Jahrbuch 7 (1903), 1-37 und zuletzt bei Johannes Kunisch, Friedrich der Grosse. Der König und seine Zeit, München 2004, 251-328. Reinhold Koser, Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft zu Berlin 1746-1756, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 6 (1893), 451-481; 7 (1894), 7196, 73. Ebd. 481; Recueil des instructions donnees aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traites de Westphalie jusqu 'ä la Revolution frangaise, Bd. 16: Prusse, hg. v. Albert Waddington, Paris 1901, 410. Daß während der Anwesenheit Tyrconnels Friedrich ebenfalls einen Jakobiten zum preußischen Gesandten in Paris ernannte, belegt wohl nicht nur die antibritische Entente zwischen den beiden Staaten, sondern auch sein Gefühl für symbolische Handlungen. Voltaire bemerkte dazu: „C'est d'ailleurs une assez bonne epigramme contre le roi George, que deux braves rebelles de chez lui, ambassadeurs en France et et en Prusse", Voltaire, Correspondance choisie, hg. v. Jacque-
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Tyrconnels Beobachtungen der ersten Monate am preußischen Hof flössen ein in ein im Dezember 1751 nach Versailles geschicktes, umfangreiches Tableau de la Cour de Berlin (das seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder zitiert wird), in dem er den König, dessen Familie und die bedeutendsten Minister porträtierte. 30 Exemplarisch schildert er darin die Janusköpfigkeit Friedrichs des Großen, sein „Königtum der Widersprüche" (T. Schieder): „Der König von Preußen besteht aus lauter Gegensätzen. Er liebt die Größe, den Ruhm und alles, was seine Reputation im Ausland vergrößern kann. Trotzdem ist er der schüchternste und unentschlossenste Mensch, ohne einen Funken Mut und Nerv." 31 Tyrconnel glaubte, in Friedrich einen Hang zum Müßiggang und zur Faulheit wie auch eine Abneigung gegenüber dem Militärischen zu entdecken, dem der König jedoch durch Pflichtgefühl und eiserne Selbstdisziplin begegne. An allen Detailfragen der Armee nehme der König persönlich Anteil. Dies beruhe letztlich auf der Einsicht, so Tyrconnel, daß Preußen einzig durch seine Armee eine gewisse Reputation in Europa besitze. Gehorsam und Disziplin fordere Friedrich nicht nur von seinen Soldaten und Offizieren, sondern auch von seinen Brüdern. 32 Präzise beschrieb der französische Gesandte den Regierungsstil Friedrichs des Großen: Von Mißtrauen und Unbehagen gegenüber seinen Mitmenschen geprägt, halte er alle Regierungsgeschäfte in seiner Hand und täusche sogar seine eigenen Minister. Der Diplomat warnte davor, Friedrich zu vertrauen. Der Umgang mit ihm werde durch seinen unberechenbaren Charakter erschwert. Dem Diplomaten, dem das Gespräch als wichtigstes Instrument zur Informationsbeschaffung diente, war es beinahe unmöglich, Friedrich II. Geheimnisse oder glaubwürdige Aussagen über seine Absichten zu entlocken. Trotz seiner Schwatzhafitigkeit gelinge es nie, auf den wahren Grund seiner Äußerungen vorzustoßen und Plauderei und Kompliment von seinen tatsächlichen Auffassungen zu scheiden. Doch bei all den Schwächen, die der Gesandte am König beobachtete, bestritt er ihm nicht seine herausragende Intelligenz. Tyrconnel bestätigte damit Beobachtungen, die dem Außenministerium seit den 1740er Jahren vorlagen. Schon kurz nach der Thronbesteigung
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line Hellegouarc'h, 2. Aufl. Paris 1997, 271. Über Valory siehe Koser, Vom Berliner Hofe (wie Anm. 27), 15-16. Friedrich II. schrieb über Valory sogar ein „Heldengedicht", Koser, Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft (wie Anm. 28), 480. AAE MD Prusse 2, fol. 207 r -212 r , „Tableau de la cour de Berlin", Dezember (?) 1751, von Tyrconnel, Kopie. Tyrconnels „Tableau" liegt gedruckt vor bei: Koser, Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft (wie Anm. 28), 88-95; in Auszügen zuletzt ediert von: Otto Bardong, (Hg.), Friedrich der Große, Darmstadt 1982, 554-555. „Le roi de Prusse est compose de tous les contraires. II aime la grandeur, la gloire, et surtout dans les choses qui peuvent qui peuvent augmenter sa reputation dans les pays etrangers, malgre cela il est l'homme du monde le plus timide, le plus indecis, et qui a le moins de courage d'esprit", AAE MD Prusse 2, fol. 207 r ; Koser, Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft (wie Anm. 28), 88 (mit Fehlern). Übersetzung nach: Bardong, Friedrich der Große (wie Anm. 30), 554. AAE MD Prusse 2, fol. 207 r .
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hatte man Friedrichs Unberechenbarkeit bemerkt und zugleich mit Besorgnis festgestellt, daß dies einher ging mit einem „esprit de premier ordre".33 Die Bemerkungen über die königliche Familie dokumentieren eindrucksvoll deren Ausschluß von der Regierung. Prinz August Wilhelm, den Thronfolger, beurteilte Tyrconnel als schüchtern und tapfer, weit entfernt davon, über die Talente seines Bruders zu verfügen.34 Prinz Heinrich, der sich im Siebenjährigen Krieg als fähiger General bewähren sollte, charakterisierte er als absolut unmilitärisch, jedoch luxusliebend und arrogant, vom großen Bruder immer wieder zurückgesetzt.35 Gleiches gelte, so der Franzose, auch für die Frauen am Hofe, die ohne jeglichen Einfluß seien, wenngleich etwa Friedrichs Schwester Amalie nachgesagt werde, sie könne eines Tages, sollte ihr jüngerer Bruder die Regierung übernommen haben, versuchen, Einfluß auf Entscheidungen zu nehmen.36 Immer wieder wiesen die Gesandten auf die vollständige Entfremdung zwischen König und Königin hin. Einzig die Königinmutter, so der Herzog von Nivernais, der 1755 als Sondergesandter nach Berlin kam, verfüge über einen veritablen Hof.37 Wenngleich Tyrconnel und seine Kollegen die für solche diplomatischen Schriftstücke üblichen Porträts der Angehörigen des Königs und seiner Minister erstellten, so ist doch zu konstatieren, daß man sich im französischen Außenministerium immer mehr auf die Persönlichkeit des Monarchen konzentrierte und zwar stärker als bei anderen deutschen Fürsten der Epoche. Hierin spiegeln Tyrconnels Tableau und andere Berichte 33 34
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Ebd., fol. 178r. Ebd., fol. 208 v -209 r : „Le Prince Royal de Prusse est timide d'esprit et brave de sa personne; il n'aura ni les talens ni la sagacite du Roy son Frere pour tout ce qui concerne les affaires, son esprit et tant lent et foible. L'art militaire est le seul objet sur lequel il soit penetrant et dont il decidera avec justesse et avec connoissance. Son coup d'ceil dans cette partie est presque toujours juste et Ton peut dire qu'il est ne bon officier et qu'il se perfectionne chaque jour par l'etude qu'il fait de cet art. C'est aussi le seul objet sur lequel il ne se laissera pas conduire et quoiqu'il soit dur, insensible et faux, il y a apparence, qu'il ne se decidera sur tout le reste de ce qu'il aura ä faire, que par les avis de celui qui sans aucunes pretentions aupres de lui, aura su gagner sa confiance." Ebd., fol. 209 r v: „Le Prince Henry second Frere du Roi de Prusse, a les moeurs plus douces que les Princes ses Freres; son caractere est plus tranquille; il est complaisant generalement et magnificence est sa seule passion. [...] Ce Prince n'a aucun goüt pour Γ etat Militaire, le luxe de sa cour ferait une de ses principales occupations." Koser, Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft (wie Anm. 28), 83 (aus einer Depesche Tyrconnels vom 18. April 1754). AAE MD Prusse 2, fol. 209 v : „La Princesse Amelie Sceur du Roy de Prusse pourroit aussi influer sur la conduite du prince Royal, s'il venoit un jour ä regner; eile est hardie, entreprenante, et emploieroit tous les moiens possible pour acquerir quelque autorite." Über Amalie siehe auch die Bemerkungen bei Koser, Vom Berliner Hof (wie Anm. 27), 26-27. Zur Demütigung der Königin schon ebd., fol. 171r. Nivernais über König und Königin 1756: „La reine regnante ne vient jamais ä Potsdam, eile vit ä Berlin oü eile tient sa cour. Frederic exige qu'elle soit parfaitement servie et ne permettrait point qu'on lui manquät en aucune maniere, mais il ne la voit guere que chez la reine douairiere pour laquelle il a les plus grands soins et les plus grandes attentions. En realite eile tient seule une cour." Zit. nach: Lucien Perey, Un petit-neveu de Mazarin. Louis Mancini-Mazarini, due de Nivernais, Paris 1890, 380-381.
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die „Entpolitisierung" des preußischen Hofes, wie sie etwa sichtbar wird in Rolle der Minister als einfache „Beamte" (commis des secretaires), die die Weisungen des Monarchen auszuführen haben. So heißt es über Podewils, er sei „erster Minister des Staates und des Kabinetts, der, obwohl er das Vertrauen des Königs von Preußen genießt, sehr oft von diesem Fürsten im Hinblick auf das Wissen um die Staatsangelegenheiten getäuscht wird."38 Schaltstelle der Regierung sei, so stellte Tyrconnel fest, das Kabinett, und dort habe [neben dem Staatssekretär Vockerodt39] einzig der Kabinettssekretär Eichel Kenntnis von den Verhandlungen des Königs.40 Jener Eichel aber sei für die Gesandten unsicht38
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AAE MD Prusse 2, fol. 210 r : „Le Comte de Podewiltz Premier ministre d'Etat et de Cabinet, quoique possedant la confiance du Roi de Prusse est souvent trompe par ce Prince sur la connaissance des affaires." Über Podewils siehe Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 56 Bde., Leipzig 1875-1912 [ND Berlin 1981], Bd. 26, 344-351; Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bislang 20 Bde., Berlin 1953-2001, Bd. 20, 556-557. Vgl. auch AAE MD Prusse 2, fol. 174v-175r: „II y apparence qu'on ne consultera jamais personne que pour apprendre, en questionnant des details qu'on ignore, et pour se determiner ensuite par soi-meme, on ne regardera done jamais les Ministres que commis des secretaires, le generaux comme des aides de camp, et les gens de finances comme des receveurs." Zum preußischen Kabinettsministerium siehe: Wolfgang Neugebauer, Das preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fürstlichen Zentralsphäre in der Zeit des Absolutismus, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 44 (1993), 69-115; und Ders., Potsdam - Berlin. Zur Behördentopographie des preußischen Absolutismus, in: Bernhard R. Kroener (Hg.), Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte, Frankfurt, Berlin 1993, 273-296, 280-286. Über Vockerodt: Walther Hubatsch, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung, Köln, Berlin 1973,229. AAE MD Prusse 2, fol. 21 l r : „c'est le seule personnage qui connoisse toutes les affaires qui traite sa Maieste prussienne." Über August Friedrich Eichel ( t 1768) und seine Bedeutung als engster Vertrauter Friedrichs vgl.: Otto Hintze, Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung beim Regierungsantritt Friedrichs II. (= Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung 6, 1), Berlin 1901, 63-64; Johannes Schultze, August Friedrich Eichel, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 5, Magdeburg 1930, 86-102 sowie ergänzend Ders., Die Herkunft August Friedrich Eichels, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 46 (1934), 194-195; Hubatsch, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung (wie Anm. 39), 224-225; Hamish M. Scott, Prussia 's Royal Foreign Minister: Frederick the Great and the Administration of Prussian Diplomacy, in: Robert Oresko, Graham C. Gibbs, Hamish M. Scott (Hg.), Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton, Cambridge 1997, 500-526, 513-514. Vgl. hierzu auch die Bemerkungen Aigueblanches, in: Schultze, Ein Bericht (wie Anm. 24), 146; Gustav Bertold Volz, Ein österreichischer Bericht über den Hof Friedrichs des Großen [1763], in: Hohenzollern-Jahrbuch 11 (1907), 270-274, 272-273: „Le Roi toujours retire a Potsdam ou SansSouci, ne se communique qu'ä peu de personnes choisies qu'on peut considerer comme des prisonniers d'Etat, puisqu'elles n'ont aueun commerce avec le reste de la cour et de la ville; faisant d'ailleurs tout par lui-meme. Ce secret du cabinet est et sera impenetrable, tant qu'il vivra. Ses deux ministres du departement des affaires etrangeres, Finckenstein et Hertzberg, ne font
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bar, j a aus seiner Existenz w e r d e geradezu ein G e h e i m n i s gemacht. H o f f t e m a n während der Regierung Friedrich W i l h e l m s I. noch, über B e s t e c h u n g v o n Ministern (Ilgen) Einfluß auf den K ö n i g z u erhalten 4 1 , so war dies nun nicht mehr m ö g l i c h . Daher hatten die Diplomaten große Schwierigkeiten, zuverlässige Informationen über Friedrichs Pläne zu erhalten. D a s direkte Gespräch mit ihm erfordere viel Fingerspitzengefühl, so Tyrconnel. 4 2 Ein weiterer U m s t a n d erschwerte den Zugang z u m K ö nig: D a er sich die meiste Zeit in Potsdam aufhielt, die Gesandten aber in Berlin w o h n ten 43 ,
ergab sich die M ö g l i c h k e i t
z u m direkten Gespräch
nur bei
den
seltenen
Aufenthalten Friedrichs in Berlin oder bei Einladung der Gesandten nach Potsdam. A l s Tyrconnel überraschend a m 12. März 1752 verstarb ( w i e sein Freund La Mettrie liebte er reichliches E s s e n und Trinken 4 4 ), wurde er durch den Chevalier de La T o u c h e ersetzt. 45 D e s s e n Korrespondenz mit dem Außenministerium bestätigt i m w e s e n t l i c h e n das Bild, das seine Vorgänger v o m preußischen H o f entworfen hatten. N o c h w e n i g e r
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guere que la fonction d'un commis des partes: tout ce qu'on leur propose, ils le prennent ad referendum, et la reponse est toujours rendue par eux telle qu'elle arrive du Roi; moyennant quoi il n'y a pas beaucoup ä negocier avec eux." Die Aufforderung an Rottembourg, zu versuchen, über Geldzahlungen preußische Minister für die französischen Interessen zu gewinnen in: AAE CP Prusse 51, fol. 3Γ-34 ν , Ludwig XV. an Rottembourg, Paris 27. Januar 1716, fol. 34r v: „Comme il paroist que l'inconstance naturelle du roy de Prusse et ses variations ne sont pas le seul, ny peut-etre le principal obstacle qui s'oppose au succez des liaisons qu'il a souvent paru rechercher avec ma couronne, et que l'interest particulier de ses ministres a eu beaucoup de part aux partys qu'il a pris, vous examinerez par la connoissance que vous avez de ceux qui ont la principale confiance de ce prince, si Ton pouvoit par des pensions annuelles proportionnees a leur credit et au rang qu'ils tiennent, aussy bien qu'aux services qu'ils rendroient, les engager a etre favorables a mes interets, et vous m'informerez de ce que vous penserez sur ce sujet, des moyens que vous auriez de faire reussir cette veue et du succez que j'en pourrois esperer." Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 205-224; zur Bestechung Ilgens siehe auch Ders., Der Leiter der preußischen Außenpolitik Heinrich Rüdiger von Ilgen (1654-1728) als Informant der französischen Diplomatie. Anwerbung -Bezahlung Gegenleistung, in: Sven Externbrink, Jörg Ulbert (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift Klaus Malettke, Berlin 2001, 273-296. AAE MD Prusse 2, fol. 208 v . Vgl. hierzu: Neugebauer, Potsdam - Berlin (wie Anm. 38), 276. Vgl. Voltaire, Correspondence, hg. v. Theodore Besterman, Genf 1968-1977, Bd. 12, 226, D. 4516, Voltaire an Le Baillif, Potsdam 6. Juli 1751 und an den Herzog von Richelieu, 14. März 1751, ebda., 446-447, D 4833, 446: Tyrconnel „etait le second gourmand de ce monde, car la Mettrie etait le premier. Le medecin et le malade se sont tuez pour avoir era que dieu a fait l'homme pour manger et pour boire. Iis pensaient encor que dieu l'a fait pour medire. Ces deux hommes fort differents d'ailleurs Tun de l'autre n'epargnaient pas leur prochain. Iis avaient les plus belles dents du monde et s'en servoient quelques fois pour dauber les gens, et trop souvent pour se donner des indisgestions." Über Tyrconnel siehe auch: Reinhold Koser, Voltaire und die „ Idee de la cour de Prusse", in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 6 (1893), 141-180, 157, 160164. Recueil des instructions: Prusse (wie Anm. 29), 443.
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als ihnen gelang es La Touche, Informationen über die Pläne Friedrichs in Erfahrung zu bringen. Je mehr sich die politische Lage in Europa seit 1755 zuspitzte, desto mehr verschloß sich Friedrich dem Gesandten seines Bündnispartners. La Touche blieb nur die aufmerksame Beobachtung der Reformen des Königs und des Ausbaus der preußischen Militärmacht. 46 Er berichtete über den persönlichen Hofstaat Friedrichs und selbstverständlich auch über den Aufenthalt Voltaires. 47 Den Freundeskreis Friedrichs des Großen, in dem sich bekannte Autoren und Freigeister versammelten, verurteilte La Touche als eines Königs nicht würdig: „Angesichts derer, die den König umgeben, scheint mir, Monseigneur, daß dieser Fürst mehr Wert darauf legt, die Anzahl der Fremden zu erhöhen als sie gut auszuwählen. Beleg dafür sind die Voltaire, Algarotti, Pöllnitz, die Abbes Bastiani und De Prades, wie auch d'Argens, der hypochondrische Philosoph, die den Hof in Potsdam und Sans Souci bilden, wo die Leere, die M. de Voltaire trotz seiner Charakterschwächen in den Vergnügungen des Königs hinterläßt, bedauert wird."48 La Touches kritischem Blick blieb auch nicht verborgen, daß der König - selbst wenn das Gegenteil behauptet wurde - die Tafelrunde von Schloß Sanssouci in Potsdam kontrollierte und bestimmte, wie weit seine Gäste gehen durften. 49 Sogar einige der treuesten Anhänger Friedrichs seien bereit, berichtete La Touche, zurück nach Frankreich zu gehen - wenn es ihnen möglich wäre, in Preußen angelegte Gelder auszulösen. 50 46 47
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AAE CP Prusse 171, fol. 147 r -150 v , La Touche an Saint-Contest, Berlin 27. Februar 1753. Voltaire war im übrigen bemüht, sich der Hilfe Ludwigs XV. zu versichern: „M. de Voltaire aussy humilie qu'embarasse m ' a prie de vous faire parvenir le memoire cy-joint qui contient en mots son avanture [...] Ce celebre academicien m'a remis une cassette et des papiers cachettes et paroit determine ä quitter pour toujours Berlin, pour retourner ä jamais en France. [...] Si cet evenement a des suittes et que Μ. de Voltaire reclame la protection du Roy en qualite de gentilhomme ordinaire de sa Majeste, je vous prie de me donner vos ordres pour la conduite que je dois tenir ä son egard", AAE CP Prusse 168, La Touche an Saint-Contest, 30. Dezember 1752, fol. 334 r -337 r , fol. 334 1 335 r . AAE CP Prusse 171, 336 r -337 v , La Touche an Saint-Contest, 8. Juli 1753, fol. 336 v -337 r : „II me paroist, Monseigneur, par tout ce qui entoure le roy de Prusse, que ce prince est plus attentif ä augmenter le nombre d'etrangers qu'ä les bien choisir. Temoin les Voltaire, Algarotti, Poelnitz; les abbes Bastiani et de Prades, et d'Argens le philosophe hypocondriaque, qui forment la cour de Potsdam et de sans souci, oü Mr. de Voltaire malgre les deffauts de son cceur, est regrette par le vide qu'il laisse dans les amusements de sa Majeste prussienne." Zusammenfassend zur Tafelrunde: Kunisch, Friedrich der Grosse (wie Anm. 27), 300-328. Dies verdeutlicht nicht zuletzt der Konflikt zwischen Voltaire und Maupertius: Jean Orieux, Das Leben des Voltaire, Frankfurt 1985, 480-527 und vor allem: Christine Mervaud, Voltaire et Frederic II: une dramaturgie des Lumieres 1736-1778, Oxford 1985, 181-260; Auszüge aus der Korrespondenz La Touches bei: Andre Magnan, Dossier Voltaire en Prusse, Oxford 1986, 318, 321, 325-326, 345,353,361-363. AAE CP Prusse 174, fol. 27 r -33 v , La Touche an Saint-Contest, 2. Februar 1755, fol. 31 v -32 v : „Je sais, Monseigneur, que tout particulier se trouve flatte de l'espece de familiarite ä laquelle le Roy de Prusse admet facilement les personnes qu'il veut s'attacher; mais Γ experience nous a fait voir
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Diese insgesamt kritische Beurteilung des Preußenkönigs durch die Diplomaten stand im deutlichen Gegensatz zur Verehrung Friedrichs in der literarischen Öffentlichkeit Frankreichs. 51 Darüber hinaus beobachtete man scharf seine Regierungspraxis, wobei natürlich die preußische Militärmacht im Vordergrund stand. Die Gesandten lieferten umfangreiche Berichte ab, die im französischen Außenministerium dann in Denkschriften eingearbeitet wurden und gleichsam ein Gegengewicht zu den oft impressionistisch wirkenden Depeschen bilden. 52 In der Betrachtung der preußischen Regierung hob man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr das Werk Friedrich Wilhelms I. positiv hervor. 53 Die Erfolge Friedrichs II., so konstatierte man, waren nicht möglich ohne die Reformen des Vaters. Dessen früher ins Lächerliche gezogene Vorliebe für das Militär wurde nun Respekt gezollt: „Dieser Fürst [Friedrich Wilhelm I.] erhöhte die Stärke seiner Truppen auf über 80 000 Mann, ohne daß jemand dies bemerkte. Dieses wundersame Wachstum erfolgte Schritt für Schritt und man hielt seine Vorliebe für große Soldaten für lächerlich, und machte darüber Witze, ohne zu bedenken, daß er im selben Augenblick Geld zusammentrug und alles Notwendige, um einen langen Krieg durchzustehen [...] So wurde diese neue Macht in Europa geboren, die in den Händen des Sohnes derart furchteinflößend wurde, daß sie allerhöchster Aufmerksamkeit bedarf." 54 Damit verschwand das Bild des „verrückten roi-sergeant", der jetzt dargestellt wurde als fähiger, über unerhörte Detailkenntnis verfugender Administrator seines Reiches. Die Kürzungen im Hofstaat, die Poussin noch als Verzicht auf die unerläßliche Außen-
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jusqu'ä present qu'aucun etranger n'a pu soutenir l'esclavage de Potsdam, ä la reserve du Marquis d'Argens, que son mariage avec une Soubrette de comedie, dont la sceur danse encore aujourd'huy sur le theatre de Berlin, retient ä Potsdam malgre les degoüts qu'il est oblige ä essuyer. M. de Maupertuis meme n'y tiendroit pas s'il voyoit un moyen de faire passer en France la somme de 80 mille livres qu'il a ete oblige de placer sur les Etats du Roy de Prusse pour assurer le doüaire ä son epouse." Vgl. hierzu: Stephan Skalweit, Frankreich und Friedrich der Grosse. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des „ ancien Regime ", Bonn 1952. Ζ. Β. AAE MD Prusse 2, fol. 263r-273r: „Memoire sur Γ administration du Roy de Prusse" [1753], möglicherweise von La Touche; AAE MD Prusse 2, fol. 201r-206r, „Gouvernement de Prusse" 1751; AAE MD Prusse 4, fol. 188r-219v: „Observations sur la constitution militaire et politique des armees de Sa Mate Prussienne avec quelques anecdotes de la vie privee de ce Monarque", [1775]; AAE MD Prusse 7, fol. 171r-175r„Royaume de Prusse et Electorat de Brandenbourg 1777." So ζ. B. seine Reformen: „Le Roi se renferma seul avec son Secretaire de Cabinet pendant quelques jours et ce fut lä qu'il fit le plan du Reglement de ses finances; le meilleur je crois qu'il ait eu en Europe." AAE MD Prusse 2, fol. 264r. AAE MD Prusse 2, fol. 179r: „Ce Prince [= Friedrich Wilhelm I.] porta Γ Etat de ses troupes ä plus de 80 000 hommes sans que personne y fit attention. Cette prodigieuse augmentation se fit peu a peu, et passa toujours pour une maniere ridicule d'avoir des grands hommes, dont on se moque, sans penser qu'il amassoit de l'argent en meme tems, et toutes les choses necessaires ä soutenir une longue guerre [...]. De lä, cette Puissance nouvellement nee en Europe, qui devient si redoutable entre les mains du Ills, qu'elle merite la plus serieuse attention."
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darstellung betrachtet hatte, werden jetzt als fortschrittlich, ja sogar als Zeichen eines philosophischen Geistes gedeutet: „Er strich alle unnützen Ausgaben [...] Der Hof spürte dies und litt als erster unter dieser Reform. Er behielt nur die Anzahl von Stellen, die für seine Würde notwendig oder von Nutzen für den Staat waren [...] Er kürzte auch seine eigenen Ausgaben auf eine bescheidene Summe, wobei er sagte, daß ein Fürst sparsam mit den Steuern und den Gütern umgehen müsse. Er war in dieser Hinsicht ein Philosoph auf dem Thron." 55 Und auch die persönliche Lebensführung und Hofhaltung Friedrichs II. erschien auf einmal als vorbildlich in seiner Bescheidenheit und Sparsamkeit. 56 Ob bewußt oder unbewußt wurde so der preußische Hof zum Gegenbild des französischen aufgebaut, der auch unter Ludwig XV. ein Ort prächtiger Zurschaustellung fürstlicher Macht blieb (wenngleich auch mit signifikanten Veränderungen gegenüber Ludwig XIV.). 57 Aber in kritiklose Verehrung schlug auch diese Darstellung nicht um - an anderer Stelle bemängelt der Autor, daß der Kronprinz nicht angemessen auf seine Aufgabe vorbereitet werde. 58 Es sei noch einmal auf die Wahrnehmung der preußischen Militärmacht hingewiesen. Immer wieder berichtete beispielsweise La Touche über die fortwährenden Revuen und Manöver in Potsdam. Memoranden des französischen Außenministeriums enthalten ausführliche Beschreibungen der preußischen Militärverfassung und insbesondere des Kantonsystems. 59 Das Interesse galt der Rekrutierungspraxis und der sprichwörtlichen Disziplin der Truppen, die immer wieder hervorgehoben wurde. Die Konsequenzen der Einführung des Kantonsystems für das Sozialleben blieben nicht verborgen. Die Feststellung, daß jeder preußische Untertan als Soldat geboren werde, mag als früher Beleg für die Wahrnehmung des von Otto Büsch beschriebenen „Prozesses der sozialen Mili-
„II retrancha toutes les depenses inutiles [...] La cour se repentit la premiere de cette reforme, et ne conserva qu'un nombre de personnes necessaires ä sa dignite, ou utiles ä l'Etat [...] II reduisit sa propre depense ä une somme modique, disant qu'un prince doit etre ceconome des taxes et des biens de des sujets. C'etoit ä cet egard un philosophe sur le tröne", AAE MD Prusse 2 fol. 69 r v; Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik (wie Anm. 3), 234, Anm. 131. 56
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AAE MD Prusse 2, fol. 266 v : „Je n'ai jamais vu le roi ni aucun de trois Princes ses freres habilles autrement qu'en bottes et en uniforme, je suis persuade que la garderobe de tous quatre ne coute pas 2 000 ecus ä la fin de l'annee." Zum Hofleben unter Ludwig XV.: Jean-Francois Solnon, La Cour de France, Paris 1987; Bernard Hours, Louis XVet sa cour. Le roi, l'etiquette et le courtisan, Paris 2002. AAE MD Prusse 2, fol. 270 r : „Je ne pretends pas cependant que ce prince est infaillible. Je crois raeme que son systeme a un grand defaut; c'est que tous depend de sa personne; s'il manque tout est dans la plus grande confusion; l'heritier de la couronne ignore absolument tout ce qu'il devoit savoir. [...] D'ailleurs il ne forme point les ministres. Ceux qui en ont le titre n'en sont que de nom. II se fie trop ä ses propres lumieres." Ζ. B. Beschreibung des Kantonsystem in: AAE MD Prusse 2, fol. 266 v -268 r ; AAE CP Prusse 171, fol. 147 r -150 v , La Touche an Saint-Contest, Berlin 27. Februar 1753; AAE CP Prusse 180, La Touche an Rouille, 30. August 1755, fol. 128 r -136 v .
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tarisierung der altpreußischen Gesellschaft" gelten.60 Wenngleich auch die Allgemeingültigkeit des von Büsch gezeichneten Bildes, vor allem die Symbiose von Gutsherrschaft und Kantonsystem, mittlerweile bestritten wird bzw. neuere Forschungen unser Wissen über die Funktionsweise des preußischen Rekrutierungssystems erheblich differenziert und seine Perfektion relativiert haben61, so bleibt doch festzustellen, daß die hier vorliegenden Stimmen zu Recht die Verbindung von effektiver Staatsverwaltung, Aufbau eines Militärstaates und Machtentfaltung Preußens in Europa betonen.
IV. Die zahlreichen im französischen Außenministerium gesammelten „Anekdoten" über die Preußenkönige, die Oppeln-Bronikowski als „Lüge und Klatsch" bezeichnen würde, dienten der Erstellung eines Charakterbildes der Monarchen, das wiederum in die Formulierung einer französischen Preußenpolitik einfloß. Angesichts der ausführlichen und bis ins Detail gehenden, bei Friedrich Wilhelm I. zum Teil auch karikierenden Berichterstattung über die preußischen Monarchen und den preußischen Königshof, übersah die französische Diplomatie nicht die sich im Hintergrund vollziehende preußische Großmachtbildung, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren vorläufigen Abschluß fand. Diese führte man im wesentlichen auf das Zusammenspiel zwischen den ererbten Strukturen - dem Staat Friedrich Wilhelms I. - und der außergewöhnlichen Herrscherpersönlichkeit Friedrichs des Großen zurück. Und man sah auch, daß dieses System tief in den Alltag der Menschen eingriff und ihn bestimmte. Die Perzeption Friedrichs des Großen und des preußischen Staates durch die französische Monarchie war somit frei von jeglicher Mythenbildung. Schwächen und Stärken Friedrichs II. wurden in aller Offenheit beschrieben; Sympathien wurden in erster Linie bei der Beschreibung der persönlichen Lebensführung und des Arbeitsethos des Königs deutlich. Bemerkenswert ist auch die positive Würdigung Friedrich Wilhelms I. nach 1740. Die Betonung der bescheidenen Hofhaltung der beiden Preußenkönige und des ausgeglichenen Staatshaushaltes verweisen auf die Zustände in Frankreich, wo man den Staatshaushalt nur mühsam in den Griff bekam und ein als verschwenderisch wahrge60
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Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713-1807. Die Anfänge der Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, 2. Aufl. Frankfurt, Berlin, Wien 1981. Vgl. z.B.: Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und ländliche Gesellschaft: Das Beispiel der mittleren Kammerdepartements, in: Bernhard R. Kroener, hg. v. Ralf Pröve, Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn (etc.) 1996, 137-165, 164-165; Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstrukturen des preußischen Westfalen, in: Bernhard R. Kroener, Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn (etc.) 1996, 167-190, 187, 190; Peter Wilson, Social Militarization in Eighteenth-Century Germany, in: German History 18 (2000), 1-39, bes. 37-39.
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nommener Hof beständiges Ziel der Kritik war (obwohl auch in Frankreich der Großteil der Staatseinnahmen in das Militär flöß 62 ). In der offenkundigen Wertschätzung des öffentlichen Auftretens der Mitglieder des Hofes und des Fürsten manifestiert sich, so scheint es, der Wandel des Herrscherideals vom „barocken" zum „aufgeklärten" Fürst: Nicht mehr höfische Repräsentation sichert die Reputation des Fürsten, sondern eher der bewußte Verzicht auf höfischen Pomp und seine Ersetzung durch eine subtilere Form der Zurschaustellung staatlicher Macht, wie sie in Preußen praktiziert wurde. Was Friedrich den Großen betrifft, so ist festzuhalten, daß er im französischen Außenministerium und in den Kreisen der Gesandten - insbesondere seit den 1750er Jahren - keinen guten Ruf genoß. Für sie und für Ludwig XV. war er wie schon sein Vater ein unberechenbarer Akteur, auf den man sich nicht verlassen konnte - und diese Unzuverlässigkeit war mit ausschlaggebend dafür, daß es 1756 zum Bruch zwischen Berlin und Versailles kam. Ludwig XV. und seine Diplomaten hatten längst erkannt, daß in Friedrich dem Großen, um eine Formulierung Friedrich Meineckes aufzugreifen „der Herrscher und Staatsmann den Primat [hatte] vor dem Philosophen." 63
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Vgl. die Aufstellung bei: Paul Butel, L 'Economie frangaise au XVIIf siecle, Paris 1993, 246. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 4. Aufl. München 1976, 326.
Die höfische Gesellschaft unterwegs Residenzkultur im Spiegel handschriftlicher Reisetagebücher des 18. Jahrhunderts Joachim Rees
Fürstliche Residenzen stehen während der gesamten Frühen Neuzeit mit dem Reiseverhalten der adligen Oberschicht in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Hochrangige Reisende richten ihre Itinerare nach den Residenzen und der zu erwartenden Anwesenheit von Fürst und Hofstaat aus. Die Residenz bildet für den adligen Reisenden das politische, kulturelle und kommunikative Zentrum des jeweiligen Territoriums, dessen räumliche Erstreckung gleichsam auf die Distanz zwischen zwei Residenzen zusammenschrumpft. Ein markantes Beispiel für eine derartige Strukturierung des Reiseverlaufs nach Maßgabe der besuchten Residenzstädte bietet das dem Tagebuch vorangestellte Itinerar der Europareise der beiden kurbayerischen Kämmerer Johann Michael und Johann Georg Herwarth, Reichsgrafen von Hohenburg, aus den Jahren 173839': In dieser Übersicht, betitelt als Anzaig der König[liehen], Churfürst[Wc\\en\ und Fürstlichen Höfen, wo man gewest, nach der raisordnung verfaßt, wird die Reisestrecke nicht etwa durch verkehrstechnisch vorgegebene Zäsuren, wie durchlaufene Poststationen oder vereinnahmte Nachtquartiere gegliedert. Vielmehr bildet die Abfolge der besuchten Residenzstädte ein symbolisches Gliederungsprinzip, wobei die zwischen zwei Residenzen zurückgelegte Strecke nicht mehr eigens spezifiziert wird. Der durchreiste geographische Raum wird hier strukturiert durch eine politisch-territoriale Ordnung, die in Wahrheit eine dynastische ist. Denn sogleich unter der Bezeichnung des Territoriums folgen die Namen des jeweiligen Landesherrn und des Erbprinzen, ergänzt durch die Angabe ihrer Geburtstage. Schon in dieser Prioritätensetzung wird deutlich, daß die das Itinerar gliedernde Formation des Hofes personenbezogenen definiert ist. Dementsprechend fällt seine topographische Fixierung variabel aus: sie richtet sich nach dem jahreszeitlich bedingten Wechsel zwischen Haupt- und Sommerresidenz. Bilden Residenz und Hof einerseits das privilegierte Reiseziel der adligen Reisenden, so sind die Landesherren andererseits darauf bedacht, bei Gründung oder Ausbau einer Residenz die für den Fernverkehr unabdingbaren Postkurse an die Residenzstadt heranzuführen und entsprechend umzuleiten. Diese Orientierung an bestehenden Verkehrs1
Anonymus, II Viaggio in pratica felice, oder glücklicher Spatziergang in verschiedenen Landschaften durch Deutschland, Holland, Franckreich, und Welschland, 1739, Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Cgm 6227, fol. 2-3.
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wegen läßt sich bei der Verlegung der markgräflich-badischen Residenz von Durlach nach Karlsruhe (1718) ebenso beobachten 2 wie im Falle Friedrich Wilhelms I. von Preußen, der 1724 verfügte, die Postroute von Berlin nach Kursachsen über das von ihm als Residenz bevorzugte Potsdam laufen zu lassen. 3 Der nachfolgende Beitrag konzentriert sich nur auf einige wenige Aspekte und zudem auf eine Spätphase in dem skizzierten Bedingungsgefüge von Residenzkultur und aristokratischem Besuchsverkehr. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei die Quellengattung des Reisetagebuchs als Protokoll adliger Reisepraxis. In einem ersten Teil sollen bisherige methodische Ansätze diskutiert werden, die diese Quellengruppe für die Erforschung der Residenz- und Hofkultur fruchtbar zu machen suchen. In einem zweiten Teil werden anhand einiger Fallbeispiele interpretatorische Anhaltspunkte für den Umgang mit diesen Schriftzeugnissen als einer Gattung frühneuzeitlicher Sachprosa erarbeitet. In der Zusammenschau sind beide Teile zu lesen als Skizze einer adressatenbezogenen Hofkulturforschung in wahrnehmungsgeschichtlicher Absicht.
1. Historische Reiseberichte als Quellen der Residenz- und Hofkulturforschung: Interesse und Erkenntnis Im Quellenkanon einer vorrangig bau- und ausstattungsgeschichtlich orientierten Residenzenforschung muß der Gattung des Reiseberichts nicht mehr eigens ein angemessener Platz erstritten werden. Selbst in kunsttopographischen Handbüchern wird dem Reisebericht mittlerweile neben den traditionellen Quellengattungen wie historischen Inventaren und Baurechnungen ein selbstverständlicher Platz eingeräumt. Als repräsentatives Beispiel kann hier ein Auszug aus dem 1982 erschienenen Inventar der Kunstdenkmäler des Stadtkreises Mannheim dienen. Er behandelt das kurfürstliche Residenzschloß und fuhrt unter dem Rubrum „Quellen" immerhin fünf historische Reiseberichte an.4 In chronologischer Reihenfolge finden sich hier die von Balthasar Neumann wäh-
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Im Herbst 1718, drei Jahre nachdem Markgraf Karl Wilhelm den Grundstein zu Schloß und Stadt Karlsruhe gelegt hatte, wurde die Streckenführung der für den Überlandverkehr wichtigen rechtsrheinischen Poststraße verändert und an die im Entstehen begriffene Residenzstadt herangeführt, vgl. Ernst Otto Bräunche, Vom markgräflichen ,Lust-Hauß' zu großherzoglichen , Haupt- und Residenzstadt '. Die Entwicklung der Residenz Karlsruhe zwischen 1715 und 1918, in: Kurt Andermann (Hg.), Residenzen. Aspekte hauptstädtischer Zentralität von der frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie (Oberrheinische Studien Bd. 10), Sigmaringen 1992, 202-203.
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Vgl. Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, Berlin 17863, Bd. 3, 1116, Anm. 2. Die Kunstdenkmäler des Stadtkreises Mannheim, bearb. v. Hans Huth, München 1982, Bd. 1, 157.
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D I E HÖFISCHE G E S E L L S C H A F T U N T E R W E G S
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rend seiner Studienreise nach Paris verfaßten Briefe (1723) 5 ; der gleichfalls stark architekturkundlich geprägte Bericht einer Reise durch die Pfalz des Frankfurter Patriziers Johann Friedrich von Uffenbach (1731 )6; die französische und deutsche Ausgabe der auf zahlreichen Reiseerlebnissen fußenden Memoiren von Karl Ludwig von Pöllnitz (1734, 1735)7; Philipp Wilhelm von Gerckens Bericht einer Reise durch Südwestdeutschland und die Schweiz (1779-1785) 8 sowie Sophie von La Roches Briefe über Mannheim (1791). 9 Ohne diese Zusammenstellung im einzelnen zu kommentieren, sei hier lediglich auf eine empfindliche Leerstelle in dieser Auswahl aufmerksam gemacht. Diese betrifft nicht etwa eine Lückenhaftigkeit im bibliographischen Sinne. Angesichts der Tatsache, daß allein im 18. Jahrhundert nachweislich rund 12000 deutschsprachige Reiseberichte gedruckt worden sind10, muß jeder Versuch, aus dieser Textmasse die Beschreibungen für eine historische Region, einen Ort, oder ein Objekt herauszufiltern, notwendigerweise unvollständig bleiben. Doch gerade nach Maßgabe eines unabdingbaren qualitativen Auswahlkriteriums muß die hier präsentierte Zusammenstellung irritieren. Sieht man einmal von Karl Ludwig von Pöllnitz ab, dessen Reise- und Schreibpraxis sicherlich nicht als typisch für einen Aristokraten des 18. Jahrhunderts gelten kann, so bilden die Berichte adliger Besucher im Residenzschloß zu Mannheim die entscheidende strukturelle Leerstelle im hier skizzierten Quellenbestand. Vermutlich ist das Mannheimer Beispiel in diesem Punkt durchaus verallgemeinerbar: im Quellenreservoir einer bau- und ausstattungsgeschichtlich orientierten Residenzenforschung sind ausgerechnet die Zeugnisse adliger Reisender stark unterrepräsentiert. Diese Lücke hat Gründe. Der offensichtlichere Grund besteht in der Überlieferungsform dieser Zeugnisse. Die Aufzeichnungen adliger Reisender sind in der Regel als
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Karl Lohmeyer (Hg.), Die Briefe Balthasar Neumanns von seiner Pariser Studienreise 1732, Heidelberg 1911. Max Arnim (Hg.), Johann Friedrich von Uffenbachs Reise durch die Pfalz im Jahre 1731, in: Mannheimer Geschichtsblätter, 33, 1932, 54ff., 9Iff. u. 191ff. Karl Ludwig von Pöllnitz, Memoires contenant les observations qu 'il a faites dans ses voyages, Bd. 2, Liege 1734; ders., Nachrichten, enthaltend was derselbe auf seinen Reisen besonderes angemercket, Bd. 2, Frankfurt/M. 1735. Philipp Wilhelm Gercken, Reisen durch Schwaben, Baiern, angränzende Schweiz, Franken und die Rheinischen Provinzen etc, in den Jahren 1779-1782, 4 Bde., Stendal 1783-1788. Sophie von La Roche, Briefe über Mannheim, Zürich 1791. Diese Zahlenangabe fußt auf den in der Datenbank der Forschungsstelle zur historischen Reisekultur an der Landesbibliothek Eutin erfassten Titel. Die seit 1992 an ihrem jetzigen Standort angesiedelte, vormals in Bremen beheimatete und von Wolfgang Griep geleitete Forschungsstelle dürfte damit den weitaus überwiegenden Teil der auf ca. 15000 Titel geschätzten deutschsprachigen Reiseliteratur des Zeitraums 1700-1810 bibliographisch aufgearbeitet haben, vgl. Thorsten Sadowsky, Reisen und Reiseliteratur. Anmerkungen zur Einrichtung einer neuen Forschungsstelle für historische Reisekulturforschung und zu einigen Neuerscheinungen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 46, 1994, 172-177.
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Manuskripte erhalten." A u s ihrer Funktion als e i n e m D o k u m e n t a t i o n s m e d i u m standesspezifischer Informationen und Erfahrungen, deren Verbreitung auf j e d e n Fall kontrollierbar bleiben sollte, erklärt sich das Festhalten an der Manuskriptform mit allen daraus resultierenden Problemen für die heutige historische Forschung. Gerade überregional orientierte vergleichende Untersuchungen adligen Reiseverhaltens s e h e n sich daher immer n o c h mit der z e i t a u f w e n d i g e n A u f g a b e konfrontiert, einen archivalischen Quellenkorpus überhaupt erst n o c h bilden z u müssen. D a s a m Potsdamer Forschungszentrum Europäische Aufklärung v o n 1 9 9 8 - 2 0 0 2 durchgeführte DFG-Projekt „ D i e enzyklopädischen Europareisen der politischen Funktionsträger des A l t e n R e i c h s " hat versucht, zumindest für die z w e i t e Hälfte des 18. Jahrhunderts vorrangig i m h ö f i s c h e n U m f e l d entstandene Reisetagebücher z u erfassen und für vergleichende Untersuchung e n in historischer, literaturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Perspektive heranzuziehen. 1 2
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Zeitgenössisch gedruckte Berichte von Adelsreisen bilden - im Vergleich zur Masse der Reiseliteratur und zum nachweislich hohen Mobilitätsgrad des Adels - seltene Ausnahmen. Zwar publizierten im 18. Jahrhundert einige wenige Autoren adliger Herkunft selbstständig ihre Reisewerke, sei es anonym, wie Friedrich Justinian von Günderode oder Johann Hermann von Riedesel, sei es unter ihrem Namen, wie der bereits zitierte Baron von Pöllnitz. Doch in der Regel findet die Adelsreise ihren publizistischen Niederschlag in Veröffentlichungen bürgerlicher Mitreisender, die oftmals in ihrer Funktion als Hofmeister ohnehin mit der Führung des Reisejoumals betraut waren. Die nachträglich stark überarbeiteten, für den literarischen Markt produzierten Reiseberichte lassen jedoch den konkreten Reiseanlaß - etwa die Kavalierstour eines adligen Zöglings - kaum mehr erkennen und behandeln Fragen des höfischen Zeremoniells in der Regel äußerst kursorisch. Für diese Praxis lassen sich noch im späten 18. Jahrhundert einige Beispiele finden: Wilhelm Ludwig Steinbrenner, Bemerkungen auf einer Reise duch einige teutsche, Schweitzer- undfranzösische Provinzen in Briefen an einen Freund, 3 Teile, Göttingen 1791-1792 (gereist 1789-1791 mit zwei Prinzen von Schwarzburg-Sondershausen) und Jacob Christian Gottlieb Schaeffer, Briefe auf einer Reise durch Frankreich, England, Holland und Italien in den Jahren 1787 und 1788 geschrieben, 2 Bde., Regensburg 1794 (gereist 1787-1788 mit zwei Prinzen von Thum und Taxis). Eine dritte Form der publizistischen Vermarktung der Adelsreise im 18. Jahrhundert stellt die Auswertung von Reisejournalen für die populären Anthologien und Vitensammlungen dar. So hat etwa Anton Friedrich Büsching das Reisejournal Anton von Geusaus über die Reise der Grafen Rochus Friedrich von Lynar und Heinrich VI. Reuß durch Deutschland, Holland, Frankreich und England (1731-1732) in stark gekürzten Auszügen über fünfzig Jahre nach der Reise publiziert, vgl. den Anhang zur Lebensgeschichte des Grafen zu Lynar, in: Anton Friedrich Büsching, Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer, Teil 4, Halle 1786, 199-218. Als Textgrundlage muß Büsching ein heute nicht mehr nachweisbares Journal Geusaus gedient haben, das nicht mit dem erhaltenen Journal der Grafen Lynar und Reuß im Brandenburgischen Landeshauptarchiv zu Potsdam identisch sein kann (vgl. Anhang), da dieses auch noch den Reiseverlauf in Frankreich und England schildert, während Geusaus Journal, wie Büsching mitteilt, unvermittelt mit der Schilderung des Aufenthalts in Utrecht im September 1731 abgebrochen wurde. Vgl. Joachim Rees, Winfried Siebers, Erfahrungsraum Europa. Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs 1750-1800. Ein kommentiertes Verzeichnis handschriftlicher Quellen (= Aufklärung und Europa Bd. 18), Berlin 2005.
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Der zweite Grand für die mangelnde Repräsentanz adliger Reiseaufzeichnungen in der Residenzforschung ist komplexer und betrifft die leitenden Erkenntnisabsichten, die eine objektbezogene Schloßbauforschung an die Lektüre von historischen Reiseberichten knüpft. Vornehmlich mit der Aufarbeitung der materiellen Hinterlassenschaft einer Residenz als ein Ensemble aus Architektur, Ausstattung und Gartenanlage befaßt, bemißt sich der Rang einer schriftlichen Quelle nach Maßgabe ihres Informationsgehalts bezüglich dieser materiellen Dimension. Es kann daher nicht erstaunen, daß eine faktologisch orientierte Residenzenforschung sich bisher am intensivsten jenen Reiseberichten zugewandt hat, die an Faktenfülle und Beschreibungsdichte dem impliziten Ideal des inventarisierenden Blicks' noch am nächsten gekommen sind. Als ein Beispiel sei der Reisebericht der beiden Antwerpener Jesuitenpater Daniel Papebroch und Gottfried Henschen erwähnt. Der - bisher nur auszugsweise edierte - Bericht ihrer zwischen 1660 und 1663 absolvierten Europareise kann seit langem den Rang einer bedeutsamen Stadt-, kirchen- und residenzgeschichtlichen Quelle beanspruchen, und dies nicht nur, weil die beiden Pater Bau- und Ausstattungsphasen bezeugen, die anderweitig kaum mehr rekonstruierbar wären. 13 Es ist vor allem die Kombination von Sachkenntnis und deskriptiver Präzision, die den Berichten bisweilen den Duktus modern anmutender Denkmalinventarisation verleiht. Im Hinblick auf die von gelehrten Reiseberichten erbrachte Beschreibungsdichte müssen jedoch die Aufzeichnungen adliger Reisender hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die Nachrangigkeit deskriptiver Elemente in den Aufzeichnungen der reisenden Aristokraten hat Gründe, die nur funktionsgeschichtlich erklärt werden können. Etwas anders liegt der Fall bezüglich einer Hofkulturforschung, die - auch wenn sie sich nicht immer so bezeichnet - semiotisch geprägt ist, indem sie den Hof als ein materielles, ideelles, performatives, stets aber zeichenhaft strukturiertes Ensemble begreift, 13
Die Gesamtausgabe des in Latein verfaßten Reisetagebuchs von Papebroch und Henschen wird von Udo Kindermann und seiner Arbeitsgruppe an der Mittellateinischen Abteilung des Instituts für Altertumskunde der Universität Köln auf Grundlage des Autographen im Brüsseler Museum Bollandianum erarbeitet; eine Teiledition liegt vor: Udo Kindermann, Kunstdenkmäler zwischen Antwer-
pen und Trient: Beschreibungen und Bewertungen des Jesuiten Daniel Papebroch aus dem Jahre 1660. Erstedition, Ubersetzung und Kommentar, Köln, Weimar, Wien 2002. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Rekonstruktion längst verlorener Vorgängerbauten oder Ausstattungen ist der Reisebericht von der landes- und stadtgeschichtlichen Forschung bereits ausgiebig genutzt worden, etwa für die Bonner Residenz der Erzbischöfe und Kurfürsten von Köln vor dem Neubau durch Jo-
seph Clemens, vgl. Heinrich Neu, Die kurßirstliche Residenz in Bonn vor dem Bau des heutigen Schlosses, in: Fritz Nussbaum (Hg.), Bonn und sein Münster. Eine Festschrift für Johannes Hinsenkamp, Bonn 1947, 211-224, bes. 216-221. Den besonderen Informationswert dieses Reiseberichts
betont auch Heide Weißhaar-Kiem, Lobschriften und Beschreibungen ehemaliger Reichs- und Residenzstädte in Bayern bis 1800. Die Geschichte der Texte und ihre Bibliographie, Mittenwald 1982, 71: „Der Zeitpunkt der Reise gibt den Beschreibungen einen ganz besonderen Wert - die große Umgestaltungs- und Barockisierungswelle hatte 1660 noch nicht eingesetzt. Durch Papebroch sind damit wesentliche Informationen gerade über solche Räume erhalten, die später gründliche Veränderungen erlebt haben."
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das wesentlich auf die Kommunikation herrschaftlich relevanter Botschaften angelegt ist. Diesem Interpretationsansatz ist eine starke rezeptionsgeschichtliche Komponente eingeschrieben, da eine Modellierung des Hofs als materieller und symbolischer Raum der Repräsentation ohne einen profilierten Adressatenbezug kaum kohärent wäre. Es liegt auf der Hand, daß in einem solchen Deutungszusammenhang den Aufzeichnungen adliger Reisender als privilegierten Adressaten höfischer Repräsentation ein Gewicht zukommen muß, das über ein primär faktologisches Interesse am deskriptiven Gehalt hinausreicht. Eine Hofkulturforschung in wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive muß die Zeugnisse der potentiellen Adressaten ins Spiel bringen. Sie fungieren im Zuge einer Rekonstruktion kultureller Praktiken im höfischen Kontext als ein notwendiges Komplement und bisweilen auch als Korrektiv normativ verfügter Soll-Zustände, wie sie sich in Hofordnungen und Zeremoniellbüchern spiegeln.
2. Sehen und (Be-)schreiben bei Hofe. Reisetagebücher des Adels als wahrnehmungsgeschichtliche Protokolle Zu den wenigen Versuchen, die Zeugnisse adliger Reisetätigkeit für eine wahrnehmungsgeschichtlich orientierte Hofkulturforschung fruchtbar zu machen, gehört die Studie von Peter-Michael Hahn mit dem programmatischen Titel „Wahrnehmung und Magnifizenz" von 1998.14 Anhand von edierten Diarien adliger Reisender des 17. Jahrhunderts geht der Autor der Frage nach, welche Rückschlüsse die Aufzeichnungen von hohen Besuchern an fremden Höfen auf die impliziten Bewertungsmaßstäbe des Gesehenen zulassen und wie sich in diesen Aufzeichnungen die seitens der Gastgeber inszenierten Techniken der Repräsentation spiegeln. Zu den wichtigen Ergebnissen dieser Studie zählt die Feststellung, daß die Rekonstruktion eines epochenspezifischen Blicks des adligen Reisenden auf die besuchten Residenzen von einer Multidimensionalität auszugehen hat, die gewissermaßen quer steht zu heutigen spezialisierten Betrachtungsweisen, die entweder primär auf die Funktion der Residenz als Instrument absolutistischer Herrschaftssicherung gegenüber den Untertanen abhebt, oder auf die architektonische oder gartengestalterische Formgebung einer Residenz sowie die künstlerische Qualität ihrer Ausstattung und deren stilgenetische Herleitung fixiert ist.15 Freilich läßt die Studie ebenso deutlich die Schwierigkeit zu Tage treten, in den untersuchten Reisetagebüchern aussagekräftige Hinweise zu finden, die auf eine affektive Regung des Betrachters oder eine bewertende Kommentierung des Gesehenen durch den Autor
14
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Peter Michael Hahn, Wahrnehmung und Magnifizenz, in: Ders., Helmut Lorenz (Hg.), Pracht und Herrlichkeit: Adlig-Jiirstliche Lebensstile im 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur Brandenburg-Preußens und des Alten Reichs Bd. 5), Potsdam 1998, 9-43. Vgl. Hahn 1998 (wie Anm. 14), 14.
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schließen lassen. 16 Eine solche Zurückhaltung bei der Thematisierung rezeptiver Wirkungen und persönlich artikulierter Eindrücke steht in eigentümlichem Kontrast zu der immer wieder postulierten Ästhetik der Magnifizenz als Strukturprinzip höfischer Repräsentation mit ihrer dominierenden Wirkabsicht, Affekte der ,Verwunderung' und sinnlichen Überwältigung beim Betrachter zu erregen. 17 Auf dieses Spannungsverhältnis zwischen Wirkabsicht und adressatenspezifischer Rezeption kultureller Praktiken bei Hofe wird bei der Diskussion der Einzelbeispiele zurückzukommen sein. Die folgenden Überlegungen setzen zunächst eine Stufe tiefer an. Die Frage, welchen Beitrag schriftliche Zeugnisse der Adelsreise für eine adressatenbezogene Hofkulturforschung leisten können, ist dabei einzubetten in einen perzeptionsgeschichtlichen und gattungspoetologischen Deutungszusammenhang. Der erste Interpretationsrahmen nimmt die sozialen Regulative in den Blick, denen die Perzeption (sehen, betrachten, beobachten) bei Hofe unterworfen gewesen ist. Der zweite Deutungsrahmen zeichnet die gattungsinternen und funktionellen Vorgaben nach, denen die aristokratische Reisediaristik verpflichtet war. Die Kombination beider Ansätze fuhrt zu einer dreiteiligen Gliederung, der die nun heranzuziehenden Fallbeispiele zugeordnet werden. Die Gliederung orientiert sich an den drei grundlegenden poetologischen Kategorien, die für den Reisebericht als eine Gattung frühneuzeitlicher Sachprosa geltend gemacht werden können: Beschreibung, Erzählung und Betrachtung (Deskription, Narration und Reflexion). 18 Mit diesen drei Mitteilungsformen korrelieren spezifische Inhalte: Der Beschreibung entspricht das sachzugewandte Beobachten, der Erzählung die personenbezogene Handlung und der Betrachtung die persönliche Reflexion über Gesehenes und Erlebtes.
2.1. Materialität -
Beschreibung
Wahrnehmung läßt sich nur dann zum Gegenstand von historischer Forschung machen, wenn sie protokolliert, d. h. in unserem Fall verschriftlicht worden ist. Gilt für die bür16
17
18
Vgl. Hahn 1998 (wie Anm. 14), 41: „Es ist nicht eindeutig zu umreißen, welche Merkmale sie [d. i. die adligen Reisenden] bewogen, Objekte als ,remarquabeP, ,wohl zu sehen' oder ,zu admiriren' einstufen. Bemerkenswert ist daran, daß die Auswahl der von diesem Personenkreis beobachteten Gegenstände fürstlicher Repräsentation nicht immer unseren Erwartungen in Bezug auf Qualität und Bedeutung der Objekte entspricht." Vgl. Thomas Rahn, Psychologie des Zeremoniells. Affekttheorie und -pragmatik in der Zeremoniellwissenschaft des 18. Jahrhunderts, in: Jörg Jochen Berns, Thomas Rahn (Hg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Frühe Neuzeit Bd. 25), Tübingen 1995, 74-98, zur Funktionsbestimmung der admiratio im höfischen Zeremoniell bes. 80-84. Zu den drei Grundelementen des faktologischen Reiseberichts: William E. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts (= Literatur und Wirklichkeit Bd. 20), Bonn 1978; Charles L. Batten, Pleasurable Instruction. Form and Convention in Eighteenth-Century Travel Literature, Berkley/Los Angeles/London 1978.
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gerliche Reisebeschreibung die Identität von Beobachter und Ich-Erzähler 19 , so ist im Bereich der adligen Reisediaristik sorgfältig zu unterscheiden zwischen dem durch seinen Stand hervorgehobenen Protagonisten der Reise und dem Autor des Reisetagebuchs. In der Regel sind Protagonist und Autor nicht identisch, oft sind sie durch Standesgrenzen geschieden. 20 Daher gilt es, sich in jedem Einzelfall über die autorgebundene Binnenperspektive des Textes klar zu werden. Sie kann mit der Reiseprogrammatik der Protagonisten durchaus in einem spannungsvollen Verhältnis stehen. Verdeutlichen läßt sich dies an dem bereits eingangs erwähnten Beispiel des Tagebuchs über die Reise der Gebrüder Herwarth von Hohenburg. Im Gegensatz zu den beiden Hauptprotagonisten der Reise ist der Autor des Journals namentlich nicht bekannt. Er bezeichnet sich selbst auf dem Titelblatt als jemand, der „die Gnad gehabt mitzuseyn", und bekundet damit zugleich seinen gegenüber den beiden Reichsgrafen nachrangigen gesellschaftlichen Status. In diesem Standesunterschied zwischen den Protagonisten der Reise und dem Journalfuhrer dürfte auch die Ursache zu suchen sein für die nicht zu übersehende Diskrepanz zwischen dem auf die Höfe fixierten Reiseprogramm - wie es im zitierten ,^4nzaig der [...] Residenzen" vorgestellt wird - und der eigentlichen Berichterstattung im Journal selbst. Denn die Fixierung auf die Person des jeweiligen Landesherrn und den ihn umgebenden Hof findet im Tagebuch selbst nur eine unvollkommene deskriptive Entsprechung. An das eingangs zitierte Mannheimer Beispiel anknüpfend, zitiere ich den Passus über den Aufenthalt der Reisegruppe in der kurpfälzischen Residenz: „Die ruinirte Vestung [d. i. Philippsburg] haben wir zwar nith gesehen, sondern seynt auf Manheimb zu, und zu mittag zeit abgestigen im Schwann. Alhier seynt wir 7. Täg verblieben. In dasier Residenzstadt ist absonderlich zu sehen das Churfstl. Schloss, in welchem unter vielen schönen Zimmern und Gallerien die den Vorzug haben: 2. Extra schöne cabinets, mit unschäzbahren mallereyn, und Kunststücken ausspalliert, auf den grossen Saal sieht man die schönste mallereyn in frescho von Asaan gemahlet, wo er auch sein Frau accurat getroffen hingemacht. Bey hiesiegen Hof ist ein gewisser Maller, deme vor 2. Jahren die rechte Hand abgehauen worden, nichts desto weniger mit der lincken de facto wieder zumahlen angefangt, auch ihme gut von statten gehet. Die schatzcammer ist ser kostbare eingericht, und seynt vill rare stuck zu sehen von Filagrän arweith, es ist auch da ein grosses brennglas, mit welchen ein gan-
19
Das von Stewart als konstitutives Element des faktologischen Reiseberichts ausgewiesene „autoptische Prinzip" und die damit zusammenhängende Authentizitätsproblematik setzt diese Identität von Beobachter und Autor voraus, vgl. Stewart 1978 (wie Anm. 18), 23-40.
20
Besonders markant tritt diese Aufspaltung von Protagonist und Autor in panegyrisch eingefarbten Berichten über die Fürstenreise zutage, für die nicht einmal die Teilnahme des Autors am Reiseverlauf geltend gemacht werden kann. Ein prominentes Beispiel hierfür bietet der im fürstlichen Auftrag kompilierte Bericht Sigmund von Birkens über die Reise von Christian Ernst, Markgraf von Brandenburg, durch Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande, den dieser unter dem Titel Hochfürstlicher Brandenburgischer Ulysses 1668 in Bayreuth veröffentlichte. Der Autor hat an der Reise nicht teilgenommen, sondern den Bericht, wie der Untertitel anzeigt, „aus denen mit Fleiss gehaltenen Reise-Diariis zusammengetragen und beschrieben."
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zes Dorf war in die Asche zu legen. [...] Die Stad betreffend, ist selbe ser woll gebaut, hat schöne Häuser, und weithe schöne gerade Gassen. Alhier fließt auf einer seithen der Neckhar, auf der andern der Rhein vorbey, iber welchen lezten eine lange Schifbrückhe gemacht, es seynt auch zugleich will churfstl. Lust- und Jagdschiff zu sehen. Zu Sommerszeit ist der Hof zu Schwezingen 3. Stundt von Manheimb entlegen, allda ist auch ein schönes Schloss, und annemlicher Hofgarten."21 Die entscheidende Leerstelle dieses Berichts ist, wie unschwer zu erkennen, der Hof selbst mit Kurfürst Karl Philipp als dessen Zentrum. Das Residenzschloß erscheint vielmehr als Kunst- und Wunderkammer, als ein Gehäuse für Kostbarkeiten und Kuriositäten, die punktuell, gleichsam nach dem Prinzip des Superlativs vom Schönsten, Wertvollsten und Seltenen registriert werden. Lebensweltlich ergänzt wird dieses Bild vom Schloß als Raum des Wunderbaren durch die Anekdote vom verstümmelten Maler, der seine Kunst im buchstäblichen Sinne mit links ausübt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der Autor des Journals hier nur die Bereiche des Schlosses beschrieben, die jedem Besucher unter Führung eines Kastellans zugänglich waren: einige wenige Prunkräume, das Malereikabinett, die Schatzkammer. Über die zeremonielle Praxis des Hofbesuchs kann der Autor - so steht zu vermuten - schlicht deshalb nichts berichten, weil er davon ausgeschlossen blieb. Diese Leerstelle wird gleichsam mit deskriptiven und narrativen Details aufgefüllt. Dies macht sie wahrnehmungsgeschichtlich nicht weniger bedeutsam. Daß wir diesem Autor die einzige in den von mir konsultierten Reiseberichten nachweisbare Erwähnung des monumentalen Deckenfreskos von Cosmas Damian Asam im Rittersaal des Schlosses zu verdanken haben, scheint mit dem für die Person des Journalschreibers anzunehmenden Ausschluß vom Hofleben in einem bedenkenswerten Kausalzusammenhang zu stehen: das Deckengemälde gelangte wohl nur deshalb in das Perzeptionsfeld des Autors, weil er von der personenfixierten sozialen Praxis des Hofes ausgeschlossen war. Das Fernbleiben von Zeremoniell und höfischer Geselligkeit kann einerseits als Exklusion von den prestigeträchtigen Erlebnissphären der adligen Reisenden gewertet werden, andererseits setzt diese Ausgrenzung Beobachtungs- und Beschreibungspotentiale frei, die ansonsten stets von der personenbezogenen Aufmerksamkeit für die Mitglieder des besuchten Hofes gebunden geblieben wären. Die komplexe Binnenperspektive adliger Reisetagebücher ergibt sich mithin aus dem Faktum, daß der Diarist einerseits durch seinen nachrangigen Status sehr häufig von den im aristokratischen Sinne vorrangigen Erfahrungsräumen höfischer Kultur ausgeschlossen blieb. Andererseits wird um der einheitlichen Berichtsperspektive willen diese Separierung von adligem Protagonist und nicht hoffähigem Protokollant im Text kaum je manifest - sie war ja allen Beteiligten, den Reisenden wie den heimischen Lesern des Journals, ohnehin geläufig. Diese Trennung wird eigentlich nur dann thematisiert, wenn sie als außergewöhnlicher Gunsterweis gegenüber dem adligen Gast aufgehoben wurde.
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Anonymus 1739 (wie Anm. 1), fol. 9r-v.
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So berichtet Johann Gallus Tschann, Hofmeister des jungen bayerischen Grafen August von Toerring-Jettenbach (geb. 1728), wie ihm kurz vor der Abreise aus Kassel im Oktober 1746 doch noch die Gnade widerfahren ist, am Hofe des Landgrafen zugelassen zu werden: „Die besondere Aufmerksamkeit, die man dem Grafen in Kassel entgegenbrachte, wo er dem Herrn Landgrafen in einer ausgesuchten Gesellschaft vorgestellt worden war, ist teilweise auch mir widerfahren, denn als ich am 5. Oktober, dem Vortag unserer Abreise einen Blick in die Appartements des Hofs warf, die ich zuvor noch nicht gesehen hatte - damit rechnend, daß der Herr Landgraf wie gewöhnlich dem Rat beiwohne erblickte mich der Baron Franckenberg, sprach mich an, hieß mich in einem Appartement warten und stellte mich gegen meine Absicht dem Herrn Landgrafen, der Princesse Royale, der Gattin des Erbprinzen, und dem Prinzen von SachsenGotha vor, ich mußte außerdem an der Marschalltafel dinieren, wo noch zwei Hofdamen und zwei Kammerherrn anwesend waren und nach dem Diner hatte ich die Ehre, den Kaffee im Zimmer der Princesse Royale einzunehmen, die größte Ehre, die mir in der ,Welt' je widerfahren ist."22 Auffallig an dieser Schilderung ist nun, wie mit dem hier eher unvermuteten Einbezug des Autors in die sozialen Praktiken der höfischen Gesellschaft die Mitteilungsform schlagartig wechselt. Die Appartements des Landgrafen, die der Hofmeister in Abwesenheit des Fürsten wenigstens flüchtig in Augenschein nehmen wollte, werden, nachdem ihm die Ehre widerfahren ist, der fürstlichen Familie selbst vorgestellt worden zu sein, mit keiner Silbe mehr erwähnt. Sachzugewandte Beschreibung rangiert im höfischen Kontext allemal hinter der Erzählung personenbezogener Handlungen. Erst am Ende des 18. Jahrhundert wird diese statusbezogene Staffelung von Zutrittschancen von den begleitenden Hofmeistern offensiv thematisiert und als anachronistisches Ausgrenzungsverhalten der ,hohen Herren' der öffentlichen Kritik ausgesetzt. So bringt etwa 22
Johannes Gallus Tschann, Recit abrege des Etudes et des voyages de Monsr. le Comte Auguste de Terring-Jettenpach, fils cadet de son Excell. Monsgr. le Feldmar0chal de meme nom pendant les annes 1746-1750, redige par J. Gal. Tschann, qui ayant eu l'honneur d'etre avec ce jeune Seigneur des la huiti0me annee de son age a aussi en celui de I 'accompagner dans lesdits voyages. Bayerisches Staatsarchiv München, Toerring-Jettenbach-Archiv, Nr. C 112, unfol.: ,,L'attention singuliere qu'on a eue pour Mr. le Comte ä Cassel, ou il avoit ete presente ä Mr. le Landgraf dans une societe particuliere s'est aussi en partie etendue jusqu'ä moi, car ayant ete le 5. bre veille de notre depart donner un coup d'oeil aux apartemens de la cour, que je n'avois pas enore vus, contant bien que Mr. le Landgraf seroit ä son conseil, quel il assistoit regulierement tous les jours: Mr. le Baron de Franckenberg m'aperfut, m'accosta me fit attendre dans un apartement et me presenta ensuit contre mon intention a Monsr. le Landgraf, ä la Princesse royale epouse du Prince hereditaire et au Prince de Saxe Gotha, il me fallu aussi diner ä la Marechalta/e/, oü il avoit deux dames de cour et deux chambellans; et Γ apres diner j'eus l'honneur de prendre le caffee dans la chambre de la princesse Royale, honneur le plus grand qui me soit jamais arrive selon le monde." - Zur Europareise des jungen Grafen August von Toerring-Jettenbach vgl. auch Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour.
Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte Bd. 56), Köln, Weimar, Wien 2004, 158-161.
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Wilhelm Ludwig Steinbrenner, der als Hofmeister zwei Prinzen aus dem Hause Schwarzburg-Sondershausen auf ihrer Kavalierstour begleitete, in seinem anschließend veröffentlichten Reisebericht mehrmals den Umstand zur Sprache, daß offenkundige Beschreibungslücken in seiner Darstellung fürstlicher Residenzen und Gärten - wie im Falle des Landschaftsgartens von Hohenheim - auf nicht gewährten Zutritt zurückzufuhren seien. Anstatt solche Lücken durch die Paraphrase von gedruckten Beschreibungen oder den Bericht der zutrittsberechtigten Prinzen aufzufüllen - wie es wohl in einem handschriftlichen, für den familieninternen Gebrauch bestimmten Journal der Fall gewesen wäre - bleibt das Faktum der Ausgrenzung des bürgerlichen Begleiters im publizierten Text als Indiz einer manifesten Diskriminierung stehen.23
2.2. Handlung - Erzählung Während der bürgerliche Reisende gleichsam als Statist oft nur die leeren Kulissen der Hofkultur besichtigt, kann der adlige Reisende eine aktive Rolle im Theatrum ceremoniale des Hofes beanspruchen.24 Aus diesen unterschiedlichen Rollenzuweisungen er23
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Steinbrenner 1791 (wie Anm. 11), Teil 1, 66: „Hohenheim, wo er [d. i. Herzog Karl Eugen von Württemberg] sich beständig aufhält, soll etwas ganz ausserordentliches seyn: hier ist eine Schweitzerey, dort ein Park, dann wieder ein Dörfchen etc. Da man ohne ausdrückliche Erlaubnis des Herzogs Hohenheim nicht sehen darf, so mußte ich auf dieses Vergnügen Verzicht thun." Allgemein läßt sich festhalten, daß der Zutritt bürgerlicher Reisender zu fürstlichen Residenzen von einer eigentümlichen Dialektik personaler Präsenz und Absenz des Fürsten reguliert wurde. Die für zahlreiche Residenzen nachweisbaren Hofzutrittsordnungen (vgl. das Bonner Beispiel, Anm. 30), die flir jede Gruppe der ständischen Gesellschaft die Grenze festlegten, bis zu der ein aufwartender Besucher oder Supplikant im räumlichen Ensemble der Residenz vordringen durfte, galten offenkundig ausschließlich für den Fall persönlicher Anwesenheit des Fürsten. Wie selbst eine punktuelle Auswertung frühneuzeitlicher Reiseberichte belegen kann, waren diese gestaffelten Grenzsetzungen im Falle der Abwesenheit des Fürsten suspendiert. So wurden bei Absenz des Hausherren selbst für den bürgerlichen Reisenden Räume und Gemächer zugänglich, in deren Nähe er bei Anwesenheit des Fürsten nie gekommen wäre und die er erst recht nicht hätte betreten dürfen. Offenbar waren nicht einmal Wohngemächer α priori mit dem Attribut des Privaten im modernen Sinne versehen, das Räumlichkeiten dem Zutritt von Außenstehenden kategorisch zu entziehen trachtet, unabhängig von der fallweise zu prüfenden Anwesenheit des Bewohners. War fur den hoffähigen Adligen gerade die Präsenz von Fürst und Hofstaat die conditio sine qua non seiner Aufwartung in der Residenz, so bestand für den bürgerlichen Reisenden nur in der Absenz des Fürsten die Chance, einen Blick in das Innere eines Schlosses zu tun. Gerade diese Reduktion des Residenzbesuchs auf die reine Materialität der Räume und ihre Ausstattung dürfte den Eindruck einer buchstäblich ins Leere laufenden Prachtentfaltung sukzessive verstärkt haben. Die okkasionelle Nutzung von Residenzen durch den Fürsten bei gleichzeitiger, auf hohem Niveau praktizierter Vorhaltung der materiellen Ausstattung in Haupt- und Nebenresidenzen, geriet im Laufe des 18. Jahrhunderts in immer größeren Gegensatz zu einem bürgerlichen Utilitaritätsdenken. So beginnt beispielsweise Steinbrenners Beschreibung der Residenzen Solitude und Ludwigsburg, von Herzog Karl Eugen nur noch sporadisch aufgesucht, mit dem Motto: „Zween herrliche Wohnsizze, leider, wie so vieles in
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geben sich Konsequenzen für die Strukturierung der Reiseaufzeichnungen. Allgemein läßt sich für die adlige Reisediaristik von einem Vorrang der handlungsbezogenen Erzählung gegenüber sachzugewandter Beschreibung sprechen. 25 Der primäre Gegenstandsbereich des aristokratischen Reisetagebuchs ist wesentlich ein performativer: er ist handlungs- und interaktionsbezogen. Objekte und Räume werden als Prämissen des Handlungsvollzugs bedeutsam, nicht um ihrer selbst willen. An einem hier mit gewisser Idealtypik behandelten Beispiel soll dies verdeutlicht werden. Anhand eines Auszugs aus dem gemeinschaftlich geführten Reisetagebuch der Grafen Rochus Friedrich zu Lynar (1708-1781) und Heinrich VI. von Reuß-Köstritz (1707-1783) sowie ihres Hofmeisters Anton von Geusau (1695-1749) soll gleichsam die Dramaturgie eines Residenzbesuchs von der Ankunft bis zur Abreise schrittweise entwickelt werden. 26 Der Auszug betrifft die Schilderung des Aufenthalts in der kurfürstlichen Residenz zu Bonn am 10. August 1731 (vgl. den Wortlaut im Anhang). Die beiden Grafen, 23 bzw. 24 Jahre alt, befanden sich zu diesem Zeitpunkt seit zwei Wochen auf ihrer Kavalierstour, die sie noch in die Niederlande, nach Frankreich und England führen sollte.27 An der
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der Welt, ungebraucht!" und endet nicht weniger emphatisch: „ich rief bey dem Anblik aller dieser Herrlichkeiten aus, wie auf der Solitude: cui bono?" Steinbrenner 1791 (wie Anm. 11) Teil 1, 66, 72. Jeder Reisebericht, selbst wenn faktisch die beschreibenden Passagen dominieren, wird von einer narrativen Klammer umschlossen, die dem Bericht gleichsam seine gattungsspezifische Identität sichert. Winfried Siebers hat für diesen Sachverhalt den Begriff „narratives Minimum" geprägt, vgl. Winfried Siebers, Johann Georg Keyßler und die Reisebeschreibung der Frühaufklärung, Würzburg 2005, 53-55. Für das 18. Jahrhundert sind gleichwohl erhebliche Schwankungen in der Gewichtung der deskriptiven, narrativen und reflexiven Anteile auszumachen. Während der bürgerliche Reisebericht zu einer Ausweitung der Beschreibung materieller Gegebenheiten und nur deskriptiv erfaßbarer Strukturen tendiert und erst in der zweiten Jahrhunderthälfte einen selbstreflexiven Subjektivismus aufkommen läßt, konserviert das adlige Reisejournal durchgängig das Übergewicht des Narrativen. Dies hängt ursächlich mit seiner Fixierung auf personenbezogene Konstellationen, wie Begegnungen und Gespräche, zusammen. Diese sind typologisch als rekurrente Ereignisse zu klassifizieren, die nur erzählend erfaßt werden können. Vgl. dazu grundsätzlich: Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, 144-157. Bereits Aloys Winterling hat in seiner Studie über die kurfürstliche Hofhaltung in Bonn auf das Tagebuch der Grafen Lynar und Reuß aufmerksam gemacht. Da ihm aber nicht das Original, sondern lediglich die bei Anton Friedrich Büsching gebrachten Auszüge des Tagebuches von Anton von Geusau zugänglich waren (vgl. Büsching 1786 [wie Anm. 11], 201-202), hat er diese Quelle eher kursorisch behandelt, vgl. Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688-1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung „absolutistischer" Hofhaltung (= Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere für das Alte Erzbistum Köln Bd. 15) Bonn 1986, 113. Zum biographischen Hintergrund sowie zu der familiären Verbindung zwischen Rochus Friedrich Lynar und dem Haus Reuß-Köstritz vgl. Vinzenz Czech, Reisen der Grafen zu Lynar nach Prötzel Adliges Landleben im 18. Jahrhundert in zeitgenössischen Berichten, in: Hahn/Lorenz 1998 (wie Anm. 14), 157-218, bes. 157-159; zur Reise von 1731/32 vgl. Leibetseder 2004 (wie Anm. 22), 162-166.
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Schilderung des Aufenthalts in Bonn waren ausweislich der Handschriften nur die beiden Grafen in alternierenden Textpassagen beteiligt. Dem Auszug aus dem Tagebuch wurden hier zur Verdeutlichung Marginalien beigegeben, die den fortlaufenden Text in einzelne Handlungsstadien unterteilen. Sie strukturieren den Ablauf des Aufenthalts und bilden gleichsam das bei der Schilderung des Hofbesuchs immer wiederkehrende narrative Raster adliger Reisediaristik. Bereits der erste Satz des Tagebucheintrags verdeutlicht einen fundamentalen Kausalzusammenhang: die Schiffsreise auf dem Rhein wird nur deshalb unterbrochen, weil die Reisegesellschaft erfährt, daß der Kurfürst in der Stadt, und nicht - wie angesichts der Jahreszeit eher zu erwarten gewesen wäre - auf seiner Sommerresidenz Augustusburg bei Brühl weilt. Ex negativo kann man daraus schließen, daß weder die Stadt noch das Residenzschloß an sich Grund genug geboten hätten, in Bonn an Land zu gehen. Die Kontaktaufnahme mit dem Hof beginnt indirekt: mit der, wohl durch einen Mietlakaien überbrachten Meldung an den Obrist-Hofmeister Graf Plettenberg. Bei ihm werden Auskünfte über die beabsichtigte Aufwartung beim Kurfürsten eingeholt; sie betreffen hauptsächlich das geeignete Transportmittel zum Hofe und die Kleiderordnung. Drei Stunden nach der Ankunft in der Stadt finden sich die Reisenden im Schloß ein. Die Annäherung an das Schloß wird als ein Durchlaufen zeremoniell bedeutsamer Zonen geschildert. Diese Zonen bestehen aus zwei Innenhöfen und den sog. Schwibbogen, also den überwölbten Arkaden des Schloßhofs, wo die Sänftenträger zum Stehen kommen. Hier findet die Begrüßung durch den stellvertretenden Obrist-Kellermeister statt, der dem Stab des Hof-Marschalls und mithin dem in der Rangfolge drittwichtigsten Hofstab angehört. 28 Aufschlußreich ist, was nicht zur Sprache kommt: etwa die Ausdehnung und architektonische Formgebung des Bauwerks, nicht einmal der Begriff „Schloß" oder „Residenz" fällt. Die Aufmerksamkeit ist ganz absorbiert von dem, was Gotthardt Frühsorge treffend das Prinzip „der statusorientierten differenzierten Raumausfiillung" genannt hat.29 Vom Gehäuse der Sänfte wechselt der adlige Reisende übergangslos in den Raum des Interieurs und dessen komplexe Binnengliederung. Erste und wichtigste Anlaufstation ist die Antichambre, von der eigens festgehalten wird, daß sie sich zu „ebener Erde" befindet. Offenkundig haben die Reisenden eine Ausnahme von der zeremoniellen Regel zu gewärtigen. Nicht die in der „Hofaufwartungsinstruktion" festgelegte Annäherung über Vestibül, Treppe und die Raumfolge im piano nobile ist einzuhalten 30 , son-
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Vgl. Rudolf Li 11, Erwin Sandmann, Verfassung und Verwaltung des Kurfürstentums und Erzbistums Köln im 18. Jahrhundert, in: Ausst.-Kat. Kurfürst Clemens August. Landesherr und Mäzen des 18. Jahrhunderts,
Schloß Augustusburg Brühl, Köln 1961, 49f.
29
Vgl. Gotthardt Frühsorge, Der Hof, der Raum, die Bewegung. Gedanken zur Neubewertung des europäischen Hofzeremoniells, in: Euphorien, 82, 1988, 424-429, Zitat 427.
30
Die Aufwartung am kurfürstlichen Hof war sechsfach gestaffelt und seit Joseph Clemens in entsprechenden „Hofaufwartungsinstruktionen" festgelegt: Vestibül, Vorsaal oberhalb der Treppe, Gardesaal, Ritterstube, Antekammer, Kurstuhlzimmer. Diese Abstufung galt auch fur „Frembd-
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dem die Aufwartungsfolge im ebenerdigen Sommerappartement, das sich Kurfürst Clemens August zur Hofgartenseite hatte einrichten lassen, um in der warmen Jahreszeit bequem den angrenzenden Garten aufsuchen zu können. 31 Die Abweichung vom üblichen Zeremoniell scheint bei den Reisenden eine gewisse Beunruhigung hervorgerufen zu haben, doch die örtlichen Sänftenträger erweisen sich als instruiert genug, um die Besucher bis zu jenem Punkt zu transportieren, wo die ,kleine' Aufwartung vor dem Sommerappartement beginnen kann. Das Vorzimmer ist die zentrale gesellschaftliche Relaisstation des adligen Reisenden. Hier werden die connaissancen gemacht und die connexionen geknüpft, die zu einem Gutteil das soziale Kapital der Kavalierstour bildeten. 32 Personenbezogen entfaltet der Diarist - in dem Falle Graf Lynar - einen Detailreichtum, den man bei der Architekturschilderung vergebens sucht. Hinzuweisen ist hier vor allem auf den mikroskopischen Blick, mit dem die Orden der Anwesenden erfaßt werden. Die Beschreibung des anschließend besichtigten Sommerappartements übernimmt Graf Reuß, wobei hier primär auf die funktionale Qualität der Räume abgehoben wird. Eine erste Annäherung an die Person des Hausherrn findet vermittels objekthafter Attribute statt - ein Konzertflügel, Notenmaterial - , die sicherlich absichtsvoll im Appartement als Hinweise auf seine musische Qualitäten dargeboten werden. Die Ankunft des Kurfürsten bedeutet den Abbruch der Besichtigung und verursacht Bewegung unter den Hofleuten. Die höheren Chargen eilen in die Kapelle, die Reisenden bleiben im Vorzimmer zurück und nutzen die Zeit, um sich bei den Bediensteten über Umfang und Organisation des Hofs zu erkundigen. Der eigentliche Zweck des Besuchs und somit der Höhepunkt des Aufenthalts ist mit der Präsentation beim Kurfürsten selbst erreicht, die im zuvor besichtigten Audienzzimmer stattfindet. Die Beobachtung und Beschreibung des Fürsten aus der Sicht eines Rangniederen ist prekär. Eine Gratwanderung zwischen Reverenz und präziser Taxierung der Person beginnt. Der normative Rahmen ist vorgegeben durch die Zeremoniellbücher. Bei Julius von Rohr heißt unter der sinnfälligen Überschrift „Von der Wohlanständigen Regierung der Augen":
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durchreisende". Angehörige des Grafenstandes, sofern sie nicht die Reichsgrafenwürde besaßen, waren berechtigt, in der „Ante-Cammer" aufzuwarten. Zum Zeitpunkt, als Graf Lynar und Graf Reuß in Bonn eintrafen, galt die von Clemens August am 19. Juli 1726 erlassene, auf vier Stationen reduzierte Ordnung. Da die Hofaufwartungsinstruktion in den jährlich erscheinenden Hofkalendern abgedruckt wurde, konnten sich auch Durchreisende über das geltende Reglement vor Meldung bei Hofe informieren. Die Ordnung von 1726 ist abgedruckt bei Wilfried Hansmann, Gisbert Knopp, Die kurkölnische Residenz Augustusburg und Schloß Falkenlust, Köln 1982, 126 ff. Zum Aufwartungswesen insgesamt vgl. Winterling 1986 (wie Anm. 26), 78-86. Vgl. Felix Hauptmann, Das Innere des Bonner Schlosses zur Zeit Clemens Augusts, Bonn 1912, 7378. Neuere Studien zur Kavalierstour: Antje Stannek, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/M., New York 2001; Leibetseder 2004 (wie Anm. 22); im Überblick: Rees/Siebers 2005 (wie Anm. 12), 50-55.
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„Eine unangenehme Mine ist es, wenn junge Leute, bey Hofe oder in andern Gesellschafften, eine Fremde Person, zumahl eine solche, die höher ist, als sie, mit unverwandten Augen stets ansehen, und sie von Fuß biß auf den Kopff betrachten."33 Der Tagebucheintrag von Graf Reuß zur Person des Kurfürsten demonstriert, wie der junge Kavalier womöglich den Akt der Beobachtung zu kaschieren verstand, zugleich jedoch bemüht war, sich alle persönlichen Attribute des Herrschers für die hintergründig stets präsente Verpflichtung zur schriftlichen Dokumentation einzuprägen: von der Beutelperücke bis zu den roten Schuhabsätzen wird Clemens August deskriptiv erfaßt, mehr noch: sein Körper wird im Sinne der Physiognomik der Zeit einer Lektüre unterzogen, die Aufschluß über seine charakterliche Disposition und damit letztlich über seine herrscherlichen Qualitäten geben soll - ein eminent politischer Vorgang. Exemplarisch wird hier ein nicht zu übersehender Zielkonflikt zwischen Zeremoniellehre und Apodemik erkennbar: kodifiziert diese die Regulierung des affektiven und körpergestischen Verhaltens unter Respektierung der sozialen Hierarchie, so zielt jene auf den Entwurf eines selbstbewußten Beobachtungsverhaltens, das auch den Ranghöheren zum Objekt der ,dichten Beschreibung' macht - mithin seines ,unnahbaren' Ranges entkleidet. Der reisende Adlige befindet sich demnach im Spannungsverhältnis divergierender Rollenerwartungen: als Besucher der Residenz und Gast des Fürsten ist er eingebunden in die sozialen Regulative des Zeremoniells, die sein kommunikatives und perzeptives Verhalten steuern, als Diarist muß er sich zugleich von diesen Regulativen emanzipieren und in seinem Beobachtungsverhalten notgedrungen die Grenzen des Zeremoniells überschreiten: als beobachteter Beobachter ist er gehalten, die Intensität seines Beobachtungsdrangs zeremoniellkonform zu ,dissimulieren'. 34 Unverzichtbarer Bestandteil jedes Hofbesuchs und gleichsam sein zeremonieller Kern ist die Ladung zur fürstlichen Tafel. Die Hoftafel ist Mittelpunkt einer komplexen sozialen Geometrie und stets auch perzeptiver Fokus der Diaristen. Zumal in Journalen von Kavalierstouren fungiert die Ladung zur und Plazierung an der fürstlichen Tafel als entscheidender Gradmesser des Gunsterweises. Nirgendwo läßt sich genauer das Wesen 33
34
Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel- Wissenschafft Der Privat-Personen, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1728, hrsg. und kommentiert von Gotthardt Frühsorge, Weinheim 1990, 193. Die Aufforderung zur genauen Observation der Hofgesellschaft bei gleichzeitiger Verbergung des Beobachtens findet sich allerdings auch - auf mehrere Stellen verstreut - in Rohrs Zeremoniellehre der Privatpersonen, die ja selbst zahlreiche Anweisungen fur reisende Kavaliere enthält und damit zumindest partiell in den Bereich der apodemischen Literatur hineinspielt. So wird im Kapitel „Von dem Aufenthalt an Höfen" folgender Ratschlag erteilt: „Ein venünffiiger Mensch läßt an einem fremden Hofe dieses seines erste Sorge mit seyn, daß er die Neigungen der Cavaliers und Dames erkennen und beurtheilen lernt, damit er wisse, wie er einem jeden, nach der Beschaffenheit seines Humeurs, begegnen soll. Er macht sich, nach den Merckmahlen, was er von einer jeden Person siehet, höret und observiret, und nach den Regeln der Kunst, der Menschen Gemüther zu erforschen, ihre moralischen Portraite bekandt, läßt sich aber doch von diesem allem nicht das geringste merkken." Rohr 1728/1990 (wie Anm. 33), 209.
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höfischer Raumkonzeption als ein Muster ,,organisierte[r] Abstände" 35 erkennen, als an der fürstlichen Tafel mit ihren subtil abgestuften Präzedenz-Privilegien. Neben der materiellen Ausstattung mit Gedecken ist es vor allem der Darreichungsmodus der Speisen vom Lakaien über den Pagen bis zum Kammerherrn, der detailliert und mit allen lokalen Varianten im Tagebuch nachgezeichnet wird. Einen Sonderfall bietet der vorliegende Bericht, werden die Reisenden doch zur Tafel vorgelassen, aber nicht piaziert, da der Kurfürst für die Dauer seiner Sauerbrunnen-Diät nicht mit Gästen zu speisen pflegt. Kommunikativ ist die Marschalltafel für die Reisenden ohnehin ergiebiger, da hier, wie Graf Reuß schreibt, nützliche Gespräche geführt wurden, während der Kurfürst die seitwärts neben ihm stehenden Reisenden während des Essens nur mit „ i n d i f f e renten discoursed unterhielt. An der Marschalltafel stößt auch der Hofmeister von Geusau, der offenbar von der Aufwartung im Audienz- und Speisezimmer des Kurfürsten ausgeschlossen gewesen war, wieder zu den jungen Grafen. Die nach Tisch erfolgte Besichtigung der eigentlichen Prunkgemächer im Obergeschoß hat zeremoniell gesehen nachrangigen Charakter, wie schon daran zu erkennen ist, daß hier der Kastellan mit seiner Frau - sie ist die erste weibliche Person, die den Reisenden am Hofe gegenübertritt - die Führung übernehmen. Im Gegensatz zur Besichtigung des Sommerappartements hat man hier mehr Muße, was sich auch in einer ungleich größeren Beschreibungsdichte niederschlägt. Ästhetische Bewertungen und Mitteilungen historischer Art halten sich die Waage, Unzulänglichkeiten, wie die mangelnde Ordnung in der kurfürstlichen Handbibliothek, werden nur zurückhaltend erwähnt. Der Duktus folgt der mittleren Stillage, wie er dem Reisetagebuch als Sachprosa zukommt. Hierbei dürften die jungen Grafen jene Vorsichtsmaßregel beherzigt haben, die Julius von Rohr so formuliert hat: „Einige junge Leute bilden sich ein, wenn sie nach Hofe kämen, müßten sie alles, was ihnen nur in die Augen fiele, ungemein loben, da wissen sie denn die Tapesserien, Spiegel, Gemälde, Zimmer u.s.w. ob gleich nicht viel Ansehen oder Ruhms daran zu spühren, nicht genug herauszustreichen, ihren Redens-Arten nach, ist alles gantz admirabel und incomparable. [...] Ihre grosse Verwunderung, die sie bey dergleichen Gelegenheiten an den Tag legen, wird vor ein Kennzeichen ihrer Einfalt und Unwissenheit gehalten, und man glaubt von ihnen, daß sie noch nicht gar viel müßten in der Welt gesehen haben."36 Die im höfischen Kontext allgegenwärtige Verpflichtung zur Affektkontrolle wird Duktus und Diktion adliger Reisejournale nicht unbeeinflußt gelassen haben. Die Formelhaftigkeit der Wendungen gerade in Bezug auf ästhetische Urteile sollte nicht als individuelles Stildefizit einzelner Autoren mißverstanden werden. Vielmehr dürfte sich
35
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Werner Paravicini, Zeremoniell und Raum, in: Ders. (Hg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (= Residenzenforschung Bd. 6), Sigmaringen 1997, 14. Rohr 1728/1990 (wie Anm. 33), 210-211.
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dieser durchgängigen Zurückhaltung bei der Thematisierung affektiver Regungen eine sorgsam kalkulierte Vorsichtsmaßnahme zu erkennen geben. Der Zustand sinnlicher Überwältigung durch Magnifizenz war ohnehin mit dem Index des sozial Niederen behaftet, galt doch die Ansprache über die Sinne als die einzige Ausdrucksform fürstlicher Machtvollkommenheit, die dem mit geringen Verstandeskräften versehenen Volk zugänglich gewesen wäre. 37 Doch auch der über den Zustand der admiratio erhabene adlige Besucher, zumal wenn es sich um einen am Beginn seiner Tour stehenden Kavalier handelte, tat gut daran, ästhetische Wertungen neutral zu formulieren. Selbst wenn er angesichts einer Schloßarchitektur, eines Kunstwerks oder einer Opernauffuhrung eine genuine Regung des Staunens verspürt hätte, so dürfte spätestens die Aufzeichnung im Reisejournal als Instanz der Affektkontrolle wirksam geworden sein. Die den Stellenwert seines Berichts herabmindernde Möglichkeit, daß die Leser seines Journals, allen voran die reiseerfahrenen Angehörigen des heimischen Hofes, starke Affektäußerungen auf die Unerfahrenheit des Autors zurückführen würden, wird dem Diaristen stets präsent gewesen sein.
2.3. Bewertung - Reflexion Die letzte der hier zu behandelnden Mitteilungsformen betrifft die reflexiven Anteile im adligen Reisejournal, verstanden als Erörterung des Erlebten im Sinne einer introspektiven Betrachtung, die notwendigerweise das schreibende Subjekt viel stärker thematisiert als die beiden vorgenannten Berichtsformen. Diese Form der Selbstthematisierung bleibt im Kontext der Adelsreise eine Ausnahmeerscheinung. Wo sie auftritt, kann sie als Reflex auf die Tendenzen der gedruckten Reiseliteratur gelesen werden, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Leitbegriffen der „philosophischen" und bald auch der „empfindsamen" Reise zwei neue, konträr zueinanderstehende Modi selbstreflexiver Beobachtung hervorbrachte. 38 Daß eine solche Selbstthematisierung des betrachten-
37
38
Zu dieser kollektivpsychologischen Dimension des höfischer Prachtentfaltung vgl. Andreas Gestrich, Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk, in: Berns/Rahn 1995 (wie Anm. 17), 57-73. Der „philosophische" und der „empfindsame" Reisebericht können als Exponenten eines tiefgreifenden gattungsgeschichtlichen Funktionswandels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Der „philosophische" Reisebericht ist gekennzeichnet von einer sukzessiven Ablösung des statistisch-quantifizierenden Erfahrungsmodells durch eine selbstreflexiv-kritische Wahrnehmungsform, die auf eine Verzeitlichung von Beobachtung und Beschreibung drängt. Die „empfindsame Reise" hingegen ist als eine mit neuen literarisch-assoziativen Ausdrucksformen experimentierende Gegenbewegung zur Nützlichkeits-Programmatik des faktenorientierten Reiseberichts anzusehen. Zum (geschichts-) philosophisch argumentierenden Reisebericht der Aufklärung vgl. Hans Erich Bödeker, Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, in: Ders., Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Bd. 81) Göttingen 1986, 276-198; zur „empfindsamen" Reise vgl. Gerhard Sauder,
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den und schreibenden Subjekts in der hoffixierten adligen Reisepraxis die Ausnahme bleiben mußte, wird verständlich, wenn man sich den damit einhergehenden Zielkonflikt vergegenwärtigt. Schon das Schreiben eines Reisetagebuchs bedeutete ja den temporären Rückzug aus dem geselligkeitsorientieren Hofleben und blieb mithin den späten Nacht- oder frühen Morgenstunden vorbehalten. In Gesellschaft galt es jeden Anschein von absorbiertem Nachdenken oder kommunikativer Abkapselung zu vermeiden: „Wider den Wohlstand ist auch, wenn einige von den jungen Leuten vor sich hin auf einen Fleck sehen; es sey nun, daß sie würcklich speculativ sind, und ihre Gedancken auf einen gewissen innerlichen oder äusserlichen Gegenwurff gerichtet, oder daß es doch scheinet, als ob sie in Gedancken wären. Wer speculiren und nachsinnen will, muß in seinem Zimmer bleiben, und nicht in Gesellschafften gehen, hier schickt sichs nicht, es hat alles seine Zeit."39 Mentalitätsgeschichtlich umso aufschlußreicher sind mithin die wenigen Stellen, in denen uns der Autor im Tagebuch als ein Spekulierender im Sinne Rohrs gegenübertritt. Indizieren diese Passagen doch den Versuch, buchstäblich Distanz zu gewinnen zu den räum- und zeitabsorbierenden Techniken höfischer Repräsentation und zur eigenen Position im Sozialverband des Hofs. Zu den bemerkenswertesten Zeugnissen einer solchen Distanznahme zählt eine Passage im Reisejournal der 22jährigen Juliane von Rantzau, die als Hofdame des Erbprinzenpaares von Mecklenburg-Schwerin an dessen großer Reise nach Holland, England und Frankreich von 1782/83 teilgenommen hat.
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Sternes Sentimental Journey und die ,empfindsamen' Reisen in Deutschland, in: Wolfgang Griep, Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts (= Neue Bremer Beiträge Bd. 1), 302-319. Beide Tendenzen kann sich das adlige Reisejournal, wenn auch oft mit einer signifikanten Verzugszeit, anverwandeln. Als Beispiel für ein stark von „philosophischkritischen" Zügen durchsetztes Journal, das, reisetypologisch betrachtet, der Kavalierstour zuzurechnen wäre, kann das Tagebuch von Friedrich Wilhelm von Arnim (1739-1801) gelten, das dieser über seine in der Endphase des Siebenjährigen Krieges unternommene Reise von Utrecht in die Schweiz 1762 angefertigt hat: Journal d'une partie des mes voyages, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 37, Boitzenburg, Nr. 3748, 47 Bl.; vgl. Rees/Siebers 2005 (wie Anm. 12), 178-182. Die Orientierung eines adligen Diaristen am Modell der „empfindsamen Reise" zeigt exemplarisch die Reise nach Rudolstadt von Landgraf Friedrich V. von Hessen-Homburg (1748-1828) aus dem Jahre 1809, die ganz der bizarren Assoziationsästhetik eines Laurence Sterne huldigt und kaum mehr Referenzen auf eine objektivierbare Erfahrungswirklichkeit enthält. Auskünfte über den Aufenthalt am Hofe in Rudolstadt verweigert der Autor kategorisch mit dem Hinweis auf die Gattungskonventionen der „empfindsamen" Reise: „Sollte ich unbescheiden genug seyn, um die Caracteristick der Menschen, der Organisirung dieses Landes, [...] das Finanz System, die Politik des Hofs, den Zustand der Polizey, die Landes-Economie, die Population, die Stimmung des Volks, den Ton der Gesellschaft, die Cultur, die Intriguen, die scandalöse Chronik etc. etc. etc. zu schildern, so müßte ich sagen was ich nicht weis, so wäre es keine empfindsame Reise. - das wollen wir den künftigen Schlözern, den Statistikern, den Anecdoten Jägern, den Satyrickern und Panegyrikern überlassen. Ich habe mich müde geschrieben." Reise nach Rudolstadt 1809, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, D 11 Nr. 99/2, 15 BL, Zitat fol. 15v. Rohr 1728/1990 (wie Anm. 33), 193.
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Die Reisegesellschaft machte im Januar 1783 auf ihrem Rückweg für sechs Tage auf der Heidecksburg in Rudolstadt Station. 40 Der Aufenthalt verlief insgesamt recht ruhig - „assez tranquille", wie es im französisch geführten Journal heißt - und just dieser Ereignislosigkeit dürfte die folgende Betrachtung der Hofdame geschuldet sein, in der sich wohl auch der selbstbewußte Erfahrungszuwachs einer langen, sich nunmehr ihrem Ende zuneigenden Reise spiegelt. Nachdem sie berichtet hat, daß am 18. und 19. Januar keine Vergnügungen bei Hofe stattgefunden und mithin jeder Zeit für sich selbst hatte, fahrt sie fort: „In einer dieser Stunden, in denen ich für mich allein in meinem Zimmer war, will ich ein wenig von dem Ort erzählen, an dem wir uns befinden und von den Personen, die uns umgeben. Das Schloß, wo wir alle logieren, ist sehr groß, alt und im Stil unserer Vorfahren möbliert. Seine Lage ist, wenn man so will, angenehm und unangenehm zugleich. Es liegt ganz allein auf einem hohen Berg und ist von allen Personen getrennt, die ein großer Herr so nötig hat, so daß alles von unten nach oben gebracht werden muß, vom Wasser bis zum Holz. Die Stadt zu Füßen ihres Beherrschers ist klein; in ihr wohnen zwar viele Adelige, aber es finden sich hier sehr wenige, fast würde ich sagen, gar keine hübschen Häuser. Wenn ich an meinem Fenster stehe, das auf die Stadt hinausgeht, komme ich mir vor wie eine verzauberte Prinzessin, dazu verdammt in diesem alten Schloß zu leben. Zwar sind von hier aus in der Ferne alle Schönheiten der Erde zu sehen, doch ist es nicht erlaubt, sie auch zu genießen. Meiner Meinung nach ist es recht traurig, auf diese Weise von den anderen Menschen getrennt zu sein, die ich unter mir sehe wie Liliputaner. [...] Das Vergnügen, oder besser die Illusion, sie jeden Tag zu meinen Füßen zu sehen, wiegt nicht die Mißlichkeit auf, der ich mich aussetzen muß, um zu ihnen zu gelangen; es ist besser inmitten der Menschen zu leben. [...] Diese Schlösser auf den Felsgipfeln waren früher nützlich, um sich gegenüber seinen Feinden unzugänglich zu machen, aber heute, da wir in Frieden mit unsern Nachbarn leben (falls unsere Herrscher uns nicht dazu nötigen sie zu töten, wenn sie sich von ihnen beleidigt fühlen) gibt es keinen Grund mehr, sich so hoch oben einzunisten, um manchmal so tief zu fallen. Es ist fast Haß, was ich gegen dieses Zeugnis der Grausamkeit empfinde, mit der unsere Vorfahren gelebt haben." 41
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Zum Besuch des Erbprinzenpaares von Mecklenburg-Schwerin in Rudolstadt vgl. Horst Fleischer, Vom Leben in der Residenz. Rudolstadt 1648-1816 (= Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte Bd. 4), Weimar 1996, 203; zur Reise und ihrer Dokumentation insgesamt vgl. Rees/Siebers 2005 (wie Anm. 12), 308-314. Juliane von Rantzau (1761-1821), Journal, fait par une des dames de la suite des A. Madame la Princesse Frederic de Mecklenbourg, du voyage quelle fit, par la Holande, l'Angleterre, la France, et l'Allemagne, en 1782. et 83, Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Altes Archiv Nr. 4280, 220-222: „Dans une de ces heures ou me voici seule ä ma chambre je vais passer un peu de l'endroit ou nous sommes et des personnes qui nous entourent. Le chateau ou nous logefons] tous est bien, grand, antique, et meuble au gout de nos ancetres, sa position est agreable et desagreable, si vous voules, sur une haute montagne tout seul, et separe de toutes les personnes dont un grand Seigneur a si grand besoin, de sorte qu'il faut tout transporter du bas enhaut jusqu'a l'eau et le bois.
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Das Reisetagebuch wird hier zum Medium einer kritischen Reflexion höfischer Soziabilität, die mit den Gattungskonventionen des im fürstlichen Auftrag geführten Reisejournals nicht mehr vereinbar war. So ist schon die Tatsache, daß die junge Hofdame unabhängig v o m offiziellen Tagebuch ihr eigenes Diarium fuhrt als Indiz fur den Anspruch auf eine eigenständige Protokollierung von Beobachtung und Reflexion anzusehen. 42 Dieser Emanzipationsprozeß, der die Fixierung adliger Reisediaristik auf die hochrangigen Protagonisten zugunsten einer neuen Vielansichtigkeit des Reisegeschehens aufbrechen sollte, ist - w i e im vorliegenden Fall - aufs engste mit der literarischen Artikulation von Frauen adliger Herkunft verknüpft. 43 V o m Erziehungsinstrument der Kavalierstour ausgeschlossen, und damit auch nicht auf deren konventionalisierte Berichtsform verpflichtet, scheinen die Autorinnen in ihren Reisetagebüchern fur stilistische Anleihen aus der gedruckten Reiseliteratur offener und von einem ausgeprägteren literarischen Formwillen geleitet gewesen zu sein. Die Niederschrift eines Tagebuchs mar-
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La Ville au pieds de son maitre, est petite, renferme beaucoup de noblesse mais tres peu, j'aimerai dire point de jolies maisons. Quand je suis ä ma fenetre qui donne sur la ville, je me parais comme une Princesse enchantee condamnee dans ce vieux chateau, qui lui laisse voir dans le lointin [sie] toutes les beautes de la terre sans lui en permettre y la jouissance; celon moi c'est bien triste d'etre ainsi separe du reste des hommes que je vois sous moi comme les Liliputs [...]. Le plaisir, ou pour mieux dire l'illusion de les voir toujours ä mes pieds ne me paye pas le desagrement auquel je me expose avant de venir ä eux, il vaut mieux vivre au milieu des hommes, plus on s'en eloigne plus on se croit des raisons valables pour les eviter et plus on devient inutile ä leur commerce, suportons les afin qu'ils nous suportent et croyons toujours que nous avons besoin de la meme indulgence. Ces chateaux sur le sommet d'un rocher etaient bons autre fois pour se rendre inaccessible ä ses ennemis, mais aujourd'hui que nous vivons en paix avec nos voisins (si nos maitres ne nous forcent de les tuer quand ils croyent en etre offenses) il n'y aurait plus besoin de se nicher si haut, pour tomber si bas quelque fois. Je hais [sie] meme jusqu'a ce temoignage de la ferocite dans la quelle nos ancetres ont vecu." Zum Verhältnis des Tagebuchs der Juliane von Rantzau zum offiziellen Journal der Reise, geführt von dem Kammerherrn August Georg von Brandenstein, vgl. Rees/Siebers 2005 (wie Anm. 12), 310-311. Die literarische Artikulation von Hofdamen als Autorinnen von Reisetagebüchern setzt in signifikantem Umfang erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein und ist ursächlich mit der erhöhten Mobilität der jeweils zu begleitenden Fürstin verknüpft. Greifbar wird dieser Zusammenhang etwa bei Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar und ihrer Hofdame Louise von Göchhausen (1752-1807), die auf der Italienreise der Herzogin 1788-90 das offizielle Journal führte, vgl. Tagebuch der italienischen Reise der Frau verw. Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, gefihrt von deren Hofdame Louise von Göchhausen, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign. 24, 1,(3), 94 Bl. Als Hofdame der Gräfin Charlotte von Erbach-Erbach hat Marianne Kraus (17651838) ein annähernd zeitgleiches Tagebuch einer Italienreise (Januar - Juni 1791) hinterlassen, das jedoch - wie schon der Titel signalisiert - für den privaten Gebrauch der Autorin bestimmt war, vgl. Samlung von Allerei für mich gemerkt auf meiner Reiße nach Italien, Kraus-Sammlung, Bezirksmuseum Buchen, 2 Teile, 315 beschr. Bl.) Das Tagebuch liegt nun in einer kommentierten Edition vor: Marianne Kraus, Für mich gemerkt auf meiner Reise nach Italien. Reisetagebuch der Malerin und Erbacher Hofdame, hrsg. von Helmut Brosch (= Zwischen Neckar und Main. Schriftenreihe des Vereins Bezirksmuseum Buchen, Bd. 28) Buchen 1996.
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kiert hier einen persönlichen Freiraum, in dem das Gefüge der höfischen Gesellschaft im Schutze literarischer Betätigung überprüft und dessen normativer Charakter auf Alternativen befragt werden kann. In diesem Sinne ist die im zitierten Beispiel praktizierte Blickwendung aus dem höfischen Interieur hinaus in den umgebenden Stadt- und Landschaftsraum durchaus programmatischer Art: Die Distanz zwischen Residenzschloß und -Stadt beschreibt nicht länger eine als Privileg erfahrene Erhöhung, sondern bezeichnet eine als defizitär empfundene Trennung. Die Motive für diese Separierung können von der Autorin nur noch geschichtlich erklärt, aber nicht mehr mit den Bedingungen und Erfordernissen der Gegenwart gerechtfertigt werden: Im Versuch, das geschichtliche Gewordensein der höfischen Kultur zu reflektieren, scheint bereits das Ende des Hofes als traditionsgeprägte, sich selbst genügende kulturelle Formation auf.
3. Zusammenfassung Eine präzise Auslotung des Quellenwerts adliger Reisetagebücher für die Residenzkulturforschung kann nur gelingen, wenn die gattungsspezifischen Vorgaben und funktionsgeschichtlichen Bezüge dieser Textsorte angemessen berücksichtigt werden. Die Position des Autors im Gefüge der höfischen Gesellschaft, der Adressatenbezug des Textes sowie dessen implizite Tendenz, den sozialen Erfolg der Reisenden an auswärtigen Höfen zu beglaubigen, markieren den Referenzrahmen, innerhalb dessen eine quellenkritische Prüfung dieser Texte zu erfolgen hat. Sicherlich sind in diesem Bedingungsgefiige sowohl Variationen auf individueller Ebene in Bezug auf Gehalt und Stil, wie auch gattungsprägende Umschichtungen im Verhältnis von beschreibenden, erzählenden und reflexiven Anteilen zumal im Verlauf des 18. Jahrhunderts festzustellen. Gleichwohl scheint die Gattungsgeschichte des adligen Reisejournals während der gesamten Frühneuzeit eher von strukturkonservierenden Faktoren geprägt zu sein, deren Wirkmächtigkeit auf den individuellen Gestaltungsspielraum des Autors nicht unterschätzt werden darf. So kommt es darauf an, aus heutiger Perspektive Erkenntnisabsichten zu formulieren, die die textpragmatischen Bezüge des Reisejournals und seine Funktion als statussicherndes Dokument adliger Sozialisation und Soziabilität angemessen berücksichtigen. Von einem Reisejournal in Bezug auf Architektur und Ausstattung einer Residenz die Beschreibungsdichte eines Inventars zu erwarten, hieße, das deskriptive Element zu verabsolutieren und damit zu verkennen, daß die Materialität der Hofkultur in der Regel von den adligen Reisenden als Prämisse von Performanz, also von zeremoniell bedeutsamer Handlung und Interaktion thematisiert wird. Gleichwohl bieten die Reisejournale der höfischen Gesellschaft ein objektbezogenes Informationspotential, das längst noch nicht ausgeschöpft scheint und das im Sinne einer Momentaufnahme oft bau- und ausstattungsgeschichtliche Zustände bezeugt, die, weil ephemerer Art, von keinem Inventar erfaßt wurden. Ebenso unbefriedigend muß es bleiben, Reisejournale ausschließlich einer rezeptions- und geschmacksgeschichtlich
orientierten
Lektüre zu unterziehen, zumal wenn diese Lesart mit autonomen ästhetischen Kategori-
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en operiert, die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts herausgebildet haben. Mit dem gleichberechtigten Nebeneinander tradierter Formen breitgestreuter curiositas für das Alte, Seltene und Sonderbare und dem Aufkommen eines neuen ästhetischen Geschmacksbegriffs, der sich z.T. offensiv gegen hergebrachte Formen höfischer Kultur wandte, ist stets zu rechnen. Die in höfischen Journalen häufig zu beobachtende, und vom Standpunkt einer subjektzentrierten Kunst- und Literaturwissenschaft oft genug monierte Formelhaftigkeit bei der Bewertung von Kunstwerken oder musischen Darbietungen sollte nicht vorschnell als oberflächliche Redundanz abgetan werden. Gerade weil der Erwerb kultureller Kompetenz zu den Hauptmotiven adliger Reisetätigkeit zählte, war bei der Artikulation von Geschmacksurteilen gleichsam eine habituelle Vorsicht geboten, die darauf bedacht war, Blößen und Brüskierungen zu vermeiden. Der Primat der Affektkontrolle prägt unverkennbar auch den Duktus der Reisejournale, die im Kreise der höfischen Gesellschaft zirkulierten und keinesfalls als Zeugnisse privater Introspektion gelesen werden sollten. Der genuine Quellenwert adliger Reisejournale gibt sich mithin in eben dieser Verbindung von individueller Wahrnehmung und normativer Schreibkonvention zu erkennen: das Reisediarium wird für uns zur geschichtlichen Quelle als Verlaufsprotokoll der höfischen Kultur in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen; es zeigt diese Kultur in actu, als ein performatives Ensemble von Handlungen, Gesten, Ritualen und Darbietungen. Im Ausschluß von dieser performativen Dimension der Residenzkultur hat der heutige Kulturhistoriker das Erbe der bürgerlichen Reisenden von damals angetreten: auch diese besichtigten bereits die Residenzen in der Regel als leere Kulissen im Theatrum ceremoniale der höfischen Gesellschaft.
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Anhang
R o c h u s Friedrich Graf zu Lynar, Graf Heinrich VI. v o n Reuß-Köstritz und A n t o n v o n Geusau: Beschreibung
einer
Reise
durch
Deutschland,
Niederlande
und
Frankreich
vom 27. Juli 1731 - 22. Mai 1732, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 3 7 , Lübbenau, Nr. 5 0 6 5 , unfol. A u s z u g über den Aufenthalt am kurfürstlichen H o f e in Bonn, 10. A u g u s t 1731 (RF = Handschrift v o n R o c h u s Friedrich z u Lynar; HR = Handschrift Heinrichs VI. v o n ReußKöstritz). 8.00 Uhr:
[RF] den 10— August [1731] Nachdem wir früh nach 6 Uhr aus unserem
Ankunft in der
gehabten NachtQuartier ausgefahren, und gegen 8 Uhr vor Bonn vorbey
Residenzstadt
kamen, wurde uns gesagt, der Churfürst sey jetzt mit seiner Hofstadt daselbst, weswegen wir sofort anlandeten und in dem Thore nächst gelegenen güldenen Stern einkehrten.
Erkundung von Se-
Binnen der Zeit nun, da wir mit dem Auspacken beschäftiget waren, ging
henswürdigkeiten
Graff Lynar in die Stadt, um zu recognoscieren
was etwa Merckwürdiges
daselbst zu sehen; referirte aber bey der Rückkunfft daß die Stadt sehr altvaterisch, und in denen drey vornehmsten Kirchen, der Augustiner,
im
Münster und zu St. Remigi nichts merckwürdiges, „Mikrologie":
außer ihn beym Herausgehen der letzem eine gantz manierlich gekleidet und
zufällige Begebenheit
wohl aussehende Dame nachgepistet, und als er endlich stille gestanden, und sie zum ihm gekommen, habe sie ihm gleichsam im Vertrauen eröffnet, daß sie eine Chanoinesse
aus Chambery, und eines gewißen frantzösischen
Obristen Wittib wäre, weil man sie aber an ihrer Gewißensfreyheit auf allerhand Art gekräncket, so sey sie endlich genöthiget worden, diese Charge wiewohl mit Beybehaltung ihrer Religion zu resigniren, wodurch sie denn in die äußerste Armuth gerathen, und weil sie sich des Betteins in der Stadt schämete, gleichwohl aber nicht zu leben hätte, so nehme sie zu ihm, als zu einen Etranger ihre Zuflucht. Dabey sie jedoch, als über dieses Gespräch noch andere Leute aus der Stadt dazugekommen, mit einem großen empressement gebeten, die ihr zu gedachte Beysteuer so lange bey sich zu behalten, und mittlerweile von etwas anderen zu reden, bis sie wieder alleine wären, darinne ihr auch gewillfahrte und sie mit einem viatico dimittiret worden. Meldung beim Ober-
Nachgehends ließen wir uns, wie es an diesem Hoff gewöhnlich, bey dem
hofmeister
Churfürstlichen Obristhoffmeister und Kayserlichen Geheimen Rath Greffen von Plettenberg melden, und zugleich denselben um Erlaubniß den Churfursten aufzuwarten, ersuchen. Worauf er uns wieder ein sehr obligeantes gegen Compliment machen und sich zugleich entschuldigen ließ, daß er
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JOACHIM R E E S
wegen eines ihn Überfallenen Fiebers uns bey Hoffe zu bedienen nicht im Stande seyn würde, dabey aber an den Vice Obrist-Stallmeister Baron von Thann, dem er sofort davon Nachricht gegeben, verwieß. Klärung des
Zugleich wurde uns auch gemeldet, daß wenn wir es von Hoffe begehreten,
Zeremoniells
wir einen Wagen bekommen könten, sonst aber wäre auch gewöhnlich sich in einer porte chaise hinauftragen zu laßen, welches letztere wir den auch zu Erspahrung unnöthiger Weitläuffigkeiten erwehlten, vorher aber, nachdem wir von der bey Hoffe um die groß-Princessin Violanta von Florenz angelegten Trauer Nachricht eingezogen, deswegen nochmals zum Obristhoffmeister schickten, um zu vernehmen, ob unsere bunte Kleidung uns würde ungnädig genommen werden.
11.00 Uhr:
Auf erhaltene Versicherung aber, daß dieses gar nichts auf sich habe ließen
Ankunft bei Hofe
wir uns vorgedachter maaßen durch Porteurs um die bestirnte Zeit gegen 11 Uhr nach Hoffe tragen, welche uns denn durch 2 Höffe hindurch vor der Antichambre
so unten auf der Erden ist, absetzten, nachdem sie uns zuvor
gesagt, sie wüssten schon wieweit sie gegen sollten. Gleich beym Aussteigen unter denen Schwiebbogen empfing uns der Vice Obristkellermeister auf das allerfreundlichste Aufenthalt im Vorzim-
und führte uns in die mit Cavaliers gantz erfüllte Antichambre,
mer, Bekanntschaften.
chen wir besonders kennen lerneten: den Obrist Stallmeister von Gutmann,
unter Wei-
einen sehr höflichen, aber des Podagra wegen elendiglich an einen großen Stocks hinckenden Mann, den Obrist-Valkonier von Gatz der gantz ausgedört war, und die Lenden kaum mehr schleppen konnte; den ältesten Geheimen Rath Graffen von Verida, so nach dem Churfursten der andre ist, und von Geburth ein Italiener, den Obrist-Küchelmeister, welcher vor diesem, als das Trincken an diesem Hoffe noch Mode gewesen, sich beym Graff Verida, aus deßen Mund ich es selber gehöret, in Wein und zu letzt in eau de Barbados dergestalt übernommen, daß ihm den folgenden Tag das linke Auge aus dem Kopf gegangen, daher er daßselbe mit einem schwartzen Pflaster zuklebet, nächst dem aber auch auf dem einen Fuß etwas hinket. Identifizierung der
Vorbenannte Cavaliers, haben alle den Chur Cöllnischen St. Michels Orden
Ordenszeichen
bestehend in einem, an einem bleumouranten
Bande auf der Brust hangen-
den Kreutz mit einem eckigten Stem auf der lincken Seite des Rocks, darin in der Mitte der Streit St. Michaels mit dem Drachen vorgestellt ist. Der Intendant der Musique Marchese di Capone, den wir gleichfalls bey dieser Gelegenheit kennen lernten, hatte den florentinischen Orden von St. Etienne, welcher auch auf der Brust, aber an einem rothen Bande getragen wird, und einen goldenen Stern hat. Nächst diesem sprachen wir auch mit einem gewißen Baron von Metternich, den man, wenn er nicht en Chanoine gekleidet gewesen, seinem Betragen nach eher vor einen petit Maitre, da er rothe Absätze trug, als vor einen Paderbornischen Canonicum angesehen haben würde.
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Besichtigung des Som-
[HR] Hierauf zeigte uns der Vice Obrist Stallmeister, an den wir obgedach-
merappartements
ter maßen adressirt waren, die nächst an diesem Saal gelegene Zimmer, als nehmlich zur Lincken das Churfürstliche Speisegemach, von dar aus man noch in etliche Bedienten Stuben gehet, an der rechten des Churfürsten Sommer apartements, welche mit weißen geblühmten Tapeten ausgeschlagen waren, und besteht selbige erstlich aus einem Audienz Zimmer, deßen Annehmlichkeit vornehmlich darinnen besteht, daß man von dar aus ä plein pie in den nicht allzu großen, aber doch mit feinen orange Bäume versehenen Garten kommen kan, worinnen diejenigen, so bey der Cour nicht spielen wollen sich Sommers=Zeit promeniren.
Bey diesem Gemach war noch
ein Schlaff=Zimmer von welchem man in das mit träflichen Schildereyen augezierte cabinet ging, darinnen auch ein Flügel mit Noten Büchern befindlich, indem dieser Herr unter andern von der music ein großer Liebhaber mit ist und oft concert halten läßet. Ankunft des
Weil mitlerweile der Churfürst von seinem Lust=Schloß Oppersdorff [=
Kurfürsten
Poppelsdorf], so eine V* Stunde von der Stadt entlegen, wieder heim kam, und auf der Seite wo die Capelle gelegen, abstieg, um noch vor dem Eßen, die Meße zu hören, wurden wir von allen cavaliers, als welche dem Churfürsten dahin folgen mußten, verlassen, u. blieb weiter niemand in diesem Gemach, als ein canonicus von Cölln, ein Hof=Rath, einige Kammerdiener u. Fouriers, nebst einigen portiers von welchen wir allerhand Nachrichten von dem Zustand des Hofes einzogen.
Einholung von Informa-
Man erzählte uns, daß die Hofstadt dieses Herrn ungemein zahlreich sey,
tionen über die innere
welches unter andern mit daraus abzunehmen, weil die Zahl der hin und
Organisation des Hofs
wieder sich aufhaltenden Cammer Herrn über 150 seyn soll. Die Hofaemter
(Hierarchie, Personal,
hingegen folgen also auf einander 1) der Obrist=Hofmeister 2) Der
Garde)
Obrist=Cämmerer 3) der Ober=Marschall 4) der Obrist=Stallmeister, welche Aemter in jedem Bistum nehmlich Cölln, Paderborn, Oßnabrück und Hildesheim mit besondern Persohnen besetzt und bey denen andern geistlichen Churhöfen in eben dieser Ordnung auf einander folgen sollen. [RF] Den Pagen den wir bey der Aufwartung im Vorgemach gesehen, hatte ein Spanisch Mantel-Kleid von bleumouranten
auch mit silber und schwartz
samt-Borten sehr reich besetzt, außer der Meße aber, und wenn sie die Aufwartung nicht haben, ist ihre Tracht gleich wie der Lacquais frantzösisch, und bey denen letztern in der Montour dieser Unterschied, daß sie weiß seidene und schwartzsamtene Borten haben. Die äußerste Schloßwache besteht aus Musquetiers
und inwendig im SchloßPlatz unter den
Schwiebbögen im und beym Eingang des Vorgemachs ist eine Art Trabanten, welche aber doch keine Stieffein anhaben, und dunckelblau mit silber und schwartz-samtnen Aufschlägen montiert, und mit einer gantz besonderen Art von Hellebarden, die fast wie Henkemeßer aussehen, und auf langen höltzernen Stangen stecken, versehen sind. Bey dieser Garde sollen die
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JOACHIM R E E S
Gemeinen Leutenantsrang haben, bey dem jetzigen Herren aber in keinem solchen Ansehen mehr stehen. [HR] Die übrige Krieges Verfaßung dieses Herrn beläufft sich dem Vernehmen nach auf 30/m Mann welche jedoch in Friedens Zeiten kaum halb auf den Beinen gehalten werden. Präsentation beim Kur-
Nach einer kleinen V% Stunde kamen die sämtlichen cavaliers aus der Meße
fürsten
zurück und kurtz darauf gieng auch der Churfürst August Clemens ein gebohrener Printz aus dem bayerschen Hauße durch das Vorgemach, da wir denn sofort durch den Vice Obrist Stall=Meister in des Churfürsten Gemach zur audienz gerufen worden.
Physiognomie,
Es ist ein sehr schmächtiger Herr von Leibe und Gesicht, nicht allzu langer
Kleidung,
Statur, deßen Alter mit der Jahrzahl übereintrift, mithin das 31 Jahr errei-
Rangabzeichen
chet; d'un nez acquilin, schwartzen Bart und der nach Art der Bayerschen Printzen den Mund etwas offen stehen läßet, scheint auch übrigens eines cholerischen u. mit vielem Sanguine vermischten temperaments zu seyn. An seiner Kleidung war nicht das geringste geistliche zu sehen, angesehen der Rock und Weste von einem wollichten grünen Zeuge mit nicht allzubreiten silbernen Tressen auf partout- Art besetzet war, dazu er eine kleine Beutel peruque
wovor mit einer großen schwartzen frantzösische Schleiffe auf
hatte. Auf der Brust hieng das Ertzbischöfliche Creutz an einem rothen Bande so eine goldene Einfassung hatte. Die Absätze aber an den Schuhen waren roth. Konversation
Der Churfürst bezeigte sich überdieß gar gnädig u. discurirte mit uns u. dem obgedachten Vice Obriststall=Meister der sich zur rechten an einen Tisch gelehnet, auf eine gantz familiaire
Art. Unter andern erkundigte sich der
Churfürst nach unserer Tour, und meinte, es sey an der plaisirlichen
Rhein-
farth nichts weiter auszusetzen als daß [sie] nicht flüchtig genug fort gienge, das beste aber wäre daß es auf dem Wasser nicht stäubte. Zugleichen fragte er uns ob wir nicht von des Königs von Polen vorseyenden Reise nach Berlin gehört? Die kurfürstliche Tafel:
Nach Verfließung einer halben % Stunde wurden die Thüren geöffnet und
Anordnung, Teilneh-
der Churfürst gieng in großer Geschwindigkeit durch die auf beyden Seyten
mer, Konversations-
stehenden Ministros u. Cavaliers welche alle ihre reverenze spanisch mach-
sprachen
ten, so wohl als die bey der Taffel nebst denen Cavaliers aufwartenden Bedienten. In der Antichambre waren 2 Schencktische jeder mit einen Trabanten besetzt. Im Taffel-Gemach selbst, welches nicht allzugroß u. mit einer ovalen Taffel versehen, saß der Churfürst oben auf einem überzogenen Lehnsessel unten gegen über ein Cammer Herr, 2 Cammer Herren auf der Seyten. Um die Taffel stund der gantze Schwärm von Ministern u. Cavaliern, dem Churfürst zu rechten Hand aber waren wir beyde, Graf Lynar und ich rangiert und wurden mit allerhand indifferenten discoursen vom Churfürst unterhalten, sonderl. von der Annehmlichkeit derer holländischen Gegenden, auch wurde von denen umstehenden cavaliers gantz frey mit
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darzwischen gesprochen, wie denn überhaupt an gedachtem Hoff alles auf einen ungezwungenen Frantzösischen Fuß ist, als welche Sprache nebst der Italienischen
durchgehende auch von allen Lacquais gesprochen und fast
kein einzig teutsch Wort gehöret wird, außer daß der Churfurst immer teutsch mit uns redete. Speisefolge und Art der
Die Tafel war mit 10 Speisen besetzt, welche von denen Lacquaien biß ins
Aufwartung
Vorgemach, so dann aber nicht durch Pagen, sondern durch Leute in schwarzen Kleidern ohne Degens vollends auf die Taffei getragen wurden u. ohnerachtet, es eben Fast-Tag war so war doch auch allerley Fleisch mit angerichtet, davon der Churfürst aß, weil er bey dem Brunnen dispensation hat. Dichte neben dem Churfursten Iincker Hand, stand ein Cavalier im grünen Jagd Kleide mit Silber, ohne Degen, der eine serviette in der Hand hielt und bey dem unten an sitzenden Cammer Herren das Eßen holete, wiewohl sich der Churfurst mit einem großen vergoldeten Potage Löffel auch selbsten aus der Schüssel nahm.
Beurlaubung durch den Kurfürsten
Durch eben diesen Cavalier wurde auch das Trincken auf einem vergoldeten Credenz Keller gereichet, den er von sich setzte, und nachdem er zum ersten mahl getruncken, sich auf dem Stuhl etwas in die Höhe richtete und durch so thanen reverenz uns beurlaubete.
Speisung an der Mar-
Als wir nun im Vorgemach vom Ober=Marschall, deßgleichen auch unter
schall-Tafel: Gerichte,
dem Schwiebbogen vom Vice Obrist=Stallmeister, der beym Obristen-
Gesprächsthemen,
HoffMeister zu Gaste war, biß auf Wiedersehen Abschied genommen hatten,
Tischsitten
und er uns eine Entschuldigung wegen des Speißens gemacht, mit dem angehengten Bericht, daß sein Gnädigster Herr bey Gebrauch des Sauer=Brunnens allzeit auf diese Art a son aise, sonst aber mit seinen Gästen zu speisen pflege, giengen wir unter Begleitung der übrigen anwesenden Cavaliers eine Treppe hienauf in einen mit großen Portraiten aus
meublirten
Saal, auf welchem eine Taffei mit 10. couverts belegt war, und wurden 10. Schüssel doppelt abgehoben, welche meist mit lauter Fischen ungemein delicat zugericht, angefüllet. Das Desert bestund aus 4 confect Körben von Silber, nebst assietten mit Eingemachtem. Dabey hatten wir recht guten vin de pontac, de bare, de bourgogne, auch noch andere frantzösische Weine, die uns offeriret wurden. Bey Tische nöthigte man uns die Oberstelle einzunehmen, wir setzten uns aber pele mele, und ich choisirte mir den Graf Verida zu meinem Nachbar, der mich auch fast gantz allein die Mahlzeit über mit allerley nützlichen discoursen unterhielt, und mir von seinen vielen Reisen allerhand erzehlete [...]. Es ist dieser Graf Verida ein alter aber dabey sehr treuhertzig und obligeanter Herr mit dem es sehr angenehm umzugehen, wenn man nicht so viele Mühe hätte seine Sprache zu verstehen, angesehen selbst die Cavaliers dort von ihm sagen: seine Mutter-Sprache die Italienische hätte er meist vergeßen, das Frantzösische aber nie recht gelernet, daher er von beyden Spra-
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JOACHIM REES
chen eine wunderl. Vermischung machet, vom Teutschen in 30. Jahren nichts mehr als diese Gesundheit: Alle mit einander, und noch dazu sehr übel aussprechen lernen. [RF] Graf Lynar mußte seinem Nachbar allerhand von seiner schwedischen Reise erzehlen u. der Rath u. HoffMeister [= Anton von Geusau] entretenirete sich größtentheils mit dem Obrist Küchelmeister, welcher unter andern gantz fein von der Moralität der Jagden, und wie es nicht gut wenn ein großer Herr auf selbigen sich in mancherley Lebensgefahr setze, sprach, auch dabei gedachte, daß der Churflirst ein gewaltiger Liebhaber der Jagd sey, und sich extrem fatigire. [...] Die mit uns am Tische speisenden Personen waren Graf Verida, 2 Cammerherrn, ein General und Commandant der Festung Bonn, ein bayerischer Maior, ein Paderbornischer Canonicus, Baron Metternich. Bey Tische wurde kein einig großes Glaß getruncken, auch nicht ordentlich vorgelegt, sondern ein jeder nahm und gab von dem vor sich stehenden Eßen, vollkommen a la franqoise. Aufhebung der Tafel,
Nach aufgehobener Taffei, stellte sich ein Castellan nebst seiner Frau ein,
Besichtigung der kur-
um uns in der obern Etage die Zimmer aufzuschließen, dahin uns auch ein
fürstlichen Gemächer
Maior und der Obrist=Küchel-Meister begleiteten. In der ersten Stube, ist
im Obergeschoß
ein ungemein großer Spiegel, welcher gerade der Thüre gegen über steht, vermittelst deßen, weil die Thüren accurat auf einander treffen, alle Zimmer in dem gantzen Stock sich darinne vielfältig representiren,
und einen Pro-
spect ä perte de vue macht. Die Gemächer sind insgesamt sehr hoch, kostbar und prächtig. In denen einen findet sich ein Camin und Tisch von purem Jaspis mit maßiv silbernen Ornamenten. In einem andern Zimmer von grünem Samt mit Golde hat der König von Preußen logiert, sich aber ein höltzern Feldbette hinein schlagen, auch einen höltzernen Tisch zu Bier und Taback dahin setzen laßen. Ein Zimmer von kostbarer Boisure so auf 20/m Rth. gekommen seyn soll. Der Boden eines andern ist mit einer schönen Tapete belegt, welche 2 aus Paris ächappirte Manefacturiers gantz neuen faqon fabriciret
nach einer
haben. In der Churf. Hand Bibliothec die gleich
falls in dieser Reihe Zimmer ist, befinden sich schön ausgelegte Schänke, vorne herum mit Drat-Gittern verwahret, die darin sowohl, als der anstoßenden Gallerie vorhandene Bücher, so meist FrantzBände, sind gar nicht rangiret, und darunter Codices biblici, historische, und zum iure publico gehörige Bücher auch einige auctores classici.
[HR] In schon gedachter
Gallerie fand sich auch ein auf weißen Stein ausgehauenes modell von denen Gesetz Tafeln Mosis, so der jetzige Churflirst aus Rom mitgebracht; dergleichen
die
portraits
der
beyden
berühmten
Wieder-Täuffer
Knipperdollings u. Johann von Leyden, das merkwürdigste war ein portrait des letzten Churflirst Josephi Clementis in Lebensgröße, welcher sich mit einem Arm auf den Tisch lehnet, gleichsahm in Gedancken, unter ihm ist
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DIE HÖFISCHE GESELLSCHAFT UNTERWEGS
gehende Sonne, welche das hinter ihm gemahlte Ungewitter vertreibet mit der Unterschrifft: Especto immutationem welches auf dieses Herrn d a m a l i ges exilium in Franckreich und auf die recuperinmg
seiner Lande sich be-
ziehet. An die Gallerie stößt ein Salon, woselbst die Bauern Hochzeiten und Carnevals Lustbarkeiten gehalten zu werden pflegen. Hieraus folget ein noch unbewohntes quartier des Schloßes welches der Churfürst zum künfftigen Sommer apartement zurichten läßt. Das dabey von Quader Stücken um der Kühle willen halb in die Erde gebaute Ball=Hauß ist mehrentheils fertig u. war aus den discoursen des Castellans so viel zu vernehmen, daß der Churf. ein großer Liebhaber vom Bauen aber nicht allemahl Geld vorhanden sey, zumahl er außer der Jagd welche viel kostet, auch kein Feind des Frauenzimmers seyn soll. Verlassen des Hofs, Visite
Nachdem wir noch einige andere Zimmer unter andern des Churfürsten ordentliches Wohnzimmer, woselbst Pinsel zu laquixtn,
Instrumente
zur
music u. verschiedene Papiter auf dem Tisch lagen, besehen, gingen wir ohne besondere Abschieds audienz beym Churfürst welche der Ober-Küchelmeister nicht vor nöthig, nach ihrem ceremoniel vor convenable hielt, zumalen der Herr um 5. Uhr nach dem Lust-Schloß Brühl sich zu erheben gedachte, zu Fuß vom Schloß u. begegneten dem Vice Obrist Stallmeister aus des Grafen von Plettenberg Hause, in einer Porte chaise, welcher etliche Schritt von uns ausstieg und aufs höfflichste Abschied nahm, auch nicht wieder einsteigen wollte, sondern zu Fuß aufs Schloß gieng. [...] 17.00 Uhr:
Gegen 5. Uhr beurlaubten wir uns [bei Gräfin Plettenberg], gingen recta
Weiterreise
aufs Schiff, und sahen bey der Abfarth die von hieraus am besten zu observ/rende bekanten 7 Cöllnischen Berge, gelangten endlich ohne etwas merckwürdiges unterwegens zu beobachten Abends um 9 Uhr nach einem schlechten Dorfe Rotenkirch [=Rodenkirchen], woselbst wir weil die Thore bereits um 8. Uhr in Cölln geschloßen worden, über Nacht bleiben mußten.
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JOACHIM R E E S
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